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86b1f039-0ed9-47bb-a86b-71d1ae59209f | Erwägungen
ab Seite 93
BGE 106 IV 93 S. 93
Aus den Erwägungen:
2.
In zweiter Linie wird mit der Nichtigkeitsbeschwerde sinngemäss geltend gemacht, in Anwendung von
Art. 346 Abs. 1 StGB
seien zur Beurteilung der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Handlungen die Behörden des Bezirks Bülach zuständig; der angefochtene Entscheid verletze diese bundesrechtliche Gerichtsstandsnorm.
a) Die Gerichtsstandsregeln der
Art. 346 ff. StGB
gelten nach herrschender Auffassung nicht nur im interkantonalen Verhältnis, sondern auch innerkantonal (so ausdrücklich B. FRANK, Die Gerichtsstandsordnung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und das Gerichtsstandsfestsetzungsverfahren,
BGE 106 IV 93 S. 94
Berner Diss. 1956, S. 8). Soweit also die Kantone für die Beurteilung der in ihre Gerichtsbarkeit fallenden bundesrechtlichen Delikte eine räumliche Aufteilung der Kompetenz (Bezirksgerichte, Kreisgerichte) vornehmen, gelten für die innerkantonale Zuständigkeit die Art. 346 ff.; nur im Bereich des kantonalen Strafrechts (
Art. 335 StGB
) ist an sich eine andere Regelung der örtlichen Zuständigkeit bundesrechtlich zulässig (vgl. PANCHAUD, SJK 899, S. 2, HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, S. 62 ff., insbesondere S. 67 oben), aber aus praktischen Gründen kaum empfehlenswert.
b) Trotz dieser Geltung der bundesrechtlichen Gerichtsstandsvorschriften auch für Fragen der innerkantonalen örtlichen Zuständigkeit können gemäss
Art. 351 StGB
nur interkantonale Gerichtsstandsstreitigkeiten dem Bundesgericht unterbreitet werden. Innerkantonale Kompetenzkonflikte sind von der nach kantonalem Recht zuständigen Instanz zu entscheiden; ein ordentliches eidgenössisches Rechtsmittel fehlt (
BGE 91 IV 52
mit Literaturangaben).
Dass die Anklagekammer, welche Gerichtsstandsstreitigkeiten zwischen den Behörden verschiedener Kantone entscheidet, für die Regelung innerkantonaler Kompetenzkonflikte nicht zuständig ist, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von
Art. 264 BStP
. Der Gesetzgeber hat aber auch die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof bewusst ausgeschlossen (vgl. die Ausführungen über die Entstehungsgeschichte von
Art. 351 StGB
in
BGE 91 IV 52
);
Art. 351 StGB
ist als umfassende Regelung der bundesgerichtlichen Zuständigkeit auf dem Gebiet der Gerichtsstandsstreitigkeiten zu verstehen. Es wäre übrigens sehr unzweckmässig, dem Kassationshof die Kontrolle der innerkantonalen Anwendung von
Art. 346 ff. StGB
zu übertragen, während die Auslegung derselben Vorschriften im bedeutsameren interkantonalen Verhältnis Aufgabe der Anklagekammer ist. Auch die Umschreibung des Anfechtungsobjektes der Nichtigkeitsbeschwerde in
Art. 268 BStP
zeigt, dass der Kassationshof sich nicht mit Zuständigkeitsfragen befassen soll, die ja richtigerweise im Anschluss an einen Vor- oder - Zwischenentscheid definitiv gelöst werden müssen, nicht erst im Anschluss an mit Nichtigkeitsbeschwerde anfechtbare Endurteile oder Einstellungsbeschlüsse.
BGE 106 IV 93 S. 95 | de |
020018ef-97a9-4bcd-a8a0-257b81c85a1a | Sachverhalt
ab Seite 311
BGE 121 III 310 S. 311
W. und B. waren einzige Aktionäre der Firma M. AG. Ende 1987 vereinbarten sie, dass B. die Gesellschaft allein weiterführe und die 300 Namenaktien von W. erwerbe. Da B. nicht über die für den Aktienkauf nötigen Mittel verfügte, stellte ihm der mit ihm befreundete T. ein Darlehen von Fr. 300'000.-- in Aussicht und erklärte sich bereit, den Betrag sogleich auf ein Sperrkonto bei der Bank Y. zu überweisen. B. sollte auf diese Weise ermöglicht werden, sich in den Kaufverhandlungen über die erforderlichen Mittel auszuweisen, über das Geld aber erst nach Abschluss eines schriftlichen Darlehensvertrags mit T. verfügen können.
Am 14. Dezember 1987 wies T. die Bank Z. AG mit Vergütungsauftrag an, der Bank Y. Fr. 300'000.-- zu überweisen. Die Bank Z. AG führte den Auftrag mittels des On-line-Bankenclearingsystems SIC (Swiss Interbank Clearing) aus. In der SIC-Überweisung waren "B. & T. Sperrkonto" als Begünstigte aufgeführt. Am 16. Dezember 1987 liess die Bank B. wissen, die von T. überwiesenen Fr. 300'000.-- seien einem am gleichen Tag auf seinen Namen eröffneten Konto gutgeschrieben worden. Dieses Konto trug die bankinterne Bezeichnung "Sperrkonto B. & T.". Gegenüber T. erfolgte von seiten der Bank keine Mitteilung.
Entgegen den Abmachungen von T. mit B. kam in der Folge kein schriftlicher Darlehensvertrag zwischen ihnen zustande.
Am 18. März 1988 verkaufte W. seinen Aktienanteil an der Firma M. AG zum Preis von Fr. 372'000.-- an B. Der Kaufpreis war mit Fr. 300'000.-- "in bar sofort" und darüber hinaus ab 1. April 1988 in monatlichen Raten von Fr. 2'000.-- zu tilgen.
Mit Vergütungsauftrag vom 29. März 1988 gab B. den von T. überwiesenen Betrag von Fr. 300'000.-- zugunsten von W. gegen Aushändigung der Namenaktien frei. Die Bank Y. verwendete ihn zur Verrechnung mit Forderungen, die sie gegenüber W. hatte. T. wurden diese Vorgänge Mitte 1988 bekannt.
Auf Anfrage von T. bestätigte die Bank Y. mit Schreiben vom 19. Januar 1989, "per 17. Dezember 1987 Fr. 300'000.-- auf Sperrkonto B. & T. gutgeschrieben zu haben". Am 23. März 1989 teilte sie dem von T. beauftragten Anwalt mit, das Geld sei für den Aktienkauf verwendet worden.
BGE 121 III 310 S. 312
T. liess ihr darauf mit Schreiben vom 5. Mai 1989 mitteilen, er mache vorsorglich Schadenersatzansprüche geltend.
Zwischen Juli 1990 und November 1991 erwirkte T. von B. mehrere Abzahlungen an die Darlehensschuld im Gesamtbetrag von Fr. 39'640.--. Danach stellte B. seine Zahlungen ein.
Am 22. Juni 1992 erhob T. beim Bezirksgericht Aarau Klage gegen die Bank X. als Rechtsnachfolgerin der Bank Y. Er stellte den Antrag, die Beklagte zur Zahlung von Fr. 270'000.-- nebst 8 1/4% Zins seit 1. Oktober 1991 sowie von Fr. 568.75 rückständiger Zinsen zu verpflichten. Das Bezirksgericht wies die Klage mit Urteil vom 21. April 1993 ab.
Der Kläger appellierte an das Obergericht des Kantons Aargau, das sein Rechtsmittel mit Urteil vom 18. März 1994 abwies. Wie bereits das Bezirksgericht verneinte auch das Obergericht mangels Vertragsbeziehungen einen vertraglichen Schadenersatzanspruch des Klägers. Es bejahte dagegen grundsätzlich eine Haftung der Beklagten aus unerlaubter Handlung im Sinne von
Art. 41 OR
, kam indessen zum Ergebnis, die entsprechende Forderung des Klägers sei verjährt.
Der Kläger hat das Urteil des Obergerichts mit Berufung angefochten, die vom Bundesgericht teilweise gutgeheissen wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Zu prüfen bleibt, ob sich nicht aus den Abläufen im Zusammenhang mit der Ausführung des Vergütungsauftrags durch die beiden Banken vertragliche Ansprüche des Klägers gegenüber der Beklagten ergeben können. Zu erörtern ist zunächst die rechtliche Bedeutung des von den Banken verwendeten Clearingsystems.
a) Das Bankenclearingsystem SIC steht als Girosystem im Dienste des mehrgliedrigen Überweisungsverkehrs (vgl. zur Ausgestaltung des Systems: EMCH/RENZ/BÖSCH, Das Schweizerische Bankgeschäft, 4. Aufl., S. 552 ff.). Das System ermöglicht eine zentral gesteuerte und damit schnelle Abwicklung von Kettenüberweisungen, die ihren Grund darin haben, dass der Überweisungsempfänger sein Konto nicht bei der gleichen Kontostelle unterhält wie der Überweisende.
Im mehrgliedrigen Überweisungsverkehr handeln die zwischengeschalteten Banken in eigenem Namen, aber auf fremde Rechnung, somit als indirekte Stellvertreterinnen. Eine dergestalt vorgenommene Überweisung wird mittels mehrerer, kettenartig verbundener Verträge abgewickelt, an denen unterschiedliche Parteien beteiligt sind, wobei die Relativität der
BGE 121 III 310 S. 313
jeweiligen Rechtsbeziehungen zu beachten ist. So besteht zwischen dem Überweisenden und der Erstbank ein Girovertrag, auf den die Regeln des Auftragsrechts Anwendung finden. Der in diesem Rahmen erfolgende Vergütungsauftrag ist eine an die Erstbank gerichtete Weisung (
Art. 397 OR
) des Inhalts, mit der kontoführenden Bank des Empfängers ein Anweisungsverhältnis im Sinne von
Art. 466 ff. OR
einzugehen. Die beteiligten Banken sind sodann unter sich durch selbständige Giroverträge verbunden, auf die ebenfalls die Regeln des Auftragsrechts anwendbar sind. Aus alldem ergibt sich, dass zwischen dem Überweisenden und der Empfängerbank grundsätzlich keine unmittelbaren Vertragsbeziehungen bestehen (vgl. GUGGENHEIM, Die Verträge der schweizerischen Bankpraxis, 3. Auflage, S. 234 und 238 ff.; CLAUS HELBIG, Die Giroüberweisung, deren Widerruf und Anfechtung nach deutschem und schweizerischem Recht, Diss. Genf 1970, S. 60 ff.; CdJ GE in SJ 105/1983 78 mit Hinweisen; zum deutschen Recht: CANARIS, in Grosskomm. HGB, 4. Auflage, Bankvertragsrecht, Erster Teil, Rz. 392; zum österreichischen: AVANCINI/IRO/KOZIOL, Österreichisches Bankvertragsrecht, Band I, Rz. 6/21; zum französischen: RIVES-LANGE/CONTAMINE-RAYNAUD, Droit bancaire, 6. Auflage, Rz. 296 ff.).
b) Zu beachten ist allerdings, dass nach
Art. 32 Abs. 2 OR
eine direkte Stellvertretung auch dann gegeben sein kann, wenn sich der Vertreter beim Vertragsabschluss nicht als solcher zu erkennen gibt. Die Anwendung dieser Bestimmung liesse sich im Fall von mehrgliedrigen Überweisungen damit begründen, dass sich die mitwirkenden Banken des gegenseitigen Handelns auf fremde Rechnung bewusst sind und es ihnen gleichgültig sein kann, mit wem sie den Vertrag schliessen. Letzteres trifft indessen nicht zu. Es ist offensichtlich, dass den am Clearingverkehr beteiligten Banken nicht gleichgültig sein kann, ob sie nur unter sich oder auch mit einer möglicherweise unbestimmten Anzahl fremder Bankkunden vertraglich verbunden sind, ergäben sich in der Geschäftsabwicklung doch erhebliche Unsicherheiten, wenn sie sich auch um die internen Beziehungen zwischen ihren Clearingpartnern und deren Kunden kümmern müssten. Aus
Art. 32 Abs. 2 OR
abgeleitete vertragliche Bindungen der Prozessparteien fallen somit ausser Betracht.
4.
Zu berücksichtigen und von entscheidender Bedeutung ist indessen, dass die Erstbank vom Kläger mit der Ausführung eines Auftrags betraut worden ist, den sie nur mit Hilfe der Empfängerbank erfüllen konnte.
Art. 398 Abs. 3 OR
BGE 121 III 310 S. 314
sieht als Ausnahme von der Regel der persönlichen Auftragsbesorgung jene Fälle vor, in welchen der Beauftragte ermächtigt oder durch die Umstände genötigt ist, einen Dritten mit der Besorgung des Geschäfts zu betrauen, oder wenn dies übungsgemäss als zulässig betrachtet wird. Als "übungsgemäss zulässig" gilt die Übertragung der Geschäftsbesorgung auf einen Dritten auch dann, wenn der Auftraggeber von vornherein weiss, dass der Erstbeauftragte zur persönlichen Ausführung ausserstande ist (FELLMANN, Berner Kommentar, N. 580 zu
Art. 398 OR
).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Erstbank erhielt vom Kläger den Auftrag, den Begünstigten "B. & T." Fr. 300'000.-- auf ein "Sperrkonto" bei der Bank Y. zu überweisen. Der Kläger durfte nach dem Vertrauensprinzip erwarten, dass auch der Vollzug der Gutschrift auf dem "Sperrkonto" zum Vertragsinhalt gehörte. Die Erstbank war deshalb gegenüber dem Kläger nicht nur dazu verpflichtet, der Empfängerbank seine Zahlungsbereitschaft anzuzeigen, sondern auch, die Gutschrift auf dem angegebenen Konto zu veranlassen. Die Gutschrift konnte sie aus rechtlichen Gründen nicht selbst vornehmen, sondern sie musste die kontoführende Empfängerbank damit beauftragen; zur Erreichung des Vertragsziels und Erfüllung eines Teils des Vertrages somit im Interesse des Auftraggebers eine am Vertrag nicht beteiligte Drittpartei beiziehen. Unter diesen Umständen ist die Empfängerbank als Substitutin im auftragsrechtlichen Sinn zu betrachten (vgl.
BGE 110 II 183
E. 2 S. 196; FELLMANN, Berner Kommentar, N. 535 ff. zu Art. 398 und N. 35 ff. zu
Art. 399 OR
; GAUCH/SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Band II, 5. Auflage, Rz. 2842 ff.; HONSELL, Obligationenrecht, Besonderer Teil, S. 274; BUCHER, Obligationenrecht, Besonderer Teil, 3. Auflage, S. 232).
a) Gemäss
Art. 399 Abs. 3 OR
kann der Auftraggeber die Ansprüche, welche dem Beauftragten gegenüber dem Substituten zustehen, unmittelbar gegen diesen geltend machen. Als Vorbild für diese Bestimmung diente Art. 1994 Abs. 2 des französischen Code Civil, welcher den Auftraggeber ohne Einschränkung berechtigt, direkt gegen den Substituten vorzugehen ("Dans tous les cas, le mandant peut agir directement contre la personne que le mandataire s'est substituée". Vgl. dazu FELLMANN, Berner Kommentar, N. 3 und 5 zu
Art. 399 OR
). Nach einem Teil der Lehre soll die Regelung von
Art. 399 Abs. 3 OR
einen Ausgleich schaffen für das Haftungsprivileg des Beauftragten im Falle befugter Substitution (
Art. 399 Abs. 2 OR
: Beschränkung auf die Haftung für gehörige Sorgfalt bei der Wahl und Instruktion des Substituten; HOFSTETTER, in Schweiz. Privatrecht, Bd.
BGE 121 III 310 S. 315
VII/2, S. 75; FELLMANN, Berner Kommentar, N. 93 zu
Art. 399 OR
mit Hinweisen).
Nach dem Wortlaut von
Art. 399 Abs. 3 OR
kann der Auftraggeber nur solche Ansprüche geltend machen, welche dem Beauftragten gegenüber dem Substituten zustehen. In der Lehre besteht indessen Einigkeit, dass diese Bestimmung, falls sie nach ihrem Wortlaut ausgelegt wird, insbesondere unter Berücksichtigung des erwähnten Haftungsprivilegs des Beauftragten zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Wäre nämlich auf den Wortlaut abzustellen, so könnte sich der Hauptauftraggeber für den Ersatz von Schaden, der aus nicht gehöriger Auftragsausführung durch den Substituten entstanden ist, meistens nicht gegen diesen wenden, denn der Schaden tritt in solchen Fällen regelmässig nicht beim Beauftragten, sondern beim Auftraggeber ein (vgl. zum Ganzen FELLMANN, Berner Kommentar, N. 600 ff. zu
Art. 398 OR
). Aus diesen Gründen wird in der Literatur durchwegs befürwortet, den direkten Anspruch des Auftraggebers gegen den Substituten nicht davon abhängig zu machen, ob dieser den Beauftragten durch sein Verhalten geschädigt hat. Die rechtliche Grundlage für den Direktanspruch des Auftraggebers sieht die Mehrheit der Lehre in solchen Fällen allerdings nicht in
Art. 399 Abs. 3 OR
, sondern im Vertragsverhältnis zwischen dem Beauftragten und dem Substituten. Dieses wird teils als Vertrag zugunsten eines Dritten, des Hauptauftraggebers, im Sinne von
Art. 112 OR
qualifiziert (GAUTSCHI, Berner Kommentar, N. 10a zu
Art. 399 OR
; BUCHER, a.a.O., S. 232; WEBER, in Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel, N. 6 zu Art. 399; HOFSTETTER, a.a.O., S. 75; vgl. auch
BGE 110 II 183
E. 2b S. 186). Teils wird im Substitutionsauftrag ein Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter gesehen (FELLMANN, N. 615 ff. zu
Art. 398 OR
und N. 102 zu
Art. 399 OR
). Vereinzelt wird schliesslich die Auffassung vertreten, der Direktanspruch lasse sich unmittelbar aus
Art. 399 Abs. 3 OR
ableiten, weil diese Bestimmung als gesetzlich geregelter Fall der Drittschadensliquidation zu deuten sei (HONSELL, a.a.O., S. 275). Im Ergebnis stimmen diese Auffassungen mit dem bereits zitierten Bundesgerichtsentscheid überein, wo festgehalten wurde, der Hauptauftraggeber sei gegenüber dem Substituten weisungsberechtigt, und dieser werde schadenersatzpflichtig, wenn er eine solche Weisung nicht befolge (
BGE 110 II 183
E. 2b S. 186 f.).
b) Ein Vergleich mit dem Recht und der Rechtsprechung der Nachbarländer zeigt, dass ein Direktanspruch des Hauptauftraggebers gegenüber dem
BGE 121 III 310 S. 316
Substituten insbesondere auch für den Fall der mehrgliedrigen Banküberweisung allgemein anerkannt ist.
Wie bereits festgehalten, gibt Art. 1994 Abs. 2 des französischen Code civil (CC) dem Auftraggeber das Recht, direkt gegen den Substituten vorzugehen. Nach französischer Lehrmeinung ist die Empfängerbank im mehrgliedrigen Überweisungsverkehr Substitutin der erstbeauftragten Bank. Unterlaufen ihr bei der Auftragsausführung Fehler, so kann der Hauptauftraggeber den ihm daraus entstandenen Schaden gestützt auf Art. 1994 Abs. 2 CC gegen sie einklagen (RIVES-LANGE/CONTAMINE-RAYNAUD, a.a.O., Rz. 297; Encyclopédie juridique DALLOZ, Droit commercial, Rz. 73 f. zum Stichwort "virement").
Nach mehrheitlicher deutscher Lehre liegt beim mehrgliedrigen Überweisungsverkehr der Fall eines zwischen den Banken geschlossenen Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte vor. Der Hauptauftraggeber kann als "geschützter Dritter" vertragliche Schadenersatzansprüche direkt gegen die Empfängerbank geltend machen (MünchKomm/GOTTWALD, N. 120 zu § 328 BGB; LARENZ, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I, 14. Auflage, S. 228 Fn. 28; CANARIS, in Grosskomm. HGB, Rz. 21 ff. und 395; VON GABLENZ, Die Haftung der Banken bei Einschaltung Dritter, S. 225). Begründet wird die Schutzwürdigkeit des Hauptauftraggebers mit dem Hinweis darauf, dass in den Massengeschäften des bankenmässigen Zahlungsverkehrs der Publikumsschutz als Korrelat der mit der Verfahrensstandardisierung erzielten Kostenvorteile zu betrachten sei (ESSER/SCHMIDT, Schuldrecht, Band I/2, 7. Auflage, S. 253). Als weiteres Argument wird zudem vorgebracht, der Schutz des Hauptauftraggebers könne nicht von der Zufälligkeit der Zwischenschaltung einer weiteren Bank abhängen, wenn diese einen haftungsbegründenden Fehler gemacht habe (CANARIS, Schutzwirkungen zugunsten Dritter bei "Gegenläufigkeit" der Interessen, JZ 1995, S. 441 ff., S. 443).
In der österreichischen Literatur wird ebenfalls die Auffassung vertreten, das Verhältnis zwischen der Bank des Auftraggebers und der Empfängerbank könne als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten des Auftraggebers angesehen werden. Bei Einschaltung weiterer Banken liege eine Kette von Verträgen vor, die mit Schutzwirkung zugunsten des Auftraggebers ausgestattet seien. Zu bedenken sei jedoch, dass die dem Auftraggeber entstehenden Nachteile stets blosse Vermögensschäden seien und diese in der Regel nicht in den Schutzbereich einbezogen seien. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz werde allerdings dann anerkannt, wenn die Hauptleistung ersichtlich gerade dem
BGE 121 III 310 S. 317
geschädigten Dritten zukommen solle, was insbesondere bei Verträgen zugunsten Dritter oder bei mittelbarer Stellvertretung der Fall sei. Diese Voraussetzung könne bei der Überweisung wohl als gegeben angesehen werden, da die Hauptleistung in der Zahlung für den Überweisenden liege und die Bank des Überweisenden - erkennbar - als dessen mittelbarer Stellvertreter agiere (AVANCINI/IRO/KOZIOL, a.a.O., Band I, Rz. 6/24; vgl. auch Band II, Rz. 3/142 mit Hinweisen).
c) Zu berücksichtigen ist schliesslich, dass sich die Anerkennung eines Direktanspruchs auch aufgrund von - zum Teil bereits erwähnten - Überlegungen aufdrängt, die unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit von
Art. 399 Abs. 3 OR
unmittelbar auf die rechtliche Wertung der Interessen der am Überweisungsverhältnis beteiligten Parteien abstellen. Als Ausgangspunkt dient der Umstand, dass die indirekten Vertretungsverhältnisse im mehrgliedrigen Überweisungsverkehr regelmässig offenliegen, weil keine der beteiligten Banken davon ausgehen darf, die andere handle ausschliesslich auf eigene Rechnung. Das Drittinteresse ist dem bankeninternen Giroverkehr immanent und allseits erkennbar, ebenso das Schutzbedürfnis des Überweisenden gegenüber Fehlleistungen der Banken. Der bankeninterne Giroverkehr steht im Dienste der Überweisungspartner und soll die Geschäftsabwicklung zwischen den Banken erleichtern. Die mit dieser Erleichterung einhergehenden Risiken von Fehlleistungen aber müssen sachgerecht die Banken und nicht die Überweisungspartner tragen. Diese dürfen nicht allein wegen der Zwischenschaltung einer weiteren Bank schutzlos bleiben, obwohl die Voraussetzungen einer Pflichtverletzung an sich vorliegen. Es geht letztlich darum, zu verhindern, dass aufgrund rein zahlungstechnischer oder organisatorischer Zufälligkeiten Schutzansprüche wegfallen bzw. Pflichten leerlaufen, die "eigentlich", das heisst abgesehen von der Vertragsgläubigerstellung des Geschädigten, gegeben sind (CANARIS, JZ 1995, S. 443).
5.
a) Der Direktanspruch des Hauptauftraggebers ist vertraglicher Natur. Das gilt unabhängig davon, ob er unmittelbar aus
Art. 399 Abs. 3 OR
abgeleitet oder seine Grundlage in einem Vertrag zugunsten Dritter im Sinne von
Art. 112 OR
gesehen wird. Anwendbar ist somit die zehnjährige Verjährungsfrist von
Art. 127 OR
, die mit der Klageeinreichung im Juni 1992 offensichtlich eingehalten worden ist.
b) Das Obergericht wirft der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin vor, sie hätte dem Vermerk auf dem Formular der SIC-Überweisung entnehmen
BGE 121 III 310 S. 318
müssen, dass der Kläger mit aller Wahrscheinlichkeit das Geld nicht B. allein, sondern ihm und einer weiteren Person, "T.", habe gutschreiben wollen, wobei aber unklar gewesen sei, ob diese zwei Personen an den Fr. 300'000.-- als Solidargläubiger oder als Gläubigergemeinschaft hätten berechtigt sein sollen. Diese Zweifel hätten die Bank Y. veranlassen müssen, die Absenderbank oder den in der SIC-Überweisungsanzeige aufgeführten Absender aufzufordern, das begünstigte Konto bzw. die begünstigten Personen eindeutig zu bezeichnen, oder "das Geld zu retournieren".
Dem Obergericht ist zuzustimmen, dass der Vermerk, Begünstigte seien "B. & T. Sperrkonto" unter den gegebenen Umständen zwar keine eindeutige Bedeutung hatte, von der Adressatin aber jedenfalls nicht als Weisung verstanden werden durfte, den Betrag von Fr. 300'000.-- einem Konto gutzuschreiben, über das B. allein verfügen konnte. Nach der hier massgebenden Fachsprache liegt das entscheidende Kriterium des Sperrkontos nicht in einer Mehrzahl von Inhabern, sondern allgemeiner darin, dass die Verfügungsmacht des Kontoinhabers über das Guthaben besonderen Einschränkungen, namentlich der Zustimmung eines Dritten, unterstellt ist (CANARIS, in Grosskomm. HGB, Rz. 250; AVANCINI/IRO/KOZIOL, a.a.O., Rz. 4/201). Beim sogenannten Und-Konto, auf welches das Obergericht offenbar Bezug nimmt, handelt es sich um eine besondere Ausgestaltung des Sperrkontos mit mehreren Inhabern, die nur gemeinsam - als Gläubigergemeinschaft - darüber verfügen können (GUGGENHEIM, a.a.O., S. 212; CANARIS, in Grosskomm. HGB, Rz. 230 und 251). Die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerin handelte somit weisungswidrig, das heisst in Verletzung des im Überweisungsverhältnis eingegangenen Girovertrags, indem sie den vom Kläger überwiesenen Betrag dem Konto von B. gutschrieb. Diese Vertragsverletzung bildet nach den vorangehenden Ausführungen die Grundlage des Direktanspruchs des Klägers gegenüber der Beklagten.
c) Das Obergericht hat sich - entsprechend seiner Rechtsauffassung - zu den übrigen Voraussetzungen einer vertraglichen Schadenersatzpflicht der Beklagten noch nicht geäussert. Dabei handelt es sich insbesondere um die Fragen der Kausalität der Vertragsverletzung für den geltend gemachten Schaden, des Verschuldens der Beklagten und des Ausmasses ihrer Ersatzpflicht. In Gutheissung des Eventualbegehrens der Berufung ist daher die Streitsache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. | de |
376c8766-95e1-46dd-996e-18ea8e323373 | SR 702.1 1 Zweitwohnungsverordnung (ZWV) vom 4. Dezember 2015 (Stand am 1. Januar 2018) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf das Bundesgesetz vom 20. März 20151 über Zweitwohnungen (Gesetz), verordnet: 1. Abschnitt: Ermittlung und Veröffentlichung der Gesamtzahl der Wohnungen und des Zweitwohnungsanteils Art. 1 Aufgaben und Kompetenzen der Gemeinden 1 Jede Gemeinde liefert dem Bundesamt für Statistik (BFS) ihre Einwohnerdaten jährlich mit Stichtag 31. Dezember bis spätestens am 31. Januar des Folgejahres und führt das eidgenössische Gebäude- und Wohnungsregister (GWR) nach Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung vom 9. Juni 20172 über das eidgenössische Gebäude- und Wohnungsregister nach.3 2 Die Gemeinde kann in den Kantonen mit anerkanntem Gebäude- und Wohnungs- register ihre Einwohnerdaten zusätzlich auch dem Kanton zur Verfügung stellen, um die automatisierte Kennzeichnung der Erstwohnungen im kantonalen Gebäude- und Wohnungsregister zu ermöglichen. Art. 2 Aufgaben und Kompetenzen des Bundes 1 Im Hinblick auf die Feststellung des Zweitwohnungsanteils führt das BFS im GWR aufgrund der Einwohnerdaten nach Artikel 1 Absatz 1 das Wohnungsmerkmal Nutzungsart der Wohnung. 2 Auf der Grundlage der Gemeindedaten im GWR stellt das Bundesamt für Raum- entwicklung (ARE) für jede Gemeinde bis zum 31. März jeden Jahres fest, ob ihr Zweitwohnungsanteil mehr als 20 Prozent beträgt oder nicht. 3 Das ARE kann von Amtes wegen die von der Gemeinde gemäss Artikel 1 Absatz 1 gelieferten Daten überprüfen. 4 Es veröffentlicht jährlich eine Liste mit den folgenden Angaben zu jeder Gemein- de: Gesamtzahl der Wohnungen, Anzahl Erstwohnungen, Erstwohnungsanteil sowie Feststellung, ob der Zweitwohnungsanteil mehr als 20 Prozent beträgt oder nicht. AS 2015 5669 1 SR 702 2 SR 431.841 3 Fassung gemäss Anhang 2 Ziff. II 4 der V vom 9. Juni 2017 über das eidgenössische Gebäude- und Wohnungsregister, in Kraft seit 1. Juli 2017 (AS 2017 3459). 702.1 Landes-, Regional- und Ortsplanung 2 702.1 2. Abschnitt: Erstellung neuer Wohnungen Art. 3 Anmerkung im Grundbuch 1 Die Nutzungsauflage, die bei Wohnungen mit Nutzungsbeschränkung gemäss Gesetz im Grundbuch angemerkt werden muss, lautet wie folgt: a. Erstwohnung oder einer Erstwohnung gleichgestellte Wohnung nach Arti- kel 7 Absatz 1 Buchstabe a des Gesetzes; b. touristisch bewirtschaftete Wohnung nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe a des Gesetzes (Einliegerwohnung); oder c. touristisch bewirtschaftete Wohnung nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe b des Gesetzes (Wohnung im Rahmen eines strukturierten Beherbergungsbe- triebs). 2 Die Anmerkung im Grundbuch umfasst zusätzlich zur jeweiligen Wohnung den Gebäude- und den Wohnungsidentifikator nach Artikel 8 Absätze 2 Buchstabe a und 3 Buchstabe a der Verordnung vom 9. Juni 20174 über das eidgenössische Gebäude- und Wohnungsregister.5 3 Die Gemeinde kann die Nutzungsbeschränkung im GWR eintragen. Art. 4 Strukturierter Beherbergungsbetrieb Ein strukturierter Beherbergungsbetrieb im Sinne des Gesetzes liegt vor, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: a. Der Betrieb umfasst hotelmässige Dienstleistungen und Infrastrukturen, die typischerweise von der Mehrheit der Gäste beansprucht werden. b. Er weist ein hotelähnliches Betriebskonzept auf. c. Die Bewirtschaftung im Rahmen eines einheitlichen Betriebs ist sicherge- stellt. Art. 5 Gutachten 1 Das Gutachten nach Artikel 8 Absatz 5 des Gesetzes ist von der gesuchstellenden Person in Auftrag zu geben. Die Bestimmung des Gutachters beziehungsweise der Gutachterin bedarf der Zustimmung der Baubewilligungsbehörde. 2 In Fällen nach Artikel 8 Absatz 1 hat sich das Gutachten insbesondere zu äussern: a. zur gegenwärtigen und künftigen Wirtschaftlichkeit des Betriebs bezie- hungsweise der Betriebe; b. zur Querfinanzierung und Verwendung der Erträge. 4 SR 431.841 5 Fassung gemäss Anhang 2 Ziff. II 4 der V vom 9. Juni 2017 über das eidgenössische Gebäude- und Wohnungsregister, in Kraft seit 1. Juli 2017 (AS 2017 3459). Zweitwohnungsverordnung 3 702.1 3 In Fällen nach Artikel 8 Absatz 4 hat sich das Gutachten insbesondere zu äussern: a. zur gegenwärtigen und künftigen Wirtschaftlichkeit des Betriebs; b. zur Bewirtschaftungsdauer; und c. zur Frage, ob ein Fehlverhalten des Eigentümers oder der Eigentümerin be- ziehungsweise des Betreibers oder der Betreiberin dazu geführt hat, dass der betreffende Beherbergungsbetrieb nicht mehr wirtschaftlich weitergeführt werden kann. Art. 6 Ortsbildprägende Bauten 1 Ortsbildprägende Bauten im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 des Gesetzes sind Ge- bäude, die durch ihre Lage und Gestalt wesentlich zur erhaltenswerten Qualität des Ortsbildes und zur Identität des Ortes beitragen. 2 Die Kantone sorgen für ein Verfahren zur Bestimmung der ortsbildprägenden Bauten. 3. Abschnitt: Umnutzung einer touristisch bewirtschafteten Wohnung und Meldung Art. 7 1 Eine Wohnung mit einer Nutzungsbeschränkung nach Artikel 7 Absatz 1 Buch- stabe b des Gesetzes darf auch als Wohnung nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a genutzt werden. 2 Die Eigentümerin oder der Eigentümer der Wohnung hat die Nutzungsänderung innert 30 Tagen ab Bezug der Wohnung der Baubewilligungsbehörde zu melden. 4. Abschnitt: Sistierung der Nutzungsbeschränkung bei neurechtlichen Wohnungen Art. 8 Sistierung nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a des Gesetzes 1 Die Baubewilligungsbehörde befristet Sistierungen nach Artikel 14 Absatz 1 Buch- stabe a des Gesetzes auf längstens zwei Jahre. Sie kann die Dauer ausnahmsweise um bis zu zwei Jahre verlängern, wenn triftige Gründe dies rechtfertigen. 2 Eine weitere Fortsetzung der Sistierung ist zulässig, wenn die Voraussetzungen nach Artikel 9 erfüllt sind. Art. 9 Sistierung nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b des Gesetzes 1 Die Baubewilligungsbehörde befristet Sistierungen nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b des Gesetzes auf längstens zwei Jahre. Sie verlängert die Sistierung, wenn der Eigentümer oder die Eigentümerin nachweist, dass die Voraussetzungen Landes-, Regional- und Ortsplanung 4 702.1 nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b des Gesetzes weiterhin erfüllt sind. Die Ver- längerung beträgt jeweils höchstens zwei Jahre. 2 Der Eigentümer oder die Eigentümerin muss in jedem Fall belegen, dass: a. regelmässig Inserate auf marktübliche Art und Weise erschienen sind; b. die Wohnung zu markt- und ortsüblichen Bedingungen ausgeschrieben wor- den ist; und c. die Wohnung für eine Mieterin oder einen Mieter oder eine Käuferin oder einen Käufer jederzeit bezugsbereit gewesen ist. 3 Ist der Nachweis nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b des Gesetzes nicht er- bracht, so verweigert die Baubewilligungsbehörde die Sistierung. Falls amtliche Massnahmen nach Artikel 17 des Gesetzes in Betracht kommen, überweist sie das Dossier an die zuständige Behörde. 4 Das Grundbuchamt versieht auf Antrag des Eigentümers oder der Eigentümerin im Fall von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b des Gesetzes die Anmerkung mit dem Zusatz der befristeten Sistierung. 5. Abschnitt: Beschwerderecht und Eröffnung von Entscheiden Art. 10 1 Das ARE ist im Bereich des Zweitwohnungswesens zur Beschwerde nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege berechtigt. 2 Die Baubewilligungsbehörden eröffnen dem ARE: a. die Bewilligungen für neue Wohnungen, die sie gestützt auf die Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b, 8 und 9 des Gesetzes erteilt; b. die Sistierungsverfügungen nach Artikel 14 des Gesetzes; c. Baubewilligungen für Wohnungen mit einer sistierten Nutzungsbeschrän- kung. 6. Abschnitt: Übergangs- und Schlussbestimmungen Art. 116 Art. 12 Änderung anderer Erlasse Die nachstehenden Erlasse werden wie folgt geändert: …7 6 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 1. Nov. 2017, mit Wirkung seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6331). 7 Die Änderungen können unter AS 2015 5669 konsultiert werden. Zweitwohnungsverordnung 5 702.1 Art. 13 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 2016 in Kraft. Landes-, Regional- und Ortsplanung 6 702.1 Anhang8 8 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 1. Nov. 2017, mit Wirkung seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6331). | de |
5fbe4dff-f08d-44b6-9f89-e81c334c6f6b | Sachverhalt
ab Seite 256
BGE 104 Ia 256 S. 256
Der im Kanton Zug wohnhafte X. erzielte im Durchschnitt der Jahre 1973/74 ein steuerbares Einkommen von rund 1,8 Millionen Franken. Er ist in Zürich für zwei dort gelegene Liegenschaften steuerpflichtig, deren Rendite sich in runden Ziffern auf Fr. 350'000.- beläuft. In den Jahren 1973 und 1974 tätigte X. gemeinnützige Vergabungen von durchschnittlich Fr. 173'000.- (1973: 144'500.-; 1974: Fr. 201'500.-). Die Steuerverwaltung des Kantons Zug liess in der Veranlagung vom 20. April 1976 zur Kantonssteuer 1975/76 den Abzug dieser Aufwendungen nach Massgabe des Verhältnisses der in den beiden Kantonen steuerpflichtigen Einkünfte zu, was im Durchschnitt der beiden Jahre einen abzurechnenden Betrag von aufgerundet Fr. 150'000.- ergibt. Der Steuerkommissär des kantonalen Steueramtes Zürich verweigerte in seinen Einschätzungsentscheiden vom 22. Juni 1977 für die Steuerjahre 1974 und 1975 dagegen jeglichen Abzug für gemeinnützige Zuwendungen.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 46 Abs. 2 BV
beantragt X., es seien die angefochtenen Veranlagungen aufzuheben und die Kantone Zürich und Zug anzuweisen, die vom Beschwerdeführer in den Bemessungsjahren getätigten gemeinnützigen Zuwendungen in vollem Umfange zum Abzug zuzulassen, in dem Sinne, dass der Abzug der gesamten gemeinnützigen Zuwendungen vom gesamten -
BGE 104 Ia 256 S. 257
unter den beiden Kantonen aufzuteilenden - Einkommen zu gewährleisten sei. Die Zuordnung des Abzuges bzw. der anteilsmässigen Abzüge habe nach der Regelung zu geschehen, welche das Bundesgericht für diesen Fall treffen werde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 46 Abs. 2 BV
ist spätestens im Anschluss an die Geltendmachung des zweiten der einander allenfalls ausschliessenden Steueransprüche zu erheben, wobei der kantonale Instanzenzug nicht erschöpft zu werden braucht, aber gegenüber dem angefochtenen Entscheid die dreissigtägige Beschwerdefrist einzuhalten ist (Art. 86 Abs. 2 und 89 Abs. 3 OG;
BGE 98 Ia 89
E. 1 mit Verweisungen). Im vorliegenden Fall decken sich die Steuerbemessungsperioden teilweise, nämlich für das Jahr 1974. Die Beschwerde ist im Anschluss an die zweite Veranlagung (diejenige des Kantons Zürich) rechtzeitig eingereicht worden. Infolgedessen ist auch die frühere, im Kanton Zug ergangene Veranlagung in das Verfahren einbezogen (
BGE 98 Ia 89
E. 1; LOCHER, Doppelbesteuerung, § 12 III B, 2, Nr. 24).
2.
Sowohl der Kanton Zürich als auch der Kanton Zug folgt dem System der allgemeinen Reineinkommenssteuer. Beide Kantone sehen vor, dass vom Einkommen gewisse Auslagen und Freibeträge abgezogen werden können.
a) § 20 des zugerischen Gesetzes über die Kantons- und Gemeindesteuern vom 7. Dezember 1946 (ZG StG) zählt verschiedene zulässige Abzüge vom Roheinkommen wie Berufsauslagen, Abschreibungen, Geschäftsverluste, gesetzliche Beiträge an Versicherungen oder Sozialwerke, Gebäudeunterhaltskosten oder Krankheitskosten auf. Gemäss
§ 20 Ziff. 12 ZG
StG können vom rohen Einkommen namentlich abgezogen werden:
"Zuwendungen an den Kanton und seine Anstalten, an zugerische Gemeinden und ihre Anstalten und Werke sowie an Institutionen, die eine gemeinnützige, wohltätige, kirchliche, wissenschaftliche oder kulturelle Tätigkeit ausüben, bis zu höchstens 10 Prozent des Jahreseinkommens,
soweit diese Zuwendungen insgesamt den Betrag von Fr. 500.- pro Jahr übersteigen und im Einzelfall mindestens Fr. 100.- betragen."
BGE 104 Ia 256 S. 258
§ 23 ZG
StG sieht unter dem Randtitel "Sozialabzüge" gewisse, meist ziffernmässig festgesetzte Abzüge vom reinen Einkommen, namentlich für familiäre Lasten und für Beiträge an freiwillige Personenversicherungen, vor.
§ 34 ZG
StG lässt in ähnlicher Weise bestimmte Abzüge vom reinen Vermögen zu.
b) Unter dem Randtitel "2. Abzüge a) Im allgemeinen" erwähnt § 25 des zürcherischen Gesetzes über die direkten Steuern vom 8. Juli 1951 (ZH StG) als Abzüge von den steuerbaren Einkünften beispielsweise Berufs- und Geschäftsauslagen, Kosten für den Liegenschaftenunterhalt, Schuldzinsen, Alimente, Versicherungsprämien, Spareinlagen für unmündige Kinder und Beiträge an politische Parteien. Laut § 25 lit. m ZH StG können auch abgezogen werden:
"Zuwendungen an den Kanton und seine Anstalten, an zürcherische Gemeinden und ihre Anstalten und an andere juristische Personen, welche im Hinblick auf gemeinnützige Zwecke von der Steuerpflicht im Kanton befreit sind, bis zu höchstens 20% des Reineinkommens."
§ 31 ZH StG führt unter dem Marginale "5. Steuerberechnung a) steuerfreie Beträge" gewisse zahlenmässig bestimmte Abzüge vom Reineinkommen an, nämlich einen persönlichen Abzug sowie Alters-, Kinder- und Unterstützungsabzüge. Unter demselben Randtitel sieht § 41 ZH StG auch gewisse Abzüge vom Reinvermögen vor.
c) Die Abzüge, welche die beiden Steuergesetze vorsehen, stimmen im wesentlichen überein. Während der Kanton Zürich Zuwendungen an gemeinnützige Institutionen bis zu einem Betrag von 20% des Reineinkommens zum Abzug zulässt, begrenzt der Kanton Zug diesen Abzug bei 10% des Jahreseinkommens. Dagegen bindet die zürcherische Regelung den Abzug sachlich an engere Voraussetzungen als der Kanton Zug.
3.
Der Kanton Zürich verweigert dem Beschwerdeführer jeglichen Abzug für gemeinnützige Zuwendungen von dem im Kanton Zürich steuerpflichtigen Einkommen. Er stützt sich dabei auf § 7 Abs. 1 ZH StG, welcher unter dem Marginale "Steuerberechnung bei beschränkter Steuerpflicht" bestimmt, dass beschränkt Steuerpflichtigen "steuerfreie Beträge ... anteilsmässig gewährt" werden. Er folgert daraus, dass diese anteilsmässige Anrechnung nur für die in den §§ 31 (für die Einkommenssteuer) und 41 (für die Vermögenssteuer) unter den
BGE 104 Ia 256 S. 259
übereinstimmenden Randtiteln "Steuerberechnung a) steuerfreie Beträge" erwähnten Steuervergünstigungen gilt. Die in § 25 ZH StG unter dem Marginale "Abzüge a) Im allgemeinen" figurierenden Steuererleichterungen sollen nach Auffassung der zürcherischen Steuerbehörden nur zur Berechnung des für die Festsetzung des Steuersatzes massgebenden Gesamteinkommens des im Kanton Zürich beschränkt Steuerpflichtigen dienen, nicht aber anteilsmässig von der im Kanton Zürich steuerbaren Einkommensquote abgezogen werden können. Die Zürcher Behörden berufen sich auf einen Präzedenzfall, in welchem ein im Kanton Schaffhausen wohnhafter Steuerpflichtiger, der im Kanton Zürich eine Liegenschaft besass, seiner geschiedenen Frau Alimente zu bezahlen hatte. Der Kanton Zürich hatte zwar bei der Errechnung des steuerbaren Gesamteinkommens die an die Ehefrau geleisteten Alimente abgezogen, weigerte sich aber mit der erwähnten Begründung, von der im Kanton Zürich steuerpflichtigen Einkommensquote (Liegenschaftsertrag abzüglich der Unterhaltskosten und eines Anteils der Passivzinsen) einen verhältnismässigen Abzug zu gewähren. Das Bundesgericht wies eine gegen diesen Entscheid gerichtete staatsrechtliche Beschwerde ab (nicht veröffentlichtes Urteil vom 1. Dezember 1954 in Sachen F.). Es prüfte die Frage allerdings nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür und wies lediglich am Rande auf das interkantonale Doppelbesteuerungsrecht hin. Es führte dazu aus, dass es nach den Grundsätzen des Doppelbesteuerungsrechts Sache des Wohnsitzkantons wäre, die Alimentenschuld bei der Festsetzung des steuerbaren Einkommens voll abzuziehen. Wenn dieser Kanton nach seiner gesetzlichen Ordnung einen solchen Abzug nicht vorsehe, könne daraus nicht abgeleitet werden, dass der Kanton Zürich die Alimentenzahlung nicht nur bei der Bemessung des Gesamteinkommens, sondern auch noch - anteilsmässig - bei der Festsetzung des im Kanton Zürich steuerbaren Einkommens zu berücksichtigen habe.
Es kann dahingestellt bleiben, ob das Bundesgericht sich in dieser Angelegenheit zu Recht auf eine Willkürprüfung beschränkte. Jedenfalls kann dieser Fall nicht als Präjudiz in einem Doppelbesteuerungsstreit herangezogen werden, da es sich bei dem kurzen Exkurs zu dieser Frage lediglich um ein obiter dictum handelt, das nicht näher begründet worden ist. Die Frage, wie § 7 Abs. 1 ZH StG auszulegen ist, kann ebenfalls
BGE 104 Ia 256 S. 260
offen bleiben. Soweit diese Bestimmung eine interkantonale Kollisionsnorm enthalten sollte, muss sie vor den vom Bundesgericht gestützt auf
Art. 46 Abs. 2 BV
entwickelten Regeln, auf welche übrigens § 6 Abs. 1 ZH StG ausdrücklich verweist, zurücktreten.
4.
Aus dem Doppelbesteuerungsverbot des
Art. 46 Abs. 2 BV
folgt nach feststehender Rechtsprechung des Bundesgerichts, dass die wirtschaftliche Zugehörigkeit eines Steuerpflichtigen zu mehreren Kantonen für ihn nicht besondere, mit der Teilung nicht notwendig verbundene Nachteile zur Folge haben darf. Insbesondere geht es nicht an, das ein Kanton einen Steuerpflichtigen für die ihm unterstehenden Steuerobjekte oder Teile von solchen deswegen stärker belastet, weil der Steuerpflichtige wirtschaftlich mit der Gesamtheit seiner Steuerobjekte nicht nur zu ihm, sondern auch noch zu einem anderen Kanton gehört und teilweise unter dessen Steuerhoheit steht (
BGE 98 Ia 578
E. 3 mit Verweisungen; ASA 30 S. 239 ff.; GYGAX, Schweizerisches Steuer-Lexikon, 10. Auflage, Zürich 1977, Bd. II, S. 110, N. 3; BLUMENSTEIN, System des Steuerrechts, 3. Auflage, Zürich 1971, S. 79; REIMANN, Das Steuerdomizil natürlicher Personen im schweizerischen Steuerrecht, ZBl 1951 S. 497). Vielmehr sollen Personen, die in mehreren Kantonen steuerpflichtig sind, die Vorteile und Nachteile der Steuersysteme jedes dieser Kantone soweit geniessen oder tragen, als sie seiner Steuerhoheit unterstehen (nicht veröffentlichtes Urteil vom 3. Dezember 1937 in Sachen Z., S. 5/6).
Das Bundesgericht hat aus diesem Grundsatz abgeleitet, dass ein Kanton mit Reinvermögenssteuersystem einem Steuerpflichtigen, dessen Vermögen noch der Steuerhoheit anderer Kantone unterworfen ist, den Abzug der Schulden verhältnismässig, entsprechend dem seiner Steuerhoheit unterliegenden Teil sämtlicher Vermögensgegenstände des Steuerpflichtigen, gewähren muss (
BGE 99 Ia 677
E. 3c; HÖHN, Doppelbesteuerungsrecht, Bern 1973, S. 295; LOCHER, Doppelbesteuerung, Bd. 3, § 9 I A).
Bei der Verlegung der Abzüge vom Einkommen auf die betroffenen Kantone ist im Anwendungsbereich der allgemeinen Reineinkommenssteuer nach Lehre und Praxis auf die Art dieser Abzüge abzustellen und der besonderen Verbundenheit gewisser Einnahmen und Ausgaben Rechnung zu tragen (
BGE 63 I 71
; BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 90). In der bundesgerichtlichen
BGE 104 Ia 256 S. 261
Rechtsprechung lassen sich namentlich folgende Fälle unterscheiden:
a) Auslagen, welche direkt mit der Erzielung bestimmter Einkünfte verbunden sind, werden demjenigen Kanton zum Abzug zugewiesen, der diese Einkünfte besteuert. Die Kosten für den Unterhalt von Gebäuden beziehen sich immer auf einzelne Liegenschaften. Als Belastung des Ertrages dieser Liegenschaften sind sie daher objektmässig auszuscheiden, d.h. vom Liegenschaftskanton zu tragen (HÖHN, a.a.O., S. 294).
b) Schuldzinsen werden als besondere Belastung des Vermögensertrages betrachtet, weil die Praxis den inneren Zusammenhang zwischen Vermögen und Kredit als massgebend ansieht (
BGE 63 I 72
). Sie sind daher in erster Linie vom Vermögensertrag abzuziehen und werden quotenmässig, im Verhältnis der in den einzelnen Kantonen gelegenen Aktiven, den betroffenen Kantonen zum Abzug zugewiesen (
BGE 97 I 40
f. E. 2 mit Verweisungen; ASA 39 S. 327 E. 3 mit Verweisungen; HÖHN, a.a.O., S. 295; vgl. die Kritik bei PASCHOUD, L'imposition des immeubles et de leur rendement en droit fiscal intercantonal, Diss. Lausanne 1970, S. 138, 152 ff.). Dieser Grundsatz wurde durch das Bundesgericht analog auf eine Rente ausgedehnt, welche die Ehefrau eines Steuerpflichtigen ihrer Mutter als Gegenleistung für Vermögen ausrichten musste, das sie von ihrem Vater geerbt hatte und das in verschiedenen Kantonen lag (
BGE 85 I 15
E. 3; kritisch: PASCHOUD, a.a.O., S. 147).
c) Eine dritte Kategorie bilden die Sozialabzüge. Sie stehen in aller Regel nicht in einem organischen Zusammenhang mit der Erzielung eines bestimmten Teiles der Einkünfte, sondern betreffen das ganze Einkommen ohne Unterschied. Im Falle eines Steuerpflichtigen, der im Kanton Thurgau wohnte und teils dort, teils im Kanton Schaffhausen erwerbstätig war, hiess das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 46 Abs. 2 BV
gut, weil sich der Kanton Schaffhausen geweigert hatte, die im schaffhauserischen Steuergesetz nur für Kantonseinwohner vorgesehenen Sozialabzüge verhältnismässig auf den in diesem Kanton steuerbaren Einkommensteil anzurechnen (nicht veröffentlichtes Urteil vom 3. Dezember 1937 in Sachen Z.). Wie das Bundesgericht ausführte, sind solche Abzüge, soweit sie in den massgebenden Steuergesetzen überhaupt vorgesehen sind, anteilsmässig auch denjenigen
BGE 104 Ia 256 S. 262
Steuerpflichtigen zu gewähren, die mit ihrem Einkommen auch noch der Steuerhoheit anderer Kantone unterstehen, da ein besonderer Zusammenhang zwischen solchen Abzügen und der Art des steuerpflichtigen Einkommens im allgemeinen nicht angenommen werden könne. Eine Abweichung von dieser Regel rechtfertige sich nur, wenn hiefür wichtige Gründe sprechen (S. 7). Der Grundsatz der verhältnismässigen Anrechnung von Sozialabzügen wird auch in der Rechtslehre vertreten (HÖHN, a.a.O., S. 279 unter Hinweis auf LOCHER, Doppelbesteuerung, § 9 III Nr. 1-3; GYGAX, a.a.O., Bd. II, S. 121, N. 23; SCHLUMPF/DÜRR, Bundesgerichtspraxis zum Doppelbesteuerungsverbot, 3. Auflage, Zürich 1963, S. 26; PASCHOUD, a.a.O., S. 148 f.). Er gilt nach der Bundesgerichtspraxis auch dann, wenn sich die Unterwerfung eines Steuerpflichtigen unter die Steuerhoheit zweier Kantone daraus ergibt, dass er im einen Kanton wohnt, im anderen dagegen für eine Liegenschaft steuerpflichtig ist (nicht veröffentlichtes Urteil vom 2. April 1947 in Sachen J.). Aus dieser Praxis ergibt sich folgende Regel: Sozialabzüge sind, da sie nicht in einem organischen Zusammenhang mit der Erzielung eines bestimmten Teiles der Einkünfte stehen, sondern ohne Unterschied das ganze Vermögen betreffen, kollisionsrechtlich den interessierten Kantonen im Verhältnis der dort steuerbaren Einkommensquoten zum Abzug zuzuweisen, wobei die Art der Anknüpfung der kantonalen Steuerhoheit keine Rolle spielt (vgl. PASCHOUD, a.a.O., S. 149). Soweit ein Kanton derartige Abzüge vorsieht, muss er sie auch den beschränkt steuerpflichtigen Auswärtigen gewähren, wenn nicht wichtige Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Unerheblich ist, dass ein Kanton den fraglichen Abzug nicht zu den Sozialabzügen zählt, sondern ihn im Gesetz gleich wie Gewinnungskosten, Unkosten, Abschreibungen oder Unterhaltskosten behandelt (nicht veröffentlichtes Urteil vom 2. April 1947 in Sachen J., E. 2). Behandelt er Auswärtige ohne zureichende Gründe abweichend von den Einheimischen, so verstösst er gegen
Art. 46 Abs. 2 BV
.
5.
Es bleibt zu prüfen, ob die unter der vorstehenden Ziffer 4/c dargelegten Regeln über die Behandlung der Sozialabzüge auch auf andere Arten von Steuererleichterungen angewendet werden können, die nicht in besonderem Zusammenhang mit bestimmten Teilen des Einkommens stehen. Diese Frage ist grundsätzlich zu bejahen. Doppelbesteuerungsrechtlich
BGE 104 Ia 256 S. 263
ist allein die Natur der Abzüge und ihre Verbundenheit mit der Erzielung bestimmter Einkommensteile massgebend.
Sowohl der Kanton Zug als auch der Kanton Zürich sieht Abzüge für gemeinnützige Zuwendungen vor. Diese Zuwendungen stehen in keinem Zusammenhang mit bestimmten Einkommensteilen (vgl. BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 224 Ziff. 5). Wichtige Gründe, die gebieten würden, sie allein dem Wohnsitzkanton aufzubürden, sind nicht ersichtlich und werden auch nicht geltend gemacht. Es rechtfertigt sich daher, sie kollisionsrechtlich im Verhältnis der steuerpflichtigen Einkommensquoten auf die betroffenen Kantone zu verlegen. Dies führt zur Abweisung der Beschwerde gegenüber dem Kanton Zug.
Für den Kanton Zürich folgt aus diesen Ausführungen, dass die im zürcherischen Steuergesetz vorgesehenen Abzüge für gemeinnützige Zuwendungen den im Kanton Zürich beschränkt steuerpflichtigen Auswärtigen nach Massgabe des in Zürich steuerpflichtigen Einkommensanteils in gleicher Weise zu gewähren ist wie den ausschliesslich im Kanton Zürich steuerpflichtigen Bürgern. Soweit das zürcherische Steuergesetz, so wie es von den zürcherischen Steuerbehörden im vorliegenden Fall ausgelegt wurde, den Auswärtigen diesen Abzug schlechthin verweigert, verstösst es gegen
Art. 46 Abs. 2 BV
. Der Kanton Zürich wird daher zu prüfen haben, welcher Teil der gesamten gemeinnützigen Zuwendungen des Beschwerdeführers den etwas einschränkenderen Voraussetzungen des § 25 lit. m ZH StG genügt. Eine diesem Verhältnis entsprechende Quote des doppelbesteuerungsrechtlich ihm zum Abzug zugewiesenen Anteils der gemeinnützigen Vergabungen des Beschwerdeführers muss er zum Abzug zulassen. Gegenüber dem Kanton Zürich ist die Beschwerde daher im Sinne der vorstehenden Erwägungen gutzuheissen. | de |
6712bc9c-8f6f-4092-b502-4f7f50788bf6 | Sachverhalt
ab Seite 251
BGE 104 Ia 251 S. 251
Der im Kanton Schwyz wohnhafte X. war Eigentümer von 150 der insgesamt 250 Aktien der Y. AG mit Sitz in Basel. Im November 1971 verkaufte er seine 150 Aktien an die Z. AG, Basel, welche schon Eigentümerin der restlichen 100 Aktien der Y. AG war. Die Steuerverwaltung Basel-Stadt teilte X. mit Vorbescheid vom 30. Dezember 1975 mit, der Kapitalgewinn aus dem Aktienverkauf sei im Kanton Basel-Stadt steuerbar. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie am 17. Februar 1976 ab. Gegen den Einspracheentscheid reichte X. Rekurs ein, der von der Steuerkommission des Kantons Basel-Stadt am 28. Januar 1977 abgewiesen wurde.
X. führt beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde gestützt auf
Art. 46 Abs. 2 BV
mit dem Antrag, der Entscheid
BGE 104 Ia 251 S. 252
der Steuerkommission des Kantons Basel-Stadt vom 28. Januar 1977 sei aufzuheben.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden Erwägungen
Erwägungen:
1.
Der Kanton Schwyz, in dem X. wohnt, hat den Beschwerdeführer für den Gewinn aus dem Aktienverkauf nicht besteuert, da - wie in der Beschwerdeantwort ausgeführt wird - das Schwyzer Steuergesetz keine Besteuerung der Kapitalgewinne nicht buchführender Personen kenne. Es liegt somit kein Fall aktueller Doppelbesteuerung vor.
Art. 46 Abs. 2 BV
untersagt indes auch die sogenannte virtuelle Doppelbesteuerung. Eine solche ist dann gegeben, wenn ein Kanton in Verletzung der vom Bundesgericht aufgestellten Kollisionsnormen seine Steuerhoheit überschreitet und eine Steuer erhebt, zu deren Erhebung aufgrund der tatsächlichen und rechtlichen Beziehungen ein anderer Kanton zuständig wäre (
BGE 99 Ia 673
E. 2a,
BGE 98 Ia 90
und 216 E. 1,
BGE 91 I 282
E. 2 und 474 E. 3). Die vorliegende Beschwerde, die zum Zwecke hat, das Recht des Kantons Basel-Stadt auf Besteuerung des von X. erzielten Kapitalgewinnes überprüfen zu lassen, ist demnach zulässig.
2.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist der Gewinn aus einem Aktienverkauf dann als Liegenschaftsgewinn zu behandeln und dem Kanton der gelegenen Sache zur Besteuerung zuzuweisen, wenn es sich um Aktien einer Immobiliengesellschaft handelt und der Verkauf die Gesamtheit oder die überwiegende Mehrheit der Aktien einer solchen Gesellschaft betrifft (
BGE 99 Ia 464
,
BGE 98 Ia 92
E. 3,
BGE 91 I 471
,
BGE 85 I 91
ff. E. 2, 3). Die Steuerkommission des Kantons Basel-Stadt war der Ansicht, diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall erfüllt, weshalb der Kanton Basel-Stadt zur Besteuerung des Gewinns zuständig sei, den der Beschwerdeführer durch den Verkauf der 150 Aktien der Y. AG erzielt habe. Der Beschwerdeführer wirft der Steuerkommission eine Verletzung des
Art. 46 Abs. 2 BV
vor, weil sie zu Unrecht angenommen habe, der durch den Aktienverkauf erzielte Gewinn falle unter die Steuerhoheit des Kantons Basel-Stadt.
3.
Es stellt sich die Frage, ob die Y. AG eine Immobiliengesellschaft im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
BGE 104 Ia 251 S. 253
sei. Das Bundesgericht kann diese Frage frei prüfen, da es sich hier um einen Doppelbesteuerungskonflikt handelt.
a) In dem in
BGE 85 I 91
ff. publizierten Entscheid, mit welchem die Rechtsprechung eingeleitet wurde, wonach der durch Verkauf sämtlicher oder der überwiegenden Mehrheit der Aktien einer Immobiliengesellschaft erzielte Gewinn der Steuerhoheit des Liegenschaftskantons untersteht, definierte das Bundesgericht die Immobiliengesellschaft als eine Gesellschaft, deren ausschliesslicher Zweck die Verwaltung und Nutzung einer Liegenschaft ist (
BGE 85 I 96
E. 2). Diese eng gefasste Begriffsumschreibung wurde in
BGE 99 Ia 466
etwas erweitert, indem das Bundesgericht ausführte, eine Immobiliengesellschaft liege dann vor, wenn der Zweck der Gesellschaft zur Hauptsache im Erwerb, in der Verwaltung und dem Wiederverkauf von Grundstücken bestehe. Ob eine Gesellschaft als Immobiliengesellschaft betrachtet werden kann, bestimmt sich somit in erster Linie nach dem Gesellschaftszweck. Besteht dieser ausschliesslich oder mindestens zur Hauptsache darin, Grundstücke, d.h. Liegenschaften, in das Grundbuch aufgenommene selbständige und dauernde Rechte, Bergwerke oder Miteigentumsanteile an Grundstücken (
Art. 655 ZGB
), zu erwerben, zu verwalten, zu nutzen und zu veräussern, so kann von einer Immobiliengesellschaft gesprochen werden. Bildet dagegen der Grundbesitz bloss die sachliche Grundlage für einen Fabrikations-, Handels- oder sonstigen Geschäftsbetrieb, so liegt keine Immobilien-, sondern eine Betriebsgesellschaft vor.
Der Zweck der hier in Frage stehenden Y. AG ist in den Statuten wie folgt umschrieben: "Errichtung und Betrieb von Tankanlagen für den Umschlag und die Einlagerung von Erdölprodukten, Vermietung von Tankraum und Lagerplätzen. Beteiligung an ähnlichen Unternehmungen". Wäre nur die Vermietung von Tankraum und Lagerplätzen genannt, so könnte wohl von einer Immobiliengesellschaft gesprochen werden. In den Statuten wird jedoch als erster Gesellschaftszweck die Errichtung und der Betrieb von Tankanlagen angeführt. Wie den Akten zu entnehmen ist, hatte die Einwohnergemeinde der Stadt Basel der Y. AG mit Vertrag vom 11. Mai 1948 an einem Grundstück im Rheinhafen ein Baurecht eingeräumt, das in das Grundbuch aufgenommen wurde. Nach diesem Vertrag war die Y. AG verpflichtet, auf dem ihr im Baurecht zur Verfügung gestellten Gelände Anlagen für die Lagerung und den Umschlag von flüssigen
BGE 104 Ia 251 S. 254
Brennstoffen zu erstellen und in Betrieb zu nehmen. Daraus ist ersichtlich, dass sie das Baurecht nicht in erster Linie erworben hat, um auf dem erwähnten Grundstück Gebäude zu errichten und diese zu vermieten, sondern vor allem deshalb, um auf dem betreffenden Areal ein Umschlags- und Lagergeschäft mit Bezug auf Erdölprodukte zu betreiben. Nach der letzten vor dem hier zur Diskussion stehenden Aktienverkauf abgeschlossenen Jahresrechnung der Y. AG per 31.12.1970 entfiel denn auch der grösste Teil des Rohertrages, nämlich Fr. 611'002.- von insgesamt Fr. 677'818.-, auf die Lager- und Umschlagsgebühren, also auf das für Umschlag, Wartung und Lagerung der Waren geleistete Entgelt, dagegen nur ein Betrag von Fr. 64'906.- auf den Mietertrag aus dem Lagergebäude. Entgegen der im angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung kann daher nicht gesagt werden, die Y. AG sei eine Gesellschaft, deren Tätigkeit zur Hauptsache in der Vermietung ihrer Immobilien und nur nebenbei im Umschlag und in der Einlagerung von Erdölprodukten bestehe. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: das Umschlags- und Lagergeschäft steht im Vordergrund, während der Vermietung der Gebäude nur sekundäre Bedeutung zukommt. Auch wenn die Aktiven der Y. AG zu rund 90% aus Immobilien bestehen, kann somit nicht von einer Immobiliengesellschaft gesprochen werden, da der Grundbesitz im wesentlichen nur die sachliche Grundlage für den Betrieb des Umschlags- und Lagergeschäftes bildet. Die Y. AG stellt demnach keine Immobilien-, sondern eine Betriebsgesellschaft dar.
b) Auf Betriebsgesellschaften ist aber die in
BGE 85 I 91
ff. eingeleitete Rechtsprechung nicht anwendbar, es sei denn, dass aussergewöhnliche Verhältnisse ausnahmsweise auch die Besteuerung des Aktienüberganges von Betriebsgesellschaften zu rechtfertigen vermöchten (
BGE 99 Ia 469
). In diesem Sinne war in
BGE 91 I 467
ff. der Gewinn aus dem Verkauf sämtlicher Aktien einer Gesellschaft, die in der eigenen Liegenschaft ein Hotel betrieb, der Steuerhoheit des Liegenschaftskantons unterstellt worden, weil der Aktienkäufer von Anfang an entschlossen war, das bestehende Hotelgebäude abzubrechen und durch einen Neubau mit anderer Zweckbestimmung (Bankfiliale) zu ersetzen, weshalb der Hotelbetrieb auf den Preis der Aktien keinen oder doch nur einen untergeordneten Einfluss hatte, der Verkaufspreis somit ausschliesslich oder mindestens zur Hauptsache
BGE 104 Ia 251 S. 255
durch den Bodenwert bestimmt war. Ein solcher Ausnahmefall liegt jedoch hier nicht vor. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Z. AG beim Kauf der 150 Aktien der Y. AG beabsichtigt hätte, die Tankanlagen abzubrechen und das Baurecht der genannten Gesellschaft für andere Zwecke zu verwenden. Es ist daher anzunehmen, dass die Z. AG, die bereits Eigentümerin von 100 der insgesamt 250 Aktien der Y. AG war, die restlichen 150 Aktien erworben hat, um dadurch wirtschaftlich die Beherrschung des gesamten Lager- und Umschlagsunternehmens zu erlangen und diesen Betrieb weiterzuführen. Verhält es sich so, dann kann nicht gesagt werden, die Veräusserung der 150 Aktien an die Z. AG habe sich wirtschaftlich in der Übertragung der Verfügungsmacht über den Grundbesitz der Y. AG erschöpft, so dass der Preis der Aktien ausschliesslich oder wenigstens zur Hauptsache durch den Wert dieses Grundbesitzes bestimmt worden sei. Die Voraussetzungen, unter denen in
BGE 91 I 467
ff. eine Betriebsgesellschaft ausnahmsweise wie eine Immobiliengesellschaft behandelt worden ist, sind somit im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Ist demnach die Y. AG keine Immobiliengesellschaft im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, so fehlt es bereits an der ersten Voraussetzung dafür, dass der vom Beschwerdeführer durch den Aktienverkauf erzielte Gewinn steuerlich einem Liegenschaftsgewinn gleichgestellt werden dürfte. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob es sich beim Verkauf von 150 der insgesamt 250 Aktien der Y. AG um die "überwiegende Mehrheit der Aktien" dieser Gesellschaft im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (
BGE 103 Ia 159
ff.,
BGE 97 I 167
ff.) gehandelt habe. Die Steuerkommission des Kantons Basel-Stadt hat nach dem Gesagten zu Unrecht angenommen, der vom Beschwerdeführer durch den Aktienverkauf erzielte Gewinn falle unter die Steuerhoheit des Kantons Basel-Stadt. Die Beschwerde ist daher wegen Verletzung von
Art. 46 Abs. 2 BV
gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. | de |
7e12e0f7-5d35-4344-a006-f1a2a023d5ef | Sachverhalt
ab Seite 656
BGE 134 III 656 S. 656
Die Yashar Foundation in Liquidation mit Sitz in Vaduz (hiernach: Beschwerdeführerin) schloss mit der Rechtsvorgängerin der Transinvest Holding AG mit Sitz in St. Gallen (hiernach: Beschwerdegegnerin) am 15. Juli 1997 einen Darlehensvertrag. Zwischen den Vertragsparteien kam es zu Streitigkeiten über die Fälligkeit und die Rückzahlung der Darlehensforderung.
Die Beschwerdeführerin leitete vor den Gerichten in Vaduz gegen die Beschwerdegegnerin die Zwangsvollstreckung ein. Das Fürstliche Landgericht erteilte der Beschwerdeführerin die Rechtsöffnung
BGE 134 III 656 S. 657
für die Darlehensforderung von Fr. 1'149'953.24 samt 5 % Zins seit 14. Dezember 2001. Die Beschwerdegegnerin erhob Aberkennungsklage. Das Fürstliche Landgericht wies die Aberkennungsklage ab, weil die vertragliche Voraussetzung einer sofortigen Fälligstellung der Restdarlehensforderung per 14. Dezember 2001 erfüllt sei.
Die Beschwerdeführerin betrieb die Beschwerdegegnerin, die den Kapitalbetrag von Fr. 1'149'953.24 per 31. Dezember 2006 bezahlt hatte, für die ausstehenden Zinsen vom 14. Dezember 2001 bis 31. Dezember 2006 und ersuchte in der Schweiz um definitive Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 290'043.75 zuzüglich Betreibungskosten und um Beseitigung des Rechtsvorschlags der Beschwerdegegnerin. Die kantonalen Gerichte wiesen das Gesuch ab. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und erteilt der Beschwerdeführerin die definitive Rechtsöffnung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
Das Kantonsgericht hat das Aberkennungsurteil als Vollstreckungstitel im Sinne von
Art. 80 SchKG
betrachtet. Die Frage ist streitig.
5.1
Gemäss
Art. 80 Abs. 1 SchKG
kann der Gläubiger beim Richter die Aufhebung des Rechtsvorschlags (definitive Rechtsöffnung) verlangen, wenn die Forderung auf einem vollstreckbaren gerichtlichen Urteil beruht. Dass ein Gerichtsurteil vorliegt, ist hier unbestritten. Beurteilt werden muss, ob das rechtskräftige Urteil des Fürstlichen Landgerichtes vom 4. März 2004 in seiner Wirkung "einem vollstreckbaren gerichtlichen Urteil" entspricht. Das Urteilsdispositiv lautet dahin: "Das Klagebegehren, es werde festgestellt, dass die von der Beklagten im Schuldentriebverfahren (EX.2003.176) und Rechtsöffnungsverfahren (07 RÖ.2003.29) des F.L. Landgerichts gegen die Klägerin geltend gemachte Forderung in der Höhe von CHF 1'149'953.24 samt 5 % Zins seit 14.12.2001 in vollem Umfang nicht zu Recht bestehe, und der Rechtsöffnungsbeschluss vom 25.06.2003 zu 07 RÖ.2003.29 werde daher aufgehoben, wird abgewiesen". Auf Grund der Urteilserwägungen steht fest, dass das Fürstliche Landgericht den Bestand der Darlehensforderung der Beschwerdeführerin gegen die Beschwerdegegnerin und die Fälligkeit der Darlehensforderung am 14. Dezember 2001 bejaht hat.
5.2 | de |
e28422fe-81a2-43a0-8e48-367bf8811471 | Sachverhalt
ab Seite 8
BGE 80 III 7 S. 8
Am 15. Mai 1953 erwirkte Fürsprecher L. für die "Erben des Dr. Alomir Elemer Katona, wohnhaft gewesen in Seini, Rumänien" in Zürich einen Arrestbefehl gegen Joseph Orban in Paris. Der Arrest wurde am 16. Mai vollzogen. Die Abschriften der Arresturkunde wurden am 23. Mai versandt. Am 27. Mai/3. Juni 1953 stellte Fürsprecher L. für die Arrestforderung von Fr. 34'500.-- unter Verwendung der im Arrestbefehl enthaltenen Gläubigerbezeichnung das Betreibungsbegehren. Mit Schreiben vom 4. Juni ersuchte ihn das Betreibungsamt Zürich 1 unter Hinweis auf das Kreisschreiben Nr. 16 des Bundesgerichts vom 3. April 1925, die Erben einzeln anzugeben. Am 17. Juli 1953 setzte es ihm hiefür Frist bis zum 31. Juli 1953. Am 30. Juli berichtete Fürsprecher L. dem Amte, die Erbschaft von Dr. Katona sei auf die Alomir Elemer Katona-Stiftung, Seini, übergegangen, deren Stiftungsrat aus dem Testamentsvollstrecker Dr. Ioan Pogacias, Notar in Satu Mare, und zwei weitern Personen bestehe; als Ersatzerbe figuriere im Testament von Dr. Katona der rumänische Staat; er ersuche deshalb das Amt, den Zahlungsbefehl zuzustellen und als Gläubiger anzugeben: "Alomir Elemer Katona-Stiftung, Seini, eventuell die Rumänische Volksrepublik, als Erben von Herrn Dr. Alomir Elemer Katona sel." Im übrigen hielt er an der schon in einem Schreiben vom 6. Juli bekundeten Auffassung fest, dass das Kreisschreiben vom 3. April 1925 nur für schweizerische, nicht auch für ausländische Erbschaften gelte.
Hierauf erliess das Betreibungsamt am 3./4. August 1953 den Zahlungsbefehl mit der Gläubigerbezeichnung: "Erben des Dr. Alomir Elemer Katona, wohnhaft gewesen in Seini, Rumänien: Alomir Elemer Katona-Stiftung, Seini, eventuell die Rumänische Volksrepublik" (Betreibung Nr. 4590).
BGE 80 III 7 S. 9
Mit Beschwerde vom 14. August 1953 beantragte der Vertreter des Schuldners die Aufhebung dieses Zahlungsbefehls wegen mangelhafter Gläubigerbezeichnung. Die untere Aufsichtsbehörde hob die Betreibung Nr. 4590 als nichtig auf. Gegen diesen Entscheid rekurrierte Fürsprecher L. für "die Erben bezw. die Erbschaft des Dr. Alomir Elemer Katona,... nämlich die Volksrepublik Rumänien" an die kantonale Aufsichtsbehörde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Beschwerde abzuweisen; eventuell sei das Betreibungsamt anzuweisen, dem Schuldner "einen neuen Zahlungsbefehl in der Arrestbetreibung Nr. 4590 zuzustellen, auf welchem lediglich die Rumänische Volksrepublik als Gläubigerin figuriert." Den abweisenden Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde vom 12. Februar 1954 hat er unter Erneuerung des in zweiter Instanz gestellten Rechtsbegehrens an das Bundesgericht weitergezogen. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Obwohl sich die Bezeichnung der rekurrierenden Partei im Ingress der Rekursschrift mit der Gläubigerbezeichnung im Zahlungsbefehl deckt, hat einzig die Rumänische Volksrepublik als Rekurrentin zu gelten; denn in der Rekursbegründung wird wie schon im Rekurs an die Vorinstanz erklärt, heute stehe fest, dass die Rumänische Volksrepublik die Erbin von Dr. Katona sei, und dementsprechend hat Fürsprecher L. die Rekursschrift auch bloss "Namens der Rumänischen Volksrepulik" unterzeichnet.
2.
Nach
Art. 67 Ziff. 1 SchKG
ist im Betreibungsbegehren u.a. der Name und Wohnort des Gläubigers anzugeben. Das gleiche gilt nach Art. 69 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 67 Ziff. 1 für den Zahlungsbefehl. Diese Angabe muss, wie das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung (
BGE 43 III 177
,
BGE 51 III 58
,
BGE 62 III 135
,
BGE 65 III 99
) und in seinem Kreisschreiben Nr. 16 vom 3. April
BGE 80 III 7 S. 10
1925 (
BGE 51 III 98
) festgestellt hat, so gefasst sein, dass sie jeden Zweifel darüber ausschliesst, wer als Gläubiger auftritt. Mangels einer klaren und unzweideutigen Bezeichnung ist die Betreibung nichtig. Diesen Grundsatz hat das Bundesgericht vor allem auf Betreibungen angewendet, wo eine nur mit einem Sammelnamen bezeichnete Mehrheit von Personen als Gläubiger erschien, in
BGE 62 III 134
ff. aber auch auf eine von einer unklar bezeichneten Einzelperson angehobene Betreibung. Eine Ausnahme ist nur in einem Falle gemacht worden, wo die in Betreibungsbegehren und Zahlungsbefehl enthaltene Gläubigerbezeichnung (Fürst & Cie.) lediglich insofern unklar war, als sie nicht erkennen liess, welche von zwei durch die gleiche Person als unbeschränkt haftende Gesellschaftterin bezw. Liquidatorin vertretenen, zueinander in einem Nachfolgeverhältnis stehenden Kommanditgesellschaften (Fürst & Cie. in Liq. oder A. B. Fürst & Cie.) gemeint war, und diese Unklarheit, die dem Schuldner keinen Nachteil verursacht hatte und von ihm erstmals im Aberkennungsprozess gerügt wurde, nachträglich beseitigt worden war (
BGE 65 III 97
ff.).
Im vorliegenden Falle erweist sich demnach auf jeden Fall die im Betreibungsbegehren vom 27. Mai 1953 enthaltene Gläubigerbezeichnung (Erben des Dr. Alomir Elemer Katona) als ungenügend. Diese Bezeichnung könnte, wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, höchstens dann zugelassen werden, wenn angenommen werden dürfte, dass es sich dabei um die klare Bezeichnung einer Personenverbindung oder Vermögensmasse handle, die nach dem in dieser Beziehung massgebenden rumänischen Rechte partei- und prozessfähig ist. Dass es sich so verhalte, hat jedoch die Rekurrentin nicht behauptet, geschweige denn nachgewiesen.
Die - vom Betreibungsamt sinngemäss übernommene - Fassung, die Fürsprecher L. der Gläubigerbezeichnung im Schreiben vom 30. Juli 1953 gegeben hat (Alomir Elemer Katona-Stiftung, eventuell die Rumänische Volksrepublik,
BGE 80 III 7 S. 11
als Erben von Dr. Katona), ist ebenfalls nicht klar und eindeutig. Daraus, dass die Stiftung, "eventuell" die Rumänische Volksrepublik, als Gläubiger bezeichnet wird, ergibt sich, dass die beiden genannten Personen die in Betreibung gesetzte Forderung nicht als ihnen beiden zustehend geltend machen, sondern dass die Rumänische Volksrepublik nur für den Fall als Gläubigerin auftreten will, dass die Forderung nicht der Stiftung zustehen sollte. Den Schuldner in dieser Weise über die Person des betreibenden Gläubigers im ungewissen zu lassen, ist nicht angängig. Ob er weiss, wovon es abhängt, welche der beiden im Zahlungsbefehl genannten Personen die wirkliche Gläubigerin ist, spielt gar keine Rolle. Der Schuldner muss wissen, wer ihn betreibt. Diese Kenntnis kann für ihn bei der Entscheidung darüber, ob er Rechtsvorschlag erheben soll oder nicht, und im Hinblick auf eine allfällige Zahlung bedeutsam sein. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass er die Forderung bestreiten oder anerkennen und bezahlen will, je nachdem sie vom einen oder andern Prätendenten geltend gemacht wird. In bedingter Form Rechtsvorschlag zu erheben, ist ihm nicht zuzumuten. Eine bedingte Zahlung brächte die Betreibung nicht zum Erlöschen (vgl.
BGE 74 III 25
). Aber auch wenn er die Forderung gegenüber beiden Prätendenten bestreiten will, hat er ein legitimes Interesse daran, von Anfang an genau zu wissen, wer ihm als betreibender Gläubiger gegenübersteht. Das Betreibungsamt seinerseits muss im klaren darüber sein, wer über den Fortgang der Betreibung verfügen (Begehren stellen oder auch die Betreibung ganz oder teilweise zurückziehen) kann und nach Vollstreckungsrecht auf einen allfälligen Erlös Anspruch hat. Auf Grund der vorliegenden Gläubigerbezeichnung kann es das nicht feststellen. Die Tatsache, dass der "Haupt-" und der "Eventualgläubiger" bei Einleitung der Betreibung durch den gleichen Anwalt vertreten waren, erlaubt nicht den Schluss, dass es für das Betreibungsamt gleichgültig sei, welchem von beiden die Rechte des betreibenden Gläubigers
BGE 80 III 7 S. 12
zukommen; denn in einem Falle, wo zwei Personen für eine Forderung, die einer von ihnen zusteht, gemeinsam Betreibung anheben, weil sie noch nicht angeben können, welche von ihnen die wirkliche Gläubigerin sei, besteht keine hinlängliche Gewähr dafür, dass beide bis zum Schluss des Verfahrens den gleichen Vertreter haben werden, wie im Falle
BGE 65 III 97
für die dort in Frage stehenden Gesellschaften angenommen werden durfte (vgl. S. 101). Es kann auch nicht etwa ohne weiteres erwartet werden, dass von zwei Prätendenten, die zunächst gemeinsam gegen den Schuldner vorgehen, der eine später bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses aus freien Stücken die Fortführung der Betreibung und den Anspruch auf den Erlös dem andern überlassen werde. Auch die im Schreiben vom 30. Juli 1953 enthaltene Gläubigerbezeichnung wird also den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht.
Der Hinweis der Rekurrentin auf die Möglichkeit einer Hinterlegung gemäss
Art. 168 OR
ist abwegig. Durch Hinterlegung kann der Betriebene die Betreibung nicht erledigen. Es bedürfte hiezu ausserdem eines Verfahrens nach
Art. 85 SchKG
. Der Schuldner darf jedoch keinesfalls in die Notwendigkeit versetzt werden, gerichtliche Verfahren einleiten zu müssen, nur weil der Gläubigervertreter bei Anhebung der Betreibung den Gläubiger nicht genau bezeichnen konnte.
Die Betreibung Nr. 4590 erweist sich demnach als nichtig, gleichgültig, ob man der Beurteilung die erste oder die zweite Fassung der Gläubigerbezeichnung zugrundelegt.
3.
Der Umstand, dass Fürsprecher L. nachträglich - erstmals im Rekurs an die Vorinstanz vom 21. November 1953 - die Erklärung abgegeben hat, es stehe nunmehr fest, dass die Rumänische Volksrepublik anstelle der (nicht zur Eintragung gelangten) Stiftung Universalerbin von Dr. Katona geworden sei, kann hieran nichts ändern. Man kann sich fragen, ob das Betreibungsamt überhaupt berechtigt gewesen sei, den Arrest aufrecht zu erhalten,
BGE 80 III 7 S. 13
obwohl innert der Frist von
Art. 278 Abs. 1 SchKG
kein gültiges Betreibungsbegehren gestellt worden war, und dem Gläubigervertreter Gelegenheit zu geben, die Gläubigerbezeichnung in der Betreibung Nr. 4590, die nur beim Bestehen eines gültigen Arrestes in Zürich durchgeführt werden konnte, nach Ablauf jener Frist zu verbessern. Diese Frage kann indes offen bleiben. Selbst wenn man sie nämlich bejaht, waren doch nur solche Verbesserungen beachtlich, die innert der vom Betreibungsamt angesetzten Nachfrist angebracht wurden. Die nachträgliche Verbesserung von Mängeln, die einer Arrestbetreibung anhaften, ohne zeitliche Beschränkung zuzulassen, kommt auf keinen Fall in Frage. Wenn das Amt dem Gläubigervertreter überhaupt erlauben durfte, die Gläubigerbezeichnung nach Ablauf der Prosequierungsfrist zu verbessern, war es also unzweifelhaft berechtigt, ihm hiefür eine peremtorische Frist zu setzen, wie es das am 17. Juli 1953 getan hat. Dass es bei der Bemessung dieser Frist das Gesetz verletzt habe, behauptet die Rekurrentin mit Recht nicht. Sie macht nur geltend, die Frist sei unangemessen kurz gewesen. Fragen der Angemessenheit kann das Bundesgericht nicht überprüfen (Art. 19 im Gegensatz zu Art. 17/18 SchKG). Im übrigen hätten allfällige Einwendungen gegen die Verfügung des Betreibungsamtes vom 17. Juli 1953 innert 10 Tagen durch Beschwerde geltend gemacht werden müssen, was nicht geschehen ist. Die Rekurrentin muss daher diese Verfügung, wonach die Nachfrist am 31. Juli 1953 ablief, gegen sich gelten lassen. Dem Eventualbegehren, mit dem verlangt wird, in der Betreibung Nr. 4590 sei ein neuer Zahlungsbefehl zu erlassen, der gemäss den Ausführungen im Rekurs an die Vorinstanz vom 21. November 1953 lediglich die Rumänische Volksrepublik als Gläubigerin nennt, kann deshalb nicht entsprochen werden, sondern es muss bei der Aufhebung der ganzen Betreibung sein Bewenden haben.
4.
Diese Entscheidung steht mit dem von der Rekurrentin angerufenen Präjudiz
BGE 53 II 208
f. keineswegs im Widerspruch. Es wäre allerdings möglich gewesen,
BGE 80 III 7 S. 14
dass der Testamentsvollstrecker von Dr. Katona die in Frage stehende, zum Nachlass von Dr. Katona gehörende Forderung in seinem eignen Namen geltend gemacht hätte (vgl. auch
BGE 54 II 200
,
BGE 59 II 122
). Hätte er dies getan und hätte das Betreibungsamt den Zahlungsbefehl gleichwohl einfach auf den Namen der Erben oder mit der Gläubigerbezeichnung "Alomir Elemer Katona-Stiftung, eventuell Rumänische Volksrepublik, als Erben von Dr. Katona" ausgestellt, so hätte ein Begehren um Zustellung eines neuen Zahlungsbefehls mit dem Namen des Testamentsvollstreckers als Gläubigers nicht wegen Verspätung zurückgewiesen werden dürfen, auch wenn es mehr als 10 Tage nach Zustellung des anders lautenden Zahlungsbefehls gestellt worden wäre; denn wenn ein gültiges Betreibungsbegehren vorliegt, kann der Gläubiger jederzeit verlangen, dass der wegen mangelhafter Gläubigerbezeichnung nichtige Zahlungsbefehl durch einen mit dem Betreibungsbegehren übereinstimmenden gültigen ersetzt werde. Dass der Zahlungsbefehl auf den Namen des Testamentsvollstreckers ausgestellt werde, ist aber weder im Betreibungsbegehren noch im Schreiben vom 30. Juli 1953 verlangt worden. Der Testamentsvollstrecker ist im Betreibungsbegehren überhaupt nicht, im Schreiben vom 30. Juli 1953 nur als Mitglied des Stiftungsrates der Alomir Elemer Katona-Stiftung erwähnt. Das Betreibungsamt war weder berechtigt noch verpflichtet, diese Persönlichkeit, die der Gläubigervertreter selber gar nicht als Gläubiger bezeichnet wissen wollte, im Zahlungsbefehl als Gläubiger anzugeben. Es ist im übrigen mindestens zweifelhaft, ob ein auf den Testamentsvollstrecker als Gläubiger lautender Zahlungsbefehl zur Prosequierung des für die "Erben des Dr. Katona" erwirkten Arrestes getaugt hätte. | de |
4610218c-4ba8-4f42-b746-75f68c076892 | Sachverhalt
ab Seite 63
BGE 102 III 63 S. 63
A.-
Die M. GmbH betrieb die Firma F. + E. AG, Autokranbetrieb, Sch., für eine Forderung von Fr. 1'700.-- nebst 6% Zins seit 13. September 1974. Im Zahlungsbefehl Nr. 131/1975 des Betreibungsamtes Sch. wurde als Schuldnerin die Firma F. + E., Autokranbetrieb, Sch., aufgeführt. Die Schuldnerin erhob Rechtsvorschlag, worauf die Gläubigerin beim Amtsgerichtspräsidenten am 16. Oktober 1975 die provisorische Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 1'700.-- nebst 5% Zins seit 8. August 1975 erwirkte.
B.-
Die Firma F. + E. AG reichte am 23. Oktober 1975 beim Amtsgerichtspräsidenten als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs Beschwerde ein. Sie beantragte, die unter der Schuldnerbezeichnung "F. + E." eingeleitete Betreibung vom 8. August 1975 und demzufolge auch der Rechtsöffnungsentscheid vom 16. Oktober 1975 seien nichtig zu erklären, weil die Schuldnerbezeichnung die gesetzlichen Vorschriften des
Art. 67 SchKG
nicht erfülle; eine Firma F. + E. existiere nämlich nicht. Mit Entscheid vom 21. November 1975 hob der Amtsgerichtspräsident die Betreibung Nr. 131/1975/BA Sch. auf.
Die M. GmbH zog diesen Entscheid an die obere kantonale Aufsichtsbehörde weiter. Diese wies die Beschwerde am
BGE 102 III 63 S. 64
12. Januar 1976 ab und erklärte den am 8. August 1975 in der Betreibung Nr. 131/1975/BA Sch. ausgestellten Zahlungsbefehl für nichtig.
C.-
Die Firma M. GmbH führt Rekurs an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts mit dem Antrag, der Entscheid der obern kantonalen Aufsichtsbehörde vom 12. Januar 1976 sei aufzuheben und der am 8. August 1975 in der Betreibung Nr. 131/1975 des Betreibungsamtes Sch. ausgestellte Zahlungsbefehl sei zu bestätigen.
Die Firma F. + E. AG beantragt in der Rekursantwort, den Rekurs abzuweisen und den Entscheid der Vorinstanz zu bestätigen.
Die obere kantonale Aufsichtsbehörde stellt ebenfalls Antrag auf Abweisung des Rekurses. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1. | de |
e4d02e54-9e04-4b3a-ac8a-e5481761f2df | Sachverhalt
ab Seite 8
BGE 100 Ib 8 S. 8
Sachverhalt:
A.-
Am 16. August 1971 liess Björn Sunne auf dem Flughafen Kloten 20 Kartons (= 200 000 Stück) unverzollte Zigaretten aus dem Zollfreilager auslagern und auf den Pilatus Porter HB-FEY verladen. Sunne, der als Passagier mitflog, wollte die Zigaretten ins Zollausschlussgebiet Samnaun bringen. Eine Ausfuhrabfertigung
BGE 100 Ib 8 S. 9
war nicht notwendig, da sich die Ware nicht im freien inländischen Verkehr befand.
Das Flugzeug konnte am vorgesehenen Ort (Alp Trida, Gemeinde Samnaun) nicht landen und setzte daher auf dem Flugplatz Samedan auf. Dem zuständigen Beamten der Grenzwache, wurden die Zigaretten als für Samnaun bestimmt gemeldet. Er sorgte dafür, dass die Ladung nicht entfernt werden konnte und erkundigte sich bei der Zollkreisdirektion Chur nach dem weiteren Vorgehen. Sunne und der Pilot begaben sich inzwischen nach Samnaun, um einen neuen Landeplatz auszukundschaften.
Auf Weisung der Zollkreisdirektion Chur, die sich ihrerseits bei der Oberzolldirektion erkundigt hatte, untersagte der Grenzwachbeamte am folgenden Tag den direkten Weiterflug nach Samnaun und veranlasste den Rückflug nach Kloten. Am 19. August 1971 startete das Flugzeug mit der Zigarettenladung erneut in Kloten. Die Landung in Samnaun gelang diesmal, wenn auch mit einem Zwischenfall, und die Zigaretten wurden den Empfängern ausgeliefert. Zur Eindämmung des Schmuggels ist die abgabefreie Einfuhr von Tabakwaren in die Talschaft kontingentiert. Die per Flugzeug eingetroffenen Zigaretten wurden den Empfängern auf ihr Kontingent angerechnet.
B.-
Mit Schreiben vom 25. Januar 1972 an die Oberzolldirektion machte der Vertreter von Björn Sunne die Zollverwaltung für die infolge der Weisung vom 16./17. August 1971 zum Rückflug von Samedan nach Kloten entstandenen Mehrkosten von Fr. 1518.-- haftbar.
Die Oberzolldirektion bestritt in ihrer Antwort vom 13. März 1972 die Schadenersatzpflicht; sie schrieb, das Büro des Abschnittschefs der Grenzwache in Samedan sei zur Ausfuhrabfertigung der unverzollten Zigaretten nicht zuständig gewesen, weshalb es das Flugzeug zu Recht nach Zürich Kloten zurückgewiesen habe.
C.-
Mit verwaltungsrechtlicher Klage vom 11. September 1972 verlangt Sunne von der Eidgenossenschaft Schadenersatz von Fr. 1518.-- zuzüglich 5 % Zins seit 17. August 1971.
Der Kläger führt zur Begründung aus, eine Zollabfertigung in Samedan sei nicht nötig gewesen, nachdem dieselbe ja bereits in Kloten stattgefunden habe und das Flugzeug auf dem Flugplatz Samedan unter Zollaufsicht im Transit parkiert worden sei. Eine Abfertigung zur Wareneinfuhr habe nicht zur Diskussion gestanden, da die Talschaft Samnaun als Zollausland zu betrachten
BGE 100 Ib 8 S. 10
sei. Die Weisung zum Rückflug sei daher widerrechtlich, und gemäss Art. 3 des Bundesgesetzes über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten vom 14. März 1958 (VG) sei die Eidgenossenschaft zum Ersatz des entstandenen Schadens verpflichtet.
D.-
Die Eidg. Finanzverwaltung, welche den Bund in diesem Verfahren vertritt, beantragt die Abweisung der Klage.
E.-
In Replik und Duplik halten die Parteien an ihren Begehren fest. Erwägungen
Erwägungen:
1.
Ein auf
Art. 3 VG
gestützter Anspruch auf Schadenersatz ist gemäss
Art. 10 VG
im Bestreitungsfalle durch verwaltungsrechtliche Klage (
Art. 116 ff. OG
) geltend zu machen. Die Frist zur Klage gemäss
Art. 20 Abs. 3 VG
wurde im vorliegenden Fall gewahrt. Dem Eintreten auf die Klage steht nichts entgegen.
2.
Der Kläger begründet seinen Schadenersatzanspruch mit der Behauptung, die im August 1971 an ihn ergangene Weisung zum Rückflug von Samedan nach Zürich sei rechtswidrig, er sei dadurch im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 VG
widerrechtlich geschädigt worden.
Gemäss
Art. 12 VG
können rechtskräftige Verfügungen, Entscheide und Urteile in einem Verantwortlichkeitsverfahren nicht überprüft werden. Die im vorliegenden Falle beanstandete Weisung zum Rückflug ist eine Verfügung. Diese Verfügung wurde nicht in einem Beschwerdeverfahren angefochten, sondern der Kläger hat sie zunächst befolgt und erst einige Monate später (am 25. Januar 1972) unter Berufung auf ihre Rechtswidrigkeit Schadenersatz verlangt.
Im Verfahren vor Bundesgericht hat der Kläger gegen die Berufung auf
Art. 12 VG
eingewendet, die Verfügung sei nicht in einem ordnungsgemässen Verfahren ergangen; überdies habe die Oberzolldirektion ihn im Schreiben vom 13. März 1972 ausdrücklich auf den Weg der verwaltungsrechtlichen Klage verwiesen.
a) Art. 34 VwG bestimmt, dass Verfügungen den Parteien schriftlich zu eröffnen sind; gemäss Art. 35 VwG muss die schriftliche Eröffnung mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen sein. Auf das Verfahren der Zollabfertigung findet das Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren nach Art. 3 lit. e VwG
BGE 100 Ib 8 S. 11
jedoch keine Anwendung. Die Weisung zum Rückflug nach Zürich erfolgte im Rahmen der Zollabfertigung. Art. 3 lit. e VwG ist sinngemäss auf das ganze Zollverfahren zu beziehen (
Art. 29 ff. ZG
); auf jeden Fall gehört die Verfügung der Zollorgane über die eigene Zuständigkeit zu den unter dem Randtitel "Zollabfertigung" (
Art. 33 ff. ZG
) geordneten Amtshandlungen und fällt somit unter den Ausschlussgrund von Art. 3 lit. e VwG. Die Art. 34 und 35 VwG waren daher nicht zu beachten. Die mündlich eröffnete und mit keinem Rechtsmittel angefochtene Verfügung ist formell rechtskräftig geworden.
b) Nach
Art. 12 VG
kann die Rechtmässigkeit einer Verfügung grundsätzlich nur im dafür vorgeschriebenen Rechtsmittelverfahren überprüft werden. Versäumt der Betroffene die Rechtsmittelfristen, so kann er die Verfügung deshalb in aller Regel auch auf dem Umweg über ein Verantwortlichkeitsverfahren nicht mehr anfechten. Diese Ordnung ist nun aber offensichtlich vor allem auf schriftlich eröffnete und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Verfügungen zugeschnitten. Wird jedoch eine Verfügung, wie es im vorliegenden Falle geschehen ist, bloss mündlich und ohne Hinweis auf die Anfechtungsmöglichkeiten eröffnet und ausserdem sofort vollzogen, so dass ein Beschwerdeverfahren gar keine Korrektur mehr bringen könnte, sondern in einer blossen Feststellung enden müsste, so kann dem Betroffenen der unbenützte Ablauf der Rechtsmittelfrist billigerweise im Verantwortlichkeitsverfahren nicht entgegengehalten werden. Auf solche Verfügungen findet
Art. 12 VG
keine Anwendung. Im vorliegenden Falle ist deshalb die Weisung zum Rückflug nach Kloten entgegen der Ansicht der Beklagten auf ihre Rechtmässigkeit zu überprüfen.
3.
a) Dass der Zollflugplatz Samedan für die Zollkontrolle von Handelswaren nicht zuständig ist, wird vom Kläger nicht bestritten. Er macht auch nicht geltend, seine Ladung von 326 kg Zigaretten sei keine Handelsware.
Die behauptete Rechtswidrigkeit des Vorgehens wird ausschliesslich damit begründet, dass gar keine Zollkontrolle notwendig gewesen sei.
b) Die fraglichen Zigaretten waren dem Zollfreilager in Zürich entnommen und zum direkten Ausflug aus dem schweizerischen Zollgebiet freigegeben worden. Ob damit auch die Einfuhr in das schweizerische Zollausschlussgebiet Samnaun und die klare Umgehung der dort geltenden Kontingentierung "gestattet"
BGE 100 Ib 8 S. 12
war, ist hier nicht zu prüfen, da die Rechtmässigkeit der beanstandeten Verfügung davon unabhängig ist. Eine Zwischenlandung in der Schweiz vor Überschreitung der Zollgrenze oder nach einem Flug über ausländisches Gebiet und nach der Rückkehr in die Schweiz hatte auf jeden Fall zur Folge, dass eine neue (wenn vielleicht auch vereinfachte) Zollkontrolle stattfinden musste. Aus keiner Vorschrift des Zollrechts lässt sich ableiten, dass eine solche Zwischenlandung wegen der vorangegangenen Zollbehandlung auf einem andern Flugplatz ohne neue Zollkontrolle zugelassen werden muss.
Art. 56 ZG
erklärt bei Zwischenlandungen die Vorschriften über Ein- und Ausfuhr als anwendbar.
Art. 55 ZG
schreibt vor, dass Luftfahrzeuge nur von Zollflugplätzen aus nach dem Ausland abfliegen dürfen, was sinngemäss bedeutet, dass der Abflug auf einem zur zollrechtlichen Abfertigung der Ladung zuständigen Zollflugplatz zu erfolgen hat. Art. 42 LZO sieht bei einer einzigen Zwischenlandung ohne Veränderung der Ladung unter Vorbehalt von Kontrollmassnahmen die Befreiung von der eigentlichen Zollbehandlung vor. Dieses vereinfachte Verfahren kann jedoch nur auf einem zur Abfertigung der Ladung befugten Zollflugplatz durchgeführt werden. Die nicht zur Zollkontrolle von Handelswaren zuständige Amtsstelle in Samedan konnte und musste sich nicht mit der Zollkontrolle oder Abfertigung eines Flugzeuges befassen, welches eindeutig Handelswaren mit sich führte und zudem offensichtlich für eine zollrechtlich sehr problematische Aktion (Umgehung der Kontingentierung der zollfreien Tabakeinfuhr im Samnaun) bestimmt war.
Der Grenzwachbeamte in Samedan war zur zollrechtlichen Behandlung des mit Handelswaren beladenen Flugzeuges nicht zuständig; selbst die Erledigung einer Zwischenlandung einer solchen Ladung (im Sinne von Art. 42 LZO) fiel nicht in seine Zuständigkeit. Die Weisung zum Rückflug nach Kloten war daher nicht widerrechtlich. Ob im konkreten Fall ein Entgegenkommen der Zollorgane möglich gewesen wäre, ist vom Bundesgericht nicht zu untersuchen. Das gewählte Vorgehen war vorschriftsgemäss. - Wer auf einem für die Zollkontrolle seiner Ladung nicht zuständigen Zollflugplatz landet, hat die Mehrkosten für den Flug nach dem zuständigen Zollamt selber zu tragen. Wie es sich im Falle einer eigentlichen Notlandung verhielte, ist hier nicht zu prüfen.
Dies führt zur Abweisung der Klage. | de |
fef5477d-1038-49dd-b5a5-4905c9dfe1c3 | Sachverhalt
ab Seite 49
BGE 146 IV 49 S. 49
A.
Das Kriminalgericht des Kantons Luzern verurteilte A. am 4. April 2017 unter anderem wegen versuchter schwerer Körperverletzung, einfacher Körperverletzung, Angriffs, Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung, gewerbsmässigen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung, Erschleichung einer falschen Beurkundung und diverser Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten, unter Anrechnung von 53 Tagen Untersuchungs- beziehungsweise Polizeihaft. Ferner
BGE 146 IV 49 S. 50
ordnete es eine stationäre therapeutische Massnahme für junge Erwachsene nach
Art. 61 StGB
an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe auf.
Die Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern hatte A. am 29. Oktober 2014 den vorzeitigen Massnahmenvollzug bewilligt.
B.
A. ersuchte am 23. September 2019 um Entlassung aus dem Massnahmenvollzug. Der Vollzugs- und Bewährungsdienst des Kantons Luzern wies das Gesuch mit Entscheid vom 29. Oktober 2019 ab.
Dagegen erhob A. Verwaltungsgerichtsbeschwerde, welche das Kantonsgericht Luzern am 17. Januar 2020 guthiess und den Vollzugs- und Bewährungsdienst anwies, A. innert drei Tagen nach Eingang des Entscheids aus der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene zu entlassen.
C.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, Ziff. 1 des kantonsgerichtlichen Urteils sei aufzuheben und es sei die Fortführung der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene anzuordnen. Sie ersucht darum, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen und im Sinne einer superprovisorischen Massnahme anzuordnen, dass A. im Vollzug der Massnahme verbleibe.
D.
Der Präsident der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts erteilte der Beschwerde am 23. Januar 2020 bis zum Entscheid über das Gesuch superprovisorisch die aufschiebende Wirkung. Ferner bewilligte er im Hinblick auf die Stellungnahme zum Gesuch um aufschiebende Wirkung die unentgeltliche Rechtspflege und setzte Rechtsanwalt Dr. K. für die Beantwortung des Gesuchs um aufschiebende Wirkung als unentgeltlichen Rechtsbeistand ein.
A., das Kantonsgericht und der Vollzugs- und Bewährungsdienst äussern sich zum Gesuch um aufschiebende Wirkung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
(...)
2.4
2.4.1
War der Täter zur Zeit der Tat noch nicht 25 Jahre alt und ist er in seiner Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört, so kann ihn das Gericht in eine Einrichtung für junge Erwachsene einweisen, wenn: a. der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das
BGE 146 IV 49 S. 51
mit der Störung seiner Persönlichkeitsentwicklung in Zusammenhang steht; und b. zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit der Störung seiner Persönlichkeitsentwicklung in Zusammenhang stehender Taten begegnen (
Art. 61 Abs. 1 StGB
). Der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug beträgt höchstens vier Jahre. Er darf im Falle der Rückversetzung nach bedingter Entlassung die Höchstdauer von insgesamt sechs Jahren nicht überschreiten. Die Massnahme ist spätestens dann aufzuheben, wenn der Täter das 30. Altersjahr vollendet hat (
Art. 61 Abs. 4 StGB
).
2.4.2
Das Bundesgericht hat bisher noch nicht beurteilt, ab wann die Höchstdauer der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene nach
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
zu laufen beginnt beziehungsweise ob der vorzeitige Massnahmenvollzug dabei zu berücksichtigen ist. Jedoch hat es sich im Zusammenhang mit anderen stationären therapeutischen Massnahmen wiederholt mit der Frage der Dauer des mit ihnen verbundenen Freiheitsentzugs beziehungsweise dem Beginn der jeweiligen Frist auseinandergesetzt. Hinsichtlich der stationären therapeutischen Behandlung von psychischen Störungen gelangte es in
BGE 142 IV 105
zum Schluss, die in
Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB
festgesetzte Dauer beginne, sofern dem Betroffenen nach der Massnahmenanordnung bis zum effektiven Behandlungsbeginn die Freiheit entzogen ist, mit dem rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheid, in dem die Massnahme angeordnet wird (a.a.O., E. 5.9 S. 118). Das Bundesgericht liess ausdrücklich offen, ob und inwiefern die vor dem Sachurteil ausgestandene Sicherheitshaft oder ein allfälliger vorzeitiger Massnahmenvollzug für den Fristenlauf zu berücksichtigen ist (a.a.O., E. 4.1 S. 108). Im
BGE 145 IV 65
hatte das Bundesgericht sodann die Frage zu beurteilen, ob der vorzeitige Massnahmenvollzug bei der Berechnung der Fünfjahresfrist von
Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB
einzubeziehen ist. Es erwog, der vorzeitige Massnahmenvollzug sei zwar bei der Gesamtdauer der Massnahme zu berücksichtigen, dies insbesondere bei der zeitlichen Verhältnismässigkeit, jedoch beginne mit dem Sachurteil eine neue Frist zu laufen (a.a.O., E. 2.6.2 S. 75). Es gelangte zum Fazit, sofern die stationäre therapeutische Behandlung von psychischen Störungen nicht aus der Freiheit heraus angetreten werde, sei für den Fristenlauf auf das Datum des in Rechtskraft erwachsenen Anordnungsentscheids abzustellen (a.a.O., E. 2.7.1 S. 76). Im Urteil 6B_1203/2017 vom 1. November 2017 entschied das Bundesgericht, bei der Berechnung der vierjährigen Höchstfrist für eine stationäre
BGE 146 IV 49 S. 52
therapeutische Suchtbehandlung gemäss
Art. 60 Abs. 4 Satz 1 und 2 StGB
sei die vor dem Anordnungsentscheid erstandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft mitzuberücksichtigen (a.a.O., E. 4.1; vgl. auch
BGE 145 IV 65
E. 2.3.3 S. 70 f.). Erwähnenswert ist ferner
BGE 141 IV 236
, worin das Bundesgericht erwog, Untersuchungs- beziehungsweise Sicherheitshaft sei an freiheitsentziehende Massnahmen gemäss
Art. 56 ff. StGB
, konkret an stationäre therapeutische Massnahmen im Sinne von
Art. 59 StGB
, grundsätzlich anzurechnen (a.a.O., E. 3 S. 238 ff.). Dieses Urteil erging jedoch im Zusammenhang mit der Frage einer allfälligen Entschädigung für die erstandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft bei Schuldunfähigkeit und ist für die Frage der Dauer einer Massnahme nicht einschlägig (vgl.
BGE 145 IV 65
E. 2.3.4 S. 71 f.).
Bei der Beurteilung der Frage, ob der vorzeitige Massnahmenvollzug in die Berechnung der Frist gemäss
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
einzubeziehen ist oder ob diese erst mit Datum des rechtskräftigen Anordnungsentscheids zu laufen beginnt, sind insbesondere
BGE 145 IV 65
und das Urteil 6B_1203/2017 vom 1. November 2017 zu berücksichtigen. Während Ersteres die Fristen gemäss
Art. 59 Abs. 4 Satz 1 und 2 StGB
zum Gegenstand hat, die anders als
Art. 60 Abs. 4 sowie
Art. 61 Abs. 4 StGB
nicht die Höchstdauer einer Massnahme regeln, sondern bestimmen, innert welcher Frist ein neuer Gerichtsentscheid über die Weiterführung der Massnahme zu ergehen hat, betrifft Letzteres die Höchstdauer gemäss
Art. 60 Abs. 4 StGB
. Die Beschwerdeführerin vertritt die Ansicht, die im letztgenannten Urteil erwogenen Grundsätze seien nicht auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt anwendbar. Auch wurde das Urteil in der Lehre teilweise kritisiert (vgl. MARIANNE HEER, Die Dauer therapeutischer Massnahmen und die Tücken deren Berechnung, forumpoenale 2/2018 [nachfolgend: forumpoenale] S. 185 f.;
dieselbe
, Nachverfahren bei strafrechtlichen Massnahmen [nachfolgend: Nachverfahren], in: Wege und Irrwege stationärer Massnahmen nach Rechtskraft des Strafurteils, 2018, S. 61 f.). Es rechtfertigt sich daher, die Frage vertieft zu prüfen.
2.5
In der Lehre wird der Beginn der Vierjahresfrist gemäss
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
nur rudimentär diskutiert. Während MARIANNE HEER sich früher noch dafür aussprach, dass in jedem Fall auf das Datum des Anordnungsentscheids abzustellen ist (MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 78 zu
Art. 61 StGB
; so wohl auch TRECHSEL/PAUEN BORER, in: Schweizerisches
BGE 146 IV 49 S. 53
Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 15 zu
Art. 61 StGB
, die auf MARIANNE HEER hinweisen), vertritt sie in neueren Publikationen die Ansicht, dass der vorzeitige Massnahmenvollzug bei der Berechnung der Dauer gemäss
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
einzubeziehen ist (MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar [nachfolgend: Basler Kommentar 2019], Strafrecht, Bd. I,4. Aufl. 2019, N. 78c zu
Art. 61 StGB
;
dieselbe
, forumpoenale, a.a.O., S. 183 ff.;
dieselbe
, Nachverfahren, a.a.O., S. 60 ff.). Auch RENATE ANASTASIADIS bezeichnet es als sachlogisch, den vorzeitigen Massnahmenvollzug in die Berechnung der Dauer miteinzubeziehen, da bei Massnahmen nach
Art. 60 und 61 StGB
gesetzliche Höchstfristen bestehen und die Massnahmen nicht unbegrenzt verlängert werden können (RENATE ANASTASIADIS, in: Das schweizerische Vollzugslexikon, 2014, S. 296).
2.6
Gemäss
Art. 236 StPO
kann die Verfahrensleitung der beschuldigten Person bewilligen, Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehende Massnahmen vorzeitig anzutreten, sofern der Stand des Verfahrens es erlaubt (Abs. 1). Mit dem Eintritt in die Vollzugsanstalt tritt die beschuldigte Person ihre Strafe oder Massnahme an; sie untersteht von diesem Zeitpunkt an dem Vollzugsregime, wenn der Zweck der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft dem nicht entgegensteht (Abs. 4).
Der vorzeitige Straf- oder Massnahmenantritt stellt seiner Natur nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Damit soll schon vor Erlass des rechtskräftigen Strafurteils ein Haftregime ermöglicht werden, das auf die persönliche Situation der beschuldigten Person zugeschnitten ist; ausserdem können erste Erfahrungen mit der voraussichtlich sachlich gebotenen Vollzugsform gesammelt werden. Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des vorzeitigen Strafvollzugs muss weiterhin mindestens ein besonderer Haftgrund (analog zu
Art. 221 StPO
) vorliegen. Sodann muss der vorzeitige Vollzug verhältnismässig sein. Der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug betrifft nur das Vollzugsregime. Die strafprozessuale Haft wird nicht wie üblich in einer Haftanstalt vollzogen, die diesem Zweck vorbehalten ist (vgl.
Art. 234 Abs. 1 StPO
). Mit dem vorzeitigen Antritt der Strafe oder Massnahme ändern sich allein die Vollzugsmodalitäten, indem das Regime der Vollzugsanstalt zur Anwendung gelangt. Rechtstitel für den mit dem vorzeitigen Vollzug verbundenen Freiheitsentzug ist nicht die zu erwartende Freiheitsstrafe
BGE 146 IV 49 S. 54
oder Massnahme, sondern die strafprozessuale Haft (vgl.
BGE 143 IV 160
E. 2.1 S. 162 mit Hinweisen). Demnach gilt für einen Beschuldigten im vorzeitigen Massnahmenvollzug grundsätzlich das Regime des Massnahmenvollzugs. Zu der sich vorliegend stellenden Frage des Fristenlaufs kann
Art. 236 Abs. 4 StPO
nichts entnommen werden (vgl.
BGE 145 IV 65
E. 2.5.2 S. 73 mit Hinweisen).
2.7
2.7.1
Legt man der Gesetzesauslegung (vgl. hierzu:
BGE 145 III 109
E. 5.1 S. 114;
BGE 142 IV 105
E. 5.1 S. 110) die vorliegend zu beurteilende Frage zugrunde, erscheint der Wortlaut von
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
eindeutig: "
Der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug
beträgt höchstens vier Jahre." ("
La privation de liberté entraînée par l'exécution de la mesure
ne peut excéder quatre ans.", "
La privazione della libertà connessa alla misura
non supera di regola i quattro anni."). Daraus lässt sich schliessen, dass jeder Freiheitsentzug, der mit der Massnahme verbunden ist, bei der Berechnung der Höchstdauer der Massnahme zu berücksichtigen ist. Nach dem Gesagten (vgl. E. 2.6) untersteht eine Person im vorzeitigen Massnahmenvollzug dem Regime des Massnahmenvollzugs. Im Idealfall hat die Behandlung beziehungsweise die Förderung und Ausbildung des Betroffenen (vgl. E. 2.7.3) bereits begonnen. Jedenfalls ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Freiheitsentzug während des vorzeitigen Massnahmenvollzugs mit der Massnahme verbunden ist.
Dass das Strafgesetzbuch verschiedentlich ähnliche Formulierungen wie in
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
verwendet, kann hingegen nicht als Auslegungskriterium herangezogen werden (vgl.
BGE 145 IV 65
E. 2.5.1 S. 73;
BGE 142 IV 105
E. 5.2 S. 111).
2.7.2
Die neuen Bestimmungen zum Massnahmenrecht traten mit der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs am 1. Januar 2007 in Kraft. Aus dem Gesetzgebungsprozess ergibt sich nicht, ob der vorzeitige Massnahmenvollzug bei der vierjährigen Höchstdauer von
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
zu berücksichtigen ist, respektive dass diese Frage im Gesetzgebungsverfahren überhaupt thematisiert wurde. Den Materialien ist jedoch zu entnehmen, dass die Obergrenze von vier Jahren insbesondere unter dem Aspekt der beruflichen Förderung angezeigt sei, da doch diverse Ausbildungen vier Jahre dauern würden (Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des
BGE 146 IV 49 S. 55
Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 2082 Ziff. 213.423; zu den parlamentarischen Beratungen: AB 1999 S 1122, AB 2001 N 568 f.).
2.7.3
Die stationäre therapeutische Massnahme für junge Erwachsene ersetzt die Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt (aArt. 100
bis
StGB in der Fassung gemäss Bundesgesetz vom 18. März 1971, in Kraft von 1. Juli 1971 bis 31. Dezember 2006 [AS 1971 777, 807; BBl 1965 I 561]). Ziel ist eine sozialpädagogische und therapeutische Hilfe, die dem Eingewiesenen die Fähigkeit vermittelt, selbstverantwortlich und straffrei zu leben. Die Massnahme für junge Erwachsene gründet wie bereits die Arbeitserziehung auf dem Gedanken, dass sich junge Erwachsene in ihrer Entwicklung zumeist noch wesentlich beeinflussen lassen, dass sie mithin noch gebessert und ihre gesamte Persönlichkeit entwickelt werden kann (BBl 1999 2081 Ziff. 213.423; vgl. auch MARIANNE HEER, Basler Kommentar 2019, a.a.O., N. 10 zu
Art. 61 StGB
; TRECHSEL/PAUEN BORER, a.a.O., N. 1 und 14 zu
Art. 61 StGB
; GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 11 N. 2). Es geht um eine Korrektur einer Fehlentwicklung mit erzieherischen Mitteln. Mittels zweckgerichteter und individualisierter sozialpädagogischer Betreuung wird eine Persönlichkeitsentwicklung angestrebt, das heisst, eine charakterliche und soziale Festigung sowie eine Förderung der geistigen und körperlichen Entwicklung sowie der beruflichen Kenntnisse. Statt des Strafvollzugs wird der betroffenen Person eine positive Entwicklungsperspektive aufgezeigt, indem ihr eine Berufsbildungsmöglichkeit mit schrittweiser Öffnung zu mehr Selbstständigkeit angeboten wird. Sie soll lernen, sich selbstverantwortlich und ohne gravierende Konflikte mit der Rechtsordnung in der Gesellschaft und namentlich im Berufsleben zu integrieren (vgl. MARIANNE HEER, Basler Kommentar 2019, a.a.O., N. 10 und 49 zu
Art. 61 StGB
; QUELOZ/BÜTIKOFER REPOND, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2009, N. 11 und 25 f. zu
Art. 61 StGB
; vgl. auch
BGE 142 IV 49
E. 2.1.2 S. 51 f.;
BGE 125 IV 237
E. 6b S. 239 ff.;
BGE 123 IV 113
E. 4c S. 122 f.).
Unter Berücksichtigung dieser Zielsetzung ist die Massnahme für junge Erwachsene auf eine bestimmte Zeit angelegt, die in ihrer Länge auf die Absolvierung einer Lehre ausgerichtet ist (BBl 1999 2082 Ziff. 213.423; MARIANNE HEER, Basler Kommentar 2019, a.a.O., N. 74 zu
Art. 61 StGB
; QUELOZ/BÜTIKOFER REPOND, a.a.O., N. 30 zu
Art. 61 StGB
; CHRISTIAN PFENNINGER, Der Beginn der Überprüfungsfrist
BGE 146 IV 49 S. 56
bei vorzeitigem Massnahmenantritt, Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie [SZK] 2/2017 S. 34; DUPUIS UND ANDERE, CP, Code pénal, 2. Aufl. 2017, N. 20 zu
Art. 61 StGB
). Diese Dauer kann unter Umständen zu knapp bemessen sein. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Phase einer bedingten Entlassung bei der Berechnung der Höchstdauer der Massnahme nicht mitzurechnen ist. Das mögliche Problem, dass die Höchstdauer der Massnahme erreicht ist, bevor die Ausbildung abgeschlossen wurde, kann dadurch entschärft werden, dass die betroffenen Personen in der Phase der bedingten Entlassung oder nach definitivem Ablauf der Massnahmendauer ihre Lehre in der Institution von einem externen Aufenthaltsort aus fortsetzen können, in letzterem Fall auf freiwilliger Basis (vgl. MARIANNE HEER, Basler Kommentar 2019, a.a.O., N. 75 zu
Art. 61 StGB
).
Die vierjährige Höchstdauer dient dazu, der betroffenen Person ihre Freiheit nur solange zu entziehen, wie dies für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und die Absolvierung einer Berufsausbildung notwendig ist. Es soll ihr in der Folge die Möglichkeit gegeben werden, die erlernten Lebenstechniken in Freiheit anzuwenden und sich in die Gesellschaft sowie in das Berufsleben zu integrieren. Damit wird auch der Verhältnismässigkeitsgrundsatz gewahrt. Der Gesetzgeber hat sich entschieden, dass der mit der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene verbundene Freiheitsentzug nicht länger als vier Jahre - im Falle einer Rückversetzung nach bedingter Entlassung nicht länger als insgesamt sechs Jahre - dauern darf. Daran sind die rechtsanwendenden Behörden gebunden. Das Bundesgericht hat bereits im Zusammenhang mit der Frist gemäss
Art. 59 Abs. 4 StGB
festgehalten, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip nicht nur in Bezug auf die Anordnung der Massnahme beziehungsweise die Massnahmenverlängerung als solche Beachtung verlange, sondern auch hinsichtlich der Dauer der Massnahme. Das Gericht habe daher für die Verhältnismässigkeit der stationären therapeutischen Massnahme gemäss
Art. 59 StGB
in zeitlicher Hinsicht einen allfälligen vorzeitigen Massnahmenvollzug mitzuberücksichtigen, dies sowohl bei der Prüfung der Erstanordnung der Massnahme als auch im Zusammenhang mit einem Gesuch um Verlängerung derselben (
BGE 145 IV 65
E. 2.6.1 S. 74; vgl. auch:
BGE 142 IV 105
E. 5.4 S. 112 mit Hinweisen). Ist der vorzeitige Massnahmenvollzug in Nachachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips bei einer grundsätzlich verlängerbaren Massnahme zu berücksichtigen, gilt dies umso
BGE 146 IV 49 S. 57
mehr bei einer Massnahme, für die der Gesetzgeber eine Höchstdauer festgesetzt hat.
2.8
Die Beschwerdeführerin begründet ihren Standpunkt in erster Linie mit praktischen Argumenten. Faktisch sei es so, dass die Lehre aus verschiedenen Gründen nicht sofort begonnen werden könne, weshalb es kaum möglich sei, eine drei- oder sogar vierjährige Ausbildung innert vier Jahren nach Antritt des vorzeitigen Massnahmenvollzugs zu beenden. Dieser diene vielmehr der Vorbereitung auf den später anzuordnenden Massnahmenvollzug, so dass die vier Jahre ausreichend seien, um sämtliche Massnahmenziele zu erreichen und damit auch den Zweck der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene, insbesondere die berufliche Integration, zu erfüllen. Das Bundesgericht verkennt die praktischen Schwierigkeiten, welche die Begrenzung der Massnahmendauer mit sich bringen kann, nicht. Allerdings führen diese nicht zu einer anderen Beurteilung der aufgeworfenen Rechtsfrage. Nach dem Gesagten hat der Gesetzgeber klar zum Ausdruck gebracht, dass der mit der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene verbundene Freiheitsentzug nicht länger als vier Jahre - im Falle einer Rückversetzung nach bedingter Entlassung nicht länger als insgesamt sechs Jahre - dauern darf. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin zeigen auf, dass der vorzeitige Massnahmenvollzug in der Praxis zumindest insofern mit der Massnahme verbunden ist, als er deren Vorbereitung dient. Folglich ist auch der mit dem vorzeitigen Massnahmenvollzug einhergehende Freiheitsentzug bei der Berechnung der Höchstdauer der Massnahme zu berücksichtigen. Das Problem, dass vier Jahre unter Umständen nicht ausreichen, um eine Ausbildung zu absolvieren, darf nicht über die faktische Verlängerung des mit der Massnahme verbundenen Freiheitsentzugs gelöst werden. In der Praxis müssen andere Lösungen gesucht werden. Wie dargelegt, wäre beispielsweise denkbar, dass die Betroffenen ihre Ausbildung von einem externen Standort aus fortsetzen (vgl. E. 2.7.3). Auch der Umstand, dass die stationäre therapeutische Massnahme nach
Art. 61 StGB
mit anderen (ambulanten oder stationären) therapeutischen Massnahmen verbunden werden kann, führt nicht dazu, dass alle (Höchst-)Fristen ab dem gleichen Datum beginnen müssen. Da die Massnahmen beziehungsweise die mit ihnen verbundenen Freiheitsentzüge unterschiedlich lange dauern und die Fristen teilweise verlängert werden können, bedarf es in jedem Fall einer individuellen Handhabung, weshalb die Fristen auch zu verschiedenen Zeitpunkten
BGE 146 IV 49 S. 58
beginnen können. Schliesslich überzeugt auch das Argument der Beschwerdeführerin nicht, dass die stationäre therapeutische Massnahme für junge Erwachsene, wenn die betroffene Person - wie vorliegend - unter einer schweren psychischen Störung leidet, in eine gewisse Nähe zu einer stationären therapeutischen Behandlung von psychischen Störungen rücke, weshalb es sich rechtfertige, den Beginn der gesetzlichen Frist anzugleichen. Die Fristen von
Art. 59 Abs. 4 und
Art. 61 Abs. 4 StGB
unterscheiden sich grundlegend. Es kann auf das bisher Ausgeführte und
BGE 145 IV 65
E. 2.3.3 S. 70 f. (zum Verhältnis von
Art. 59 Abs. 4 und
Art. 60 Abs. 4 StGB
) verwiesen werden.
2.9
Zusammengefasst stellt der vorzeitige Massnahmenvollzug einen mit der Massnahme verbundenen Freiheitsentzug dar, der bei der Berechnung der Höchstdauer gemäss
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB
zu berücksichtigen ist. Andernfalls würde der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug über die gesetzlich vorgesehene Maximaldauer hinaus verlängert. Fraglich erscheint noch, ob hinsichtlich des vorzeitigen Massnahmenvollzugs auf das Datum von dessen Anordnung beziehungsweise Genehmigung oder den Eintritt der betroffenen Person in die Einrichtung für junge Erwachsene abzustellen ist. Es erscheint angemessen und praktikabel, auf das Datum der Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenvollzugs abzustellen (vgl. MARIANNE HEER, Nachverfahren, a.a.O., S. 62 f.). Einerseits sollte der vorzeitige Massnahmenvollzug von der Verfahrensleitung im Idealfall erst beziehungsweise nur bewilligt werden, wenn ein Platz in einer Einrichtung für junge Erwachsene zur Verfügung steht (vgl.
Art. 56 Abs. 5 StGB
; GÜNTER STRATENWERTH, a.a.O., § 11 N. 19; JOSITSCH/EGE/SCHWARZENEGGER, Strafrecht II: Strafen und Massnahmen, 9. Aufl. 2018, § 7 S. 203; MARIANNE HEER, Basler Kommentar 2019, a.a.O., N. 50 ff. zu
Art. 61 StGB
; QUELOZ/BÜTIKOFER REPOND, a.a.O., N. 20 ff. zu
Art. 61 StGB
), womit die Bewilligung und der Eintritt mehr oder weniger zusammen fallen sollten. Andererseits erscheint diese Lösung auch praktikabel, da in jedem Einzelfall unabhängig von den konkreten Umständen auf die Bewilligung abgestellt wird und nicht abgeklärt werden muss, ob der Betroffene bereits therapeutisch betreut wurde, als er auf einen Platz in einer Einrichtung wartete, und ob dies gegebenenfalls beim Beginn der Massnahmendauer zu berücksichtigen wäre. Schliesslich spricht auch das Gleichheitsgebot für die aufgezeigte Lösung, da die Betroffenen in der Regel nicht beeinflussen können, wie lange
BGE 146 IV 49 S. 59
sie auf einen Platz in einer Einrichtung für junge Erwachsene warten müssen (vgl. zu
Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB
:
BGE 142 IV 105
E. 5.6 S. 114). Aus dem gleichen Grund sind kurzzeitige Umplatzierungen bei der Berechnung der Höchstdauer der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene nicht zu berücksichtigen. Hingegen sind Umstände, welche die Betroffenen beeinflussen können, wie beispielsweise die Flucht aus der Einrichtung für junge Erwachsene, hinzuzurechnen. | de |
7c3dcc1e-a6f1-41cc-9669-dd50fc603eba | Sachverhalt
ab Seite 72
BGE 104 Ia 72 S. 72
Am 27. März 1974 wurde die Ehe der Frau X., Theologin, geschieden und das aus der Ehe hervorgegangene Kind, geb. 1970, der Mutter zur Pflege und Erziehung zugewiesen. Mit Zustimmung der Mutter lebt die Tochter seit März 1977 bei ihrem Vater. Am 11. Mai 1977 stellte dieser das Gesuch, das Kind sei in Abänderung des Scheidungsurteils ihm zur Pflege und Erziehung zuzuweisen. Frau X. beantragte, es sei ihr die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen und ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bestellen. Die unentgeltliche Prozessführung wurde vom Bezirksgericht Y. bewilligt, das Gesuch um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes jedoch abgewiesen. Einen gegen die Abweisung des Gesuches um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes erhobenen Rekurs wies die I. Zivilkammer des Zürcher Obergerichts ab. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies mit Beschluss vom 12. Dezember 1977 eine gegen diesen Entscheid erhobene Nichtigkeitsbeschwerde ab. Dagegen führt Frau X. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
.
Das zürcherische Kassationsgericht hat auf Antrag und Vernehmlassung zur eingereichten Beschwerde verzichtet. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden
BGE 104 Ia 72 S. 73 Erwägungen
Erwägungen:
1.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts hat eine bedürftige Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess unmittelbar aufgrund von
Art. 4 BV
Anspruch darauf, dass der Richter für sie ohne Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig wird, und dass ihr ein unentgeltlicher Rechtsbeistand ernannt wird, wenn sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Interessen bedarf (
BGE 99 Ia 327
E. 2, 439 E. 2;
BGE 98 Ia 341
/2). Dieser Anspruch der armen Partei auf Rechtsschutz umfasst alle Prozesshandlungen, die nicht offenbar prozessual unzulässig oder materiell aussichtslos sind.
2.
Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin bedürftig und ihr Prozessstandpunkt nicht aussichtslos ist. Streitig ist allein, ob sie Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes hat. Das ist nach § 87 ZH/ZPO dann der Fall, wenn die Beschwerdeführerin "für die gehörige Führung des Prozesses eines solchen bedarf". Das entspricht der Umschreibung, die das Bundesgericht dem direkt aus
Art. 4 BV
abgeleiteten Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Zivilprozess gibt (s. oben zit. Entscheide). Die Beschwerdeführerin macht denn auch im wesentlichen eine Verletzung dieses aus
Art. 4 BV
abgeleiteten Anspruchs geltend. Das Bundesgericht prüft in rechtlicher Hinsicht frei, ob dieser Anspruch verletzt worden ist.
3.
Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hat das Gesuch der Beschwerdeführerin um Beiordnung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes mit der Begründung abgelehnt, das zürcherische Scheidungs- und Abänderungsverfahren unterstehe ganz der Offizialmaxime, d.h. der Instruktionsrichter habe den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären, und im vorliegenden Fall handle es sich um ein ganz einfaches Verfahren.
a) Nach der kantonalen Praxis zu § 87 wird die Beurteilung der Frage, ob eine Partei für die gehörige Führung des Prozesses eines unentgeltlichen Rechtsvertreters bedarf, davon abhängig gemacht, ob die Partei selbst rechtskundig, der Prozess schwierig und eventuell die Gegenpartei durch einen Anwalt vertreten ist (STRÄULI/MESSMER, Kommentar, N. 2 zu
§ 87 ZPO
). Im Entscheid vom 16. Mai 1977 (SJZ 73/1977 Nr. 70, S. 255) führte das Kassationsgericht aus, der Anspruch
BGE 104 Ia 72 S. 74
auf unentgeltliche Verbeiständung gelte grundsätzlich im Scheidungsverfahren. Es könne nicht gesagt werden, die Parteien könnten wegen der in diesem Prozess geltenden Offizialmaxime (
§ 54 Abs. 3 ZPO
) ihre Interessen auch ohne die Hilfe eines rechtskundigen Vertreters wahrnehmen. Auch wo die Offizialmaxime gelte, obliege es in erster Linie den Parteien, das in Betracht fallende Tatsachenmaterial dem Gericht zu unterbreiten und die Beweismittel zu nennen. Die Auswahl der dem Richter vorzutragenden Tatsachen müsse unter rechtlichen Gesichtspunkten erfolgen und setze Rechtskenntnisse voraus; sie sei daher in nicht ganz einfachen Fällen nur dem Rechtskundigen möglich.
b) Das Bundesgericht hatte die Frage der Notwendigkeit der Beiordnung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Zivilprozess bisher nur in einigen wenigen Fällen zu beurteilen.
In
BGE 64 I 5
E. 2 war der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung in einem Scheidungsprozess streitig. Das Bundesgericht führte dazu aus, in einem solchen Verfahren sei der Tatbestand gemäss
Art. 158 ZGB
und st. gallischem Recht von Amtes wegen zu erforschen. Der Rekurrent bedürfe daher zur gehörigen Feststellung des Tatbestandes in diesem Verfahren, wo die Parteien nicht durch strenge Formvorschriften eingeengt seien, keines Rechtsbeistandes. Aber auch für die Behandlung der Rechtsfrage, ob die Ehefrau nach den festgestellten Tatsachen berechtigt gewesen sei, getrennt zu leben, habe der Beschwerdeführer keinen Rechtsbeistand nötig, da das Gericht auch diese Frage von Amtes wegen zu lösen habe und sie ziemlich leicht zu beantworten sei. Im übrigen war auch der klagenden Ehefrau der unentgeltliche Rechtsbeistand nicht gewährt worden.
Im Entscheid vom 13. März 1952 i.S. S. (
BGE 78 I 3
) ging es vornehmlich um die Frage, ob der Beschwerdeführer, der schon gemäss
Art. 392 Ziff. 2 ZGB
durch einen Rechtsanwalt verbeiständet war, in einem Ehelichkeitsanfechtungsprozess vor einem ausserkantonalen Gericht Anspruch auf die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes habe. Die Frage wurde im damaligen Zeitpunkt des Verfahrens verneint, mit dem Hinweis, dass der Prozess im Untersuchungsverfahren durchgeführt würde und es "einstweilen nicht den Anschein mache, als ob der Prozess in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht schwierige Fragen aufwerfen könnte". Es wurde dann
BGE 104 Ia 72 S. 75
allerdings beigefügt, dass einem neuen Gesuch um Bestellung eines Offizialanwalts entsprochen werden müsste, wenn Komplikationen eintreten sollten. Darin, dass der Ehelichkeitsanfechtungsprozess im Untersuchungsverfahren geführt wurde, erblickte das Bundesgericht kein absolutes Hindernis zur Gewährung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes. Zu berücksichtigen war ferner, dass der Beschwerdeführer schon einen rechtskundigen, wenn auch auswärtigen Beistand hatte.
In
BGE 89 I 1
ff. ging es um einen ähnlichen Fall. Dort hatte der unmündige Beschwerdeführer im Hinblick auf den Ehelichkeitsanfechtungsprozess des "Registervaters" einen Beistand in der Person eines Amtsvormundes erhalten. Mit Rücksicht darauf hatte das kantonale Obergericht das Bedürfnis des Kindes nach einem Offizialanwalt verneint, in der Annahme, dass der eigens zur Prozessführung ernannte Beistand als zur Erfüllung dieser Aufgabe fähig betrachtet werden dürfe, zumal er Amtsvormund sei, in Ehelichkeitsprozessen eine Art Offizialmaxime herrsche und die Zivilprozessordnung Vorschriften zum Schutze der rechtsunkundigen Partei aufstelle. Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche Beschwerde jedoch aus anderen, im wesentlichen folgenden Gründen abgewiesen: Wird ein Kind von seinem Vater auf Anfechtung der Ehelichkeit belangt, und ist ihm daher zur Wahrung seiner Interessen im Prozess ein Beistand zu ernennen, so ist dieses Amt einer Person zu übertragen, die den Prozess selber führen kann. Nur wenn eine solche im Vormundschaftskreis nicht zu finden ist, hat das Kind Anspruch auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes. Dabei ging das Bundesgericht stillschweigend davon aus, dass das verbeiständete Kind im hängigen Ehelichkeitsanfechtungsprozess eines rechtskundigen Vertreters bedürfe, ohne die Frage, inwieweit dieses Verfahren nach kantonalem Recht der Untersuchungsmaxime unterstehe, näher zu prüfen.
Auch im nicht publizierten Entscheid vom 2. März 1977 i.S. W. c. Regierungsrat des Kantons St. Gallen ging es um den Anspruch auf Beiordnung eines Offizialanwalts im Ehelichkeitsanfechtungsprozess. Das Bundesgericht erachtete die Bestellung in einem solchen Verfahren, das für die Beteiligten von grosser Tragweite ist, als wünschbar und führte aus, es könne nur dann auf die Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes für eine rechtsunkundige Person verzichtet werden, wenn
BGE 104 Ia 72 S. 76
der Prozess im Untersuchungsverfahren durchgeführt werde und keine besonderen Schwierigkeiten biete. An solchen fehlte es in jenem Fall. Denn Mutter und "Registervater" waren sich darüber einig, dass dieser nicht der Erzeuger des Kindes sei, und der wirkliche Vater hatte sich bereits formell zu seiner Vaterschaft bekannt und eine entsprechende Verpflichtung unterschrieben.
Schliesslich ist der Entscheid vom 11. Juli 1973 i.S. X. gegen Obergericht Uri (
BGE 99 Ia 430
ff) zu erwähnen. Hier ging es um den Anspruch eines von einem Landwirt verbeiständeten Kindes auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes in einem vor einem Urner Gericht hängigen Vaterschaftsprozess. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gegen die verweigerte Bestellung eines Offizialanwalts gut. Wie dem Entscheid zu entnehmen ist, stützte es sich dabei auf
BGE 78 I 1
ff, wonach dem Kind, dem die Vormundschaftsbehörde als Beistand im Ehelichkeitsanfechtungsprozess einen Rechtsanwalt bestellt hat, die Führung des Prozesses im Armenrecht nicht grundsätzlich zu verweigern ist, sondern nur dann und solange, als der Prozess keine Schwierigkeiten bietet. Mit Bezug auf die Frage der Notwendigkeit der Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsvertreters in Verfahren, die vollständig oder weitgehend von der Offizialmaxime beherrscht werden, enthält der Entscheid eine gewisse Ungereimtheit: in Erwägung 2a wird ausgeführt, der Vaterschaftsprozess unterstehe im urnerischen Zivilprozess nicht vollständig der Untersuchungsmaxime, sodass der Beizug eines Rechtsanwaltes zur Prozessführung für das von einem rechtsunkundigen Beistand vertretene Kind nicht von vorneherein als unnötig erachtet werden könne. Daraus könnte man schliessen, dass die Offizialmaxime, die ein Verfahren ganz oder vorwiegend bestimmt, an und für sich schon Grund genug zur Verweigerung der Bestellung wäre. Einen solchen Schluss lassen aber weder
BGE 89 I 4
E. 4a, der in diesem Zusammenhang angeführt wird, noch
BGE 78 I 5
E. 3 zu. Im gleichen Entscheid (
BGE 99 Ia 430
) wird dann in Erwägung 2b ausdrücklich auf den Ehelichkeitsanfechtungsprozess (
BGE 78 I 5
E. 3), der ganz der Offizialmaxime unterstand, hingewiesen und der Anspruch auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes für das schon verbeiständete Kind unabhängig von der Frage, wie das Verfahren nach eidgenössischem oder kantonalem Recht gestaltet sei, bejaht.
BGE 104 Ia 72 S. 77
Anhand der zitierten Urteile kann somit nicht gesagt werden, das Bundesgericht schliesse in Verfahren, die von der Offizialmaxime beherrscht werden, die unentgeltliche Rechtspflege i.S. der Beigabe eines Offizialanwalts von vorneherein aus. Es hat vielmehr von jeher bei der Frage der Notwendigkeit der Beigabe eines solchen Anwalts im Zivilprozess verschiedene Kriterien berücksichtigt, wohl gerade deshalb, weil die Offizialmaxime nicht dahin zu verstehen ist, dass sich die Parteien an der Sammlung des Prozessstoffes überhaupt nicht zu beteiligen brauchen; auch wo die Offizialmaxime gilt, obliegt es in erster Linie den Parteien, das in Betracht fallende Tatsachenmaterial dem Gerichte zu unterbreiten. Das Gericht kann wohl von Amtes wegen Beweise erheben; doch hängt es weithin von den Angaben der Parteien ab, ob es überhaupt Kenntnis von den Beweismitteln erhält, welche die Feststellung des Sachverhalts ermöglichen (GULDENER: Schweizerisches Zivilprozessrecht, S. 145).
c) Ob ein Anspruch auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes besteht oder nicht, hängt weitgehend davon ab, wie leicht die sich im Prozess stellenden Fragen zu beantworten sind (
BGE 64 I 5
E. 2;
BGE 78 I 5
E. 3), ob die gesuchstellende Partei selbst rechtskundig ist - wobei unter Umständen selbst bei Rechtskundigkeit ein Anspruch nicht ausgeschlossen werden kann (
BGE 78 I 5
E. 3) - und ob sich die Gegenpartei ihrerseits von einem Anwalt vertreten lässt (
BGE 64 I 1
ff). Weiter ist auch die Tragweite des Entscheides von Bedeutung (Urteil vom 2. März 1977: i.S. W.); dabei ist eine gewisse Zurückhaltung am Platz, wo es ausschliesslich oder vorwiegend um finanzielle Interessen geht.
d) Auf den vorliegenden Fall angewendet, bedeutet dies, dass der Anspruch auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes unter dem Gesichtspunkt des
Art. 4 BV
zu bejahen ist.
Das in Frage stehende Abänderungsverfahren hat schon bisher verschiedene Eingaben der Anwältin der Beschwerdeführerin nötig gemacht. So hatte sich ihre Vertreterin schriftlich zum Antrag des geschiedenen Ehemannes auf Erlass einer superprovisorischen Verfügung sowie zu einem Bericht des Jugendsekretariats zu äussern. Das hängige Verfahren kann auch deshalb nicht als relativ einfach bezeichnet werden, weil das Kind beim Vater lebt und an dessen Wohnsitz zur Schule geht.
BGE 104 Ia 72 S. 78
Die Gesuchstellerin hat zwar die Hochschule besucht, hat aber nicht eine Ausbildung, die sie befähigen würde, die Probleme, die sich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in diesem Verfahren stellen, richtig einzuschätzen.
Andererseits ist die Gegenpartei durch einen Anwalt vertreten. Dem Postulat der anzustrebenden Waffengleichheit kommt in einem Fall wie dem vorliegenden, wo in besonderem Masse die Gefahr besteht, dass sich eine Partei im Prozess von Emotionen statt von sachlichen Überlegungen leiten lässt, erhebliche Bedeutung zu.
Wird in Rechnung gestellt, dass der Streitfall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht immerhin nicht unerhebliche Schwierigkeiten bietet, dass es für die Beschwerdeführerin von grosser Tragweite ist, ob ihr die elterliche Gewalt über ihr Kind entzogen wird oder nicht, und dass sie sich als Beklagte im Prozess gegen eine Partei zur Wehr setzen muss, die ihrerseits durch einen Anwalt vertreten ist, so lässt es sich vor
Art. 4 BV
nicht rechtfertigen, der Beschwerdeführerin den unentgeltlichen Rechtsbeistand zu versagen. | de |
2922afda-75cb-41da-8423-182aaade59e0 | Sachverhalt
ab Seite 218
BGE 131 II 217 S. 218
X., geboren 1992, ist der Sohn von Y. Dieser wurde am 22. Januar 1997 ermordet.
Am 8. Januar 1999 ersuchte X. die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, um Entschädigung und Genugtuung.
Mit Verfügung vom 14. Juni 2001 hiess die Kantonale Opferhilfestelle das Gesuch um Genugtuung im Umfang von Fr. 30'000.- gut. Das Gesuch um Entschädigung wies sie ab.
Gegen die Abweisung des Gesuchs um Entschädigung reichte X. Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ein. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 30. Januar 2002 ab.
Die von X. dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde hiess das Bundesgericht am 7. Oktober 2002 teilweise gut. Es hob das Urteil des Sozialversicherungsgerichts auf und wies die Sache zum neuen Entscheid an dieses zurück (
BGE 129 II 49
).
Mit Urteil vom 6. Juli 2004 verpflichtete das Sozialversicherungsgericht den Kanton Zürich, X. eine Entschädigung von Fr. 19'440.- zuzüglich 5 % Zins sei dem 22. Januar 1997 zu bezahlen.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Sozialversicherungsgerichtes vom 6. Juli 2004 aufzuheben und die Sache zum neuen Entscheid an dieses zurückzuweisen.
BGE 131 II 217 S. 219 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Vorinstanz kommt zum Schluss, das Total der dem Beschwerdegegner wegen des Todes des Vaters entgangenen bevorschussten Alimente belaufe sich auf Fr. 19'440.-. Sie prüft anschliessend, ob die Voraussetzungen gemäss Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) in Verbindung mit Art. 2 und 3 der dazugehörigen Verordnung vom 18. November 1992 (Opferhilfeverordnung, OHV; SR 312.51) für die Ausrichtung einer Entschädigung erfüllt seien. Sie nimmt an, die anrechenbaren Einnahmen des Beschwerdegegners beliefen sich auf insgesamt Fr. 8'383.-. Damit sei der massgebende Höchstbetrag von 8'545.- gemäss Art. 3b Abs. 1 lit. a Ziff. 3 des Bundesgesetzes vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG; SR 831.30) für die anerkannten Ausgaben nicht erreicht, weshalb der Beschwerdegegner Anspruch auf volle Entschädigung habe. Bei der Berechnung der Einnahmen des Beschwerdegegners hat die Vorinstanz in Anwendung von
Art. 3c Abs. 1 lit. d ELG
die ihm ausgerichtete Halbwaisenrente von Fr. 3'660.- pro Jahr berücksichtigt. Die Vorinstanz legt unter Hinweis auf
Art. 14 Abs. 1 OHG
dar, da sie die Halbwaisenrente bereits bei der Einnahmenberechnung berücksichtigt habe, sei bei der Entschädigung von einem entsprechenden Abzug abzusehen.
Der Beschwerdeführer rügt, das angefochtene Urteil verletze in diesem letzten Punkt Bundesrecht. Die Vorinstanz hätte bei der Bemessung des Schadens die Halbwaisenrente anrechnen müssen. Eine Entschädigung werde nur Opfern ausgerichtet, deren Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreite (
Art. 12 Abs. 1 OHG
). Übersteige das Einkommen den massgebenden Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach dem ELG, werde nur eine reduzierte Leistung erbracht (
Art. 13 Abs. 1 OHG
). Um zu prüfen, ob diese Voraussetzungen gegeben seien, würden die anrechenbaren Einnahmen nach dem ELG berechnet. Dazu gehörten auch Leistungen einschliesslich Renten, die das Opfer aufgrund der Straftat und ihrer Folgen vom Täter oder anderen Leistungserbringern, z.B. einer Sozialversicherung, erhalte (
Art. 3c Abs. 1 lit. d ELG
). Stehe fest, dass die Voraussetzungen von
Art. 12 Abs. 1 OHG
BGE 131 II 217 S. 220
erfüllt seien, müsse in einem zweiten Schritt die Höhe des Schadens festgestellt werden. Die Opferhilfe funktioniere nicht nach dem Versicherungsprinzip, wonach im Schadensfall eine bestimmte Versicherungssumme fällig werde. Vielmehr entspreche es dem Sinn und Zweck der Opferhilfe als subsidiärem Instrument, dass nicht der Gesamtschaden ausgeglichen werde, sondern nur jener Schaden, der nach Abzug bereits erhaltener Entschädigungen ungedeckt bleibe (
Art. 14 Abs. 1 OHG
). Die Halbwaisenrente des Beschwerdegegners sei eine Leistung, die vom Schaden in Abzug gebracht werden müsse und die opferhilferechtliche Entschädigung reduziere. Andernfalls würde das Opfer doppelt entschädigt. Dies könne nicht der Sinne der Opferhilfe sein.
2.2
Gemäss
Art. 12 Abs. 1 OHG
hat das Opfer Anspruch auf Entschädigung für den durch die Straftat erlittenen Schaden, wenn seine anrechenbaren Einnahmen nach
Art. 3c ELG
das Vierfache des massgebenden Höchstbetrages für den allgemeinen Lebensbedarf nach
Art. 3b Abs. 1 lit. a ELG
nicht übersteigen. Massgebend sind die voraussichtlichen Einnahmen nach der Straftat.
Nach
Art. 13 Abs. 1 OHG
richtet sich die Entschädigung nach dem Schaden und den Einnahmen des Opfers. Liegen die Einnahmen unter dem massgebenden Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach ELG, so erhält das Opfer vollen Schadenersatz; übersteigen die Einnahmen diesen Betrag, so wird die Entschädigung herabgesetzt.
Gemäss
Art. 2 OHV
werden die anrechenbaren Einnahmen (
Art. 12 Abs. 1 OHG
) nach Artikel 3c ELG, nach den dazugehörigen Verordnungsbestimmungen des Bundes sowie nach den diesbezüglichen Sonderbestimmungen der Kantone berechnet.
Nach
Art. 3 OHV
deckt die Entschädigung den ganzen Schaden, wenn die anrechenbaren Einnahmen des Opfers nicht höher als der massgebende Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach
Art. 3b Abs. 1 lit. a ELG
(ELG-Wert) sind (Abs. 1). Übersteigen die anrechenbaren Einnahmen des Opfers das Vierfache des ELG-Werts (OHG-Höchstbetrag), so wird keine Entschädigung ausgerichtet (Abs. 2). Liegen die anrechenbaren Einnahmen des Opfers zwischen dem ELG-Wert und dem OHG-Höchstbetrag, so wird die Entschädigung nach der in
Art. 3 Abs. 3 OHV
enthaltenen Formel berechnet.
Gemäss
Art. 4 Abs. 1 OHV
beträgt die Entschädigung höchstens 100'000 Franken.
BGE 131 II 217 S. 221
Nach
Art. 3c Abs. 1 lit. d ELG
sind als Einnahmen anzurechnen Renten, Pensionen und andere wiederkehrende Leistungen, einschliesslich die Renten der AHV sowie der IV. Zu Recht hat demnach die Vorinstanz die Halbwaisenrente bei der Berechnung der Einnahmen berücksichtigt.
Gemäss
Art. 14 Abs. 1 OHG
werden Leistungen, die das Opfer als Schadenersatz erhalten hat, von der Entschädigung abgezogen. Ausgenommen sind Leistungen (insbesondere Renten und Kapitalabfindungen), die bereits bei der Berechnung der anrechenbaren Einnahmen berücksichtigt worden sind (Art. 12 Abs. 1). Nach
Art. 14 Abs. 2 OHG
gehen die Ansprüche, die dem Opfer aufgrund der Straftat zustehen, im Umfang der Entschädigung an den Kanton über, wenn die Behörde eine Entschädigung zugesprochen hat. Diese Ansprüche haben Vorrang vor den verbleibenden Ansprüchen des Opfers und den Rückgriffsansprüchen Dritter.
Da die Vorinstanz die Halbwaisenrente bei der Berechnung der Einnahmen berücksichtigt hat, war die Rente gemäss
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG
nicht von der Entschädigung abzuziehen. Der angefochtene Entscheid stützt sich insoweit auf den Wortlaut des Gesetzes. Der Beschwerdeführer verlangt die Auslegung von
Art. 14 Abs. 1 OHG
entgegen dem Wortlaut.
2.3
Nach der Rechtsprechung darf die Auslegung vom klaren Wortlaut eines Rechtssatzes nur dann abweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche triftigen Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen ergeben. Entscheidend ist danach nicht der vordergründig klare Wortlaut einer Norm, sondern der wahre Rechtssinn, welcher durch die anerkannten Regeln der Auslegung zu ermitteln ist. Auch Bundesgesetze sind einer Auslegung wider den Wortlaut zugänglich.
Art. 191 BV
setzt dem nur insoweit Schranken, als er verbietet, vom klaren Wortlaut und vom Sinn und Zweck einer Vorschrift abzugehen, um diese in den Rahmen der Verfassung zu stellen. Der Wortlaut allein aber stellt kein Hindernis dar, selbst wenn er klar ist. Bestehen triftige Gründe dafür, dass er den wahren Rechtssinn einer Vorschrift - die ratio legis - nicht wiedergibt, ist es nach dem Gesagten zulässig, von ihm abzuweichen und die Vorschrift entsprechend zu deuten, insbesondere dann, wenn der
BGE 131 II 217 S. 222
wahre Rechtssinn entgegen dem Wortlaut verfassungskonform erscheint (
BGE 111 Ia 292
E. 3b S. 297;
BGE 131 II 13
E. 7.1, mit Hinweisen).
2.4
Das Schrifttum ist der einhelligen Ansicht, vom Schaden seien auch Leistungen abzuziehen, die bereits bei der Berechnung der Einnahmen berücksichtigt worden seien. Vom Wortlaut von
Art. 14 Abs. 1 OHG
sei insoweit abzuweichen (PETER GOMM, Subsidiarität und Koordination von Entschädigungsleistungen mit Leistungen Dritter nach dem Opferhilfegesetz, in: Opferhilfe in der Schweiz, Bundesamt für Justiz [Hrsg.], Bern 2004, S. 294; EVA Weishaupt, Finanzielle Ansprüche nach Opferhilfegesetz, SJZ 98/2002 S. 330 f.; THOMAS KOLLER, Das Opferhilfegesetz: Auswirkungen auf das Strassenverkehrsrecht, AJP 1996 S. 593 f.; RUTH BANTLI KELLER/ULRICH WEDER/KURT MEIER, Anwendungsprobleme des Opferhilfegesetzes, Plädoyer 1995 5 S. 43; PETER GOMM/PETER STEIN/DOMINIK ZEHNTNER, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995, N. 10 zu
Art. 13 OHG
und N. 29 zu
Art. 14 OHG
).
Die Expertenkommission führt in ihrem Erläuternden Bericht vom 25. Juni 2002 zum Vorentwurf eines neuen Opferhilfegesetzes aus,
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG
sei gestrichen worden. Er beruhe auf einem gesetzgeberischen Versehen. In Lehre und Praxis sei anerkannt, dass zur richtigen Berechnung der Entschädigung Drittleistungen sowohl bei der Ermittlung der Einnahmen nach dem ELG als auch bei der Ermittlung des Nettoschadens zu berücksichtigen seien. Im ersten Fall gehe es um die Frage, ob das Opfer infolge der Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sei und daher der staatlichen Hilfe bedürfe; im zweiten darum, wie gross der ungedeckte Schaden sei (S. 36).
Die Kantonale Opferhilfestelle bemerkt in der Vernehmlassung ebenso,
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG
stelle ein gesetzgeberisches Versehen dar. Dieses solle mit der Revision des Opferhilfegesetzes korrigiert werden.
2.5
Gemäss
Art. 124 BV
sorgen Bund und Kantone dafür, dass Personen, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Unversehrtheit beeinträchtigt worden sind, Hilfe erhalten und angemessen entschädigt werden, wenn sie durch die Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.
Eine Entschädigung soll also nur erhalten, wer sie aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage braucht.
Art. 12 Abs. 1 und
Art. 13 Abs. 1 OHG
BGE 131 II 217 S. 223
in Verbindung mit
Art. 2 und 3 OHV
konkretisieren dies. Danach ist zunächst zu klären, ob die anrechenbaren Einnahmen des Opfers den ELG-Wert oder den OHG-Höchstbetrag übersteigen. Je nachdem erhält das Opfer - unter Vorbehalt des Höchstbetrages von 100'000 Franken - eine volle, reduzierte oder keine Entschädigung. Im Weiteren ist, soweit Anspruch auf eine Entschädigung besteht, zu prüfen, welchen Schaden das Opfer erlitten hat. Dabei soll, wie dies
Art. 14 OHG
vorsieht, die staatliche Entschädigungszahlung subsidiär sein. Dies bedeutet, dass diese in der Rangordnung an unterster Stelle steht und die Leistungspflicht des Staates hinter alle anderen Ansprüche zurücktritt. Nur dann, wenn kein anderer zur Deckung des Schadens herangezogen werden kann, muss letztlich der Staat dem Opfer eine Entschädigung ausrichten. Im Verhältnis zu den verschiedenen Schadenausgleichs- und Hilfssystemen stellt die Opferhilfe das unterste Netz dar. Ausserhalb dieses Systems und am Schluss der Leistungskaskade steht die Sozialhilfe (GOMM, a.a.O., S. 285; WEISHAUPT, a.a.O., S. 329 und 356, insb. Fn. 77).
Die Berechnung der Einnahmen des Beschwerdegegners nach
Art. 3c ELG
hat ergeben, dass diese - auch in Berücksichtigung der Halbwaisenrente nach Absatz 1 lit. d - den ELG-Wert nicht erreichen. Geht man davon aus, hat der Beschwerdegegner Anspruch auf volle staatliche Entschädigung. Eine andere Frage ist es, wie hoch sein Schaden ist. Insoweit ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner aufgrund entgangener Alimentenbevorschussungen einen Schaden von Fr. 19'440.- erlitten hat. Dabei handelt es sich jedoch um den Bruttoschaden. Der Beschwerdegegner erhält wegen des Todes des Vaters eine Halbwaisenrente. Würde diese vom Bruttoschaden nicht abgezogen, würde der Beschwerdegegner überentschädigt und aufgrund des Todes des Vaters finanziell besser gestellt, indem zur Alimentenbevorschussung die Halbwaisenrente hinzukäme.
Im vorinstanzlichen Entscheid bleibt die Sozialversicherung als Schadensausgleichssystem unberücksichtigt. Dies widerspricht dem Subsidiaritätsprinzip, wonach die Opferhilfe an letzter Stelle stehen soll.
Wie sich aus den Materialien ergibt, wollte man mit
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG
verhindern, dass derselbe Faktor zweimal hintereinander berechnet wird (Schlussbericht der Studienkommission zur
BGE 131 II 217 S. 224
Ausarbeitung eines Vorentwurfs zum Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben vom 23. Dezember 1986, S. 125). Dabei wurde offenbar übersehen, dass für die zweimalige Berechnung sachliche Gründe bestehen und - wie der vorliegende Fall zeigt - die einmalige Berechnung zu unhaltbaren Ergebnissen führt.
Wie die Expertenkommission im Erläuternden Bericht vom 25. Juni 2002 (S. 36) und WEISHAUPT (a.a.O., S. 331) zutreffend ausführen, ist die Drittleistung deshalb zweimal zu berücksichtigen, weil zwei unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sind. Zum einen geht es um die Ermittlung des Schadens, der dem Opfer nach Abzug von Drittleistungen noch verbleibt (Nettoschaden) und den es ohne staatliche Leistung selber tragen müsste; zum andern darum, ob und wieweit das Opfer aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse staatlicher Hilfeleistung bedarf.
Würde
Art. 14 Abs. 1 OHG
wörtlich ausgelegt, entstünde auch ein Widerspruch zu
Art. 14 Abs. 2 OHG
. Die Drittleistung würde in einem Fall wie hier nicht vom Bruttoschaden abgezogen. Würde dagegen zuerst die staatliche Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz geleistet, subrogierte der Staat in die Ansprüche des Opfers mit der Folge, dass die nachträgliche Drittleistung dem Opfer entzogen würde. Es ergäbe sich also eine unterschiedliche Situation, je nachdem, ob die Drittleistung vor der Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz erbracht wird oder nachher. Eine derartige Ungleichbehandlung rechtfertigt sich nicht.
Dass Sozialversicherungsleistungen, die bei der Berechnung der Einnahmen nach dem ELG zu berücksichtigen sind, vom Bruttoschaden abzuziehen sind, ergibt sich im Übrigen bereits aus
BGE 128 II 49
, wo das Bundesgericht das Vorgehen bei der Festsetzung der staatlichen Entschädigung bei Erwerbsausfall dargelegt hat (E. 3 S. 52 f.).
2.6
Die Beschwerde ist im vorliegenden Punkt begründet. Entgegen dem Wortlaut von
Art. 14 Abs. 1 OHG
sind Leistungen, die das Opfer als Schadenersatz erhalten hat, auch dann von der Entschädigung abzuziehen, wenn sie bereits bei der Berechnung der anrechenbaren Einnahmen nach dem ELG berücksichtigt worden sind.
3.
3.1
Die Vorinstanz hat bei den anrechenbaren Einnahmen nach dem ELG einzig jene des Beschwerdegegners berücksichtigt. Der
BGE 131 II 217 S. 225
Beschwerdeführer macht geltend, dies verletze Bundesrecht. Die Vorinstanz hätte die finanziellen Verhältnisse der Mutter mit berücksichtigen müssen. Das Opferhilfegesetz (Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1) verweise bei der Frage, unter welchen wirtschaftlichen Voraussetzungen das Opfer einen Entschädigungsanspruch habe, auf das ELG. Während für die Frage, ob ein Anspruch auf Opferhilfeleistungen bestehe, auf
Art. 3c und
Art. 3b Abs. 1 ELG
abzustellen sei, werde für die Frage, wie die Höhe der Entschädigung zu bemessen sei, generell auf "den allgemeinen Lebensbedarf nach ELG" verwiesen.
Art. 3a ELG
äussere sich zur Berechnung und Höhe der jährlichen Ergänzungsleistung. Nach Absatz 4 dieser Bestimmung seien die anerkannten Ausgaben und die anrechenbaren Einnahmen von Ehegatten, Personen mit rentenberechtigten Kindern sowie von Waisen, die im gleichen Haushalt leben, zusammenzurechnen. Die beiden folgenden Bestimmungen zählten die anrechenbaren Ausgaben (
Art. 3b ELG
) und Einnahmen (
Art. 3c ELG
) auf. Das Opferhilfegesetz verweise nicht ausdrücklich auf
Art. 3a ELG
. Die erwähnten drei Bestimmungen seien aber aufeinander bezogen und bildeten ein sinnvolles Ganzes. Der generelle Verweis auf das ELG in
Art. 13 Abs. 1 OHG
erlaube, ja verlange deshalb auch die Anwendung von
Art. 3a Abs. 4 ELG
im Rahmen der opferhilferechtlichen Bemessung der Entschädigung. Im vorliegenden Fall hätte der Einbezug der finanziellen Situation der Mutter eine Kürzung der opferhilferechtlichen Entschädigung um rund 20 % zur Folge.
Der Beschwerdeführer bringt sodann vor, die Vorinstanz habe es zum Nachteil des Beschwerdegegners unterlassen, den von ihr zutreffend erwähnten Freibetrag von Fr. 15'000.- vom Vermögen gemäss
Art. 3c Abs. 1 lit. c ELG
tatsächlich in Abzug zu bringen. Zudem sei sie beim Lebensbedarf von einem falschen Betrag ausgegangen (Fr. 8'545.- statt Fr. 9'060.-).
3.2
Wie dargelegt, soll nach
Art. 124 BV
Opferhilfe nur erhalten, wer das aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage braucht. Das Opferhilfegesetz und die dazugehörige Verordnung verweisen zur Konkretisierung dieses Grundgedankens auf die anrechenbaren Einnahmen nach
Art. 3c ELG
und den massgebenden Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach
Art. 3b Abs. 1 lit. a ELG
. Damit wird der Kreis jener Personen festgelegt, die aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse Anspruch auf staatliche Opferhilfeleistung haben sollen. Zwar verweisen weder das
BGE 131 II 217 S. 226
Opferhilfegesetz noch die Opferhilfeverordnung ausdrücklich auf
Art. 3a Abs. 4 ELG
, wonach die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen von Ehegatten, Personen mit rentenberechtigten oder an der Rente beteiligten Kindern sowie von Waisen, die im gleichen Haushalt leben, zusammenzurechnen sind. Würde man diese Bestimmung nicht anwenden, hätten jedoch Kinder - da sie meistens über geringe anrechenbare Einnahmen verfügen - regelmässig Anspruch auf staatliche Entschädigung; dies selbst dann, wenn ihre Eltern reich sind. Damit würde Entschädigung geleistet in Fällen, in denen das Opfer das nicht nötig hat. Dies widerspräche dem Grundgedanken der Opferhilfe.
Art. 3a Abs. 4 ELG
ist deshalb nach der zutreffenden Auffassung des Beschwerdeführers in einem Fall wie hier, wo es um ein minderjähriges Opfer geht, anzuwenden. Dies wird auch im Schrifttum gefordert (WEISHAUPT, a.a.O., S. 328).
3.3
Zutreffend weist der Beschwerdeführer im Übrigen darauf hin, dass die Vorinstanz fälschlicherweise für den Beschwerdegegner von einem ELG-Wert von Fr. 8'545.- ausgegangen ist, statt von einem solchen von Fr. 9'060.-. Dieser letztere Betrag wurde mit Art. 1 lit. c der Verordnung 03 vom 20. September 2002 über Anpassungen bei Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in Kraft seit 1. Januar 2003, festgesetzt. Er hätte von der Vorinstanz ihrem Entscheid zugrunde gelegt werden müssen (GOMM/STEIN/ZEHNTNER, a.a.O., N. 30 f. zu
Art. 12 OHG
). Begründet ist ebenso der Einwand, dass es die Vorinstanz bei der Berechnung des Vermögensverzehrs von einem Fünfzehntel des Reinvermögens nach
Art. 3c Abs. 1 lit. c ELG
irrtümlich unterlassen hat, den für Kinder vorgesehenen Freibetrag von Fr. 15'000.- abzuziehen.
3.4
Die Beschwerde ist auch im vorliegenden Punkt begründet.
4.
4.1
Die Vorinstanz hat den Kanton Zürich verpflichtet, den Betrag von Fr. 19'440.- seit dem 22. Januar 1997 mit 5 % zu verzinsen. Der Beschwerdeführer rügt, das angefochtene Urteil verletze auch insoweit Bundesrecht. Die Vorinstanz nenne keine Gründe für die angebliche Verzinsungspflicht. Dafür fehle es an der gesetzlichen Grundlage. Der Schadenszins (
Art. 41 Abs. 1 OR
) finde bei unerlaubter Handlung Anwendung und bezwecke, den Geschädigten so zu stellen, wie wenn er bereits im Zeitpunkt des Schadenseintritts befriedigt worden wäre. Der Staat schulde in
BGE 131 II 217 S. 227
Opferhilfefällen selbst keinen Schadenersatz aus unerlaubter Handlung. Die finanzielle Opferhilfe solle vielmehr - sofern gewisse Kriterien erfüllt seien - als eine Art Ausfallgarantie in jenen Fällen greifen, in denen das Opfer vom Täter keine Leistungen erhalte. Mangels Schadenersatzpflicht könne die OHG-Entschädigungsbehörde auch nicht zur Zahlung eines Schadenszinses auf die ihr obliegende Leistung verpflichtet werden. Die Voraussetzungen für die Leistung von Verzugszins (
Art. 104 Abs. 1 OR
) seien ebenso wenig gegeben.
4.2
Art. 13 OHG
regelt die Bemessung der Entschädigung. Danach richtet sich letztere nach dem Schaden und den Einnahmen des Opfers. Liegen die Einnahmen - wovon die Vorinstanz hier ausgegangen ist - unter dem massgebenden Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach dem ELG, so erhält das Opfer
vollen Schadenersatz
; übersteigen die Einnahmen diesen Betrag, so wird die Entschädigung herabgesetzt (Abs. 1).
Nach der Rechtsprechung ist der Begriff des Schadens im Opferhilferecht der gleiche wie im Haftpflichtrecht (
BGE 131 II 121
E. 2.1;
BGE 129 II 49
E. 4.3.2; Urteil 1A.252/2000 vom 8. Dezember 2000, publ. in: ZBl 102/2001 S. 486 ff., E. 2a und e). Das Opfer kann im Rahmen von
Art. 11 ff. OHG
Forderungen für die verschiedenen Schadensposten geltend machen, die nach
Art. 41 OR
in Betracht kämen (
BGE 131 II 121
E. 2.4.4). Zum Schaden gemäss
Art. 41 OR
gehört der Zins vom Zeitpunkt an, in dem das schädigende Ereignis sich finanziell ausgewirkt hat. Der Schadenszins bezweckt, den Anspruchsberechtigten so zu stellen, wie wenn er für seine Forderung am Tag des Schadenseintritts befriedigt worden wäre (
BGE 131 III 12
E. 9.1;
BGE 130 III 591
E. 4 S. 599, mit Hinweisen). Nach
Art. 73 Abs. 1 OR
gilt der Zinsfuss von 5 % (HEINZ REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2003, S. 40 N. 170a; KARL OFTINGER/EMIL W. STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. 1: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Zürich 1995, S. 257 N. 25).
Gehört der Schadenszins zum Schaden, hat das Opfer Anspruch auf die Vergütung dieses Zinses im Rahmen der opferhilferechtlichen Entschädigung. Andernfalls erhielte es entgegen
Art. 13 Abs. 1 OHG
keinen vollen Schadenersatz. Diese Bestimmung gewährt der Behörde keinen Ermessensspielraum. Die in
Art. 13 Abs. 1 Satz 2 OHG
vorgesehene Herabsetzung der Entschädigung
BGE 131 II 217 S. 228
wird nach der Formel von
Art. 3 Abs. 3 OHV
berechnet. Ausgangspunkt ist auch dabei der volle Schadenersatz. Wieweit die Entschädigung herabgesetzt wird, ergibt sich aus der genannten Formel. Der Beschwerdeführer verlangt - unausgesprochen - die Auslegung des Gesetzes entgegen dem Wortlaut auch im vorliegenden Punkt. Bei
Art. 13 Abs. 1 OHG
bestehen jedoch - anders als bei
Art. 14 Abs. 1 OHG
(oben E. 2) - keine triftigen Gründe, die für ein Abweichen vom Gesetzeswortlaut sprechen.
Lehnte man die Vergütung des Schadenszinses ab, würde im Übrigen das Opfer, das - wie hier - länger auf die Entschädigung warten muss, schlechter gestellt gegenüber jenem, das diese rasch erhält. Eine derartige Ungleichbehandlung rechtfertigt sich nicht. Der Zeitablauf soll nicht zulasten des Opfers gehen.
Die Vorinstanz hat mit der Anordnung der Verzinsung danach kein Bundesrecht verletzt. Die Beschwerde ist in diesem Punkt unbegründet.
Ob eine opferhilferechtliche Genugtuung in gleicher Weise zu verzinsen wäre, kann hier offen bleiben.
5.
5.1
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zum neuen Entscheid unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze an die Vorinstanz zurückzuweisen. | de |
4984e951-44b9-447d-be42-87302c07ee83 | Sachverhalt
ab Seite 100
BGE 93 IV 99 S. 100
A.-
Gassmann führte am 26. März 1966, um 11 Uhr, einen Plymouth-Personenwagen auf der Baslerstrasse in Trimbach Richtung Olten. Er fuhr mit 40-45 km/Std und beabsichtigte, beim Gasthof "Rössli" nach links in die Milchgasse abzubiegen.
Die Baslerstrasse verläuft auf jener Strecke gerade, weist eine Breite von 10,55 m auf und ist in der Mitte mit einer Leitlinie versehen.
Gassmann betätigte schon 300 m vor der Abzweigung den Blinker und spurte nach links gegen die Strassenmitte ein. Als er der Verzweigung nahe war, überfuhr er die Leitlinie seitlich um etwa 20 cm und streifte dabei einen entgegenkommenden Saab-Personenwagen, der, von Lämmli gesteuert, soeben mit 60 km/Std zwei Radfahrer überholt hatte. Beide Wagen wurden erheblich beschädigt.
B.-
Der Gerichtspräsident von Olten-Gösgen büsste am 20. September 1966 Gassmann wegen Übertretung von
Art. 34 Abs. 1 SVG
sowie
Art. 13 Abs. 2 VRV
mit Fr. 30.-, Lämmli wegen Verletzung von
Art. 26 Abs. 2 SVG
mit Fr. 15.-.
BGE 93 IV 99 S. 101
Die Verurteilten erhoben Kassationsbeschwerde, die das Obergericht des Kantons Solothurn am 14. Dezember 1966 abwies. Das Obergericht nahm im Gegensatz zur ersten Instanz an, Gassmann habe nicht Art. 34 Abs. 1, dafür aber
Art. 36 Abs. 1 SVG
übertreten.
C.-
Gassmann führt gegen das Urteil des Obergerichtes Nichtigkeitsbeschwerde. Er macht sinngemäss geltend, seine Verurteilung könne bei richtiger Auslegung von
Art. 13 Abs. 2 VRV
nicht aufrechterhalten werden. Lämmli habe übrigens ausser der Grundregel insbesondere noch
Art. 35 Abs. 2 SVG
übertreten. Zu prüfen sei ferner, ob die Mitfahrerin Lämmlis dadurch, dass sie die Unfallstelle vor Eintreffen der Polizei verliess, nicht gegen die Vorschriften über das Verhalten bei Unfällen verstossen habe.
D.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Soweit die Nichtigkeitsbeschwerde auf eine schärfere Verurteilung Lämmlis und auf eine Bestrafung seiner Mitfahrerin abzielt, ist darauf nicht einzutreten. Widerhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften werden von Amtes wegen verfolgt. Der Beschwerdeführer ist daher nicht Antragsteller im Sinne von
Art. 270 Abs. 1 BStP
. Als Privatstrafkläger stände ihm aber nach Abs. 3 dieser Bestimmung die Nichtigkeitsbeschwerde nur zu, wenn er nach den Vorschriften des kantonalen Prozessrechtes die Anklage allein, ohne Beteiligung des öffentlichen Anklägers, geführt hätte. Das war offensichtlich nicht der Fall, beschränkte der Beschwerdeführer sich im kantonalen Kassationsverfahren doch darauf, seine eigene Verurteilung anzufechten.
Dass der öffentliche Ankläger im Verfahren nicht aufgetreten ist, ändert nichts; nach der Rechtsprechung genügt, dass er hätte Parteirechte ausüben können (
BGE 77 IV 126
,
BGE 84 IV 135
,
BGE 85 IV 110
). Das traf hier zu. Freilich steht dem Staatsanwalt gegen das Urteil eines Amtsgerichtspräsidenten die kantonale Kassationsbeschwerde nur zu, wenn der Angeklagte freigesprochen wird (
§ 421 StPO
, Fassung vom 18. Dezember 1961). Nach § 68 Abs. 3 des solothurnischen Gesetzes über die Gerichtsorganisation vom 5. März 1961 kann er die Anklage vor Obergericht jedoch auch in Fällen zu vertreten haben, in denen
BGE 93 IV 99 S. 102
er den erstinstanzlichen Entscheid nicht angefochten hat oder der Angeklagte nicht freigesprochen, sondern verurteilt wurde (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 28. Juni 1963 i.S. Lehmann). Das Urteil in
BGE 73 IV 187
Erw. 1, das vor der Revision der angeführten kantonalen Bestimmungen gefällt wurde, ist in dieser Hinsicht überholt und ergibt daher nichts mehr zugunsten des Beschwerdeführers.
2.
In
Art. 13 VRV
wird zu den Verkehrsregeln über das Einspuren und Abbiegen insbesondere ausgeführt, dass der Fahrer frühzeitig einspuren muss (Abs. 1 Satz 1), den für den Gegenverkehr bestimmten Raum aber nicht beanspruchen darf, wenn er nach links einspurt; dagegen darf er auf dreispurigen Strassen mit oder ohne Markierung mit der gebotenen Vorsicht die mittlere Spur benützen (Abs. 2).
a) Was unter einer dreispurigen Strasse im Sinne dieser Bestimmung verstanden werden soll, ist namentlich wegen der Wendung "mit oder ohne Markierung" ("marquées ou non", "demarcate o no") unklar. Nach dem deutschen Text könnte eine Strasse ungeachtet dessen, dass sie in der Mitte mit einer Leitlinie versehen ist, als dreispurig gelten, sofern sie breit genug und nach den gegebenen Umständen in drei Bahnen befahrbar ist. Eine solche Annahme widerspräche indes schon den romanischen Texten, in denen die unklare Wendung sich bloss auf die drei Spuren und nicht, wie im deutschen, auf die Strasse überhaupt bezieht. Sie wäre auch unvereinbar mit wichtigen Verkehrsregeln. Nach
Art. 36 Abs. 1 SVG
hat der Fahrer, der nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten. Er darf also dann, wenn die Strassenmitte durch eine Leitlinie gekennzeichnet ist (
Art. 52 Abs. 3 Satz 1 SSV
), diese nicht schon beim Einspuren überfahren. Wenn sich deshalb der Abstand beim Kreuzen als ungenügend erweisen sollte, so darf er sich auch keineswegs der Linie so stark nähern, dass er entgegenkommende Fahrzeuge gefährden könnte (vgl.
BGE 81 IV 172
f. und 299). Nach
Art. 27 Abs. 1 SVG
sodann sind nicht nur Signale, sondern auch Markierungen auf der Fahrbahn zu befolgen; sie gehen den allgemeinen Regeln sogar vor. Wollte man aber in Fällen, wie hier, eine dreispurige Strasse annehmen, so müsste der Fahrer, der "die mittlere Spur" benützt, sich über die Leitlinie hinwegsetzen, ja sie ignorieren.
Ein solches Verhalten verstösst nicht nur gegen das Verkehrsgefühl, sondern ist auch in hohem Masse geeignet, andere zu
BGE 93 IV 99 S. 103
täuschen und zu falschen Vorkehren zu veranlassen. Schwenkt der Fahrer, der nach links abbiegen will und seine Absicht mit Blinklicht anzeigt, vorzeitig auf die linke Strassenhälfte ein, so kann dies insbesondere bei einem entgegenkommenden, der sich auf die Leitlinie verlässt, leicht den Eindruck erwecken, jener wolle ihm den Vortritt (
Art. 36 Abs. 3 SVG
) streitig machen; jedenfalls hat er dann keine Gewähr mehr dafür, dass jener ihn noch durchlassen werde. Diese Ungewissheit besteht sogar dann, wenn die Strasse keine Markierungen aufweist, das einspurende Fahrzeug die Strassenmitte aber offensichtlich überfährt. Die Strassenmitte markierende Leitlinien wollen denn auch den Raum, der für den Verkehr in jede der beiden Richtungen bestimmt ist, genau abgrenzen und damit Streifkollisionen oder gar frontalen Zusammenstössen vorbeugen. Gegen solche Gefahren ist in Fällen, wie hier, nur mit der einfachen und klaren Ordnung aufzukommen, dass der Fahrer, der nach links abbiegen will, entsprechend den Vorschriften des
Art. 36 Abs. 1 und 3 SVG
gegen die Strassenmitte einspurt, die sie kennzeichnende Leitlinie aber erst überfährt, wenn er die Gewissheit hat, ohne Beeinträchtigung des vortrittsberechtigten Gegenverkehrs abbiegen zu können (vgl.
BGE 79 II 217
,
BGE 85 IV 90
). Das schliesst aus, dass der zweite Satz von
Art. 13 Abs. 2 VRV
auf Strassen, die in der Mitte mit einer Leitlinie versehen sind, Anwendung findet.
b) Nach dem angefochtenen Urteil hat der Beschwerdeführer die Leitlinie schon überfahren, bevor er die Verzweigung, auf der er nach links abbiegen wollte, erreichte. Dass dies aus zwingenden Gründen geschehen sei, macht Gassmann nicht geltend; aus den Feststellungen der Vorinstanz erhellt vielmehr, dass er keinerlei Anlass hatte, über die Strassenmitte hinaus einzuspuren. Das Obergericht wirft ihm daher mit Recht vor,
Art. 36 Abs. 1 SVG
und
Art. 13 Abs. 2 Satz 1 VRV
übertreten zu haben.
Ob er dadurch, dass er bereits 300 m vor der Abzweigung den rechten Strassenrand verliess und nach links einspurte, gegen
Art. 34 Abs. 1 SVG
verstossen habe, kann dahingestellt bleiben; denn die Vorinstanz macht ihm deswegen keinen Vorwurf. Immerhin ist zu bemerken, dass die Vorschrift des
Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VRV
, wonach frühzeitig einzuspuren ist, nicht heissen kann, der Fahrer müsse damit schon mehrere hundert Meter vor dem Abzweigen beginnen; das darf jedenfalls dann
BGE 93 IV 99 S. 104
nicht angenommen werden, wenn er nach links abbiegen will und, wie der Beschwerdeführer, eher langsam fährt. Das Einspuren nach links stellt für den Längsverkehr stets eine erhöhte Gefahr dar, ist folglich schon deswegen auf eine angemessene Strecke zu beschränken. | de |
6212b04a-c656-4da4-9ed9-b38aea992537 | Sachverhalt
ab Seite 205
BGE 96 II 204 S. 205
Gekürzter Tatbestand:
A.-
Der im Oberwallis wohnhafte Fabrikarbeiter Emil Kuonen schloss bei der Lebensversicherungsgesellschaft La Nationale im November 1965 eine gemischte Lebensversicherung (versichertes Kapital Fr. 10 000.--) mit Zusatzversicherungen für die Fälle der Arbeitsunfähigkeit und des Spitalaufenthaltes ab. Grundlage dieses - ohne ärztliche Untersuchung
BGE 96 II 204 S. 206
abgeschlossenen -Vertrags ist ein vom Versicherungsagenten Roman Kuonen im Beisein des Generalagenten Angelo Donzé und des Versicherungsnehmers Emil Kuonen ausgefüllter und von diesem letztern am 4. November 1965 unterzeichneter "Antrag zu einer Lebensversicherung", der im Abschnitt "4, Gesundheitszustand" u.a. folgende Fragen und Antworten enthält:
"3. Haben Sie jemals an den nachfolgenden Krankheiten oder körperlichen Schädigungen gelitten? Dauer? Datum?
Lungen. Bronchitis - Lungenentzündung - Brustfellent zündung - Lungentuberkulose? nein
...
4. Leiden Sie oder haben Sie gelitten an einem oben nicht angeführten Leiden oder Gebrechen? Kropf - Pottsche Krankheit - Coxalgie - Nieren-, Darm- oder andere Tuberkulose? : nein
...
10. Wie ist gegenwärtig Ihr Gesundheitszustand? Hat er sich in letzter Zeit verschlechtert? Wie ist Ihre Lebensweise? Ihre Nahrung? Stehen Sie momentan in ärztlicher Behandlung?
Wofür?
11. Haben sie sich in letzter Zeit einer ärztlichen Untersuchung unterzogen? Wann? Warum? Resultat?: nein
12. Wer ist Ihr Hausarzt? Dr. B..."
B.-
Im März 1967 musste sich der Versicherungsnehmer wegen hohen Blutdrucks für elf Tage zu einer Untersuchung ins Spital begeben. Als er hierauf das für solche Fälle vereinbarte Taggeld verlangte, holte die Versicherungsgesellschaft ärztliche Berichte ein. Dr. B. erklärte in seinem Bericht vom 30. Mai 1967 u.a., er habe den Versicherungsnehmer in den Jahren 1955, 1950 (gemeint wohl: 1960), 1961, 1962, 1963 und 1964 wegen Bronchitis und 1965 wegen Angina/Bronchitis behandelt. Als Dauer der Behandlung der von ihm genannten Krankheiten gab er an: "2-3-4 Wochen". Darauf trat die Versicherungsgesellschaft mit Schreiben vom 20. Juni 1967 wegen unrichtiger Beantwortung der Fragen über den Gesundheitszustand gestützt auf
Art. 6 VVG
vom Vertrage zurück.
C.-
Am 3. Mai 1968 leitete der Versicherungsnehmer gegen die Versicherungsgesellschaft Klage ein mit den Begehren, es sei festzustellen, dass die Beklagte zu Unrecht vom Versicherungsvertrage zurückgetreten und dass demzufolge dieser Vertrag
BGE 96 II 204 S. 207
weiterhin wirksam sei; die Beklagte sei zu verpflichten, die versicherungsvertraglichen Leistungen zu erbringen.
Mit Urteil vom 3. Oktober 1969 hiess das Kantonsgericht Wallis die Klage gut.
D.-
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte rechtzeitig die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag auf Abweisung der Klage.
Das Bundesgericht bestätigt das angefochtene Urteil. Erwägungen
Erwägungen:
1.
... (Streitwert)
2.
Die Beklagte, die den Rücktritt wegen unrichtiger Beantwortung der "Rubrik Gesundheitszustand" erklärt und in der Klageantwort u.a. geltend gemacht hatte, der Kläger habe die meisten in dieser Rubrik enthaltenen Fragen verneint, hat sich gemäss verbindlicher Feststellung des Kantonsgerichts in der vorinstanzlichen Urteilsverhandlung zur Begründung ihres Rücktritts einzig darauf berufen, dass der Kläger die in der erwähnten Rubrik unter Ziffer 3 gestellte Frage nach Erkrankungen an Bronchitis, Lungenentzündung usw. fälschlicherweise mit Nein beantwortet habe. Ob die Beklagte durch dieses Verhalten darauf verzichtet habe, ihren Rücktritt auch mit der unrichtigen Beantwortung weiterer Fragen zu begründen, kann dahingestellt bleiben; denn ihre Berufung kann selbst dann nicht geschützt werden, wenn die in der Berufungsschrift enthaltenen Ausführungen darüber, dass der Kläger ausser der Frage 3 auch die Fragen 4, 10 und 11 über seinen Gesundheitszustand unrichtig beantwortet und auch damit seine Anzeigepflicht verletzt habe, als zulässig erachtet werden.
3.
Der Antragsteller hat dem Versicherer nach
Art. 4 Abs. 1 VVG
anhand eines Fragebogens oder auf sonstiges schriftliches Befragen alle für die Beurteilung der Gefahr erheblichen Tatsachen, soweit und so wie sie ihm beim Vertragsabschluss bekannt sind oder bekannt sein müssen, schriftlich mitzuteilen. Erheblich sind nach
Art. 4 Abs. 2 VVG
diejenigen Gefahrstatsachen, die geeignet sind, auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu den vereinbarten Bedingungen abzuschliessen, einen Einfluss auszuüben. Die Gefahrstatsachen, auf welche die schriftlichen Fragen des Versicherers in bestimmter, unzweideutiger Fassung gerichtet sind, werden als erheblich vermutet (
Art. 4 Abs. 3 VVG
).
BGE 96 II 204 S. 208
Wenn der Anzeigepflichtige beim Abschluss der Versicherung eine erhebliche Gefahrstatsache, die er kannte oder kennen musste, unrichtig mitgeteilt oder verschwiegen hat, so ist der Versicherer nach
Art. 6 VVG
an den Vertrag nicht gebunden, wenn er binnen vier Wochen, nachdem er von der Verletzung der Anzeigepflicht Kenntnis erhalten hat, vom Vertrage zurücktritt.
Die im Fragebogen der Beklagten enthaltene Frage, ob und allenfalls wann und wie lange die zu versichernde Person an Bronchitis gelitten habe, betrifft eine Gefahrstatsache, die zweifellos geeignet ist, den Versicherer beim Entscheid darüber zu beeinflussen, ob und zu welchen Bedingungen er mit der betreffenden Person einen Lebensversicherungsvertrag abschliessen (und ihr zudem für den Fall der Krankheit und Arbeitsunfähigkeit Zusatzleistungen versprechen) wolle. Die erwähnte Frage hat also eine im Sinne von
Art. 4 und 6 VVG
erhebliche Gefahrstatsache zum Gegenstand (vgl.
BGE 92 II 352
E. 4 und ROELLI/KELLER, Kommentar zum VVG, I. Band 1968, S. 98).
Die Antwort "nein", die auf dem Fragebogen zu dieser Frage gesetzt wurde, war objektiv unrichtig, da sich der Kläger nach dem Berichte von Dr. B. vom 30. Mai 1967, auf den die Vorinstanz abstellt, in jedem der Jahre 1961-1965 (und auch schon 1955 und 1950 oder 1960) während einiger Wochen wegen Bronchitis hatte behandeln lassen müssen. Der Kläger hat das im Prozess zugegeben und beigefügt, er habe wegen dieser Krankheiten gewöhnlich für vierzehn Tage oder drei Wochen die Arbeit aussetzen müssen.
Der Kläger kann die Verantwortung für diese unrichtige Antwort nicht schon deshalb ablehnen, weil der Fragebogen auf Grund der Antworten, die er auf mündliche Fragen des Agenten Roman Kuonen erteilte, von diesem ausgefüllt wurde und weil der Agent nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, die weder unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustandegekommen sind noch offensichtlich auf Versehen beruhen und daher gemäss
Art. 63 Abs. 2 OG
für das Bundesgericht verbindlich sind, den Kläger nicht genau nach dem Fragebogen befragte und namentlich nicht ausdrücklich von Bronchitis sprach. Indem der Kläger den Versicherungsantrag, der die vom Agenten eingetragenen Antworten enthielt, unterzeichnete, übernahm er grundsätzlich die Verantwortung für diese Antworten (
BGE 68 II 333
; ROELLI/KELLER S. 157)
BGE 96 II 204 S. 209
und erfüllte zugleich das Erfordernis der schriftlichen Beantwortung (
BGE 52 II 298
; ROELLI/KELLER S. 112). Er muss sich diese Antworten um so eher als seine eigenen zurechnen lassen, als am Kopf des von ihm unterzeichneten Antrags steht, die Antragsteller seien verantwortlich für die Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Beantwortung der gestellten Fragen, "auch wenn diese Antworten von einem Agenten der Gesellschaft... eingesetzt worden sind". Mit der Unterzeichnung des Antrags hat er sich dieser Klausel unterworfen (vgl.
BGE 92 II 347
lit. a am Ende). Wenn er die vorgedruckten Fragen und die vom Agenten dazu gesetzten Antworten nicht las und die Antworten nicht auf ihre Richtigkeit prüfte, handelte er grundsätzlich auf seine eigene Gefahr (ROELLI/KELLER S. 157).
Drei Wochen nach Erhalt des Berichtes von Dr. B. vom 30. Mai 1967, aus dem sich die Unrichtigkeit der erwähnten Antwort ergab, ist die Beklagte vom Vertrage zurückgetreten. Sie ist daher nach
Art. 6 VVG
(unter Vorbehalt von
Art. 8 VVG
) an diesen nicht gebunden, wenn der Kläger die Tatsache, dass er an Bronchitis gelitten hatte, beim Vertragsabschluss im Sinne von
Art. 4 und 6 VVG
kannte oder kennen musste. Ist diese Voraussetzung dagegen nicht erfüllt (oder greift
Art. 8 VVG
ein), so war die Beklagte nicht berechtigt, wegen der unrichtigen Beantwortung der Frage nach Erkrankungen an Bronchitis vom Vertrage zurückzutreten.
4.
Die Beklagte wendet sich gegen die Auffassung der Vorinstanz, unter dem Gesichtspunkte von
Art. 4 und 6 VVG
komme es nicht auf die objektive, sondern nur auf die subjektive Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben des Anzeigepflichtigen an. Sie behauptet in Übereinstimmung mit P. PETERMANN (La réticence, en droit suisse des assurances, Schweiz. Versicherungszeitschrift 32, 1964/65, S. 193 ff. und 239 ff., bes. S. 199 ff.), nach Lehre und Rechtsprechung gelte die objektive Theorie; das Bundesgericht wende die subjektive Theorie nur im Ausnahmefalle an, dass der Versicherungsnehmer geistig nicht normal entwickelt sei.
Aus dem Wortlaut von
Art. 4 und 6 VVG
ergibt sich klar, dass weder nach einem rein subjektiven noch nach einem rein objektiven Kriterium zu beurteilen ist, ob der Antragsteller seine Anzeigepflicht erfüllt oder verletzt habe. Indem das Gesetz sich nicht damit begnügt, dass der Antragsteller dem
BGE 96 II 204 S. 210
Versicherer in Beantwortung entsprechender Fragen die ihm tatsächlich bekannten (von seinem positiven subjektiven Wissen erfassten) erheblichen Gefahrstatsachen mitteilt, sondern darüber hinaus vorschreibt, der Antragsteller habe auch die erheblichen Gefahrstatsachen anzuzeigen, die ihm bekannt sein müssen, stellt es ein objektives (vom tatsächlichen Wissen des Antragstellers über den konkreten Sachverhalt unabhängiges) Kriterium auf. Bei der Anwendung dieses Kriteriums sind jedoch die Umstände des einzelnen Falles, insbesondere die persönlichen Eigenschaften (Intelligenz, Bildungsgrad, Erfahrung) und die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers zu berücksichtigen (
BGE 39 II 307
; ROELLI/KELLER S. 105, 107); denn dieser hat dem Versicherer nach den erwähnten Vorschriften neben den ihm tatsächlich bekannten Gefahrstatsachen nicht allgemein die zur Zeit des Vertragsabschlusses objektiv erkennbaren Gefahrstatsachen mitzuteilen, sondern er hat die erheblichen Gefahrstatsachen auf schriftliches Befragen nur anzugeben, soweit und so wie sie ihm bekannt sind oder bekannt sein müssen.So ist es gemeint, wenn die herrschende Lehre (GUYER, Kommentar zum VVG, 1910, S. 24; ROELLI, Kommentar zum VVG, I. Band 1914, S. 79 und 98; OSTERTAG/HIESTAND, Das VVG, 1928, S. 27 und 86 N. 8; P.A. MATHEY, Die Anzeigepflicht beim Abschluss des Versicherungsvertrages, Diss. Zürich 1945, S. 40, 59 ff.; KOENIG, Schweiz. Privatversicherungsrecht, 3. Aufl. 1967, S. 179; ROELLI/KELLER S. 104 f. und 122) und mit ihr die Vorinstanz erklären, es komme nicht auf die objektive, sondern lediglich auf die subjektive Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben des Anzeigepflichtigen an. Die erwähnten subjektiven Momente fallen beim Entscheid darüber, welche erheblichen Gefahrstatsachen der Antragsteller kennen musste, keineswegs nur im Ausnahmefalle eines geistig nicht normal entwickelten Antragstellers, sondern in allen Fällen in Betracht. Die von PETERMANN (S. 200) angeführte Bemerkung in dem auch von der Beklagten angerufenen Urteil des Bundesgerichts vom 1. Februar 1929 i.S. Die Schweiz gegen Steiner (SVA VI Nr. 59, lit. d S. 103), die objektive Unrichtigkeit der Antwort genüge an sich, um dem Versicherer das Rücktrittsrecht zu verschaffen, widerspricht dem Sinne des Gesetzes und hat im übrigen die in jenem Falle getroffene Entscheidung nicht beeinflusst.
Umstritten ist in der Lehre, ob dem Antragsteller nur dann entgegengehalten werden kann, er habe eine von ihm nicht angezeigte
BGE 96 II 204 S. 211
Gefahrstatsache kennen müssen, wenn die Unkenntnis dieser Tatsache auf Arglist oder grobe Fahrlässigkeit zurückzuführen ist, oder auch dann, wenn die Unkenntnis bloss auf leichter Fahrlässigkeit beruht (im ersten Sinne ROELLI S. 78 f., OSTERTAG/HIESTAND S. 27, ROELLI/KELLER S. 106; im zweiten Sinne GUYER S. 24 und MATHEY S. 37). Diese Streitfrage braucht jedoch im vorliegenden Falle nicht näher erörtert zu werden. Entscheidend ist letztlich, ob und wieweit der Antragsteller nach seiner eigenen Kenntnis der Verhältnisse und gegebenenfalls nach den ihm von fachkundiger Seite erteilten Aufschlüssen eine Frage des Versicherers in guten Treuen verneinen durfte (
BGE 72 II 131
). Das VVG verlangt vom Antragsteller, dass er sich ernstlich überlegt, ob eine unter die Fragen des Versicherers fallende Tatsache vorliege. Erkundigungen über das Bestehen einer solchen Tatsache mutet es ihm aber nicht zu (
BGE 39 II 307
; ROELLI S. 79; MATHEY S. 38; KOENIG S. 179/80; ROELLI/KELLER S. 106). Der Antragsteller genügt seiner Anzeigepflicht, wenn er ausser den ihm ohne weiteres bekannten Tatsachen auch diejenigen angibt, deren Vorhandensein ihm nicht entgehen kann, wenn er über die Fragen des Versicherers ernsthaft nachdenkt. Den in diesen Fragen allenfalls verwendeten Fachausdrücken darf er, wenn er ihren technischen Sinn nicht kennt und darüber nicht belehrt wird, die Bedeutung beilegen, die ihnen nach den in seinem Lebenskreis herrschenden Anschauungen, insbesondere nach dem dort herrschenden Sprachgebrauch zukommt (
BGE 39 II 307
/08,
BGE 46 II 192
; KOENIG S. 177/78; ROELLI/KELLER S. 107 f.). Auch darf er die Fragen mit den ihm geläufigen Ausdrücken beantworten, z.B. also eine Krankheit mit dem an seinem Wohnort gebräuchlichen Namen bezeichnen.
5.
Die Vorinstanz stellt fest, der Kläger habe zur Zeit des Vertragsabschlusses nicht gewusst, was Bronchitis heisst, was eine Bronchitis ist; er habe den Ausdruck Bronchitis nicht gekannt. Diese Feststellung betrifft tatsächliche Verhältnisse (vgl.
BGE 91 II 277
mit Hinweisen) und ist daher gemäss
Art. 63 Abs. 2 OG
für das Bundesgericht verbindlich. Sie ist weder unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekommen, noch beruht sie offensichtlich auf Versehen. Nach den Zeugenaussagen von Dr. B., auf welche die Vorinstanz abstellt, entspricht es in der Gegend, wo der Kläger wohnt, einer allgemeinen Übung, dass die Leute von
BGE 96 II 204 S. 212
"Erkältungen" sprechen, ohne zu wissen, dass es sich dabei um eine Bronchitis handelt (oder handeln kann).
War dem Kläger nicht bloss unbekannt, was im medizinischen Sinne unter einer Bronchitis zu verstehen ist, sondern kannte er diesen - an seinem Wohnort nicht gebräuchlichen - Ausdruck überhaupt nicht und war die betreffende Frage daher für ihn unverständlich, so durfte er sie nicht ohne weiteres verneinen. Vielmehr war ihm grundsätzlich zuzumuten, den Agenten nach dem Sinne des ihm unbekannten Ausdrucks zu fragen (vgl.
BGE 52 II 300
oben). Verneint der Antragsteller eine an sich klare Frage nach einer erheblichen Gefahrstatsache, obwohl er sie überhaupt nicht (auch nicht in unvollkommener Weise, im Sinne einer ihm geläufigen untechnischen Bedeutung der in der Frage verwendeten Fachausdrücke) versteht, so handelt er auf eigene Gefahr, wie wenn er den Fragebogen mit den vom Agenten eingesetzten Antworten ungelesen unterschreibt (Erwägung 3 hievor).
Der Kläger hat sich jedoch nicht damit begnügt, die erwähnte Frage zu verneinen. Vielmehr hat er dem Agenten und dem Generalagenten der Beklagten nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz in Beantwortung der ihm vom Agenten mündlich gestellten allgemeinen Frage nach seinen Krankheiten, die im Sinne der Frage 4 nach "oben" (d.h. in Ziffer 3) nicht angeführten Leiden lag, mündlich mitgeteilt, er habe jeden Winter Erkältungen gehabt und deswegen den Arzt aufsuchen müssen. Damit hat er den Agenten der Beklagten den Sachverhalt, der unter die Frage 3 nach Erkrankungen an Bronchitis fiel, in der an seinem Wohnort gebräuchlichen Ausdrucksweise so mitgeteilt, wie er ihm bekannt war und bekannt sein mussste. Sich vor der Beantwortung der Fragen der Beklagten bei seinem Arzte nach der medizinischen Natur seiner Erkältungen zu erkundigen, war er nach dem in Erwägung 4 hievor Gesagten nicht verpflichtet. Er hätte sich mit der Angabe, er habe jeden Winter an Erkältungen gelitten und deswegen den Arzt aufsuchen müssen, auch dann begnügen dürfen, wenn er sich bei den Agenten nach dem Sinne des in Frage 3 enthaltenen, ihm nicht bekannten Ausdrucks Bronchitis erkundigt hätte und die Agenten ihm daraufhin erklärt hätten, es handle sich dabei um eine Entzündung der Schleimhaut im Bereich der Luftröhrenäste, wie sie infolge Erkältung, Infektion usw. eintreten kann (vgl. die Definition des Begriffs Bronchitis bei DUDEN,
BGE 96 II 204 S. 213
Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke, 1968); denn er wäre angesichts seines bescheidenen Wissens auch nach einer solchen Belehrung nicht in der Lage gewesen, sich über die Natur seiner Erkrankungen genauer auszusprechen, als er es getan hat. Die Agenten wären im übrigen kaum in der Lage gewesen, ihm den medizinischen Begriff der Bronchitis genau zu erklären. Wäre seine Angabe, er habe jeden Winter an Erkältungen gelitten und sich deswegen ärztlich behandeln lassen müssen, als Antwort auf Frage 3 oder 4 in den Fragebogen eingetragen worden, d.h. gemäss
Art. 4 Abs. 1 VVG
schriftlich erfolgt, so wäre ihm also ohne weiteres zuzubilligen, er habe die Anzeigepflicht mit Bezug auf die Erkrankungen an Bronchitis erfüllt. Es wäre dann Sache der Beklagten gewesen, sich bei Dr. B., den er als seinen Hausarzt bezeichnet und von der Schweigepflicht entbunden hatte, zu erkundigen, wenn ihr die Angabe des Klägers zu wenig genau war.
Die jeden Winter auftretenden, ärztliche Behandlung fordernden Erkältungen, die zu erwähnen der Kläger sich durch die allgemeine Frage nach seinen Krankheiten veranlasst fühlte, wurden der Beklagten nun freilich nicht schriftlich zur Kenntnis gebracht, sondern es blieb bei der mündlichen Mitteilung an den Agenten Roman Kuonen und den Generalagenten Angelo Donzé. Roman Kuonen trug im Fragebogen bei Frage 4 wie bei Frage 3 die Antwort "nein" ein und liess die Erkältungen unerwähnt. Für diese Art der schriftlichen Beantwortung der schriftlichen Fragen der Beklagten hat der Kläger nach Erwägung 3 hievor grundsätzlich einzustehen, weil er den Versicherungsantrag unterschrieben hat. Er hat also der Beklagten eine Tatsache, die er selbst zunächst für erwähnenswert hielt, nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen und durch den Formulartext geforderten Form zur Kenntnis gebracht. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob er hiezu durch ein von der Beklagten zu vertretendes Verhalten der Agenten bestimmt worden und die Beklagte aus diesem Grunde nicht berechtigt sei, wegen der Nichterwähnung der Erkältungen im Fragebogen vom Vertrage zurückzutreten, oder ob die Beklagte sich das Wissen ihrer Agenten anrechnen lassen müsse.
6.
Nach
Art. 8 Ziff. 2, 3 und 4 VVG
kann der Versicherer, auch wenn die Anzeigepflicht verletzt ist, vom Vertrage nicht zurücktreten, (2.) wenn er die Verschweigung oder unrichtige Angabe veranlasst hat, oder (3./4.) wenn er die verschwiegene
BGE 96 II 204 S. 214
oder unrichtig angezeigte Tatsache gekannt bezw. richtig gekannt hat oder gekannt haben muss.
Wenn der Agent Roman Kuonen im Beisein des Generalagenten Angelo Donzé, der gemäss seiner Zeugenaussage die Arbeit Kuonens kontrollierte, die Angaben des Klägers über dessen Erkältungen nicht in den Fragebogen eintrug, sondern zu den Fragen 3 und 4 die Antwort "nein" setzte, so geschah das offenbar deswegen, weil Roman Kuonen und Angelo Donzé diese Erkrankungen als geringfügig und deshalb nicht erwähnenswert würdigten und namentlich nicht daran dachten, dass es sich dabei allenfalls um Bronchitis im Sinne von Frage 3 handeln könnte. Indem die Agenten dem Kläger den Versicherungsantrag mit dem in der beschriebenen Weise ausgefüllten Fragebogen zur Unterschrift vorlegten, gaben sie ihm zu verstehen, dass er die ihnen mündlich bekanntgegebenen Erkältungen im Fragebogen nicht anzugeben brauche. Sie haben also die Nichterwähnung dieser Erkrankungen im Fragebogen veranlasst.
Wären Roman Kuonen oder Angelo Donzé (eventuell beide) als sog. Abschlussagenten zum Vertragsabschluss ermächtigt gewesen, so müsste sich die Beklagte das eben erwähnte Verhalten und das Wissen der Agenten ohne weiteres als ihr eigenes anrechnen lassen, es wäre denn, sie hätten ihre Vertretungsmacht in Kollusion mit dem Kläger missbraucht, um die Beklagte irrezuführen und zu schädigen, wofür nichts vorliegt (vgl.
BGE 68 II 332
E. 2,
BGE 51 II 458
,
BGE 46 II 192
; KOENIG S. 181; ROELLI/KELLER S. 155/56 mit Fussnote 1 S. 156, S. 162, 506 f.).
Die Agenten der Lebens- und Unfallversicherer sind jedoch gewöhnlich nicht Abschlussagenten, sondern blossVermittlungsagenten, selbst wenn sie den Titel Generalagent führen (
BGE 73 II 53
E. 3,
BGE 68 II 332
E. 2,
BGE 51 II 457
/58). Dass es sich im vorliegenden Falle anders verhalten habe, m.a.W. dass Roman Kuonen oder der Generalagent Angelo Donzé von der Beklagten ausdrücklich oder stillschweigend zum Vertragsabschluss ermächtigt worden seien, ist im kantonalen Verfahren nicht behauptet worden, und es bestehen dafür auch keine Anhaltspunkte. Der Antrag des Klägers wurde der Geschäftsleitung der Beklagten für die Schweiz in Lausanne unterbreitet, die ihn prüfte und die Police ausstellte.
Die Kenntnis, die ein blosser Vermittlungsagent von dem Versicherer selbst verborgenen Gefahrstatsachen besitzt, muss
BGE 96 II 204 S. 215
sich der Versicherer nicht zurechnen lassen (
BGE 68 II 333
,
BGE 73 II 53
E. 3). Auch befreit die Ausfüllung des Fragebogens durch einen Vermittlungsagenten den Antragsteller, wie schon gesagt (Erw. 3 und 5 hievor), grundsätzlich nicht von der Verantwortung für die im Fragebogen eingetragenen Antworten. Es gehört jedoch zu den Aufgaben des Vermittlungsagenten, den vom Versicherer aufgestellten Fragebogen mit dem Antragsteller durchzubesprechen, ihn über erläuterungsbedürftige Punkte zu belehren und Missverständisse zu beseitigen (
BGE 73 II 54
E. 4 mit Hinweisen). Auch die Mithilfe bei der Abfassung der Antworten fällt in den Kreis der Verrichtungen eines solchen Agenten (vgl. den eben angeführten Entscheid). Diese Belehrungs- und Aufklärungspflicht besteht nicht nur soweit, als es sich um objektiv unverständliche, unklare, schwerverständliche oder an besondere Sachkunde appellierende Fragen handelt, sondern auch soweit, als subjektiv, vom Standpunkt des Antragstellers aus, eine Frage nicht als klar und zweifelsfrei oder die Erheblichkeit einer Gefahrstatsache nicht als unzweifelhaft erscheint (so zutreffend ROELLI S. 127/28 und ROELLI/KELLER S. 158). Für die Erklärungen, die der Vermittlungsagent in Erfüllung dieser Pflicht abgibt, muss der Versicherer nach
Art. 34 VVG
einstehen, auch wenn sie unrichtig sind. Der Antragsteller darf sich dagegen auf die Belehrungen und Ratschläge des Vermittlungsagenten nicht verlassen, wenn sie vom auch für ihn klaren Sinn einer Frage des Versicherers abweichen oder eine von ihm mündlich gemeldete Tatsache, die nicht bloss objektiv, sondern auch von seinem Standpunkt aus unzweifelhaft von einer solchen Frage erfasst wird, als unerheblich bezeichnen. Der Antragsteller kann den Versicherer für eine solche Auskunft des Vermittlungsagenten nicht verantwortlich machen, selbst wenn er die ihm erkennbar unrichtigen Antworten nicht arglistig, sondern in blindem Vertrauen auf die Erklärungen des Agenten unterzeichnet hat (
BGE 68 II 334
, 335; vgl. zu alledem neben ROELLI S. 125 ff., 426, und ROELLI/KELLER S. 156 ff. lit. b auch OSTERTAG/HIESTAND S. 29 f. lit. h, KOENIG S. 65/66 und 181, und R. FARNER, Die rechtliche Verantwortlichkeit des Versicherers für seine Agenten, Diss. Zürich 1946, S. 46 ff.).
Im vorliegenden Falle konnten und mussten sich der Agent Roman Kuonen und der Generalagent Angelo Donzé, als der Kläger mündlich seine jeden Winter auftretenden, ärztliche Behandlung fordernden Erkältungen erwähnte, davon Rechenschaft
BGE 96 II 204 S. 216
geben, dass es sich bei diesen Erkrankungen um Bronchitis oder allenfalls um eine in Ziffer 3 nicht aufgeführte, unter Ziffer 4 fallende andere Krankheit handeln könnte. Um das zu erkennen, waren medizinische Fachkenntnisse nicht nötig. Vielmehr genügte dafür eine ungefähre Vorstellung über die in Frage stehenden Krankheiten, wie sie die Agenten einer Lebensversicherungsgesellschaft, die den Versicherungsinteressenten regelmässig bei der Beantwortung der Fragen des Versicherers beizustehen haben, zum mindesten besitzen müssen. Roman Kuonen und Angelo Donzé waren daher verpflichtet, dem Kläger zu sagen, dass die von ihm erwähnten Erkältungen möglicherweise von den Fragen der Beklagten erfasst würden und daher im Fragebogen auf alle Fälle anzugeben seien. Sie waren hiezu um so eher verpflichtet, als nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (vgl. Erw. 3 hievor) bei der mündlichen Befragung des Klägers die Frage nach Erkrankungen an Bronchitis nicht ausdrücklich gestellt worden war. Sie konnten erkennen, dass der Kläger über die Bedeutung der von ihm angegebenen Erkältungen nicht im klaren war, auch wenn der Kläger sie bei der Unterzeichnung des von Roman Kuonen ausgefüllten Antrags nicht nach dem Sinne des in Frage 3 verwendeten, ihm unbekannten Ausdrucks Bronchitis fragte. Indem sie die erwähnte Erklärung unterliessen und dem Kläger durch die Vorlegung des Antrags mit den von Roman Kuonen eingesetzten "Nein"-Antworten zu verstehen gaben, dass er seine Erkältungen der Beklagten nicht schriftlich zu melden habe, haben sie den Kläger über einen ihm unklaren Punkt unrichtig belehrt, wofür die Beklagte einzustehen hat. Der Kläger konnte die Unrichtigkeit dieser Belehrung auf Grund seines beschränkten eigenen Wissens nicht erkennen, da er festgestelltermassen nicht wusste, was eine Bronchitis ist, und da jährliche Erkrankungen und Arbeitsunterbrüche wegen Erkältung oder Grippe (die der Volksmund als "Grippeferien" bezeichnet) so häufig geworden sind, dass ihm nicht auffallen musste, dass die Agenten Roman Kuonen und Angelo Donzé seine Erkältungen auch unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Frage nach im Fragebogen nicht besonders erwähnten Leiden und Gebrechen als unerheblich behandelten. Er durfte sich also auf die ihm in der beschriebenen Weise erteilte Belehrung verlassen. Ob er die von ihm als blosse Erkältungen aufgefassten Erkrankungen auch ohne solche Belehrung als
BGE 96 II 204 S. 217
bloss vereinzelte und geringfügige Störungen des Wohlbefindens (vgl. hiezu
BGE 92 II 351
mit Hinweisen) im Fragebogen hätte verschweigen dürfen, braucht unter diesen Umständen nicht geprüft zu werden.
Aus diesen Gründen war die Beklagte nach
Art. 8 Ziff. 2 VVG
nicht berechtigt, deswegen vom Vertrage zurückzutreten, weil die Erkältungen des Klägers, die in Wirklichkeit Bronchitiden waren, bei der schriftlichen Beantwortung der Fragen 3 und 4 über seinen Gesundheitszustand nicht erwähnt wurden.
7.
Die Frage 10 nach dem gegenwärtigen Gesundheitszustand hat der Kläger am 4. November 1965 mit "gut" beantwortet. Nach dem Berichte von Dr. B. vom 30. Mai 1967 musste er sich im Jahre 1965 wegen Angina/Bronchitis behandeln lassen. Der genaue Zeitpunkt dieser Erkrankung ergibt sich nicht aus den Akten. War sie längere Zeit vor dem 4. November 1965 (z.B. im Frühjahr 1965) aufgetreten und abgeklungen, dann verbot sie dem Kläger von vornherein nicht, seinen Gesundheitszustand am 4. November 1965 als gut zu bezeichnen. Dieselbe Antwort durfte er aber auch geben, wenn er die erwähnte Krankheit erst kürzere Zeit vor dem 4. November 1965 durchgemacht hatte. Gemäss verbindlicher tatsächlicher Feststellung der Vorinstanz hielt er die Krankheit damals für eine Erkältung, und wegen blosser Erkältungen muss, auch wenn sie sich jährlich wiederholen, der allgemeine Gesundheitszustand jedenfalls von einem medizinischen Laien nicht als schlecht bezeichnet werden. Mit seiner Antwort auf die Frage 10 hat also der Kläger seine Anzeigepflicht nicht verletzt.
8.
Der Kläger hat schliesslich unter Ziffer 11 des Fragebogens verneint, sich in letzter Zeit einer ärztlichen Untersuchung unterzogen zu haben.
Wann der Kläger zum letzten Mal vor Ausfüllung des Fragebogens einen Arzt aufgesucht hat, ist nicht festgestellt und geht aus den Akten nicht hervor. Schon deshalb kann ihm eine falsche Beantwortung von Frage 11 nicht vorgeworfen werden.
Frage 11 verwendet im übrigen anders als Frage 10 nicht den Ausdruck "ärztliche Behandlung", sondern den Ausdruck "ärztliche Untersuchung". Hierunter ist nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch eine Untersuchung zu verstehen, die über die mit der Behandlung einer Erkältung oder einer andern trivialen Krankheit verbundene Ermittlung des vorhandenen Krankheitszustandes hinausgeht. Auf jeden Fall aber war für
BGE 96 II 204 S. 218
den Kläger nicht eindeutig erkennbar, dass er die Behandlung wegen der 1965 durchgemachten Angina/Bronchitis, die er für eine blosse Erkältung hielt, in Beantwortung von Frage 11 anführen müsse. Indem der Agent Roman Kuonen und der Generalagent Angelo Donzé sich nicht darnach erkundigten, wann er sich letztmals wegen einer der von ihm erwähnten Erkältungen behandeln lassen musste, sondern ihm den Fragebogen mit der von Roman Kuonen zu Frage 11 eingetragenen Antwort "nein" zur Unterzeichnung vorlegten, gaben sie ihm zu verstehen, dass diese Behandlung im Fragebogen nicht angeführt zu werden brauche. Auf diese Belehrung durfte er sich bei der gegebenen Sachlage verlassen. Die Beklagte kann also ihren Rücktritt auch nicht mit einer unrichtigen Beantwortung der Frage 11 begründen. | de |
d5f6168d-9ae7-42d1-8d45-1d177b3aee42 | Sachverhalt
ab Seite 418
BGE 118 Ib 417 S. 418
Zwischen dem Ortsteil Kirchhofen und dem Bahnhof Sarnen liegt westlich der Sarneraa das Gebiet Rüti/Cher, welches zur Dorfschaftsgemeinde Sarnen gehört. Es befinden sich dort unter anderem die aneinandergrenzenden und gemäss Zonenplan 1976 (mit Änderungen von 1979 und 1985) in der Wohnzone W3 liegenden Grundstücke Nrn. 294, 297, 1861 und 1862. Es gilt eine Ausnützungsziffer von 0,55. Das fragliche Areal bildet Bestandteil des Ortsteiles Kirchhofen. Diesem Ortsbild kommt nationale Bedeutung zu, weshalb es im Inventar der Schützenswerten Ortsbilder der Schweiz verzeichnet ist (Anhang zur Verordnung über das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz vom 9. September 1981 [VISOS; SR 451.12]).
D. ist Eigentümer der Parzelle Nr. 297, haltend 2896 m2, die mit einem Wohn- und Geschäftshaus ("Haus Rosengarten") überbaut ist.
BGE 118 Ib 417 S. 419
Zugunsten dieses Grundstückes ist zu Lasten der angrenzenden, südlich liegenden und 337 m2 grossen Parzelle Nr. 1861 eine Bauverbotsdienstbarkeit im Grundbuch eingetragen. Das Grundstück Nr. 1861 ist nicht überbaut und gehört der Erbengemeinschaft R., die auch Eigentümerin des Grundstückes Nr. 1862, haltend 845 m2, ist. Auf diesem westlich der Parzelle von D. liegenden Grundstück befinden sich eine Molkerei mit Käsemagazin und Wohnung, eine Garage, ein Käsekeller und der "Speicher im Cher". Zwischen dieser Parzelle und der Liegenschaft von D. liegt ein ungünstig geformter Grundstücksteil in der Grösse von 337 m2, welcher zur Parzelle Nr. 294 gehört, deren hauptsächliche Fläche im Südwesten an das Grundstück von D. angrenzt. Diese total 1197 m2 grosse und mit einem Wohnhaus und Remise überbaute Liegenschaft ist Eigentum des Ehepaares B. Auf dem Grundstück befindet sich das sogenannte "Rote Haus im Cher".
Mit Eingabe vom 7. Dezember 1987 an den Dorfschaftsgemeinderat Sarnen verlangten die Eheleute B. sowie die Erbengemeinschaft R. die Einleitung eines Landumlegungsverfahrens, in welches die vier genannten Grundstücke einbezogen werden sollten. Sie reichten einen von Grundbuchgeometer G. ausgearbeiteten Entwurf zu einer Baulandumlegung vom 21. Juli 1986 ein. Nach diesem Entwurf ist vorgesehen, dass die Eheleute B. ihren Grundstücksteil von 337 m2, welcher zwischen der Liegenschaft Nr. 1862 und der Parzelle Nr. 297 liegt, an die Parzelle Nr. 1862 abtreten. Die den Erben R. gehörende Parzelle Nr. 1861 im Ausmass von ebenfalls 337 m2 soll zur Liegenschaft Nr. 297 von D. geschlagen werden. Von diesem Grundstück wiederum soll eine Fläche von 337 m2 der Parzelle Nr. 294 der Eheleute B. zugemessen werden. Mit Beschluss vom 5. April 1988 verfügte der Dorfschaftsgemeinderat Sarnen die Einleitung der Baulandumlegung aufgrund der eingereichten Akten. Der Beschluss stützt sich auf Art. 7 des eidgenössischen Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes vom 4. Oktober 1974 (WEG; SR 843) sowie auf Art. 19 des kantonalen Baugesetzes vom 4. Juni 1972 (BauG) und Art. 140 des kommunalen Baureglementes vom 19. März 1976 (BR).
D. gelangte gegen den Beschluss des Dorfschaftsgemeinderates mit Beschwerde vom 9. Mai 1988 an den Regierungsrat des Kantons Obwalden und beantragte die Aufhebung der verfügten Baulandumlegung. Am 3. Januar 1989 wies der Regierungsrat die Beschwerde ab. Mit Eingabe vom 26. Januar 1989 verlangte D. vom Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden die Aufhebung des
BGE 118 Ib 417 S. 420
regierungsrätlichen Beschlusses vom 3. Januar 1989 und des Beschlusses des Dorfschaftsgemeinderates vom 5. April 1988. Am 15. September 1989 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ebenfalls ab.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtlicher Beschwerde vom 25. Oktober 1989 beantragt D. die Aufhebung des Entscheides des Verwaltungsgerichtes. Das Bundesgericht ist auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten und hat die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutgeheissen Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob die staatsrechtliche Beschwerde und/oder die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegeben ist (
BGE 117 Ia 303
E. 1;
BGE 117 Ib 156
E. 1).
a) Den kantonalen Rechtsmittelweg hat der Beschwerdeführer beschritten; das angefochtene Urteil ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, was dem Grundsatze nach sowohl Voraussetzung für die Erhebung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde als auch der staatsrechtlichen Beschwerde ist (
Art. 98 lit. g und
Art. 86 Abs. 2 OG
). Der Beschwerdeführer hat beide Beschwerden in einer Beschwerdeschrift erhoben, was zulässig ist (
BGE 115 Ib 461
E. 1d).
b) Gemäss
Art. 97 OG
in Verbindung mit
Art. 5 VwVG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig gegen Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen oder hätte stützen sollen, sofern diese von den in
Art. 98 OG
genannten Vorinstanzen erlassen worden sind und keiner der in
Art. 99-102 OG
oder in der Spezialgesetzgebung vorgesehenen Ausschlussgründe gegeben ist (
BGE 117 Ib 311
E. 1a). Dies gilt auch für Verfügungen, die sowohl auf kantonalem bzw. kommunalem wie auch auf Bundesrecht beruhen, falls und soweit die Verletzung von unmittelbar anwendbarem Bundesrecht in Frage steht (
BGE 116 Ib 162
f. E. 1a mit Hinweisen).
c) Der angefochtene Entscheid stützt sich ausdrücklich auf die
Art. 7 und 8 WEG
. Bereits der Beschluss des Dorfschaftsgemeinderates Sarnen vom 5. April 1988 berief sich auf diese bundesrechtlichen Vorschriften. Auch der Regierungsrat bezeichnete in seinem Rekursentscheid vom 3. Januar 1989 die Art. 7 ff. des WEG als unmittelbar anwendbare ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der umstrittenen Parzellarordnungsmassnahme. Das Verwaltungsgericht gelangte im angefochtenen Entscheid (E. 1b)
BGE 118 Ib 417 S. 421
zum Ergebnis, "dass seit Inkrafttreten des WEG auch im Kanton Obwalden eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Durchführung einer sogenannten Neuordnungsumlegung besteht".
Die
Art. 7 ff. WEG
über die Umlegung von Bauland und die Grenzregulierung regeln verbindlich die Anordnung dieser Massnahmen im Interesse des Wohnungsbaues (
Art. 1 WEG
). Sie gehen als lex specialis dem allgemeinen Grundsatz des Art. 20 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700) über die Landumlegung vor (LEO SCHÜRMANN, Bau- und Planungsrecht, 2. Aufl., Bern 1984, S. 86; EJPD/BRP, Erläuterungen RPG N. 4 zu Art. 20, Anmerkung 487; HEINZ AEMISEGGER, Leitfaden zum RPG, Bern 1980, S. 79 f.). Das Verwaltungsgericht erblickt in den genannten Vorschriften des WEG die erforderliche gesetzliche Grundlage für die Anordnung der umstrittenen Parzellarordnungsmassnahme und betrachtet das bereits bestehende kantonale und kommunale Recht über die Baulandumlegung als Ausführungsrecht zu
Art. 7-11 WEG
; dies bezeichnet das Bundesgericht als zulässig (
BGE 106 Ia 368
f. E. 2b). Das Urteil des Verwaltungsgerichts stützt sich somit im Sinne von
Art. 5 VwVG
auf öffentliches Recht des Bundes. Da sich gemäss
Art. 59 WEG
der Rechtsschutz im Bereich des Bundes nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege richtet, kommt demgemäss die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zum Zuge (
Art. 97 Abs. 1 OG
), sofern sie von einer der in Art. 98 genannten Vorinstanzen ausgeht, was - wie bereits erwähnt - im vorliegenden Falle zutrifft. Ein Unzulässigkeitsgrund im Sinne der
Art. 99-102 OG
liegt nicht vor.
d) Das Verwaltungsgericht ist allerdings der Meinung, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei unzulässig, weil das Bundesgericht in
BGE 112 Ib 235
festgestellt habe,
Art. 6 WEG
stelle keine genügende gesetzliche Grundlage für die Erhebung von Erschliessungsbeiträgen dar. Doch übersieht das Gericht, dass die im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels des WEG über das Erschliessungsrecht enthaltenen Vorschriften über die Umlegung von Bauland und Grenzregulierung nicht dem Art. 6 über Erschliessungsbeiträge gleichgestellt werden können. Für die Erhebung von Beiträgen sind präzise Vorschriften, welche den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Erhebung von öffentlichen Abgaben genügen, unentbehrlich (
BGE 114 Ia 11
E. 2b;
BGE 112 Ia 43
ff. E. 2a;
105 Ia 145
ff. E. 5b und c). Eine Grundsatzbestimmung des Bundesrechts, die von "angemessenen Beiträgen" an die Kosten der Groberschliessung spricht und anordnet, dass die Kosten der Feinerschliessung ganz
BGE 118 Ib 417 S. 422
oder zum überwiegenden Teil den Grundeigentümern zu überbinden seien, bildet klarerweise keine genügende gesetzliche Grundlage für die Bemessung und Erhebung der öffentlichen Abgabe.
Die Vorschriften über die Umlegung von Bauland und die Grenzregulierung regeln demgegenüber präzise und in einer sowohl die zuständigen Behörden als auch die Grundeigentümer bindenden Weise, unter welchen Voraussetzungen diese Parzellarordnungsmassnahmen anzuordnen sind. Dass kantonale Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften nötig sind, gilt allgemein für den Vollzug von Bundesrecht durch die Kantone. Es schliesst dies nicht aus, dass die
Art. 7 und 8 WEG
die gesetzliche Grundlage für die Anordnung einer Baulandumlegung bilden und dass die zuständige kantonale Behörde in diesem Falle eine auf öffentliches Recht des Bundes gestützte Verfügung trifft.
Desgleichen steht die Tatsache, dass im kantonalen Recht Parzellarordnungsverfahren seit langem bekannt und geregelt sind, der Anwendung der
Art. 7 ff. WEG
nicht entgegen. Zudem sei beigefügt, dass
Art. 66 Abs. 2 WEG
, der angeordnet hatte, dass die kantonalen Ausführungserlasse der Genehmigung durch den Bundesrat bedürften, mit dem Bundesgesetz über die Genehmigung kantonaler Erlasse vom 15. Dezember 1989 durch den Bund aufgehoben wurde (AS 1991 I S. 362 ff., S. 368 Ziff. 416).
e) Schliesslich ist daran zu erinnern, dass das Bundesrecht bereits in
Art. 703 ZGB
Bodenverbesserungen anordnete, zu welchen auch Parzellarordnungsmassnahmen zählen. Die entsprechende Regel ist eine öffentlichrechtliche Vorschrift des Bundes, deren Auslegung und Anwendung im Streitfalle Gegenstand der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bildet (
BGE 99 Ib 325
E. 1a).
Nicht anders verhält es sich mit den Vorschriften des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen vom 8. März 1960 (NSG; SR 725.11), die in den Art. 30 ff. den Landerwerb im Landumlegungsverfahren anordnen und die hiefür zu treffenden Massnahmen näher umschreiben (dazu insbesondere
Art. 31 Abs. 2 NSG
sowie
BGE 111 Ib 30
E. 3b mit Hinweisen). Ist die Anwendung dieser bundesrechtlichen Vorschriften umstritten, so kommt hiefür die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zum Zuge (
BGE 105 Ib 107
ff. E. 1). So kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Einleitung eines Landumlegungsverfahrens und die Bildung einer Landumlegungskorporation angefochten werden, wenn geltend gemacht wird, die gesetzlichen Voraussetzungen hiefür seien nicht erfüllt (
BGE 111 Ib 30
E. 3b). Gleiches gilt im Falle der Anordnung einer Umlegung zur
BGE 118 Ib 417 S. 423
Verbesserung ungünstiger Grundstücksgrössen und -grenzen gestützt auf
Art. 7 WEG
. Wie im Falle des Nationalstrassenrechtes ergibt sich die Verpflichtung zur Anordnung der Umlegung aus dem Bundesrecht.
f) Fragen kann sich einzig, ob die staatsrechtliche Beschwerde deshalb zum Zuge kommt, weil auch das Raumplanungsgesetz eine Grundsatzbestimmung über die Landumlegung enthält. Doch besagt diese Vorschrift lediglich, dass die Umlegung von Amtes wegen angeordnet und auch durchgeführt werden kann, wenn Nutzungspläne dies erfordern. Aus diesem allgemeinen Grundsatz sowie der Regelung des Rechtsschutzes in
Art. 34 RPG
ergibt sich nicht, dass die für die Bundesrechtspflege geltende übliche Ordnung nicht zum Zuge kommt, wenn gestützt auf spezielles Bundesverwaltungsrecht Verfügungen im Sinne von
Art. 5 VwVG
getroffen werden. So ist mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend zu machen, ein Nutzungsplan müsse geändert werden, weil eine Bauzone den Anforderungen des Bundesumweltschutzrechtes hinsichtlich der Lärmimmissionen nicht entspreche (
Art. 24 USG
), auch wenn im allgemeinen gegen die Festsetzung und Änderung von Nutzungsplänen nur die staatsrechtliche Beschwerde zum Zuge kommt (
Art. 21 und 34 RPG
;
BGE 117 Ib 311
ff. E. 1 und 3).
Der angefochtene Entscheid nennt als notwendige gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Baulandumlegung neben den einschlägigen kantonalen und kommunalen Vorschriften ausschliesslich
Art. 7 und 8 WEG
. Die Verpflichtung eines Grundeigentümers, mit seiner Liegenschaft an einem Parzellarordnungsverfahren teilzunehmen, ist eine Verfügung im Sinne von
Art. 5 Abs. 1 VwVG
. Demnach ist im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren zu prüfen, ob die Vorschriften des WEG eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Umlegung bilden.
2.
a) Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann der Beschwerdeführer die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts rügen (
Art. 104 lit. a und b OG
). An die Feststellung des Sachverhalts ist das Bundesgericht gebunden, wenn - wie hier - ein kantonales Gericht als Vorinstanz entschieden und den Sachverhalt nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat (
Art. 105 Abs. 2 OG
). Zum Bundesrecht zählt auch das Bundesverfassungsrecht (
BGE 115 Ib 168
E. 1 mit Hinweisen). Soweit der Beschwerdeführer
BGE 118 Ib 417 S. 424
eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügt, übernimmt die Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Rolle der staatsrechtlichen Beschwerde (
BGE 116 Ib 178
E. 1 und 114 Ib 133 E. 2, je mit Hinweisen). Dies gilt auch für die Berufung des Beschwerdeführers auf
Art. 6 EMRK
.
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, nicht nur die Art. 7 f. WEG, sondern auch Art. 19 BauG und Art. 40 BR würden keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Umlegung bilden.
Dieser Berufung auf das kantonale Recht kommt keine selbständige Bedeutung zu. Wie bereits dargelegt, geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass diese Vorschriften nur zusammen mit den Bestimmungen des WEG eine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Umlegung bilden würden. Ob eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Baulandumlegung gegeben ist und ob genügende öffentliche Interessen, welche die entgegenstehenden privaten Interessen überwiegen, die Einleitung des Verfahrens rechtfertigen, ist im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren zu prüfen.
Das Entsprechende gilt für die Rüge, der angefochtene Entscheid missachte die in der Eigentumsgarantie (
Art. 22ter BV
) enthaltene Wertgarantie. Auf diese Rüge ist nur insoweit einzutreten, als zu prüfen ist, ob sich aus dem Einleitungsbeschluss eine Missachtung des im Umlegungsverfahren zu beachtenden Grundsatzes des wertgleichen Realersatzes ergibt (vgl.
BGE 105 Ia 324
; Urteil des Bundesgerichtes vom 16. Dezember 1981, publiziert in: ZBl 84/1983 S. 73 ff.). Sollte jedoch Gewähr dafür bestehen, dass im Umlegungsverfahren diesem Grundsatz nachgekommen werden kann, so bleibt es dem Beschwerdeführer unbenommen, gegen den Umlegungsbeschluss zu gegebener Zeit Beschwerde zu führen, falls er der Meinung sein sollte, seinem Anspruch auf Realersatz werde nicht Rechnung getragen.
Es ergibt sich aus diesen Erwägungen, dass für die staatsrechtliche Beschwerde kein Raum bleibt. Auf sie ist nicht einzutreten.
3.
Der Ausgang der Sache hängt davon ab, ob sich die kantonalen Instanzen zu Recht auf die
Art. 7 und 8 WEG
berufen konnten, um in Verbindung mit dem kantonalen und kommunalen Recht eine Baulandumlegung anzuordnen, in welche auch die Liegenschaft des Beschwerdeführers einbezogen werden soll. Zweck der Umlegung bildet die Verbesserung der bestehenden Parzellenverhältnisse im Hinblick auf eine rationellere bauliche Nutzung der in das Umlegungsverfahren einbezogenen Grundstücke.
BGE 118 Ib 417 S. 425
a) Der Beschwerdeführer macht geltend,
Art. 7 und 8 WEG
könnten nicht angewendet werden, weil vom Bundesrat genehmigte kantonale Ausführungsvorschriften fehlen würden. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Wie bereits erwähnt wurde, sind Baulandumlegungsverfahren im kantonalen Recht seit langem bekannt. Soweit das geltende Recht die Zuständigkeit und das Verfahren für die Durchführung von Umlegungen ordnet, erübrigen sich kantonale Ausführungsvorschriften. Das Bundesrecht ändert an der Geltung bestehenden kantonalen Rechts nichts, soweit dieses ihm nicht widerspricht. Es ist vielmehr, wie das Verwaltungsgericht zutreffend darlegt, bundesrechtskonform anzuwenden, andernfalls würde Bundesrecht nicht vollzogen.
b) Dass die
Art. 7 und 8 WEG
sich auch auf die Verbesserung der Grundstücksverhältnisse in überbauten Quartieren beziehen, stellt der Beschwerdeführer nicht in Abrede.
Art. 7 WEG
spricht von der Erneuerung von Wohnquartieren und sieht vor, dass durch Umgestaltung der Grundstücke nach Form, Grösse und Gruppierung eine rationelle Überbauung ermöglicht werden soll. In Übereinstimmung mit diesem Grundsatz ordnet Art. 8 an, dass die Umlegung von überbauten Grundstücken angeordnet werden kann und muss, wenn dies die Mehrheit der beteiligten Grundeigentümer, der mehr als die Hälfte des betroffenen Gebiets gehört, verlangt. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, so kann sie auch von Amtes wegen auf Beschluss der zuständigen Behörde verfügt werden.
Im vorliegenden Fall stellt das einbezogene Gebiet Wohnbauland dar. Die Form, Grösse und Gruppierung der alten Parzellen lassen erkennen, dass eine ungünstige Grundstücksgestaltung vorliegt. Der Augenschein hat dies bestätigt und ergeben, dass die bestehenden Bauten auf den Liegenschaften Nr. 1862 und Nr. 294 im Verhältnis zum Verlauf der Parzellengrenzen zum Teil baurechtswidrig sind. Die primäre Voraussetzung für die Anordnung einer Umlegung ist damit erfüllt.
Die ungünstigen Verhältnisse betreffen freilich nicht das Grundstück des Beschwerdeführers. Doch ergibt sich hieraus nicht ohne weiteres, dass seine Liegenschaft nicht in das Verfahren einbezogen werden darf. Entscheidend ist nämlich, ob die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Umlegung erfüllt sind und ob nicht allfällige sonstige öffentlichen sowie die privaten Interessen des Beschwerdeführers der Umlegung entgegenstehen und im konkreten Fall überwiegen (vgl. Urteil des Bundesgerichtes vom 1. April 1981, publiziert in: ZBl 84/1983 S. 183 ff.).
BGE 118 Ib 417 S. 426
c) Die Einwendung des Beschwerdeführers, der Beschluss, ein Umlegungsverfahren einzuleiten, sei sinn- und zwecklos, weil in Obwalden keine Vorschriften für das anschliessende Verfahren bestünden, ist nicht stichhaltig.
Es trifft zu, dass das geltende kantonale Recht nur eine äusserst knappe Regelung über die Baulandumlegung in Art. 19 BauG enthält und dass das kommunale Recht sich im wesentlichen damit begnügt, die kantonale Vorschrift in Art. 40 BR zu wiederholen. Doch bezeichnen beide Vorschriften die zuständigen Behörden für die Anordnung einer Baulandumlegung. Auch nennen sie als Voraussetzung nicht nur den Landerwerb für Strassenbauten, sondern allgemein ungünstig gruppierte Baulandparzellen (Art. 19 Abs. 1 lit. a BauG und Art. 40 Abs. 1 lit. a BR). Sie bringen ferner zum Ausdruck, dass die anteilsmässigen Eigentumsrechte zu wahren sind (Art. 19 Abs. 3 BauG und Art. 40 Abs. 3 BR). Damit sprechen sie den Grundsatz des wertgleichen Realersatzes an, der im Umlegungsverfahren respektiert werden muss, was sich schon aus
Art. 4 BV
sowie aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Eigentums gemäss
Art. 22ter BV
ergibt (
BGE 105 Ia 326
ff. E. 2a-e).
Die kantonale Praxis zeigt, dass aufgrund dieser Vorschriften Baulandumlegungen durchgeführt wurden (Verwaltungsgerichtsentscheide vom 8. Juli 1976, publiziert in: Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsentscheide des Kantons Obwalden [VVGE] 1976/77, Nr. 53, und vom 11. Juli 1983, publiziert in: VVGE 1983/84, Nr. 41). Das Verwaltungsgericht stellte dabei auch Verfahrensfragen klar. Die Praxis anerkennt, dass sowohl der Einleitungsbeschluss mit Festlegung des Perimeters als auch der Umlegungsbeschluss, mit welchem das Verfahren abgeschlossen wird, mit Verwaltungsbeschwerde und kantonaler Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden können. Trotz der rudimentären Regelung des kantonalen Rechts besteht somit die Gewähr dafür, dass ein ausreichender Rechtsschutz mit voller richterlicher Kontrolle der Rechtsanwendung gewährleistet ist. Diese Kontrolle schliesst die Überprüfung der Ausübung des Ermessens auf Überschreitung oder Missbrauch hin ein, was den Anforderungen von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
genügt (
BGE 118 Ia 226
E. b, 115 Ia 191).
d) Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht diese Kontrolle in einer verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Weise ausgeübt. Insbesondere konnte das Gericht davon ausgehen, dass der Gemeinderat eine Umlegung anordnen durfte, auch wenn er hiezu nicht verpflichtet war. Es trifft zwar zu, dass der Gemeinderat bei
BGE 118 Ib 417 S. 427
seinem Beschluss davon ausging, das Mehrheitserfordernis gemäss Art. 40 Ziff. 2 BauR sei erfüllt. Der Regierungsrat verneinte diese Annahme in seinem Rekursentscheid, hielt jedoch fest, es sei dem Gemeinderat möglich, auch von Amtes wegen die Umlegung anzuordnen. Wenn das Verwaltungsgericht dieser Annahme zustimmte, so liegt hierin keine Rechtsverletzung (
Art. 20 RPG
,
Art. 8 WEG
).
Aus der im Instruktionsverfahren eingegangenen Stellungnahme des Dorfschaftsgemeinderates ergibt sich, dass dieser ein öffentliches Interesse an der Durchführung der Umlegung bejaht. Er bezeichnet zwar die vom Verwaltungsgericht vertretene Auslegung von Art. 19 Abs. 2 BauG, wonach als betroffenes Land nicht nur der von der Umlegung beanspruchte Boden, sondern die Fläche aller Grundstücke zu berücksichtigen ist, deren Grenzen durch die Umlegung verändert werden sollen, als unrichtig. Doch ändert dies nichts an seiner Befugnis, die Umlegung sowohl nach Art. 7 f. WEG als auch nach
Art. 20 RPG
von Amtes wegen anzuordnen. Der Dorfschaftsgemeinderat erklärt nicht, er hätte die Umlegung nicht eingeleitet, wenn er sich der Rechtslage, wie sie das Verwaltungsgericht darlegte, bewusst gewesen wäre.
4.
Nach dem Gesagten stellen die
Art. 7 und 8 WEG
in Verbindung mit dem kantonalen und kommunalen Recht an sich eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung einer Neuordnungsumlegung dar. Auch hat das Verwaltungsgericht die ihm obliegende Rechtskontrolle in formeller Hinsicht in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt.
Für den Ausgang der Sache ist somit die Frage entscheidend, ob die Einleitung eines Umlegungsverfahrens mit Einbezug der Liegenschaft des Beschwerdeführers materiell in Berücksichtigung aller gesetzlichen Voraussetzungen und der konkreten Verhältnisse zu Recht erfolgt ist und ob dem Umlegungsverfahren nicht öffentliche und private Interessen entgegenstehen, die als überwiegend zu bezeichnen sind.
a) Die Umlegung gemäss den
Art. 7 ff. WEG
steht im Dienste der Förderung des Wohnungsbaues im allgemeinen, wie der Titel des ersten Teiles des Gesetzes besagt. Geht es - wie hier - um eine Neuordnungsumlegung, so kann diese angeordnet werden, wenn die Erneuerung eines Wohnquartiers wegen ungünstiger Grundstücksgrössen und -grenzen erschwert wird. Voraussetzung bilden die Bedürfnisse des Wohnungsbaues sowie der Nachweis, dass die bestehenden Grundstücke nach Form, Grösse und Gruppierung eine
BGE 118 Ib 417 S. 428
rationelle Überbauung verunmöglichen.
Art. 9 WEG
bringt diese Zielsetzung besonders deutlich dadurch zum Ausdruck, dass die Neuordnung mit der Auflage verbunden werden kann, die Grundstücke in einer für den Eigentümer zumutbaren Frist zu überbauen oder für die Überbauung zur Verfügung zu stellen. Es kann hiezu eine Bauverpflichtung angeordnet und im Grundbuch angemerkt werden.
b) Im vorliegenden Falle steht fest, dass von den in das Verfahren einbezogenen Liegenschaftseigentümern keiner klare Vorstellungen für eine neue Wohnüberbauung besitzt. Der Beschwerdeführer widersetzt sich der Umlegung, weil er nicht bereit ist, Teile seiner Liegenschaft in eine neue Wohnüberbauung einbeziehen zu lassen. Gemäss Ziff. 2.5 des dem Amtsbericht des Regierungsrates beiliegenden Dossiers ist die 845 m2 haltende Liegenschaft Nr. 1862 mit den bestehenden Wohn- und Gewerbebauten bereits derart intensiv überbaut, dass das zulässige Ausnutzungsmass von 0,55 um über 536 m2 vorhandener Bruttogeschossfläche überschritten ist. Auch wenn die Fläche von 337 m2 der nichtüberbauten Parzelle Nr. 1861 zur Grundstücksfläche hinzugerechnet wird, was gemäss dem Umlegungsvorschlag des Geometers G. vom 21. Juli 1986 ermöglicht werden soll, so läge immer noch eine beachtliche Überschreitung der Bruttogeschossfläche vor; es ergäbe sich ein zulässiges Nutzungsmass von 650 m2 mit einer Überschreitung um 350 m2 der zulässigen Bruttogeschossfläche.
Bei dieser Ausgangslage ist es zumindest als fraglich zu bezeichnen, ob die Vergrösserung der Parzelle Nr. 1862, die durch die Umlegung erzielt werden könnte, einen ausreichenden Anreiz für den Abbruch der bestehenden Wohn- und Gewerbebauten und deren Ersetzung durch einen neuen Wohnhausbau mit geringerer Bruttogeschossfläche zu bilden vermöchte. Jedenfalls fehlt jeder Anhaltspunkt hiefür.
Somit verbleibt als einzige reale Möglichkeit für die Schaffung zusätzlichen Wohnraumes eine Neuüberbauung der Liegenschaft Nr. 294. Auch wenn deren Eigentümer die Absicht geäussert haben, ihr bestehendes "Rotes Haus im Cher" abzubrechen und durch einen Neubau zu ersetzen, so fehlen Pläne hiefür. Doch steht aufgrund des zulässigen Nutzungsmasses fest, dass nicht mit einem erheblichen Zuwachs von Wohnraum gerechnet werden könnte. Das bestehende Haus weist eine Bruttogeschossfläche von rund 489 m2 auf; zulässig sind 658 m2, so dass ohne Vergrösserung der Parzelle zusätzlicher Wohnraum im Ausmass von 169 m2 Bruttogeschoss geschaffen werden könnte. Diese Fläche würde sich um das Ausmass erhöhen, das
BGE 118 Ib 417 S. 429
sich ergäbe, wenn ein Abschnitt der Liegenschaft des Beschwerdeführers zur Parzelle Nr. 294 geschlagen werden könnte. Indes ist angesichts der Wertdifferenzen nicht damit zu rechnen, dass die Parzelle Nr. 294 um 337 m2 vergrössert werden könnte. Selbst wenn man dies annähme, ergäbe sich lediglich ein zusätzlicher Gewinn um 185 m2 Bruttogeschossfläche; in jedem Fall hielte sich der Gewinn an Wohnraum in bescheidenem Rahmen.
d) Es kann somit nicht gesagt werden, ein im Sinne des WEG ausreichendes Interesse an der Schaffung neuen Wohnraumes sei nachgewiesen, um zur Zeit die Umlegung zu rechtfertigen. Von einem Gewinn für den Wohnungsbau könnte allenfalls gesprochen werden, wenn in das Umlegungsgebiet auch die angrenzende Liegenschaft Nr. 1864 einbezogen würde. Diese ist nur im geringen Nutzungsmass von 0,11 überbaut und verfügt damit über eine Nutzungsreserve von 636 m2. Doch sind deren Eigentümer offenbar nicht mit einem Einbezug ihrer Parzelle in das Umlegungsgebiet einverstanden. Wie sich am Augenschein gezeigt hat, soll lediglich eine geringe Grenzbereinigung zur Verbesserung der Zufahrt zum "Roten Haus im Cher" vorgenommen werden. Im Plan des Geometers G. vom 21. Juli 1986 ist die entsprechende Fläche, die zur Liegenschaft Nr. 294 geschlagen werden soll, mit 38 m2 angegeben.
Eine Neuordnungsumlegung zur Förderung des Wohnungsbaues könnte etwa dadurch gerechtfertigt werden, dass entweder die Eigentümer oder der Dorfschaftsgemeinderat von Amtes wegen einen Quartierplan für die Neuüberbauung des Quartiers ausarbeiten würden, der auch die erforderliche Bereinigung der Parzellenverhältnisse vorsehen könnte. Die alsdann zur Verwirklichung des Planes anzuordnende Umlegung könnte mit der in
Art. 9 WEG
vorgesehenen Bauverpflichtung verbunden werden, sofern das kantonale Recht deren Durchführung sicherstellt (
Art. 11 Abs. 1 WEG
). Doch müsste wohl damit gerechnet werden, dass sich die Eigentümer einem solchen Vorgehen widersetzen würden, wie dies die vorliegende Auseinandersetzung erkennen lässt. Solange keine Gewähr dafür besteht, dass die Liegenschaften, welche in die Neuordnungsumlegung einbezogen werden sollen, innert nützlicher Frist mit Wohnbauten überbaut werden, kann nicht gesagt werden, die Umlegung diene der Förderung des Wohnungsbaues. Diese Voraussetzung müsste erfüllt sein, um die gestützt auf das WEG angeordnete Neuordnungsumlegung zu rechtfertigen.
Im übrigen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Entstehungsgeschichte der hier fraglichen Grundstücke hinzuweisen,
BGE 118 Ib 417 S. 430
wie sie durch die Auskünfte und Akten des Grundbuchamtes gemäss Amtsbericht des Regierungsrates belegt ist. Es ergibt sich aus den Grundbuchbelegen, dass einzelne der hier in Frage stehenden Parzellen oder deren Teile früher zum Grundstück Nr. 294 der Ehegatten B. gehörten. Auch diese Sachlage weist auf eine Zweckentfremdung des Instituts der Neuordnungsumlegung hin.
5.
a) Auch Fragen des Denkmalschutzes lassen die Anordnung der Umlegung als fragwürdig erscheinen. Das Umlegungsgebiet liegt in der Umgebung des Ortsteils Kirchhofen, welcher im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz aufgeführt ist. Gemäss dem geltenden Denkmalverzeichnis des Kantons Obwalden sind folgende Bauten und Bauteile geschützt:
- Wohnhaus "Rosengarten" auf der Liegenschaft Nr. 297
- "Speicher im Cher" auf Grundstück Nr. 1862
- Buffet und Türsturz im "Roten Haus im Cher" auf Parzelle Nr. 294
Allerdings ist beizufügen, dass das Buffet, wie an der Augenscheinsverhandlung bestätigt wurde, nicht mehr vorhanden ist. Dem Amtsbericht des Regierungsrates kann entnommen werden, dass das kantonale Erziehungsdepartement dem Dorfschaftsgemeinderat Sarnen empfiehlt, gestützt auf eine Überprüfung der historischen Bausubstanz das "Rote Haus im Cher" als qualitätsvollen Bau ins Inventar der lokalen Kulturobjekte aufzunehmen. Der Dorfschaftsgemeinderat ist gemäss seiner Antwort vom 7. April 1992 zwar nicht gewillt, eine Unterschutzstellung anzuordnen. Doch sind mit dieser Antwort die Fragen des Denkmalschutzes wohl nicht endgültig geklärt. An der Augenscheinsverhandlung haben auch die Vertreter des Eidgenössischen Departements des Innern einen Schutz befürwortet. Die Schutzwürdigkeit des vorhandenen und auch geschützten Türsturzes hat der Augenschein bestätigt. Es ist kennzeichnend, dass das Haus mit einem Bild des Türsturzes in dem vom Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein herausgegebenen Bürgerhaus-Werk vermerkt ist (Das Bürgerhaus in der Schweiz, XXX. Band, Kanton Unterwalden, 1937, S. LXV sowie Tafel 40). In dem von ROBERT DURRER herausgegebenen Werk, Die Kunstdenkmäler des Kantons Unterwalden, Zürich 1929, ist sowohl die Türe am "Roten Haus im Cher" als auch das Haus selbst vor dem letzten Umbau beschrieben und wiedergegeben (S. 612 f.). Doch kann die Frage des Schutzes des Hauses sowie der Eingliederung des geschützten Türsturzes in eine Neuüberbauung offengelassen werden.
Geschützt ist der "Speicher im Cher" auf der Liegenschaft der Erbengemeinschaft R., dessen hohe Schutzwürdigkeit der Augenschein
BGE 118 Ib 417 S. 431
ebenfalls hat erkennen lassen. Dieser Speicher ist heute dank des Abstandes, den das bestehende Wohnhaus der Beschwerdegegner B. von der Grenze zur Liegenschaft des Beschwerdeführers einhält, sichtbar, woran angesichts des hohen Denkmalwertes zweifellos ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Eine Neuüberbauung müsste diesem Interesse ebenfalls Rechnung tragen.
Schliesslich ist das Haus des Beschwerdeführers (Haus "Rosengarten") ein hochrangiges Baudenkmal. Im angeführten Werk der Kunstdenkmäler des Kantons Unterwalden ist es abgebildet und beschrieben (S. 633). Nicht zuletzt dank der gegebenen Parzellenstruktur ist auch dieses Haus vom angrenzenden Strassenareal aus gut einsehbar, was im öffentlichen Interesse zu begrüssen ist. Die Befürchtungen des Eidgenössischen Departements des Innern, die beantragte Umlegung könnte die Denkmalschutzinteressen gefährden, sind daher nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Der Bestand der Parzelle Nr. 1861, welche mit einem Bauverbot zugunsten der Liegenschaft des Beschwerdeführers belastet ist, sichert diesem Baudenkmal von hohem Rang den erwünschten Freiraum.
b) Auch wenn anerkannt wird, dass die Verbesserung der Parzellenverhältnisse im öffentlichen Interesse liegt, so ist nicht zu verkennen, dass dem Interesse der Förderung des Wohnungsbaues unter den gegebenen konkreten Verhältnissen nur ein beschränktes Gewicht beigemessen werden kann. Der Schutz der vorhandenen Baudenkmäler verdient Beachtung und ist - jedenfalls zur Zeit - als überwiegend zu bezeichnen. Sollen in dem Gebiet neue Wohnbauten erstellt werden, so gebietet das Interesse des Ortsbild- und Denkmalschutzes deren sorgfältige Einordnung, was nur aufgrund einer Quartierplanung möglich sein dürfte. Solange diese nicht vorliegt und der Schutz der Baudenkmäler nicht gesichert wird, ist es verfehlt, eine Baulandumlegung anzuordnen, bevor nicht feststeht, wie die Parzellen in Abstimmung auf eine den Anforderungen des Denkmalschutzes entsprechende Überbauung zu bilden sind.
c) Aus diesem Ergebnis kann nicht gefolgert werden, dass an einer Bereinigung des unbefriedigenden Verlaufs der Parzellengrenzen zwischen den Liegenschaften Nr. 294 und Nr. 1862 kein öffentliches Interesse bestünde. Die den geltenden baugesetzlichen Vorschriften nicht entsprechenden baulichen Verhältnisse beim geschützten "Speicher im Cher" werden durch den bestehenden Grenzverlauf verschlechtert. Der Speicher und der Schopf B. halten auf einzelnen Gebäudeseiten keinen Grenzabstand ein. Doch vermöchte sich eine Grenzkorrektur zur Herstellung baugesetzlich befriedigender
BGE 118 Ib 417 S. 432
Verhältnisse nicht auf das WEG zu stützen. Ob eine Grenzbereinigung gemäss kantonalem Baugesetz und dem Gemeindebaureglement angeordnet werden könnte, hätten die zuständigen Behörden des Kantons und der Gemeinde, allenfalls auf Initiative der Eigentümer, zu beurteilen. | de |
a20e30a0-71bc-4c15-927e-24fa5b8b6789 | Sachverhalt
ab Seite 236
BGE 112 Ib 235 S. 236
X. ist Eigentümer eines Grundstückes in der Gemeinde Y., das sich in der Wohn- und Gewerbezone befindet, aber landwirtschaftlich genutzt wird. Im Jahre 1976 belastete ihn die Gemeinde Y. mit einem Perimeterbeitrag für eine Kanalisation, der jedoch gemäss einem Schreiben vom 31. Dezember 1976 bis zu einer allfälligen Handänderung oder Überbauung des Grundstückes gestundet wurde.
Im Jahre 1985 hob die Gemeinde Y. unter Hinweis auf das neue Baugesetz des Kantons Thurgau vom 28. April 1977 und auf die neue Beitrags- und Gebührenordnung zur Finanzierung der öffentlichen Erschliessungswerke der Gemeinde Y. vom 4. Oktober/29. November 1982 die Stundung auf. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau wies eine von X. gegen den Gemeindebeschluss
BGE 112 Ib 235 S. 237
erhobene Beschwerde ab. Gegen den Entscheid des Regierungsrates des Kantons Thurgau führt X. Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht tritt auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht ein aus den folgenden Erwägungen
Erwägungen:
2.
a) Gemäss
Art. 97 Abs. 1 OG
beurteilt das Bundesgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von
Art. 5 VwVG
, die von einer der in
Art. 98 OG
aufgeführten Vorinstanzen ausgehen und die unter keine der Ausnahmebestimmungen der Art. 99 bis 102 OG fallen. Als Verfügungen gelten Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen (
Art. 5 Abs. 1 VwVG
) oder hätten stützen sollen (
BGE 110 Ia 68
E. 2;
BGE 110 Ib 257
E. 1, je mit weiteren Nachweisen). Verfügungen, die richtigerweise sowohl auf kantonales bzw. kommunales als auch auf Bundesrecht hätten abgestützt werden sollen, können dementsprechend, soweit eine Verletzung von Bundesrecht in Frage steht, mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden (
BGE 108 Ib 74
E. 1a, mit Nachweisen). Dabei kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde jede Verletzung von Bundesrecht gerügt werden, einschliesslich der Rüge der Verletzung von Bundesverfassungsrecht, soweit diese eine Angelegenheit betrifft, die in die Sachzuständigkeit der eidgenössischen Verwaltungsrechtspflegeinstanz fällt (
BGE 108 Ib 74
E. 1a;
BGE 104 Ib 120
/1 E. 1, mit weiteren Nachweisen).
Der Regierungsrat des Kantons Thurgau setzt sich im angefochtenen Entscheid, der einen Perimeterbeitrag für eine Kanalisation zum Gegenstand hat, nur mit kantonalem und kommunalem Recht auseinander. In diesem Bereich bestehen indessen auch öffentlichrechtliche Vorschriften des Bundes, die allenfalls die Zuständigkeit des Bundesgerichts als Verwaltungsgericht begründen könnten.
b) Auf das Gewässerschutzrecht des Bundes könnte sich der angefochtene Entscheid nicht stützen. Da Art. 17 Abs. 4 des Gewässerschutzgesetzes vom 8. Oktober 1971 (SR 814.20; GSchG) die Art und Weise der Finanzierung von Abwasseranlagen nicht regelt, ist gegen die Anwendung kantonalen und kommunalen Rechts in diesem Bereich im allgemeinen die staatsrechtliche Beschwerde gegeben (vgl. dazu ausführlich
BGE 109 Ib 142
ff.).
BGE 112 Ib 235 S. 238
c) Der angefochtene Entscheid wäre aber mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar, wenn er statt auf kantonalem oder kommunalem Recht richtigerweise auf dem Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz des Bundes vom 4. Oktober 1974 (SR 843; WEG) beruhen müsste. Dessen Art. 6 enthält verschiedene Bestimmungen über die Erschliessungsbeiträge. So erheben gemäss
Art. 6 Abs. 1 WEG
die nach kantonalem Recht zuständigen öffentlichrechtlichen Körperschaften von den Grundeigentümern angemessene Beiträge an die Kosten der Groberschliessung; die Beiträge werden kurz nach Fertigstellung der Anlagen fällig. Die Kosten der Feinerschliessung sind ganz oder zum überwiegenden Teil den Grundeigentümern zu überbinden (
Art. 6 Abs. 2 WEG
). Der Bundesrat ist verpflichtet, Rahmenbestimmungen, insbesondere über Höhe und Fälligkeit der Beitragsleistungen, zu erlassen (
Art. 6 Abs. 3 WEG
), hat dies aber bis jetzt unterlassen.
In
BGE 108 Ib 71
ff. hat das Bundesgericht erklärt, die Kostenverteilung beim Bau von Erschliessungsanlagen werde sowohl durch Bundesrecht als auch durch kantonales bzw. kommunales Recht geregelt. Für die für den Wohnungsbau bestimmten Bauzonen (
Art. 5 Abs. 1 WEG
) sei die Regelung der Kostenverteilung im Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz aber unmittelbar anwendbares Bundesrecht, das damit unvereinbares kantonales Recht verdränge. Die Bestimmungen würden den Rahmen festlegen, innert welchem die Kosten der Erschliessungsanlagen auf die Grundeigentümer abzuwälzen seien; dem kantonalen bzw. kommunalen Recht könne in diesem Bereich nur noch die Aufgabe der Feinregulierung der effektiv zu erhebenden Kosten zukommen (
BGE 108 Ib 76
). Dementsprechend behandelte das Bundesgericht eine als staatsrechtliche Beschwerde bezeichnete Eingabe gegen ein Urteil des Obwaldner Verwaltungsgerichts, das die Kostenverteilung einer Kanalisationsanlage in Alpnach zum Gegenstand hatte, als Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Dieses Urteil ist nicht ohne Kritik geblieben (GYGI, Die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichtes im Jahre 1982, ZBJV 120/1984 S. 418; RUCH, Bemerkung zum Urteil vom 29. März 1985, ZBl 87/1986 S. 117). GYGI macht geltend,
Art. 6 WEG
stelle keine genügende gesetzliche Grundlage für die Erhebung von Beiträgen dar. Die Beitragspflicht der Grundeigentümer werde erst durch entsprechendes kantonales oder kommunales Recht begründet, und die zu ihrer Festlegung im Einzelfall dienende Verfügung regle ein kantonales Rechtsverhältnis, ergehe also
BGE 112 Ib 235 S. 239
nicht gestützt auf öffentliches Recht des Bundes. Auch RUCH weist darauf hin, dass die von den Kantonen und Gemeinden vorzunehmenden Regelungen nicht bloss der "Feinregulierung" dienten, sondern eigenständiges kantonales oder kommunales Recht seien.
Das Bundesgericht selbst hat in seinem Urteil vom 29. März 1985 i.S. Einwohnergemeinde Frick gegen Sch. (ZBl 87/1986 S. 114 ff.)
BGE 108 Ib 71
ff. in Zweifel gezogen. Es hat dabei insbesondere erkannt, dass
Art. 6 WEG
ohne Ausführungserlasse entweder des Bundes oder der Kantone bzw. der Gemeinden nicht ohne weiteres anwendbar sei (a.a.O. E. 3, S. 115/6).
d) An der Rechtsprechung von
BGE 108 Ib 71
ff. kann bei erneuter Prüfung nicht festgehalten werden. Es trifft in der Tat zu, dass die Bestimmungen des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes keine genügende gesetzliche Grundlage für die Erhebung von Erschliessungsbeiträgen darstellen.
Art. 6 WEG
setzt nur den Rahmen und die Grundsätze fest, nach denen das kantonale Recht über die Finanzierung der Erschliessungen durch Kausalabgaben auszugestalten ist. Offenbleiben kann zur Zeit, ob der Bundesrat durch eine auf
Art. 6 Abs. 3 WEG
gestützte Verordnung die notwendige gesetzliche Grundlage für die Erhebung der Erschliessungsbeiträge schaffen könnte oder ob ihn diese Bestimmung nur ermächtigt, genauere Richtlinien für eine durch kantonale Gesetze zu ordnende Abgabe aufzustellen. Vorderhand kann die Erhebung von Erschliessungsbeiträgen auf jeden Fall nur auf kantonales Recht gestützt werden (gl. M. CLAVADETSCHER, Erschliessungspflicht und Erschliessungsanspruch in der Bauzone insbesondere nach bündnerischem Recht, Diss. Bern 1982, S. 205; weniger eindeutig STÜDELI, Bericht über Grundeigentümerbeiträge und Gebühren an Erschliessungsanlagen, S. 25, sowie SCHÜRMANN, Bau- und Planungsrecht, 2. Aufl., S. 95/6). Dem entsprechenden kantonalen Recht kommt daher nicht bloss die Aufgabe der Feinregulierung der zu erhebenden Abgaben zu (a. M. SCHÜRMANN, a.a.O., 2. Aufl., S. 91); es hat vielmehr eigenständige Bedeutung. Verfügungen, die die Überbindung von Erschliessungsbeiträgen auf Grundeigentümer zum Gegenstand haben, stützen sich daher ebenso wie Entscheide, die die Verteilung der Erschliessungskosten unter den beteiligten Grundeigentümern regeln (vgl. dazu bereits das nicht publizierte Urteil vom 20. Dezember 1983 i.S. M. gegen Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh., E. 1), auf kantonales Recht und nicht auf öffentliches Recht des Bundes.
BGE 112 Ib 235 S. 240
e) Die Auffassung, es sei Aufgabe des kantonalen Rechts, die Erhebung von Erschliessungsbeiträgen zu regeln, scheint im übrigen auch von den politischen Instanzen geteilt zu werden. Schon in den parlamentarischen Beratungen zum Gewässerschutzgesetz war unbestritten, dass der Bund nicht befugt sei, über das Beitrags- und Gebührenwesen zu legiferieren (vgl. dazu ausführlich
BGE 109 Ib 145
, mit Nachweisen). Sodann sieht Art. 19 Abs. 2 des ca. fünf Jahre nach dem Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz in Kraft getretenen Raumplanungsgesetzes (SR 700; RPG) ausdrücklich vor, dass das kantonale Recht die Beiträge der Grundeigentümer an Erschliessungsprojekte in Bauzonen zu regeln habe. Dies entspricht der angestrebten neuen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen. Folgerichtig wurde in der "Botschaft über erste Massnahmen zur Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen" vom 28. September 1981 die ersatzlose Aufhebung der Vorschriften des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes über die Erschliessung beantragt (BBl 1981 III S. 813). Dass der Nationalrat im Gegensatz zum Ständerat auf die vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes nicht eintrat und die Vorlage demgemäss von der (parlamentarischen) Geschäftsliste gestrichen wurde (vgl.
Art. 21 Abs. 1 GVG
sowie Amtl. Bull. NR 1984 II S. 1257), ändert daran nichts, führten doch vor allem sozialpolitische Überlegungen (Wohnbausubventionierung) zu diesem Beschluss (vgl. dazu ausführlich Amtl. Bull. NR 1984 I S. 116 ff.).
f) Der Entscheid des Thurgauer Regierungsrates vom 15. Oktober 1985 befasst sich nur mit der Frage, ob die Ortsvorsteherschaft Y. die dem Beschwerdeführer im Jahre 1976 gewährte Stundung der Erschliessungsbeiträge zu Recht aufgehoben hat oder nicht. Ist schon die Frage, ob und in welchem Umfang die Parzelle des Beschwerdeführers mit Perimeterbeiträgen zu belasten ist, nach kantonalem Recht zu beurteilen (vgl. oben E. 2b-e), so stützt sich der Entscheid über die Beitragsstundung oder über die Aufhebung der früher bewilligten Stundung erst recht auf kantonales Recht. Der angefochtene Entscheid beruht demnach nicht auf öffentlichem Recht des Bundes. Er kann nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde gemäss
Art. 97 ff. OG
i.V.m.
Art. 5 VwVG
angefochten werden. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nicht eingetreten werden. | de |
a3ef21cf-1653-40b9-b2a2-b5a18ccf2b13 | Sachverhalt
ab Seite 322
BGE 99 Ib 321 S. 322
A.-
Art. 703 ZGB
lautet:>"Können Bodenverbesserungen, wie Gewässerkorrektionen, Entwässerungen, Aufforstungen, Weganlagen, Güterzusammenlegungen und dergleichen nur durch ein gemeinschaftliches Unternehmen ausgeführt werden, und hat die Mehrheit der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört, dem Unternehmen zugestimmt, so sind die übrigen Grundeigentümer zum Beitritt verpflichtet. Die an der Beschlussfassung nicht mitwirkenden Grundeigentümer gelten als zustimmend. Der Beitritt ist im Grundbuch anzumerken.
Die Kantone ordnen das Verfahren. Sie haben insbesondere für Güterzusammenlegungen eine einlässliche Ordnung zu treffen.
Die kantonale Gesetzgebung kann die Durchführung solcher Bodenverbesserungen noch weiter erleichtern und die entsprechenden Vorschriften auf Baugebiet anwendbar erklären."
Im Kanton Obwalden sind die Bodenverbesserungen in den Art. 114 bis 127 des Gesetzes betreffend die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 30. April 1911 (EGZGB)
geregelt. Art. 114 EGZGB lautet:
BGE 99 Ib 321 S. 323
"Zum Zwecke von Bodenverbesserungen, wie Entwässerungen, Aufforstungen, Weganlagen, Zusammenlegungen von Wald und landwirtschaftlichen Gütern können sich die beteiligten Grundeigentümer zu einer Flurgenossenschaft vereinigen.
Wenn die Mehrheit der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört, der Bildung einer solchen Flurgenossenschaft zustimmt, so sind die übrigen Beteiligten zum Beitritt verpflichtet.
Gebäude, Gärten, sowie Grundstücke, in denen Steinbrüche, Kies- oder Lehmgruben betrieben werden, können, soweit solche Betriebe gestört würden, nicht zwangsweise zu einem solchen Unternehmen herbeigezogen werden, es sei denn, dass das Unternehmen sonst nicht ausführbar ist."
Von der Möglichkeit, die Vorschriften über die Bodenverbesserungen auf Baugebiet anzuwenden, hat das kantonale Recht keinen Gebrauch gemacht.
B.-
Am 16. März 1969 wurde in der Turnhalle Schwendi bei Sarnen die Wasserversorgungsgenossenschaft Schwendi-Wilen gegründet, durch welche im Raume Schwendi-Wilen eine zeitgemässe Wasserversorgung geschaffen werden soll. 66 Anwesende hatten mit Ja, 15 Anwesende mit Nein gestimmt, und 83 Abwesende waren als zustimmend im Sinne von
Art. 703 ZGB
betrachtet worden. In die neue Genossenschaft wurden auch die Mitglieder der Brunnengenossenschaft Wilen miteinbezogen. Diese ist Eigentümerin einer Quelle auf der Parzelle 1927 mit dem darauf befindlichen Wasserreservoir und des dazugehörenden Leitungsnetzes.
Durch Bundesratsbeschluss vom 9. Juli 1969 wurde dem Unternehmen grundsätzlich zugestimmt, und es wurden nach den in der eidg. Landwirtschaftsgesetzgebung enthaltenen Grundsätzen Bundesbeiträge zugesichert, nämlich für den Raum Schwendi in der Höhe von 50%, für den Raum Wilen in der Höhe von 42%.
Am 29. April 1970 erfolgte die Auflage der Kostenverteilung und des Projektes der Wasserversorgung Schwendi-Wilen durch die Perimeterkommission. Hiergegen erhoben die Brunnengenossenschaft Wilen und ihre Mitglieder am 19. Mai 1970 Einsprache, mit welcher sie sich der Eingliederung in die neue Wasserversorgungsgenossenschaft widersetzten. Die Brunnengenossenschaft Wilen machte geltend, sie wolle selbständig bleiben, und seitens ihrer Mitglieder wurde vorgebracht, dass sie genügend mit Wasser versorgt seien. Am 28. Juli 1970 genehmigte jedoch der Regierungsrat des Kantons Obwalden
BGE 99 Ib 321 S. 324
die Statuten der Wasserversorgungsgenossenschaft Schwendi-Wilen sowie die Pläne und den Kostenvoranschlag des Unternehmens. In der Folge wies die Perimeterkommission die Einsprachen mit Entscheid vom 29. Dezember 1970 ab.
C.- | de |
1c53f5ee-cfd8-423e-a3af-a6d2bd91986b | Sachverhalt
ab Seite 25
BGE 116 Ib 24 S. 25
Vom steilen Westhang zwischen Stanserhorn und Arvigrat in der Gemeinde Kerns (OW) fliesst das Wasser in den beiden wenige hundert Meter voneinander entfernten Bächen Rübibach und Melbach ab. Diese vereinigen sich jenseits der Kantonsgrenze zwischen Obwalden und Nidwalden im Melbach, der durch Nidwaldner Gebiet (Gemeinde Ennetmoos) bei Stansstad in den Alpnachersee fliesst.
Der Regierungsrat Obwalden stimmte am 19. Oktober 1982 einem gemeinsamen Projekt der Baudirektionen der Kantone Obwalden und Nidwalden über die Sanierung der beiden Bäche und die Kostenaufteilung zwischen den Kantonen sowie der Bestellung einer interkantonalen Perimeterkommission für den Vollzug des Projekts zu. Am 24. Oktober 1983 schlossen die Kantone Obwalden und Nidwalden sowie die Gemeinden Kerns (OW) und Ennetmoos (NW) über die gemeinsame Verbauung der beiden Wildbäche eine Vereinbarung ab. Die Vereinbarung verpflichtet die beiden Gemeinden als Bauherren, die Verbauung sowie den späteren Unterhalt der beiden Bäche gemeinsam auszuführen, verteilt die Gesamtkosten zwischen den beiden Kantonen im Verhältnis der Perimeterkapitalien, die von der gemeinsam bestellten interkantonalen Schatzungskommission berechnet werden, und sieht vor, dass anstelle der Einwohnergemeinde Kerns in ihre Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag eine entsprechende Wuhrgenossenschaft eintritt, wenn diese rechtsförmlich gegründet wird.
Am 2. Juli 1985 genehmigte der Regierungsrat Obwalden den Schlussbericht der interkantonalen Perimeterkommission, ihre
BGE 116 Ib 24 S. 26
Perimeterschatzung und den Kostenverteiler und erteilte dem kantonalen Perimetersekretariat den Auftrag, nach kantonalem Wasserbaupolizeigesetz vom 9. April 1877 möglichst umgehend auf der Grundlage des vorliegenden Perimeters die Gründung einer Wuhrgenossenschaft in die Wege zu leiten.
Die kantonale Perimeterkommission übernahm unverändert das von der interkantonalen Kommission festgesetzte Perimetergebiet und erliess am 8. Januar 1987 Verfügungen über den Einbezug der in dieses Gebiet fallenden Liegenschaften in der Gemeinde Kerns in den Perimeter, für den sie die Pläne und ihre Beschlüsse vom 12. Januar bis 9. Februar 1987 öffentlich auflegte. Eine grössere Anzahl von Eigentümern der in den Perimeter einbezogenen Grundstücke erhob dagegen Einsprache. Die kantonale Perimeterkommission wies die Einsprachen (Wiedererwägungsgesuche) mit Entscheiden vom 16. Juni 1987 ab.
Dagegen erhoben 21 Eigentümer von einem oder mehreren Grundstücken im Perimetergebiet beim Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden Beschwerde.
Das Verwaltungsgericht hiess die Beschwerden nach Einholung einer geologischen und topographischen Expertise zum Perimeter am 21. Dezember 1988 übereinstimmend teilweise gut und hob die Einspracheentscheide der Perimeterkommission vom 16. Juni 1987 insoweit auf, als die im überschwemmungsgefährdeten Perimetergebiet gelegenen Parzellen der Beschwerdeführer sich an den Kosten der Schutzmassnahmen für den Rübibach beteiligen sollten. Soweit sie sich gegen den Einbezug ihrer Grundstücke in den Perimeter der Melbach-Verbauung wendeten, wies das Verwaltungsgericht ihre Beschwerden durchwegs ab. Es erwog im wesentlichen, gestützt auf Art. 12 und 13 des obwaldnerischen Wasserbaupolizeigesetzes vom 9. April 1877 (LB II 259 ff.; im folgenden WBPG/OW) müssten bei der Ermittlung der Kosten, die auf die Grundeigentümer mit Liegenschaften im Überflutungsgebiet entfallen, die beiden Überflutungsgebiete des Melbachs und des Rübibachs auseinandergehalten und die Kosten entsprechend ausgeschieden werden.
Gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts erhoben die Perimeterkommission Melbach und Rübibach Kerns und die Einwohnergemeinde Kerns gemeinsam am 25. August 1989 rechtzeitig 20 gesonderte, aber im wesentlichen gleichlautende Verwaltungsgerichtsbeschwerden. Diesen Beschwerden schloss sich ebenfalls rechtzeitig am 28. August 1989 der Regierungsrat Obwalden an.
BGE 116 Ib 24 S. 27
Die Beschwerdeführer stellen in allen 20 Fällen übereinstimmend die Begehren, die Urteile des Verwaltungsgerichts seien aufzuheben, die Verfügungen der Perimeterkommission vom 16. Juni 1987 als rechtsgültig zu erklären und die gesamten Verfahrenskosten nebst einem verhältnismässigen Teil der Expertisekosten den Beschwerdegegnern zu überbinden, alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.
Das Bundesgericht tritt auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerden nicht ein Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
3.
Zunächst ist zu prüfen, ob die Verwaltungsgerichtsbeschwerden zulässig sind, weil das angefochtene Urteil sich auf das Bundesgesetz über die Wasserbaupolizei vom 22. Juni 1877 (WBPG; SR 721.10) stützt, d.h. ob dieses Gesetz von den Vorschriften des kantonalen Rechts nur ausgeführt wird.
a) Das WBPG stellt auf dem Gebiet der Verbauung und Korrektion von Wildwassern lediglich Grundsätze auf für die den Kantonen vorbehaltenen Massnahmen der Wasserbaupolizei und bedingt dem Bund über diese Massnahmen eine blosse Oberaufsicht aus (
Art. 5 Abs. 1 und 2 WBPG
). Es bildet darüber hinaus die Rechtsgrundlage für Bundesbeiträge an die Verbauungen und Korrektionen (
Art. 5 Abs. 3,
Art. 9 ff. WBPG
). Nur wo an Wasserbaupolizeimassnahmen ein wesentliches Interesse mehrerer Kantone besteht und unter denselben über die Ausführung und Beitragsleistung keine Vereinbarung erzielt werden kann, entscheidet allenfalls der Bund über solche Massnahmen (
Art. 6 WBPG
).
Dies entspricht der verfassungsmässigen Ordnung.
Art. 24 BV
, auf den sich das WBPG stützt, betraut den Bund bloss mit der Oberaufsicht über die Wasserbaupolizei und mit dem Erlass von Bestimmungen zum Schutz von Werken, die mit Bundesunterstützung errichtet wurden (
BGE 75 I 132
; W. BURCKHARDT, Kommentar zu
Art. 24 BV
, 3. Aufl. 1931, S. 169 ff.). Mit dem am 7. Dezember 1975 angenommenen
Art. 24bis Abs. 2 lit. b BV
wurde die Kompetenz des Bundes zur Gesetzgebung über die Wasserbaupolizei kaum oder höchstens "mehr theoretisch" ausgeweitet, beschränkt sich jedoch auch seither auf die in der Einleitung zu Abs. 1 von
Art. 24bis BV
als Zweck erwähnten Grundsätze (Botschaft vom 13. September 1972, BBl 1972 II S. 1148 ff.,
BGE 116 Ib 24 S. 28
S. 1178; vgl. J. F. AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Ergänzungsband 1982, S. 74 N. 700-701).
b) Soweit nicht Verfügungen der Bundesbehörden über Bundesbeiträge an schützende Gewässerverbauungen streitig sind, sondern Verfügungen kantonaler Behörden über die Ausführung und Finanzierung derartiger Wasserbaupolizeimassnahmen, unterliegen diese in der Regel nicht der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Solche Verfügungen stützen sich auf selbständiges kantonales Recht.
c) Nach
Art. 7 Abs. 2 lit. b WBPG
ist es Sache der kantonalen Gesetzgebung, die Grundsätze festzusetzen, nach denen die Bau- und Unterhaltskosten von Gewässerverbauungen von den Interessenten zu tragen sind. Das Bundesgesetz verzichtet damit darauf, auch nur diese Grundsätze selber zu ordnen, und bestimmt auch nicht näher, welches die zur Finanzierung heranzuziehenden Interessenten sind und in welchem Verhältnis sie den durch Subventionen des Bundes und der Kantone nicht gedeckten Teil der Baukosten zu tragen haben. Es überlässt dies vielmehr dem kantonalen Recht. Da die Rechtsgrundlage für die Beiträge Privater an den Bau und Unterhalt von Gewässerverbauungen im kantonalen Recht zu finden ist, ist gegen den letztinstanzlichen kantonalen Entscheid über solche Beiträge und über die Beitragspflicht (Perimeter) die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht zulässig.
4.
Die Beschwerdeführer berufen sich einzig auf
Art. 703 ZGB
, um die Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu begründen (
BGE 99 Ib 325
E. 1a).
a) Bodenverbesserungen unterstehen grundsätzlich kantonalem Recht (
Art. 6 Abs. 1 ZGB
und
Art. 702 ZGB
).
Art. 703 ZGB
enthält bloss Mindestvorschriften über die von einer Genossenschaft der Grundeigentümer ausgeführten landwirtschaftlichen Bodenverbesserungen, d.h. im öffentlichen Interesse liegenden Unternehmungen, die überwiegend Verbesserungen der landwirtschaftlichen Nutzung der einbezogenen Grundstücke bezwecken (
BGE 99 Ib 328
ff. E. 5 und 7; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, Zürcher Kommentar zu
Art. 703 ZGB
N. 1). Nach
Art. 703 Abs. 1 ZGB
(in der Fassung vom 3. Oktober 1951) sind die übrigen Grundeigentümer zum Beitritt verpflichtet, wenn Bodenverbesserungen wie namentlich Gewässerkorrektionen nur durch ein gemeinschaftliches Unternehmen ausgeführt werden können und die Mehrheit der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr
BGE 116 Ib 24 S. 29
als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört, dem Unternehmen zugestimmt hat.
b)
Art. 703 Abs. 1 ZGB
ist eine öffentlichrechtliche Vorschrift des Bundes, die den Zwang zum Beitritt zu einem derartigen Bodenverbesserungsunternehmen regelt. Sie schliesst öffentlichrechtliche Vorschriften des kantonalen Rechts über entsprechende Bodenverbesserungen keineswegs aus; nur dürfen diese die Anforderungen von
Art. 703 Abs. 1 ZGB
an das Zustandekommen des Unternehmens nicht erschweren und dieses nicht verhindern. Kantonale öffentlichrechtliche Vorschriften können solche Unternehmen jedoch erleichtern, z.B. indem sie die erforderliche Mehrheit zustimmender Grundeigentümer geringer ansetzen oder auf das Erfordernis zustimmender Grundeigentümer verzichten und sich mit dem Entscheid einer Behörde begnügen (
Art. 703 Abs. 3 ZGB
; ZBl 81/1980, 487 f. E. 3a-c; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, a.a.O. N. 8-10). Dass eine kantonale Behörde gegebenenfalls die Bildung einer Bodenverbesserungsgenossenschaft anordnet, kann indessen die Anwendung von
Art. 703 Abs. 1 ZGB
(d.h. die vom Bundesrecht den Grundeigentümern eröffnete Möglichkeit, eine Bodenverbesserung des beteiligten Grundeigentums in Form einer Genossenschaft auszuführen und die dafür nötigen Grundstücke in den Perimeter einzubeziehen) nicht beeinträchtigen (nicht publiziertes Urteil vom 9. Januar 1986 i.S. Bezençon/VD E. 1c).
c) Sache des kantonalen Rechts bleibt das Verfahren der Bodenverbesserungen (Art. 703 Abs. 2), aber auch deren Durchführung; die Landwirtschaftsgesetzgebung des Bundes, insbesondere die Bodenverbesserungs-Verordnung (SR 913.1), ordnet lediglich die Voraussetzungen für ihre Unterstützung durch Subventionen des Bundes (
BGE 99 Ib 326
E. 1b; ZBl 81/1980, 487 E. 3a; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, a.a.O. N. 6, 12 f.).
d) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid kann lediglich erhoben werden, soweit er den Beitrittszwang bzw. die Perimeterabgrenzung aufgrund von
Art. 703 Abs. 1 ZGB
(d.h. aufgrund des Beschlusses der Mehrheit der Grundeigentümer) zum Gegenstand hat (
BGE 99 Ib 325
E. 1a; ZBl 81/1980, 488 E. 3d; vgl. auch
BGE 105 Ib 108
E. 1c). So kann der Eigentümer Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen, der sich gegen einen solchen Zwang zum Beitritt wendet, weil die Voraussetzungen des
Art. 703 Abs. 1 ZGB
nicht erfüllt seien (
BGE 99 Ib 321
ff.; ZBl 81/1980, 488 E. 3d). Ebenso könnten
BGE 116 Ib 24 S. 30
verbesserungswillige Eigentümer Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben, die geltend machen, dass die Perimeterabgrenzung
Art. 703 Abs. 1 ZGB
verletze, indem für die Bodenverbesserung notwendige Grundstücke anderer Grundeigentümer nicht in den Perimeter einbezogen wurden. Denkbar ist ferner, dass eine Verletzung von
Art. 703 Abs. 1 ZGB
durch den Entscheid des kantonalen Gerichts, der den Perimeter einer landwirtschaftlichen Bodenverbesserung oder den Gründungsbeschluss in Frage stellt, von der Bodenverbesserungsgenossenschaft oder vom interessierten Gemeinwesen mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht wird.
Hingegen steht nicht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, sondern bloss gegebenenfalls die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte zur Verfügung, soweit mit der Durchführung der Bodenverbesserung zusammenhängende Fragen (wie zum Beispiel die technische Ausführung des Verbesserungswerks, die Schätzung der in den Perimeter einbezogenen Grundstücke u.ä.) streitig sind, da die Verfügungen sich insofern auf kantonales Recht stützen (
Art. 703 Abs. 2 ZGB
;
BGE 99 Ib 326
E. 1b; ZBl 81/1980, 488 f. E. 3e).
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist ebenfalls ausgeschlossen, wenn sich der Beitrittszwang bzw. die Perimeterabgrenzung nicht aus
Art. 703 Abs. 1 ZGB
, sondern aus (die Bodenverbesserung erleichterndem) kantonalem Recht ergibt (
Art. 703 Abs. 3 ZGB
; nicht publiziertes Urteil vom 5. Dezember 1980 i.S. Rutishauser/SG E. 2b), namentlich wenn der Beitrittszwang nach kantonalem Recht auch Baugebiet miterfasst (nicht publiziertes Urteil vom 9. Januar 1986 i.S. Bezençon/VD E. 1c und d; implizit auch nicht publiziertes Urteil vom 10. Dezember 1985 i.S. Einwohnergemeinde Engelberg/OW).
e) Nach obwaldnerischem Recht kann eine Wuhrgenossenschaft nicht nur auf Beschluss der Mehrheit der Grundeigentümer gestützt auf
Art. 703 Abs. 1 ZGB
und Art. 114 ff. EGzZGB bzw. auf
Art. 56 und 57 WBPG
/OW entstehen. Die
Art. 49 und 51 ff. WBPG
/OW sehen auch vor, dass eine Korrektion öffentlicher oder unter öffentlicher Aufsicht stehender privater Gewässer vom Staat angeordnet und ausgeführt wird. Ausserdem kann der Regierungsrat gestützt auf
Art. 58 WBPG
auch gegen den Willen der Mehrheit der beteiligten Grundeigentümer ein von einer Wuhrgenossenschaft auszuführendes Unternehmen anordnen, wenn der Nutzen die aufzuwendenden Kosten unzweifelhaft übersteigt. Auch wenn
BGE 116 Ib 24 S. 31
die Gewässerkorrektion staatlich ausgeführt wird, werden die beteiligten Grundeigentümer im Verlauf oder nach Beendigung der Korrektion in der Regel in einer Wuhrgenossenschaft zusammengefasst (IGNAZ BRITSCHGI, Das öffentliche Wasserrecht des Kantons Obwalden, Diss. Freiburg 1952, S. 62 f.).
Der Perimeter wird bei grösseren Korrektionsunternehmen (sowie bei kleineren Unternehmen unter staatlicher Leitung) durch eine staatlich eingesetzte Schätzungskommission in einem selbständigen Perimeterabgrenzungsverfahren verbindlich festgelegt (
Art. 54 Abs. 7 WBPG
/OW). Dies gilt nach den (in einem Teil der angefochtenen Urteile angestellten) Erwägungen des Verwaltungsgerichts auch dann, wenn eine Wuhrgenossenschaft durch Mehrheitsbeschluss der beteiligten Grundeigentümer nach
Art. 57 WBPG
/OW gegründet werden soll.
Nach Art. 3 Abs. 3 des seit dem 1. Januar 1990 in Kraft stehenden Gesetzes vom 8. Juni 1986 über die amtliche Schätzung der Grundstücke und das Grundpfandrecht (LB XIX 318 ff.) setzt die vom Regierungsrat gewählte Schätzungskommission den vorläufigen Perimeterkreis im Verfahren zur Durchführung von Bodenverbesserungen fest. Und nach dem mit diesem Gesetz neu gefassten
Art. 54 WBPG
/OW richtet sich auch das Verfahren zur Gründung einer Wuhrgenossenschaft (
Art. 51-55 WBPG
/OW) künftig sinngemäss nach Art. 114 ff. EGzZGB.
f) Im vorliegenden Fall werden die fraglichen Verbauungen der beiden unter öffentlicher Aufsicht stehenden privaten Gewässer (
Art. 47 WBPG
/OW) nicht auf Beschluss der Mehrheit der Grundeigentümer als Bodenverbesserung gestützt auf
Art. 703 Abs. 1 ZGB
durchgeführt. Die Verbauungen werden vorderhand von der Einwohnergemeinde Kerns verwirklicht, und zwar auf Anordnung des Regierungsrats des Kantons Obwalden gestützt auf
Art. 49 und 51 ff. WBPG
/OW. Es liegt zunächst eine staatlich ausgeführte Bachverbauung vor. Die Abgrenzung des Perimeters für ein solches Unternehmen untersteht ausschliesslich kantonalem Recht (oben lit. a und d a.E.).
Zwar soll nach den Beschlüssen des Regierungsrats und der interkantonalen Vereinbarung später eine Wuhrgenossenschaft der beteiligten Grundeigentümer in Kerns die Verbauungen übernehmen. Diese Wuhrgenossenschaft ist jedoch noch nicht gegründet. Ob sie zustandekommen wird und ob sie sich auf
Art. 703 Abs. 1 ZGB
oder ausschliesslich auf kantonales Recht stützen wird, ist offen. Den vorliegenden Akten sowohl des kantonalen wie
BGE 116 Ib 24 S. 32
des bundesgerichtlichen Verfahrens lässt sich dazu nichts weiteres entnehmen. - Es ist indessen zu bezweifeln, ob sich unter praktischen Gesichtspunkten eine landwirtschaftliche Bodenverbesserungsgenossenschaft nach
Art. 703 Abs. 1 ZGB
eignet, die Verbauung von Wildbächen im Berggebiet auf Beschluss der Grundeigentümer auszuführen; es lässt sich eher bei einer Wuhrgenossenschaft vorstellen, die (einschliesslich Beitrittszwang) auf kantonalem öffentlichem Recht (
Art. 702 ZGB
) beruht. Hier dürfte die geplante Wuhrgenossenschaft um so mehr auf rein kantonalem Recht beruhen, als die Verbauung im Grenzgebiet der beiden Kantone gemeinsam erfolgt, die Wuhrgenossenschaft aber nur den obwaldnerischen Teil der interessierten Grundeigentümer umfassen soll.
Da sich die angefochtenen Entscheide nicht auf Bundesrecht stützen, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht zulässig (
Art. 97 OG
in Verb. mit
Art. 5 VwVG
). | de |
10cac182-9ba7-48be-9922-7f0f26437b58 | Sachverhalt
ab Seite 617
BGE 131 II 616 S. 617
Am 27. Juni 2003 legte das Departement für Verkehr, Bau und Umwelt des Kantons Wallis das Ausführungsprojekt des Teilstücks "Strasse Kleegärten Nord" öffentlich auf. Mit dieser kantonalen Nebenstrasse soll das Wohnquartier "Kleegärten" in Visp vom quartierfremden Verkehr befreit und der Verkehr von und zu den Lonza-Werken aus dem Ortskern von Visp herausgenommen werden. Zudem soll der Verkehr vom und zum Bahnhof Visp an die Autobahn A9 im Westen von Visp angebunden werden. Gegen das Projekt erhob u.a. X. als Eigentümerin der Parzelle Nr. 2980 Einsprache.
In der Gemeinde Visp ist eine Gesamtrevision der Zonenplanung hängig: Der geltende Bauzonenplan vom 28. Juni 1960 (mit Änderungen vom 29. Juni 1983, 17. August 1988 und 30. Januar 2002) enthält nur Bauzonen und das Bahnareal; das restliche Gemeindegebiet gehört zum sogenannten "übrigen Gebiet", ohne genaue Zonenzuweisung. Im neuen Zonenplan sollen erstmals auch Landwirtschafts- und Schutzzonen ausgeschieden werden. Die Gemeinde Visp möchte die neue Strasse "Kleegärten Nord" als Begrenzung für die Wohnzonen im Süden und Westen definieren; nördlich und östlich der neuen Strasse soll eine Gewerbezone zwischen die Strasse und die Industriezone eingeschoben werden. Die Parzelle der Beschwerdeführerin liegt sowohl nach der alten als auch nach der geplanten neuen Zonenordnung in der Wohnzone.
BGE 131 II 616 S. 618
Am 5. Mai 2004 genehmigte der Staatsrat die Pläne für das Strassenteilstück "Kleegärtenstrasse Nord". Die Einsprache von X. hiess er in dem Sinne teilweise gut, dass die Lärmschutzwand auch im Bereich der Parzelle Nr. 2980 gemäss den Angaben im Bericht des Ingenieurbüros BSAP vom 9. März 2004 zu erstellen sei.
Gegen den Entscheid des Staatsrats erhob X. Beschwerde an die öffentlichrechtliche Abteilung des Kantonsgerichts Wallis. Diese hiess die Beschwerde am 15. Oktober 2004 insoweit teilweise gut, als die Lärmschutzwand nördlich der Parzelle Nr. 2980 bis zur Garage auf dem Grundstück Nr. 1574 verlängert werden müsse; im Übrigen wies sie die Beschwerde ab.
Dagegen erhebt X. Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragt, das streitige Projekt sei in der Form anzupassen, dass der Strassenabschnitt ab dem "Kreisel Lonza" (km 1029.00) bis zum "Kreisel Süd" (km 1308.13) der geplanten Strasse weiter östlich über die bestehende "Rottenstrasse" geführt werde; diese sei entsprechend auszubauen und zu modifizieren. Eventualiter sei die im Bereich des Grundstücks Nr. 2980 zu errichtende Lärmschutzwand auf einer angemessenen Länge auf eine Höhe von 4 m aufzustocken und so nahe wie technisch möglich am Fahrbahnrand der Neubaustrecke zu positionieren.
Das Bundesgericht wies die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die geplante Strasse ist eine neue ortsfeste Anlage i.S.v.
Art. 7 Abs. 7 USG
(SR 814.01), deren Lärmimmissionen die massgeblichen Planungswerte grundsätzlich nicht überschreiten dürfen (
Art. 25 Abs. 1 USG
, Art. 7 Abs. 1 lit. b der Lärmschutz-Verordnung vom 15. Dezember 1986 [LSV; SR 814.41]).
3.1
Die Parzelle der Beschwerdeführerin wurde für das Strassenplanverfahren der Empfindlichkeitsstufe II zugeordnet; dies entspricht der provisorischen Zuordnung des Gebiets im hängigen Zonenplanrevisionsverfahren der Gemeinde Visp. Massgeblich ist somit für den Strassenverkehrslärm tagsüber ein Planungswert von 55 dB(A) (Anhang 3 LSV Ziff. 2). Nach der insoweit unbestrittenen Lärmbeurteilung vom 9. März 2004 (Tabelle 7 S. 11), werden die Lärmimmissionen der Strasse (unter Berücksichtigung des geplanten lärmarmen Strassenbelags und einer 2 m hohen Lärmschutzmauer im Abstand von 5 m zur Strassenachse) an den
BGE 131 II 616 S. 619
Fenstern des bestehenden Einfamilienhauses der Beschwerdeführerin tagsüber 47.7 dB(A) betragen. Damit wird der Planungswert für den Tag eingehalten. Die Einhaltung des Planungswerts für die Nacht ist aufgrund des Strassentyps und der Art der Verkehrsbelastung unproblematisch.
3.2
Die Beschwerdeführerin rügt, die Lärmbeurteilung sei nur für einen Empfangspunkt von 1.5 m über dem Boden durchgeführt worden. Diese Berechnungsweise berücksichtige nicht, dass die Parzelle gemäss Baureglement bis zu einer maximalen Höhe von 14.5 m überbaut werden könnte. Hinsichtlich dieser nicht ausgeschöpften Nutzungsreserven müsse die Parzelle einem unüberbauten Grundstück in der Bauzone gleichgestellt werden, d.h. die Lärmimmissionen müssten überall dort ermittelt werden, wo nach dem Bau- und Planungsrecht Gebäude mit lärmempfindlichen Räumen erstellt werden dürfen (Art. 41 Abs. 2 lit. a i.V.m.
Art. 39 Abs. 3 LSV
). Somit hätten Berechnungen auch für höher gelegene Empfangspunkte erstellt werden müssen. Dies hätte voraussichtlich zu einer massiven Überschreitung des Planungswerts geführt.
Das Verwaltungsgericht wie auch das BUWAL vertreten die Auffassung, dass auf überbauten Parzellen, wie derjenigen der Beschwerdeführerin, der Planungswert nur an den offenen Fenstern der bestehenden lärmempfindlichen Räume eingehalten werden müsse; nach Bau- und Planungsrecht mögliche Ausbau- und Umnutzungsmöglichkeiten seien nicht zu berücksichtigen. Sie stützen sich hierfür auf Art. 41 Abs. 1 i.V.m.
Art. 39 Abs. 1 LSV
.
Die von der Beschwerdeführerin sowie dem Verwaltungsgericht und dem BUWAL angerufenen Bestimmungen der LSV lauten:
Art. 41 Geltung der Belastungsgrenzwerte
1 Die Belastungsgrenzwerte gelten bei Gebäuden mit lärmempfindlichen Räumen.
2 Sie gelten ausserdem:
a in noch nicht überbauten Bauzonen dort, wo nach dem Bau- und Planungsrecht Gebäude mit lärmempfindlichen Räumen erstellt werden dürfen;
(...)
Art. 39 Ort der Ermittlung
1 Bei Gebäuden werden die Lärmimmissionen in der Mitte der offenen Fenster lärmempfindlicher Räume ermittelt. Fluglärmimmissionen können auch in der Nähe der Gebäude ermittelt werden.
2 (...)
BGE 131 II 616 S. 620
3 In noch nicht überbauten Bauzonen werden die Lärmimmissionen dort ermittelt, wo nach dem Bau- und Planungsrecht Gebäude mit lärmempfindlichen Räumen erstellt werden dürfen.
3.3
Die Beschwerdeführerin will, dass ihr Grundstück, hinsichtlich der noch nicht realisierten Nutzungsreserven, wie ein unüberbautes Grundstück in einer Bauzone behandelt wird, d.h. die Lärmimmissionen entsprechend
Art. 41 Abs. 2 lit. a und
Art. 39 Abs. 3 LSV
ermittelt werden. Voraussetzung hierfür wäre zunächst, dass das Grundstück in einer "Bauzone" liegt. Dies ist vorab zu prüfen.
Zwar ist die Parzelle nach dem geltenden Zonenplan der Gemeinde Visp der Wohnzone (W4) zugeteilt. Wie oben (Sachverhalt) dargelegt worden ist, stammt dieser Zonenplan jedoch im Wesentlichen aus der Zeit vor Inkrafttreten des RPG und enthält weder Landwirtschafts- noch Schutzzonen. Insofern kann nicht davon ausgegangen werden, dass die geltende Zonenplanung insgesamt nach den Zonenkriterien der
Art. 14 ff. RPG
und aufgrund einer gesamthaften Abwägung und Abstimmung aller räumlich wesentlichen Gesichtspunkte vorgenommen worden ist. Dann aber sind die darin vorgesehenen Bauzonen mit Ablauf der Übergangsfrist von
Art. 35 Abs. 1 lit. b RPG
am 1. Januar 1988 ausser Kraft getreten; als vorläufige Bauzone gilt gemäss
Art. 36 Abs. 3 RPG
nur noch das weitgehend überbaute Gebiet. Immerhin ist anzunehmen, dass die Parzelle der Beschwerdeführerin, die mit einem Einfamilienhaus überbaut ist und von weiteren Einfamilienhäusern umgeben ist, im weitgehend überbauten Gebiet und damit in einer - wenn auch vorläufigen - Bauzone liegt.
Hinzu kommt, dass die Parzelle in der hängigen Zonenplanrevision wiederum der Wohnzone zugewiesen werden soll. Gemäss
Art. 25a Abs. 4 RPG
ist die vorliegende Strassenplanung mit der hängigen Zonenplanrevision zu koordinieren. Insofern erscheint es sachgerecht, für die lärmschutzrechtliche Beurteilung auf die Vorgaben des neuen Zonenplans abzustellen. Aus den Akten ergibt sich allerdings nicht, welche Bauvorschriften für die neue Wohnzone gelten sollen (Geschosszahl, Gebäudehöhe, Grenzabstände, etc.). Die Verfahrensbeteiligten gehen davon aus, dass es bei den bisher geltenden Bestimmungen (Wohnzone W4, mit einer maximalen Gebäudehöhe von 14.5 m, einem grossen Grenzabstand von 12 und einem kleinen Grenzabstand von 5 m) bleiben werde. Dies erscheint plausibel.
BGE 131 II 616 S. 621
3.4
Liegt die Parzelle gegenwärtig und auch nach der geplanten Zonenplanrevision in einer Bauzone, ist zu prüfen, an welchen Orten der Planungswert eingehalten werden muss - nur in den lärmempfindlichen Räumen des bestehenden Einfamilienhauses oder auch an allen Orten, an denen nach dem Bau- und Planungsrecht lärmempfindliche Räume erstellt werden dürfen.
3.4.1
In
BGE 126 II 480
E. 5a S. 488 ist das Bundesgericht - allerdings ohne nähere Begründung - davon ausgegangen, dass für überbaute Parzellen nur die tatsächlich vorhandenen lärmempfindlichen Räume massgeblich sind. Es hielt daher Lärmmessungen im Garten des Beschwerdeführers nicht für erforderlich, auch wenn darin theoretisch eine neue Baute errichtet werden könnte.
Die immissionsschutzrechtliche Behandlung von Nutzungsreserven wurde in
BGE 128 II 340
mit Blick auf den Schutz vor nichtionisierender Strahlung thematisiert. Das Bundesgericht entschied, dass die Anlagegrenzwerte der Verordnung vom 23. Dezember 1999 über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV; SR 814.710) auf überbauten Grundstücken nur an den tatsächlich vorhandenen Orten mit empfindlicher Nutzung einzuhalten seien; allerdings müsse sichergestellt werden, dass die Antennenanlagen jeweils angepasst werden, um die Anlagegrenzwerte auch nach der Realisierung von Nutzungsreserven an den neu entstehenden Orten mit empfindlichen Nutzungen einzuhalten (vgl. auch Urteil 1A.194/ 2001 vom 10. September 2002, publ. in: URP 2002 S. 780).
3.4.2
Ausgangspunkt der lärmschutzrechtlichen Beurteilung ist
Art. 25 USG
. Dieser bestimmt, dass die Planungswerte "in der Umgebung" der neuen Anlage eingehalten werden müssen.
Was unter "Umgebung" zu verstehen ist, hat der Bundesrat in den
Art. 41 und 39 LSV
konkretisiert, welche die (räumliche) Geltung der Belastungsgrenzwerte und den sich daraus ergebenden Ort der Ermittlung von Lärmimmissionen regeln. Diese Bestimmungen unterscheiden zwischen "Gebäuden" (
Art. 41 Abs. 1 und
Art. 39 Abs. 1 LSV
) und "noch nicht überbauten Bauzonen" (
Art. 41 Abs. 2 lit. a und
Art. 39 Abs. 3 LSV
):
Ist ein Grundstück überbaut, d.h. besteht bereits ein Gebäude, so gelten die Belastungsgrenzwerte in den lärmempfindlichen Räumen i.S.v.
Art. 2 Abs. 6 LSV
(
Art. 41 Abs. 1 LSV
); dabei werden die Messwerte grundsätzlich in der Mitte der offenen Fenster der Räume ermittelt (
Art. 39 Abs. 1 LSV
; so auch ROBERT WOLF,
BGE 131 II 616 S. 622
USGKommentar, N. 58 zu
Art. 25 USG
). Abgestellt wird somit auf die tatsächlich bestehenden lärmempfindlichen Räume eines Gebäudes, ohne Rücksicht darauf, ob eine andere Anordnung oder Nutzung der Räume möglich oder eine Erweiterung oder Aufstockung des bestehenden Gebäudes bau- und planungsrechtlich zulässig wäre. Aus- und Umbauprojekte sind nach
Art. 36 Abs. 2 LSV
nur zu berücksichtigen, wenn entsprechende Projekte bereits bewilligt oder öffentlich aufgelegt worden sind.
Ist das Grundstück dagegen noch nicht überbaut, bestehen noch keine lärmempfindlichen Räume. Um diese Grundstücke nicht schutzlos zu lassen und ihre künftige Überbauung nicht zu verunmöglichen, bestimmt Art. 41 Abs. 2 lit. a i.V.m.
Art. 39 Abs. 3 LSV
, dass die Planungswerte an den Orten und auf der Höhe aller Stockwerke eingehalten werden müssen, an welchen nach den Bauvorschriften der betreffenden Zone Gebäude mit lärmempfindlichen Räumen erstellt werden dürfen (WOLF, USG-Kommentar, a.a.O.).
Aufgrund dieser Bestimmungen des Verordnungsrechts sind somit Nutzungsreserven auf bereits überbauten Grundstücken nicht zu berücksichtigen, d.h. sie gehören nicht zur "Umgebung" i.S.v.
Art. 25 USG
.
3.4.3
Die Beschwerdeführerin hält diese Regelung für rechtswidrig: Sie benachteilige die Eigentümer unternutzter Grundstücke massiv im Vergleich zu Eigentümern unüberbauter Grundstücke und verletze somit das Rechtsgleichheitsgebot (
Art. 8 BV
).
In der Tat werden nach der oben geschilderten Regelung die Nutzungsmöglichkeiten unüberbauter Grundstücke umfassend, die Nutzungsreserven bereits überbauter Grundstücke dagegen nicht berücksichtigt. Dies führt zu Unterschieden hinsichtlich der weiteren baulichen Nutzung der Grundstücke und der Lärmbelastung neu ersteller lärmempfindlicher Räume:
Wird ein bisher nicht überbautes Grundstück neu überbaut und werden dabei lärmempfindliche Räume erstellt, können die nach Bau- und Zonenordnung zulässigen baulichen Nutzungsmöglichkeiten mit Blick auf den Lärm ganz ausgeschöpft werden. Der Planungswert kommt (sofern der lärmigen Anlage zuvor keine Erleichterungen gewährt worden sind) voll zum Tragen. Zusätzliche Lärmschutzmassnahmen i.S.v.
Art. 22 Abs. 2 USG
sind nicht erforderlich.
BGE 131 II 616 S. 623
Wird dagegen ein bereits bestehendes Gebäude umgebaut, erweitert oder ersetzt, ist die Einhaltung der Planungswerte in den neu entstehenden lärmempfindlichen Räumen unter Umständen, je nach dem, wie das Bauprojekt ausgestaltet ist, nicht gewährleistet. Gemäss
Art. 22 USG
und 31 LSV dürfen Neubauten und wesentliche Änderungen von Gebäuden mit lärmempfindlichen Räumen nur bewilligt werden, wenn der Immissionsgrenzwert eingehalten wird. Die Kosten für die dafür notwendigen baulichen oder gestalterischen Massnahmen trägt der Grundeigentümer und nicht der Inhaber der lärmigen Anlage (
Art. 31 Abs. 3 LSV
).
In diesem Punkt unterscheidet sich die Rechtslage im Bereich des Lärmschutzes von derjenigen gemäss NISV: Während der Betreiber einer Antennenanlage den massgeblichen Anlagegrenzwert jederzeit, und zwar auch an nachträglich errichteten Orten mit empfindlicher Nutzung, einhalten muss und hierfür notfalls seine Anlage ändern oder gar stilllegen muss (vgl. dazu
BGE 128 II 340
E. 2-5 S. 343 ff.), muss eine bestehende lärmige Anlage (z.B. eine Strasse) den Planungswert nur in den zum Zeitpunkt ihrer Bewilligung bereits vorhandenen (bzw. bewilligten oder öffentlich aufgelegten) lärmempfindlichen Räumen einhalten. Für später errichtete Räume muss sie nicht nachträglich, zur Einhaltung des Planungswertes, mit zusätzlichen Lärmschutzmassnahmen nachgerüstet werden. Ist bereits der Immissionsgrenzwert überschritten, dürfen neue lärmempfindliche Räume nicht mehr bewilligt werden, es sei denn, der Bauwillige sorgt - auf seine Kosten - für die notwendigen zusätzlichen Schallschutzmassnahmen bzw. die zweckmässige Anordnung der Räume (
Art. 22 Abs. 2 USG
;
BGE 120 Ib 76
E. 3d S. 83).
Der Beschwerdeführerin ist einzuräumen, dass diese unterschiedliche Behandlung von Nutzungsreserven bei überbauten und nicht überbauten Grundstücken nicht völlig befriedigt. Die unterschiedliche Behandlung lässt sich aber mit der Überlegung rechtfertigen, dass die planungsrechtlich mögliche Überbauung noch unüberbauter Grundstücke in aller Regel auch realisiert wird, während bei bestehenden Bauten von einem längerfristigen Bestand auszugehen ist (so auch Urteil 1A.194/2001 vom 10. September 2002, a.a.O., E. 2.1.4 zu
Art. 3 Abs. 3 NISV
).
Eine generelle Verpflichtung zur Einhaltung des Planungswertes nicht nur an den tatsächlich vorhandenen, sondern auch an allen
BGE 131 II 616 S. 624
hypothetischen, nach der Bau- und Zonenordnung möglichen lärmempfindlichen Räumen im überbauten Gebiet, würde die Realisierung zahlreicher, im öffentlichen Interesse liegender Bauvorhaben verunmöglichen oder jedenfalls enorm verteuern, und dies zum Schutz von hypothetischen Nutzungen, deren Realisierung ungewiss ist. Eine solche Regelung wäre in vielen Fällen unverhältnismässig und würde dazu führen, dass die Gewährung von Erleichterungen nach
Art. 25 Abs. 2 USG
von der Ausnahme zur Regel würde.
In der Praxis wird das unterschiedliche Regime für überbaute und nicht überbaute Grundstücke dadurch relativiert, dass für letztere häufiger Erleichterungen erteilt werden als für erstere. Dies illustriert der vorliegende Fall: Erleichterungen wurden nur für unüberbaute Grundstücke gewährt; im streitigen Strassenabschnitt für diejenigen unüberbauten Grundstücke, an denen der Planungswert oberhalb von 1.5 m nicht eingehalten werden kann; im Strassenabschnitt nordwestlich des Kreisels Lonza oberhalb von 4 m. Auch für diese, bisher nicht überbauten, Grundstücke können somit höher gelegene Stockwerke nur bewilligt werden, wenn die lärmempfindlichen Räume auf der dem Lärm abgewandten Seite angeordnet werden (vgl. unten, E. 4.2). Die Eigentümer dieser nicht überbauten Parzellen sind deshalb im Ergebnis nicht besser gestellt als die Eigentümer bereits überbauter, aber nicht vollständig ausgenutzter Parzellen.
3.4.4
Nach dem Gesagten erweist sich die von der Verordnung getroffene Auslegung von
Art. 25 USG
als rechtmässig. Von ihr ist daher grundsätzlich auszugehen. Vorbehalten bleibt eine andere Beurteilung in gewissen vom gesetzlichen Regelfall abweichenden Sonderfällen, wie z.B. bei Abbruchobjekten (vgl.
BGE 128 II 340
E. 4.1 und Urteil 1A.194/2001, a.a.O., E. 2.1.6).
3.5
Die kantonalen Instanzen haben deshalb zu Recht entschieden, dass die projektierte Strasse mit der vorgesehenen Lärmschutzmauer von 2 m Höhe den Planungswert auf dem Grundstück der Beschwerdeführerin einhält.
4.
Die Beschwerdeführerin rügt weiter, der Planungswert werde auf dem unüberbauten Grundstück Nr. 480 nicht eingehalten; hier werde in den (fiktiven) oberen Geschossen sogar der Immissionsgrenzwert überschritten. Die hierfür gewährte Erleichterung verstosse gegen
Art. 7 Abs. 2 LSV
.
BGE 131 II 616 S. 625
4.1
Fraglich ist, ob die Beschwerdeführerin zu dieser Rüge legitimiert ist. Immerhin lässt sich argumentieren, dass die Parzelle Nr. 480 nicht allzu weit von derjenigen der Beschwerdeführerin entfernt ist, weshalb eine Erhöhung der Lärmschutzmauer zur Einhaltung der Grenzwerte auf der Parzelle Nr. 480 vermutlich auch ihr zugute kommen würde. Die Frage kann jedoch offen bleiben, wenn sich die Beschwerde in diesem Punkt als unbegründet erweist.
4.2
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist die Gewährung von Erleichterungen über den Immissionsgrenzwert hinaus nicht von vornherein bundesrechtswidrig:
Art. 25 Abs. 3 USG
und
Art. 10 LSV
lassen für die Errichtung von Strassen, Flughäfen, Eisenbahnanlagen und anderen öffentlichen oder konzessionierten ortsfesten Anlagen derartige Erleichterungen zu. Allerdings dürfen Erleichterungen über den Immissionsgrenzwert hinaus nur ausnahmsweise erteilt werden, und es sind strenge Anforderungen an das öffentliche Interesse und die Ausschöpfung aller emissionsbegrenzenden Massnahmen zu stellen (vgl.
BGE 116 Ib 159
E. 6a und 7 S. 164 ff.).
In der Lärmbeurteilung, die dem Staatsratsentscheid zu Grunde liegt, wird ausgeführt, dass durch die projektierte Lärmschutzmauer von 2 m Höhe der Planungswert nur im (fiktiven) Erdgeschoss der unüberbauten Parzelle Nr. 480 eingehalten werden könne; um den Planungswert an allen Empfangspunkten einhalten zu können, wäre eine Lärmschutzmauer von 5.5 m Höhe notwendig. Aus Gründen des Ortsbildschutzes und der Tatsache, dass die Parzelle noch nicht überbaut sei, sei davon abzusehen und es sei mittels entsprechender Bauzonenvorschriften dafür zu sorgen, dass die lärmempfindlichen Räume der oberen Etagen im Süden und Westen des Gebäudes angeordnet werden und zur Strasse hin (Osten) lärmunempfindliche Nutzungseinheiten (Küche, Treppenhaus, Liftschacht, Badezimmer, Toiletten, etc.) angeordnet werden.
Die Gewährung von Erleichterungen nach
Art. 25 Abs. 3 USG
bedeutet somit im vorliegenden Fall nicht, dass Menschen schädlichem oder lästigem Strassenverkehrslärm ausgesetzt werden, sondern schränkt lediglich die Überbauungsmöglichkeiten des Grundstücks ein. Dies erscheint im vorliegenden Fall zumutbar: Der Planungswert wird zumindest im Erdgeschoss eingehalten, so dass die Parzelle ohne Weiteres mit einem Einfamilienhaus überbaut werden
BGE 131 II 616 S. 626
kann. Auch eine höhergeschossige Überbauung bleibt möglich, wenn auch mit gewissen Einschränkungen hinsichtlich der Anordnung der Räume. Diese Einschränkungen können in der laufenden Zonenplanrevision präzisiert werden.
5.
Zu prüfen bleibt, ob es vorsorgliche emissionsbegrenzende Massnahmen gibt, die technisch und betrieblich möglich sowie wirtschaftlich tragbar sind (
Art. 7 Abs. 1 lit. a LSV
;
Art. 11 Abs. 2 USG
).
5.1
Das Verwaltungsgericht hat unter dem Aspekt der vorsorglichen Lärmbegrenzung eine Verlängerung der vorgesehenen Lärmschutzwand um ca. 20 m von der Parzelle der Beschwerdeführerin bis zu den Garagen auf der Parzelle Nr. 1574 angeordnet, da dies relativ geringe zusätzliche Kosten von ca. Fr. 25'000.- verursache und nicht nur die Parzelle der Beschwerdeführerin, sondern auch den nicht überbauten Teil des Grundstücks Nr. 1574 mit einer Breite von fast 30 m vom Verkehrslärm abschirme. Weitere Massnahmen, insbesondere eine Erhöhung der Lärmschutzwand auf 4 m Höhe, hielt das Verwaltungsgericht dagegen für unverhältnismässig.
Diese Erwägungen sind nicht zu beanstanden. Eine Erhöhung der Lärmschutzmauer auf 4 m würde nicht unerhebliche Mehrkosten verursachen, zumal die Erhöhung vermutlich nicht nur auf dem die Parzelle der Beschwerdeführerin betreffenden Stück, sondern auf der ganzen Länge der Mauer (120 m) oder zumindest einem wesentlichen Teil davon erfolgen müsste. Diesen Mehrkosten steht eine Verbesserung des Lärmschutzes nur für den Luftraum über dem bestehenden Einfamilienhaus der Beschwerdeführerin gegenüber. Ob je eine Aufstockung des bestehenden Gebäudes auf die nach dem heutigen Baureglement zulässigen 14.5 m erfolgt, ist ungewiss, zumal die Parzelle eine Fläche von nur ca. 500 m
2
aufweist.
5.2
Das BUWAL regt in seiner Vernehmlassung an, dass die Lärmschutzwand näher an die Strasse hin gebaut werden könnte als dies in der Lärmbeurteilung vom 9. März 2004 vorgesehen sei. Dies erscheine anhand des Querprofils nicht von vornherein ausgeschlossen.
Wie jedoch bereits das Verwaltungsgericht festgehalten hat und der Staatsrat in seiner Stellungnahme vom 6. April 2005 bestätigt, wird die Lärmschutzwand tatsächlich in einem kleineren Abstand zur Strassenachse als den der Lärmberechnung zugrunde
BGE 131 II 616 S. 627
liegenden 5 m erstellt: Verbindlich sind die vom Staatsrat am 5. Mai 2004 genehmigten Pläne. Danach wird die Lärmschutzmauer direkt am Strassenrand erstellt werden; in dem die Beschwerdeführerin betreffenden Abschnitt (km 1200) beträgt die Entfernung der Lärmschutzmauer zur Strassenachse nur 3.25 m. Insofern ist damit zu rechnen, dass die Lärmbelastung auf der Parzelle der Beschwerdeführerin und der Parzelle Nr. 480 tatsächlich unter den in der Lärmbeurteilung berechneten Werten liegen wird. | de |
51ae6914-5d36-4ce2-b264-d445815d19af | Sachverhalt
ab Seite 453
BGE 144 III 452 S. 453
A.
Der mittlerweile verstorbene E. erwarb im März 2006 die F. AG mit Sitz in U. und war fortan deren Alleinaktionär. Er schloss am 23. März 2006 mit der D. AG (Beklagte 3, Beschwerdegegnerin 3) einen Mandatsvertrag ab betreffend die F. AG. Gemäss dessen Ziffer 1 stellte die D. AG den Verwaltungsrat zur Verfügung in der Person von B. (Beklagter 1, Beschwerdegegner 1), damals Verwaltungsratsdelegierter der D. AG. Die D. AG verpflichtete sich dabei, das übernommene Verwaltungsratsmandat treuhänderisch für E. auszuüben und ausschliesslich nach dessen Instruktionen oder solchen von durch diesen bezeichneten Drittpersonen zu handeln.
Am 30. März 2006 wurde B. als neuer (einziger) Verwaltungsrat und die C. m.b.H. (Beklagte 2, Beschwerdegegnerin 2) als neue Revisionsstelle der F. AG in das Handelsregister eingetragen.
Am 16. November 2009 wurde der Konkurs über die F. AG eröffnet.
Die A.X. Limited (Klägerin, Beschwerdeführerin) ist eine im Gesellschaftsregister der Republik Zypern eingetragene Gesellschaft mit Sitz in V. Die A. Bank (Schweiz) AG in Liquidation mit Sitz in W. trat ihr am 5. Februar 2016 ihre im Konkurs der F. AG kollozierte Forderung ab.
B.
Am 12. Juli 2012 klagte die A. Bank (Schweiz) AG vor dem Handelsgericht des Kantons Aargau aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gegen B., die C. m.b.H. sowie die D. AG.
Mit Zwischenentscheid vom 5. Mai 2014 erklärte das Handelsgericht die aargauischen Gerichte für örtlich zuständig. Mit Urteil vom 21. Juni 2017 trat es auf die Klage nicht ein.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der A.X. Limited gut.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Vorinstanz erwog, die Beschwerdeführerin habe mit ihrer Klage sechs Schadensposten/Teilansprüche geltend gemacht, welche durch verschiedene Pflichtverletzungen der Beklagten als
BGE 144 III 452 S. 454
Verwaltungsrat (Beschwerdegegner 1), Revisionsstelle (Beschwerdegegnerin 2) und faktisches Organ (Beschwerdegegnerin 3) schuldhaft verursacht worden seien. Total kumulierten sich die mit der Klage geltend gemachten Schadensposten auf (gerundet) Fr. 6'000'000.-. Davon habe die Beschwerdeführerin unter Vorbehalt des Nachklagerechts nur Fr. 3'000'000.- eingeklagt. Es handle sich um eine Teilklage, die auf verschiedenen Lebenssachverhalten beruhe, somit eine Teilklage in Kombination mit einer objektiven Klagenhäufung. Da nicht angegeben werde, in welcher Reihenfolge beziehungsweise in welchem Umfang das Gericht die Ansprüche prüfen müsse, liege gemäss der in
BGE 142 III 683
publizierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine unzulässige alternative Klagenhäufung vor. Somit könne auf die Klage nicht eingetreten werden. An der mangelnden Bestimmtheit des Rechtsbegehrens ändere nichts, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Stellungnahme vom 24. November 2016 auf ihren Nachklagevorbehalt und damit darauf verzichtet habe, mit einer weiteren Klage die Differenz zwischen der Klagesumme und der Gesamtforderung zusätzlich einzuklagen. Auch nach diesem Verzicht bleibe unklar, welche Teilforderungen beziehungsweise welche Anteile an welchen Teilforderungen auf das Klagebegehren entfielen (und somit vom Gericht zu beurteilen seien) und auf welche Teilforderungen bzw. auf welche Anteile an welchen Teilforderungen die Beschwerdeführerin verzichtet habe.
Die Beschwerdeführerin rügt eine in verschiedener Hinsicht fehlerhafte Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung.
2.2
In
BGE 142 III 683
war ein Rechtsbegehren auf Bezahlung von Fr. 30'000.- zu beurteilen, wobei es sich aufgrund des ausdrücklichen Nachklagevorbehalts um eine Teilklage handelte. Gestützt wurde dieses Rechtsbegehren auf behauptete Forderungen von insgesamt Fr. 480'000.-, zusammengesetzt aus Bar-Boni in den Jahren 2011 und 2012 à je Fr. 180'000.- sowie demjenigen im Jahr 2013 à Fr. 120'000.-. Die Vorinstanz hatte die Klage gutgeheissen, da jedenfalls für das Jahr 2012 ein Anspruch von mindestens Fr. 30'000.- bestehe. Das Bundesgericht erwog, es liege eine objektive Klagenhäufung vor, da die Ansprüche jeweils unterschiedliche Perioden und damit verschiedene Lebenssachverhalte beträfen. Wenn aber eine Teilklage gemäss
Art. 86 ZPO
mit einer objektiven Klagenhäufung nach
Art. 90 ZPO
kombiniert werde, führe dies zu einer alternativen objektiven Klagenhäufung, sofern nicht in der Klage präzisiert
BGE 144 III 452 S. 455
werde, "in welcher Reihenfolge und/oder in welchem Umfang die einzelnen Ansprüche geltend gemacht werden". In diesem Fall genüge das Rechtsbegehren den Bestimmtheitsanforderungen der ZPO nicht, weshalb darauf nicht einzutreten sei (E. 5).
Auf die in diesem Entscheid begründete Regel stellte das Bundesgericht seither in seiner Rechtsprechung zum Haftpflichtrecht zweimal ab, gelangte jedoch in beiden Fällen zum Ergebnis, es liege keine unzulässige alternative objektive Klagenhäufung vor:
In
BGE 143 III 254
hatte es eine Teilklage zu beurteilen, die Schadenersatz und Genugtuung aus einem Unfall zum Gegenstand hatte. Das Bundesgericht erwog, der Kläger könne einen quantitativen Teil seines gesamten aus einer Körperverletzung sich ergebenden Schadens einklagen, ohne dass er seine Klage auf bestimmte Schadenspositionen beschränken müsste. Wenn er eine echte Teilklage - unter Vorbehalt der Nachklage - erhebe, so verlasse er vielmehr den Streitgegenstand nicht, wenn er mehrere unterschiedliche Schadenspositionen und Genugtuung aus demselben Unfallereignis einklage - zumal die Bezifferung einzelner Positionen unter Umständen vom Verhältnis zu anderen Positionen abhänge und im Rahmen der Dispositionsmaxime allein der eingeklagte Gesamtbetrag verbindlich sei. Das Rechtsbegehren genügte demnach den Bestimmungsanforderungen der ZPO, und die Vorinstanz sei zu Recht auf die Klage eingetreten (E. 3).
Im Urteil 4A_15/2017 vom 8. Juni 2017 war die Vorinstanz auf eine Teilklage nicht eingetreten. Sie hatte sich auf
BGE 142 III 683
gestützt und ausgeführt, das Rechtsbegehren beziehe sich auf einen angeblichen Erwerbsausfall zwischen dem 17. August 2002 und dem 31. März 2015, der insgesamt Fr. 266'278.- betragen solle, ohne dass dabei spezifiziert werde, welche Sachverhalte die eingeklagten Fr. 30'000.- abdecken würden. Das Bundesgericht hiess die gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde der Klägerin gut. Es erwog unter Berufung auf
BGE 143 III 254
: "Liegt der gesamte Schaden, der aus einer Körperverletzung resultiert (also mehrere unterschiedliche Schadenspositionen sowie die Genugtuung), innerhalb desselben Streitgegenstands, wäre es ein unauflösbarer Widerspruch, wenn gleichzeitig eine einzelne dieser Schadenspositionen alleine als sich aus mehreren Streitgegenständen zusammensetzend betrachtet würde." Infolgedessen liege auch vorliegend der ganze Erwerbsausfallschaden, der aus dem Auffahrunfall vom 17. August 2002
BGE 144 III 452 S. 456
resultiere, innerhalb desselben Streitgegenstands. Der Teilklage der Beschwerdeführerin liege demnach ein einziger Streitgegenstand zu Grunde (E. 3.3.5 und 3.3.6).
2.3
2.3.1
In Reaktion auf die dargestellten Entscheide haben verschiedene Autoren auf die Schwierigkeit hingewiesen, zwischen mehreren Streitgegenständen gestützt auf verschiedene Lebenssachverhalte im Sinne von
BGE 142 III 683
einerseits und einem einzigen Streitgegenstand gestützt auf einen einheitlichen Streitgegenstand im Sinne von
BGE 143 III 254
andererseits zu unterscheiden (in diesem Sinne etwa GUYAZ, Newsletter Rcassurances.ch juillet 2017; HEGETSCHWEILER, SZZP 2017 S. 408 f.; KNEZEVIC/KAMBER, Prozessuale Anforderungen an die objektiv gehäufte Teilklage, AJP 2017 S. 1040 f.). Vereinzelt ist sogar argumentiert worden, die beiden publizierten Entscheide widersprächen sich (siehe WAGNER/SCHMID, Die Teilklage [im vereinfachten Verfahren] kommt nicht zur Ruhe, HAVE 2018 S. 176 f. und 179 f.), respektive, die in
BGE 143 III 254
verwendete Argumentation deute auf einen "pragmatischen Lösungsansatz hin, um die mit
BGE 142 III 683
eingeführte Praxis teilweise wieder rückgängig zu machen" (so FREY, Teilklage: Unfall als einheitlicher Lebensvorgang und ein Streitgegenstand, ius.focus 7/2017).
Auch die Beschwerdeführerin weist darauf hin, dass die Abgrenzung mehrerer Lebenssachverhalte zueinander gemäss der aktuellen Rechtslage für die klagende Partei mit erheblicher Unsicherheit verbunden ist.
2.3.2
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung ist zwar dogmatisch folgerichtig, wenn man von einem zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff ausgeht. Die konkrete Unterscheidung nach dem Kriterium, ob die Klage einen oder mehrere Lebenssachverhalte und damit Streitgegenstände enthält, erweist sich jedoch in der Tat als problematisch:
Der Begriff des Streitgegenstandes ist in der Zivilprozessordnung nicht definiert. Seine zentrale Bedeutung liegt in der Beurteilung, ob zwei Klagen miteinander
identisch
sind (siehe im Einzelnen etwa GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 197; OBERHAMMER, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 13 vor
Art. 84-90 ZPO
; SPÜHLER/DOLGE/GEHRI, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2010, S. 121 f.; SUTTER-SOMM, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2017, S. 119-121 Rz. 464-471).
BGE 144 III 452 S. 457
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beurteilt sich die Identität von Streitgegenständen (im Hinblick auf die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft) nach den Klageanträgen und dem behaupteten Lebenssachverhalt, das heisst dem Tatsachenfundament, auf das sich die Klagebegehren stützen (
BGE 142 III 210
E. 2.1;
BGE 139 III 126
E. 3.2.3; je mit Hinweisen). Im Geltungsbereich des Verhandlungsgrundsatzes haben die Parteien dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen (
Art. 55 Abs. 1 ZPO
). In der Literatur wird allerdings zutreffend darauf hingewiesen, dass zum Lebenssachverhalt im Sinne der genannten Rechtsprechung nicht nur gerade die in der Klage vorgebrachten Tatsachen zählten. Letztere steckten vielmehr ein Feld von Tatsachen ab, im Rahmen dessen im Prozess zum einen Vorbringen erstattet werden
könnten
, ohne dass eine Klageänderung vorliege, zum anderen aber auch bei sonstiger Präklusion Vorbringen erstattet werden
müssten
(OBERHAMMER, a.a.O., N. 12 vor
Art. 84-90 ZPO
). In diesem Sinn dient der Begriff des Lebenssachverhalts dazu, mit Blick auf die zur Begründung vorgetragenen Parteibehauptungen die Reichweite und Folgen einer Klage zu bestimmen.
Demgegenüber ist es gewöhnlich nicht Aufgabe des Gerichts, zu beurteilen, ob die tatsächlichen Vorbringen der klagenden Partei bloss einen oder mehrere Streitgegenstände beinhalten. In
BGE 142 III 788
hat das Bundesgericht entschieden, die Streitwerte von gehäuften Ansprüchen seien vorgängig zur Prüfung der sachlichen Zuständigkeit und der Verfahrensart im Sinne von
Art. 90 ZPO
gemäss
Art. 93 Abs. 1 ZPO
zusammenzurechnen. Dafür - so das Bundesgericht unter Verweis auf
BGE 142 III 683
- sprächen auch Gründe der Praktikabilität. Denn die Prüfung der Prozessvoraussetzungen gemäss Art. 59 f. ZPO werde "von der - mitunter heiklen - Frage entlastet, ob die Rechtsbegehren der klagenden Partei einen oder mehrere Ansprüche betreffen und daher überhaupt eine Klagenhäufung vorliegt" (E. 4.2.3).
2.3.3
In
BGE 143 III 254
E. 3.2 hat das Bundesgericht ausgeführt, ob der Kläger bei teilbarem Leistungsbegehren mit dem behaupteten Lebenssachverhalt aus objektiver Sicht mehrere Streitgegenstände zur Beurteilung stelle, beurteile sich "auch mit Rücksicht auf das materielle Recht". Abgesehen von diesem Grundsatz lassen sich der Rechtsprechung allerdings keine allgemeingültigen Kriterien zur Abgrenzung von einheitlichen Lebenssachverhalten entnehmen, wie im Schrifttum denn auch in verschiedener Hinsicht bemängelt wurde:
BGE 144 III 452 S. 458
Einerseits wurde in einer Urteilsanmerkung zu
BGE 142 III 683
als fraglich bezeichnet, "ob der Ablauf eines Kalenderjahres für sich allein genommen einen neuen Lebenssachverhalt" schaffe (MARGHITOLA, Die Eintretensfrage bei der Teilklage, ius.focus 6/2017). Dieser Entscheid ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass das Bundesgericht im Hinblick auf die Frage, ob Boni als Gratifikation im Sinne von
Art. 322d OR
oder als Lohnbestandteil im Sinne von
Art. 322 OR
zu qualifizieren sind, auf die tatsächlichen Bezüge
in einer bestimmten Zeitperiode
abstellt, in der Regel einer Jahresperiode. Diese tatsächlichen Einkünfte werden dann dem Medianlohn in diesem Jahr gegenübergestellt (siehe im Einzelnen
BGE 142 III 456
E. 3,
BGE 142 III 381
E. 2;
BGE 141 III 407
E. 4-6). Insofern werden rein tatsächlich (vgl.
BGE 142 III 456
E. 3.2 S. 460: "approche factuelle") unterschiedliche Perioden innerhalb des gleichen Arbeitsverhältnises unterschieden, die aber zu unterschiedlichen materiellen Ansprüchen führen. Ob ein Lohnanspruch (oder lediglich eine freiwillige Gratifikation) vorliegt, entscheidet sich somit pro Zeitperiode. Ob und inwieweit aus der zeitlichen Abfolge, in der mehrere Forderungen entstanden sind, generell auf das Vorliegen unterschiedlicher Lebenssachverhalte geschlossen werden kann, wurde dadurch nicht abschliessend geklärt und erscheint offen. In Erwägung 3.3.5 des bereits zitierten Urteils 4A_15/2017 vom 8. Juni 2017 hat das Bundesgericht ausgeführt, der Lohn, dessen Ausfall in diesem Fall als Schaden geltend gemacht werde, bestehe aus periodischen Leistungen, "bei welchen es sich womöglich um je eigene Streitgegenstände" handle. Der Schadenersatzanspruch werde dadurch jedoch "nicht ebenfalls zu einer periodischen Leistung".
Andererseits wurde gegenüber
BGE 143 III 254
etwa eingewendet, es sei nicht klar, ob es für die Beurteilung der Einheitlichkeit des Streitgegenstandes auf das Sachverhaltselement "Körperverletzung" oder auf das Sachverhaltselement "Unfallereignis'' ankomme, ob also der aus dem Unfall resultierende Sachschaden einen eigenen vom Körperschaden zu unterscheidenden Anspruch begründe (HEGETSCHWEILER, a.a.O., S. 408).
2.3.4
Im Übrigen bieten auch die Rechtsprechung und Lehre zum deutschen Zivilprozessrecht, auf welche das Bundesgericht in
BGE 142 III 683
E. 5.4 S. 690 Bezug genommen hat, kaum verallgemeinerungsfähige Regeln. Wohl besteht in Deutschland eine gewisse Kasuistik dazu, wann mehrere selbständige prozessuale Ansprüche vorliegen, bei denen die klagende Partei die Reihenfolge angeben muss,
BGE 144 III 452 S. 459
in der sie diese dem Gericht zur Entscheidung stellt, und wann es sich um blosse Rechnungsposten innerhalb eines einheitlichen Ersatzanspruches handelt, bei denen keine solche Angabe erforderlich ist. So wird denn etwa angenommen, bei aus demselben Ereignis (etwa einem Verkehrsunfall) erwachsenen Schadensarten (Heilungskosten, Ersatz für Sachschäden und Schmerzensgeld) handle es sich jeweils um selbständige Streitgegenstände (siehe ROTH, in: Kommentar zur Zivilprozessordnung, Stein/Jonas [Hrsg.], Bd. III, 23. Aufl. 2016, N. 28 f. zu § 253 dZPO mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). In der deutschen Kommentarliteratur wird allerdings auch darauf hingewiesen, dass sich bei der Abgrenzung des Lebenssachverhalts "vielfach Unklarheiten" ergäben (ROTH, a.a.O., N. 11 vor § 253 dZPO).
Das Verbot der alternativen Klagenhäufung ist in Deutschland denn auch nicht unbestritten: Der Bundesgerichtshof hat es in seiner Rechtsprechung bejaht (Urteil des BGH vom 24. März 2011, I ZR 108/09, Rz. 12 mit Hinweis auf weitere Entscheide zur Teilleistungsklage), jedoch erwähnt, dass es von einem Teil der Lehre abgelehnt werde (Rz. 9-11). Er begründet seine Rechtsprechung mit dem Wortlaut von § 253 Abs. 2 Nr. 2 dZPO und mit dem Grundsatz der "Waffengleichheit", weil der Beklagte bei der alternativen Klagenhäufung nicht ohne weiteres wisse, "gegen welchen aus einer Vielzahl von Streitgegenständen er seine Rechtsverteidigung in erster Linie richten [müsse]" (Rz. 12-15). Im Schrifttum wurde darauf hingewiesen, dass das Verbot der alternativen Klageerhebung auch damit zusammenhängt, welcher Streitgegenstandsbegriff (eingliedrig oder zweigliedrig) zugrundegelegt wird (ROTH, a.a.O., N. 55 zu § 253 dZPO und N. 11 f. zu § 260 dZPO).
2.3.5
Der vorliegende Fall zeigt exemplarisch, welche Unsicherheit die dargestellte Rechtsprechung mit sich bringt: Die Beschwerdeführerin hatte an der Hauptverhandlung geltend gemacht, ihre Klage stütze sich auf zwei massgebliche Lebenssachverhalte, nämlich eine erste Kreditgewährung durch die A. Bank (Schweiz) AG einerseits und eine Krediterhöhung andererseits. Die Vorinstanz hielt dem entgegen, dass die geltend gemachten Ansprüche zwar mit der Kreditgewährung
zusammenhingen
, sich jedoch
nicht darauf stützten
, sondern auf die behaupteten Pflichtverletzungen, die im Nachgang zu diesen Kreditgewährungen erfolgt seien. Sie knüpfte ihrerseits an die in der Klage geltend gemachten Schadensposten an. Da
BGE 144 III 452 S. 460
verschiedene Einzelschäden behauptet worden seien, die durch unterschiedliche Pflichtverletzungen der Beschwerdegegner schuldhaft verursacht worden sein sollten, ging sie von selbständigen Lebenssachverhalten und Streitgegenständen aus. Die Beschwerdeführerin meint demgegenüber, die beiden von ihr definierten Lebenssachverhalte würden sich "aufgrund normativer Wertung als einheitliche Geschehen darbieten". Überdies weist sie auf die besondere Situation im Verantwortlichkeitsprozess hin, da
Art. 759 Abs. 2 OR
der klagenden Partei die Geltendmachung eines Gesamtschadens explizit erlaube.
Die Abgrenzung ist somit untrennbar damit verbunden, wie der vorgetragene Sachverhalt rechtlich gewürdigt wird. Dass aber die Meinungen hierzu auseinandergehen können, liegt in der Natur des Zivilprozesses.
2.4
Insgesamt erweist sich die in
BGE 142 III 683
vorgenommene Unterscheidung zwischen Fällen, in denen mehrere Streitgegenstände gehäuft werden, und solchen, in denen verschiedene Schadensposten innerhalb eines einzigen Streitgegenstandes eingeklagt werden, als nicht praktikabel. Mangels eindeutiger Kriterien ist für die klagende Partei nicht zuverlässig vorherzusehen, ob die von ihr zur Begründung vorgetragenen Tatsachen als ein einziger, einheitlicher Lebenssachverhalt gewürdigt oder ob und gegebenenfalls wie sie vom Gericht aufgegliedert werden. Folglich hat sie keine Klarheit darüber, inwieweit sie - unter sonstiger Nichteintretensfolge - angeben muss, in welcher Reihenfolge und in welchem Umfang die einzelnen Teilbeträge geprüft werden müssen. Demgegenüber muss sich die beklagte Partei ohnehin - also auch bei Angabe der Prüfungsreihenfolge - gegen alle vorgetragenen Ansprüche verteidigen.
Unter diesen Umständen kann an dieser Unterscheidung nicht festgehalten werden. Vielmehr ist in Änderung der Rechtsprechung auf das Erfordernis zu verzichten, dass, wenn mehrere Ansprüche in einer Teilklage gehäuft werden, in der Klage zu präzisieren ist, in welcher Reihenfolge und/oder in welchem Umfang die einzelnen Ansprüche geltend gemacht werden. Im Sinne der Praxis vor Inkrafttreten der ZPO ist lediglich zu verlangen, dass die klagende Partei hinreichend substanziiert behauptet, es bestehe eine den eingeklagten Betrag übersteigende Forderung (siehe die in
BGE 142 III 683
E. 4 zitierten Entscheide). Dabei hat sie jeden einzelnen (Teil-) Anspruch gemäss den allgemeinen Substanziierungsanforderungen
BGE 144 III 452 S. 461
schlüssig vorzutragen, so dass das Gericht durch Subsumtion unter die einschlägigen Gesetzesbestimmungen die Begründetheit beurteilen und die beklagte Partei sich dagegen verteidigen kann (
BGE 136 III 322
E. 3.4.2;
BGE 127 III 365
E. 2b mit weiteren Hinweisen). Tut sie dies, ist die Klage gemäss
Art. 86 ZPO
zulässig und steht es grundsätzlich im Ermessen des Gerichts, in welcher Reihenfolge es die verschiedenen Ansprüche prüft (in diesem Sinne bereits HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Aufl. 1990, S. 228 Rz. 404; vgl. zum deutschen Recht
derselbe
, Der Streitgegenstand im Zivilprozess, 1956, S. 255). Im Falle einer Klagegutheissung ist der Urteilsbegründung zu entnehmen, inwieweit das Gericht die alternativen Klagegründe (rechtskräftig) beurteilt hat (siehe
BGE 125 III 8
E. 3b S. 13;
BGE 123 III 16
E. 2a S. 18;
BGE 121 III 474
E. 4a;
BGE 116 II 738
E. 2a). Vorbehalten bleibt im Übrigen der Verfahrensgrundsatz des Handelns nach Treu und Glauben (
Art. 52 ZPO
) und insbesondere das Rechtsmissbrauchsverbot, welches etwa dann in Frage kommt, wenn die klagende Partei aus Gründen der Schikane mehrere nicht miteinander zusammenhängende Ansprüche in einer Teilklage vereinigt und sich auch auf Nachfrage des Gerichts hin nicht dazu äussert, in welcher Reihenfolge diese geprüft werden sollen.
2.5
Auf die Klage ist somit einzutreten. Da das Urteil der Vorinstanz bereits aus dem dargelegten Grund aufzuheben ist, ist auf die weiteren Rügen der Beschwerdeführerin nicht einzugehen. Die gegen die vorinstanzliche Kostenregelung gerichteten Eventualbegehren werden gegenstandslos. | de |
466d6eca-cf3c-4c33-b75b-ada9d4e7e787 | Sachverhalt
ab Seite 135
BGE 131 V 133 S. 135
A.
Die in X. wohnhafte S. wurde am 28. April 2000 im Spital Y. von einer Tochter entbunden. Sie hielt sich dort bis zum 7. Mai in der allgemeinen Abteilung auf. Das Spital, bei dem es sich um eine auf der Spitalliste des Kantons Bern aufgeführte, nicht öffentlich subventionierte Institution mit privater Trägerschaft handelt, stellte S. insgesamt Kosten in Höhe von Fr. 11'153.25 (Fr. 7870.10 für die Mutter und Fr. 3283.15 für die gesunde Tochter) in Rechnung. Die Assura Kranken- und Unfallversicherung, bei welcher S. obligatorisch krankenpflegeversichert war, erklärte sich mit Verfügung vom 7. September 2000 bereit, sich an diesen Kosten in Ermangelung eines Tarifs (vertragsloser Zustand) im Umfang des mit dem Frauenspital Bern für eine Geburt vereinbarten Pauschaltarifs von Fr. 2117.- zu beteiligen. Sie wies darauf hin, damit seien sämtliche anfallenden Kosten der Mutter und des gesunden Säuglings abgegolten. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 9. Oktober 2000 fest.
B.
S. liess gegen den Einspracheentscheid beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde erheben und beantragen, die Assura sei zu verpflichten, an die Kosten des Spitalaufenthaltes von Mutter und Kind insgesamt Fr. 11'034.50 aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu bezahlen. Mit Entscheid vom 5. September 2001 wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S. das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern und beantragen, das Spital Y. sei gestützt auf
Art. 110 OG
zum Verfahren beizuladen. Eventuell sei die Assura zu verpflichten, ein Schiedsgerichtsverfahren gemäss
Art. 89 Abs. 3 KVG
gegen das Spital Y. einzuleiten.
Die Assura beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung, Kranken- und Unfallversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit; nachfolgend: Bundesamt) stellt den Antrag, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei in dem Sinne gutzuheissen, dass der vorinstanzliche Entscheid aufgehoben und die Sache an den Krankenversicherer zurückgewiesen wird, damit dieser zu seinen Lasten die Beschwerdeführerin in einem Schiedsgerichtsverfahren vertritt.
BGE 131 V 133 S. 136 Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der sozialen Krankenversicherung geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (
BGE 127 V 467
Erw. 1), sind die neuen Bestimmungen hier nicht anwendbar (
BGE 129 V 4
Erw. 1.2).
2.
2.1
Gemäss
Art. 129 Abs. 1 lit. b OG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig gegen Verfügungen über Tarife. Nach der Rechtsprechung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde allerdings nur unzulässig gegen Verfügungen, welche den Erlass oder die Genehmigung eines Tarifs als Ganzes zum Gegenstand haben oder wenn unmittelbar einzelne Tarifbestimmungen als solche angefochten werden. Entscheidend dafür ist, dass die Gesichtspunkte, welche der Strukturierung eines Tarifs zu Grunde liegen, als nicht oder schwer justiziabel betrachtet werden. Hingegen steht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen gegen Verfügungen, welche in Anwendung eines Tarifs im Einzelfall ergangen sind; dabei kann das Gericht zwar nicht den Tarif als Ganzes mit all seinen Positionen und in ihrem gegenseitigen Verhältnis auf die Gesetzmässigkeit hin überprüfen, wohl aber kann es die konkret angewandte Tarifposition ausser Acht lassen, wenn sie sich als gesetzwidrig erweist (
BGE 126 V 345
Erw. 1,
BGE 125 V 104
Erw. 3b mit Hinweisen).
2.2
Im vorliegenden Verfahren geht es nicht um eine Tarifstreitigkeit im Sinne von
Art. 129 Abs. 1 lit. b OG
, sondern um die Anwendung eines Tarifes im Einzelfall. Es ist umstritten, ob die Assura in Ermangelung eines Vertrags mit den Privatspitälern im Kanton Bern und eines durch den Regierungsrat festgesetzten Tarifs den Tarif des Frauenspitals Bern als Referenztarif für die Bemessung der zu vergütenden Leistungen anwenden durfte. Unter diesem Gesichtspunkt ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten.
3.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von
BGE 131 V 133 S. 137
Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (
Art. 132 OG
).
4.
Gemäss
Art. 25 KVG
übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen (Abs. 1). Diese Leistungen umfassen u.a. die Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen, die ambulant, stationär oder teilstationär durchgeführt werden (Abs. 2 lit. a) sowie den Aufenthalt in der allgemeinen Abteilung eines Spitals (Abs. 2 lit. e). Bei Mutterschaft übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung neben den gleichen Leistungen wie bei Krankheit die Kosten der besonderen Leistungen bei Mutterschaft (
Art. 29 KVG
). Für die Kosten für Pflege und Aufenthalt des gesunden Neugeborenen hat die Versicherung der Mutter aufzukommen, solange es sich mit der Mutter im Spital aufhält (
BGE 125 V 14
Erw. 5 und Änderung von Art. 29 Abs. 2 Bst. d KVG, in Kraft seit 1. Januar 2001).
Nach
Art. 41 Abs. 1 KVG
können die Versicherten unter den zugelassenen Leistungserbringern, die für die Behandlung ihrer Krankheit geeignet sind, frei wählen.
Die Vergütung der Leistungen nach
Art. 25 KVG
erfolgt nach Tarifen oder Preisen (
Art. 43 Abs. 1 KVG
). Diese werden in Verträgen zwischen Versicherern und Leistungserbringern vereinbart oder in den vom Gesetz bestimmten Fällen von der zuständigen Behörde festgesetzt (
Art. 43 Abs. 4 Satz 1 KVG
). Leitschnur für die Tarifgestaltung ist eine qualitativ hoch stehende und zweckmässige gesundheitliche Versorgung zu möglichst günstigen Kosten (
Art. 43 Abs. 6 KVG
). Der Tarifvertrag bedarf der Genehmigung durch die zuständige Kantonsregierung oder, wenn er in der ganzen Schweiz gelten soll, durch den Bundesrat (
Art. 46 Abs. 4 Satz 1 KVG
).
Bei stationärer Behandlung muss der Versicherer die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der im Wohnkanton der versicherten Person gilt. Beanspruchen Versicherte aus medizinischen Gründen einen anderen Leistungserbringer, so richtet sich die Kostenübernahme nach
Art. 41 Abs. 2 und 3 KVG
.
BGE 131 V 133 S. 138
5.
5.1
Als Spital gelten Anstalten oder deren Abteilungen, die der stationären Behandlung akuter Krankheiten oder der stationären Durchführung von Massnahmen der medizinischen Rehabilitation dienen (Art. 39 Abs. 1 Ingress KVG). Ihre Zulassung als Leistungserbringer und damit zur Tätigkeit zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (
Art. 35 Abs. 1 und 2 lit. h KVG
) setzt u.a. voraus, dass sie der von einem oder mehreren Kantonen gemeinsam aufgestellten Planung für eine bedarfsgerechte Spitalversorgung entsprechen und auf der nach Leistungsaufträgen in Kategorien gegliederten Spitalliste des Kantons aufgeführt sind, wobei private Trägerschaften angemessen in die Planung einzubeziehen sind (
Art. 39 Abs. 1 lit. d und e KVG
).
5.2
Für Tarifverträge mit Spitälern im Sinne von
Art. 39 Abs. 1 KVG
hat das Gesetz in
Art. 49 KVG
eine Spezialregelung getroffen. Danach vereinbaren die Vertragsparteien Pauschalen für die Vergütung der stationären Behandlung einschliesslich Aufenthalt. Diese decken für Kantonseinwohner und -einwohnerinnen bei öffentlichen oder öffentlich subventionierten Spitälern höchstens 50 Prozent der anrechenbaren Kosten je Patient oder Patientin oder je Versichertengruppe in der allgemeinen Abteilung (Abs. 1 Satz 1 und 2). Die Vertragsparteien können vereinbaren, dass besondere diagnostische oder therapeutische Leistungen nicht in der Pauschale enthalten sind, sondern getrennt in Rechnung gestellt werden. Die durch die Vergütung nicht gedeckten "anrechenbaren Kosten (...)" sowie nicht anrechenbaren Betriebskostenanteile aus Überkapazität, Investitionskosten sowie Kosten für Lehre und Forschung (Abs. 1 Satz 4) gehen zu Lasten der öffentlichen Hand oder des subventionierenden Gemeinwesens (Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung, BBl 1992 I 93 ff., 127, 169 und 183 f.; GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherungsrecht, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 303 ff.). Mit den Vergütungen nach
Art. 49 Abs. 1 - 3 KVG
sind alle Ansprüche des Spitals für die allgemeine Abteilung abgegolten (
Art. 49 Abs. 4 KVG
).
5.3
Kommt zwischen den Leistungserbringern und Versicherern kein Vertrag zustande oder wird ein Tarifvertrag gekündigt, ohne dass die Parteien sich auf die Vertragserneuerung einigen können, herrscht mithin ein vertragsloser Zustand, so setzt die Kantonsregierung nach Anhörung der Beteiligten den Tarif fest (
Art. 47
BGE 131 V 133 S. 139
Abs. 1 KVG
) oder sie kann den bestehenden Vertrag um ein Jahr verlängern und, wenn innerhalb dieser Frist kein Vertrag zustande kommt, nach Anhörung der Beteiligten den Tarif selber festsetzen (
Art. 47 Abs. 3 KVG
). Beim Entscheid darüber, welchen Weg die Kantonsregierung beschreiten will, verfügt sie über ein Auswahlermessen; ihr Ermessensspielraum ist nach herrschender Praxis weit. Dabei hat sie zu beachten, dass die Bestimmung, wonach sie bei der Genehmigung von Tarifverträgen zu prüfen hat, ob diese mit dem Gesetz und dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Billigkeit in Einklang stehen (
Art. 46 Abs. 4 KVG
), auch bei der Tariffestsetzung im vertragslosen Zustand gilt (RKUV 2001 Nr. KV 177 S. 357 Erw. 1.1.2 mit Hinweisen).
6.
Gemäss
Art. 44 Abs. 1 KVG
müssen sich die Leistungserbringer an die vertraglich oder behördlich festgelegten Tarife und Preise halten und dürfen für Leistungen nach diesem Gesetz keine weiter gehenden Vergütungen berechnen (Tarifschutz). Der Tarifschutz in weit gefasster Definition umfasst die Pflicht der Leistungserbringer und der Versicherer zur Einhaltung der massgebenden Tarife und Preise sowohl im gegenseitigen als auch im Verhältnis zum Versicherten. Er findet seinen besonderen Sinn im System des Tiers garant, wo die Versicherten selber Schuldner der Vergütungen sind (Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung, BBl 1992 I 175). Im Rahmen der Tätigkeit für die soziale Krankenversicherung ist es den Leistungserbringern nicht gestattet, mit den Versicherten über die vertraglichen oder behördlichen Tarife hinausgehende Leistungen zu vereinbaren. Der Tarifschutz ist schliesslich auch im vertragslosen Zustand zu respektieren (EUGSTER, a.a.O., Rz 321 mit Hinweisen zu dem schon unter dem alten Recht des KUVG geltenden Grundsatz; einschränkend Rz 325 zu den sog. "Privatpatientenverhältnissen"). An den Tarifschutz müssen sich alle Leistungserbringer halten. Er gilt für alle Ärzte (angestellte oder externe Belegärzte), welche in der allgemeinen Abteilung eines Spitals (das die Zulassungsvoraussetzungen von
Art. 39 KVG
erfüllt und vom Kanton auf seine Spitalliste gesetzt wurde) praktizieren, weshalb sie keine Zusatzhonorare fordern dürfen; dies unabhängig davon, ob es sich um ein öffentliches Spital oder um eine Privatklinik handelt (RKUV 2004 Nr. KV 285 S. 238 und KV 287 S. 298; für den Bereich der stationären Spitalbehandlung auf der Halbprivat- und Privatabteilung vgl. auch
BGE 130 I 310
Erw. 2.2; für den Bereich der teilstationären
BGE 131 V 133 S. 140
Spitalbehandlung: RKUV 2005 Nr. KV 314 S. 15 f. Erw. 7.3 und 8.2.2; vgl. auch CHRISTIAN CONTI, Die Pflichten des Patienten im Behandlungsvertrag, Bern 2000, S. 70 f.; derselbe, Zusatzhonorar des Arztes und KVG, in: AJP 2001 S. 1152; POLEDNA/BERGER, Öffentliches Gesundheitsrecht, Bern 2002, S. 281 f. Rz 514; GUY LONGCHAMP, Conditions et étendue du droit aux prestations de l'assurance-maladie sociale, Diss. Lausanne, Bern 2004, S. 342 f. mit Hinweisen). Bis anhin durch das Eidgenössische Versicherungsgericht nicht beurteilt worden ist hingegen die Frage, wie bei Fehlen eines Tarifvertrages oder eines behördlich festgesetzten Tarifs die in einer Privatklinik in der allgemeinen Abteilung erbrachten Leistungen von der sozialen Krankenversicherung zu vergüten sind.
7.
Die Assura erbrachte an die vom Spital Y. in Rechnung gestellten Kosten von Fr. 11'153.25 für den Spitalaufenthalt entsprechend dem Pauschaltarif für Geburten des Frauenspitals Bern einen Beitrag von Fr. 2117.-. Damit wäre ein Aufenthalt der Beschwerdeführerin in jenem Spital als öffentlicher Heilanstalt abgegolten gewesen. Streitig sind die über diese Pauschale hinaus vom Spital Y. als auf der Spitalliste des Kantons Bern figurierender nicht öffentlich subventionierter Institution mit privater Trägerschaft in Rechnung gestellten Mehrkosten. Zu prüfen ist, welche Kostenübernahme durch die Assura die Versicherte aus der obligatorischen Krankenversicherung beanspruchen kann. Sie bestreitet den von der Assura angewendeten Tarif, der nicht gesetzeskonform sei. Die Versicherung vertritt die Auffassung, sie habe die gestützt auf den massgebenden Tarif geschuldete Fallpauschale erbracht.
8.
Die Vorinstanz hat das Vorgehen der Assura mit der Begründung geschützt, es sei unter der Rechtslage des KVG nicht zu beanstanden. Aus der Aufnahme des Spitals Y. auf die Spitalliste folge nicht, dass sämtliche Kosten zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gehen würden. Die Krankenversicherer seien zwar verpflichtet, für Leistungen aller Listenspitäler zu bezahlen, jedoch nicht unbedingt kostendeckend. Dies sei nur möglich, wenn wie bei öffentlich subventionierten Spitälern mindestens die Hälfte der Kosten zu Lasten des Kantons gehen würden. Tarife privater Spitäler seien deshalb naturgemäss höher als diejenigen öffentlicher Einrichtungen. Insofern könne ein privates Spital in Bezug auf die Versicherungsdeckung dem öffentlichen nicht gleichgestellt sein. Es sei nicht ersichtlich, weshalb im Rahmen der obligatorischen Versicherung sämtliche Kosten zu Lasten des
BGE 131 V 133 S. 141
Versicherers gehen sollten, nur weil sich eine versicherte Person für einen privaten Leistungserbringer entschieden habe. Bei der sozialen Krankenversicherung gehe es letztlich um die Sicherstellung der elementaren medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung. Unter diesem Aspekt sei es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn weiter gehende, nicht kostendeckend erbrachte Leistungen eines Privatspitals nicht von der obligatorischen Krankenversicherung (Grundversicherung) finanziert würden. Die angerufene Tarifschutzbestimmung sei unbehelflich, da sie das Verhältnis zwischen Versicherer und Patient nicht berühre und im Kanton Bern kein anwendbarer Tarifvertrag bestehe. In Anbetracht des tariflosen Zustandes sei die Anwendung des für die öffentlichen Spitäler geltenden Tarifs durchaus gerechtfertigt, was vom Bundesrat in seinem Entscheid vom 23. Juni 1999 in Sachen Privatklinik Lanixa (RKUV 1999 Nr. KV 83 S. 345 f.) ebenfalls so beurteilt worden sei.
9.
9.1
Diese Ausführungen im vorinstanzlichen Entscheid sowie der dabei gezogene Schluss, die Beschwerdeführerin habe "nur" über eine obligatorische Versicherungsdeckung verfügt und bei ihrem Aufenthalt im Spital Y. Leistungen beansprucht, für die sie nicht versichert gewesen sei, erweisen sich angesichts der dargestellten gesetzlichen Regelung (vgl. Erw. 4 - 6 hiervor) als bundesrechtswidrig. Da es sich beim Spital Y. laut Anhang II der kantonalen Einführungsverordnung zum KVG um einen zur Tätigkeit zu Lasten der sozialen Krankenversicherung mit einem Leistungsauftrag für Gynäkologie und Geburtshilfe auf der Spitalliste des Kantons Bern aufgeführten Leistungserbringer handelt (
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
), welcher im Wahlrecht der Beschwerdeführerin stand, gilt für die Versicherte der Tarifschutz. Deshalb dürfen ihr aus dem Aufenthalt, der Geburt, der Pflege und der Behandlung in der allgemeinen Abteilung des Spitals Y. (mit Ausnahme der Kostenbeteiligung nach
Art. 64 KVG
, die aber nach Abs. 7 auf den Leistungen bei Mutterschaft nicht erhoben werden darf) keine von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ungedeckte Kosten erwachsen.
9.2
Wenn wie hier die Leistungserbringer, die Versicherer und die staatlichen Organe die ihnen vom Gesetz zugeordneten Aufgaben nicht wahrnehmen, darf dies somit entgegen dem vorinstanzlichen Entscheid und der von der Assura eingenommenen Haltung nicht
BGE 131 V 133 S. 142
dazu führen, dass die Versicherten den ihnen vom Gesetz garantierten Tarifschutz verlieren und die dort verankerten Ansprüche gegenüber Leistungserbringern und Krankenversicherern nicht durchsetzen können. Spätestens mit dem in den Akten in Form eines Auszugs aus einem Verhandlungsprotokoll dokumentierten Verhandlungsergebnis vom 4. April 2000 haben die Tarifvertragsparteien auf kantonaler Verbandsebene klar gemacht, dass sie bis zu einer Änderung der geltenden bundesrechtlichen Regelung über die Spitalfinanzierung (vgl. Erw. 5.2 hiervor) keine KVG-konforme Tarifvereinbarung abschliessen wollten. Angesichts dieser Situation wäre die Assura, die als zur Durchführung der sozialen Krankenversicherung zugelassene Versicherungseinrichtung insbesondere auch zur Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften verpflichtet ist (
Art. 13 Abs. 2 lit. b KVG
), gehalten gewesen, direkt den Abschluss einer Tarifvereinbarung anzustreben oder aber zu versuchen, auf die Festsetzung eines Behördentarifs hin zu drängen, um so eine gesetzeskonforme Lage im Tarifbereich zu schaffen.
9.3
Nach dem Entscheid K. des Bundesrates vom 17. Februar 1999 in Sachen Tariffestsetzung im vertragslosen Zustand (RKUV 1999 Nr. KV 70 S. 169 ff. Erw. II.3.2) geht nämlich im Rahmen des Systems der Tarifgestaltung in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung die Vertragsfreiheit nicht so weit, dass es den Tarifpartnern freisteht, ob sie überhaupt und mit wem sie Verträge schliessen wollen. Vielmehr setzt
Art. 41 Abs. 1 KVG
voraus, dass zwischen allen zugelassenen Leistungserbringern und allen zur Durchführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung befugten Einrichtungen Tarife vorhanden sind. Die Tarifpartner sind folglich zumindest dazu verpflichtet, nach Kräften auf das Zustandekommen von Tarifverträgen mit allen nach den Bestimmungen des KVG zugelassenen Leistungserbringern bzw. Krankenversicherern hinzuwirken. Sonst steht als letzter Ausweg nach dem Scheitern der Verhandlungen der Weg zur hoheitlichen Tariffestsetzung offen (RKUV 1999 Nr. KV 70 S. 175 Erw. II. 3.2 Abs. 3). In
BGE 124 V 342
Erw. 2b/bb geht auch das Eidgenössische Versicherungsgericht von einer Tarifverhandlungspflicht der Krankenversicherer aus. Diese ist somit das Korrelat zum Versicherungsobligatorium und zum Tarifschutz. Wie den Beschwerdeakten zu entnehmen ist, war es der Assura bewusst, dass die Tarifvertragsparteien und die Kantonsregierung auf Grund des Bundes- und des kantonalen Rechts verpflichtet waren, tätig zu werden, es aber vorliegend unterlassen
BGE 131 V 133 S. 143
haben. Die Assura hat offenbar auch nie erwogen, ihre Versicherte zumindest im Tarifstreit gegenüber dem Spital Y. vor Schiedsgericht zu vertreten (
Art. 89 KVG
).
9.4
Wie darum das Bundesamt in der Vernehmlassung zu Recht anmerkt, ist es eine unbefriedigende Situation, dass es für die Privatspitäler mit allgemeiner Abteilung, die auf der Spitalliste des Kantons Bern aufgeführt sind, an einem behördlich festgesetzten oder genehmigten Tarif fehlt, und es darf dies nicht dazu führen, dass die Versicherten selbst für Leistungen, die aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu vergüten sind, aufzukommen oder diese über Zusatzversicherungen abzudecken haben. Im Übrigen wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtig vorgebracht, dass der von der Assura und der Vorinstanz herangezogene Entscheid des Bundesrates vom 23. Juni 1999 in Sachen Privatklinik Lanixa (RKUV 1999 Nr. KV 83 S. 345 f.) eine Tarifstreitigkeit betraf, an der das Spital, die Krankenversicherer und die Kantonsregierung beteiligt waren, und die vom Bundesrat entschiedene vorübergehende Lösung nicht zur Folge haben konnte, dass die in der allgemeinen Abteilung dieser Klinik behandelten KVG-Versicherten über keinen Tarifschutz mehr verfügten; dies weil der festgesetzte (Referenz-)Tarif für die Klinik verbindlich war und sie keine darüber hinausgehenden Rechnungen stellen durfte. Wie das Bundesamt richtig darauf hinweist, ist der Bundesrat dabei davon ausgegangen, dass eine - wie auch im Kanton Bern - integrale Spitalliste unabhängig von einer zusätzlichen Versicherungsdeckung den Zugang der KVG-Versicherten zu allen auf der Spitalliste aufgeführten Spitälern öffnet, und dieser nur durch den Inhalt des Leistungsauftrages und die Geeignetheit des Leistungserbringers für die Behandlung begrenzt ist.
10.
Damit steht die Frage, in welcher Höhe die vom Spital Y. gegenüber Mutter und Tochter erbrachten Leistungen von der sozialen Krankenversicherung zu vergüten sind, noch offen. Auf Grund von
BGE 125 V 14
Erw. 5 ist jedoch geklärt, dass für die Kosten von Pflege und Aufenthalt der gesunden Tochter die Assura als Versicherung der Mutter aufzukommen hat. Des weiteren dürfen - da der Tarifschutz greift - der Versicherten für den Aufenthalt, die Geburt und die Behandlung und Pflege mit Ausnahme der hier nicht zu erhebenden gesetzlichen Kostenbeteiligung keine von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ungedeckte Kosten erwachsen. Der kantonale Entscheid, nach dem der Beschwerdeführerin
BGE 131 V 133 S. 144
durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung ungedeckte Kosten von rund Fr. 9000.- verbleiben würden, ist bundesrechtswidrig (vgl. oben Erw. 9.1) und darum aufzuheben.
11.
Dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin, die Assura zur Übernahme der Kosten so zu verpflichten, wie sie vom Spital Y. in Rechnung gestellt wurden, ist deshalb nicht stattzugeben, weil die Vergütung der Leistungen nach Tarifen oder Preisen zu erfolgen hat (
Art. 43 Abs. 1 KVG
), die in Verträgen zwischen Versicherern und Leistungserbringern vereinbart oder in den vom Gesetz bestimmten Fällen von der zuständigen Behörde festgesetzt werden (
Art. 43 Abs. 4 Satz 1 KVG
). Das Erfordernis einer KVG-konformen Tarifierung der in Rechnung gestellten Leistungen ist indes bei den beiden umstrittenen Rechnungen des Spitals Y. nicht erfüllt.
12.
12.1
Gemäss RKUV 2004 Nr. KV 281 S. 208 kann der zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung fallende Sockelbeitrag beim Aufenthalt krankenversicherter Personen in der Halbprivat- und Privatabteilung eines Spitals bei Fehlen eines tarifvertraglichen oder -behördlichen Tarifs nach einem vom Krankenversicherer, im Bestreitungsfalle vom zuständigen kantonalen Versicherungsgericht und letztinstanzlich vom Eidgenössischen Versicherungsgericht festzusetzenden Referenztarif bemessen werden. Im betreffenden Streitfall ging es um den Anspruch bei einem Aufenthalt in einer Privatklinik, die ohne Leistungsauftrag im Rahmen der Grundversorgung auf der Spitalliste des Standortkantons figurierte und über keine allgemeine Abteilung verfügt. Um nicht faktisch die Spitalplanung zu umgehen und die mit Spitallisten bezweckte Beschränkung der zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung in bestimmten Leistungsbereichen tätigen stationären Leistungserbringer zu vereiteln, wurde als Referenztarif nicht der Tarif für den Aufenthalt in der allgemeinen Abteilung eines Privatspitals mit Leistungsauftrag im Rahmen der Grundversorgung genommen, sondern ein Durchschnitt der Tarife öffentlicher Spitäler, was einen erheblich tieferen Sockelbeitrag des Versicherers und damit für den Versicherten höhere ungedeckte Kosten zur Folge hatte.
12.2
Dementgegen handelt es sich beim Spital Y. um einen zur Tätigkeit zu Lasten der sozialen Krankenversicherung mit einem Leistungsauftrag für Gynäkologie und Geburtshilfe auf der
BGE 131 V 133 S. 145
Spitalliste des Kantons Bern aufgeführten Leistungserbringer mit allgemeiner Abteilung. Entsprechend ist bei Fehlen eines vertraglich oder behördlich festgelegten Tarifs als Referenztarif der Tarif eines vergleichbaren Privatspitals beizuziehen. Hier besteht nicht die Gefahr einer Umgehung der Spitalplanung, weil das Spital Y. Bestandteil dieser Planung ist.
12.3
Soweit ersichtlich, herrschte im Jahr 2000 bei den mit dem Spital Y. vergleichbaren Privatspitälern im Kanton Bern eine analoge Tarifsituation, weshalb das Eidgenössische Versicherungsgericht keinen Referenztarif bestimmen kann. Dazu ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie wird nach Beiladung des Spitals Y. einen Referenztarif ermitteln. Sollte ein geeigneter Tarif im Jahr 2000 nicht bestanden haben, wäre eine auf den konkreten Streitfall zugeschnittene Lösung zu treffen, welche sowohl den Anforderungen des Tarifrechts (vgl. oben Erw. 5) wie des Tarifschutzes (vgl. oben Erw. 6) zu genügen haben wird. Dabei könnten allenfalls Pauschaltarife eines öffentlichen oder öffentlich subventionierten Spitals beigezogen werden, wobei zu berücksichtigen wäre, dass diese für Kantonseinwohner und -einwohnerinnen bei solchen Spitälern höchstens 50 Prozent der anrechenbaren Kosten je Patient oder Patientin oder je Versichertengruppe in der allgemeinen Abteilung decken (
Art. 49 Abs. 1 und 2 KVG
;
BGE 130 V 479
f. Erw. 5.3.2 und 5.3.4; zu den Unterschieden zwischen den Tarifen des privaten und des öffentlichen Spitalsektors: RKUV 1999 Nr. KV 65 S. 72 f.; zur Festsetzung des Tarifs für Aufenthalt und Behandlung in einem Privatspital: RKUV 2003 Nr. KV 246 S. 141 f. und KV 247 S. 159 f.). Allenfalls wäre zu prüfen, ob nicht ausgehend von dem vom Regierungsrat des Kantons Bern am 26. Januar 2005 in Anwendung von
Art. 46 Abs. 4 KVG
genehmigten und per 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Vertrag vom 20. November 2004 zwischen santésuisse Bern und dem Verband der Privatspitäler des Kantons Bern betreffend die Behandlung von stationären Patienten der allgemeinen Abteilung in den Privatspitälern des Kantons Bern für das Jahr 2000 eine KVG-konforme Regelung getroffen werden kann. Zwar hat ein Krankenversicherer gestützt auf
Art. 53 KVG
beim Bundesrat gegen den Beschluss der Kantonsregierung Beschwerde erhoben. Dies hindert jedoch nicht daran, vorliegend in Anlehnung an die frühestens ab 2005 in Kraft tretende Tarifvereinbarung eine dem konkreten Einzelfall im Jahre 2000 angemessene Lösung zu
BGE 131 V 133 S. 146
suchen, da damit ein späterer Entscheid des Bundesrates über die Tarifbeschwerde nicht präjudiziert werden könnte.
13.
Dem von der Beschwerdeführerin gestellten Antrag, das Spital Y. sei zum Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht beizuladen, ist nicht zu entsprechen.
Art. 110 Abs. 1 OG
sieht vor, dass der Schriftenwechsel auf andere "Beteiligte" ausgedehnt werden kann. Eine Pflicht zur Beiladung oder, als Korrelat dazu, ein Anspruch auf Beiladung besteht jedoch nicht. Vielmehr entscheidet das Gericht, wer als Beteiligter in den Schriftenwechsel einbezogen wird. Der Einbezug "Beteiligter" in den Schriftenwechsel hat den Sinn, die Rechtskraft des Urteils auf den Beigeladenen auszudehnen, sodass dieser in einem später gegen ihn gerichteten Prozess dieses Urteil gegen sich gelten lassen muss. Das Interesse an einer Beiladung ist rechtlicher Natur. Es muss eine Rückwirkung auf eine Rechtsbeziehung zwischen der Hauptpartei und dem Mitinteressierten in Aussicht stehen (
BGE 125 V 94
f. Erw. 8b mit Hinweisen).
Da hier offen bleiben muss, welchen Vergütungsanspruch das Spital Y. im Rahmen der sozialen Krankenversicherung für die erbrachten Leistungen geltend machen kann, ist das Beiladungsbegehren abzulehnen. Denn eine rechtlich relevante Rückwirkung des vorliegenden Prozessausgangs auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien und dem Spital Y. in dem Sinne, dass auch auf letzteres die Rechtskraft des heutigen Urteils auszudehnen wäre, steht nicht in Frage. Dass die Vorinstanz auf Grund der Erwägungen des vorliegenden Entscheids das Spital Y. nach Rückweisung der Sache zum Streit beizuladen haben wird, stellt keine Ausdehnung der Rechtskraft des vorliegenden Urteils dar, sondern ist Folge dessen, dass eine KVG-konforme Bereinigung des vorliegenden Leistungsstreits - entgegen der Begründung der Verfügung vom 9. April 2001 des im vorinstanzlichen Verfahren instruierenden Verwaltungsrichters - nur unter Beiladung des Spitals Y. getroffen werden kann. Denn mit dem Erlass der Kassenverfügung vom 7. September 2000 wurde der Rechtsweg über das kantonale Versicherungsgericht eingeschlagen, und nicht gemäss
Art. 89 KVG
mittels Klage der Assura gegen das Spital Y. vor dem kantonalen Schiedsgericht, welches Vorgehen für Tarif- und Leistungsstreitigkeiten wie die hier zu beurteilende an und für sich konzipiert ist.
14.
(Kosten und Parteientschädigung) | de |
1500d3e8-80fd-43a8-9b39-bb2b6e1cd429 | 833.11 1 / 22 Verordnung über die Militärversicherung (MVV) vom 10. November 1993 (Stand am 1. Januar 2023) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf Artikel 81 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 20001 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sowie auf die Artikel 81 Absatz 2 und 108 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 19922 über die Militärversicherung (Gesetz),3 verordnet: 1. Abschnitt: Voraussetzungen der Bundeshaftung Art. 1 Militär- und Zivilschutzdienst 1 Im obligatorischen oder freiwilligen Militärdienst im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe a des Gesetzes steht, wer die Wehrpflicht nach dem Militärgesetz vom 3. Februar 19954 (MG) und nach der Verordnung vom 22. November 20175 über die Militärdienstpflicht erfüllt.6 2 …7 3 Im obligatorischen oder freiwilligen Zivilschutzdienst im Sinne von Artikel 1a Ab- satz 1 Buchstabe a des Gesetzes steht, wer nach dem Bevölkerungs- und Zivilschutz- gesetz vom 20. Dezember 20198 und nach der Zivilschutzverordnung vom 11. No- vember 20209 die Schutzdienstpflicht erfüllt.10 4 Nicht als Militärdienst oder Zivilschutzdienst gelten namentlich die Erfüllung der ausserdienstlichen Pflichten zur Instandhaltung der Bekleidung, der persönlichen Ausrüstung und der Bewaffnung sowie die Vorbereitungsarbeiten für Militärdienst oder Zivilschutzdienst. AS 1993 3080 1 SR 830.1 2 SR 833.1 3 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 4 SR 510.10 5 SR 512.21 6 Fassung gemäss Anhang 7 Ziff. II 8 der V vom 22. Nov. 2017 über die Militärdienst- pflicht, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 7405). 7 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 19. Nov. 1997, mit Wirkung seit 1. Jan. 1998 (AS 1997 2751). 8 SR 520.1 9 SR 520.11 10 Fassung gemäss Anhang 6 Ziff. II 2 der Zivilschutzverordnung vom 11. Nov. 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 5031). 833.11 Militärversicherung 2 / 22 833.11 Art. 211 Angehörige des Instruktionskorps der Armee, Instruktoren des Zivilschutzes und übriges Lehrpersonal der Armee 1 Als Angehörige des Instruktionskorps der Armee im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 1 des Gesetzes gelten: a. die Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere nach Artikel 47 MG12; b. die Anwärterinnen und Anwärter des Instruktionskorps, die in der Ausbildung zum Berufsoffizier oder Berufsunteroffizier stehen; c. die höheren Stabsoffiziere, die ihre Funktion oder ihr Kommando hauptamt- lich ausüben und als dauernd im Militärdienst stehend gelten. 2 Als Instruktoren des Zivilschutzes im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 7 des Gesetzes gelten: a. der Chef der Abteilung Ausbildung; b. die Chefs der Ausbildungssektionen, ausgenommen der Chef der Sektion Pla- nung, Ausbildungszentren und Lehrmittel; c. die Chefinstruktoren; d. die Kursleiter; e. die Instruktoren; f. die Instruktorenanwärter; g. die Bundesangestellten, die gleichzeitig als Instruktoren gewählt sind. 3 Im Bundesdienst nach Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 1 des Gesetzes steht auch, wer in Kaderfunktion an Schulen und Kursen der Armee teilnimmt oder andere Tätigkeiten für die Armee verrichtet und dafür in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- verhältnis zum Bund steht (Zeitsoldat). Art. 313 Vordienstliche Ausbildung Als Teilnehmer an der vordienstlichen Ausbildung im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe g Ziffer 1 des Gesetzes gilt, wer bei folgenden Ausbildungskursen oder Ausbildungsleiterkursen zugelassen ist oder als Leiter, Funktionär oder Hilfsperson mitwirkt an: a. Jungschützenkursen; b. Militärpilotenkursen; c. Fallschirmaufklärerkursen; d. Funkaufklärerkursen (Morsekurse); 11 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 12 SR 510.10 13 Fassung gemäss Art. 9 Ziff. 2 der V vom 26. Nov. 2003 über die vordienstliche Ausbildung, in Kraft seit 1. Jan. 2004 (AS 2003 4599). Militärversicherung. V 3 / 22 833.11 e. Militärmusikkursen (Militärtambour, -trompeter und -schlagzeuger); f. Pontonierkursen; g. Jungmotorfahrerkursen; h. Train- und Veterinärkursen; i. Schmiedekursen; j.14 Sanitätskursen. Art. 415 Ausserdienstliche Schiessübungen 1 Als Teilnehmer an ausserdienstlichen Schiessübungen im Sinne von Artikel 1a Ab- satz 1 Buchstabe g Ziffer 2 des Gesetzes gilt, wer als Schiesspflichtiger oder als Schiessberechtigter nach der Schiessverordnung vom 5. Dezember 200316 zuge- lassen ist an: a. Bundesübungen und Vorübungen dazu; b. Schützenmeisterkursen und Wiederholungskursen dazu; c. Jungschützenleiterkursen und Wiederholungskursen dazu; d. Nachschiesskursen; e. Verbliebenenkursen. 2 Als Teilnehmer an ausserdienstlichen Schiessübungen gilt auch, wer an den Übun- gen und Kursen nach Absatz 1 mitwirkt als: a. eidgenössischer Schiessanlagenexperte, eidgenössischer Schiessoffizier oder Mitglied einer kantonalen Schiesskommission; b. Funktionär oder Zeiger. Art. 5 Freiwillige militärische oder wehrsportliche Tätigkeit ausser Dienst 1 Als Teilnehmer an einer freiwilligen militärischen oder wehrsportlichen Tätigkeit ausser Dienst im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe g Ziffer 3 des Gesetzes gilt namentlich, wer vorschriftsgemäss zugelassen ist oder als Leiter, Funktionär oder Hilfsperson mitwirkt an:17 a. ausserdienstlichen Kursen, Wettkämpfen und Übungen der Truppe; b. gesamtschweizerischen, regionalen, kantonalen und örtlichen Kursen, Übun- gen, Prüfungen und Wettkämpfen der militärischen Verbände, Vereine und Organisationen; 14 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 30. Okt. 2013, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3861). 15 Fassung gemäss Art. 57 der Schiessverordnung vom 5. Dez. 2003, mit Wirkung seit 1. Jan. 2004 (AS 2003 5119). 16 SR 512.31 17 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). Militärversicherung 4 / 22 833.11 c. internationalen militärischen oder militärsportlichen Wettkämpfen im In- und Ausland; d. Katastrophendienst-Einsätzen der militärischen Vereine. 2 Bei internationalen militärischen oder militärsportlichen Anlässen gelten nur die Mitglieder der Schweizerdelegation als Teilnehmer im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe g Ziffer 3 des Gesetzes.18 Art. 6 Zivilpersonen im Einsatz oder in Ausbildung für Armee und Zivilschutz19 1 Als Zivilperson im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe g Ziffer 4 des Gesetzes gilt namentlich, wer an militärischen Übungen und an Instruktionsdiensten des Zivil- schutzes mitwirkt:20 a. als Freiwilliger zugunsten der Armee oder des Zivilschutzes (Kadett, Pfadfin- der); b.21 als Darsteller an Übungen des Sanitätsdienstes, des AC-Schutzdienstes, der Rettungstruppen, des Betreuungsdienstes sowie des Zivilschutzes. 2 Als Zivilperson im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe g Ziffer 4 des Gesetzes gilt auch, wer: a. von Behörden der Kantone und Gemeinden für die Durchführung der Mobil- machung und entsprechender Übungen eingesetzt wird; b. an der Ausbildung nach Artikel 40 Absatz 1 des Bevölkerungs- und Zivil- schutzgesetzes vom 4. Oktober 200222 teilnimmt.23 Art. 724 Friedenserhaltende Aktionen und Gute Dienste Als Teilnehmer an friedenserhaltenden Aktionen und Guten Diensten des Bundes im Sinne von Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe l des Gesetzes gilt auch, wer an Missionen 18 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 19 Fassung gemäss Anhang Ziff. 4 der V vom 17. Dez. 2014, in Kraft seit 1. Febr. 2015 (AS 2015 195). 20 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 21 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Nov. 1997, in Kraft seit 1. Jan. 1998 (AS 1997 2751). 22 [AS 2003 4187 4327, 2005 2881 Ziff. II Abs. 1 Bst. c, 2006 2197 Anhang Ziff. 47, 2009 6617 Anhang Ziff. 3, 2010 6015 Anhang Ziff. 4, 2011 5891, 2014 3545 Art. 23, 2015 187, 2016 4277 Anhang Ziff. 7, 2018 5343 Anhang Ziff. 7. AS 2020 4995 Anhang Ziff. I]. Siehe heute: das BG vom 20. Dezember 2019 (SR 520.1). 23 Fassung gemäss Anhang Ziff. 4 der V vom 17. Dez. 2014, in Kraft seit 1. Febr. 2015 (AS 2015 195). 24 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). Militärversicherung. V 5 / 22 833.11 nach dem Bundesgesetz vom 19. Dezember 200325 über Massnahmen zur zivilen Frie- densförderung und Stärkung der Menschenrechte teilnimmt. Art. 7a26 Zivildienst 1 Im Zivildienst steht, wer zivilen Ersatzdienst nach dem Zivildienstgesetz vom 6. Ok- tober 199527 und nach der Zivildienstverordnung vom 11. September 199628 leistet. 2 Die Militärversicherung erstreckt sich auch auf Urlaube und Unterbrüche eines Ein- satzes.29 Art. 830 Freiwillige Grundversicherung 1 Als Pensionierte im Sinne von Artikel 2 des Gesetzes gelten die beruflich Versicher- ten, die ordentlicherweise oder vorzeitig pensioniert werden. 2 Der Beitritt zur freiwilligen Grundversicherung muss durch eine schriftliche Anmel- dung bei der Militärversicherung im letzten Dienstjahr, spätestens aber innert zweier Monate nach der Pensionierung erklärt werden. Die Aufnahme erfolgt ohne jeden Vorbehalt auf den Zeitpunkt der Pensionierung. 3 Der Austritt aus der freiwilligen Grundversicherung ist jederzeit mit einer schriftli- chen Austrittserklärung möglich. Er kann frühestens auf den der Austrittserklärung folgenden Monat erfolgen. Ein Wiedereintritt ist ausgeschlossen. Art. 8a31 Art. 9 Ruhen der Versicherung Der Versicherungsunterbruch nach Artikel 3 Absatz 2 des Gesetzes beschränkt sich auf Berufsunfälle, die nach dem Bundesgesetz vom 20. März 198132 über die Unfall- versicherung obligatorisch versichert sind. Für den Hin- und Rückweg zur Arbeit bleibt der Schutz der Militärversicherung bestehen. 25 SR 193.9 26 Eingefügt durch Anhang 3 Ziff. 8 der Zivildienstverordnung vom 11. Sept. 1996 (AS 1996 2685). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Nov. 1997, in Kraft seit 1. Jan. 1998 (AS 1997 2751). 27 SR 824.0 28 SR 824.01 29 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 27. Nov. 2000, in Kraft seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 3092). 30 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 1. Nov. 2017, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6345). 31 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Nov. 2005 (AS 2005 5645). Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 1. Nov. 2017, mit Wirkung seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6345). 32 SR 832.20 Militärversicherung 6 / 22 833.11 2. Abschnitt: Versicherungsleistungen Art. 9a33 Grundsätze der Versorgung 1 Die Militärversicherung gewährleistet eine ausreichende, qualitativ hochstehende und zweckmässige Versorgung der Versicherten zu möglichst günstigen Kosten. 2 Heilbehandlungen und Hilfsmittel sind zweckmässig, wenn sie aufgrund der kon- kreten Umstände des Einzelfalls geeignet und notwendig sind, um das gesetzliche Ziel in einem vernünftigen Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen zu erreichen. Art. 10 Koordination mit Leistungen der Truppe, der Sanität der Logistikbasis der Armee (LBA), des Zivilschutzes, des Zivildienstes und der Erwerbsersatzordnung34 1 Während des Militärdienstes geht der Behandlungsanspruch gegenüber dem Trup- penarztdienst dem Behandlungsanspruch gegenüber der Militärversicherung vor. 2 Der Aufwand für Heilbehandlungen durch zivile Medizinalpersonen und Anstalten, welche durch den Truppenarztdienst, den verantwortlichen Arzt des Zivilschutzes oder die zuständige Stelle des Zivildienstes veranlasst oder die in Notfällen vom Ver- sicherten direkt in Anspruch genommen werden, wird von der Militärversicherung vergütet.35 3 Der Aufwand für Abklärungsuntersuchungen sowie für prophylaktische Massnah- men während des Dienstes oder für medizinische Abklärungen zuhanden von Organen der sanitarischen Untersuchungskommissionen wird von der Militärversicherung ver- gütet. 4 Solange ein Angehöriger der Armee, ein Zivilschutzdienstleistender oder ein Zivil- dienstleistender Anspruch auf Sold, auf Taschengeld oder auf Entschädigung nach dem Erwerbsersatzgesetz vom 25. September 195236 hat, ist der Anspruch auf Tag- geld der Militärversicherung aufgeschoben.37 Die bei vorzeitiger Entlassung aus dem Dienst entgehende Entschädigung nach dem Bundesgesetz über die Erwerbsersatz- ordnung wird nicht vergütet. 33 Eingefügt durch Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 34 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 35 Fassung gemäss Anhang 3 Ziff. 8 der Zivildienstverordnung vom 11. Sept. 1996, in Kraft seit 1. Okt. 1996 (AS 1996 2685). 36 SR 834.1 37 Fassung gemäss Anhang 3 Ziff. 8 der Zivildienstverordnung vom 11. Sept. 1996, in Kraft seit 1. Okt. 1996 (AS 1996 2685). Militärversicherung. V 7 / 22 833.11 Art. 11 Spitäler, Kuranstalten und Abklärungsstellen38 1 Als Spitäler nach Artikel 22 Absatz 3 des Gesetzes gelten inländische Anstalten oder Abteilungen von solchen, die der stationären Behandlung von Gesundheitsschädigun- gen oder der stationären Durchführung von Massnahmen der medizinischen Rehabi- litation dienen, unter dauernder ärztlicher Leitung stehen sowie über das erforderliche fachgemäss ausgebildete Pflegepersonal und über zweckentsprechende medizinische Einrichtungen verfügen.39 2 Als Kuranstalten nach Artikel 22 Absatz 3 des Gesetzes gelten Institutionen, die stationär der Nachbehandlung oder Kur dienen, unter ärztlicher Leitung stehen, über das erforderliche, fachgemäss ausgebildete Personal und über zweckentsprechende Einrichtungen verfügen.40 3 Als Pflegeanstalten gelten die nach den Absätzen 1 und 2 nicht erfassten öffentlichen oder anerkannten gemeinnützigen privaten Heime, die der Unterbringung, Pflege und Betreuung von Gebrechlichen und Betagten dienen. 4 Als Abklärungsstellen gelten Institutionen wie jene der Invalidenversicherung und der obligatorischen Unfallversicherung, welche der Abklärung der für die Verbesse- rung oder Erhaltung der Erwerbsfähigkeit erforderlichen medizinischen und berufli- chen Massnahmen dienen. Art. 1241 Chiropraktoren, Chiropraktorinnen, Hebammen und medizinische Hilfspersonen sowie Laboratorien Chiropraktoren, Chiropraktorinnen, Hebammen sowie Personen, die auf ärztliche An- ordnung hin Leistungen erbringen (medizinische Hilfspersonen), und Laboratorien, die nach den Artikeln 44, 45, 47–50a, 53 und 54 der Verordnung vom 27. Juni 199542 über die Krankenversicherung zur selbständigen Tätigkeit zugelassen sind, können auch für die Militärversicherung tätig sein. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI43) kann weitere medizinische Hilfspersonen bezeichnen, die im Rah- men der kantonalen Bewilligung für die Militärversicherung tätig sein können. Art. 1344 Tarife 1 Für die Ausgestaltung der Tarife sind sinngemäss anwendbar: 38 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 39 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 40 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 41 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 3. Dez. 2004, in Kraft seit 1. Jan. 2005 (AS 2004 5081). 42 SR 832.102 43 Ausdruck gemäss Ziff. I der V vom 1. Nov. 2017, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6345). Die Änd. wurde im ganzen Text berücksichtigt. 44 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). Militärversicherung 8 / 22 833.11 a. Artikel 43 Absätze 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 18. März 199445 über die Krankenversicherung (KVG); b. Artikel 49 Absätze 1 und 3–6 KVG. 2 Die Tarife sind nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu bemessen, und es ist eine sachgerechte Struktur der Tarife zu beachten. Der Tarif darf höchstens die transparent ausgewiesenen Kosten der Leistung und die für eine effiziente Leistungserbringung erforderlichen Kosten decken. Art. 13a46 Kostenermittlung und Leistungserfassung Die Verordnung vom 3. Juli 200247 über die Kostenermittlung und die Leistungser- fassung durch Spitäler, Geburtshäuser und Pflegeheime in der Krankenversicherung ist für die in Artikel 22 Absätze 2 und 3 des Gesetzes genannten Spitäler und Kuran- stalten sinngemäss anwendbar. Die fachlich zuständigen Stellen des Bundes, der Ver- ein Medizinaltarif-Kommission UVG und die Tarifpartner sind berechtigt, die Unter- lagen einzusehen. Art. 13b48 Vergütung der ambulanten Behandlung 1 Für die Vergütung der ambulanten Behandlung schliesst die Militärversicherung mit den Medizinalpersonen, den medizinischen Hilfspersonen, den Spitälern und den Ku- ranstalten sowie den Transport- und Rettungsunternehmen Zusammenarbeits- und Ta- rifverträge auf gesamtschweizerischer Ebene ab. Die Einzelleistungstarife beruhen auf gesamtschweizerisch einheitlichen Strukturen. 2 Die Frist zur Kündigung von Zusammenarbeits- und Tarifverträgen beträgt mindes- tens sechs Monate. 3 Für die Datenbekanntgabe nach Artikel 26 Absatz 3bis des Gesetzes, die Übermitt- lung der Daten, die Sicherheit und die Aufbewahrung der Daten sind die Artikel 59f, 59g und 59i der Verordnung vom 27. Juni 199549 über die Krankenversicherung (KVV) sinngemäss anwendbar.50 Art. 13c51 Vergütung der stationären Behandlung 1 Für die Vergütung der stationären Behandlung, Unterkunft und Verpflegung in der allgemeinen Abteilung eines Spitals schliesst die Militärversicherung mit den 45 SR 832.10 46 Eingefügt durch Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 47 SR 832.104 48 Eingefügt durch Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 49 SR 832.102 50 Eingefügt durch Anhang Ziff. 2 der V vom 23. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 814). 51 Eingefügt durch Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). Militärversicherung. V 9 / 22 833.11 Spitälern Zusammenarbeits- und Tarifverträge ab und vereinbart Pauschalen. Die Pau- schalen sind leistungsbezogen und beruhen auf gesamtschweizerisch einheitlichen Strukturen. Die Spitaltarife orientieren sich an der Entschädigung derjenigen Spitäler, welche die Leistungen in der notwendigen Qualität effizient und günstig erbringen. 2 Die Vertragsparteien können vereinbaren, dass besondere diagnostische oder thera- peutische Leistungen nicht in der Pauschale enthalten sind, sondern getrennt in Rech- nung gestellt werden. 3 Die Leistungen nach den Absätzen 1 und 2 werden von der Militärversicherung zu 100 Prozent vergütet. 4 Die Frist zur Kündigung von Zusammenarbeits- und Tarifverträgen beträgt mindes- tens sechs Monate. Art. 14 Koordination der Tarife 1 …52 2 Die Militärversicherung vergütet Arzneimittel, pharmazeutische Spezialitäten und Laboranalysen nach den Listen, die aufgrund von Artikel 52 Absatz 1 des Bundesge- setzes über die Krankenversicherung vom 18. März 199453 aufgestellt sind.54 3 Das EDI kann für die Vergütung der zur Heilung dienlichen Mittel und Gegenstände einen Tarif aufstellen. 4 Versicherte, die sich in ein Spital ohne Tarifvereinbarung begeben, erhalten Vergü- tungen, wie sie für ein vergleichbares Spital mit Tarifvereinbarung entrichtet werden. Vorbehalten bleiben Notfälle.55 Art. 15 Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes beim Taggeld und bei der Invalidenrente 1 Der Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes nach Artikel 28 Absatz 4 des Gesetzes für die Ermittlung des Taggeldes und nach Artikel 40 Absatz 3 des Gesetzes für die Ermittlung der Invalidenrente beträgt 159 502 Franken.56 2 Der Verdienst, der den Betrag des höchstversicherten Verdienstes übersteigt, wird nicht berücksichtigt. Vorbehalten bleibt die Ermittlung des Grades der Arbeitsunfä- higkeit nach Artikel 28 Absatz 3 des Gesetzes oder des Grades der Invalidität nach Artikel 16 ATSG.57 52 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, mit Wirkung seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 53 SR 832.10 54 Fassung gemäss Anhang Ziff. 5 der V vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung, in Kraft seit 1. Jan. 1996 (AS 1995 3867). 55 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 56 Fassung gemäss Art. 5 Abs. 2 der MV-Anpassungsverordnung vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 705). 57 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). Militärversicherung 10 / 22 833.11 Art. 16 Versicherter Verdienst beim Taggeld 1 Als versicherter Verdienst gilt die Summe der dem Versicherten als Arbeitsentgelt aus Haupt- und Nebenerwerb zukommenden Leistungen. Er wird auf ein volles Jahr umgerechnet und durch 365 geteilt. 2 Bei Unselbständigerwerbenden gilt als versicherter Verdienst der Lohn vor Abzug der Arbeitnehmerbeiträge für die Sozialversicherungen. Die Arbeitgeberbeiträge wer- den nicht berücksichtigt. 3 Bei Selbständigerwerbenden gilt als versicherter Verdienst das betriebliche Netto- einkommen, das sich bei kaufmännischer Buchführung aus der Geschäftsbilanz und in den übrigen Fällen aus dem Roheinkommen abzüglich der Gewinnungskosten und gegebenenfalls der Abschreibungen, Verluste und Rückstellungen ergibt. Ist das Net- toeinkommen, namentlich in der Aufbauphase eines Betriebs, unverhältnismässig ge- ring, gilt als versicherter Verdienst der objektive Wert der vom Versicherten für den Betrieb erbrachten Arbeitsleistung. 4 Mit Ausnahme der Familienzulagen nach dem Familienzulagengesetz vom 24. März 200658 werden regelmässige Nebenbezüge wie Vergütungen für Überzeit, Sonntags-, Nacht- oder Schichtarbeit, Gefahrenzulagen und Ortszulagen berücksichtigt. Natural- einkommen und Spesen werden nach den üblichen fiskalischen Ansätzen bewertet.59 5 Bei Hausfrauen, Hausmännern, Söhnen oder Töchtern, die im Haushalt oder im fa- milieneigenen Betrieb ohne Normallohn mitarbeiten, gilt als versicherter Verdienst der Lohn, der einer fremden Arbeitskraft für die gleiche Tätigkeit in der betreffenden Familie bezahlt werden müsste. 6 Bei selbständigen Landwirten wird der versicherte Verdienst in der Regel nach Er- fahrungswerten aufgrund der Nutzfläche sowie der Berg- und Tallage des Betriebes und des Viehbestandes festgesetzt. Art. 17 Versicherter Jahresverdienst bei der Invalidenrente Für die Ermittlung des mutmasslich entgehenden Jahresverdienstes für die Bestim- mung der Invalidenrente gelten sinngemäss die Bestimmungen von Artikel 16. Art. 18 Taggeldberechtigung an Sonn- und Feiertagen sowie während der Ferien Das Taggeld wird für alle Tage des Jahres, einschliesslich Sonn- und Feiertage sowie Ferientage, ausgerichtet, solange die Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen ist. Art. 19 Beiträge an Sozialversicherungen bei Unselbständigerwerbenden 1 Zahlt der Arbeitgeber dem Versicherten das Taggeld aus oder verrechnet er es mit dem Lohn, so hat er darüber wie für einen Bestandteil des massgebenden Lohnes im 58 SR 836.2 59 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). Militärversicherung. V 11 / 22 833.11 Sinne der AHV mit seiner Ausgleichskasse abzurechnen. Die Militärversicherung ver- gütet dem Arbeitgeber zusammen mit dem Taggeld die darauf entfallenden Arbeitge- ber- und Arbeitnehmerbeiträge für die AHV, die Invalidenversicherung, die Erwerbs- ersatzordnung und die Arbeitslosenversicherung.60 2 Wird das Taggeld ausnahmsweise einem Versicherten direkt ausbezahlt, entrichtet die Militärversicherung die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge der Eidgenössi- schen Ausgleichskasse und rechnet mit ihr darüber ab.61 3 Die Artikel 6quater und 34d der Verordnung vom 31. Oktober 194762 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) über die Beiträge der erwerbstätigen Versi- cherten nach dem 64. beziehungsweise 65. Altersjahr und über den geringfügigen Lohn sind nicht anwendbar.63 Art. 20 Beiträge an Sozialversicherungen bei Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen 1 Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge für die AHV, die Invalidenversicherung und die Erwerbersatzordnung werden für einen Selbstständigerwerbenden oder einen Nichterwerbstätigen zum gleichen Ansatz wie für einen Arbeitnehmer berechnet. Die Militärversicherung entrichtet diese Beiträge der Eidgenössischen Ausgleichskasse und rechnet mit ihr darüber ab.64 2 Die Bestimmungen der Artikel 6quater und 19 AHVV65 betreffend Beiträge der er- werbstätigen Versicherten nach dem 65. beziehungsweise 64. Altersjahr und betref- fend geringfügige Entgelte aus Nebenerwerb sind nicht anwendbar.66 Art. 21 Abzüge bei Unterkunft und Verpflegung auf Kosten der Militärversicherung 1 Der Abzug bei vorübergehender Unterbringung in einer Heilanstalt, in einer Abklä- rungsstelle oder Eingliederungsstätte beträgt pro Aufenthaltstag (ohne Eintritts- und Austrittstag): a. 20 Prozent des Taggeldes oder der ungekürzten Invalidenrente, höchstens aber 20 Franken bei Alleinstehenden ohne Unterhalts- oder Unterstützungs- pflichten; 60 Fassung des Satzes gemäss Ziff. I der V vom 16. Nov. 2005, in Kraft seit 1. Jan. 2006 (AS 2005 5645). 61 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 16. Nov. 2005, in Kraft seit 1. Jan. 2006 (AS 2005 5645). 62 SR 831.101 63 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Sept. 2009, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5189). 64 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 65 SR 831.101 66 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). Militärversicherung 12 / 22 833.11 b. 10 Prozent des Taggeldes oder der ungekürzten Invalidenrente, höchstens aber 10 Franken bei Verheirateten und bei unterhalts- oder unterstützungs- pflichtigen Alleinstehenden. 2 Der Abzug bei dauernder Unterbringung in einer Heilanstalt, einer psychiatrischen Klinik, einem Alters- und Pflegeheim oder einer ähnlichen Institution beträgt pro Auf- enthaltstag: a. 40 Prozent des Taggeldes oder der ungekürzten Invalidenrente, höchstens aber 40 Franken bei Alleinstehenden ohne Unterhalts- oder Unterstützungs- pflichten; b. 30 Prozent des Taggeldes oder der ungekürzten Invalidenrente, höchstens aber 30 Franken bei Verheirateten und bei unterhalts- oder unterstützungs- pflichtigen Alleinstehenden. 3 Bei Verheirateten oder Alleinstehenden, die für minderjährige oder in Ausbildung stehende Kinder zu sorgen haben, wird kein Abzug vorgenommen. Art. 22 Beizug der Eingliederungseinrichtungen der Invalidenversicherung Die Militärversicherung ist berechtigt, die kantonalen und die gemeinsamen Invali- denversicherungs-Stellen sowie deren medizinische und berufliche Abklärungsstellen zur Abklärung der Eingliederungsfähigkeit sowie zur Durchführung und Koordinie- rung beruflicher Eingliederungsmassnahmen beizuziehen. Art. 23 Renten auf bestimmte oder unbestimmte Zeit 1 Invalidenrenten werden auf bestimmte Zeit festgesetzt, wenn das Ausmass der Inva- lidität wegen nicht stabiler Gesundheitsschäden oder Erwerbsverhältnisse nicht zu- verlässig für dauernd abgeschätzt werden kann. 2 Liegt der Rentenbeginn nach Erreichen des AHV-Rentenalters, ist die Zusprechung einer Rente auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen. Art. 24 Anpassung der Renten an die Lohn- und Preisentwicklung 1 Für die Anpassung der Renten an die Lohn- und Preisentwicklung im Sinne von Artikel 43 des Gesetzes ist das Jahr massgebend, in dem die Renten mit Verfügung nach Artikel 49 ATSG letztmals zugesprochen wurden (Spruchjahr).67 2 Bei der Rentenanpassung werden die unterschiedlichen prozentualen Auswirkungen der Entwicklung des Nominallohnindexes bzw. des Landesindexes der Konsumenten- preise für die Rentner je nach Spruchjahr berücksichtigt. 3 Bei auf unbestimmte Zeit festgesetzten Renten, die auf dem Höchstbetrag des versi- cherten Jahresverdienstes berechnet worden sind, ist die Anpassung auf dem Ver- 67 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). Militärversicherung. V 13 / 22 833.11 dienst vorzunehmen, der ohne Berücksichtigung des Höchstverdienstes massgebend wäre. 4 Auf bestimmte Zeit festgesetzte Renten werden nicht angepasst. 5 Alle nicht anpassungsberechtigten und bisher auf dem Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes berechneten Renten werden neu auf dem Jahresverdienst berechnet, der ihnen bei der Festsetzung ohne die Berücksichtigung des Höchstverdienstes hätte zugrunde gelegt werden müssen. 6 Bei allen Renten ist höchstens der neue Höchstbetrag des versicherten Jahresver- dienstes zu berücksichtigen. 7 Die Mitteilung der Rentenanpassung erfolgt im formlosen Verfahren nach Artikel 51 ATSG.68 Art. 25 Festsetzung der Integritätsschadenrenten 1 Eine erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen In- tegrität im Sinne von Artikel 48 Absatz 1 des Gesetzes liegt vor, wenn sie mindestens einem Zwanzigstel des vollständigen Verlustes einer Lebensfunktion wie des Gehörs oder des Sehvermögens entspricht.69 2 Der niedrigste Ansatz für eine Integritätsschadenrente beträgt 2,5 Prozent des Jah- resrentenansatzes nach Artikel 49 Absatz 4 des Gesetzes. Die Integritätsschadenren- ten für Beeinträchtigungen einzelner Lebensfunktionen werden nach der Schwere der Integritätsschäden in Abstufungen von 2,5 Prozent zwischen 2,5 und 50 Prozent des Jahresrentenansatzes festgesetzt. 3 Liegen mehrere erhebliche Integritätsschäden vor, so werden die Prozentsätze der einzelnen Integritätsschäden für die Festsetzung der Integritätsschadenrente zusam- mengezählt. Der Höchstwert für Integritätsschadenrenten beträgt 100 Prozent des Jah- resrentenansatzes. Art. 26 Jahresrentenansatz und Rentenbetreffnis 1 Der Jahresrentenansatz für die Integritätsschadenrenten beträgt 21 378 Franken. Die Jahresrente ergibt sich aus dem Jahresrentenansatz, dem ermittelten Prozentsatz des Integritätsschadens und dem Prozentsatz der Bundeshaftung.70 2 Die Anpassung des Jahresrentenansatzes nach Artikel 49 Absatz 4 des Gesetzes er- folgt jeweils auf den gleichen Zeitpunkt wie die Rentenanpassung nach Artikel 43 des Gesetzes. 68 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 69 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Mai 2003, in Kraft seit 1. Jan. 2004 (AS 2003 3883). 70 Fassung gemäss Art. 5 Abs. 2 der MV-Anpassungsverordnung vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 705). Militärversicherung 14 / 22 833.11 Art. 27 Auskauf der Integritätsschadenrente Der Barwert der Rente wird auf der Basis des Jahresrentenansatzes berechnet, der beim Erlass der Auskaufsverfügung gilt. Wird eine Rente rückwirkend zugesprochen, so sind die monatlichen Rentenbetreffnisse bis zu diesem Zeitpunkt nachzuzahlen. Art. 28 Medizinische Untersuchung vor der Rekrutierung71 1 Die zuständigen Militärorgane machen die Stellungspflichtigen bei der Vororientie- rung oder am Orientierungstag darauf aufmerksam, dass sie sich im Sinne von Artikel 63 des Gesetzes vor den Rekrutierungstagen zu Lasten der Militärversicherung medi- zinisch untersuchen lassen können.72 2 Wer eine solche Untersuchung wünscht, muss bei der Sanität der LBA ein schriftli- ches Gesuch einreichen.73 3 Die Sanität der LBA entscheidet über das Gesuch und bestimmt Art und Umfang der medizinischen Untersuchung.74 2a. Abschnitt:75 Prämien der beruflich Versicherten und der bei der freiwilligen Grundversicherung Versicherten Art. 28a Prämie für Leistungen bei Krankheit 1 Die monatliche Prämie für Leistungen bei Krankheit beträgt 380 Franken.76 2 Bei beruflich Versicherten, deren Lohn in einer der folgenden Bandbreiten liegt, wird die Prämie wie folgt reduziert: a. bei einem Lohn bis zum Höchstbetrag der Lohnklasse 10: um 48 Prozent; b. bei einem Lohn, der den Höchstbetrag nach Buchstabe a übersteigt, bis zum Höchstbetrag der Lohnklasse 13: um 27 Prozent; c. bei einem Lohn, der den Höchstbetrag nach Buchstabe b übersteigt, bis zum Höchstbetrag der Lohnklasse 16: um 12 Prozent. 71 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 72 Fassung gemäss Anhang 2 Ziff. 7 der V vom 10. April 2002 über die Rekrutierung, in Kraft seit 1. Mai 2002 (AS 2002 723). 73 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 74 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 75 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 1. Nov. 2017, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6345). 76 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 633). Militärversicherung. V 15 / 22 833.11 3 Massgebend für die Reduktion ist der Lohn nach Artikel 36 der Bundespersonalver- ordnung vom 3. Juli 200177 (BPV) einschliesslich Funktionszulagen, Sonderzulagen und Arbeitsmarktzulagen nach den Artikeln 46, 48 und 50 BPV. 4 Derjenige Teil der Prämie von teilzeitlich angestellten beruflich Versicherten, der das Risiko für Krankheit betrifft, ist gleich hoch wie für vollzeitlich angestellte. Art. 28b78 Prämie für Leistungen bei Unfall der bei der freiwilligen Grundversicherung Versicherten Der Zuschlag zur Prämie für Leistungen bei Krankheit, der als Prämie für Leistungen bei Unfall der bei der freiwilligen Grundversicherung Versicherten (freiwillig Versi- cherte) vorgesehen ist, beträgt 46 Franken pro Monat. Art. 28c Prämienerhebung bei beruflich Versicherten 1 Die Prämie ist monatlich geschuldet und wird direkt vom Lohn abgezogen. 2 Die Prämienpflicht für Leistungen bei Krankheit gemäss Artikel 66b Absatz 2 des Gesetzes wird bei Tätigkeiten nach Artikel 1a Absatz 1 Buchstaben a und c–m des Gesetzes, die während mehr als 60 aufeinanderfolgenden Tagen ausgeübt werden, ausgesetzt. Art. 28d Prämienerhebung bei freiwillig Versicherten Die Prämien sind monatlich geschuldet und werden von der Altersrente der Pensions- kasse PUBLICA oder, falls deren Betrag nicht ausreicht, von der Rente der Militär- versicherung abgezogen. Art. 28e Anpassung der Prämie und des Zuschlags 1 Die Abteilung Militärversicherung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) unterbreitet dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) jährlich bis Ende Juli einen Vorschlag für die Prämienanpassungen im Folgejahr. Grundlage des Vorschlags bil- det eine kommentierte Zusammenstellung über: a. die nach Artikel 66b Absatz 1 des Gesetzes massgebenden Kosten für Krank- heiten der beruflich Versicherten und der freiwillig Versicherten; b. die nach Artikel 66b Absatz 1 des Gesetzes massgebenden Kosten für Unfälle der freiwillig Versicherten einschliesslich der Kosten für Rückfälle und Spät- folgen dieser Unfälle; c. die Anzahl Krankheitsfälle der beruflich Versicherten und der freiwillig Ver- sicherten; 77 SR 172.220.111.3 78 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 3. Nov. 2021, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 655). Militärversicherung 16 / 22 833.11 d. die Anzahl Unfälle sowie die Anzahl Rückfälle und Spätfolgen der freiwillig Versicherten; e. die Einnahmen aus den Prämien für die Krankenversicherung der beruflich Versicherten und der freiwillig Versicherten sowie aus den Zuschlägen für die Unfallversicherung der freiwillig Versicherten; f. die Anzahl Versicherter, die eine Prämienreduktion erhalten, sowie die Summe der gewährten Prämienreduktionen; g. die Anzahl beruflich Versicherter und die Anzahl freiwillig Versicherter. 2 Die Angaben nach Absatz 1 werden aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse bezie- hungsweise der Schätzungen getrennt geliefert für das Vorjahr, das laufende Jahr und das Folgejahr. 3 Die kommentierte Zusammenstellung enthält zudem auch eine Schätzung in Bezug auf: a. die Anpassung der Prämie nach Artikel 28a, um zu gewährleisten, dass die Einnahmen einen Kostendeckungsgrad von mindestens 80 Prozent erreichen; für die Berechnung der Einnahmen wird für reduzierte Prämien der jeweilige reduzierte Betrag berücksichtigt; b. die Anpassung des Zuschlags nach Artikel 28b, um die Bemessungsvorgaben nach Artikel 66c Absatz 2 des Gesetzes zu erfüllen. 4 Das EDI beantragt dem Bundesrat jährlich die notwendigen Anpassungen der Prä- mie nach Artikel 28a und des Zuschlags nach Artikel 28b für das Folgejahr. 3. Abschnitt: Verhältnis zu Dritten Art. 2979 Koordination im Allgemeinen 1 Bei der Berechnung der Überentschädigung nach Artikel 69 ATSG sind die durch den Versicherungsfall verursachten Mehrkosten und allfälligen Einkommenseinbus- sen von Angehörigen des Versicherten so weit zu berücksichtigen, als die Kosten und Einbussen nicht durch andere Militärversicherungsleistungen gedeckt werden. 2 Die Militärversicherung kann das Mass ihrer Leistungen von der Anmeldung des Falles bei anderen Sozialversicherungen abhängig machen. Art. 30 Anpassung der Kürzungsberechnung Ändert sich die Zusammensetzung der zusammenfallenden Leistungen durch eine Re- vision der Rente der Invalidenversicherung oder der Alters- und Hinterlassenenversi- cherung sowie durch die Gewährung oder den Wegfall von Zusatzrenten oder ändern sich die tatsächlichen Grundlagen der Überentschädigungsverfügung, so ist die 79 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). Militärversicherung. V 17 / 22 833.11 Kürzungsberechnung als Grundlage für die Ausrichtung von Taggeldern oder einer Rente anzupassen. Art. 31 Koordination mit der Unfallversicherung 1 Unmittelbar leistungspflichtig nach Artikel 76 des Gesetzes ist der Versicherer, der für die aktuelle Verschlimmerung der Gesundheitsschädigung Leistungen zu erbrin- gen hat.80 2 Solange der Versicherer für die aktuelle Verschlimmerung der Gesundheitsschädi- gung leistungspflichtig ist, erbringt er auch die Leistungen für Spätfolgen und Rück- fälle aus einem früheren Unfall. Nachher werden die Leistungen von jenem Versiche- rer erbracht, der für den früheren Unfall leistungspflichtig war. 3 Verunfallt ein aus einem früheren Unfall Rentenberechtigter erneut und führt der neue Unfall zu einer Änderung des Invaliditätsgrades, so muss der für den ersten Un- fall leistungspflichtige Versicherer die frühere Rente weiterhin erbringen. Der zweite Versicherer muss eine Rente entrichten, die der Differenz zwischen der Gesamtinva- lidität und der vor dem zweiten Unfall bestehenden Invalidität entspricht. Richtet die Militärversicherung nach Artikel 4 Absatz 3 des Gesetzes die volle Rente für die Schädigung des zweiten paarigen Organes aus, so überweist ihr der Unfallversicherer, der für die zweite Schädigung eine Rente zu erbringen hätte, den Barwert dieser Rente ohne Teuerungszulage, bemessen nach den für ihn geltenden gesetzlichen Bestim- mungen. 4 Steht ein Unfall im Zusammenhang mit einer vorbestandenen Gesundheitsschädi- gung, so ist der Versicherer, unter dessen Versicherungsschutz sich der neue Unfall ereignete, nur für die Folgen dieses Unfalles leistungspflichtig. 5 Besteht ein Rentenanspruch sowohl gegen die Unfallversicherung wie auch gegen die Militärversicherung, so meldet der Unfallversicherer seine Rente oder Komple- mentärrente der Militärversicherung. Beide Versicherer berechnen ihre Rente nach den für sie geltenden gesetzlichen Bestimmungen. 6 …81 Art. 3282 Anrechnung von Leistungen der AHV, IV oder UV 1 Treffen Leistungen der Militärversicherung mit solchen der Alters- und Hinterlas- senenversicherung, der Invalidenversicherung oder der Unfallversicherung zusam- men, so werden unter Vorbehalt der Absätze 2 und 3 voll angerechnet:83 80 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 81 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, mit Wirkung seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 82 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 83 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Mai 2003, in Kraft seit 1. Jan. 2004 (AS 2003 3883). Militärversicherung 18 / 22 833.11 a.84 die mit den Renten der Militärversicherung zusammenfallenden Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung, der Invalidenversicherung und der Unfallversicherung; die Renten der Witwe oder des Witwers und der Waisen werden zusammengerechnet; b. Teuerungszulagen; c. Erwerbseinkünfte, die der teilweise erwerbsfähige Bezüger einer Rente der Militärversicherung und der Invalidenversicherung oder der Unfallversiche- rung erzielt oder zumutbarerweise noch erzielen könnte. 2 Bei der Kürzungsberechnung ist auf den Jahresverdienst abzustellen, welcher der Rente der Militärversicherung zugrunde liegt oder bei Nichtberücksichtigung des nach Artikel 28 Absatz 4 des Gesetzes höchstanrechenbaren Jahresverdienstes zu- grunde zu legen wäre. Diese Kürzungsgrenze folgt den Anpassungen nach Artikel 43 Absatz 3 des Gesetzes und ist nicht selbstständig revidierbar. 3 Die Kürzungsbestimmungen für die Renten gelten sinngemäss auch für das Taggeld. 4. Abschnitt: Verwaltungsverfahren und Rechtspflege85 Art. 32a86 Vorbescheid Die Militärversicherung kann dem Gesuchsteller das Ergebnis der Abklärung vor Er- öffnung des Entscheides schriftlich mitteilen und eine Frist ansetzen, innert derer er sich dazu äussern, Akteneinsicht verlangen oder ergänzende Abklärungen beantragen kann. Art. 33 Unentgeltlicher Rechtsbeistand im Verwaltungsverfahren 1 Der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand besteht, wenn folgende Voraus- setzungen erfüllt sind:87 a. der Gesuchsteller muss bedürftig und rechtsunkundig sein, b. die Begehren dürfen nicht aussichtslos erscheinen, und c. der Versicherungsfall muss für den Gesuchsteller von erheblicher Tragweite sein und schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen betreffen. 84 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Mai 2003, in Kraft seit 1. Jan. 2004 (AS 2003 3883). 85 Ursprünglich vor Art. 33. Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 86 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 87 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). Militärversicherung. V 19 / 22 833.11 1bis Wenn die Militärversicherung einen Vorbescheid nach Artikel 32a erlässt, besteht der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand ab Zustellung des Vorbescheids.88 2 Die Militärversicherung entscheidet über Gesuche um unentgeltlichen Rechtsbei- stand durch Zwischenverfügung. 3 Wird das Gesuch bewilligt, so kann der Versicherte den Rechtsbeistand frei wählen. Macht er davon keinen Gebrauch, überträgt die Militärversicherung das Mandat ei- nem Anwalt ihrer Wahl. 4 …89 Art. 3490 Beschwerde durch das BAG 1 Die kantonalen Schiedsgerichte nach Artikel 27 des Gesetzes und die kantonalen Versicherungsgerichte nach Artikel 57 ATSG stellen ihre Entscheide dem BAG zu.91 2 Das BAG ist berechtigt, gegen diese Entscheide Beschwerde beim Bundesgericht zu erheben. 4a. Abschnitt:92 Datenbekanntgabe Art. 34a Kosten der Bekanntgabe und Publikation von Daten 1 In den Fällen nach Artikel 95a Absatz 6 des Gesetzes wird eine Gebühr erhoben, wenn die Datenbekanntgabe zahlreiche Kopien oder andere Vervielfältigungen oder besondere Nachforschungen erfordert. Die Höhe dieser Gebühr entspricht den in den Artikeln 14 und 16 der Verordnung vom 10. September 196993 über Kosten und Ent- schädigungen im Verwaltungsverfahren festgesetzten Beträgen. 2 Für Publikationen nach Artikel 95a Absatz 4 des Gesetzes wird eine kostendeckende Gebühr erhoben. 3 Die Gebühr kann wegen Bedürftigkeit der gebührenpflichtigen Person oder aus wichtigen Gründen ermässigt oder erlassen werden. 88 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3937). 89 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 3 der V vom 9. Nov. 2016, mit Wirkung seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4393). 90 Ursprünglich Art. 35. Fassung gemäss Ziff. II 99 der V vom 8. Nov. 2006 über die An- passung von Bundesratsverordnungen an die Totalrevision der Bundesrechtspflege, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 4705). 91 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 1. Nov. 2017, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6345). 92 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, in Kraft seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 2919). 93 SR 172.041.0 Militärversicherung 20 / 22 833.11 Art. 34b94 Art. 3595 5. Abschnitt:96 Führung der Militärversicherung97 Art. 35a98 Aufgaben 1 Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) führt die Militärversiche- rung als eigene Sozialversicherung gemäss der zwischen ihr und dem Bund geschlos- senen Vereinbarung. 2 Im Rahmen der Vereinbarung bestimmt die SUVA die Organisation und die Stellung des Personals. 3 Bei Schadenersatzforderungen wegen Gesundheitsschädigungen von Zivilpersonen, für die der Bund nach dem MG99 haftet, klärt die Militärversicherung für das Scha- denzentrum des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungs- schutz und Sport den Sachverhalt ab und nimmt gegebenenfalls die medizinische Be- urteilung vor. Art. 35b100 6. Abschnitt:101 Schlussbestimmungen Art. 36 Aufhebung bisherigen Rechts Die Verordnung vom 20. März 1964102 über die Militärversicherung und der Bundes- ratsbeschluss vom 8. Mai 1968103 betreffend die Unterstellung von Zivilpersonen un- ter die Militärversicherung werden aufgehoben. 94 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 27. April 2005, mit Wirkung seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 95 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, mit Wirkung seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 2919). 96 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 6. Juni 1994, in Kraft seit 1. Juli 1994 (AS 1994 1400). 97 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 98 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 27. April 2005, in Kraft seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 99 SR 510.10 100 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 27. April 2005, mit Wirkung seit 1. Juli 2005 (AS 2005 2885). 101 Ursprünglich 5. Abschn. 102 [AS 1964 265; 1971 994; 1983 1826; 1992 2100] 103 [AS 1968 606; 1979 14] Militärversicherung. V 21 / 22 833.11 Art. 37104 Art. 38105 Art. 39 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 1994 in Kraft. 104 Aufgehoben durch Ziff. IV 54 der V vom 22. Aug. 2007 zur formellen Bereinigung des Bundesrechts, mit Wirkung seit 1. Jan. 2008 (AS 2007 4477). 105 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 19. Nov. 1997, mit Wirkung seit 1. Jan. 1998 (AS 1997 2751). Militärversicherung 22 / 22 833.11 1. Abschnitt: Voraussetzungen der Bundeshaftung Art. 1 Militär- und Zivilschutzdienst Art. 2 Angehörige des Instruktionskorps der Armee, Instruktoren des Zivilschutzes und übriges Lehrpersonal der Armee Art. 3 Vordienstliche Ausbildung Art. 4 Ausserdienstliche Schiessübungen Art. 5 Freiwillige militärische oder wehrsportliche Tätigkeit ausser Dienst Art. 6 Zivilpersonen im Einsatz oder in Ausbildung für Armee und Zivilschutz Art. 7 Friedenserhaltende Aktionen und Gute Dienste Art. 7a Zivildienst Art. 8 Freiwillige Grundversicherung Art. 8a Art. 9 Ruhen der Versicherung 2. Abschnitt: Versicherungsleistungen Art. 9a Grundsätze der Versorgung Art. 10 Koordination mit Leistungen der Truppe, der Sanität der Logistikbasis der Armee (LBA), des Zivilschutzes, des Zivildienstes und der Erwerbsersatzordnung Art. 11 Spitäler, Kuranstalten und Abklärungsstellen Art. 12 Chiropraktoren, Chiropraktorinnen, Hebammen und medizinische Hilfspersonen sowie Laboratorien Art. 13 Tarife Art. 13a Kostenermittlung und Leistungserfassung Art. 13b Vergütung der ambulanten Behandlung Art. 13c Vergütung der stationären Behandlung Art. 14 Koordination der Tarife Art. 15 Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes beim Taggeld und bei der Invalidenrente Art. 16 Versicherter Verdienst beim Taggeld Art. 17 Versicherter Jahresverdienst bei der Invalidenrente Art. 18 Taggeldberechtigung an Sonn- und Feiertagen sowie während der Ferien Art. 19 Beiträge an Sozialversicherungen bei Unselbständigerwerbenden Art. 20 Beiträge an Sozialversicherungen bei Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen Art. 21 Abzüge bei Unterkunft und Verpflegung auf Kosten der Militärversicherung Art. 22 Beizug der Eingliederungseinrichtungen der Invalidenversicherung Art. 23 Renten auf bestimmte oder unbestimmte Zeit Art. 24 Anpassung der Renten an die Lohn- und Preisentwicklung Art. 25 Festsetzung der Integritätsschadenrenten Art. 26 Jahresrentenansatz und Rentenbetreffnis Art. 27 Auskauf der Integritätsschadenrente Art. 28 Medizinische Untersuchung vor der Rekrutierung 2a. Abschnitt: Prämien der beruflich Versicherten und der bei der freiwilligen Grundversicherung Versicherten Art. 28a Prämie für Leistungen bei Krankheit Art. 28b Prämie für Leistungen bei Unfall der bei der freiwilligen Grundversicherung Versicherten Art. 28c Prämienerhebung bei beruflich Versicherten Art. 28d Prämienerhebung bei freiwillig Versicherten Art. 28e Anpassung der Prämie und des Zuschlags 3. Abschnitt: Verhältnis zu Dritten Art. 29 Koordination im Allgemeinen Art. 30 Anpassung der Kürzungsberechnung Art. 31 Koordination mit der Unfallversicherung Art. 32 Anrechnung von Leistungen der AHV, IV oder UV 4. Abschnitt: Verwaltungsverfahren und Rechtspflege Art. 32a Vorbescheid Art. 33 Unentgeltlicher Rechtsbeistand im Verwaltungsverfahren Art. 34 Beschwerde durch das BAG 4a. Abschnitt: Datenbekanntgabe Art. 34a Kosten der Bekanntgabe und Publikation von Daten Art. 34b Art. 35 5. Abschnitt: Führung der Militärversicherung Art. 35a Aufgaben Art. 35b 6. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 36 Aufhebung bisherigen Rechts Art. 37 Art. 38 Art. 39 Inkrafttreten | de |
33dd01a8-9eed-4af5-9c28-a14c6be907f1 | de |
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1f8cbdaf-31ce-424c-949c-1e763a1ab05a | Sachverhalt
ab Seite 280
BGE 120 V 280 S. 280
A.-
a) Im Jahr 1983 trat zutage, dass die drei Söhne der Familie H., X (geb. 1977) und die Zwillinge Y und Z (geb. 1980) an zystischer Fibrose leiden, auch Mukoviszidose genannt, einer angeborenen
BGE 120 V 280 S. 281
Stoffwechselkrankheit, die als Geburtsgebrechen anerkannt ist (Ziff. 459 GgV Anhang). In der Folge übernahm die Invalidenversicherung die zur Behandlung dieses Geburtsgebrechens erforderlichen medizinischen Massnahmen und sprach Pflegebeiträge bei mittelschwerer Hilflosigkeit zu.
b) Im Zuge einer revisionsweisen Überprüfung der Pflegebeiträge erstatteten die Eltern, die zusammen mit ihren Kindern im Oktober 1984 die Agglomeration Bern verlassen und in T. Wohnsitz genommen hatten, zuhanden der Invalidenversicherung einen ausführlichen Bericht mit Datum vom 17. Januar 1987. Dieser vermittelte Aufschluss über die atem-, physiotherapeutische und medikamentöse Behandlung, deren die drei Knaben tagtäglich bedurften. Den dadurch verursachten Zeitaufwand schätzten die Eltern auf viereinhalb Stunden täglich oder 32-33 Stunden in der Woche, worin sie sich damals mit drei zugezogenen Therapeutinnen teilten.
Am 13. November 1990 schrieb der Sozialdienst der Kinderklinik am Inselspital Bern der Invalidenversicherung, dass die Eltern die erforderliche Therapie mangels verfügbarer Fachkräfte seit gut zwei Jahren vollständig selber erbrächten. Dies sei nur möglich, weil der Vater seine Arbeitszeit vermindert habe; Frau H. ihrerseits habe seit der Diagnosestellung regelmässig durch eine Haushalthilfe entlastet werden müssen. Wegen der grossen Belastung seien beide Elternteile mehrmals erkrankt, weshalb zuweilen Bedarf nach einer ganztägigen Haushalthilfe bestanden habe; die entsprechenden Kosten seien bisher von der Familie H. selber getragen worden. Es werde daher um Übernahme und - soweit möglich - um Rückerstattung der Kosten für eine Haushalthilfe ersucht. Der Vater der drei Söhne seinerseits untermauerte dieses Gesuch mit dem Hinweis darauf, dass seine Frau erneut infolge schwerwiegender Erkrankungen zum zweiten Mal seit Ende 1990 arbeitsunfähig geworden sei (Schreiben vom 7. Februar 1991). Ferner reichte er am 7. Mai 1991 einen Bericht von Dr. med. R. von der Medizinischen Universitäts-Kinderklinik vom 17. April 1991 nach, worin der tägliche Pflegeaufwand für die gesamthafte und einzelne Betreuung der drei Kinder auf 9-12 Stunden täglich geschätzt wurde.
c) Die Invalidenversicherungs-Kommission unterbreitete die Sache dem Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) zur Prüfung. Dieses kam in seiner Antwort vom 19. August 1991 zum Schluss, für den Zeitraum vom 1. Januar 1990 bis zum 30. Juni 1991 seien die Beiträge an die Hauspflege nach altem Recht, also nach
Art. 4 IVV
in der vom 1. Januar 1990 bis 30. Juni 1991 gültig gewesenen Fassung zu berechnen, was vorliegend (für alle drei Kinder
BGE 120 V 280 S. 282
zusammen) zu einer monatlichen Entschädigung von Fr. 800.-- führe. Gemäss anwendbarem Verordnungsrecht könne dieser Betrag unabhängig vom Beizug einer Hilfskraft ausgerichtet werden, sei doch danach einzig der invaliditätsbedingte zeitliche Mehraufwand für die Behandlungspflege der Kinder massgebend. Was die Zeit ab 1. Juli 1991 anbelange, könnten zwar bei der Berechnung des entschädigungsberechtigten Betreuungsaufwandes neu auch die Bemühungen im Bereich der Grundpflege (Ernährung, Körperpflege), und nicht mehr nur wie bisher der Behandlungspflege, miteinbezogen werden; das bedeute, dass Familie H. ab Juli 1991, unter Annahme eines hohen Betreuungsaufwandes im Sinne von
Art. 4 Abs. 4 lit. b IVV
, eine monatliche Entschädigung von maximal Fr. 1'200.-- beanspruchen könne. Hingegen dürften nach dieser Fassung der Verordnungsbestimmung nur die tatsächlichen Kosten für zusätzlich benötigte Hilfskräfte (gegen Rechnungstellung) vergütet werden.
Demgemäss sprach das IV-Sekretariat unter dem Titel "Medizinische Massnahmen in Hauspflege" ab Januar 1990 bis Juli 1991 Beiträge von Fr. 800.-- und für die Zeit ab Juli 1991 bis 30. Juni 1994 (voraussichtliches Revisionsdatum) Fr. 1'200.-- monatlich zu, dies bei einem hohen Betreuungsaufwand von rund sieben Stunden pro Tag. Diese Mitteilung vom 17. September 1991 versah die Verwaltung mit einer Anmerkung, wonach der ab Juli 1991 gewährte Betrag von Fr. 1'200.-- gegen Vorlage entsprechender Belege - bis zur Höhe der tatsächlichen Kosten der Heimpflege ausgerichtet werden könne.
Auf Ersuchen des Vaters der Beschwerdeführer erliess die Ausgleichskasse des Kantons Bern am 25. Oktober 1991 entsprechende Verfügungen.
B.-
Beschwerdeweise beantragte der Vater der Beschwerdeführer, dass der Beitrag an die Hauspflege ab Juli 1991 auf Fr. 1'600.-- monatlich festzusetzen (entsprechend dem höchstmöglichen Ansatz bei sehr hohem Betreuungsaufwand) und dieser Beitrag, soweit externe Pflegekräfte nicht zur Verfügung stünden und an deren Stelle die Eltern tätig würden, an ihn und seine Frau selber auszurichten sei.
Nach Einholung einer ablehnenden Beschwerdeantwort der Kasse und Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels, in dessen Verlauf die Parteien an ihren Auffassungen festhielten, sowie nach Beizug einer weiteren Stellungnahme des BSV vom 2. Juli 1992 und eines vom Vater der Beschwerdeführer unterbreiteten Berichts des Inselspitals vom 4. September
BGE 120 V 280 S. 283
1992 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde mit Entscheid vom 13. April 1993 ab. In seiner Begründung folgte das Gericht im wesentlichen der Auffassung der Verwaltung.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde wendet sich der Vater der Beschwerdeführer gegen den kantonalen Gerichtsentscheid, indem er die im vorinstanzlichen Verfahren gestellten Anträge erneuert, dies mit der Präzisierung, dass der ab Juli 1991 auszurichtende Hauspflegebeitrag ab Januar 1992 auf Fr. 1'800.-- festzusetzen sei.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das BSV, welches sich ebenfalls vernehmen lässt, stellt denselben Antrag, verbunden mit einem Eventualbegehren formeller Natur. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Nachdem der Vater der Beschwerdeführer über die Hauspflegebeitragsberechtigung vom 1. Januar 1990 bis 30. Juni 1991 keine anfechtbare Verfügung verlangte und die entsprechende Leistungszusprechung gemäss den Kassenverfügungen vom 25. Oktober 1991 sowohl im vor- als auch im letztinstanzlichen Verfahren unbeanstandet geblieben ist, bedarf es dazu im folgenden keiner weiteren Ausführungen.
2.
(Kognition)
3.
Nach
Art. 14 Abs. 1 lit. a IVG
umfassen die von der Invalidenversicherung gestützt auf
Art. 12 IVG
oder
Art. 13 IVG
übernommenen medizinischen Eingliederungsmassnahmen die Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird. Beim Entscheid über die Gewährung von ärztlicher Behandlung in Anstalts- oder Hauspflege ist auf den Vorschlag des behandelnden Arztes und auf die persönlichen Verhältnisse des Versicherten in billiger Weise Rücksicht zu nehmen. Zusätzliche Kosten, die aus der Hauspflege entstehen, können ganz oder teilweise von der Versicherung übernommen werden (
Art. 14 Abs. 3 IVG
).
Gemäss dem gestützt auf
Art. 14 Abs. 3 IVG
erlassenen
Art. 4 IVV
, in der ab 1. Juli 1991 gültigen, im vorliegenden Fall massgebenden Fassung, übernimmt die Invalidenversicherung die Kosten für zusätzlich benötigte Hilfskräfte bis zu einer im Einzelfall festzusetzenden Höchstgrenze, sofern der
BGE 120 V 280 S. 284
invaliditätsbedingt zu leistende Betreuungsaufwand in Hauspflege voraussichtlich während mehr als drei Monaten das zumutbare Mass überschreitet (Abs. 1). Das zumutbare Mass an Betreuungsaufwand ist überschritten, sobald im Tagesdurchschnitt invaliditätsbedingt zusätzliche Pflege von mehr als zwei Stunden oder eine dauernde Überwachung notwendig ist (Abs. 2). Die Höchstgrenze der Entschädigung im Einzelfall richtet sich nach dem Ausmass des Betreuungsaufwandes. Sie entspricht bei sehr hohem Betreuungsaufwand dem vollen, bei hohem Betreuungsaufwand drei Vierteln, bei mittlerem Betreuungsaufwand der Hälfte und bei geringem Betreuungsaufwand einem Viertel des Höchstbetrages der einfachen Altersrente gemäss
Art. 34 Abs. 3 AHVG
(Abs. 3). Der Betreuungsaufwand gilt als sehr hoch, wenn eine intensive Pflege von täglich durchschnittlich mindestens 8 Stunden notwendig ist (Abs. 4 lit. a) und als hoch, wenn eine intensive Pflege von täglich durchschnittlich mindestens 6 Stunden notwendig ist (Abs. 4 lit. b).
a) Selbst wenn es aufgrund des Wortlauts der seit 1. Juli 1991 in Kraft stehenden Fassung von
Art. 4 IVV
- im Gegensatz zu der zuvor gültig gewesenen Version (vgl. ZAK 1992 S. 86) - nicht mehr ins Auge springen mag, ergibt sich aus einer am höherrangigen Gesetz orientierten Auslegung (
BGE 115 V 295
Erw. 3d) ohne weiteres, dass diese Bestimmung (unter Vorbehalt des hier nicht in Frage stehenden
Art. 11 IVG
) nur die in Hauspflege durchgeführten medizinischen Massnahmen (im Sinne von
Art. 12 oder 13 IVG
) beschlagen kann (unveröffentlichtes Urteil Sch. vom 30. Juli 1993). Diese Grundvoraussetzung der Hauspflegebeitragsberechtigung (
Art. 14 Abs. 3 IVG
) ist im vorliegenden Fall fraglos gegeben, steht doch aufgrund der Akten fest, dass bei allen drei Beschwerdeführern zu Hause medizinische Massnahmen (zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziff. 459 GgV Anhang) durchgeführt werden.
b) Aus den Beschreibungen des Alltags der Familie H. ebenso wie aus den verschiedenen Berichten der Ärzte und Beratungsstellen erhellt, dass die aus der Durchführung der medizinischen Massnahmen in Hauspflege sich ergebenden Aufwendungen teils der Behandlungs-, teils der Grundpflege zuzurechnen sind. Eine Ausscheidung dieser beiden Pflegebereiche ist entbehrlich, weil - wie das kantonale Gericht zu Recht festgestellt hat - eine der mit
Art. 4 IVV
in der jüngsten Fassung verfolgten Regelungsabsichten gerade darin lag, nicht nur die Behandlungs- sondern auch die bei Durchführung einer medizinischen Massnahme erforderliche Grundpflege entschädigen zu können (ZAK 1991 S. 301 ff.; unveröffentlichtes
BGE 120 V 280 S. 285
Urteil K. vom 5. August 1993).
c) Ebenfalls richtig hat das kantonale Gericht erkannt, dass
Art. 4 IVV
in der jüngsten Fassung in der Weise zu einer Schlechterstellung der Versicherten geführt hat, als nur die effektiv entstandenen Kosten vergütet werden sollen, was sich aus
Art. 14 Abs. 3 IVG
("zusätzliche Kosten") und aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 ("Kosten für zusätzlich benötigte Hilfskräfte") ergibt. Diesbezüglich war die vorher (ab 1. Januar 1990) gültig gewesene Zwischenfassung offener gefasst, indem sie eine direkte Entschädigung des Aufwandes der Eltern - allerdings nur im Rahmen der Behandlungspflege - erlaubte (ZAK 1991 S. 301 ff.). Demzufolge schützte das Eidg. Versicherungsgericht die Zusprechung von Fr. 45.-- pro Tag an einen Versicherten, der von seiner Mutter Physiotherapie erhalten hatte (unveröffentlichtes Urteil B. vom 4. Juni 1991).
Im vorliegenden Fall haben es die Eltern zum einen aus Gründen, die mit der Wohnsituation zusammenhängen, und zum andern wegen fehlender Verfügbarkeit geeigneter Therapiekräfte übernommen, die medizinischen Massnahmen an ihren drei Knaben selber durchzuführen. Demzufolge vermögen sie sich nicht mehr über zusätzliche Kosten, herrührend aus dem Beizug aussenstehender Personen, auszuweisen. Sowenig wie die frühere Zwischenfassung (ZAK 1992 S. 86 ff., S. 89 f. Erw. 2d in fine) bietet
Art. 4 IVV
in der seit 1. Juli 1991 gültigen Version die Grundlage für die Entschädigung von Erwerbsausfall (Einkommensverlust). Entschädigungsberechtigt ist nach wie vor nur der zusätzliche Aufwand ("damnum emergens") und nicht der entgangene Gewinn aus erwerblicher Tätigkeit ("lucrum cessans"). Damit entfällt eine unmittelbar auf
Art. 4 IVV
(in der hier massgeblichen Fassung) gestützte Hauspflegebeitragsberechtigung (ZAK 1991 S. 302), wie das kantonale Gericht an sich zu Recht entschieden hat.
4.
a) Für die Zeit ab 1. Juli 1991 erfüllen alle drei Beschwerdeführer sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für die Entschädigung des Betreuungsaufwandes in den Bereichen der Behandlungs- und Grundpflege (Erw. 3a, b), dies mit der einzigen Ausnahme, dass sie sich zufolge Durchführung der Hauspflege durch die Eltern und des damit notgedrungen fehlenden Beizugs aussenstehender Dritter nicht über zusätzliche Kosten auszuweisen vermögen (Erw. 3c).
In dieser Hinsicht fragt sich jedoch, ob die anbegehrte Abgeltung des von den Eltern selbst erbrachten Betreuungsaufwandes gestützt auf die von Lehre und Rechtsprechung anerkannte Rechtsfigur der Austauschbefugnis
BGE 120 V 280 S. 286
zugesprochen werden kann (
BGE 111 V 215
und 213 Erw. 2b; ZAK 1986 S. 527 Erw. 3a; unveröffentlichte Urteile K. vom 5. August 1993 und S. vom 22. März 1989; MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Berner Diss. 1985, S. 87 ff.; vgl. ferner
Art. 2 Abs. 5 HVI
). Diesen aus dem im Gesetz (
Art. 8 Abs. 1 IVG
) verankerten Verhältnismässigkeitsgrundsatz fliessenden Teilgehalt hat das Eidg. Versicherungsgericht in den invalidenversicherungsrechtlichen Bereichen der Hilfsmittelversorgung (
Art. 21 IVG
) und der medizinischen Massnahmen (Art. 12 f. IVG) im wesentlichen seit 1981 in ständiger Rechtsprechung zur Anwendung gebracht (zur älteren Rechtsprechung vgl.
BGE 107 V 89
; unveröffentlichte Urteile G. vom 5. April 1982 und K. vom 21. April 1982). Im jüngsten der hievor angeführten Urteile hat das Eidg. Versicherungsgericht insbesondere eine Substitution des Hauspflegebeitragsanspruchs im Verhältnis zur Anspruchsberechtigung bei Durchführung medizinischer Massnahmen in stationärem Rahmen zugelassen (unveröffentlichtes Urteil K. vom 5. August 1993). Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Rechtsprechung über die Austauschbefugnis nicht auch zur Anwendung gelangen sollte, wenn es um das Verhältnis einer von den Eltern selbst vorgenommenen Hauspflege zu derjenigen mit Beizug aussenstehender Dritter nach
Art. 4 IVV
geht.
b) Aus den medizinischen Berichten und den Beschreibungen der Eltern über die mehrmals täglich notwendigen, lebenswichtigen medizinischen Therapien zu Hause darf ohne weiteres geschlossen werden, dass im Falle des Beizuges aussenstehender Therapeuten (und/oder anderer Hilfspersonen im Bereich der Behandlungs- oder Grundpflege) die zugesprochene Leistungslimite von monatlich Fr. 1'200.-- (oder Fr. 400.-- pro Beschwerdeführer) längstens ausgeschöpft würde. Insofern ist die zu substituierende gesetzliche Leistungsberechtigung ausgewiesen. Damit bleibt nur mehr die letzte Voraussetzung für eine Zulassung der Austauschbefugnis im vorliegenden Fall zu prüfen, nämlich ob schützenswerte Gründe vorliegen, welche die Substitution des Leistungsansprechers zu rechtfertigen vermögen. Auch an diesem Erfordernis ist nicht zu zweifeln. Denn wie sich namentlich aus dem Bericht des Inselspitals vom 4. September 1992 zuhanden der Vorinstanz ergibt, hat sich die Unterstützung durch externe Hilfe im Laufe der Jahre und der damit gemachten Erfahrung als äusserst fragwürdig erwiesen, sei es, weil von den Hilfspersonen keinerlei Konstanz bezüglich der geleisteten Arbeit mehr zu erwarten war, sei es, weil die offenbare, auch durch Hilfspersonen wahrgenommene Hilflosigkeit gegenüber der Gesamtsituation
BGE 120 V 280 S. 287
jene immer wieder zur vorschnellen Erteilung von Ratschlägen verleitet hatte. Wenn unter diesen Umständen auf den Beizug aussenstehender Therapiepersonen verzichtet wurde, geschah dies aus nachvollziehbaren, sachlichen, situationsbedingten Motiven. Folglich haben die Beschwerdeführer Anrecht auf diejenigen Beiträge, die sie in grundsätzlicher und masslicher Hinsicht nach
Art. 4 IVV
beanspruchen könnten, wenn nicht ihre Eltern, sondern zugezogene Dritte für ihre Behandlungs- und Grundpflege aufkommen würden.
5.
Was endlich die Frage des Ausmasses des Betreuungsaufwandes anbelangt, ist die Vorinstanz der Annahme der Verwaltung gefolgt, die für alle drei Knaben zusammen von insgesamt sieben Stunden ausging, was gemäss
Art. 4 Abs. 4 lit. b IVV
einem hohen Aufwand entspricht. Soweit sie dabei ausgeführt hat, die Festsetzung auf sieben Stunden erscheine nicht als willkürlich und völlig unhaltbar, besteht für eine derartige Kognitionseinschränkung keine Grundlage und hat eine volle Ermessensüberprüfung auch in dem hier in Frage liegenden Bereich zu erfolgen. Aber auch bei Ausübung der mit der uneingeschränkten Kognition verbundenen Angemessenheitskontrolle ist nichts auszumachen, was die Annahme eines sehr hohen Betreuungsaufwandes von über acht Stunden täglich (
Art. 4 Abs. 4 lit. a IVV
) als naheliegender erscheinen liesse. Namentlich scheint es - bei allem Respekt vor der geleisteten Hingabe - nicht angängig, die den drei Knaben täglich zu erbringende Pflege und Betreuung kurzerhand zu einem Gesamtaufwand zu summieren, wie es die Ärztin (Dr. med. R.) des Inselspitals in ihren Berichten getan hat. Vielmehr dürfte sich die hier allmählich von sämtlichen Beteiligten erworbene Erfahrung in einem nicht unerheblichen Zeitgewinn niedergeschlagen haben, zumal die drei Knaben seit 1987, als der Vater den reinen Behandlungsaufwand - wenn auch vorsichtig - auf viereinhalb Stunden eingeschätzt hatte, doch einiges älter geworden sind, so dass ihnen im Gegensatz zu früher ein besseres Mitmachen bei der täglichen Atem- und Physiotherapie, Medikamenteneinnahme usw. möglich ist. | de |
2fdf743c-c7f0-4233-bf5a-8fa8d4d46e06 | Sachverhalt
ab Seite 288
BGE 120 V 288 S. 288
A.-
Der 1974 geborene, in V. wohnhafte P. leidet an der Werdnig-Hoffmann-Krankheit, einer progressiven spinalen Muskelatrophie. Die Invalidenversicherung erbrachte Leistungen zur Behandlung dieses Geburtsgebrechens, sprach Pflegebeiträge zu, gab Hilfsmittel ab und übernahm die für den Schulbesuch notwendigen, invaliditätsbedingten Transportkosten. Unter diesem Titel gewährte sie dem Versicherten, der seit August 1988 die Maturitätsschule in X besucht, je Fahrt von seinem Wohnort
BGE 120 V 288 S. 289
zur Schule und zurück im von seinen Eltern geführten Personenwagen (Nissan "Prairie") einen Betrag von Fr. 18.--, dies so lange, bis die Beiträge die Höhe des Kaufpreises des Autos erreicht hatten (Verfügung der Kantonalen Ausgleichskasse des Wallis vom 12. Oktober 1984). Nach diesem Zeitpunkt vergütete die Invalidenversicherung eine Kilometer-Entschädigung von 45 Rappen.
Im Sommer 1991 teilte der Vater von P. der Invalidenversicherungs-Kommission mit, sein Sohn sei seit 1984 erheblich grösser und schwerer geworden. Er beabsichtige deshalb, im Hinblick auf den Transport seines an den Rollstuhl gebundenen Sohnes zur Schule ein grösseres Fahrzeug zu erwerben. Mit dieser Begründung ersuchte er um Vergütung eines Betrages von Fr. 25.-- je Fahrt zur Schule, entsprechend den Kosten eines Taxitransportes, dies bis zur Höhe der Anschaffungskosten des Personenwagens, die sich, einschliesslich der behinderungsbedingt notwendigen Umbaukosten, auf rund Fr. 60'000.-- beliefen. Gestützt auf einen Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission eröffnete die Ausgleichskasse dem Vater von P., dass für die Transportkosten lediglich eine Kilometerentschädigung von 45 Rappen ausgerichtet werde, während sie die Begehren um Übernahme der invaliditätsbedingten Änderungen am Fahrzeug und um Beteiligung an den Anschaffungskosten ablehnte (Verfügung vom 17. Januar 1992).
B.-
Der Vater des Versicherten liess Beschwerde führen mit den Anträgen, es sei ihm, unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung, eine Entschädigung für das benötigte Fahrzeug im Sinne eines Hilfsmittels zuzusprechen; eventuell sei die Sache zu neuer Beurteilung an die Verwaltung zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 28. Januar 1993 wies das Kantonale Versicherungsgericht des Wallis die Beschwerde ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Vater des Versicherten den vorinstanzlich gestellten Hauptantrag erneuern.
Während die Ausgleichskasse auf eine Stellungnahme der Invalidenversicherungs-Kommission verweist, die sich in ablehnendem Sinne äussert, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV), in teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde seien die Transportkosten in Anwendung der Austauschbefugnis zu vergüten; dabei sei die Entschädigung auf der Grundlage der tatsächlichen Transportkosten mit dem eigenen Fahrzeug, der hypothetischen Aufwendungen für die Taxibenützung und der Kosten eines Personenwagens der unteren Preisklasse zu berechnen.
BGE 120 V 288 S. 290
Die hypothetischen Taxikosten stellten die höchstmögliche Entschädigung dar. Von den effektiven Transportkosten seien, im Sinne eines Selbstbehaltes, die Kosten eines Personenwagens der unteren Preisklasse abzuziehen, könne doch davon ausgegangen werden, dass die Eltern auch ohne Invalidität ihres Sohnes einen solchen benützen würden. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Ein Anspruch des Beschwerdeführers auf Leistungen gestützt auf
Art. 21 und 21bis IVG
fällt nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz, auf welche verwiesen werden kann, nicht in Betracht.
2.
a) Nach
Art. 16 Abs. 1 IVG
haben Versicherte, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen, Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung den Fähigkeiten des Versicherten entspricht. Als erstmalige berufliche Ausbildung gilt gemäss
Art. 5 Abs. 1 IVV
jede Berufslehre oder Anlehre sowie, nach Abschluss der Volks- oder Sonderschule, der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule und die berufliche Vorbereitung auf eine Hilfsarbeit oder auf die Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte. Laut
Art. 5 Abs. 3 IVV
werden die aus der erstmaligen beruflichen Ausbildung entstehenden zusätzlichen Kosten ermittelt, indem die Kosten der Ausbildung des Invaliden den mutmasslichen Aufwendungen gegenübergestellt werden, die bei der Ausbildung eines Gesunden zur Erreichung des gleichen beruflichen Zieles notwendig wären. Anrechenbar im Rahmen dieser Bestimmung sind insbesondere die Transportkosten (
Art. 5 Abs. 4 IVV
).
b) Nach der Verwaltungspraxis (Rz. 27 des Kreisschreibens des BSV über die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, gültig ab 1. Januar 1983, in Verbindung mit Rz. 20 und Rz. 39 sowie Anhang 4 des Kreisschreibens des BSV über die Vergütung der Reisekosten, gültig ab 1. März 1982) wird im Rahmen der erstmaligen beruflichen Ausbildung unter dem Titel Transportkosten für die Verwendung privater Personenwagen ein Kilometer-Ansatz von 45 Rappen vergütet.
3.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Gebrechens nicht in der Lage ist, den täglichen Schulweg in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder mit dem Fahrrad zurückzulegen, weshalb er
BGE 120 V 288 S. 291
gestützt auf
Art. 16 Abs. 1 IVG
in Verbindung mit
Art. 5 Abs. 4 IVV
Anspruch auf Vergütung der mit der erstmaligen beruflichen Ausbildung verbundenen invaliditätsbedingten Mehrkosten für den Transport zur Schule hat. Streitig und näher zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die durch den Transport im von den Eltern angeschafften und mit Rücksicht auf die Behinderung des Beschwerdeführers umgebauten Personenwagen entstehenden Kosten von der Invalidenversicherung zu übernehmen sind.
a) In Anwendung der vorstehend zitierten Verwaltungsweisungen hat die Ausgleichskasse dem Versicherten für diese Kosten eine Kilometer-Entschädigung von 45 Rappen zugesprochen, was nach den unbestritten gebliebenen Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde umgerechnet auf ein Jahr einen Betrag von rund Fr. 1'080.-- ergibt (200 Schultage à 12 km x 45 Rappen). Die Vorinstanz hat die angefochtene Verwaltungsverfügung unter Hinweis auf das in ZAK 1986 S. 633 ff. publizierte Urteil F. vom 22. Mai 1986 bestätigt.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eingewendet, dass der Versicherte einen weit höheren Betrag beanspruchen könnte, wenn er die Fahrten zwischen seinem Wohnort und der Schule statt als Mitfahrer im Auto seiner Eltern in einem Taxi zurücklegte.
Das BSV weist darauf hin, dass bei Anwendung der Kilometerentschädigung von 45 Rappen in Anbetracht der kurzen Wegstrecke zwischen dem Wohnort des Versicherten und der Ausbildungsstätte für die Eltern eine bescheidene, nicht kostendeckende Vergütung resultiere, die zudem in einem Missverhältnis zu den Kosten eines entsprechenden Taxi-Transportes stehe. Der Entscheid der Eltern, ein eigenes Fahrzeug anzuschaffen, statt die Transporte mit dem Taxi durchführen zu lassen, habe für die Invalidenversicherung beträchtliche Einsparungen zur Folge. Unter diesen Umständen erscheine es gerechtfertigt, die Entschädigung in Anwendung der Austauschbefugnis festzusetzen.
b) Im Urteil F. vom 22. Mai 1986 (ZAK 1986 S. 633 ff.) hat das Eidg. Versicherungsgericht zum Anspruch auf die Vergütung der Transportkosten im Rahmen der erstmaligen beruflichen Ausbildung ausgeführt, dass der für die Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesene Versicherte lediglich die Übernahme der Transportkosten im Rahmen von
Art. 5 Abs. 4 IVV
verlangen kann, und diesbezüglich festgehalten, dass der Betrag von 45 Rappen pro Kilometer den hiefür geltenden Richtlinien der Verwaltung entspricht (S. 635 Erw. 4b).
BGE 120 V 288 S. 292
c) Im Hilfsmittelbereich der Invalidenversicherung hat das Eidg. Versicherungsgericht folgenden Grundsatz aufgestellt: Umfasst ein vom Versicherten selber angeschafftes Hilfsmittel, auf das kein Anspruch besteht, auch die Funktion eines ihm an sich zustehenden Hilfsmittels, so steht einer Gewährung von Amortisations- oder Kostenbeiträgen nichts entgegen; diese sind alsdann auf der Basis der Anschaffungskosten des Hilfsmittels zu berechnen, auf das der Versicherte an sich Anspruch hat (
BGE 111 V 213
Erw. 2b und 215, 107 V 89; ZAK 1988 S. 182 Erw. 2b, 1986 S. 527 Erw. 3a; vgl. auch
Art. 2 Abs. 5 HVI
). Diese sogenannte Austauschbefugnis des Versicherten (vgl. dazu MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 87 ff.) hat das Gericht nicht nur im Hilfsmittelbereich, sondern namentlich auch auf dem Gebiete der medizinischen Massnahmen (
Art. 12 ff. IVG
) als zulässig erachtet (
BGE 120 V 280
, K. vom 5. August 1993 und S. vom 22. März 1989). Wie das BSV zutreffend feststellt, steht einer Anwendung der Rechtsprechung über die Austauschbefugnis auch im Bereich der Transportkostenvergütung im Sinne von
Art. 16 Abs. 1 IVG
in Verbindung mit
Art. 5 Abs. 4 IVV
- betreffend das Verhältnis der von den Eltern des Versicherten durchgeführten Fahrten im eigenen Auto zum Transport mit einem Taxi - nichts entgegen. Insbesondere lässt sich auch dem vorstehend zitierten Urteil F. (ZAK 1986 S. 633 ff.) nicht entnehmen, dass die Austauschbefugnis des Versicherten im Zusammenhang mit der Transportkostenvergütung gemäss
Art. 5 Abs. 4 IVV
nicht zum Tragen kommen könnte; in jenem Fall war in erster Linie streitig, ob der Versicherte die Anspruchsvoraussetzungen in bezug auf Beiträge an die Kosten von Dienstleistungen Dritter im Sinne von
Art. 21bis Abs. 2 IVG
und
Art. 9 Abs. 1 HVI
erfüllte, während die vorliegend interessierende Frage der Austauschbefugnis des Versicherten nicht erörtert wurde.
d) Der Beschwerdeführer hätte gestützt auf
Art. 16 Abs. 1 IVG
und
Art. 5 Abs. 4 IVV
für den Transport von der elterlichen Wohnung zur Schule und zurück unbestrittenermassen Anspruch auf die Vergütung der anfallenden Taxikosten, abzüglich der Kosten, die ihm auch ohne Invalidität für den Schulweg entstünden. Seine Eltern gaben indessen einer anderen zweckmässigen Lösung den Vorzug, indem sie ein geeignetes Auto kauften, dieses mit Rücksicht auf die Behinderung umbauen liessen und damit den Transport zwischen Wohnort und Schule bewerkstelligen. Auf die Übernahme dieser Anschaffungs- und Abänderungskosten durch die Invalidenversicherung
BGE 120 V 288 S. 293
besteht kein gesetzlicher Anspruch. Hingegen kann der Beschwerdeführer in Anwendung der Austauschbefugnis die Vergütung der durch den Transport im elterlichen Fahrzeug tatsächlich entstehenden Kosten, abzüglich der auch ohne Invalidität anfallenden Kosten für den Schulweg, beanspruchen. Es stellt sich die Frage, wie die Kosten des Transports mit dem Auto der Eltern zu berechnen sind.
e) Um die tatsächlich entstehenden Mehrkosten im Sinne von
Art. 5 Abs. 3 IVV
zu ermitteln, ist vom Kaufpreis des angeschafften Fahrzeuges, zuzüglich der Kosten für die invaliditätsbedingten Abänderungen, auszugehen. Von diesem Betrag sind die Anschaffungskosten für einen Personenwagen mittlerer Preislage abzuziehen, den die Eltern aller Wahrscheinlichkeit nach erworben hätten, wenn ihr Sohn nicht invalid wäre. Diese Kosten sind bei der Berechnung des Anspruchs daher ausser acht zu lassen. Der auf diese Weise bestimmte Differenzbetrag ist durch sechs Jahre, entsprechend der "heute zu erwartenden Lebensdauer" eines Fahrzeuges (
BGE 119 V 255
; Rz. 10.05.3* der Wegleitung des BSV über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung, gültig ab 1. Januar 1989), zu dividieren. Zum daraus resultierenden Betrag sind sodann einerseits die auf den Transport zur Schule zurückzuführenden Betriebs- und Unterhaltskosten des Fahrzeuges - zweckmässigerweise mittels einer Kilometerpauschale - hinzuzuzählen; andererseits sind die in einem Jahr anfallenden, hypothetischen Kosten für die Zurücklegung des Schulweges mit einem öffentlichen Verkehrsmittel oder Fahrrad abzuziehen. Das Ergebnis entspricht den jährlichen invaliditätsbedingten Mehrkosten für den Transport zwischen Wohnort und Schule, die dem Beschwerdeführer von der Invalidenversicherung zu vergüten sind. Dabei darf die Entschädigung die hypothetischen Taxikosten nicht übersteigen.
Die Verwaltung, an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird die zur Berechnung der Transportkostenentschädigung erforderlichen Abklärungen treffen und hernach über den Anspruch neu verfügen. | de |
10812976-06da-4b21-b15f-91062e0280bd | Sachverhalt
ab Seite 27
BGE 130 IV 27 S. 27
A.
A. sollte am 3. März 1999 durch Beamte der Kantonspolizei Bern fremdenpolizeilich per Flugzeug aus der Schweiz nach Kairo ausgeschafft werden. Der Ausschaffungshäftling war bereits auf dem Weg von Bern zum Flughafen Zürich-Kloten gefesselt worden und wurde anschliessend in einer Zelle der Flughafenpolizei von den begleitenden Polizeibeamten geknebelt, um
BGE 130 IV 27 S. 28
sicherzustellen, dass er die Ausschaffung nicht durch Schreien behindern würde. Die Knebelung (Mundverklebung) wurde von X., der in einer benachbarten Zelle als begleitender Arzt mit der Ausschaffung eines anderen Häftlings betraut war, daraufhin überprüft, ob eine genügende Nasenatmung möglich sei. Beim anschliessenden Transport mittels Rollstuhl von der Zelle zu einem wartenden Kleinbus wurde festgestellt, dass A. nicht mehr ansprechbar war. In der Folge rief einer der Polizeibeamten X. herbei, der die Mundknebelung entfernte und versuchte, den Ausschaffungshäftling durch Mundbeatmung zu reanimieren. Die Bemühungen blieben ohne Erfolg. A. verstarb an einem Herz-Kreislaufversagen mit Atemstillstand.
B.
Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte X. mit Urteil vom 29. Mai 2002 in zweiter Instanz der fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte ihn zu drei Monaten Gefängnis, mit bedingtem Strafvollzug, unter Auferlegung einer Probezeit von zwei Jahren. Ferner verpflichtete es den Beurteilten zum Ersatz der Begräbniskosten und zur Bezahlung weiteren Schadenersatzes, wobei es das Schadenersatzbegehren der Geschädigten im Quantitativ auf den Zivilweg verwies. Schliesslich verurteilte es X. zur Zahlung von Genugtuungen in der Höhe von Fr. 30'000.- an die Geschädigte B. und von je Fr. 10'000.- an die Geschädigten C. und D. Auf die Genugtuungsforderungen der übrigen Familienangehörigen trat es nicht ein. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer wendet sich im Weiteren gegen die Verurteilung zu Schadenersatz und Genugtuung an die Mutter und zwei Brüder des Opfers.
2.1
Die Vorinstanz nimmt an, der Beschwerdeführer habe im Auftrag des Kantons Bern als Arzt einen anderen Ausschaffungshäftling betreut und diesbezüglich eine amtliche Verrichtung ausgeübt. Der Auftrag des Beschwerdeführers habe nur die Betreuung jenes anderen Ausschaffungshäftlings umfasst. Das Opfer habe er dagegen in Zürich zum ersten Mal gesehen. Er sei am Flughafen von den Polizeibeamten angefragt worden, ob er sich dieses anschauen könne, weil er sich in der Nähe befand. Die Polizeibeamten hätten den Beschwerdeführer aber nicht kraft seines Mandates angefragt und seien auch nicht befugt gewesen, seinen Auftrag zu erweitern oder ihm namens des Staates einen neuen Auftrag zu
BGE 130 IV 27 S. 29
er teilen. Seine Verrichtungen in Bezug auf das Opfer seien daher privatrechtlicher Natur gewesen. Der Beschwerdeführer habe den Schaden, welchen er dem Opfer bzw. dessen Hinterbliebenen widerrechtlich zugefügt habe, somit nicht in Ausübung einer amtlichen Tätigkeit verursacht. Damit sei
Art. 61 Abs. 1 OR
nicht anwendbar, so dass die Staatshaftung entfalle und der Beschwerdeführer persönlich nach
Art. 41 ff. OR
zu belangen sei.
2.2
Der Beschwerdeführer bestreitet seine Passivlegitimation hinsichtlich der Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen. Wohl habe er bezüglich dem Opfer ursprünglich keinen Auftrag des Kantons Bern gehabt. Doch habe das Polizeikommando Bern am fraglichen 3. März 1999 gleichzeitig zwei Ausschaffungshäftlinge von Bern zum Flughafen Zürich-Kloten überführen müssen. Auf Weisung der Vorgesetzten seien die beiden Transporte zusammengefasst und mit einem Fahrzeug ausgeführt worden. Diese Gruppe habe aus dem Opfer mit seinen drei Begleitern, dem andern Ausschaffungshäftling mit seinen Begleitern, zu welchen auch er (der Beschwerdeführer) als einziger Arzt an Bord des Fahrzeugs gehört habe, sowie aus dem Chauffeur bestanden. Mit der Zusammenfassung der beiden Transporte zu einer Gruppe seien die Vorgesetzten stillschweigend davon ausgegangen, dass sich die Begleiter bei allfälligen Schwierigkeiten gegenseitig unterstützen würden, unabhängig davon, für welchen Häftling sie zuständig gewesen seien. Durch diese konkrete Ausgestaltung der Reiseorganisation sei somit der ihm erteilte, ursprünglich enger gefasste Auftrag konkludent erweitert worden. Die Abgabe eines Beruhigungsmittels und die Überprüfung der dem Opfer angelegten Knebelung im Ausschaffungsgefängnis des Flughafens Kloten sei daher in amtlicher Funktion und nicht im Rahmen der privaten freiberuflichen Tätigkeit erfolgt. Die Vorinstanz habe
Art. 61 Abs. 1 OR
zu Unrecht nicht angewendet.
2.3
2.3.1
Mit der Nichtigkeitsbeschwerde kann nur die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (
Art. 269 Abs. 1 BStP
). Eine Verletzung von Bundesrecht liegt auch vor, wenn Bundesrecht an Stelle von kantonalem Recht angewendet wurde. Zur richtigen Auslegung kantonalen Rechts äussert sich das Bundesgericht aber nicht (
BGE 93 II 189
E. a;
BGE 83 II 345
E. 1).
2.3.2
Ein öffentlicher Beamter oder Angestellter haftet für den in Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit verursachten Schaden nach
BGE 130 IV 27 S. 30
den Regeln des Zivilrechts, sofern das öffentliche Recht keine abweichenden Bestimmungen enthält (vgl.
Art. 61 Abs. 1 OR
). Für gewerbliche Verrichtungen des Beamten gelten ausschliesslich die zivilrechtlichen Bestimmungen (
Art. 61 Abs. 2 OR
;
BGE 128 III 76
E. 1a;
BGE 122 III 101
E. 2a), sofern jedenfalls die öffentlich-rechtlichen Verantwortlichkeitsgesetze zugunsten des Geschädigten keine strengere Haftung vorsehen (ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., 1998, N. 49 zu
Art. 61 OR
).
Handelt der öffentliche Beamte oder Angestellte nicht im Rahmen seiner öffentlichen Aufgabe, sondern aus eigenem Interesse, steht er einer Privatperson gleich; in diesem Fall richtet sich die Haftung nach
Art. 41 ff. OR
. Das öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeitsrecht kommt nur zur Anwendung, wenn der Schaden in Ausübung der amtlichen Funktion und nicht nur bei Gelegenheit der amtlichen Verrichtung verursacht wird. Im letzteren Fall gilt die Handlung als nicht-amtliche Verrichtung, deren Folgen dem Privatrecht unterstellt sind (BREHM, a.a.O., N. 35 f. zu
Art. 61 OR
). Entscheidend ist, ob der Handelnde
in der Funktion
als Beamter oder öffentlicher Angestellter einen Schaden verursacht. Es muss somit ein funktioneller Zusammenhang zwischen der amtlichen Stellung als öffentlicher Beamter oder Angestellter und der schädigenden Handlung bestehen (BREHM, a.a.O., N. 36 zu
Art. 61 OR
und N. 21 zu
Art. 55 OR
; JOST GROSS, Schweizerisches Staatshaftungsrecht, 2. Aufl., Bern 2001, S. 114; vgl. auch ANTON K. SCHNYDER, Basler Kommentar, OR I, 3. Aufl., 2003, N. 12 f. zu
Art. 55 OR
).
2.3.3
Der Beschwerdeführer hat unbestrittenermassen im Auftrag des Ausländer- und Bürgerrechtsdienstes des Kantons Bern als Arzt einen anderen Ausschaffungshäftling bei der Ausreise begleitet. Es steht ausser Zweifel, dass er bei der Betreuung dieses Häftlings eine öffentliche, nicht eine private Aufgabe erfüllt und somit als öffentlicher Beamter oder Angestellter im Sinne von
Art. 61 OR
gehandelt hat (vgl.
BGE 122 III 101
E. 2a/aa). Zu prüfen ist hingegen, ob er auch in Bezug auf das Opfer in der Funktion als Beamter oder öffentlicher Angestellter gehandelt hat. Dies ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz zu bejahen. Denn der Beschwerdeführer hat die ihm zur Last gelegte Schädigung nicht bloss bei Gelegenheit der amtlichen Verrichtung verursacht. Vielmehr besteht ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen seiner Funktion als begleitender Arzt des zweiten Ausschaffungshäftlings
BGE 130 IV 27 S. 31
und der Betreuung des Opfers bzw. der Überprüfung der ihm angelegten Mundverklebung. Beide Tätigkeiten sollten die reibungslose Ausschaffung der betroffenen Personen ermöglichen und erfolgten daher im klaren Interesse des Staates. Die Überprüfung der Knebelung lässt sich daher nicht als rein privatrechtliche Verrichtung verstehen. Der Beschwerdeführer hat daher auch in Bezug auf das Opfer in amtlicher Funktion gehandelt. Dass ihm ursprünglich nur für die Betreuung des anderen Ausschaffungshäftlings ein ausdrücklicher Auftrag erteilt worden war, steht dem nicht entgegen. Der Beschwerdeführer hat hier die ihm übertragene Aufgabe aus eigener Initiative erweitert. Bei dieser Konstellation bleibt der funktionelle Zusammenhang zwischen der Schädigung und der amtlichen Verrichtung bestehen. Insofern verhält es sich gleich wie bei der Haftung des Geschäftsherrn für die Kompetenzüberschreitung der Hilfsperson gemäss
Art. 55 OR
(BREHM, a.a.O., N. 36 zu
Art. 61 OR
und N. 25 f. zu
Art. 55 OR
; KARL OFTINGER/EMIL W. STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. II/1, S. 319 N. 93). Damit wäre im vorliegenden Fall eine Haftung des Staates gemäss Art. 47 Abs. 1 des Gesetzes über das öffentliche Dienstrecht des Kantons Bern vom 5. November 1992 (Personalgesetz; BSG 153.01) in Betracht gefallen. Die Vorinstanz hat zu Unrecht Bundesprivatrecht angewendet.
Die Beschwerde ist im Zivilpunkt begründet.
2.3.4
Heisst der Kassationshof die Nichtigkeitsbeschwerde im Zivilpunkt gut, so entscheidet er in der Sache selbst oder weist sie zu neuer Entscheidung an die kantonale Behörde zurück (
Art. 277
quater
Abs. 1 BStP
;
BGE 121 III 252
E. 3a). Im vorliegenden Fall entscheidet der Kassationshof selbst, da die Sache aufgrund der obstehenden Erwägungen spruchreif ist (E. 2.3.3). Die Klage der Geschädigten ist mangels Passivlegitimation des Beschwerdeführers abzuweisen. | de |
3ebd080a-4d3a-422f-87d9-a857ed7b2666 | Sachverhalt
ab Seite 30
BGE 102 IV 29 S. 30
A.-
Im Frühjahr 1974 eröffnete das Richteramt Interlaken eine Strafuntersuchung gegen den in Goldswil niedergelassenen deutschen Staatsangehörigen Karl Grau und seine deutsche Schwiegermutter Anita Wolf, die bei ihm zu Besuch weilte. Grau wurde vorgeworfen, seit mehr als einem Jahr einen Personenwagen geführt zu haben, ohne einen schweizerischen Führerausweis zu besitzen, und ferner den Besuch seiner Schwiegermutter nicht angemeldet zu haben. Anita Wolf wurde des illegalen Aufenthaltes beschuldigt, indem sie sich seit Ende Dezember 1973 ununterbrochen mehr als drei Monate ohne Bewilligung in Goldswil aufgehalten habe.
Anlässlich ihrer Einvernahme vom 28. Juni 1974 gab Frau Wolf ein maschinengeschriebenes Schreiben vom 20. Juni 1974 zu den Akten, in welchem Frau Aenne Bornemann, wohnhaft in Marköbel (BRD), unterschriftlich erklärte, dass Frau Wolf in der Zeit vom 7. bis 11. Januar 1974 bei ihr zu Besuch gewesen sei und dass dies auch ihr Ehemann und ihre Nachbarn bezeugen könnten. Auf Ersuchen des Gerichtspräsidenten von Interlaken durch das Amtsgericht Hanau einvernommen, gestand Frau Bornemann, dass sich Frau Wolf in der fraglichen Zeit nicht bei ihr aufgehalten habe und dass ihr das Schreiben von Grau zur Unterzeichnung vorgelegt worden sei. Dieser hatte die Bestätigung während eines Aufenthaltes in Frankfurt geschrieben und nach der Unterzeichnung durch Frau Bornemann seiner Schwiegermutter übergeben, damit sie es dem Gericht als Beweismittel einreiche.
B.-
Am 3. April 1975 sprach der Gerichtspräsident 1 von Interlaken Frau Wolf von der Anschuldigung der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer frei, verurteilte sie dagegen wegen Urkundenfälschung zu einem Monat Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug. Grau wurde wegen Anstiftung zur Urkundenfälschung, Führens eines Personenwagens ohne gültigen schweizerischen Führerausweis und Widerhandlung gegen das ANAG zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von zwei Monaten und zu einer Busse von Fr. 100.-- verurteilt.
Gegen dieses Urteil erhoben beide Verurteilten Berufung, die Sich auf die Schuldsprüche wegen Urkundenfälschung und Anstiftung dazu beschränkte. Das Obergericht des Kantons Bern wies am 9. September 1975 beide Berufungen ab. Es erklärte Grau ausserdem des Versuches der Begünstigung
BGE 102 IV 29 S. 31
schuldig, nahm aber mit Rücksicht auf die nahe Beziehung zur Begünstigten von einer Bestrafung Umgang und bestätigte die erstinstanzlich ausgefällten Strafen.
C.-
Beide Verurteilten führen in getrennten Eingaben Nichtigkeitsbeschwerde. Frau Wolf ersucht um Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache zu ihrer Freisprechung. Grau beantragt Aufhebung des angefochtenen Urteils in bezug auf die Schuldsprüche der versuchten Begünstigung und der Anstiftung zur Urkundenfälschung.
Der Generalprokurator des Kantons Bern stellt das Begehren um Abweisung der Beschwerden. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Begünstigung im Sinne des
Art. 305 StGB
setzt voraus, dass der Täter jemanden der Strafverfolgung oder dem Vollzug einer Strafe oder Massnahme entzieht. Aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt sich, dass der Täter einen andern als sich selbst begünstigen muss. Lehre und Rechtsprechung nehmen auch einhellig an, dass die Selbstbegünstigung, besondere Fälle der Nebenstrafgesetzgebung ausgenommen, straflos sei, sofern die Begünstigungshandlung nicht einen andern Straftatbestand erfüllt (
BGE 72 IV 164
,
BGE 73 IV 239
,
BGE 74 IV 56
,
BGE 96 IV 168
; SCHWANDER, S. 504 Ziff. 1b, STRATENWERTH, II, S. 623, LOGOZ, II, N 3c zu
Art 305 StGB
).
a) Der Beschwerdeführer Grau macht geltend, er habe ausser seiner Schwiegermutter auch sich selbst begünstigen wollen und dürfe infolgedessen nicht nach
Art. 305 StGB
schuldig erklärt werden. Trifft der behauptete Sachverhalt zu, ist der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers beizupflichten. Denn wenn die Selbstbegünstigung straflos ist, muss der gleiche Grundsatz auch Anwendung finden, wenn die Begünstigungshandlung zugleich auch einen Dritten begünstigt. Wollte man die Fremdbegünstigung, die notwendig mit einer persönlichen Selbstbegünstigung konkurriert, generell bestrafen, würde der Grundsatz, wonach ein Beschuldigter sich Straflos der Strafverfolgung entziehen darf, wieder verneint. Müsste aber zwischen den beiden Arten der Begünstigung unterschieden werden, wäre es schwierig oder unmöglich, zuverlässig festzustellen, ob der Wille des Täters vorwiegend auf die Selbstbegünstigung oder die Fremdbegünstigung gerichtet war, um davon
BGE 102 IV 29 S. 32
abhängig zu machen, ob die Fremdbegünstigung als untergeordnete Nebenfolge in der Selbstbegünstigung aufgehe oder aber als vorwiegend angestrebte Tat für sich allein bestraft werden solle. Es ist daher gerechtfertigt, auch die Fremdbegünstigung grundsätzlich immer dann straflos zu lassen, wenn der Täter zugleich auch sich selbst begünstigen wollte, unabhängig davon, ob die eigene oder fremde Begünstigung das Hauptmotiv der Tat war. Im gleichen Sinne hat sich der Kassationshof bereits am 2. Oktober 1975 (
BGE 101 IV 315
) ausgesprochen. Auf demselben Standpunkt steht auch die Literatur (WALDER, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 94/95, anscheinend auch STRATENWERTH, II, S. 623 lit. c; Leipziger Kommentar, 9. Aufl., II, N 31 zu § 257; SCHÖNKE-SCHRÖDER, 13. Aufl., N 41 zu § 257; MAURACH, Deutsches Strafrecht, 5. Aufl., BT S. 732 und die in dieser Literatur angeführte deutsche Rechtsprechung).
b) Dem angefochtenen Urteil ist indessen nicht eindeutig zu entnehmen, ob der Beschwerdeführer mit der Bestätigung ausschliesslich seine Schwiegermutter oder zugleich auch sich selbst habe begünstigen wollen. Das Obergericht erklärt einerseits, dass der Einwand des Beschwerdeführers, er habe sich und seiner Familie den Vorwurf fremdenpolizeilicher Widerhandlungen ersparen wollen, also lediglich eine straflose Selbstbegünstigung begangen, nicht gehört werden könne, da er zugegebenermassen Frau Wolf nicht innerhalb der vorgeschriebenen Monatsfrist angemeldet habe. Darin liegt eher eine Verneinung des Willens zur Selbstbegünstigung. Anderseits wird im Widerspruch dazu in den Erwägungen über die Strafzumessung ausgeführt, es dürfe immerhin zur Entlastung des Beschwerdeführers angenommen werden, er habe sich selbst und seiner Schwiegermutter zum Recht verhelfen wollen. Die Vorinstanz hat sich daher klar dazu zu äussern, ob der Wille des Beschwerdeführers darauf gerichtet war, einzig seine Schwiegermutter oder aber auch sich selbst einer Bestrafung zu entziehen.
Es steht fest, dass der Beschwerdeführer
Art. 2 Abs. 2 ANAG
schon verletzte, als er den Aufenthalt seiner Schwiegermutter nach Ablauf eines Monats nicht gemeldet hatte. Objektiv betrachtet konnte ihn daher die Bestätigung nicht mehr entlasten, mit der bewiesen werden wollte, dass Frau Wolf sich keine drei vollen Monate in der Schweiz aufgehalten
BGE 102 IV 29 S. 33
habe (
Art. 2 Abs. 1 ANAG
). Die Vorinstanz wird jedoch abzuklären haben, ob der Beschwerdeführer nicht, wie er behauptet hat, in einem Irrtum befangen war, indem er glaubte, mit jenem Schriftstück auch sich selber vor einer Verurteilung wegen Übertretung des ANAG schützen zu können, in der Annahme, die Meldefrist daure für ihn wie für die Schwiegermutter drei Monate. Wäre dem so, müsste von dem Sachverhalt ausgegangen werden, den sich der Beschwerdeführer vorgestellt hat (
Art. 19 Abs. 1 StGB
, vgl.
BGE 82 IV 202
). Der Wille zur Selbstbegünstigung ist daher nicht ausgeschlossen.
2.
Anita Wolf und Grau bestreiten, sich des Gebrauchs einer falschen Urkunde im Sinne des Art. 251 Ziff. 1. Abs. 3 StGB beziehungsweise der Anstiftung dazu schuldig gemacht zu haben, im wesentlichen mit der Begründung, dass das von Frau Bornemann unterzeichnete Bestätigungsschreiben keine Urkunde gewesen sei.
a) Es ist unbestritten, dass die Bestätigung dazu bestimmt war, eine Tatsache von rechtlicher Bedeutung zu beweisen. Denn sie wurde in der Absicht erstellt, den Vorwurf der Widerhandlung gegen
Art. 2 Abs. 1 ANAG
durch den Nachweis zu widerlegen, dass Frau Wolf vor Ablauf der Dreimonatsfrist wieder nach Deutschland verreist sei. Die Vorinstanzen haben allerdings auf Grund der spätern Aussagen des Zeugen Tessmer angenommen, Frau Wolf habe zur fraglichen Zeit tatsächlich in Frankfurt geweilt. Soweit mit der Bestätigung der Aufenthalt in Deutschland bestätigt werden wollte, war sie somit wahr. Im übrigen war ihr Inhalt jedoch falsch; insoweit kann eine Falschbeurkundung vorliegen.
Rechtserheblich im Sinne des
Art. 110 Ziff. 5 StGB
sind nämlich nicht nur Tatsachen, die den Sachverhalt unmittelbar, z.B. Tatbestandsmerkmale, betreffen, sondern auch Indizien, die den Schluss auf erhebliche Tatsachen zulassen (
BGE 73 IV 50
unten), und ebenso Hilfstatsachen, zu denen Tatsachen gehören, die für die Beurteilung des Werts oder der Beweiskraft eines Beweismittels, z.B. die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, von rechtlicher Bedeutung sind (
BGE 75 IV 70
oben; SCHWANDER, Nr. 687 und 764; WAIBLINGER, Das Strafverfahren des Kantons Bern, S. 366; LÖWE-ROSENBERG, Die Strafprozessordnung, 21. Aufl., S. 976 N 28). Tatsachen dieser Art liegen darin, dass Frau Bornemann in der Bestätigung an Eides Statt erklärte, Frau Wolf sei an den erwähnten Tagen
BGE 102 IV 29 S. 34
bei ihr in Marköbel zu Besuch gewesen und ihr Mann und ihre Nachbarn könnten den mehrtägigen Besuch ebenfalls bestätigen. Das Schriftstück zeichnet sich dadurch aus, dass es darauf angelegt war, ihm die Wirkung besonderer Glaubwürdigkeit beizumessen. Diesem Zweck diente schon die Verwendung des formellen Ausdruckes "an Eides Statt", sodann die konkrete Angabe, dass Frau Wolf während mehreren bestimmten Tagen bei Frau Bornemann in Marköbel zu Besuch gewesen sei, ferner der diese Behauptung bekräftigende Hinweis, dass eine Reihe weiterer Augenzeugen die Anwesenheit der Frau Wolf persönlich festgestellt hätten und bezeugen könnten. Durch diese Hilfstatsachen sollte also unmittelbar der Beweiswert der Bestätigung erhöht und mittelbar die Tatsache des Aufenthalts in Deutschland belegt werden.
b) Der Begriff der Urkunde erfordert in allen Fällen, dass die Schrift zum Beweise geeignet sei. Die Beweiseignung kommt einer Schrift zu, wenn ihr diese Eigenschaft durch Gesetz oder Verkehrsübung zuerkannt wird (
BGE 101 IV 279
).
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil, dass die bernische Zivilprozessordnung jede Aufzeichnung über Tatsachen grundsätzlich als Urkunde, d.h. als taugliches Beweismittel, anerkennt und lediglich ihre Beweiskraft von der richterlichen Würdigung abhängig macht. Das gleiche gilt auch für das bernische Strafverfahren, wie das Obergericht für den Kassationshof verbindlich feststellt. Ist demnach davon auszugehen, dass im Kanton Bern privatschriftliche Aufzeichnungen Dritter über eigene Wahrnehmungen als Beweismittel gelten, so kam auch der Erklärung der Frau Bornemann kraft kantonalen Verfahrensrechts Beweiseignung zu. Sie setzt nicht voraus, dass die Urkunde im konkreten Fall beweiskräftig sei; die abstrakte Beweiseignung genügt (SCHWANDER, Nr. 688a). Diese entfällt auch nicht, wenn der Richter es für nötig erachtet, den Aussteller der Schrift noch als Zeuge einzuvernehmen.
c) Auch die Absicht, sich einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen (
Art. 251 Ziff. 1 StGB
), ist gegeben. Der erstrebte Vorteil lag in der Verbesserung der Beweislage, indem mit der Bestätigung der Vorwurf der Widerhandlung gegen das ANAG widerlegt werden wollte, um die drohende Bestrafung abzuwenden. Unrechtmässig war dieser Vorteil, weil der Aufenthalt in Deutschland, der nicht belegt werden konnte, durch
BGE 102 IV 29 S. 35
ein Beweismittel erbracht werden wollte, das sich auf unwahre Angaben stützte. Der rechtswidrige Vorteil wird nicht deswegen zum rechtmässigen, weil das angewendete Mittel die Verhinderung einer ungerechtfertigten Verurteilung bezweckte. Gleich wie im Zivilprozess eine Partei nicht befugt ist, ein ihr zustehendes Recht durch falsche Urkunden zu belegen (
BGE 83 IV 81
), so wenig darf sich ein Beschuldigter mit unerlaubten Mitteln verteidigen, insbesondere nicht Massnahmen ergreifen, die in einer strafbaren Handlung bestehen. Der Umstand aber, dass das neue Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht die privatschriftliche Falschbeurkundung in seinem Geltungsbereich straflos lässt, verpflichtet den Richter nicht, in einem Falle wie dem vorliegenden, wo allein die Bestimmungen des StGB anzuwenden sind,
Art. 251 StGB
restriktiver auszulegen als bisher.
Anita Wolf ist daher zu Recht wegen Gebrauchs einer falschen Urkunde und Grau wegen Anstiftung dazu verurteilt worden. | de |
13bc23d1-4a3e-4bde-8e14-8d1c6615617d | Sachverhalt
ab Seite 126
BGE 103 V 126 S. 126
Aus dem Tatbestand:
A.-
Der am 27. Mai 1934 geborene und am 21. September 1968 verstorbene österreichische Staatsangehörige Günter Peter hielt sich vom 25. Mai 1954 bis 3. August 1956 zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz auf. Nach seinem Tode sprach die Schweizerische Ausgleichskasse seinen beiden Kindern mit Wirkung ab 1. Januar 1969 (Inkrafttreten des schweizerisch-österreichischen Abkommens über soziale Sicherheit vom 15. November 1967) je eine einfache Waisenrente
BGE 103 V 126 S. 127
(Verfügungen vom 20. Oktober 1969) und - auf Beschwerde hin - der geschiedenen Ehefrau Brigitte Peter eine Witwenrente zu (Verfügung vom 15. Mai 1970). Auf Grund eines durchschnittlichen Jahresbeitrages beider Ehegatten von Fr. 430.-- aus zwei Jahren und drei Monaten setzte die Kasse die Witwenrente auf Fr. 38.-- und die Waisenrenten auf je Fr. 20.-- im Monat fest; ab 1. Januar 1973 betrugen die Witwenrente Fr. 79.-- und die Waisenrenten je Fr. 40.-- monatlich.
Mit Verfügung vom 21. Juni 1973 setzte die Ausgleichskasse die Renten unter Annahme einer Beitragsdauer von einem Jahr und acht Monaten neu auf Fr. 24.-- ab 1. Januar 1969 und Fr. 27.-- ab 1. Januar 1971 für die Witwe und je Fr. 12.-- bzw. Fr. 14.-- für die Waisen fest. Gleichzeitig eröffnete sie der Rentenbezügerin, bei der Ermittlung der massgebenden Rentenskala sei irrtümlicherweise auch die Beitragszeit berücksichtigt worden, welche der Versicherte vor dem auf die Vollendung des 20. Altersjahres folgenden Kalenderjahr zurückgelegt habe.
B.-
Beschwerdeweise ersuchte Brigitte Peter um Weitergewährung der Renten in der bisherigen Höhe.
Mit Entscheid vom 9. Dezember 1976 hiess die Rekurskommission für die im Ausland wohnenden Personen die Beschwerde gut und verpflichtete die Ausgleichskasse, Brigitte Peter ab 1. August 1973 weiterhin eine Witwenrente von Fr. 79.-- und zwei Waisenrenten von je Fr. 40.-- im Monat auszurichten. Die Rekurskommission stellte fest, die Renten seien mit der angefochtenen Verfügung richtig berechnet worden, doch seien die Voraussetzungen zu einer Wiedererwägung der früheren Verfügungen mangels offensichtlicher Unrichtigkeit nicht erfüllt gewesen.
C.-
Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Rentenverfügung vom 21. Juni 1973 wiederherzustellen. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung gelangt das Bundesamt zum Schluss, angesichts der klaren Rechtslage bleibe auch im vorliegenden Fall kein Raum für eine andere Lösung als die Berichtigung der Renten gemäss Kassenverfügung vom 21. Juni 1973.
Brigitte Peter hat sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht vernehmen lassen.
BGE 103 V 126 S. 128 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Anlässlich der Rentenverfügungen vom 20. Oktober 1969 und 15. Mai 1970 ist die Ausgleichskasse von einer Beitragsdauer von zwei Jahren und drei Monaten ausgegangen. Der Ehemann der Beschwerdegegnerin hat seit dem 1. Januar des der Vollendung des 20. Altersjahres folgenden Jahres ( 1. Januar 1955) aber nur während eines Jahres und acht Monaten Beiträge geleistet. Dass die Kasse die Renten auf dieser Grundlage nachträglich zutreffend festgesetzt hat, kann als unbestritten gelten. Streitig ist dagegen, ob sie befugt war, auf die früheren Verfügungen zurückzukommen.
a) Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand einer gerichtlichen Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (
BGE 102 V 17
Erw. 3a mit Hinweisen). Bei der Beurteilung, ob eine Wiedererwägung wegen zweifelloser Unrichtigkeit zulässig sei, ist vom Rechtszustand auszugehen, wie er im Zeitpunkt des Verfügungserlasses bestanden hat, wozu auch die seinerzeitige Rechtspraxis gehört; eine Praxisänderung vermag aber kaum je die frühere Praxis als zweifellos unrichtig erscheinen zu lassen (
BGE 100 V 25
Erw. 4b).
Die für die Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen massgebenden Voraussetzungen gelten auch mit Bezug auf die Rückerstattung zu Unrecht bezogener Geldleistungen der AHV und IV (
Art. 47 Abs. 1 AHVG
und
Art. 49 IVG
). Eine gesetzwidrige Rentenberechnung hat indessen regelmässig als zweifellos unrichtig zu gelten, und es stellt sich in diesen Fällen lediglich die Frage, ob die Berichtigung der Verfügung von erheblicher Bedeutung ist. Diese Voraussetzung erfüllt in der Regel schon eine geringfügige Korrektur des monatlichen Rentenbetrages.
b) Die Vorinstanz ist unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts der Auffassung, im vorliegenden Fall sei eine Wiedererwägung nicht zulässig, weil die früheren Verfügungen "angesichts des keineswegs eindeutigen Gesetzestextes nicht als offensichtlich unrichtig gelten" könnten.
BGE 103 V 126 S. 129
In
BGE 98 V 194
hat das Eidg. Versicherungsgericht festgestellt, dass der Rechtszustand, wonach die vor dem 1. Januar des der Volljährigkeit folgenden Kalenderjahres zurückgelegten Beitragszeiten bei der Ermittlung der für die Wahl der Rentenskala massgebenden Beitragsdauer nicht berücksichtigt werden könnten, unbefriedigend sei. Das Gericht hat auch Gründe genannt, die eine ersatzweise Anrechnung von früheren Beitragszeiten als berechtigt erscheinen liessen. Entscheidend ist jedoch, dass die eingehenden rechtlichen Erwägungen zum einzig möglichen Schluss geführt haben, dass das geltende Recht keine Ausfüllung von Lücken in der Beitragsdauer des Versicherten mit dessen Beitragszeiten als Minderjähriger zulässt. Dieser seit Einführung der AHV bestehende Rechtszustand ist auch für den Richter verbindlich und könnte lediglich vom Gesetzgeber selbst geändert werden. Eine solche Änderung schlägt der Bundesrat im Rahmen der 9. AHV-Revision vor (BBl 1976 III 54 f. und 96).
Bei Entstehung des Rentenanspruchs konnte kein Zweifel über die Rechtslage hinsichtlich der hier streitigen Frage bestehen. Hieran vermag nichts zu ändern, dass die Verfügungen, auf welche die Kasse zurückgekommen ist, vor Veröffentlichung der genannten Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts ergangen sind. Entgegen dem in
BGE 100 V 20
beurteilten Sachverhalt ergibt sich der massgebende Rechtszustand unmittelbar aus der gesetzlichen Ordnung und nicht aus einer diese ergänzenden Rechtspraxis (vgl. hiezu
BGE 98 V 201
Erw. 5). Die Kassenverfügungen vom 20. Oktober 1969 und 15. Mai 1970, welche der gesetzlichen Regelung widersprechen, haben daher als zweifellos unrichtig zu gelten. Weil die Berichtigung offensichtlich von erheblicher Bedeutung ist (Kürzung der Rente um mehr als die Hälfte bei voraussichtlich langer Bezugsdauer), sind die Voraussetzungen zu einer Wiedererwägung erfüllt. Die Kassenverfügung vom 21. Juni 1973 ist folglich zu Recht ergangen. | de |
724c9299-5924-4ee3-b83f-03aa5a67cd6c | Sachverhalt
ab Seite 314
BGE 110 Ib 313 S. 314
X. ist seit mehreren Jahren Inhaber des Restaurants "A". Auf den 1. Juni 1977 übernahm er zusätzlich die Gaststätte "B". Die zuständigen Veranlagungsbehörden nahmen daraufhin auf den 1. Juni 1977 eine Zwischenveranlagung für den Rest der 19. Wehrsteuerperiode (1977/78) vor. Bei der Veranlagung für die Wehrsteuer der 20. Periode (1979/80) wichen die Steuerbehörden von den ordentlichen Bemessungsregeln ab und bezogen in Anwendung von Art. 42 i.V.m. Art. 41 Abs. 4 WStB den Ertrag des ersten Geschäftsjahres (1977/78) des neu übernommenen Restaurants "B" für beide Jahre der Berechnungsperiode in die Veranlagung ein. X. verlangt die Aufhebung der Zwischenveranlagung für die 19. Wehrsteuerperiode und die Bemessung der Wehrsteuer der 20. Periode nach den ordentlichen Bemessungsregeln.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus den folgenden Erwägungen
Erwägungen:
1.
Nach dem System des Bundesratsbeschlusses vom 9. Dezember 1940 über die Erhebung einer Wehrsteuer (WStB) wird das steuerpflichtige Einkommen in der Regel für eine zweijährige Veranlagungsperiode nach dem Durchschnitt der jährlichen Einkünfte bemessen, die der Steuerpflichtige in den beiden vorangegangenen Jahren (Berechnungsperiode) erzielte (Art. 41 Abs. 1 und 2 WStB). Schwankungen in der Höhe des Einkommens sollen sich im allgemeinen in der nachfolgenden Veranlagungsperiode auf die Wehrsteuer auswirken und derart auf die Dauer ausgleichen. Die Zwischenveranlagung ist nachträglich für die in Art. 96 Abs. 1 WStB genannten dauernden Veränderungen der Veranlagungsgrundlagen eingeführt worden, bei denen es sich als Härte erweisen würde, wenn die Anpassung der Veranlagung erst in der folgenden Veranlagungsperiode möglich wäre (vgl. dazu die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Ausführung der Finanzordnung 1951-1954, vom 4. Dezember 1950, BBl 1950 III 572; PERRET, Eine wichtige Neuerung im Wehrsteuerrecht 1951-1954, ASA 19, 417 ff.). In diesen Fällen ist für den Rest der Veranlagungsperiode bezüglich der von der Änderung betroffenen Einkommensbestandteile eine Zwischenveranlagung zu treffen, wobei der Steuer das nach Eintritt der Änderung erzielte, auf ein Jahr berechnete Einkommen zugrunde zu legen ist (Art. 96 Abs. 1 i.V.m. Art. 41 Abs. 4 WStB; vgl. auch
BGE 109 Ib 11
/12 E. 1). In der folgenden Veranlagungsperiode ist sodann für die Bemessung
BGE 110 Ib 313 S. 315
der von der Veränderung betroffenen Einkommensbestandteile ebenfalls das nach Eintritt der Änderung erzielte und auf ein Jahr umgerechnete Einkommen heranzuziehen (Art. 42 i.V.m. Art. 41 Abs. 4 WStB). Zwischenveranlagungen vermögen von vornherein nicht alle Härten, die sich aus dem System der Vergangenheitsbemessung ergeben können, aus der Welt zu schaffen. Die Aufzählung der Zwischenveranlagungsgründe in Art. 96 WStB ist abschliessend (
BGE 109 Ib 11
;
BGE 101 Ib 401
E. 2; ASA 53, 190 E. 2; KÄNZIG, Wehrsteuer, 2. Aufl., N 2 zu Art. 42 WStB; MASSHARDT, Wehrsteuerkommentar, Ausgabe 1980, N 6 zu Art. 96 WStB, je mit vielen weiteren Nachweisen). Zudem ist diese Bestimmung einschränkend auszulegen, da Zwischenveranlagungen grundsätzlich Ausnahmen bleiben sollen (ASA 53, 190 E. 2 in fine).
2.
Gemäss Art. 96 Abs. 1 WStB ist eine Zwischenveranlagung unter anderem vorzunehmen, wenn sich die Veranlagungsgrundlagen bei einer natürlichen Person wegen Aufnahme der Erwerbstätigkeit oder wegen Berufswechsels dauernd verändert haben.
a) Mit der Aufnahme (bzw. Aufgabe) der Erwerbstätigkeit und mit dem Berufswechsel ist eine dauernde Veränderung der Veranlagungsgrundlagen nicht notwendig verbunden, weshalb diese Zwischenveranlagungsgründe in einem einschränkenden Sinne zu verstehen sind. So ist es zwar denkbar, dass ein Steuerpflichtiger mehrfach seine Erwerbstätigkeit aufnimmt und wieder aufgibt; in der Regel bilden solche Vorgänge aber keine Zwischenveranlagungsgründe, wenn sie in kurzen Zeitabständen aufeinanderfolgen (nicht publiziertes Urteil vom 22. März 1984 i.S. O., E. 3). Im allgemeinen ist eine Zwischenveranlagung nur einmal vorzunehmen beim Eintritt in das Erwerbsleben (vgl. das zitierte Urteil; KÄNZIG, a.a.O., 2. Aufl., N 5 zu Art. 42 WStB; MASSHARDT, a.a.O., N 13 zu
Art. 42 und N 7
zu Art. 96 WStB) und bei der alters- und gesundheitsbedingten Aufgabe der Erwerbstätigkeit (vgl.
BGE 109 Ib 10
ff.; ASA 53, 188 ff.). Ein Berufswechsel ist bei einem Steuerpflichtigen zwar mehrfach denkbar, führt aber nur zu einer Zwischenveranlagung, wenn damit eine grundlegende Umstellung der Tätigkeit verbunden ist (wie etwa beim Übergang von einer unselbständigen zu einer selbständigen Tätigkeit oder umgekehrt;
BGE 101 Ib 403
E. 2b; KÄNZIG, a.a.O., 2. Aufl., N 26 zu Art. 42 WStB, mit weiteren Nachweisen) oder wenn bei einer tiefgreifenden Umstellung der Tätigkeit eine besonders einschneidende
BGE 110 Ib 313 S. 316
und dauerhafte Veränderung der Einnahmenstruktur eintritt (
BGE 101 Ib 403
E. 2b; vgl. auch ASA 53, 190/191 E. 3b). Zwischenveranlagungen wegen Aufnahme bzw. Aufgabe der Erwerbstätigkeit sowie wegen Berufswechsels setzen eine tiefgreifende strukturelle Änderung der gesamten beruflichen Situation voraus, bei der eine Aufrechterhaltung der ordentlichen Veranlagung im Rahmen der zweijährigen Veranlagungsperiode sich nicht mehr rechtfertigen liesse.
b) Die Aufnahme bzw. Aufgabe einer unselbständigen Nebenerwerbstätigkeit führt im allgemeinen zu keiner tiefgreifenden strukturellen Änderung der gesamten beruflichen Situation. Dies trifft erst recht zu auf Selbständigerwerbende, die ihre Erwerbstätigkeit teilweise ausdehnen oder einschränken. Denn bei Selbständigerwerbenden ist eine Unterscheidung zwischen Haupt-, Neben- und Teilzeiterwerbstätigkeit oft praktisch nicht möglich (vgl. zu den sich dabei stellenden Problemen BEER, Die Zwischenveranlagung bei Aufnahme, resp. Aufgabe der Erwerbstätigkeit sowie bei Berufswechsel, Diss. Bern 1979, S. 81 ff.). Deshalb kann auch die Aufnahme bzw. Aufgabe einer "konkurrierenden", aber mit der fortgeführten bisherigen Aktivität sachlich zusammenhängenden Erwerbstätigkeit nicht als tiefgreifende strukturelle Änderung betrachtet werden, die eine Zwischenveranlagung nach Art. 96 WStB wegen Aufnahme bzw. Aufgabe der Erwerbstätigkeit rechtfertigen würde (vgl. M. MASSHARDT, a.a.O., N 13 zu
Art. 42 und N 7
zu Art. 96 WStB; BEER, a.a.O., S. 81 ff.; noch offengelassen in ASA 46, 503 E. 3b in fine).
c) Das Bundesgericht hat in
BGE 101 Ib 398
ff. bei der Aufgabe einer von mehreren unselbständigen Nebenerwerbstätigkeiten unter bestimmten Umständen eine Zwischenveranlagung zugelassen. Dabei ist es von der früheren Praxis der kantonalen Wehrsteuerveranlagungsbehörden (vgl. dazu KÄNZIG, Die Zwischenveranlagung wegen Aufnahme und Aufgabe der Erwerbstätigkeit, ASA 45, 179) abgewichen, eine Zwischenveranlagung wegen Aufgabe der Erwerbstätigkeit nur vorzunehmen, wenn aus Alters- oder Gesundheitsgründen die Haupterwerbstätigkeit aufgegeben wird (vgl. etwa ASA 14, 295 E. 5b). Nach
BGE 101 Ib 403
ff. E. 2c und 3 könnten Zwischenveranlagungen wegen Aufnahme bzw. Aufgabe einer Nebenerwerbstätigkeit beim gleichen Steuerpflichtigen entgegen der oben erwähnten Regel (vgl. E. 2a) mehrfach vorkommen, allenfalls sogar wenn keine tiefgreifende strukturelle Änderung der gesamten beruflichen Situation eingetreten ist.
BGE 110 Ib 313 S. 317
Daran kann nicht festgehalten werden. Die Begründung jenes Entscheids beruht im übrigen darauf, dass das Erwerbseinkommen eines Steuerpflichtigen nach seinen verschiedenen Quellen aufgeteilt und das Hinzutreten bzw. der Wegfall eines Teilerwerbseinkommens aus einer einzelnen Erwerbsquelle als Zwischenveranlagungsgrund betrachtet wird. Art. 96 WStB sieht zwar vor, dass eine neue Veranlagung für die von der Veränderung betroffenen Einkommensbestandteile (éléments du revenu, elementi del reddito) vorzunehmen ist, verlangt eine derartige Betrachtungsweise der Zwischenveranlagungsgründe aber weder nach seinem Wortlaut noch nach seinem Sinn als Norm mit Ausnahmecharakter (vgl. vorne E. 1). Mit dem Art. 21 WStB zugrundeliegenden Einkommensverständnis, der Gesamtreinvermögenszugangstheorie mit Vergangenheitsbemessung (vgl. dazu KÄNZIG, Wehrsteuer, 2. Aufl., N 2 zu Art. 21 WStB; ähnlich
BGE 108 Ib 228
/229 E. 2a), steht die Gegenwartsbesteuerung nur für einzelne Einkommensbestandteile ohnehin in einem gewissen Spannungsverhältnis und ist deshalb nur mit Zurückhaltung zu wählen. Beim Entscheid, ob ein Zwischenveranlagungsgrund von Art. 96 WStB gegeben ist, ist daher nicht die einzelne Erwerbsquelle zu betrachten, sondern die berufliche, gewerbliche oder unternehmerische Tätigkeit eines Steuerpflichtigen und das daraus resultierende Erwerbseinkommen in seiner Gesamtheit.
d) Die blosse Geschäftserweiterung stellt nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung keinen Berufswechsel im Sinne von Art. 96 WStB dar (ASA 46, 497 ff.). Auch die blosse Erweiterung eines Handelsunternehmens durch Angliederung neuer Geschäftszweige, welche sich in das Bestehende einfügen und die Erwerbstätigkeit des Steuerpflichtigen nicht grundlegend verändern, bildet keinen Zwischenveranlagungsgrund; das gleiche gilt für die Aufgabe einer Abteilung oder Filiale bei Fortführung des Gesamtgeschäftes (ASA 46, 501 E. 3a; vgl. auch KÄNZIG, a.a.O., 2. Aufl., N 23 zu Art. 42 WStB; PICHON, La taxation intermédiaire en raison du début ou de la cessation de l'activité lucrative et d'un changement de profession, StR 37 (1982) S. 520/521). Wenn dagegen neue Geschäftszweige im Gesamtbild des Unternehmens sofort das Übergewicht erhalten und wegen ihrer Andersartigkeit (Fehlen einer unmittelbaren Beziehung zum bisherigen Unternehmensbereich) die Erwerbstätigkeit des Steuerpflichtigen grundlegend verändern, so ist der Zwischenveranlagungsgrund des Berufswechsels gegeben (ASA 46, 502).
BGE 110 Ib 313 S. 318
3.
Durch die Übernahme des Restaurants "B" zusätzlich zum bereits vorher betriebenen Restaurant "A" hat sich die unternehmerische Tätigkeit des Beschwerdeführers strukturell nicht grundlegend verändert. Der Beschwerdeführer, der schon vor dem 1. Juni 1977 als Restaurateur tätig war, hat mit der Übernahme des zweiten Restaurants keinen Berufswechsel vollzogen.
Ebensowenig handelt es sich dabei um eine Aufnahme der Erwerbstätigkeit. Der Beschwerdeführer hat zwar seine Geschäftstätigkeit quantitativ erheblich ausgeweitet. Auf den 1. Juni 1977 trat zum bisherigen Erwerbseinkommen des Beschwerdeführers dasjenige aus einer weiteren gleichartigen Erwerbseinkommensquelle hinzu. Doch ändert sich die gesamte Einkommensstruktur dadurch nicht wesentlich. Es verhält sich nicht grundlegend anders als bei der Aufnahme einer unselbständigen Nebenerwerbstätigkeit durch einen bereits hauptberuflich unselbständig Erwerbstätigen.
Da der Beschwerdeführer weder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen noch einen Berufswechsel vollzogen hat, sind die Voraussetzungen für die Vornahme einer Zwischenveranlagung nicht erfüllt. Die von den Steuerbehörden des Kantons Bern auf den 1. Juni 1977 hin zu Unrecht verfügte Zwischenveranlagung ist somit aufzuheben.
4.
Die in Art. 42 WStB aufgeführten Gründe, die in der folgenden Veranlagungsperiode eine Abweichung von den ordentlichen Bemessungsregeln verlangen, decken sich mit den Zwischenveranlagungsgründen nach Art. 96 WStB. Liegt in der Übernahme eines gleichartigen Betriebes durch einen bereits eine Unternehmung führenden Selbständigerwerbenden kein Zwischenveranlagungsgrund, so ist die Wehrsteuer in der folgenden Veranlagungsperiode nach den ordentlichen Regeln von Art. 41 Abs. 1 und 2 WStB zu bemessen.
Im vorliegenden Fall hätte somit der Reingewinn des Restaurants "B" im ersten Geschäftsjahr 1977/78 bei der Bemessung der Wehrsteuer für die 20. Periode (1979/80) nur einmal herangezogen werden dürfen. Die Beschwerde ist daher auch hinsichtlich der 20. Wehrsteuerperiode gutzuheissen und die Sache zur neuen Veranlagung an die zuständigen Behörden zurückzuweisen. | de |
0d2bfec1-5ce6-4e68-889b-53b0979b0ab9 | Sachverhalt
ab Seite 162
BGE 102 IV 162 S. 162
A.-
X. wurde am 27. November 1974 geschieden und verliess am 10. Dezember 1974 seine Stelle als Werkzeugschleifer bei der Firma M. in Zürich. Seit Januar 1975 will er im Hause seiner Mutter in P. wohnen.
Vermutlich im Mai 1975 nahm X. im Estrich des Hauses seiner Mutter zwei dieser gehörende Kupferkessi an sich und verkaufte sie ohne Wissen der Eigentümerin für den Betrag von Fr. 200.-- dem Antiquitätenhändler R. Die Mutter lehnte es indessen ab, gegen ihren Sohn Strafantrag zu stellen.
B.-
Y. ist als Pflegesohn bei den Eltern des X. aufgewachsen und wohnte ebenfalls im Hause der Mutter des X., bis er am 10. Juli 1975 wegen eines Unfalles in das Kantonsspital in Chur verbracht wurde. Y. bevollmächtigte X. schriftlich, ihn "während der Dauer seines Unfalles in allen Belangen zu vertreten". Mit dieser Vollmacht sprach X. bei der Arbeitgeberin des Y. vor und bezog dort von dessen Lohnguthaben am 18. August 1975 Fr. 930.15 und am 27. August 1975 weitere Fr. 1'826.95. Das Geld verwendete X. teils zur Zahlung wirklicher, bzw. angeblicher eigener Schulden, teils verwendete er es für persönliche Bedürfnisse. Fr. 415.-- konnten anlässlich seiner Verhaftung sichergestellt werden.
Y. hat gegen X. rechtzeitig Strafantrag wegen Veruntreuung gestellt, diesen aber später wieder zurückgezogen.
C.-
Mit Urteil vom 20. November 1975 sprach der Kreisgerichtsausschuss Chur X. der fortgesetzten Veruntreuung gemäss Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 und des Betruges gemäss
Art. 148 Abs. 1 StGB
schuldig und verurteilte ihn als Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom
BGE 102 IV 162 S. 163
2. September 1975 zu sechs Monaten Gefängnis. Die erstandene Untersuchungshaft von 14 Tagen wurde auf die Strafe angerechnet.
Eine hiegegen eingereichte Berufung hat der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden mit Urteil vom 29. März 1976 abgewiesen.
D.-
X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt Freisprechung von Schuld und Strafe, eventuell Einstellung des Verfahrens im Anklagepunkt der Veruntreuung.
E.-
Die Staatsanwaltschaft Graubünden beantragt Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Verurteilung wegen Betruges zum Nachteil von R. ist nicht angefochten und in Rechtskraft erwachsen.
Hinsichtlich des Urteils der Vorinstanz macht der Beschwerdeführer geltend, er sei Familiengenosse des Geschädigten Y. Dieser habe aber den Strafantrag vor der erstinstanzlichen Verurteilung zurückgezogen, so dass die Verurteilung wegen Veruntreuung zu Unrecht erfolgt sei.
2.
Der von der Vorinstanz festgestellte Sachverhalt erfüllt zweifelsfrei den Tatbestand der Veruntreuung. Zu prüfen ist deshalb lediglich, ob der Beschwerdeführer und Y. Familiengenossen im Sinne von
Art. 110 Ziff. 3 StGB
waren, so dass die Veruntreuung des Beschwerdeführers zum Nachteil des Y. nur auf Antrag verfolgt werden könnte (
Art. 140 Ziff. 3 StGB
).
a) Familiengenossen sind Personen, die im gemeinsamen Haushalte leben (
Art. 110 Ziff. 3 StGB
). Grund der Privilegierung ist nach der Rechtsprechung der Hausfrieden (
BGE 72 IV 6
,
BGE 86 IV 159
). Das Gesetz will durch das Antragserfordernis den Hausfrieden unter Personen begünstigen, die durch gemeinsames Haushalten eine Hausgemeinschaft bilden, die derjenigen unter den Gliedern ein und derselben Familie nahe kommt. Dazu gehört, dass zwei oder mehr Personen gemeinsam essen und wohnen und unter einem gemeinsamen Dache schlafen (
BGE 72 IV 6
,
BGE 86 IV 158
ff.).
b) Der Beschwerdeführer behauptet, er habe seit Januar 1975 und jedenfalls im Zeitpunkt der Tat mit dem Geschädigten
BGE 102 IV 162 S. 164
Y. im Hause seiner Mutter gelebt und sei in dieser Zeit Familiengenosse des Y. gewesen. Der Kreisgerichtsausschuss hat diese Behauptung jedoch mit der Begründung verneint, der Beschwerdeführer habe bis Ende August 1975 seine Schriften in Zürich eingelegt gehabt und er sei bis zu diesem Zeitpunkt nur unregelmässig nach P. gekommen.
Der Ort, wo eine Person ihre Schriften hinterlegt, kann lediglich ein Indiz dafür sein, dass sie auch an diesem Ort ihren Wohnsitz im Sinne von
Art. 23 ZGB
hat. Es schliesst dies nicht aus, dass sie in Wirklichkeit an einem anderen Ort wohnt. Mit Recht hat daher die Vorinstanz dem Umstand, dass der Beschwerdeführer die Schriften in Zürich eingelegt hat, hinsichtlich des Wohnsitzes keine entscheidende Bedeutung beigemessen.
Die Vorinstanz bemerkt sodann, es möge durchaus der Fall sein, dass der Beschwerdeführer seit Januar 1975 im Hause seiner Mutter gewohnt habe. Damit ist die gegenteilige Annahme der ersten Instanz aufgehoben und die Frage offen gelassen, wo der Beschwerdeführer zur Zeit der Tat seinen Wohnsitz gehabt hat.
c) Die Vorinstanz hat den betreffenden Punkt deshalb nicht abgeklärt, weil sie fand, Y. habe sich seit dem 10. Juli 1975 im Kantonsspital befunden. Damit sei eine allfällige Hausgemeinschaft mit dem Beschwerdeführer bereits anderthalb Monate vor der Tat aufgehoben worden. Es stellt sich somit die Frage, ob ein krankheitsbedingter Spitalaufenthalt die Familiengemeinschaft im Sinne von
Art. 110 Ziff. 3 StGB
aufhebt.
Die Beantwortung der Frage hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Ein Spitalaufenthalt kann Anlass dafür sein, dass der Erkrankte die frühere Hausgemeinschaft aufhebt und den Willen bekundet, nicht mehr an den früheren Ort zurückzukehren. Dass dem im vorliegenden Fall so war, geht weder aus dem angefochtenen Urteil noch aus den Akten hervor. Sollte Y. im Gegenteil seine Effekten im Hause der Mutter des Beschwerdeführers gelassen und die Absicht gehabt haben, nach einer in absehbarer Zeit zu erwartenden Spitalentlassung wieder in die dortige Hausgemeinschaft zurückzukehren und wurde auch von den anderen im selben Haushalt lebenden Personen die Hausgemeinschaft nicht aufgehoben, so handelt es sich nur um eine vorübergehende Unterbrechung gemeinsamen
BGE 102 IV 162 S. 165
Wohnens, welche das Band der Familiengenossenschaft zwar während einer bestimmten Zeit lockert, ohne es aber aufzuheben. Das ist anzunehmen, wenn Möbel oder Effekten des kranken Hausgenossen in der Wohnung bleiben mit der Absicht, die Hausgemeinschaft nach der krankheitsbedingten Abwesenheit wenigstens vorübergehend fortzusetzen. In solchen Fällen erscheint es nicht angezeigt, dass eine Strafverfolgung von Amtes wegen eine Hausgemeinschaft gegen den Willen des Verletzten störe und einer allenfalls vom Verletzten gewünschten Fortsetzung der Hausgemeinschaft entgegenwirke. Es verhält sich hier nicht wesentlich anders als mit Militärdienst, Ferien, Geschäftsreisen, beruflichen Kursen, welche das unmittelbare Zusammenleben zwar vorübergehend unterbrechen, ohne aber die Gemeinschaft als solche aufzulösen.
d) Die Vorinstanz wird daher prüfen müssen, ob der Beschwerdeführer und Y. während dessen Spitalaufenthalt Familiengenossen im Sinne der angestellten Erwägungen geblieben sind. Sollte dies zutreffen, wäre die Verurteilung wegen Veruntreuung mangels Strafantrages aufzuheben und die Strafe neu zuzumessen. | de |
fbe3c288-e6c2-4d93-8cae-4283798f241f | Erwägungen
ab Seite 43
BGE 133 V 42 S. 43
Aus den Erwägungen:
2.
Streitig und zu prüfen ist der Zeitpunkt, ab welchem die Unfallversicherung eine Hilflosenentschädigung auszurichten hat. Hingegen ist nicht mehr umstritten, dass nur Anspruch auf eine Entschädigung für eine Hilflosigkeit leichten Grades besteht. Ebenso unbestritten sind die ab 1. Juni 2002 laufende Invalidenrente und die Integritätsentschädigung.
2.1
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) sprach die Hilflosenentschädigung ab 1. Januar 2000 zu, während die Vorinstanz den Beginn im Sinne einer reformatio in peius auf den 1. August 2001 festsetzte. Der Versicherte verlangt die Hilflosenentschädigung wie vor der Vorinstanz ab 1. Mai 1998.
2.2
Der Beschwerdeführer begründet seinen Anspruch damit, dass er am 24. April 1998 aus dem Paraplegikerzentrum X. ausgetreten sei. Sein Gesundheitszustand sei im damaligen Zeitpunkt stabilisiert gewesen. Wohl bestimme
Art. 37 Abs. 1 UVV
, dass der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung am ersten Tag des Monats beginne, in dem die Voraussetzungen erfüllt seien, frühestens jedoch beim Beginn eines allfälligen Rentenanspruchs. Im vorliegenden Fall seien die beruflichen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung im Sommer 2001 abgeschlossen worden, weshalb er an sich erst ab dem 1. August 2001 den Anspruch auf eine Rente der Unfallversicherung erheben könne. Insofern stehe der Entscheid der Vorinstanz, die Hilflosenentschädigung ebenfalls erst ab 1. August 2001 laufen zu lassen, im Einklang mit
Art. 37 UVV
. Indessen sei diese Verordnungsbestimmung gesetzwidrig und stehe namentlich in Widerspruch zu
Art. 26 UVG
. Dort würden die Voraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung umschrieben, wobei sich kein Zusammenhang zum Rentenanspruch herauslesen lasse. Eine solche Verknüpfung sei auch überflüssig, da der Renten- und der Hilflosenentschädigungsanspruch an unterschiedliche Voraussetzungen gebunden seien.
Art. 37 UVV
führe vielmehr zu nicht haltbaren Ergebnissen: so könnten Versicherte, die beruflich gut eingegliedert seien und deshalb keinen
BGE 133 V 42 S. 44
Rentenanspruch hätten, gar keine Hilflosenentschädigung beziehen, auch wenn sie hilflos seien.
2.3
Die Vorinstanz erwog hiegegen,
Art. 37 UVV
sei gesetzeskonform. Solange kein Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung bestehe, habe stattdessen die Invalidenversicherung eine solche Leistung zu erbringen. Das Eidgenössische Versicherungsgericht habe dies in
BGE 124 V 166
auch für den Fall bestätigt, dass die Hilflosigkeit ausschliesslich auf einen Unfall zurückzuführen sei. Ein gleichzeitiger Bezug beider Hilflosenentschädigungen sei sodann ausgeschlossen. Demnach sei
Art. 37 UVV
, auch wenn dies im genannten Urteil nicht ausdrücklich gesagt werde, als gesetzeskonform zu betrachten. Auch die SUVA hat in der Duplik an die Vorinstanz darauf hingewiesen, dass
Art. 37 UVV
die Ansprüche auf die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung einerseits und der Unfallversicherung anderseits voneinander abgrenze und die Invalidenversicherung prioritär zu leisten habe.
3.
Angesichts der geschilderten Argumentationen ist zu prüfen, ob
Art. 37 UVV
gesetzmässig ist.
3.1
Nach der Rechtsprechung kann das Eidgenössische Versicherungsgericht Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich, von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei unselbstständigen Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation stützen, geht es in erster Linie darum zu beurteilen, ob sie sich im Rahmen der Delegationsnorm halten. Besteht ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene, muss sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die umstrittenen Vorschriften offensichtlich aus dem Rahmen der im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen oder aus anderen Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind (vgl.
Art. 191 BV
). Es kann sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen, und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen (
BGE 131 V 14
E. 3.4.1;
BGE 131 II 566
E. 3.2,
BGE 129 V 740
E. 4.1). Die vom Bundesrat verordnete Regelung verstösst allerdings dann gegen das Willkürverbot oder das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (
Art. 9 und 8 Abs. 1 BV
), wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn- oder zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger
BGE 133 V 42 S. 45
Grund nicht finden lässt. Gleiches gilt, wenn die Verordnung es unterlässt, Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise hätten berücksichtigt werden sollen (
BGE 131 II 166
E. 2.3,
BGE 129 V 275
E. 4;
BGE 131 V 266
E. 5.1;
BGE 130 V 473
E. 6.1;
BGE 130 I 32
E. 2.2.1;
BGE 129 II 164
E. 2.3;
BGE 129 V 271
E. 4.1.1,
BGE 129 V 329
E. 4.1, je mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 130 V 45
E. 4.3).
3.2
Sowohl
Art. 26 UVG
, welcher den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung als solchen regelt, als auch
Art. 27 UVG
, welcher sich zu deren Höhe äussert, sagen nichts aus zum Beginn des Anspruchs auf die genannte Leistung.
3.3
Art. 37 Satz 1 UVV
bestimmt, das der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung am ersten Tag des Monats entsteht, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind, jedoch frühestens beim Beginn eines allfälligen Rentenanspruchs. Mit diesem Wortlaut, der insoweit mit der französischen und der italienischen Fassung von
Art. 37 UVV
übereinstimmt, stellt die genannte Vorschrift einen Zusammenhang her zwischen der Hilflosenentschädigung und der Rente. Es fragt sich, ob sich dafür ein vernünftiger Grund finden lässt.
3.4
Zunächst fällt auf, dass die Invalidenversicherung und die Militärversicherung keinen solchen Zusammenhang kennen (vgl.
Art. 35 Abs. 1 IVV
und
Art. 20 MVG
). Dies macht denn auch Sinn, weil die bei der Hilflosenentschädigung verlangte Hilflosigkeit und die bei der Rente vorausgesetzte Invalidität zwei verschiedene Begriffe sind (so schon ZAK 1970 S. 478 E. 1c; vgl. auch ZAK 1971 S. 78 E. 3b, Urteile vom 13. Oktober 2005 E. 4.3 [I 431/05] und vom 4. Februar 2004 E. 3.2 [H 128/03], je mit Hinweisen). Sie haben nur so viel gemeinsam, als beide an eine Beeinträchtigung der Gesundheit anknüpfen (vgl.
Art. 7 und 8 ATSG
einerseits mit
Art. 9 ATSG
anderseits). Wohl sprechen
Art. 26 Abs. 1 UVG
und
Art. 42 Abs. 2 IVG
(je in den bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassungen) von "Invalidität". Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Begriff der Hilflosigkeit schon vor dem Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 nicht an die Invalidität im Sinne des Gesetzes (d.h. an die Erwerbsunfähigkeit gemäss alt
Art. 4 Abs. 1 IVG
) angeknüpft hat. In SVR 2005 IV Nr. 4 S. 14 (Urteil vom 2. Juni 2004, I 127/04) hielt das Eidgenössische Versicherungsgericht fest, dass der Gesetzgeber in
Art. 9 ATSG
die bisherige Definition der Hilflosigkeit übernehmen wollte (vgl. BBl 1991 II 249). Die
BGE 133 V 42 S. 46
Bestimmung weicht von der bisherigen Umschreibung in alt
Art. 42 Abs. 2 IVG
allerdings dahingehend ab, dass anstelle der "Invalidität" von einer "Beeinträchtigung der Gesundheit" ausgegangen wird, was einerseits eine gewisse Ausweitung darstellt (KIESER, ATSG-Kommentar N. 3 zu Art. 9). Andererseits drückt der Wortlaut der Bestimmung nur aus, was schon nach altem Recht gegolten hatte. Der Terminus "Invalidität" in alt
Art. 42 Abs. 2 IVG
wollte die Anspruchsberechtigung für eine Hilflosenentschädigung nicht auf Invalide im Sinne von alt
Art. 4 IVG
, das heisst auf Versicherte, die infolge eines geistigen oder körperlichen Gesundheitsschadens in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt waren, beschränken. Vielmehr hatte das Wort "Invalidität" dort nicht eine wirtschaftliche Bedeutung, sondern diejenige der körperlichen und oder geistigen Behinderung. Gerade körperlich Behinderte - exemplarisch sei an Rollstuhlfahrer erinnert -, die dank einer guten Eingliederung wegen ihres Gesundheitsschadens keine Erwerbseinbusse erleiden, hingegen in den alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd auf die Hilfe Dritter angewiesen sind, waren schon bisher anspruchsberechtigt. Das ATSG hat demnach mit der neuen Formulierung von Art. 9 insbesondere einen redaktionellen Fehler eliminiert (SVR 2005 IV Nr. 4 S. 15 E. 2.2.1 in fine).
3.5
Dass Hilflosigkeit und Invalidität zwei verschiedene Dinge sind, zeigt sich nicht nur darin, dass viele Versicherte, insbesondere Paraplegiker, zwar eine Hilflosenentschädigung beziehen, dank einer guten beruflichen Eingliederung aber keinen Rentenanspruch haben (neben dem in SVR 2005 IV Nr. 4 S. 14 publizierten Urteil vgl. etwa
BGE 117 V 146
). Umgekehrt gibt es auch Versicherte, die vollständig invalid sind und daher eine ganze Rente beziehen, ihre alltäglichen Lebensverrichtungen jedoch selber besorgen können und deshalb nicht hilflos sind. Insoweit ist kein vernünftiger Grund für den in
Art. 37 UVV
bezüglich des Beginns des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung vorgenommenen Zusammenhangs mit der Rente zu erkennen.
3.6
Der Konnex zwischen der Hilflosenentschädigung und der Rente in
Art. 37 UVV
mag seinen Grund im Verständnis des früheren Unfallversicherungsrechts haben. Damals war die Hilflosigkeit nicht in der Form einer eigenständigen Leistung abgegolten worden, sondern als (lohnabhängiger) Zuschlag zur Invalidenrente (
Art. 77 Abs. 1 KUVG
; MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl., 1963, S. 242).
BGE 133 V 42 S. 47
Wohl aus dieser Optik heraus hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) im Vorentwurf für die UVV vom 20. März 1980 einen Text vorgeschlagen, der im Wesentlichen mit dem heutigen
Art. 37 Satz 1 UVV
übereinstimmt (
Art. 34 Abs. 1 UVV
-Entwurf). Dem hat die Kommission zur Vorbereitung der Verordnung über die obligatorische Unfallversicherung am 13./14. August 1980 diskussionslos zugestimmt (Protokoll S. 15; vgl. auch Protokoll der Sitzungen vom 29./30. April und 5. Mai 1981 S. 56). Im zweiten Entwurf des BSV vom Februar 1982 ist - nebst der Streichung eines Wortes im Nebensatz - zum Wort "Rentenanspruch" das "allfällig" eingefügt worden; dies wohl aus der Überlegung heraus, dass es eben auch Fälle von hilflosen Versicherten gibt, denen dank einer erfolgreichen Eingliederung gar kein Rentenanspruch zusteht. Bei dieser Formulierung blieb es im dritten und vierten Entwurf. Schliesslich hat die Kommission den so bereinigten
Art. 37 UVV
am 29./30. März 1982 ohne Diskussion angenommen (Protokoll S. 25). Den Materialien zur UVV lässt sich somit nicht entnehmen, weshalb im Falle der Berentung die Hilflosenentschädigung erst ab dem Zeitpunkt des Rentenbeginns laufen soll und nicht schon dann, wenn die Voraussetzungen für die Entschädigung erfüllt sind.
3.7
Falls
Art. 37 UVV
durch das altrechtliche Verständnis der Abgeltung von Hilflosigkeit im Rahmen der Berentung beeinflusst worden sein sollte, müsste jedoch insofern ein Widerspruch festgestellt werden, als in der Botschaft zum UVG ausdrücklich gesagt wird, dass die Hilflosenentschädigung nicht wie bisher als lohnabhängiger Rentenzuschlag, sondern wie in der Invalidenversicherung als eigenständige Leistung gewährt werden soll (BBl 1976 III 169), und dass die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung dieselben sein sollen wie in der Invalidenversicherung (BBl 1976 III 193). Mit andern Worten lag der Botschaft die Überlegung zu Grunde, die Hilflosenentschädigung von der Rente abzukoppeln. Auch dies spricht dafür, dass sich der in
Art. 37 UVV
verankerte Konnex zwischen der Hilflosenentschädigung und der Rente nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt.
3.8
Die Vorinstanz stellt zur Bejahung der Gesetzmässigkeit von
Art. 37 UVV
auf
BGE 124 V 166
ab. In diesem Urteil ging es indessen einzig um die Koordination bzw. Kumulation der Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung einerseits mit derjenigen
BGE 133 V 42 S. 48
der Invalidenversicherung (und der Alters- und Hinterlassenenversicherung) anderseits. Wohl wird
Art. 37 UVV
in Verbindung mit
Art. 19 UVG
in einer Klammer zitiert (
BGE 124 V 170
f. E. 4b); indessen hat sich für das Eidgenössische Versicherungsgericht die Frage der Verfassungs- und Gesetzmässigkeit von
Art. 37 UVV
in diesem Fall gar nicht gestellt, weshalb sie denn auch weder aufgeworfen noch geprüft wurde. Das räumt auch die Vorinstanz ein. Damit geht deren Berufung auf das genannte Urteil fehl.
3.9
Schliesslich spricht auch die folgende Überlegung gegen ernsthafte Gründe für die in
Art. 37 UVV
statuierte Verknüpfung von Hilflosenentschädigung und Rente:
Gemäss
Art. 19 Abs. 1 UVG
entsteht der Rentenanspruch, wenn (1) von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann und (2) allfällige Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung abgeschlossen sind. Der zweite Sachverhalt (Abschluss der Eingliederung durch die Invalidenversicherung) hat keinen Zusammenhang mit der Frage der Hilflosigkeit. Muss eine versicherte Person trotz einer an sich bereits bestehenden Hilflosigkeit im Sinne von Art. 38 Abs. 2 bis 4 UVV auf den Beginn der Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung nur deshalb warten, weil die Invalidenversicherung eine berufliche Eingliederung durchführt und darum noch kein Anspruch auf eine Rente der Unfallversicherung entstehen kann, wird hier mit Bezug auf den Beginn der Hilflosenentschädigung ein Umstand berücksichtigt, der mit der Hilflosigkeit nichts zu tun hat. Dies gilt an sich auch für den ersten Sachverhalt (Abschluss der Heilbehandlung). Denn auch der Zeitpunkt des Abschlusses hat keinen Einfluss darauf, ob Hilflosigkeit besteht oder nicht. Ein Vorbehalt ist jedoch für den Fall anzubringen, dass die Heilbehandlung in einem Spital durchgeführt wird. Dass hier eine allfällige Hilflosigkeit nicht durch eine Hilflosenentschädigung abgegolten wird, ist gesetzlich geregelt (vgl. den Ende 2002 aufgehobenen
Art. 26 Abs. 2 UVG
; seit dem 1. Januar 2003 ist dieser Sachverhalt in
Art. 67 Abs. 2 ATSG
festgehalten). Wenn
Art. 26 Abs. 1 UVG
klar und unzweideutig festhält, dass der Versicherte bei Hilflosigkeit (
Art. 9 ATSG
) Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung hat, verletzt
Art. 37 UVV
diesen gesetzlichen Grundsatz insoweit, als ein Anspruch auf Hilflosenentschädigung
BGE 133 V 42 S. 49
"frühestens beim Beginn eines allfälligen Rentenanspruchs" eingeräumt wird. Dieser Vorbehalt erweist sich nach dem Gesagten als gesetzwidrig. | de |
49eee73a-ec71-4169-a419-b3f269bd6c87 | Erwägungen
ab Seite 42
BGE 132 V 42 S. 42
Aus den Erwägungen:
1.
Die Rückerstattungsforderung der Arbeitslosenkasse vom 1. Oktober 2002 über Fr. 18'629.55 ist mit unangefochten gebliebenem
BGE 132 V 42 S. 43
und damit in Rechtskraft erwachsenem Entscheid des kantonalen Gerichts vom 1. April 2003 bestätigt worden. Soweit die Argumentation in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde darauf hinausläuft, die Rechtmässigkeit der Rückerstattungsforderung als solche in Frage zu stellen, ist deshalb darauf nicht mehr einzutreten. Gegenstand des angefochtenen Entscheids vom 6. Juli 2005 bildet einzig noch die vorinstanzliche Erkenntnis, dass das Gesuch des heutigen Beschwerdeführers um Erlass der Rückerstattungsschuld zu spät gestellt worden sei und die Verwaltung deshalb darauf von vornherein nicht mehr hätte eintreten dürfen.
1.2
Wie schon im kantonalen Entscheid zutreffend dargelegt worden ist, sind unrechtmässig bezogene Leistungen gemäss
Art. 25 Abs. 1 ATSG
zurückzuerstatten (Satz 1); wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt (Satz 2; zur Rechtslage vor In-Kraft-Treten des ATSG vgl.
Art. 95 Abs. 1 und 2 AVIG
). Laut
Art. 4 Abs. 1 ATSV
wird die Rückerstattung unrechtmässig gewährter Leistungen, die in gutem Glauben empfangen wurden, bei Vorliegen einer grossen Härte ganz oder teilweise erlassen. Abs. 2 derselben Bestimmung erklärt für die Beurteilung, ob eine grosse Härte vorliegt, den Zeitpunkt als massgebend, in welchem über die Rückforderung rechtskräftig entschieden ist. Nach
Art. 4 Abs. 4 ATSV
wird der Erlass auf schriftliches Gesuch gewährt (Satz 1); das Gesuch ist zu begründen, mit den nötigen Belegen zu versehen und spätestens 30 Tage nach Eintritt der Rechtskraft der Rückforderungsverfügung einzureichen (Satz 2).
(...)
3.
3.1
Ein neues Erlassgesuch hat der Beschwerdeführer dem Amt für Wirtschaft und Arbeit erst am 23. Juni 2003 als Reaktion auf eine Zahlungsaufforderung der Arbeitslosenkasse vom 18. Juni 2003 eingereicht. Daraufhin leitete die kantonale Amtsstelle Abklärungen finanzieller Art in die Wege und erliess schliesslich am 11. August 2004 eine ablehnende Verfügung, weil die Rückerstattung keine grosse wirtschaftliche Härte bedeuten würde. Wie zuvor schon die Einsprachestelle des Amtes für Wirtschaft und Arbeit in ihrem Entscheid vom 12. Oktober 2004 gelangte auch das kantonale Versicherungsgericht im angefochtenen Entscheid vom 6. Juli 2005 zum Schluss, dass das Erlassgesuch vom 23. Juni 2003 nicht innert der in
Art. 4 Abs. 4 ATSV
vorgesehenen
BGE 132 V 42 S. 44
30-tägigen Frist gestellt worden ist und deshalb nicht mehr materiell hätte beurteilt werden dürfen.
3.2
Aus den Akten ergibt sich, dass der Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts vom 1. April 2003, welcher die Rückerstattungsverfügung der Arbeitslosenkasse vom 1. Oktober 2002 letztinstanzlich bestätigte, der Arbeitslosenkasse am 11. April 2003 zugestellt worden ist. Es darf angenommen werden, dass er auch dem Beschwerdeführer ungefähr zur selben Zeit ausgehändigt wurde, sodass er in der ersten Hälfte des Monats Mai 2003 rechtskräftig geworden sein dürfte. Das Erlassgesuch vom 23. Juni 2003 ist daher erst nach Ablauf der in
Art. 4 Abs. 4 ATSV
vorgesehenen 30-tägigen Frist eingereicht worden.
3.3
Damit stellt sich die Frage, welche Folgen mit der genannten Fristversäumnis verbunden sind. Vor In-Kraft-Treten des ATSG und der ATSV fand sich in alt
Art. 79 Abs. 2 AHVV
(in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) eine mit der heutigen Regelung in
Art. 4 Abs. 4 ATSV
(vgl. Erw. 1.3 hievor) vergleichbare Bestimmung. Diese lautete:
"Der Erlass wird von der Ausgleichskasse auf schriftliches Gesuch des Rückerstattungspflichtigen hin verfügt. Das Gesuch ist zu begründen und innert 30 Tagen seit der Zustellung der Rückerstattungsverfügung der Ausgleichskasse einzureichen. Vorbehalten bleibt Absatz 3."
Abs. 3 von alt
Art. 79 AHVV
sah vor, dass die Ausgleichskasse den Erlass von sich aus verfügen kann, wenn die Voraussetzungen gemäss Absatz 1 offensichtlich erfüllt sind.
Bereits in
BGE 110 V 26
f. Erw. 2 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass der Frist in alt
Art. 79 Abs. 2 AHVV
nur der Charakter einer Ordnungsvorschrift zukommt. Zur Begründung führte es an, bei der Beurteilung der grossen Härte als einer der Erlassvoraussetzungen sei von den wirtschaftlichen Verhältnissen in dem Zeitpunkt auszugehen, in welchem der Rückerstattungspflichtige bezahlen sollte; wollte man sich wörtlich an (alt)
Art. 79 Abs. 2 AHVV
halten, wäre später, nach Ablauf der mit Erlass der Rückerstattungsverfügung ausgelösten Frist, eine Berufung auf grosse Härte ausgeschlossen, was sich mit dem Wortlaut des
Art. 47 Abs. 1 AHVG
nicht vereinbaren lasse; wählt der Empfänger einer Rückerstattungsverfügung den Beschwerdeweg und nicht die Möglichkeit des sofortigen Erlassgesuchs, müsse es ihm erlaubt sein, sich auch noch nach rechtskräftiger Verpflichtung zur
BGE 132 V 42 S. 45
Rückerstattung auf die grosse Härte derselben zu berufen und ein Erlassgesuch einzureichen. Im Weiteren erwog das Gericht,
Art. 79 Abs. 3 AHVV
gestatte den Ausgleichskassen, den Erlass von sich aus zu verfügen, sofern die Voraussetzungen dazu offensichtlich erfüllt sind; es sei nicht ersichtlich, wie der Verfall des Anspruches auf Erlass mit der Tatsache vereinbar sein soll, dass die Verwaltung gleichzeitig befugt ist, von Amtes wegen zu verfügen; daher könne nur gefolgert werden, dass die von
Art. 79 Abs. 2 AHVV
vorgesehene Frist bloss Ordnungscharakter hat (
BGE 110 V 27
Erw. 2; vgl. deutsche Übersetzung in: ZAK 1987 S. 165 Erw. 2).
3.4
Die Argumentation in
BGE 110 V 26
f. Erw. 2 lässt sich nicht ohne weiteres analog auf den nunmehr geltenden
Art. 4 Abs. 4 ATSV
übertragen. Anders als alt
Art. 79 Abs. 2 AHVV
knüpft
Art. 4 Abs. 4 ATSV
für die Auslösung der vorgesehenen Frist zur Stellung eines Erlassgesuchs nicht mehr an die Zustellung der Rückerstattungsverfügung, sondern erst an den Eintritt der Rechtskraft derselben an. Dies mag allenfalls ein Zeichen dafür sein, dass der Verordnungsgeber in Abweichung von der früheren Rechtsprechung bewusst eine Verwirkungsfrist setzen wollte. In seinem Kommentar zum Erlass der Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) ging das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) unter Verweis auf ZAK 1987 S. 164 ff. indessen auch davon aus, dass es sich bei der zur Einreichung eines Erlassgesuchs gesetzten 30-tägigen Frist nach Rechtskraft der Rückforderungsverfügung - gemäss geltender Rechtsprechung - um eine Ordnungsvorschrift handelt. Im Rahmen des anschliessend durchgeführten Konsultationsverfahrens fielen die Meinungen zu diesem Punkt unterschiedlich aus. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt etwa warf ausdrücklich die Frage auf, ob es tatsächlich - wie im Kommentar festgehalten - um Ordnungsfristen oder nicht vielmehr um Verwirkungsfristen gehe. Andere Versicherungsträger stellten sich demgegenüber sogar klar auf den Standpunkt, dass es sich - entgegen den Ausführungen des BSV im Kommentar zum Erlass einer ATSV - nur um eine Verwirkungs- und nicht um eine Ordnungsvorschrift handeln könne. Schliesslich wurde auch darauf hingewiesen, dass, unabhängig davon, ob es sich um eine Ordnungs- oder um eine Verwirkungsfrist handeln soll, eine solche Frist im Gesetz nirgends vorgesehen ist, weshalb das BSV mit deren Einführung die ihm eingeräumten Kompetenzen überschreite.
BGE 132 V 42 S. 46
Letzterem Gesichtspunkt muss die notwendige Beachtung geschenkt werden. Auch wenn der abweichende Wortlaut von
Art. 4 Abs. 4 ATSV
das Vorliegen einer Verwirkungsfrist nicht mehr so klar wie derjenige von alt
Art. 79 Abs. 2 AHVV
ausschliesst, steht das Fehlen einer entsprechenden Kompetenzdelegation an den Verordnungsgeber zur Fristansetzung der Annahme einer Verwirkungsfrist entgegen. Es muss daher damit sein Bewenden haben, dass die 30-tägige Frist in
Art. 4 Abs. 4 ATSV
lediglich eine Ordnungsvorschrift darstellt. Dies steht auch mit dem Bestreben des Gesetzgebers in Einklang, welcher mit dem ATSG grundsätzlich keine substanziellen Neuerungen schaffen, sondern lediglich die bisherige Rechtslage in einem für alle betroffenen Sozialversicherungszweige gleichermassen geltenden Erlass einheitlich kodifizieren wollte. Im Übrigen wird in
Art. 3 Abs. 3 ATSV
- ähnlich wie früher in alt
Art. 79 Abs. 3 AHVV
- wiederum vorgesehen, dass der Versicherer den Verzicht auf die Rückforderung verfügen kann, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen für den Erlass gegeben sind. Auch dies spricht - wie schon unter der Rechtsprechung zu alt
Art. 79 Abs. 2 und 3 AHVV
(Erw. 3.3 hievor in fine) - dafür, der Frist zur Stellung eines Erlassgesuchs lediglich Ordnungscharakter beizumessen. | de |
412531f3-fc18-4f00-a43c-3512ab4d5e96 | Sachverhalt
ab Seite 595
BGE 131 III 595 S. 595
A.
Die R. GmbH mit Sitz in B. (Österreich) und die X. AG mit Sitz in C. gehören zur Unternehmensgruppe der S. AG in C. Die R. GmbH kaufte von verschiedenen Herstellern Maschinen und Werkzeuge, welche Vorgänge von der Bank Z. in A. im Rahmen einer
BGE 131 III 595 S. 596
Kreditvereinbarung vorfinanziert wurden. Der Bank Z. wurde von der R. GmbH an den Kaufgegenständen vertraglich ein Mobiliarpfand und ein Eigentumsvorbehalt eingeräumt.
B.
Am 28. Oktober 2002 eröffnete der Einzelrichter des Bezirks Einsiedeln den Konkurs über die S. AG und über die X. AG. Die Y. AG wurde zur ausseramtlichen Konkursverwaltung der Konkursmasse der X. AG bestellt. Die Bank Z. verlangte gestützt auf den ihr eingeräumten Eigentumsvorbehalt sowie das Mobiliarpfand im Konkurs der X. AG die Herausgabe von elf Gerätschaften bzw. des entsprechenden Verkaufserlöses. Mit Verfügung vom 28. Februar 2003 wies die ausseramtliche Konkursverwaltung das Gesuch ab, soweit es mit dem Eigentumsvorbehalt begründet worden war und verwies die Ansprüche aus dem Mobiliarpfand in das Kollokationsverfahren.
C.
Mit Urteil vom 10. Dezember 2003 hiess der Einzelrichter des Bezirksgerichts Einsiedeln die von der Bank Z. gegen die Konkursmasse der X. AG eingereichte Aussonderungsklage gut und verpflichtete die Beklagte zur Herausgabe der geforderten Gegenstände bzw. des entsprechenden Verkaufserlöses. Das Kantonsgericht Schwyz wies die von der Konkursmasse der X. AG gegen das erstinstanzliche Urteil erhobene Berufung am 9. August 2004 ab.
D.
Die Konkursmasse der X. AG ist mit Berufung an das Bundesgericht gelangt. Sie beantragt die Aufhebung des kantonsgerichtlichen Urteils und die Abweisung der Aussonderungsklage. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Anlass zur vorliegenden Berufung gibt das Aussonderungsbegehren einer Bank (Klägerin), die sich von ihrer Kreditnehmerin an diversen Gegenständen einen Eigentumsvorbehalt nach österreichischem Recht hat einräumen lassen, welche alsdann in die Schweiz gelangt sind und dort von einer in Konkurs gefallenen Unternehmung (Beklagten) angesprochen werden. Der Bestand des Mobiliarpfandes bildete bereits vor erster Instanz nicht mehr Gegenstand des Verfahrens.
2.1
Das Aussonderungsverfahren nach
Art. 242 SchKG
dient ausschliesslich der Klärung der Frage, ob der strittige Gegenstand dem Konkursbeschlag unterliegt oder nicht. Auch wenn dabei materiellrechtliche Aspekte zum Tragen kommen, erfolgt keine
BGE 131 III 595 S. 597
rechtskräftige Beurteilung der Eigentumsverhältnisse, wie dies bei einer Vindikationsklage nach
Art. 641 ZGB
der Fall ist (MARC RUSSENBERGER, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Staehelin/Bauer/Staehelin [Hrsg.], SchKG III, N. 6 zu
Art. 242 SchKG
mit Hinweisen). Die Beklagte weist denn auch gegenüber der Vorinstanz zu Recht darauf hin, dass im vorliegenden Fall einzig zu entscheiden ist, ob die Klägerin im Zeitpunkt der Konkurseröffnung über die Beklagte noch Eigentümerin der strittigen Gegenstände war (recte: einen Eigentumsvorbehalt daran hatte). Werde diese Frage verneint, so die Beklagte, dann sei die Aussonderungsklage abzuweisen, ohne dass die dingliche Berechtigung an den strittigen Gegenständen noch zu klären wäre. Freilich kann genau diese Frage nicht in jedem Fall ohne die Prüfung der Rechte Dritter beantwortet werden, selbst wenn dies nur aus der Sicht der Klägerin und allein mit Wirkung für sie geschieht.
2.2
Die Vorinstanz ist zum Schluss gekommen, dass vorliegend schweizerisches Recht anwendbar sei. Ihrer Ansicht nach kommt
Art. 100 Abs. 1 IPRG
zum Tragen, da der von der Beklagten behauptete Kauf nach der Verbringung der strittigen Gegenstände in die Schweiz abgeschlossen worden sei. Sie hat die Voraussetzungen einer Rechtswahl verneint und zudem festgehalten, dass eine solche der Beklagten als Dritte ohnehin nicht entgegengehalten werden könnte. Die Beklagte schliesst sich dieser Auffassung an.
Die Klägerin ist demgegenüber der Ansicht, dass im Verhältnis zwischen ihr und der Kreditnehmerin kraft diverser Vereinbarungen sowie der Allgemeinen Geschäftsbedingungen österreichisches Recht gelte. Soweit sie hier vorbringt, die kantonale Instanz habe in Verletzung des schweizerischen internationalen Privatrechts nicht ausländisches Recht angewendet, ist ihre Rüge zulässig (
Art. 43a Abs. 1 lit. a OG
). Indes gehen ihre Darlegungen an der entscheidenden Fragestellung vorbei. Strittig ist nämlich nicht die Gültigkeit des Eigentumsvorbehalts als solche, sondern einzig die Dauer von dessen Wirksamkeit nach der Einfuhr der mit ihm belegten Gegenstände in die Schweiz. Geht es aber um die Frage von Erwerb und Verlust dinglicher Rechte an beweglichen Sachen, so kommt das Recht des Staates zur Anwendung, wo der Gegenstand im Moment liegt, in welchem der Vorgang, aus welchem der Rechtstitel hergeleitet wird, sich ereignet hat (
Art. 100 Abs. 1 IPRG
). Der behauptete Kauf fand nach der Einfuhr der Gegenstände in die Schweiz statt, wie die Vorinstanz für das
BGE 131 III 595 S. 598
Bundesgericht verbindlich festhält, womit sie schweizerisches Recht anzuwenden hatte.
Die Klägerin macht in diesem Zusammenhang geltend, dass sie mit ihrer Kreditnehmerin eine Rechtswahl getroffen habe. Mit dieser pauschalen Behauptung setzt sie sich weder mit der Begründung der Vorinstanz auseinander, dass dies nicht der Fall sei, noch nimmt sie zur Frage Stellung, ob eine allfällige Rechtswahl Dritten überhaupt entgegengehalten werden könnte. Beruht der angefochtene Entscheid aber auf mehreren Begründungen, muss der Berufungskläger alle anfechten, ansonsten das Bundesgericht auf sein Vorbringen nicht eintritt (
BGE 121 III 46
E. 2;
BGE 122 III 43
E. 3 S. 45, je mit Hinweisen).
Dem angefochtenen Urteil lässt sich schliesslich nicht entnehmen, dass die Gegenstände zur Ausfuhr in ein anderes Land als die Schweiz bestimmt waren, womit es kein Recht des Bestimmungsstaates zu berücksichtigen gibt (
Art. 103 IPRG
).
2.3
Gelangt eine bewegliche Sache in die Schweiz und ist an ihr im Ausland ein Eigentumsvorbehalt begründet worden, der den Anforderungen des schweizerischen Rechts nicht genügt, so bleibt der Eigentumsvorbehalt in der Schweiz noch während drei Monaten gültig (
Art. 102 Abs. 2 IPRG
). Dem gutgläubigen Dritten kann der Bestand eines solchen Eigentumsvorbehaltes nicht entgegengehalten werden (
Art. 102 Abs. 3 IPRG
).
2.3.1
Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz wurden die Gerätschaften nicht nur vorübergehend in die Schweiz gebracht. Die Klägerin bestreitet dies ausdrücklich und verweist in diesem Zusammenhang auf die damals geplante Übernahme der Käuferin durch die S. AG. Damit versucht sie einzig, den Sachverhalt der Vorinstanz zu ergänzen, was im Rahmen einer Berufung nicht zulässig ist. Es liegt somit ein Anwendungsfall der dreimonatigen Schutzfrist gemäss
Art. 102 Abs. 2 IPRG
vor (HEINI, Zürcher Kommentar zum IPRG, 2. Aufl., Zürich 2004, N. 13 zu
Art. 102 IPRG
).
2.3.2
Die Klägerin hat den ihr eingeräumten Eigentumsvorbehalt nach Einfuhr der Gegenstände in die Schweiz nicht nach
Art. 715 Abs. 1 ZGB
in das öffentliche Register eintragen lassen. Gemäss der noch vor dem Inkrafttreten des IPRG ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichts muss einem ausländischen Eigentumsvorbehalt in der Schweiz in jedem Fall die Anerkennung versagt werden, wenn er hier nicht in ein öffentliches Register eingetragen
BGE 131 III 595 S. 599
wird. Dem Eintragungszwang kommt Ordre-public-Charakter zu (
BGE 106 II 197
E. 4 S. 199 f.). Der Grund hierfür liegt in der Erkennbarkeit der dinglichen Rechte für Dritte und hat Vorrang gegenüber dem Interesse des ausländischen Vertragspartners an der Gültigkeit des Eigentumsvorbehalts (
BGE 106 II 197
E. 4e S. 200). Da es sich bei der Erwerberin um eine Gesellschaft mit Sitz in Österreich handelt, die in der Schweiz auch keine Geschäftsniederlassung hat (Art. 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesgerichts betreffend die Eintragung der Eigentumsvorbehalte vom 19. Dezember 1910 [SR 211.413.1]), hätte nur geprüft werden können, ob der von der Lehre einhellig geforderte Eintrag am Lageort der Sache in Frage kommen kann (statt vieler: HEINI, a.a.O., N. 12 zu
Art. 102 IPRG
). Der in Österreich begründete Eigentumsvorbehalt genügt den eben angeführten Anforderungen des Schweizer Rechts somit nicht, womit er nach Ablauf von drei Monaten die Gültigkeit verliert (
Art. 102 Abs. 2 IPRG
).
2.3.3
Die Vorinstanz ging davon aus, dass weder innerhalb der dreimonatigen Schutzfrist noch bis zum Konkurs der Beklagten ein Eintrag des Eigentumsvorbehalts erfolgte. Dennoch hat sie die Klage gutgeheissen und zwar mit der folgenden Begründung: Da die R. GmbH zu keinem Zeitpunkt gleichzeitig weder über einen vorbehaltlosen Erwerbstitel verfügt noch rechtsgenügenden Besitz gehabt habe, sei sie nie Eigentümerin der Gerätschaften gewesen und habe infolgedessen auch nicht Eigentum an die Beklagte vermitteln können. Darum sei die Klägerin Eigentümerin geblieben und habe einen Aussonderungsanspruch. Die Beklagte könne sich auch nicht auf den guten Glauben stützen. Nicht weil die Klägerin einen gültigen Eigentumstitel hat vorweisen können, sondern weil die Eigentumsverhältnisse auf Seiten der Beklagten nicht über jeden Zweifel erhaben seien, hiess das Kantonsgericht die Klage gut.
Damit verkannte die Vorinstanz, dass es im Aussonderungsverfahren nicht darauf ankommt, ob und wer, wann und wie Eigentum oder Besitz erworben hat: Unbestrittenermassen hatte die X. AG bzw. deren Konkursmasse Gewahrsam an den Gegenständen, weshalb sie erst einmal admassiert wurden. Bei der Aussonderungsklage hat der Ansprecher sein Eigentum zu beweisen, wobei der Nachweis seines Eigentumsvorbehalts ausreichend ist. Ist dieser jedoch erloschen, fehlt es an einem Aussonderungsanspruch, da die Aussonderung einen formrichtig bestellten, d.h. im Register
BGE 131 III 595 S. 600
eingetragenen und damit gültigen Eigentumsvorbehalt voraussetzt. Wer vorliegend aufgrund des untergegangenen Eigentumsvorbehalts Eigentum an den Gegenständen (definitiv) erlangt hat, ist für das Schicksal der Aussonderungsklage nicht von Belang, da nicht die Konkursmasse ihren Erwerbstitel, sondern der Ansprecher seinen Aussonderungstitel beweisen muss. Das heisst, dass die Klägerin nachweisen muss, dass ihr Eigentumsvorbehalt noch gültig ist.
2.3.4
Im angefochtenen Urteil wird nicht festgestellt, wann genau die Werkzeuge in die Schweiz gelangt sind. Darin wird für das Bundesgericht lediglich, aber immerhin verbindlich festgestellt, dass der behauptete Erwerb der Werkzeuge nach deren Einfuhr in die Schweiz stattfand. Die Klägerin räumt selber ein, an der Sitzung vom 29. Juli 2002 Kenntnis erhalten zu haben, dass die Aktiven und Passiven der R. GmbH von der X. AG übernommen wurden. Gemäss dem von der Klägerin verfassten Aktenvermerk zu dieser Sitzung erfolgte die Übernahme der Aktiven und Passiven per 1. April 2002, was von Amtes wegen ergänzt werden kann (
Art. 64 Abs. 2 OG
). Dass bei einer Übernahme der Aktiven und Passiven der R. GmbH per 1. April 2002 auch deren Werkzeuge (mit dem entsprechenden Eigentumsvorbehalt) erfasst werden, ist offensichtlich. Die Klägerin macht zwar die Einschränkung, die Übernahme von Aktiven und Passiven könne auch ohne physische Verschiebung von Gegenständen vorgenommen werden. Dazu hat die Vorinstanz aber - wie ausgeführt - verbindlich festgestellt, dass die Einfuhr der Werkzeuge in die Schweiz vor dem Erwerb erfolgt war. Dies bedeutet, dass die Einfuhr in die Schweiz vor dem 1. April 2002 stattfand und die Dreimonatsfrist im massgeblichen Zeitpunkt abgelaufen war.
Die Berufung der Beklagten muss somit gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen werden. | de |
2474ce94-6b91-4a8c-b84f-70c09e62ce33 | SR 817.06 1 Verordnung über Tabakerzeugnisse und Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen (Tabakverordnung, TabV) vom 27. Oktober 2004 (Stand am 15. September 2019) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf die Artikel 21 Absätze 1 und 2, 37 und 38 Absatz 2 des Lebensmittelgesetzes vom 9. Oktober 19921, auf die Artikel 4 Absatz 1, 7, 9 und 14 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 12. Juni 20092 über die Produktesicherheit (PrSG), in Ausführung des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 19953 über die technischen Handelshemmnisse (THG),4 verordnet: 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 15 Gegenstand und übriges anwendbares Recht6 1 Diese Verordnung regelt für Tabakerzeugnisse und für Raucherwaren mit Tabak- ersatzstoffen: a. die Herstellung; b. die Kennzeichnung; c. die Werbung und die Abgabe. 2 Wo in dieser Verordnung nichts anderes geregelt ist, gelten für Tabakerzeugnisse und Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen zudem die Lebensmittel- und Gebrauchs- gegenständeverordnung vom 23. November 20057 (LGV) und die darauf gestützten Verordnungen des EDI, mit den Einschränkungen nach Artikel 1 Absatz 3 LGV.8 AS 2004 4533 1 AS 1995 1469, 2002 775. Für Tabakwaren anwendbar gemäss Art. 73 des BG vom 20. Juni 2014 (SR 817.0). 2 SR 930.11 3 SR 946.51 4 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 5 Fassung gemäss Anhang 2 Ziff. II 3 der Lebensmittel- und Gebrauchsgegenstände- verordnung vom 23. Nov. 2005, in Kraft seit 1. Jan. 2006 (AS 2005 5451). 6 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Nov. 2006, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 5161). 7 AS 2005 5451, 2008 6025 8 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Nov. 2006, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 5161). 817.06 Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 2 817.06 Art. 2 Begriffe In dieser Verordnung bedeuten: a. Tabak: Blätter, Blatt- oder Rippenstücke der Tabakpflanzen Nicotiana taba- cum L. und Nicotiana rustica L; b. Rohtabak: Tabak, der lediglich getrocknet, fermentiert oder in anderer in- dustrieüblicher Weise behandelt worden ist; c. rekonstituierter Tabak (homogenisierter Tabak): Folien, folienartige Gebilde oder Flocken, die aus fein gemahlenem und wieder gebundenem Rohtabak oder aus ebenso behandelten, sauberen Fabrikationsabfällen hergestellt sind; in ihnen sind die einzelnen Pflanzenteile makroskopisch nicht mehr erkenn- bar; rekonstituierter Tabak muss, bezogen auf die Trockensubstanz, min- destens 70 Massenprozent Rohtabak enthalten; d. Tabakerzeugnis: Erzeugnis, das ganz oder teilweise aus Tabak besteht und insbesondere zum Rauchen (Zigarren, Zigaretten und ähnliche Erzeugnisse sowie Schnitt- und Rollentabak), Schnupfen, Lutschen oder Kauen bestimmt ist; e. Tabakersatzstoff: zum Rauchen bestimmter Stoff mit Ausnahme von Tabak. 2. Abschnitt: Tabakersatzstoffe und verbotene Erzeugnisse9 Art. 310 Tabakersatzstoffe 1 Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen: a. müssen den Anforderungen für Tabakerzeugnisse, die zum Rauchen be- stimmt sind, sinngemäss entsprechen; b. dürfen nicht unmittelbar oder in unerwarteter Weise die Gesundheit gefähr- den; und c. dürfen keine psychotropen Wirkungen haben. 2 Dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) muss vor dem Inverkehrbringen des Er- zeugnisses Folgendes zugestellt werden: a. Angaben über Zusammensetzung und Verwendungszweck des Erzeugnisses; b. Angaben über Teer- und Kohlenmonoxidgehalt des Erzeugnisses; c. Nachweis, dass das Erzeugnis kein Nikotin enthält; d. Nachweis, dass das Erzeugnis nicht unmittelbar oder in unerwarteter Weise die Gesundheit gefährdet und keine psychotropen Wirkungen hat; 9 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). 10 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). Tabakverordnung 3 817.06 e. Entwurf der Packung; f. Warenmuster. Art. 411 Art. 512 3. Abschnitt: Herstellung13 Art. 6 Stoffe zur Herstellung von Tabakerzeugnissen 1 Es dürfen ohne Bewilligung nur Tabakerzeugnisse abgegeben werden, die ausser Rohtabak nur die folgenden Stoffe enthalten, und zwar bis zu den angegebenen Massenanteilen (bezogen auf die Trockensubstanz des Endproduktes, ohne allfällige Umhüllungen aus tabakfremden Materialien): a.14 Geschmackgebende Zutaten: gesamthaft bis zu 15 Massenprozent, in Schnitt- und Rollentabak bis zu 20 Massenprozent, in Wasserpfeifentabak bis zu 70 Massenprozent; als geschmackgebende Zutaten gelten: 1. Aromen nach Anhang 3 Ziffer 24 der Verordnung des EDI vom 23. November 200515 über die Kennzeichnung und Anpreisung von Lebensmitteln (LKV), 2. Folia liatris; der Gesamtgehalt an Cumarin darf 0,1 Massenprozent nicht übersteigen, 3. Zuckerarten, Honig und Gewürze sowie andere unschädliche Pflanzen- bestandteile und deren Extrakte, 4. Süssungsmittel nach Anhang 1 Abschnitt c Ziffer 1 der Zusatzstoffver- ordnung vom 23. November 200516 (ZuV) mit Ausnahme von E955 Sucralose und E962 Aspartam-Acesulfamsalz; 11 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). 12 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 28. Aug. 2019, mit Wirkung seit 15. Sept. 2019 (AS 2019 2827). 13 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). 14 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Nov. 2006, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 5161). 15 [AS 2005 6159, 2006 733 4981, 2008 1029 6045, 2009 2025, 2010 975 1475 4649, 2011 6255, 2012 6811, 2013 5031. AS 2017 1353 Art. 44]. Siehe heute: Anhang 5 Teil D der V des EDI vom 16. Dez. 2016 betreffend die Information über Lebensmittel (SR 817.022.16). 16 [AS 2005 6191. AS 2007 2977 Art. 7]. Siehe heute: Anhang 1a der V vom 25. Nov. 2013 (SR 817.022.31). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 4 817.06 b.17 Feuchthaltemittel: gesamthaft bis zu 10 Massenprozent beziehungsweise in Wasserpfeifentabak bis zu 60 Massenprozent; zulässig sind Glycerin, Sorbit, 1,2-Propylenglycol, 1,3-Butylenglycol, Triethylenglycol, Ortho-Phosphor- säure und alpha-Glycerinphosphorsäure sowie deren Natrium-, Kalium-, Kalzium- und Magnesiumsalze; c. Weissbrand- und Flottbrandmittel: zulässig sind Aluminiumhydroxid, Alu- miniumoxid, Aluminiumsilikate, Aluminiumsulfat, Alaun, Kieselsäure, Tal- kum, Magnesiumoxid, Titandioxid, Kohlen-, Essig-, Apfel-, Zitronen-, Wein-, Milch- und Ameisensäure und deren Natrium-, Kalium-, Kalzium- und Magnesiumsalze sowie Ammonium-, Natrium-, Kalium-, Kalzium- und Magnesiumphosphate, Ammoniumchlorid und Ammoniumsulfat; zusätzlich Kaliumnitrat für Zigarren und Schnitttabak; d. Konservierungsmittel, wobei bei einer kombinierten Anwendung die Summe der einzelnen Quotienten aus Zusatzmenge durch Höchstmenge nicht grös- ser als 1 sein darf: 1. für Zigaretten: – Benzoesäure und deren Natrium-, Kalium- und Kalziumsalze und Sorbinsäure und deren Kalium- und Kalziumsalze, je bis zu 3 g pro Kilogramm – p-Hydroxybenzoesäureethylester und -propylester und ihre Natri- umsalze, je bis zu 1 g pro Kilogramm, 2. für Zigarren, Schnitt-, Rollen- und rekonstituierten Tabak: – Benzoesäure und deren Natrium-, Kalium- und Kalziumsalze, Sorbinsäure und deren Kalium- und Kalziumsalze und p-Hydroxy- benzoesäureethylester oder -propylester und ihre Natriumsalze, je bis zu 5 g pro Kilogramm – 2(Thiazolyl-4-)-2-benzimidazol und Ameisensäure, je bis zu 1,5 g pro Kilogramm, 3.18 für Wasserpfeifentabak: – Propionsäure bis zu 5 g pro Kilogramm; e. Klebe- und Bindemittel: zulässig sind Gelier- und Verdickungsmittel nach Anhang 3 ZuV sowie Gelatine, Shellak, Kollodium, Ethylcellulose, Ace- tylcellulose, Hydroxyethylcellulose, Hydroxyethylmethylcellulose, Hydro- xypropylguar und Glyoxal; zusätzlich zum Kleben der Zigarettennaht: wäs- serige Dispersionen von Polyvinylacetat und Polyvinylacetat-Copolymeren. 2 Der Anteil der Stoffe nach Absatz 1 Buchstaben a–e darf gesamthaft in Zigaretten, Zigarren und ähnlichen Raucherwaren höchstens 25 Massenprozent, in Wasserpfei- fentabak höchstens 80 Massenprozent und in den übrigen Tabakerzeugnissen höchs- tens 30 Massenprozent betragen, bezogen auf die Trockensubstanz des End- 17 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 7. März 2008, in Kraft seit 1. April 2008 (AS 2008 1187). 18 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 15. Nov. 2006, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 5161). Tabakverordnung 5 817.06 erzeugnisses; allfällige Umhüllungen aus tabakfremden Materialien werden nicht mitgerechnet.19 3 Das BAG kann auf begründetes Gesuch hin weitere Stoffe zulassen. Die Bewilli- gung ist zu befristen und im Schweizerischen Handelsamtsblatt und im Internet zu publizieren.20 Art. 7 Mattierung von Zigarren 1 Die Trocken- und die Feuchtmattierung von Zigarren und ähnlichen Erzeugnissen zur Egalisierung und Betonung der Farbrichtung sind gestattet mit Tabakstaub und mit geringen Mengen Blauholzextrakt, Gelbholzextrakt, Kreuzbeerenextrakt, Lakrit- zensaft, Natriumhumat und Nussschalenextrakt. 2 Zur Mattierung können zudem die nach Anhang 1 Abschnitt a ZuV21 für Lebens- mittel zugelassenen Farbstoffe verwendet werden. Art. 8 Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxid-Höchstgehalt von Zigaretten Der Rauch von Zigaretten, die in der Schweiz abgegeben werden, darf die folgenden Werte je Zigarette nicht überschreiten: a. 10 mg Teergehalt; b. 1,0 mg Nikotingehalt; c. 10 mg Kohlenmonoxidgehalt. Art. 8a22 Zündpotenzial von Zigaretten Das Zündpotenzial von Zigaretten, die in der Schweiz abgegeben werden, muss so weit vermindert werden, dass nicht mehr als 25 Prozent eines Loses zu prüfender Zigaretten auf ihrer gesamten Länge abbrennen, wenn nicht an ihnen gezogen wird. Art. 8b23 Erfüllung der Anforderungen nach den Artikeln 8 und 8a 1 Wer Zigaretten in Verkehr bringt, muss nachweisen können, dass sie die Anforde- rungen nach den Artikeln 8 und 8a erfüllen. 2 Erfüllen Zigaretten die technischen Normen nach Artikel 9 Absatz 4, so wird vermutet, dass sie die Anforderungen nach den Artikeln 8 und 8a erfüllen. 19 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 15. Nov. 2006, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 5161). 20 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 21 [AS 2002 1201, 2004 1843 3039, 2005 1065. AS 2005 6191 Art. 7]. Siehe heute: Anhang 1a der V vom 25. Nov. 2013 (SR 817.022.31). 22 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 23 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 6 817.06 3 Wer Zigaretten in Verkehr bringt, die den technischen Normen nach Artikel 9 Absatz 4 nicht entsprechen, muss nachweisen können, dass die Zigaretten die An- forderungen nach den Artikeln 8 und 8a auf andere Weise erfüllen. Art. 9 Prüfstelle, Messverfahren und Prüfung des Zündpotenzials24 1 Der Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt und das Zündpotenzial der Zigaret- ten müssen von einer Prüfstelle gemessen beziehungsweise geprüft werden, die für den Fachbereich:25 a. in der Schweiz nach den Bestimmungen der Akkreditierungs- und Bezeich- nungsverordnung vom 17. Juni 199626 akkreditiert ist; b. durch die Schweiz im Rahmen eines internationalen Abkommens anerkannt ist; oder c. nach schweizerischem Recht auf andere Weise ermächtigt oder anerkannt ist. 2 Der Prüfbericht oder die Konformitätsbescheinigung einer ausländischen Stelle, die nicht nach Absatz 1 anerkannt ist, gilt als Nachweis, wenn glaubhaft dargelegt werden kann, dass: a. die angewandten Prüf- oder Konformitätsbewertungsverfahren den schwei- zerischen Anforderungen genügen; und b. die ausländische Stelle über eine gleichwertige Qualifikation wie die in der Schweiz geforderte verfügt. 3 Messungen und Prüfungen müssen nach dem Stand des Wissens und der Technik durchgeführt werden.27 4 Die Anhänge 1 und 2 bezeichnen die technischen Normen, die geeignet sind, die Anforderungen an das Mess- und Prüfungsverfahren zu konkretisieren.28 5 Das BAG führt die Anhänge 1 und 2 im Einvernehmen mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) nach. Bei der Bezeichnung technischer Normen achtet es darauf, dass diese soweit möglich international harmonisiert sind.29 24 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 25 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 26 SR 946.512 27 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 28 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 29 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). Tabakverordnung 7 817.06 Art. 10 Meldepflicht 1 Wer Tabakerzeugnisse herstellt oder einführt, muss dem BAG folgende Angaben über seine in der Schweiz abgegebenen Tabakerzeugnisse zustellen: a. Liste 1 der markenspezifisch dem Rohtabak hinzugefügten Stoffe: Die Liste ist nach Erzeugnisart, Marke und eingesetzter Menge (absteigend) geordnet und enthält die Stoffe mit einem Anteil von über 0,1 Prozent des verwende- ten Rohtabaks; Stoffe mit einem kleineren Anteil dürfen in einer einzigen Kategorie (z. B. Aromen) zusammengefasst werden; b. Liste 2 der Funktionen und der Höchstmengen aller dem Rohtabak hinzu- gefügten Stoffe: Die Liste ist nach Erzeugnisart und Alphabet geordnet und enthält alle Stoffe, die den Tabakerzeugnissen beigefügt werden; anzugeben sind die Funktion des Stoffes und die höchste Menge, in welcher der Stoff in einem Erzeugnis verwendet wird; c. Liste 3 der hinzugefügten Stoffe in tabakfreien Bestandteilen: Die Liste ist nach Erzeugnisart und Alphabet geordnet und enthält alle Zusatzstoffe, die den tabakfreien Bestandteilen (z. B. Papier, Klebstoffe, Filter) beigefügt werden; anzugeben ist die höchste Menge, in welcher der Stoff in einem Er- zeugnis verwendet wird; d. Liste 4 der Schadstoffe in Zigaretten: Die Liste ist nach Marken geordnet und enthält den Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt je Zigarette. 2 Beizufügen sind die toxikologischen Angaben der verwendeten Stoffe in ver- brannter und unverbrannter Form, soweit sie der meldepflichtigen Person bekannt sind. 3 Die Angaben sind dem BAG in allen Amtssprachen und in einer für die Veröffent- lichung geeigneten elektronischen Form jährlich spätestens bis zum 31. Dezember zu übermitteln.30 4 Das BAG macht die Angaben der Öffentlichkeit zugänglich. 4. Abschnitt: Kennzeichnung31 Art. 11 Kennzeichnungspflicht Packungen von Tabakerzeugnissen und von Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen müssen bei der Abgabe an Konsumentinnen und Konsumenten folgende Angaben aufweisen:32 30 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 31 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). 32 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 8 817.06 a.33 die Sachbezeichnung nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a der LKV34; b. die Firmenbezeichnung nach Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe b des Bundes- gesetzes vom 21. März 196935 über die Tabakbesteuerung oder die von der Oberzolldirektion zugeteilte Reversnummer; c. das Produktionsland, sofern dieses nicht aus der Angabe nach Buchstabe b ersichtlich ist; d. bei farbmattierten Erzeugnissen: den Hinweis «farbmattiert»; e. bei Zigaretten: den Teer-, den Nikotin- und den Kohlenmonoxidgehalt; f.36 die Warnhinweise nach Artikel 12. Art. 11a37 Sachbezeichnung für Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen Packungen von Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen müssen folgende Sach- bezeichnung aufweisen: a. auf Deutsch: «Produkte auf pflanzlicher Basis, ohne Tabak»; b. auf Französisch: «Produits à base de plantes, sans tabac»; c. auf Italienisch: «Prodotti a base di erbe, senza tabacco». Art. 12 Warnhinweise 1 Jede Packung von Tabakerzeugnissen, die zum Rauchen bestimmt sind, muss einen allgemeinen und einen ergänzenden Warnhinweis tragen. 2 Die allgemeinen Warnhinweise lauten: a. «Rauchen ist tödlich.»; b. «Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.». 3 Die ergänzenden Warnhinweise lauten: a. «Wenn Sie rauchen, sterben Sie früher.»; b. «Rauchen führt zu Verstopfung der Blutgefässe und verursacht Herzinfarkte und Hirnschläge.»; c. «Rauchen verursacht tödlichen Lungenkrebs.»; 33 Fassung gemäss Anhang 2 Ziff. II 3 der Lebensmittel- und Gebrauchsgegenstände- verordnung vom 23. Nov. 2005, in Kraft seit 1. Jan. 2006 (AS 2005 5451). 34 [AS 2005 6159, 2006 733 4981, 2008 1029 6045, 2009 2025, 2010 975 1475 4649, 2011 6255, 2012 6811, 2013 5031. AS 2017 1353 Art. 44]. Siehe heute: Art. 3 Abs. 1 Bst. a der V des EDI vom 16. Dez. 2016 betreffend die Information über Lebensmittel (SR 817.022.16). 35 SR 641.31 36 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 37 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). Tabakverordnung 9 817.06 d. «Rauchen in der Schwangerschaft schadet Ihrem Kind.»; e. «Schützen Sie Kinder – Rauchen Sie nicht in ihrer Anwesenheit!»; f. «Medizinische Fachpersonen helfen Ihnen, das Rauchen aufzugeben.»; g. «Rauchen macht sehr schnell abhängig.»; h. «Wer das Rauchen aufgibt, verringert das Risiko tödlicher Herz- und Lun- generkrankungen.»; i. «Rauchen führt zu Krebs der Mundhöhle.»; j. «Hier finden Sie Hilfe, um das Rauchen aufzugeben: 0848 000 181 / www.rauchenschadet.ch.»; k. «Rauchen kann zu Durchblutungsstörungen führen und verursacht Impo- tenz.»; l. «Rauchen lässt Ihre Haut altern.»; m. «Rauchen kann das Sperma schädigen und schränkt die Fruchtbarkeit ein.»; n. «Rauch enthält Benzol, Nitrosamine, Formaldehyd und Blausäure.». 4 Die Warnhinweise sind abwechselnd so zu verwenden, dass sie gleich häufig auf den Packungen erscheinen. 5 Die ergänzenden Warnhinweise müssen mit Farbfotografien oder anderen Abbil- dungen kombiniert werden, welche die gesundheitlichen Folgen des Rauchens darstellen und erklären. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) legt in einer Verordnung die Abbildungen und ihre Kombination mit den ergänzenden Warnhinweisen fest. Es kann bestimmen, dass zusätzliche visuelle Hinweise zur Tabakprävention (z. B. Logos, Telefonnummer, Internetseite) angebracht werden müssen. 6 Jede Packung von Tabakerzeugnissen, die nicht zum Rauchen bestimmt sind, muss folgenden Warnhinweis tragen: «Dieses Tabakerzeugnis kann Ihre Gesundheit schädigen und macht abhängig.». 7 Jede Packung von Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen muss die Warnhinweise nach den Absätzen 2 und 3, ausgenommen den Warnhinweis nach Absatz 3 Buch- stabe g «Rauchen macht sehr schnell abhängig.», tragen.38 Art. 1339 Ort, Form und Sprache der Angaben 1 Die Angaben nach den Artikeln 11 und 11a müssen an gut sichtbarer Stelle und in leicht lesbarer und unverwischbarer Schrift auf die Packungen aufgedruckt werden. Bei anderen Erzeugnissen als Zigaretten dürfen sie mit nicht entfernbaren Aufkle- bern angebracht werden. 38 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). 39 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Nov. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 6141). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 10 817.06 2 Die Angaben nach Artikel 11 Buchstaben a–d und 11a müssen in mindestens einer Amtssprache, die Angaben nach Artikel 11 Buchstaben e und f in allen Amts- sprachen, in der Reihenfolge Deutsch, Französisch, Italienisch, angebracht werden. Art. 14 Ort und Grösse der Schadstoffangaben 1 Der Teer-, der Nikotin- und der Kohlenmonoxidgehalt von Zigaretten müssen auf einer Schmalseite der Zigarettenpackung aufgedruckt werden. 2 Diese Angaben müssen mindestens 15 Prozent dieser Fläche einnehmen. Art. 15 Ort und Grösse der Warnhinweise 1 Der allgemeine Warnhinweis und der Warnhinweis nach Artikel 12 Absatz 6 müssen angebracht werden: a. auf der am ehesten ins Auge fallenden Breitseite der Packung; und b. auf jeder im Einzelhandelsverkauf verwendeten Mehrfachverpackung, aus- ser auf einer durchsichtigen Hülle. 2 Der ergänzende Warnhinweis muss auf der anderen Breitseite angebracht werden. 3 Der allgemeine Warnhinweis muss mindestens 35 Prozent, der ergänzende Warn- hinweis mindestens 50 Prozent der Fläche der jeweiligen Breitseite einnehmen. 4 Die Warnhinweise dürfen nicht an einer Stelle angebracht sein, an der sie beim Öffnen der Packung zerstört oder entfernt werden. 5 Ist eine Verpackung von anderen Tabakerzeugnissen als Zigaretten an der am ehesten ins Auge fallenden Breitseite grösser als 75 cm2, so müssen die Warn- hinweise eine Fläche von mindestens 26,25 cm2 auf jeder Breitseite aufweisen. Art. 16 Gestaltung der Schadstoffangaben und Warnhinweise 1 Der Wortlaut der Angaben zum Teer-, zum Nikotin- und zum Kohlenmonoxid- gehalt und der Wortlaut der Warnhinweise müssen wie folgt angebracht werden: a. in Helvetica, fett, schwarz auf weissem Hintergrund und in Kleinbuchstaben, ausser wo die Rechtschreibung Grossbuchstaben verlangt; b. zentriert auf der für den Wortlaut bestimmten Fläche parallel zur Oberkante der Packung; c. optisch getrennt von den anderen Amtssprachen; d.40 umrandet mit einem schwarzen Rahmen von mindestens 3 mm und höchs- tens 4 mm Breite, der in keiner Weise die Lesbarkeit des Warnhinweises o- der sonstiger Angaben beeinträchtigt; auf Tabakerzeugnissen nach Arti- kel 12 Absatz 6 muss kein Rahmen angebracht werden. 40 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 7. März 2008, in Kraft seit 1. April 2008 (AS 2008 1187). Tabakverordnung 11 817.06 2 Das EDI kann für die Kombinationen der ergänzenden Warnhinweise mit Abbil- dungen von den Gestaltungsanforderungen bei der Schriftfarbe und der Ausrichtung des Wortlautes abweichen, wenn damit eine optimale Darstellung von Wortlaut und Abbildung erreicht werden kann. 5. Abschnitt: Täuschungsschutz, Werbung, Abgabe Art. 17 Täuschungsschutz 1 Alle Bezeichnungen, Angaben und Abbildungen, die auf der Packung, in Inseraten oder in der Werbung für Tabakerzeugnisse verwendet werden, müssen den Tat- sachen entsprechen. Sie dürfen nicht zur Täuschung über Natur, Herkunft, Her- stellung, Zusammensetzung, Produktionsart oder Wirkung Anlass geben. 2 Anpreisungen für Tabakerzeugnisse, die sich in irgendwelcher Weise auf die Gesundheit beziehen, sind verboten. 3 Begriffe, Namen, Marken und figurative oder sonstige Zeichen, die den Eindruck erwecken, dass ein bestimmtes Tabakerzeugnis weniger schädlich als andere sei (z.B. «leicht», «ultraleicht» oder «mild»), dürfen auf der Verpackung von Tabak- erzeugnissen nicht verwendet werden. Art. 18 An Jugendliche gerichtete Werbung Werbung für Tabakerzeugnisse und für Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen, die sich speziell an Jugendliche unter 18 Jahren (Jugendliche) richtet, ist untersagt. Verboten ist insbesondere die Werbung: a. an Orten, wo sich hauptsächlich Jugendliche aufhalten; b. in Zeitungen, Zeitschriften oder andern Publikationen, die hauptsächlich für Jugendliche bestimmt sind; c. auf Schülermaterialien (Schulmappen, Etuis, Füllfederhaltern usw.); d. mit Werbegegenständen, die unentgeltlich an Jugendliche abgegeben wer- den, wie T-Shirts, Mützen, Fähnchen, Badebällen; e. auf Spielzeug; f. durch unentgeltliche Abgabe von Tabakerzeugnissen und Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen an Jugendliche; g. an Kultur-, Sport- oder anderen Veranstaltungen, die hauptsächlich von Ju- gendlichen besucht werden. Art. 19 Abgabe von Zigaretten Zigaretten müssen vorverpackt sein und dürfen nur in Packungen von mindestens 20 Stück an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 12 817.06 6. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 20 Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts 1 Die Tabakverordnung vom 1. März 199541 wird aufgehoben. 2 …42 Art. 21 Übergangsbestimmungen 1 Zigaretten dürfen bis zum 30. April 2006 nach bisherigem Recht an Konsument- innen und Konsumenten abgegeben werden. 2 Andere Tabakerzeugnisse als Zigaretten dürfen bis zum 30. April 2007 nach bis- herigem Recht an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden. 3 Die ergänzenden Warnhinweise müssen mit Farbfotografien oder anderen Abbil- dungen nach Artikel 12 Absatz 5 erst ab dem Zeitpunkt kombiniert werden, der in der entsprechenden Verordnung des EDI dafür bestimmt wird. 4 Die Listen nach Artikel 10 müssen dem BAG erstmals bis zum 30. September 2005 übermittelt werden. 5 Für Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen, die nach bisherigem Recht bewilligt worden sind, muss bis zum 31. Oktober 2005 um eine neue Bewilligung ersucht werden. Bis zum Entscheid über die Bewilligung dürfen sie nach bisherigem Recht an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden. Art. 21a43 Übergangsbestimmung zur Änderung vom 22. August 2012 Zigaretten, die für die Abgabe in der Schweiz bestimmt sind und den Anforderungen nach Artikel 8a nicht entsprechen, dürfen noch bis zum 1. April 2013 nach bisheri- gem Recht eingeführt und hergestellt werden. Sie dürfen noch bis zur Erschöpfung der Bestände nach bisherigem Recht an Konsumentinnen und Konsumenten abgege- ben werden. Art. 22 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. November 2004 in Kraft. 41 [AS 1995 1659, 1998 148] 42 Die Änderung kann unter AS 2004 4533 konsultiert werden. 43 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). Tabakverordnung 13 817.06 Anhang 144 (Art. 9 Abs. 4 und 5) Technische Normen für die Messung des Gehaltes von Teer, Nikotin und Kohlenmonoxyd im Hauptstromrauch von Zigaretten45 Nummer Titel ISO 4387:2011 Zigaretten – Bestimmung des Rohkondensats und des nikotinfreien Trockenkondensats unter Verwendung einer Zigaretten-Abrauch- maschine für Routineanalysen (ISO 4387:2000+Amd.1:2008) ISO 10315:2000 Zigaretten – Nikotinbestimmung in Rauchkondensaten – Gaschromatographisches Verfahren ISO 10315 AMD 1: 2011 Zigaretten – Nikotinbestimmung in Rauchkondensaten – Gaschromatographisches Verfahren; Änderung 1 ISO 8454:2009 Zigaretten – Bestimmung des Kohlenmonoxydgehalts in der Gasphase von Zigarettenrauch – NDIR-Verfahren (ISO 8454:2007) ISO 8454 AMD 1 Zigaretten – Bestimmung des Kohlenmonixidgehalts in der Gas- phasevon Zigarettenrauch – NDIR-Verfahren; Änderung 1 ISO 8243: 2006 Zigaretten – Probenahme 44 Eingefügt durch Ziff. II der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 45 Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Win- terthur; www.snv.ch. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 14 817.06 Anhang 246 (Art. 9 Abs. 4 und 5) Technische Normen für die Bestimmung der Brennbarkeit von Zigaretten47 Nummer Titel SN EN ISO 12863:2010 Normprüfverfahren zur Beurteilung der Zündneigung von Zigaret- ten (ISO 12863:2010) SN EN 16156:2011 Zigaretten – Beurteilung der Zündneigung – Sicherheitsanforde- rung 46 Eingefügt durch Ziff. II der V vom 22. Aug. 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2012 (AS 2012 4857). 47 Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Win- terthur; www.snv.ch. | de |
75d0c856-3863-4b0d-8964-a34dda028659 | Sachverhalt
ab Seite 104
BGE 135 III 103 S. 104
Die Burgergemeinde Bern ist Eigentümerin verschiedener Grundstücke, welche mit einem selbständigen und dauernden Baurecht belastet sind. In ihren Baurechtsverträgen vereinbart sie jeweils einen Vorbehalt für die Übertragung der Baurechte. Im derzeit gültigen Musterbaurechtsvertrag lautet die massgebliche Klausel wie folgt:
"Die rechtsgeschäftliche Übertragung bedarf der Genehmigung durch die Grundeigentümerin. Die Genehmigung kann verweigert werden:
- wenn der Übernehmer nicht alle Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag übernimmt;
- wegen fehlender Kreditwürdigkeit des Erwerbers oder
- aus andern wichtigen Gründen."
Am 19. September 2006 gelangte die Burgergemeinde an das Kreisgrundbuchamt VIII Bern-Laupen mit dem Gesuch um Feststellung, dass jede Handänderung von im Grundbuch zu Lasten ihrer Grundstücke aufgenommenen selbständigen und dauernden Baurechten mit entsprechendem Genehmigungsvorbehalt ihrer Zustimmung bedürfe und ohne eine solche Zustimmung nicht im Grundbuch eingetragen werden dürfe. Mit Verfügung vom 12. Oktober 2006 trat das Grundbuchamt auf das Gesuch nicht ein, da die aufgeworfenen Fragen vom Zivilrichter zu beantworten seien und nicht Gegenstand einer Feststellungsverfügung sein könnten.
BGE 135 III 103 S. 105
Gegen diesen Entscheid reichte die Burgergemeinde Beschwerde ein bei der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern (JGK) und erneuerte ihr Gesuch um Erlass einer Feststellungsverfügung. Die JGK kam zum Schluss, dass das Grundbuchamt zu Recht auf das Gesuch der Burgergemeinde nicht eingetreten sei, soweit es um die Frage der Zustimmung zur Handänderung des Baurechts gehe. Ob hingegen der Grundbucheintrag ohne eine solche Zustimmung erfolgen dürfe, stelle eine verwaltungsrechtliche Frage dar. Sie bejahte das Vorliegen eines schutzwürdigen Feststellungsinteresses. Die JGK verzichtete indes auf eine Rückweisung an die Vorinstanz und erwog in der Sache, dass das Grundbuchamt, dem die Handänderung eines Baurechts zum Eintrag vorgelegt werde, nicht zu prüfen habe, ob die Burgergemeinde als belastete Grundeigentümerin ihre Zustimmung dazu erteilt habe. Die Beschwerde wurde am 9. August 2007 abgewiesen.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 6. September 2007 gelangte die Burgergemeinde an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Sie beantragte die Aufhebung des Entscheides der JGK und die Feststellung, dass ohne ihre Zustimmung keine Handänderungen von zu ihren Lasten im Grundbuch als selbständig und dauernd aufgenommenen Baurechten eingetragen werden dürfen. Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Urteil vom 16. Juli 2008 ab. Von der grundsätzlichen Übertragbarkeit der selbständigen und dauernden Baurechte ausgehend verwies es auf den rein obligatorischen Charakter von rechtsgeschäftlich begründeten Zustimmungserfordernissen, welche keine Verfügungsbeschränkungen im engeren Sinn darstellten. Das Grundbuchamt sei nicht gehalten, das Vorliegen derartiger Zustimmungen zu prüfen.
Die Burgergemeinde (nachfolgend: Beschwerdeführerin) ist mit Beschwerde in Zivilsachen vom 11. September 2008 an das Bundesgericht gelangt. Sie beantragt die Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts. Sodann will sie festgestellt haben, dass bei entsprechendem Vorbehalt im Baurechtsvertrag ohne ihre Zustimmung keine Handänderungen von im Grundbuch zu ihren Lasten eingetragenen selbständigen und dauernden Baurechten vorgenommen werden dürfen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die JGK und das Verwaltungsgericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Justiz schliesst sich in seiner
BGE 135 III 103 S. 106
Vernehmlassung dem angefochtenen Urteil an. Die Beschwerdeführerin hat hierzu unaufgefordert Stellung bezogen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet die Frage, ob der Beschwerdeführerin überhaupt ein schutzwürdiges Interesse am Erlass einer Feststellungsverfügung zustand. Auf jeden Fall bleibt die Zuständigkeit des Zivilrichters weiterhin gegeben, um im konkreten Bestreitungsfall die Voraussetzungen für die Übertragung eines selbständigen und dauernden Baurechts zu prüfen und - unter Einbezug des Baurechtsberechtigten sowie des allfälligen Erwerbers - einen verbindlichen Entscheid zu fällen.
3.
3.1
Die Vorinstanz befand, dass sich die Wirkung der hier interessierenden Genehmigungsvorbehalte nicht von deren Zulässigkeit trennen lasse. Zu prüfen sei indes einzig die Zulässigkeit von Genehmigungsvorbehalten mit dinglicher Wirkung. Nicht zu untersuchen seien demgegenüber solche rein obligatorischer Natur bzw. solche, die für das Grundbuchamt nicht verbindlich seien. Das Grundbuchamt habe nur das Verfügungsrecht und den Rechtsgrund sowie allfällige Zustimmungen eines Dritten oder einer Behörde zu prüfen. Die vertraglichen Genehmigungsvorbehalte aber habe es nur zu beachten, wenn sich daraus eine Beschränkung des Verfügungsrechts im Sinn von
Art. 965 ZGB
ergebe. Auch aus
Art. 24 Abs. 1
bis
lit. a der Verordnung vom 22. Februar 1910 betreffend das Grundbuch (GBV; SR 211.432.1)
ergebe sich keine gesetzliche Verpflichtung, das Vorliegen rein obligatorisch wirkender Zustimmungen zu prüfen. Eine Verfügungsbeschränkung gründe immer auf einer gesetzlichen Regelung oder einer rechtsgeschäftlichen Abmachung, welche die Entstehung eines im Gesetz vorgesehenen dinglichen oder realobligatorischen Rechts zum Gegenstand habe. Die diesbezüglichen Regelungen des ZGB seien abschliessend. Insbesondere fänden sich darin keine Beschränkungen der Übertragbarkeit von selbständigen und dauernden Baurechten. Auch
Art. 779b ZGB
biete keine derartige Grundlage, da diese Norm lediglich den für jeden Erwerber verbindlichen Umfang und Inhalt des Baurechts festlege. Zudem ergebe sich aus dem Gesetz keine dingliche oder realobligatorische Verstärkung allfälliger vertraglicher Genehmigungsvorbehalte. Damit bestehe keine vom Grundbuchamt zu
BGE 135 III 103 S. 107
beachtende Beschränkung der Verfügungsmacht des Baurechtsnehmers. Angesichts der ZGB-Revision von 1963, welche verschiedene Schutzinstrumente zu Gunsten des Grundeigentümers (wie Vorkaufsrecht und Heimfall) eingeführt habe, werde dessen Schutzbedürfnis bei der Übertragung von Baurechten Rechnung getragen. Dies sei noch nicht der Fall gewesen, als das Bundesgericht in seinem Entscheid
BGE 72 I 233
die Beschränkung der Übertragbarkeit von selbständigen und dauernden Baurechten als zulässig befunden habe. Für die Anerkennung von eintragungsfähigen Rechten praeter legem bestehe heute kein Raum mehr.
3.2
Demgegenüber vertritt die Beschwerdeführerin die Auffassung, dass die Ausgestaltung der Selbständigkeit bzw. die Übertragbarkeit nicht nur bei der Eintragung des Baurechtes, sondern auch bei einer späteren Übertragung vom Grundbuchamt zu prüfen sei. Sie beschlage die Verfügungsmacht. Die in
BGE 72 I 233
begründete Rechtsprechung beanspruche nach wie vor Geltung und habe insbesondere durch die späteren ZGB-Revisionen keine Änderung erfahren. In der Lehre sei dieses Urteil mehrheitlich unterstützt worden. Es bestehe ein erhebliches praktisches Interesse, für die übertragbaren Baurechte einen Schutzmechanismus, insbesondere im Hinblick auf die Überbindung des Baurechtszinses, durch das vom Grundbuchamt zu prüfende Zustimmungserfordernis des Grundeigentümers beizubehalten.
3.3
Das Bundesamt für Justiz weist darauf hin, dass eine dingliche oder realobligatorische Einschränkung der Übertragbarkeit von selbständigen und dauernden Baurechten sich aus dem Hauptbuch ergeben müsse, damit das Grundbuchamt erkennen könne, dass die Zustimmung des Grundeigentümers für die Übertragung des Baurechts nötig sei. Seit der ZGB-Revision von 1963 lege
Art. 779b ZGB
fest, welche vertraglichen Bestimmungen für jeden Erwerber des Baurechts und des belasteten Grundstücks verbindlich seien und demnach dingliche Wirkung hätten. Vereinbarungen über die Beschränkung der Übertragbarkeit gehörten nicht zum gesetzlich geregelten Inhalt und Umfang des Baurechts. Sie führten daher nicht zu einer vom Grundbuchamt zu beachtenden Beschränkung des Verfügungsrechts im Sinn von
Art. 24 Abs. 1
bis
GBV
. Die laufende Teilrevision des Immobiliarsachenrechts sehe zudem die Möglichkeit vor, vertragliche Bestimmungen im Grundbuch vorzumerken und ihnen dadurch realobligatorische Wirkung zu verleihen.
BGE 135 III 103 S. 108
4.
4.1
In einem Fall aus dem Jahre 1946 erwog das Bundesgericht, die Genehmigung zur Veräusserung eines Baurechts, welche nach Gutdünken verweigert werden könne, lasse sich mit Sinn und Zweck dieses Instituts nicht vereinbaren. Ein solches Baurecht wäre kein selbständiges Recht mehr. Es gestand den öffentlich-rechtlichen Körperschaften indes ein berechtigtes Interesse zu, den Rechtsverkehr mit den von ihnen begründeten Baurechten zu kontrollieren. Eine dingliche Veräusserungsbeschränkung in dem Sinn, als die Genehmigung aus bestimmten Gründen verweigert werden könne, wäre mit der Selbständigkeit des Baurechtes vereinbar und würde die Übertragbarkeit nicht in Frage stellen. Mit einer in diesem Sinn begrenzten dinglichen Veräusserungsbeschränkung könne das Baurecht im Grundbuch eingetragen werden (
BGE 72 I 233
E. 2). Mit diesem Urteil stellte das Bundesgericht die Bedürfnisse des (öffentlich-rechtlichen) Grundeigentümers in den Vordergrund, welche Sichtweise von der damaligen Lehre unterstützt wurde (GUHL, Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1946, ZBJV 83/1947 S. 491 f.).
4.2
Das aufkommende Engagement des Gemeinwesens im sozialen Wohnungsbau, wie es bei der Schaffung des ZGB noch nicht aktuell war, rief nach Schutzmechanismen für die vertragsgemässe Verwendung des Baurechts sowie die Zahlung der Baurechtszinse. Der Gesetzgeber nahm in der Folge eine eigentümerfreundliche Haltung ein, welche er auch auf den privaten Grundstücksverkehr ausdehnte (Botschaft vom 9. April 1963 zum Entwurf des Bundesgesetzes über die Änderung der Vorschriften des Zivilgesetzbuches und des Obligationenrechtes betreffend das Baurecht und den Grundstückverkehr, BBl 1963 I 970/971, 975, 977, 979). Neben einer einlässlichen Regelung des Heimfalls sah das Revisionsvorhaben von 1963 die Einführung des gesetzlichen Vorkaufsrechts des Grundeigentümers und des Baurechtsinhabers sowie des Pfandrechts des Grundeigentümers vor. Die Pflicht, Inhalt und Umfang des Baurechts vertraglich näher zu umschreiben, wurde nun ins Gesetz aufgenommen, da sie sich als nützlich erwies. Sie galten damit für jeden Grundeigentümer und Baurechtsberechtigten. Abweichende Vereinbarungen könnten, soweit sie zulässig sind, zur Vormerkung im Grundbuch zugelassen werden (BBl 1963 I 984 und 981). Der bundesrätliche Entwurf ist - mit gewissen Anpassungen - Gesetz geworden. Insbesondere wurde die Bestimmung über Inhalt und
BGE 135 III 103 S. 109
Umfang des Baurechts (E-
Art. 779a ZGB
) beibehalten, allerdings mit dem ausdrücklichen Zusatz, dass die vertraglichen Bestimmungen für jeden Erwerber des Baurechts und des belasteten Grundstücks verbindlich sind (
Art. 779b ZGB
).
4.3
Durch die Neuregelung des Baurechts hat die bisherige Lehre und Praxis an Bedeutung verloren. Insbesondere kann nicht mehr ohne weiteres auf den bundesgerichtlichen Entscheid aus dem Jahre 1946 (
BGE 72 I 233
E. 2) abgestellt werden, wenn es um die Frage nach der Eintragung einer dinglichen Veräusserungsbeschränkung in das Grundbuch geht.
Der Gesetzgeber hat dem Bedürfnis des Grundeigentümers, bei der Übertragung des Baurechts seine Interessen zu wahren, namentlich durch die Schaffung des Vorkaufsrechts (
Art. 682 Abs. 2 ZGB
) Rechnung getragen. Im weiteren ist die Stellung des Grundeigentümers gestärkt worden durch die Möglichkeit des vorzeitigen Heimfalls wegen grober Überschreitung des dinglichen Rechts oder vertraglicher Verpflichtungen (
Art. 779f ff. ZGB
) und durch die Einführung des mittelbaren gesetzlichen Grundpfandrechtes zur Sicherung der Baurechtszinse (Art. 779i f. ZGB).
Soweit sich das Bundesgericht in seinem Entscheid aus dem Jahre 1946 in allgemeiner Weise an den Grundeigentümerinteressen der (öffentlich-rechtlichen) Körperschaften orientiert hatte, hat der Gesetzgeber durch die erwähnte Neuregelung des Baurechts diesen weitgehend Rechnung getragen. Eine andere Frage ist, ob sich die getroffenen Massnahmen im Hinblick auf die Mitsprache des Grundeigentümers bei der Übertragung von Baurechten als zweckdienlich erweisen. Dies mag zumindest in Bezug auf das hier im Vordergrund stehende Vorkaufsrecht nicht immer der Fall sein. Der Grundeigentümer, der beispielsweise zur Förderung von Wohnbau oder Gewerbe Baurechte einräumt, wird wenig oder kein Interesse an der Ausübung des Vorkaufsrechts und damit dem Erwerb der errichteten Liegenschaften haben. Will er auf die Übertragung der Baurechte Einfluss nehmen, so ist er auf einen Genehmigungsvorbehalt im Baurechtsvertrag angewiesen, dessen Einhaltung das Grundbuchamt im Einzelfall prüft. Davon zu unterscheiden ist, ob und inwieweit das Sachenrecht für die Durchsetzung dieses Bedürfnisses die entsprechenden Rechtsinstitute vorsieht. Soweit dies nicht der Fall ist, genügt ein allgemeiner Bezug auf die Grundeigentümerinteressen zumindest nach heutigem Verständnis ohnehin nicht mehr,
BGE 135 III 103 S. 110
zumal damit noch nichts über die Stellung des Baurechtsberechtigten gesagt ist. Eine Bezugnahme auf den im Jahre 1946 ergangenen Entscheid des Bundesgerichts, bei dem es um die Eintragung eines Baurechtsvertrages und nicht um die Übertragung des Baurechts ging, erübrigt sich damit auch aus dieser Sicht, ohne dass eine Praxisänderung vorzunehmen ist.
Die neuere Lehre nimmt nicht immer Bezug auf die Baurechtsrevision und auf die Rechtsnatur einer dinglichen Verfügungsbeschränkung. Dies ist denn auch zu Recht kritisiert worden (BACHMANN, Verfügungsbeschränkungen bei gebuchten selbständigen und dauernden Rechten, insb. Baurechten, 1993, S. 151/152). So geht ISLER nach wie vor unter Hinweis auf
BGE 72 I 233
davon aus, dass eine Beschränkung der Übertragbarkeit von Baurechten unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist (Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 3. Aufl. 2007, N. 28 zu
Art. 779 ZGB
), ohne zu den Grenzen dinglicher Verfügungsbeschränkungen Stellung zu nehmen. In diese Richtung und unter Bezugnahme auf
BGE 72 I 233
geht auch SCHMID, allerdings mit dem Hinweis, dass sich die Beschränkung der Übertragbarkeit aus dem Hauptbuchblatt ergeben und der Grundbuchverwalter diese prüfen müsse (Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 3. Aufl. 2007, N. 16
Art. 943 ZGB
). BACHMANN geht hingegen von der Selbständigkeit des Baurechts aus und betrachtet eine allfällige Verfügungsbeschränkung nicht als Bestandteil der gesetzlichen Umschreibung des Baurechts gemäss
Art. 779b ZGB
. Eine Vormerkung abweichender Abmachungen im Grundbuch ist seiner Ansicht nach nicht möglich (a.a.O., S. 156 ff.).
4.4
Grundbuchliche Verfügungen wie Eintragung, Änderung, Löschung dürfen nur auf Grund eines Ausweises über das Verfügungsrecht und den Rechtsgrund vorgenommen werden (
Art. 965 Abs. 1 ZGB
). Der Grundbuchbeamte prüft überdies das Vorliegen gesetzlich notwendiger Zustimmungen Dritter sowie behördlicher Bewilligungen. Zudem hat er Verfügungsbeschränkungen mit dinglicher oder realobligatorischer Wirkung zu beachten. Fehlt die erforderliche Zustimmung oder kantonalrechtliche Bewilligung, so ist die Anmeldung abzuweisen (
Art. 24 Abs. 1
bis
lit. a und b GBV
). Der Grundbuchbeamte muss sich nicht um die Einholung solcher Belege kümmern (FASEL, Kommentar zur Verordnung vom 22. Februar 1910 über das Grundbuch, 2008, N. 12 zu
Art. 24 GBV
). Fehlt eine eidgenössische Bewilligung, so wird die Anmeldung im Tagebuch eingetragen und Frist zur Nachreichung angesetzt (
Art. 24a
BGE 135 III 103 S. 111
Abs. 1 GBV
). Rechtsgeschäftliche Vereinbarungen beschränken das Verfügungsrecht nur in gesetzlich vorgesehenen Fällen, was aus dem Grundbuch durch eine Vormerkung erkennbar und damit vom Grundbuchbeamten überprüfbar sein muss (
Art. 960 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
). Die hier interessierende Zustimmung des Grundeigentümers zur Übertragung eines Baurechts gehört nach geltendem Recht nicht dazu. Ebenso wenig lässt sich aus der Umschreibung von
Art. 779b ZGB
ein vom Grundsatz der freien Übertragbarkeit abweichendes (gesetzliches) Zustimmungserfordernis ableiten, da die Person des Baurechtsberechtigten nicht zum Inhalt der Dienstbarkeit gehört (BACHMANN, a.a.O., S. 148). Die Revisionsvorlage zum Immobiliarsachenrecht sieht nun die Möglichkeit vor, die Vormerkung rechtsgeschäftlicher Vereinbarungen im Grundbuch zu vereinbaren und damit diese gegenüber Rechtsnachfolgern durchzusetzen. Dies entspricht nach Ansicht des Gesetzgebers einem Bedürfnis der Vertragsparteien (E-
Art. 779b ZGB
; Botschaft vom 27. Juni 2007 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Register-Schuldbrief und weitere Änderungen im Sachenrecht], BBl 2007 5313). Damit erhalten vertragliche Abmachungen realobligatorischen Charakter und können insbesondere gegenüber dem Erwerber des Baurechts durchgesetzt werden. Das Bundesamt für Justiz scheint in seiner Vernehmlassung davon auszugehen, dass durch die Vormerkung der Vereinbarung über die Beschränkung der Übertragbarkeit eines Baurechts das Verfügungsrecht des Baurechtsberechtigten gemäss
Art. 965 ZGB
eingeschränkt wird, womit das Grundbuchamt die Handänderung nicht ohne Zustimmung des Grundeigentümers vornehmen dürfte. Die Tragweite einer solchen neuen Vormerkungsmöglichkeit kann indes erst nach Abschluss der Gesetzgebungsarbeiten beurteilt werden.
4.5
Zumindest nach dem zur Zeit geltenden Recht ist der Grundbuchbeamte weder berechtigt noch verpflichtet, die Übertragung eines selbständigen und dauernden Baurechtes von der Zustimmung des Grundeigentümers abhängig zu machen. Der Baurechtsberechtigte ist gegenüber dem Grundbuchamt allein verfügungsberechtigt und durch keinerlei rechtsgeschäftliche Abmachungen eingeschränkt. Wie die Vorinstanz zu Recht festhält, richtet sich die Übertragung eines selbständigen und dauernden Baurechts nach sachenrechtlichen Grundsätzen und die Bestimmungen über die Zession finden keine Anwendung. Soweit die Beschwerdeführerin ihre diesbezüglichen Vorbringen vor Bundesgericht erneuert, ist sie auf das angefochtene Urteil zu verweisen. | de |
2e5fb971-47d2-4fb2-923a-417ec5146152 | Sachverhalt
ab Seite 41
BGE 117 II 40 S. 41
A.-
Mit öffentlich beurkundetem Baurechtsvertrag vom 8. Dezember 1970 wurde der K. AG ein selbständiges und dauerndes Baurecht an einem Grundstück in W. eingeräumt. Ziff. 6 des Vertrages sah die Anpassung des jährlichen Baurechtszinses an die Teuerung vor.
Am 4. April 1972 wurde das Baurecht in Stockwerkeigentum aufgeteilt. Mit Schreiben vom 31. Januar 1983 verlangte G. die Anpassung des Baurechtszinses an den Indexstand per 31. Dezember 1982. In der Folge entstanden zwischen den Parteien Auseinandersetzungen über Sinn und Tragweite der Indexklausel.
B.-
Am 30. Dezember 1983 klagte G. gegen die Stockwerkeigentümergemeinschaft C. auf Bezahlung des Teuerungsausgleichs.
Das Bezirksgericht Brugg hiess die Klage am 28. Juni 1988 teilweise gut. Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 12. Mai 1989 eine Appellation der Beklagten sowie eine Anschlussappellation der Klägerin ab.
Das Bundesgericht weist die Berufung der Beklagten ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Beklagte macht geltend, die Klage sei zurückzuweisen, weil sie nicht passivlegitimiert sei. Es ist daher zu prüfen, ob die Stockwerkeigentümergemeinschaft für die Zahlung des Baurechtszinses verantwortlich ist oder ob jeder Stockwerkeigentümer persönlich und nach Massgabe seines Wertteiles haftet.
a) Die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer erwirbt unter ihrem eigenen Namen das sich aus ihrer Verwaltungstätigkeit
BGE 117 II 40 S. 42
ergebende Vermögen, wie namentlich die Beitragsforderungen und die aus ihnen erzielten verfügbaren Mittel, wie den Erneuerungsfonds (
Art. 712l Abs. 1 ZGB
). Die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer kann unter ihrem Namen klagen und betreiben sowie am Ort der gelegenen Sache beklagt und betrieben werden (
Art. 712l Abs. 2 ZGB
). Das Vermögen der Gemeinschaft haftet den Gläubigern für die gemeinschaftlichen Verbindlichkeiten und kann von ihnen in der Betreibung gegen die Gemeinschaft als solche in Anspruch genommen werden (BBl 1962 II 1518; HANSJÖRG FREI, Zum Aussenverhältnis der Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer, Diss. Zürich 1970, S. 31 und 103). Die vermögensrechtliche Zuständigkeit der Stockwerkeigentümergemeinschaft bestimmt demnach ihre Partei- und Prozessfähigkeit (
BGE 114 II 241
E. 3 mit Hinweisen). Bei Forderungsklagen ist die Gemeinschaft dann prozessfähig, wenn die fragliche Forderung zu ihrem Verwaltungsvermögen gehört oder aus diesem zu befriedigen sein wird (
BGE 106 II 21
). Es stellt sich mithin die Frage, ob die Bezahlung des Baurechtszinses eine Verwaltungsaufgabe darstellt.
b) Die gemeinschaftlichen Kosten und Lasten des Gebäudes sind an die gemeinschaftlichen Bauteile sowie deren gemeinschaftliche Verwaltung gebunden (STEINAUER, Les droits réels, t. I, Rn. 1342, S. 347). Die Aufzählung der Lasten und Kosten in
Art. 712h Abs. 2 ZGB
ist nicht abschliessend (
BGE 109 II 425
E. b); insbesondere wird die Zahlung von Baurechtszinsen nicht ausdrücklich erwähnt. Das Gesetz unterscheidet zwischen gemeinschaftlichen Bauteilen und denjenigen, die im Sonderrecht eines jeden Stockwerkeigentümers stehen und mit Grundpfandrechten belastet werden können (
BGE 107 II 214
E. 3). Einem Stockwerkeigentümer können aber insbesondere weder das Baurecht, kraft dessen gegebenenfalls das Gebäude erstellt wird, noch die Bauteile, Anlagen und Einrichtungen, die eine gemeinschaftliche Zweckbestimmung haben, zu Sonderrecht zugeschieden werden (
Art. 712b Abs. 2 ZGB
; auch FORNI, La propriété par étages dans la jurisprudence du Tribunal fédéral, ZBJV 124/1988, S. 449 ff., 459). Dies ist zwingendes Recht (BBl 1962 II 1513). Soweit die Stockwerkeigentümergemeinschaft aus dem Baurecht berechtigt ist, fällt die Zahlung von Baurechtszinsen folgerichtig unter die gemeinschaftlichen Lasten; sie obliegt als Verwaltungsaufgabe der Stockwerkeigentümergemeinschaft. Dies entspricht der herrschenden Auffassung (MEIER-HAYOZ, N 57 zu
Art. 712l, N 65
zu
Art. 712h ZGB
;
BGE 117 II 40 S. 43
CHRISTOPH MÜLLER, Zur Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer, Diss. Zürich 1973, S. 59; FRIEDRICH, Das Stockwerkeigentum, Reglement für die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer, 2. Aufl. 1972, N 8 zu § 17, S. 89; ROLF H. WEBER, Zur Prozessfähigkeit der Stockwerkeigentümergemeinschaft, SJZ 75/1979, S. 117 ff., 120 Ziff. 1.3.5 und 122 Ziff. 2.3.1).
Die Zahlung des Baurechtszinses zählt zu den gemeinschaftlichen Lasten. Jeder Stockwerkeigentümer ist somit ungeachtet einer allfälligen im Baurechtsvertrag vereinbarten Solidarhaftung verpflichtet, an den Baurechtszins einen seiner Wertquote entsprechenden Beitrag zu leisten. Gegenüber dem Baurechtsgeber haftet indessen unmittelbar die Stockwerkeigentümergemeinschaft (MEIER-HAYOZ, N 65 zu
Art. 712h ZGB
).
c) Was die Beklagte dagegen vorbringt, insbesondere ihre Ausführungen zur Solidarität, Schuldübernahme und gesetzlichen Subrogation, vermögen nicht durchzudringen. Sie missachten die zwingende Ordnung des Stockwerkeigentums. Weder der Begründungsakt für das Stockwerkeigentum noch das Reglement der Gemeinschaft können an dieser Haftungsordnung etwas ändern. Insoweit erweist sich die Berufung als unbegründet. | de |
a1203bcd-c2bb-48a7-83f5-06e420e2f2e8 | Sachverhalt
ab Seite 1
BGE 147 III 1 S. 1
Die Ortsbürgergemeinde U. ist Eigentümerin des Grundstücks Nr. x mit einer Fläche von 27'004 m
2
. Sie errichtete daran vier selbständige und dauernde Baurechte, die als Grundstücke in das Grundbuch aufgenommen wurden. Berechtigt sind die A. AG auf einer Fläche von 10'920 m
2
(SDR Nr. x-1), die B. AG auf einer Fläche von 3'570 m
2
(SDR Nr. x-2), die C. AG auf einer Fläche von 7'482 m
2
(SDR Nr. x-3) und die D. AG auf einer Fläche von 5'005 m
2
(SDR
BGE 147 III 1 S. 2
Nr. x-4). Das selbständige und dauernde Baurecht der A. AG hat eine Laufzeit bis 16. Mai 2038.
Die A. AG verfügt über mehr Fläche als sie tatsächlich benutzt. Hingegen hat die B. AG zusätzlichen Platzbedarf. Die beiden Baurechtsnehmerinnen und die Ortsbürgergemeinde einigten sich darauf, in Abänderung der seinerzeitigen Dienstbarkeitsverträge die Fläche der Baurechtsparzelle SDR Nr. x-1 der A. AG zu verkleinern, aus der frei werdenden Fläche die Baurechtsparzelle SDR Nr. x-5 zu machen und diese der B. AG zuzuweisen. Das Rechtsgeschäft wurde am 28. November 2017 öffentlich beurkundet.
Die Urkundsperson meldete das Rechtsgeschäft beim Grundbuchamt zur Eintragung an, das die Anmeldung abwies. Das angerufene Departement verneinte die Eintragbarkeit unter anderem damit, dass selbständige und dauernde Baurechte nicht wie Liegenschaften geteilt oder vereinigt werden könnten und dass es ohnehin eine Mindestdauer von 30 Jahren einzuhalten gälte. Das kantonale Verwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde ab.
Mit Beschwerde gelangen die Ortsbürgergemeinde U., die A. AG und die B. AG (Beschwerdeführerinnen) an das Bundesgericht, dem sie beantragen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zu neuem Entscheid an das Verwaltungsgericht zurück.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Im Kern erwog das Verwaltungsgericht, die Aufteilung eines Baurechtsgrundstücks führe zur Errichtung eines weiteren selbständigen und dauernden Rechts und für die Aufnahme einer neuen Baurechtsparzelle ins Grundbuch würde vorausgesetzt, dass die Vertragsparteien für diese eine Mindestdauer von 30 Jahren vorsähen. Die neu zu errichtende Baurechtsparzelle erfülle diese Voraussetzungen nicht, weshalb die vereinbarte Aufteilung des Baurechtsgrundstücks nicht eintragungsfähig sei.
(...)
3.
3.1
Gegenstand des Grundeigentums sind die Grundstücke (
Art. 655 Abs. 1 ZGB
). Grundstücke sind die Liegenschaften (
Art. 655 Abs. 2
BGE 147 III 1 S. 3
Ziff. 1 ZGB
), die in das Grundbuch aufgenommenen selbständigen und dauernden Rechte (
Art. 655 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB
), die Bergwerke (
Art. 655 Abs. 2 Ziff. 3 ZGB
) und die Miteigentumsanteile an Grundstücken (
Art. 655 Abs. 2 Ziff. 4 ZGB
).
3.2
Als selbständiges und dauerndes Recht kann eine Dienstbarkeit an einem Grundstück in das Grundbuch aufgenommen werden, wenn sie weder zugunsten eines berechtigten Grundstücks noch ausschliesslich zugunsten einer bestimmten Person errichtet und auf wenigstens 30 Jahre oder auf unbestimmte Zeit
begründet
ist (
Art. 655 Abs. 3 und
Art. 943 ZGB
sowie Art. 22 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 Grundbuchverordnung vom 23. September 2011 [GBV; SR 211.432.1]).
3.3
Die Lehre ist sich einig, dass der Begriff des Grundstücks ein
terminus technicus
, d.h. ein fachjuristisch geprägter, funktionsbestimmter und dynamischer Begriff ist (STREBEL, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 6. Aufl. 2019, N. 3 zu
Art. 655 ZGB
mit weiteren Hinweisen), der durch die grundbuchtechnische Behandlung bestimmt wird (MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1964, N. 3 zu
Art. 655 ZGB
; REY, Die Grundlagen des Sachenrechts und das Eigentum, 3. Aufl. 2007, Rz. 1029; SCHMID/HU?RLIMANN-KAUP, Sachenrecht, 5. Aufl. 2017, Rz.809; ferner DESCHENAUX, Das Grundbuch, SPR V/3, I, 1988, S. 70.). EUGEN HUBER beschreibt dies mit folgenden Worten: "Alle Grundstücke unterliegen dem Grundbuchrecht, alles was dem Grundbuchrecht unterliegt, ist Grundstu?ck" (HUBER, Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bd. 2, 2. Aufl. 1914, S. 78).
Art. 943 Abs. 1 und
Art. 945 Abs. 1 ZGB
verlangen denn auch, dass alle Grundstu?cke mit einem eigenen Hauptbuchblatt und einer eigenen Nummer individualisiert im Grundbuch aufgenommen werden (SCHMID, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 6. Aufl. 2019, N. 14 Vor Art. 942-977 sowie N. 7 zu
Art. 945 ZGB
; MOOSER, in: Commentaire romand, Code civil, Bd. II, 2016, N. 19 Intro. zu Art. 942-977 und N. 1 zu
Art. 945 ZGB
; REY, a.a.O., Rz. 1028).
3.4
Durch die Bezeichnung der in das Grundbuch aufgenommenen selbständigen und dauernden Rechte als Grundstücke im Sinne des Gesetzes (
Art. 655 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB
) unterstellt der Gesetzgeber diese den Bestimmungen über die unbeweglichen Sachen. Damit stellt er die selbständigen und dauernden Rechte bewusst den unbeweglichen Sachen gleich, obwohl jene offensichtlich die Sachqualität nicht erfüllen und somit nicht Objekte des Eigentums sind (LIVER, Das Eigentum, SPR V/1, 1977, S. 123). Nach LIVER
BGE 147 III 1 S. 4
widerspricht das Baurecht, das die Überbauung des ganzen Grundstückes gestattet, dem Grundsatz der Begrenztheit des Umfanges der Belastung, welcher für die Grunddienstbarkeiten und für die irregulären Personaldienstbarkeiten nach
Art. 781 ZGB
gilt. Wenn der Gesetzgeber das Baurecht nicht ausdrücklich in
Art. 779 ff. ZGB
geregelt hätte, wäre es, so LIVER weiter, weder auf Grund von Art. 730 noch von
Art. 781 ZGB
zulässig. Man habe sich daher bewusst zu sein, dass das Baurecht unter den Dienstbarkeiten eine Ausnahmeerscheinung ist (LIVER, Zürcher Kommentar, 2. Aufl. 1980, N. 15 zu
Art. 730 ZGB
).
3.5
Mit der Unterstellung der selbständigen und dauernden Rechte unter die Bestimmungen über die unbeweglichen Sachen bedient sich der Gesetzgeber einer gesetzlichen Fiktion. Das Gesetz fingiert, dass die selbständigen und dauernden Rechte Grundstücke sind und vom Rechtsanwender so angesehen werden sollen, "als ob" sie Grundstücke im eigentlichen Sinne wären (FLURINA HITZ, Das Baurecht als selbstständiges und dauerndes Recht: Konstruktion aus dinglichen und obligatorischen Rechtspositionen, 2017, Rz. 137; SCHMID, a.a.O., N. 20, und MOOSER, a.a.O., N. 22, je zu
Art. 943 ZGB
; SUTTER-SOMM, Eigentum und Besitz, SPR V/1, 2. Aufl. 2014, Rz. 442 S. 222).
3.6
Nach Rechtsprechung und Lehre ist das selbständige und dauernde Baurecht mit Bezug auf seine Stellung im Rechtsverkehr den Grundstücken im eigentlichen Sinn gleichgestellt (
BGE 135 III 103
E. 4 mit weiteren Hinweisen). Es kann rechtsgeschäftlich übertragen (z. B. Verkauf oder Schenkung) und mit Grund- oder Personaldienstbarkeiten (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 38 zu
Art. 655 ZGB
), namentlich mit einem selbständigen und dauernden Baurecht (
BGE 92 I 539
E. 2) oder auch mit Grundpfandrechten belastet werden (
BGE 127 III 300
E. 5a;
BGE 118 II 115
E. 2, mit weiteren Hinweisen). Möglich sind auch Vormerkungen im Sinn von
Art. 959 ff. ZGB
. Sodann kann ein im Grundbuch aufgenommenes selbständiges und dauerndes Baurecht als Stammgrundstück für die Begründung von Stockwerkeigentum dienen (
Art. 712d Abs. 2 Ziff. 2 ZGB
). Bezüglich der auf dem Baurechtsgrundstück errichteten Bauten hat der Baurechtsberechtigte die Rechte und Pflichten eines Eigentümers: Ihm stehen die Rechtsbehelfe des Eigentümers aus
Art. 641 Abs. 2 ZGB
sowie diejenigen aus Besitz zu (
Art. 926-929 ZGB
), und er ist den Beschränkungen des Grundeigentums (
Art. 684 ff. ZGB
), der Verantwortlichkeit des Grundeigentümers (
Art. 679 ZGB
) und der Werkeigentümerhaftung (
Art. 58 OR
;
BGE 132 III 689
E. 2.2.1)
BGE 147 III 1 S. 5
unterworfen (ISLER/GROSS, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 6. Aufl. 2019, N. 9-11, und BALLIF, in: Commentaire romand, Code civil, Bd. II, 2016, N. 29-31, je zu
Art. 779 ZGB
).
3.7
Bei alledem ist den Besonderheiten des Charakters des Baurechts als Dienstbarkeit Rechnung zu tragen (
BGE 118 II 115
E. 2; s. auch LIVER, Zürcher Kommentar, a.a.O., N. 110 zu
Art. 737 ZGB
, und Das Eigentum, a.a.O., S. 123; TUOR/SCHNYDER/SCHMID/JUNGO, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 14. Aufl. 2015, § 94 N. 19, § 101 N. 34 ff.; MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 5 zu
Art. 655 ZGB
; SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, a.a.O., Rz. 418 und 1333; HITZ, a.a.O., Rz. 118, 132, 139 und 157; HANS MICHAEL RIEMER, Das Baurecht [Baurechtsdienstbarkeit] des Zivilgesetzbuches und seine Behandlung im Steuerrecht, 1968, S. 32 ff.; STEINAUER, Les droits réels, Bd. II, 5. Aufl. 2020, N. 2022 ff.). In seiner Rechtsprechung hat das Bundesgericht die Gleichstellung des selbständigen und dauernden Baurechts mit Grundstücken im eigentlichen Sinn dort versagt, wo es auf die Körperlichkeit des Gegenstandes ankommt. In diesem Sinn hat es entschieden, ein selbständiges und dauerndes Baurecht könne nicht derelinquiert werden, weil die Aneignung und Dereliktion nur an körperlichen Sachen möglich sei (
BGE 118 II 115
E. 2). Dem Charakter des Baurechts als Dienstbarkeitsrecht entsprechend ist eine - vorzeitige - Löschung desselben durch Verzicht des Bauberechtigten nur mit Zustimmung der daran dinglich Berechtigten möglich (
BGE 127 III 300
E. 5a/aa). Das Kriterium der Körperlichkeit des Gegenstandes war auch in
BGE 129 III 216
massgebend. Das Bundesgericht entschied, ein Miteigentümer, der auf seinen Miteigentumsanteil - gemäss
Art. 655 Abs. 2 Ziff. 4 ZGB
ebenfalls ein Grundstück - verzichten, d.h. sein Eigentum daran aufgeben will, könne diesen nicht derelinquieren; vielmehr wachse jener Teil, an welchem der Miteigentümer sein Eigentum aufgibt, den verbleibenden Miteigentümern an (s. dort E. 3.2). Mit anderen Worten liegt die Grenze der Anwendbarkeit der Bestimmungen über das Grundeigentum dort, wo die Anwendbarkeit mit dem dienstbarkeitsrechtlichen Charakter und der fehlenden Körperlichkeit nicht mehr vereinbar ist (HITZ, a.a.O., Rz. 151, 155 und 157).
4.
4.1
Unter Hinweis auf LIVER (Zürcher Kommentar, a.a.O., N. 44 zu Art. 730 und N. 13 und 20 ff. zu
Art. 743 ZGB
) und weitere Autoren vertritt das Bundesamt für Justiz die Auffassung, Dienstbarkeiten seien Rechte und als solche nicht teilbar. Sowohl der
BGE 147 III 1 S. 6
Dienstbarkeitscharakter als auch die fehlende Körperlichkeit stünden der Teilbarkeit eines Baurechtsgrundstücks entgegen. Dafür bestehe auch kein Bedürfnis, denn eine mit dem Baurecht belastete Liegenschaft könne parzelliert und jede Parzelle mit einem Baurecht belastet werden. Sodann könne eine Liegenschaft auch mit mehreren Baurechten belastet werden und der Baurechtsberechtigte sei darüber hinaus frei, das Baurechtsgrundstück mit einem oder mehreren weiteren Baurechten zu belasten. Mitunter könne das Resultat einer Teilung theoretisch auch durch eine Flächenveränderung der Baurechtsparzelle in Verbindung mit einer Neubegründung eines zweiten Baurechts erreicht werden. Was die Beschwerdeführerinnen beabsichtigten, liefe auf eine unzulässige Teilung einer Baurechtsparzelle hinaus.
4.2
Das Bundesamt für Justiz gibt die Meinung von LIVER zutreffend wieder. Es ist allerdings zu berücksichtigten, dass dieser seinen eigenen Ausführungen zufolge eine
grundsätzliche dogmatische Auffassung
vertritt, was ihm verbiete, "aus der Not eine Tugend zu machen" (Zürcher Kommentar, a.a.O., N. 15 zu
Art. 730 ZGB
).
4.3
Wie bereits dargetan, fingiert das Gesetz, dass die selbständigen und dauernden Rechte Grundstücke sind und vom Rechtsanwender so angesehen werden sollen, "als ob" sie Grundstücke im eigentlichen Sinne wären (E. 3.5). Das (selbständige und dauernde) Baurecht hat in jedem Fall wie eine Liegenschaft eine in Quadratmeter erfassbare räumliche Ausdehnung (indem es die Bodenparzelle insgesamt oder nur einen Teil davon belastet;
Art. 779b Abs. 1 ZGB
). Sodann kann es, anders als alle anderen Grunddienstbarkeiten aber wie eine Liegenschaft, mit Grund- oder Personaldienstbarkeiten, namentlich mit einem selbständigen und dauernden Baurecht oder auch mit Grundpfandrechten belastet werden, und wie eine Liegenschaft, als Stammgrundstück für die Begründung von Stockwerkeigentum dienen (vgl. E. 3.6). Bei dieser Ausgangslage ist
a priori
nicht ersichtlich, inwiefern im Rahmen der gesetzlichen Fiktion die fehlende Körperlichkeit des Gegenstandes eine Teilung des selbständigen und dauernden Baurechts ausschliessen soll bzw. weshalb das selbständige und dauernde Baurecht nicht auch hinsichtlich der Teilung einer Liegenschaft im Sinn von
Art. 655 Abs. 2 Ziff. 1 ZGB
soll gleichgestellt werden können. Im angefochtenen Entscheid vertritt das Verwaltungsgericht denn auch keine andere Meinung. Vielmehr erachtet es das von den Beschwerdeführerinnen vereinbarte Geschäft deshalb als nicht eintragungsfähig, weil ein
BGE 147 III 1 S. 7
neues Hauptbuchblatt eröffnet werden soll und das Erfordernis der Mindestdauer von 30 Jahren nicht erfüllt ist (E. 2.1 oben).
5.
5.1
Die Beschwerdeführerinnen halten dafür, im konkreten Fall könne die Mindestdauer von 30 Jahren kein massgebliches Kriterium sein, denn inhaltlich gehe es nicht um die
Begründung
eines neuen selbständigen und dauernden Baurechts, sondern um eine
Änderung
einer bestehenden Dienstbarkeit. Entscheidend sei, ob sich die Umgestaltung der Dienstbarkeit auf gleich- oder nachrangige grundbuchliche Rechte auswirke oder nicht. Wirke sich die Umgestaltung - wie hier - auf die gleich- oder nachrangigen grundbuchlichen Rechte nicht aus, werde keine neue Dienstbarkeit
begründet
.
5.2
Das Verwaltungsgericht differenziert zwar auch zwischen einer
Abänderung
und der
Begründung
eines selbständigen und dauernden Rechts, erwägt aber, die vereinbarte Aufteilung des Baurechtsgrundstücks würde zu einer Umgehung der Bestimmungen über die Mindestdauer von selbständigen und dauernden Rechten führen.
5.3
Das Bundesamt für Justiz befasst sich nicht spezifisch mit der Unterscheidung zwischen (Neu)Begründung einer Dienstbarkeit und Umgestaltung bzw. Änderung einer bestehenden Dienstbarkeit.
5.4
Der Gesetzgeber geht ohne Weiteres davon aus, dass die Parteien eines Dienstbarkeitsvertrags diesen und damit auch das Recht als solches
ändern
können. Nach
Art. 964 ZGB
bedarf es zur Löschung oder
Abänderung
eines Eintrages einer schriftlichen Erklärung der aus dem Eintrag berechtigten Personen. Sodann dürfen grundbuchliche Verfügungen, wie Eintragung,
Änderung
, Löschung in allen Fällen nur auf Grund eines Ausweises über das Verfügungsrecht und den Rechtsgrund vorgenommen werden (
Art. 965 ZGB
). Abgesehen von
Art. 736 ZGB
(Ablösung einer Dienstbarkeit durch das Gericht) und
Art. 742 ZGB
(Verlegung der Belastung) kennt das Gesetz keine speziellen Normen darüber, wie eine
Änderung
zu erfolgen hat. Schliesslich sieht die Grundbuchverordnung vor, dass die Bestimmungen über die Anmeldung zur Eintragung auch fu?r die Anmeldung zur
Änderung
oder Löschung eines Eintrags gelten (
Art. 131 GBV
). Mangels eines gesetzlichen Vorbehalts ist davon auszugehen, dass auch Baurechtsdienstbarkeiten
abgeändert
werden können.
5.5
Das Gesetz definiert nicht, was unter einer
Änderung
einer Dienstbarkeit zu verstehen ist. Namentlich grenzt es nicht ab, welche
BGE 147 III 1 S. 8
Änderungen eines bestehenden Dienstbarkeitsverhältnisses noch alssolche und (noch) nicht als Neubegründung aufzufassen sind.
Die Grundbuchverordnung hilft nicht weiter, denn auch sie enthält keine diesbezügliche Definition. Vielmehr regelt die Verordnung "das Verfahren" zur Eintragung,
Änderung
und Löschung von dinglichen Rechten an Grundstücken sowie von Vormerkungen und Anmerkungen (
Art. 1 lit. d GBV
). Allgemein gibt die Verordnung vor, dass die Bestimmungen über die Anmeldung zur Eintragung auch fu?r die Anmeldung zur Änderung oder Löschung eines Eintrags gelten (
Art. 131 Abs. 1 GBV
). Spezifisch regelt sie das Vorgehen bei Rangänderungen von Grundpfandrechten gegenüber Dienstbarkeiten, Grundlasten oder Vormerkungen sowie Rangänderungen innerhalb der Dienstbarkeiten, Grundlasten und Vormerkungen (
Art. 122 GBV
), bei Änderungen im Papiergrundbuch (
Art. 133 GBV
), bei Änderungen von Pfandrechtseinträgen (
Art. 135 GBV
) und bei Änderungen eines Pfandtitels (Art. 150 f. GBV). Schliesslich bleiben die besonderen Bestimmungen über die Voraussetzungen der Änderung oder Löschung ungerechtfertigter oder bedeutungslos gewordener Einträge (
Art. 975-976b ZGB
) vorbehalten (
Art. 131 Abs. 3 GBV
).
5.6
Die Doktrin befasst sich eher kursorisch mit dieser Frage.
5.6.1
LIVER diskutiert die Thematik der Änderung einer Dienstbarkeit im Zusammenhang mit
Art. 732 ZGB
, d.h. der Form, der das Rechtsgeschäft über die Errichtung einer Grunddienstbarkeit bedarf. Er betont, dass der Vertrag über die Änderung einer eingetragenen, bereits bestehenden Dienstbarkeit keine Änderung oder Ergänzung des Errichtungsvertrags sei, sondern ein neuer Vertrag. Sodann unterscheidet LIVER zwischen Änderungen, welche die Dienstbarkeitsverpflichtung
wesentlich modifizieren
,
ausdehnen
oder
erschwere
n
, und solchen, die eindeutig in einer
Erleichterung
,
Verminderung
oder
teilweisen Aufhebung
von Dienstbarkeitspflichten bestehen. Während eine Änderung der ersten Kategorie der Formvorschrift des
Art. 732 ZGB
unterstehe, könne eine Änderung der zweiten Kategorie durch die Erklärung des Dienstbarkeitsberechtigten bewirkt werden, die gegebenenfalls der Zustimmung der Inhaber von dinglichen Rechten am berechtigten Grundstück, welche seit der Begründung der Dienstbarkeit erworben worden sind, bedarf (Zürcher Kommentar, a.a.O., N. 89 f. zu
Art. 732 ZGB
).
5.6.2
Andere Autoren verstehen unter "Abänderung eines Eintrags" im Sinn von
Art. 964 Abs. 1 ZGB
eine inhaltlich einschränkende
BGE 147 III 1 S. 9
Abänderung, die als Teillöschung eines Grundbucheintrags erscheine. Bewirke die Änderung dagegen eine Ausdehnung, sei sie einer Neubegru?ndung gleichzustellen, welche die Voraussetzungen von
Art. 963 und
Art. 965 ZGB
zu erfüllen hätte (HOMBERGER, Zürcher Kommentar, 2. Aufl. 1938, N. 4 zu
Art. 964 ZGB
; DESCHENAUX, a.a.O., S. 252; PFAMMATTER, in: ZGB, Kommentar, Schweizerisches Zivilgesetzbuch, 3. Aufl. 2016, N. 3, DEILLON-SCHEGG, in: Sachenrecht, Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl. 2016, N. 3, MOOSER, a.a.O., N. 7, und SCHMID, a.a.O., N. 6 und 18, je zu
Art. 964 ZGB
).
5.6.3
Nach PAUL PIOTET liegt eine Änderung einer Dienstbarkeit vor, wenn sie eine Änderung des Hauptbuchblattes zur Folge hat. Betrifft die Änderung hingegen einen Punkt, der sich nicht aus dem Eintrag, sondern aus dem Dienstbarkeitsvertrag ergibt, liege offensichtlich keine Änderung einer Dienstbarkeit vor (Le contenu d'une servitude, sa modification conventionnelle et la protection de la bonne foi, ZBGR 81/2000 S. 284 ff., 285 f.).
5.6.4
DENIS PIOTET grenzt die Neuerrichtung einer Dienstbarkeit und die Änderung einer solchen voneinander ab. In die Kategorie der Neuerrichtungen falle beispielsweise eine Transformation von einer Grund- in eine Personaldienstbarkeit und umgekehrt; ebenso wenn das herrschende Grundstück durch ein anderes ersetzt werden soll. Demgegenüber liege eine Änderung vor, wenn die Dienstbarkeitsverpflichtung reduziert oder wenn eine Dienstbarkeit, die im Begründungszeitpunkt sämtliche Anforderungen an ein selbständiges und dauerndes Recht erfüllt, nachträglich noch in das Grundbuch eingetragen werden soll. Schliesslich hebt der Autor hervor, dass die Ausdehnung der Dienstbarkeitsverpflichtung nur mit Zustimmung der Inhaber anderer dinglicher, im Rang vorgehender Rechte erfolgen dürfe (Les droits réels limités en général, les servitudes et les charges foncières, TDPS, Bd. V/2, 2. Aufl. 2012, Rz. 229 ff.).
5.6.5
SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP (a.a.O., Rz. 1291 ff.) behandeln die Thematik der Abänderung einer Dienstbarkeit lediglich im Zusammenhang mit
Art. 742 ZGB
(Verlegung der Belastung) und
Art. 743 ZGB
(Teilung eines Grundstücks). Dasselbe gilt für STEINAUER (a.a.O., N. 3483 ff.).
5.6.6
Am ausführlichsten hat sich BETTINA HÜRLIMANN-KAUP mit der Thematik auseinandergesetzt (in: Die Änderung von
BGE 147 III 1 S. 10
Dienstbarkeiten - ausgewählte Fragen, Der Bernische Notar [BN] 2013 S. 103 ff.). Ihr zufolge kann von einer Änderung der Dienstbarkeit gesprochen werden, wenn das Datum und der Rang des Rechts trotz der Modifikation erhalten bleiben. Gemeint sei also die Situation, in welcher der vorhandene Eintrag bestehen bleibt und mit dem neuen Beleg ergänzt wird. Keine Neubegründung sondern eine Abänderung einer Dienstbarkeit liege dann vor, wenn die Vertragsparteien eine bereits bestehende Dienstbarkeit zwar umgestalten, das Datum und der Rang dieser Dienstbarkeit trotz Umgestaltung jedoch erhalten bleibt (a.a.O., S. 106). Unter Hinweis auf LIVER (zit. in E. 5.6.1 oben) führt auch sie aus, eine Änderung der Dienstbarkeit setze einen Vertrag voraus. Dabei handle es sich nicht um eine Änderung oder Ergänzung der Dienstbarkeit, sondern um einen neuen Vertrag auf Änderung des bestehenden beschränkten dinglichen Rechts (a.a.O., S. 120), der die Formvorschriften des
Art. 732 ZGB
zu beachten habe (a.a.O., S. 126).
Unter diesen Voraussetzungen kann nach ADRIAN MÜHLEMATTER eine flächenmässige Aufteilung eines als Grundstück in das Grundbuch aufgenommenen Baurechts vorgenommen werden (in: Teilung und Vereinigung von Grundstücken, BN 2017 S. 25 ff., 37 Fn. 38).
5.7
Hier beabsichtigen die Beschwerdeführerinnen die flächenmässige Aufteilung einer bestehenden Baurechtsdienstbarkeit, die sich auf gleich- und nachrangige Rechte nicht auswirkt und den Inhalt der Dienstbarkeit mit Ausnahme der flächenmässigen Aufteilung unverändert belässt. Mit diesem Vorgehen erfährt das mit der Baurechtsdienstbarkeit belastete Grundstück weder eine Ent- noch eine zusätzliche Belastung oder Erschwerung; aus der Sicht des Baurechtsgebers stellt sich die Situation unverändert dar. Daher liegt im vorbeschriebenen Vorgehen jedenfalls keine
(Neu)Begründung
einer Baurechtsdienstbarkeit vor.
6.
Es stellt sich nunmehr die Frage, welche Rolle die gesetzliche Mindestdauer im vorliegenden Kontext spielt. Zu prüfen ist mithin, ob, wovon das Verwaltungsgericht ausgeht (E. 5.2), die Bestimmungen über die Mindestdauer von selbständigen und dauernden Rechten auch dann gelten, wenn die Vertragsparteien ein bestehendes, im Grundbuch eingetragenes Baurecht flächenmässig aufteilen wollen, dabei aber den Inhalt der Dienstbarkeit im Übrigen unverändert beibehalten und die gleich- und nachrangigen Rechte Dritter wahren.
BGE 147 III 1 S. 11
6.1
Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis (
BGE 145 IV 146
E. 2.3). Die gesetzliche Mindestdauer darf nicht zum Selbstzweck verkommen (vgl.
BGE 145 V 170
E. 7.3). Massgebend für die Erörterung dieser Frage ist der Zweck, der mit der Mindestdauer verfolgt wird.
6.2
Das ZGB kennt den Begriff des selbständigen und dauernden Rechts seit seiner Schöpfung. Für wie lange ein Recht dauern musste, damit es als "dauerndes Recht" gelten konnte, regelte der Gesetzgeber indes nicht. Hingegen legte der Bundesrat in der Grundbuchverordnung vom 22. Februar 1910 (BS 2 530) eine Mindestdauer von 30 Jahren fest (Art. 7 Abs. 2 Ziff. 2 aGBV). Damit füllte er eine Lücke im Gesetz (LIVER, Das Eigentum, a.a.O, S. 124). Im Rahmen der Einführung des Register-Schuldbriefs und weiterer Änderungen im Sachenrecht erachtete es der Bundesrat als sachgerecht, die Minimaldauer eines selbständigen und dauernden Rechts auf Gesetzes- und nicht nur auf Verordnungsstufe zu regeln (Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 27. Juni 2007, BBl 2007 5283, 5304). Auf diese Weise fand im Jahr 2012 die damals in Art. 7 Abs. 2 aGBV enthaltene Regelung, sprachlich vereinfacht, inhaltlich jedoch unverändert Eingang in den
Art. 655 Abs. 3 ZGB
(AS 2011 4637).
6.3
In der Doktrin finden sich nur wenige Hinweise zur Frage, welchem Zweck die Mindestdauer dient.
6.3.1
Nach LIVER (Das Eigentum, a.a.O., S. 124) würde sich das Baurecht ohne Mindestdauer nicht für den Verkehr eignen; zum hierfür erforderlichen Zeitrahmen äussert er sich nicht.
6.3.2
HAAB führt aus, dass nur auf kurze Zeit errichtete Rechte für die eigentumsgleiche Behandlung ausser Betracht fallen, ergebe sich ohne Weiteres daraus, dass diese nicht zuletzt um der Beleihung willen vorgesehen sei, und folglich ihren Zweck nur zu erreichen vermöge, wenn dem Gläubiger eine gewisse Sicherheit dafür geboten werde, dass das ihm haftende "Grundstück" so lange zu Recht besteht, als nötig ist, um die Pfandschuld zu amortisieren (Zürcher Kommentar, 1930, N. 8 zu
Art. 655 ZGB
).
BGE 147 III 1 S. 12
6.4
Die in der Doktrin vorgetragenen Argumente leuchten ohne Weiteres ein, soweit es um die
(Neu)Begründung
eines selbständigen und dauernden Baurechts geht. Ist ein Baurecht hingegen einmal für die vorgesehene Minimaldauer begründet, ist es insofern "in Verkehr gesetzt". Wenn sodann die gleich- und nachrangigen Rechte Dritter trotz Umgestaltung der Dienstbarkeit erhalten bleiben, gehen auch die grundpfandrechtlich geschützten Gläubiger ihrer Sicherheit nicht verlustig. Bezogen auf den Zweck der gesetzlichen Mindestdauer ist daher nicht einsichtig, weshalb für die hier in Aussicht genommene Änderung der Dienstbarkeit die gesetzliche Mindestdauer Bestand haben muss, um im Grundbuch eingetragen werden zu können.
6.5
Schliesslich muss die gesetzliche Mindestdauer ohnehin nicht in jedem Fall eingehalten werden, wenn ein Baurecht von einer grundbuchlichen Transaktion betroffen ist.
6.5.1
So kann der Eigentümer, wie das Bundesamt für Justiz mit Hinweis auf LIVER, Zürcher Kommentar, a.a.O., N. 13 zu
Art. 743 ZGB
, ausführt, die mit einem selbständigen und dauernden Baurecht belastete Liegenschaft teilen ("parzellieren"). Teilt der Eigentümer das belastete Grundstück, wird das bisherige Hauptbuchblatt in der Regel für einen Teil weitergeführt (
Art. 153 Abs. 1 GBV
) und für die anderen Teile, soweit sie nicht mit angrenzenden Grundstücken vereinigt werden, werden neue Hauptbuchblätter eröffnet (
Art. 153 Abs. 2 GBV
). Dienstbarkeiten werden alsdann nach den
Art. 743 und
Art. 974a ZGB
bereinigt. Grundsätzlich besteht die Dienstbarkeit auf allen Teilen weiter (
Art. 743 Abs. 1 ZGB
). Beschränkt sich hingegen die Ausübung der Dienstbarkeit nach den Belegen oder den Umständen auf einzelne Teile, so ist sie auf den nicht betroffenen Teilen zu löschen (
Art. 743 Abs. 2 ZGB
).
Die Teilung der Bodenparzelle kann, wenn sie den vom selbständigen und dauernden Baurecht erfassten Teil der Liegenschaft betrifft, dazu führen, dass das bestehende selbständige und dauernde Baurecht einerseits im bisherigen Hauptbuchblatt verbleibt und andererseits in die neuen Hauptbuchblätter eingetragen werden muss (Art. 98 Abs. 2 lit. d Ziff. 2 GBV). Weil eine Dienstbarkeit stets auf
einem
Grundstück lastet und es namentlich keine sog. Gesamtbaurechte, d.h. Baurechte zu Lasten mehrerer angrenzender Grundstücke gibt (Botschaft vom 9. April 1963 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung der Vorschriften des Zivilgesetzbuches
BGE 147 III 1 S. 13
und des Obligationenrechtes betreffend das Baurecht und den Grundstückverkehr, BBl 1963 I 969 995; vgl. auch ZOBL, Grundbuchrecht, 2. Aufl. 2004, Rz. 186 S. 93; ISLER/GROSS, a.a.O., N. 34 f., und BALLIF, a.a.O., N. 26, je zu
Art. 779 ZGB
; JÜRG SCHMID, Ausgewählte Fragen zum Baurecht, Unterbaurecht und zum Überbaurecht, ZBGR 79/1998 S. 289 ff., 296; SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, a.a.O., Rz. 1379 mit weiteren Hinweisen), muss für den auf der neu geschaffenen Liegenschaft lastenden Teil des selbständigen und dauernden Baurechts ein neues Hauptbuchblatt eröffnet werden, unter Angabe der Bezeichnung des belasteten Grundstücks und gegebenenfalls der Dauer des Rechts (
Art. 22 Abs. 2 GBV
). Bei diesem Vorgang wird die ursprünglich vereinbarte Dauer des selbständigen und dauernden (Bau-)Rechts nicht verändert, und es muss selbst dann eingetragen werden, wenn die verbleibende Laufzeit weniger als 30 Jahre dauert.
6.5.2
Letzteres gilt auch, wenn die Fläche einer Baurechtsparzelle erweitert wird (insbesondere BRÜCKNER/KUSTER, Die Grundstücksgeschäfte, 2016, Rz. 516 und 1556 ff.). Diesfalls liegt im Sinne der oben dargelegten Lehre (E. 5.6) sogar keine Änderung, sondern eine Neuerrichtung einer Dienstbarkeit vor (weil die Dienstbarkeitsverpflichtung räumlich ausgedehnt und damit die Belastung vergrössert wird), und trotzdem wird nicht verlangt, dass die verbleibende Laufzeit mindestens 30 Jahre dauert.
6.6
Zusammenfassend ergibt sich was folgt: Wird ein bestehendes selbständiges und dauerndes Baurecht flächenmässig aufgeteilt, bleiben der Inhalt der Dienstbarkeit im Übrigen unverändert und die gleich- und nachrangigen Rechte Dritter gewahrt, muss das Erfordernis der Mindestdauer von 30 Jahren für das im Umfang der ausgeschiedenen Fläche neu zu eröffnende Hauptbuchblatt nicht erfüllt sein. Anders zu entscheiden liesse die gesetzliche Mindestdauer zum Selbstzweck verkommen. | de |
c14fba09-4f94-491d-8d90-52b7063ed3c5 | 172.216.1 1 Organisationsverordnung für das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (OV–WBF)1 vom 14. Juni 1999 (Stand am 1. Januar 2022) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf die Artikel 43 Absatz 2 und 55 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 19972 (RVOG) sowie in Ausführung von Artikel 28 der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November 19983 (RVOV), verordnet: 1. Kapitel: Das Departement Art. 14 Ziele und Tätigkeitsbereiche 1 Das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (Depar- tement) fördert die Rahmenbedingungen, die für die langfristige Entwicklung einer innovativen, wettbewerbsorientierten und Arbeitsplätze schaffenden Wirtschaft und für eine wettbewerbsfähige Forschung erforderlich sind, und setzt sich für eine Bildung von hoher Qualität ein. Bei der Verfolgung dieser Ziele trägt das Departe- ment den schweizerischen Gegebenheiten sowie dem europäischen und globalen Umfeld Rechnung und berücksichtigt die nachhaltige Entwicklung. 2 Das Departement verfolgt in seinen drei zentralen Politikbereichen insbesondere folgende Ziele: a. Allgemeine Wirtschaftspolitik: Es fördert eine wettbewerbsfähige Binnen- und Aussenwirtschaft, die sich durch eine ausgeglichene wirtschaftliche Ent- wicklung auszeichnet, einen stabilen und funktionierenden Arbeitsmarkt schafft und eine aktive Partnerrolle in einer marktwirtschaftlich orientierten Weltwirtschaft übernimmt. b. Bildung, Forschung und Innovation: Es fördert einen entwicklungs-, leis- tungs- und wettbewerbsfähigen, international vernetzten Bildungs-, For- schungs- und Innovationsraum und leistet dadurch einen Beitrag zur Stär- kung des Standortes Schweiz. AS 1999 2179 1 Fassung gemäss Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 2 SR 172.010 3 SR 172.010.1 4 Fassung gemäss Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 172.216.1 Bundesrat und Bundesverwaltung 2 172.216.1 c. Landwirtschaft: Es fördert einen wettbewerbsfähigen und der nachhaltigen Entwicklung verpflichteten Agrarsektor, der hochwertige tierische und pflanzliche Nahrungsmittel erzeugt und gemeinwirtschaftliche Leistungen erbringt. Art. 2 Grundsätze der Departementstätigkeiten Das Departement verfolgt seine Ziele und erfüllt seine Aufgaben nach den allgemei- nen Grundsätzen der Verwaltungstätigkeit nach Artikel 11 RVOV und beachtet im Weiteren folgende Leitgedanken: a. Es trifft Entscheide, welche im Einklang mit den Prinzipien der Marktwirt- schaft stehen und sozialpolitischen sowie umwelt- und gesundheitspoliti- schen Anliegen Rechnung tragen. b. Es arbeitet mit der Wirtschaft und den Sozialpartnern zusammen. c. Es beachtet den Grundsatz der Subsidiarität. d. Es achtet auf administrativ einfache Lösungen und straffe Verfahren. Art. 3 Ziele der Verwaltungseinheiten Die Ziele nach den Artikeln 5–11 sowie 14 und 15 dienen den Verwaltungseinheiten des Departements als Richtschnur bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten, wie sie in der Bundesgesetzgebung festgelegt sind. 2. Kapitel: Ämter und weitere Verwaltungseinheiten der zentralen Bundesverwaltung 1. Abschnitt: Das Generalsekretariat Art. 4 1 Das Generalsekretariat übt die Funktionen nach Artikel 42 RVOG aus und nimmt folgende Kernfunktionen wahr: a. Es unterstützt den Departementsvorsteher oder die Departementsvorsteherin als Mitglied des Bundesrates und Chef oder Chefin des Departements. b. Es ist betraut mit Strategie, Planung, Controlling und Koordination auf De- partementsstufe. c. Ihm obliegen die Informationsbeschaffung, die Informationsplanung und die Kommunikation. Organisationsverordnung für das WBF 3 172.216.1 d.5 Es steuert Personal, Finanzen, Logistik, Informatik und Übersetzungswesen auf Departementsstufe und betreibt ein SAP-Dienstleistungszentrum. e. Es besorgt die Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsberatung auf De- partementsstufe. f.6 Es nimmt innerhalb des Departements die Eignerinteressen wahr gegenüber dem ETH-Bereich (Art. 15a–c), der Schweizerischen Agentur für Innovati- onsförderung (Innosuisse, Art. 15d), dem Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (Art. 15e), der Schweizerischen Exportrisikoversicherung (Art. 15f), der SIFEM AG (Swiss Investment Fund for Emerging Markets, Art. 15i) sowie, im Einvernehmen mit dem Generalsekretariat des Eidgenös- sischen Departements des Innern, der Identitas AG (Art. 7a des Tierseu- chengesetzes vom 1. Juli 19667). Das Departement regelt die Zusammenar- beit der dafür im Generalsekretariat bestimmten Stelle mit den Fachämtern. 2 Dem Generalsekretariat unterstellt ist das Büro für Konsumentenfragen (Art. 12).8 2bis Dem Generalsekretariat unterstellt ist zudem der Informatik-Leistungserbringer ISCeco. Er integriert und betreibt die Fachanwendungen der Verwaltungseinheiten des Departements.9 3 Dem Generalsekretariat administrativ zugewiesen ist die Preisüberwachung (Art. 11). 2. Abschnitt: Die Ämter Art. 5 Staatssekretariat für Wirtschaft 1 Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) ist das Kompetenzzentrum des Bun- des für alle Kernfragen der Wirtschaftspolitik einschliesslich der Arbeitsmarktpoli- tik, der Aussenwirtschaftspolitik und, gemeinsam mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), der Entwicklungspolitik und Ostzusammenarbeit. 2 Das SECO verfolgt insbesondere folgende Ziele: a. Es strebt ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum auf der Grundlage einer in sich kohärenten Konjunktur- und Beschäftigungspolitik an. b. Es pflegt die Wettbewerbsordnung im Rahmen einer entsprechend zielorien- tierten Ordnungs- und Wettbewerbspolitik, Strukturpolitik und Arbeits- marktpolitik. 5 Fassung gemäss Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). 6 Eingefügt durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente) (AS 2012 3631). Fassung gemäss Anhang 3 Ziff. II 2 der V vom 3. Nov. 2021 über die Identitas AG und die Tierverkehrsdatenbank, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 751). 7 SR 916.40 8 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 7. Nov. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 4573). 9 Eingefügt durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). Bundesrat und Bundesverwaltung 4 172.216.1 c. Es steigert die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Schweiz. d. Es strebt die Verbesserung des Zugangs zu den ausländischen Märkten an und wirkt mit bei der Gestaltung einer an der Marktwirtschaft orientierten Weltwirtschaftsordnung. e. Es fördert die wirtschaftliche Integration der Schweiz in Europa. f. Es unterstützt die Eingliederung der Entwicklungsländer und der osteuropäi- schen Transformationsländer in die Weltwirtschaft. g. Es trägt zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz bei. h. Es gestaltet das öffentliche Arbeitnehmerschutzrecht sowie die Rahmen- bedingungen im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts mit. i. Es unterstützt die Eingliederung oder Wiedereingliederung von Stellen- suchenden in den Arbeitsprozess und gewährleistet ein angemessenes Er- satzeinkommen für Arbeitslose. j. Es unterstützt die Sozialpartnerschaft. k. …10 l.11 Es erleichtert die Verabschiedung und die Umsetzung von Massnahmen zur Reduktion der administrativen Belastung und der Regulierungskosten der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und zur Sicherstellung einer ko- härenten KMU-Politik des Bundes. 2bis Das SECO gibt periodische Publikationen über die allgemeine Wirtschaftspolitik und die Konjunkturtendenzen heraus.12 2ter Das SECO ist die Fachstelle für die Regulierungsfolgenabschätzung (RFA). Es stellt die methodischen Grundlagen der RFA zur Verfügung und berät und unter- stützt die anderen Verwaltungseinheiten bei der Durchführung von RFA.13 3 Im Bereich der Entwicklungs- und Ostzusammenarbeit sind die Aufgaben und Zuständigkeiten des SECO in besonderen Erlassen14 festgelegt. 4 Das SECO ist zuständig für die wirtschaftspolitische Gesetzgebung; vorbehalten bleiben die arbeitsmarktlichen Aufgaben des Eidgenössischen Justiz- und Polizei- 10 Eingefügt durch Ziff. III 3 der V vom 10. März 2006 (AS 2006 1089). Aufgehoben durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, mit Wirkung seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). 11 Eingefügt durch Art. 15 der V vom 8. Dez. 2006 über die Koordination der Politik des Bundes zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen (AS 2007 73). Fassung gemäss Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 12 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 17. Dez. 2014, in Kraft seit 1. Febr. 2015 (AS 2015 7). 13 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 6. Dez. 2019, in Kraft seit 1. Febr. 2020 (AS 2019 4733). 14 V vom 12. Dez. 1977 über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (SR 974.01). V vom 19. Dez. 2018 über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas (SR 974.11). V vom 14. Aug. 1991 über die Durchführung von Umweltprogrammen und -projekten von globaler Bedeutung in Entwicklungsländern (SR 172.018). Organisationsverordnung für das WBF 5 172.216.1 departements (EJPD) im Ausländer- und Flüchtlingswesen und die privatrechtliche Gesetzgebung. 5 Das SECO ist im Bereich der Arbeitslosenversicherung zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt.15 6 Dem SECO unterstellt ist die Schweizerische Akkreditierungsstelle (SAS). Sie akkreditiert private und öffentliche Prüf- und Konformitätsbewertungsstellen in der Schweiz nach international anerkannten Anforderungen.16 Art. 617 Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation 1 Das Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) ist das Kompe- tenzzentrum des Bundes für national und international ausgerichtete Fragen der Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik. Es sorgt für einen Bildungs-, For- schungs- und Innovationsraum Schweiz von hoher Qualität. 2 Das SBFI verfolgt insbesondere folgende Ziele: a. Es entwickelt eine strategische Gesamtschau für den Bildungs-, Forschungs- und Innovationsraum Schweiz und erarbeitet dafür die Leistungs- und Res- sourcenplanung des Bundes. b. Es setzt sich ein für die internationale Vernetzung und die Integration der Schweiz in den europäischen und weltweiten Bildungs-, Forschungs- und Innovationsraum. c. Es setzt sich ein für ein breites und vielfältiges Bildungsangebot und achtet auf die Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der allgemeinbildenden und der berufsbezogenen Bildungswege. d. Es sichert und stärkt die Qualität und Attraktivität der Berufsbildung ent- sprechend den sich wandelnden Bedürfnissen des Arbeitsmarktes. e. Es setzt sich ein für eine effiziente Lehre und Forschung von hoher Qualität an den Hochschulen. f. Es fördert die Forschung und die Innovation und koordiniert die Aufgaben und Massnahmen der zuständigen Förderorgane des Bundes. g. Es fördert und koordiniert die schweizerischen Aktivitäten zur Erforschung und Nutzung des Weltraums. 3 Es erfüllt seine Aufgaben unter Einbezug der Kantone, der Organisationen der Arbeitswelt sowie der Institutionen und Organe der Hochschulen und der For- schungs- und Innovationsförderung. 15 Eingefügt durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). 16 Eingefügt durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). 17 Fassung gemäss Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). Bundesrat und Bundesverwaltung 6 172.216.1 4 Es ist in seinem Zuständigkeitsbereich Ansprechpartner nationaler und interna- tionaler Behörden und Institutionen und vertritt den Bund in nationalen und die Schweiz in internationalen Gremien. 5 Es ist die nationale Kontaktstelle für die Anerkennung ausländischer Berufsqua- lifikationen und stellt die Koordination zwischen den zuständigen Stellen sicher. Es ist zuständig für die Anerkennung kantonaler Maturitäten und für die Vergleichbar- keit von Berufsqualifikationen sowie für die Anerkennung ausländischer Diplome und Ausweise im Bereich der Berufsbildung und der Fachhochschulen. Art. 7 Bundesamt für Landwirtschaft 1 Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) ist das Kompetenzzentrum des Bundes für den Agrarsektor und für das bäuerliche Boden- und Pachtrecht.18 2 Das BLW verfolgt insbesondere folgende Ziele: a. Es setzt sich im binnen- und aussenwirtschaftlichen Bereich für eine multi- funktionale Landwirtschaft ein, die einen wesentlichen Beitrag leistet zur si- cheren Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, zur Pflege der Kulturlandschaft und zur de- zentralen Besiedlung des Landes. b.19 Es schafft und sichert günstige Rahmenbedingungen für die Produktion und den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse im In- und Ausland, für ökolo- gische Leistungen der Landwirtschaft mittels einer umweltverträglichen Bewirtschaftung, für eine sozialverträgliche Entwicklung der Landwirtschaft sowie für ein bäuerliches Grundeigentum. 3 Dem BLW ist Agroscope unterstellt. Agroscope ist das Kompetenzzentrum des Bundes im Bereich der Forschung für die Land- und Ernährungswirtschaft. Sie unterstützt die Landwirtschaft im Bestreben, qualitativ hochwertige und wettbe- werbsfähige Produkte im Einklang mit dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung zu erzeugen. Ihre Organisation und ihre Aufgaben sind in den Artikeln 114 und 115 des Landwirtschaftsgesetzes vom 29. April 199820 und in der Verordnung vom 23. Mai 201221 über die landwirtschaftliche Forschung geregelt.22 4 …23 5 Das BLW führt das Sekretariat des nationalen Komitees der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO-Komitee). 18 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Nov. 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 5391). 19 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Nov. 2020, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 5391). 20 SR 910.1 21 SR 915.7 22 Fassung gemäss Art. 14 Abs. 2 der V vom 23. Mai 2012 über die landwirtschaftliche Forschung, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3431). 23 Aufgehoben durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, mit Wirkung seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). Organisationsverordnung für das WBF 7 172.216.1 6 Im Bereich des geistigen Eigentums nimmt das BLW die Aufgaben nach dem Sor- tenschutzgesetz vom 20. März 197524 wahr. Art. 825 Art. 9 Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung 1 Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) ist das Kompetenz- zentrum des Bundes für Massnahmen zur Überwindung von Störungen der Versor- gung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen. 2 Das BWL verfolgt in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft insbesondere folgende Ziele: a. Es mindert die Risiken von Störungen der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen durch eine angepasste Bereitschaft und eine je- derzeit einsatzbereite Organisation der Wirtschaft, des Bundes und der Kan- tone. b. Es sorgt bei Störungen der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen zusammen mit der Wirtschaft dafür, dass Importe, Vorräte, Konsum, Dienstleistungen und Logistik durch angemessene Bewirtschaf- tungsmassnahmen optimal aufeinander abgestimmt werden. c. Es strebt bei der Versorgungssicherung eine internationale Zusammenarbeit und Solidarität an. 3 Die Organisation der wirtschaftlichen Landesversorgung wird durch besondere Erlasse geregelt26. Art. 10 Bundesamt für Wohnungswesen 1 Das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) ist das Kompetenzzentrum des Bun- des im Bereich der Wohnungspolitik; es ist für Massnahmen der Wohnbau- und Eigentumsförderung zuständig und erfüllt mietrechtliche Aufgaben gestützt auf Artikel 109 der Bundesverfassung27.28 2 Das BWO verfolgt insbesondere folgende Ziele: a. Es fördert die Wohnraumbeschaffung für benachteiligte Gruppen, den ge- nossenschaftlichen Wohnungsbau, die Erhaltung der bestehenden Wohnbau- substanz und das Wohneigentum. b. Es verbessert die Wohnverhältnisse in Regionen und Siedlungsräumen mit besonderen Versorgungsproblemen. 24 SR 232.16 25 Aufgehoben durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), mit Wirkung seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 26 Landesversorgungsgesetz vom 17. Juni 2016 (SR 531). V vom 10. Mai 2017 über die wirtschaftliche Landesversorgung (SR 531.11). 27 SR 101 28 Fassung gemäss Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). Bundesrat und Bundesverwaltung 8 172.216.1 c. Es sorgt für die Verhinderung missbräuchlicher Forderungen aus dem Miet- verhältnis und für den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen von Ver- mietern und Mietern. d. Es fördert paritätische Vertragsbeziehungen zwischen Vermietern und Mie- tern, namentlich Rahmenmietverträge und deren Allgemeinverbindlicherklä- rung. 3 …29 Art. 10a30 Bundesamt für Zivildienst 1 Das Bundesamt für Zivildienst (ZIVI) ist das Kompetenzzentrum des Bundes für den Zivildienst. Es sorgt für eine rasche Behandlung der Gesuche um Zulassung zum Zivildienst, die effiziente Organisation der Einsätze der zivildienstpflichtigen Personen und die Sicherstellung des volkswirtschaftlichen Nutzens des Zivildiens- tes. 2 Das ZIVI nimmt insbesondere folgende Aufgaben wahr: a. Es entscheidet über die Zulassung von Personen zum Zivildienst. b. Es anerkennt Einsatzbetriebe. c. Es setzt die zivildienstpflichtigen Personen ein. 3 Die Organisation und die genauen Aufgaben des ZIVI werden durch das Zivil- dienstgesetz vom 6. Oktober 199531 und die dazugehörigen Verordnungen geregelt. 3. Abschnitt: Weitere Verwaltungseinheiten der zentralen Bundesverwaltung Art. 11 Die Preisüberwachung 1 Die Preisüberwachung ist das Kompetenzzentrum des Bundes zur Überwachung der Preise, die nicht das Ergebnis wirksamen Wettbewerbs sind. 2 Ziele der Preisüberwachungen sind die Verhinderung und Beseitigung von miss- bräuchlichen Preisen sowie die Schaffung von Transparenz. 3 Organisation und Aufgaben der Preisüberwachung werden durch besondere Erlas- se32 geregelt. 29 Aufgehoben durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), mit Wirkung seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 30 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 7. Nov. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 4573). 31 SR 824.0 32 Preisüberwachungsgesetz vom 20. Dez. 1985 (SR 942.20). Organisationsverordnung für das WBF 9 172.216.1 Art. 12 Das Büro für Konsumentenfragen 1 Das Büro für Konsumentenfragen ist das Kompetenzzentrum des Bundes für die Belange der Konsumentinnen und Konsumenten im Rahmen der allgemeinen Wirt- schaftspolitik. 2 Organisation und Aufgaben des Büros für Konsumentenfragen werden durch besondere Erlasse33 geregelt. Art. 1334 Art. 1435 3. Kapitel: Einheiten der dezentralen Bundesverwaltung Art. 15 Die Wettbewerbskommission 1 Die Wettbewerbskommission (WEKO) und ihr Sekretariat sind das Kompetenz- zentrum des Bundes in Wettbewerbsfragen und Fragen des Binnenmarktgesetzes36. 2 Die WEKO verfolgt insbesondere folgende Ziele: a. Sie fördert den Wettbewerb im Interesse einer freiheitlichen marktwirt- schaftlichen Ordnung. b. Sie fördert den diskriminierungsfreien Zugang zum Binnenmarkt Schweiz. 2bis …37 3 Organisation und Aufgaben der WEKO werden durch besondere Erlasse38 gere- gelt. Art. 15a39 ETH-Bereich 1 Der Bereich der Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH-Bereich) wirkt bei der Vorbereitung und Umsetzung der Hochschul-, Forschungs- und Techno- logiepolitik des Bundes mit. 33 Konsumenteninformationsgesetz vom 5. Okt. 1990 (SR 944.0). 34 Aufgehoben durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), mit Wirkung seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 35 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 7. Nov. 2018, mit Wirkung seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 4573). 36 Binnenmarktgesetz vom 6. Okt. 1995 (SR 943.02). Kartellgesetz vom 6. Okt. 1995 (SR 251). 37 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 10. März 2006 (AS 2006 1067). Aufgehoben durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, mit Wirkung seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). 38 Binnenmarktgesetz vom 6. Okt. 1995 (SR 943.02). Kartellgesetz vom 6. Okt. 1995 (SR 251). Luftfahrtgesetz vom 21. Dez. 1948 (SR 748.0). 39 Eingefügt durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). Bundesrat und Bundesverwaltung 10 172.216.1 2 Aufgaben und Organisation des ETH-Bereichs sind im ETH-Gesetz vom 4. Okto- ber 199140 und in der Verordnung ETH-Bereich vom 19. November 200341 geregelt. Art. 15b42 Eidgenössische Technische Hochschule Zürich und Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne Aufgaben und Organisation der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (ETHL) sind im ETH-Gesetz vom 4. Oktober 199143 und in gestützt darauf erlassenen Verord- nungen des Bundesrates und des ETH-Rates geregelt. Art. 15c44 Forschungsanstalten des ETH-Bereichs Aufgaben und Organisation der folgenden vier Forschungsanstalten des ETH- Bereichs sind im ETH-Gesetz vom 4. Oktober 199145 und in gestützt darauf erlasse- nen Verordnungen des Bundesrates und des ETH-Rates geregelt: a. Paul-Scherrer-Institut (PSI); b. Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL); c. Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA); d. Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Ge- wässerschutz (EAWAG). Art. 15d46 Schweizerische Agentur für Innovationsförderung 1 Die Innosuisse ist das Förderorgan des Bundes für die wissenschaftsbasierte Inno- vation in allen Disziplinen, die an Hochschulforschungsstätten nach Artikel 4 Buch- stabe c des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 201247 über die Förderung der For- schung und der Innovation (FIFG) vertreten sind. 2 Organisation und Aufgaben der Innosuisse sind im Innosuisse-Gesetz vom 17. Juni 201648 geregelt. 40 SR 414.110 41 SR 414.110.3 42 Eingefügt durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 43 SR 414.110 44 Eingefügt durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 45 SR 414.110 46 Ursprünglich 15a. Eingefügt durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010 (AS 2010 3175). Fassung gemäss Anhang Ziff. 2 der V vom 15. Nov. 2017, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 6607). 47 SR 420.1 48 SR 420.2 Organisationsverordnung für das WBF 11 172.216.1 Art. 15e49 Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung50 1 Die EHB ist das Kompetenzzentrum des Bundes für Lehre und Forschung in der Berufspädagogik, der Berufsbildung und der Berufsentwicklung. 2 Organisation und Aufgaben der Hochschule werden durch die EHB-Verordnung vom 14. September 200551 geregelt. Art. 15f52 Die Schweizerische Exportrisikoversicherung Organisation und Aufgaben der Schweizerischen Exportrisikoversicherung (SERV) sind im Exportrisikoversicherungsgesetz vom 16. Dezember 200553 geregelt. Art. 15g54 Schweiz Tourismus Organisation und Aufgaben von Schweiz Tourismus (ST) sind im Bundesgesetz vom 21. Dezember 195555 über Schweiz Tourismus geregelt. Art. 15h56 Schweizerische Gesellschaft für Hotelkredit Organisation und Aufgaben der Schweizerischen Gesellschaft für Hotelkredit (SGH) sind im Bundesgesetz vom 20. Juni 200357 über die Förderung der Beherbergungs- wirtschaft geregelt. Art. 15i58 SIFEM AG 1 Die SIFEM AG ist eine Aktiengesellschaft des Bundes unter privatem Recht. Als Entwicklungsfinanzierungsgesellschaft investiert sie in lokale oder regionale Fonds zugunsten von KMU in Entwicklungs- und Schwellenländern. 2 Aufgaben und Organisation der SIFEM AG sind in der Verordnung vom 12. Dezember 197759 über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe geregelt. 49 Ursprünglich 15a, dann 15b. Eingefügt durch Anhang Ziff. 1 der EHB-Verordnung vom 14. Sept. 2005, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2005 4607). 50 Die Bezeichnung der Verwaltungseinheit wurde in Anwendung von Art. 20 Abs. 2 der Publikationsverordnung vom 7. Okt. 2015 (SR 170.512.1) auf den 1. August 2021 ange- passt. Diese Anpassung wurde im ganzen Text vorgenommen. 51 [AS 2005 4607; 2009 5933; 2016 575; AS 2021 405 Art. 5 Abs. 1]. Siehe heute die EHB- Verordnung vom 18. Juni 2021 (SR 412.106.1). 52 Ursprünglich 15b, dann 15c. Eingefügt durch Art. 30 Ziff. 1 der V vom 25. Okt. 2006 über die Schweizerische Exportrisikoversicherung, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 4403). 53 SR 946.10 54 Urspünglich 15d. Eingefügt durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). 55 SR 935.21 56 Urspünglich 15e. Eingefügt durch Anhang 3 Ziff. 5 der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Aug. 2010 (AS 2010 3175). 57 SR 935.12 58 Eingefügt durch Ziff. I 5 der V vom 15. Juni 2012 (Neugliederung der Departemente), in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 3631). 59 SR 974.01 Bundesrat und Bundesverwaltung 12 172.216.1 4. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 16 Geschäftsordnung Das Departement erlässt eine Geschäftsordnung im Sinne von Artikel 29 RVOV. Art. 17 Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts 1 Es werden aufgehoben: a. der Bundesratsbeschluss vom 15. Januar 194660 über die Organisation des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit; b. die Verordnung vom 1. Juli 199261 über das Institut für Viruskrankheiten und Immunprophylaxe. 2–4 …62 Art. 18 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Juli 1999 in Kraft. 60 [BS 1 423; AS 1948 123] 61 [AS 1992 1506] 62 Die Änderungen können unter AS 1999 2179 konsultiert werden. 1. Kapitel: Das Departement Art. 1 Ziele und Tätigkeitsbereiche Art. 2 Grundsätze der Departementstätigkeiten Art. 3 Ziele der Verwaltungseinheiten 2. Kapitel: Ämter und weitere Verwaltungseinheiten der zentralen Bundesverwaltung 1. Abschnitt: Das Generalsekretariat Art. 4 2. Abschnitt: Die Ämter Art. 5 Staatssekretariat für Wirtschaft Art. 6 Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation Art. 7 Bundesamt für Landwirtschaft Art. 8 Art. 9 Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung Art. 10 Bundesamt für Wohnungswesen Art. 10a Bundesamt für Zivildienst 3. Abschnitt: Weitere Verwaltungseinheiten der zentralen Bundesverwaltung Art. 11 Die Preisüberwachung Art. 12 Das Büro für Konsumentenfragen Art. 13 Art. 14 3. Kapitel: Einheiten der dezentralen Bundesverwaltung Art. 15 Die Wettbewerbskommission Art. 15a ETH-Bereich Art. 15b Eidgenössische Technische Hochschule Zürich und Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne Art. 15c Forschungsanstalten des ETH-Bereichs Art. 15d Schweizerische Agentur für Innovationsförderung Art. 15e Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung Art. 15f Die Schweizerische Exportrisikoversicherung Art. 15g Schweiz Tourismus Art. 15h Schweizerische Gesellschaft für Hotelkredit Art. 15i SIFEM AG 4. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 16 Geschäftsordnung Art. 17 Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts Art. 18 Inkrafttreten | de |
f9097da2-a426-416b-8ff2-d89c5f80629d | Sachverhalt
ab Seite 43
BGE 145 IV 42 S. 43
A.
Am 15. Juni 2015 meldete der Geschäftsführer der A. GmbH der Polizei den Verdacht, dass seit Januar 2015 Bargeld aus der Kasse des Geschäftsbetriebs entwendet werde, und stellte am 23. Juni 2015, zusammen mit seiner Geschäftspartnerin, Strafantrag gegen unbekannt. In der Folge installierte die Polizei Kanton Solothurn mit Einwilligung der beiden Geschäftsführer, aber ohne Wissen der Angestellten, eine Videoüberwachung in den Räumlichkeiten der A. GmbH. Die Kameras mit bis zu vier Aufnahmepositionen richteten sich dabei entweder hauptsächlich oder ausschliesslich auf ein Büro mit Küche, welches durch eine Durchgangstür vom Haupt- und Geschäftsraum abgetrennt ist. Während der Hauptraum für Kunden frei zugänglich ist, wird der Büro-/Küchenbereich, in welchem sich auch der Tresor befindet, ausschliesslich vom Personal der A. GmbH benutzt. Die Auswertung und die Triage des Videomaterials sowie die Erstellung des Amtsberichts zu der erfolgten Überwachung wurden durch die Polizei besorgt. Die Videoaufnahmen erfassen den Zeitraum vom 1. Juli 2015 bis 6. August 2015. Zu den Akten gegeben wurden aber lediglich einzelne Aufnahmesequenzen vom 1., 15. und 18. Juli 2015 sowie vom 5. August 2015.
B.
Die Staatsanwaltschaft Solothurn erhob am 24. August 2016 Anklage gegen X. wegen einfachen Diebstahls, begangen an insgesamt sieben Tagen in der Zeit vom 10. Juni 2015 bis zum 18. Juli 2015, zum Nachteil der A. GmbH. Der Amtsgerichtspräsident von Bucheggberg-Wasseramt sprach X. am 18. November 2016 vom Vorwurf des Diebstahls frei. Dagegen erhob die A. GmbH Berufung.
C.
Das Obergericht des Kantons Solothurn erklärte X. am 4. Januar 2018 des mehrfachen geringfügigen Diebstahls, begangen am 10. und am 13. Juni 2015 für schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 500.- bzw. einer Ersatzfreiheitsstrafe von 5 Tagen. Hinsichtlich der übrigen vorgehaltenen Diebstähle stellte es das Verfahren mangels Strafantrag ein. Ferner verpflichtete es X. zu einer Schadenersatzzahlung an die A. GmbH. Die weiteren Zivilforderungen verwies es auf den Zivilweg.
BGE 145 IV 42 S. 44
D. | de |
7643ddda-7cd5-46db-9155-d6f0a71571f3 | Sachverhalt
ab Seite 128
BGE 144 I 126 S. 128
A.
A., B., C., D., E. und F. (nachfolgend: Gesuchsteller) wandten sich je mit Schreiben vom 20. Februar 2014 an den Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr (nachfolgend: Dienst ÜPF) und stellten folgende identische Begehren:
"1. [Die jeweilige Anbieterin von Fernmeldediensten] sei anzuweisen, die gemäss
Art. 15 Abs. 3 BÜPF
[Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF; SR 780.1)] gespeicherten Verkehrs- und Rechnungsdaten des Gesuchstellers zu löschen und deren Speicherung in Zukunft zu unterlassen, soweit die betroffenen Daten nicht für die Erbringung der vertraglichen Leistungen gegenüber dem Gesuchsteller zwingend erforderlich sind.
2. [Die jeweilige Anbieterin von Fernmeldediensten] sei anzuweisen bzw. zu verpflichten, keine gemäss
Art. 15 Abs. 3 BÜPF
gespeicherten Verkehrs- und Rechnungsdaten des Gesuchstellers an den Dienst ÜPF oder an andere Behörden oder an Gerichte herauszugeben. (...)"
B.
Der Dienst ÜPF wies die jeweiligen Gesuche mit Verfügung vom 30. Juni 2014 ab, soweit er darauf eintrat. Die dagegen von den Gesuchstellern erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil A-4941/2014 vom 9. November 2016 ab, nachdem es die Verfahren vereinigt hatte.
C.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde der sechs Privatpersonen gegen diesen Entscheid ab.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
(...)
2.2
Streitgegenstand vor Bundesgericht bildet nach dem Gesagten einzig die Frage, ob die Speicherung und Aufbewahrung von mit dem Fernmeldeverkehr der Beschwerdeführer verbundenen Randdaten verfassungs- bzw. konventionskonform sind. Betroffen ist somit nur die verwaltungsrechtliche Seite des zweigeteilten Rechts der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (vgl. dazu ausführlich E. 7.2 und E. 8.2 ff. des angefochtenen Entscheids). Vom Prozessthema nicht erfasst wird der Aspekt des Zugriffs auf diese Daten durch die Strafverfolgungsbehörden zu Überwachungszwecken, der in der Strafprozessordnung geregelt ist (
Art. 269 ff. StPO
). Auf diesbezügliche Anträge, Rügen und Ausführungen der Beschwerdeführer
BGE 144 I 126 S. 129
in ihrer ohnehin weitschweifigen Eingabe kann von vornherein nicht eingetreten werden. Am Streitgegenstand vorbei zielen namentlich die Vorbringen, die Voraussetzungen für die Anordnung einer (rückwirkenden) Überwachung und die Überwachungstypen selbst seien nicht bzw. nicht genügend präzise im Gesetz formuliert und deren nachträgliche Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht biete keinen hinreichenden Schutz, die Verwendung von Vorratsdaten zu Überwachungszwecken beschränke sich - insbesondere im Bereich von Internetdelikten - grundsätzlich nicht auf Fälle schwerer Kriminalität, gehe über das Notwendige hinaus und könne auch Drittpersonen betreffen, es bestehe keine hinreichende gesetzliche Grundlage für Kopfschaltungen und Antennensuchläufe (Rasterfahndung), zumal Letztere lediglich auf einer Verordnungsbestimmung basierten, es widerspreche dem Grundsatz, dass Zwangsmassnahmen einen hinreichenden Tatverdacht voraussetzten, wenn erst die Auswertung der gespeicherten Antennendaten einen solchen begründeten, der im Strafverfahren gewährleistete journalistische Quellenschutz sei unzureichend, durch die geheime Überwachung von Informanten eines Journalisten, über die Letzterer nicht orientiert werde, werde dessen Anspruch auf wirksame Beschwerde verletzt, die in der StPO vorgesehenen Verwertungsvebote böten keinen hinreichenden Schutz und der Nachrichtendienst könne auch ohne Vorliegen eines konkreten Tatverdachts auf Überwachungsdaten zugreifen.
3.
Die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation ist in Art. 15 Abs. 3 aBÜPF (AS 2001 3096) geregelt. Danach sind die Anbieterinnen verpflichtet, die für die Teilnehmeridentifikation notwendigen Daten sowie die Verkehrs- und Rechnungsdaten während sechs Monaten aufzubewahren. Die Beschwerdeführer stellen die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Bundesverfassung und der EMRK in Frage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bundesgesetze neben Völkerrecht für das Bundesgericht massgebend sind (
Art. 190 BV
). Bundesgesetzen kann damit weder im Rahmen der abstrakten noch der konkreten Normenkontrolle die Anwendung versagt werden. Zwar handelt es sich dabei um ein Anwendungsgebot und kein Prüfungsverbot, und es kann sich rechtfertigen, vorfrageweise die Verfassungswidrigkeit eines Bundesgesetzes zu prüfen. Wird eine solche festgestellt, muss das Gesetz dennoch angewendet werden, und das Bundesgericht kann lediglich den Gesetzgeber einladen, die fragliche Bestimmung zu
BGE 144 I 126 S. 130
ändern (
BGE 141 II 338
E. 3.1 S. 340;
BGE 140 I 305
E. 5 S. 310,
BGE 140 I 353
E. 4.1 S. 358 f.;
BGE 139 I 180
E. 2.2 S. 185). Besteht allerdings ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor und eine dem Völkerrecht entgegenstehende Bundesgesetzgebung bleibt regelmässig unanwendbar (
BGE 142 II 35
E. 3.2 S. 39;
BGE 139 I 16
E. 5.1 S. 28 f.; je mit Hinweisen). Dies gilt uneingeschränkt für Abkommen, die Menschen- oder Grundrechte zum Gegenstand haben, auf welche die sog. "Schubert"-Praxis (
BGE 99 Ib 39
E. 3 und 4 S. 44 f.; vgl. ferner dazu
BGE 142 II 35
E. 3.2 S. 39;
BGE 136 III 168
E. 3.3.4 S. 172 f.) keine Anwendung findet.
4.
Die Beschwerdeführer rügen, eine systematische und anlasslose Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs verletze das Recht auf Achtung des Intim-, Privat- und Familienlebens, den Schutz der Privatsphäre, einschliesslich die Achtung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs, den Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten, die Meinungs- und Medienfreiheit, das Recht auf persönliche Freiheit, die Bewegungsfreiheit und die Unschuldsvermutung.
4.1
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
verankert namentlich den Anspruch jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens sowie ihrer Korrespondenz. Im Wesentlichen derselbe Schutz ergibt sich aus
Art. 17 UNO-Pakt II
(SR 0.103.2) und
Art. 13 Abs. 1 BV
(
BGE 140 I 353
E. 8.3 S. 369;
BGE 140 IV 181
E. 2.3 S. 183). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wird der Begriff des Privatlebens weit verstanden und ist keiner abschliessenden Definition zugänglich.
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
umfasst insbesondere die Möglichkeit, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu entwickeln, und gewährleistet insoweit die Interaktion einer Person mit anderen (EGMR-Urteile
Satakunnan Markkinapärssi Oy und Satamedia Oy gegen Finnland
vom 27. Juni 2017 [Nr. 931/13] § 131;
Magyar Helsinki Bizottság gegen Ungarn
vom 8. November 2016 [Nr. 18030/11] § 191;
Amann gegen Schweiz
vom 16. Februar 2000 [Nr. 27798/95] § 65). Das Fernmeldegeheimnis, das die Privatsphäre schützt, trägt zur Verwirklichung dieser Garantien bei. Die Kommunikation mit fremden Mitteln wie Post und Telefon soll gegenüber Drittpersonen geheim erfolgen können. Immer wenn die Kommunikation durch eine Fernmeldedienstanbieterin erfolgt, soll sie unter Achtung der Geheimnissphäre vertraulich
BGE 144 I 126 S. 131
geführt werden können, ohne dass der Staat Einblick erhält und daraus gewonnene Erkenntnisse gegen die Betroffenen verwendet. Geschützt ist dabei nicht nur der Inhalt der Kommunikation; vielmehr werden auch die Randdaten des Kommunikationsvorgangs erfasst (
BGE 140 I 353
E. 8.3 S. 369;
BGE 140 IV 181
E. 2.3 f. S. 183 f.).
Der Schutz der Privatsphäre umfasst den Anspruch jeder Person auf Schutz vor Missbräuchen ihrer persönlichen Daten (so ausdrücklich
Art. 13 Abs. 2 BV
). Im Bereich des Datenschutzes garantiert das verfassungsmässige Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dass grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, wie sensibel die fraglichen Informationen tatsächlich sind, jede Person gegenüber fremder, staatlicher oder privater Bearbeitung von sie betreffenden Informationen bestimmen können muss, ob und zu welchem Zweck diese Informationen über sie bearbeitet werden (
BGE 142 II 340
E. 4.2 S. 346;
BGE 140 I 2
E. 9.1 S. 22 f.;
BGE 138 II 346
E. 8.2 S. 359 f.). Der Begriff des Bearbeitens umfasst aus datenschutzrechtlicher Sicht auch das Beschaffen und Aufbewahren von Personendaten (Art. 3 lit. e des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz [DSG; SR 235.1]).
Art. 10 EMRK
und
Art. 17 BV
schützen die Medienfreiheit (
BGE 141 I 211
E. 3.1 S. 213 f.). Die Verfassungsbestimmung gewährleistet ausdrücklich die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie andere Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen (Abs. 1). Die Zensur ist verboten (Abs. 2) und das Redaktionsgeheimnis garantiert (Abs. 3). Die Medienfreiheit gehört zu den zentralen Ausprägungen des allgemeinen Grundrechts freier Meinungsäusserung. Normativer Kern der Medienfreiheit ist die Sicherung des ungehinderten Nachrichtenflusses und des freien Meinungsaustauschs. Geschützt ist die Recherchetätigkeit der Journalisten zur Herstellung von Medienerzeugnissen und zu deren Verbreitung in der Öffentlichkeit (
BGE 143 I 194
E. 3.1 S. 200). Als subsidiäres Auffanggrundrecht dazu gewährleistet die Meinungsfreiheit das Recht jeder Person, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten (
Art. 16 BV
;
BGE 137 I 209
E. 4.2 S. 211 f.). Der Schutzbereich umfasst die Gesamtheit der Mitteilungen menschlichen Denkens und alle möglichen Kommunikationsformen (
BGE 127 I 145
E. 4b S. 151 f.). Die Meinungsfreiheit kann nicht nur durch direkte Eingriffe beeinträchtigt werden, sondern auch mittelbar, wenn der Einzelne aufgrund einer behördlichen
BGE 144 I 126 S. 132
Massnahme davon absieht, erneut von seinem Recht Gebrauch zu machen (sog. "chilling effect" oder "effet dissuasif"; BGE
BGE 143 I 147
E. 3.3 S. 152 f.).
Die Unschuldsvermutung gemäss
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
und
Art. 32 Abs. 1 BV
gewährleistet, dass jede Person bis zur rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung als unschuldig gilt. Sie verbrieft das Recht, als unschuldig behandelt zu werden, bis ein zuständiges Gericht nach Durchführung eines fairen Verfahrens die strafrechtliche Schuld in rechtsgenüglicher Weise nachgewiesen und festgestellt hat (Urteil 2C_1065/2014 vom 26. Mai 2016 E. 8.1, nicht publ. in:
BGE 142 II 268
). Im Allgemeinen gilt dabei das sog. Selbstbelastungsprivileg ("nemo tenetur se ipsum accusare"), das im Strafprozess ein Schweigerecht und ein Recht gewährleistet, nicht zu seiner eigenen Verurteilung beitragen zu müssen (
BGE 142 IV 207
E. 8 S. 213 f.).
4.2
Die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation erfolgt unabhängig von einer allfälligen Strafuntersuchung und kann auch andere Zwecke verfolgen (z.B. die Suche und Rettung vermisster Personen; vgl. dazu E. 6.3 hernach). Daraus alleine lässt sich daher weder ein Verdacht noch eine Schuld im strafprozessualen Sinne ableiten (vgl.
BGE 138 I 256
E. 4 S. 258). Inwiefern durch die Vorratsdatenspeicherung die Wahrscheinlichkeit steigen soll, als unschuldige Person eines Delikts verdächtigt zu werden, ist weder belegt noch leuchtet dies ein. Auch der EGMR anerkennt, dass die Aufbewahrung personenbezogener Daten nicht einem strafrechtlichen Vorwurf gleichgestellt werden kann (EGMR-Urteile
S. und Marper gegen Grossbritannien
vom 4. Dezember 2008 [Nr. 30562/04 und 30566/04] § 122;
M.K. gegen Frankreich
vom 18. April 2013 [Nr. 19522/09] § 36). Insofern vermag der Einwand, wonach der Staat alle Bürger als potenzielle Straftäter betrachte, nicht zu überzeugen. Ausserdem ist nicht ersichtlich, inwiefern mit der Erhebung von Randdaten ein gegen den "nemo tenetur"-Grundsatz verstossender Zwang ausgeübt werden soll: Soweit die Beschwerdeführer dieses Prinzip als verletzt erachten, weil die Datenspeicherung heimlich vorgenommen werde, ist ihnen entgegenzuhalten, dass die Beschaffung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation klar aus Art. 15 Abs. 3 aBÜPF hervorgeht und somit nicht geheim erfolgt (vgl. JÜRGEN KÜHLING, Der Fall der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie und der Aufstieg des EuGH
BGE 144 I 126 S. 133
zum Grundrechtsgericht, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 11/2014 S. 682). Demnach wird weder der "nemo tenetur"-Grundsatz noch die Unschuldsvermutung beeinträchtigt.
Da die streitbetroffenen Randdaten den Beschwerdeführern als Benutzer von Fernmeldediensten und Teilnehmer an Telekommunikationen grundsätzlich zugeordnet werden können, stellt deren Speicherung und Aufbewahrung indes einen Eingriff in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Gleichermassen liegt nach der Rechtsprechung des EGMR durch die blosse Aufbewahrung von das Privatleben betreffenden Informationen, insbesondere wenn sie systematisch erfolgt (vgl. EGMR-Urteile
Uzun gegen Deutschland
vom 2. September 2010 [Nr. 35623/05] § 46;
Rotaru gegen Rumänien
vom 4. Mai 2000 [Nr. 28341/95] § 43 und 46), ein Eingriff in die von
Art. 8 EMRK
geschützten Rechte vor (EGMR-Urteile
S.
und Marper gegen Grossbritannien
, § 67;
Leander gegen Schweden
vom 26. März 1987 [Nr. 9248/81] § 48;
Gardel gegen Frankreich
vom 17. Dezember 2009 [Nr. 16428/05] § 58;
Brunet gegen Frankreich
vom 18. September 2014 [Nr. 21010/10] § 31),unabhängig davon, ob die Daten zu einem späteren Zeitpunkt verwendet werden oder nicht (EGMR-Urteile
Amann gegen Schweiz
, § 69;
Aycaguer gegen Frankreich
vom 22. Juni 2017 [Nr. 8806/12] § 33).Überdies ist die mit der Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation verbundene Informationsbeschaffung geeignet, in die insbesondere durch
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
und
Art. 13 Abs. 1 BV
geschützte Privatsphäre derjenigen Personen einzugreifen, die auf solchen Wegen kommunizieren. Dem verfassungsmässigen Anspruch der persönlichen Freiheit (
Art. 10 Abs. 2 BV
) kommt hier keine darüber hinausgehende Bedeutung zu. Inwiefern die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit tangiert sein sollen, legen die Beschwerdeführer nicht in rechtsgenüglicher Weise dar.
Die Beschwerdeführer berufen sich im Weiteren auf die Meinungs- und Medienfreiheit. Ein direkter bzw. mittelbarer Eingriff erscheint insoweit nachvollziehbar, als durch die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs eine Datenspur erfasst wird, die allenfalls Rückschlüsse auf das Kommunikationsverhalten der Betroffenen, auf die Recherchetätigkeit von Medienschaffenden sowie auf journalistische Quellen zulässt. Insoweit ist nicht auszuschliessen, dass Letztere davor zurückschrecken könnten, mit Journalisten in Kontakt zu treten. Ob diese Garantien tatsächlich
BGE 144 I 126 S. 134
tangiert sind, kann hier letztlich jedoch dahingestellt bleiben, da ohnehin die Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten zu prüfen sind.
5.
5.1
Gemäss
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
darf in das Recht auf Achtung des Privatlebens nur eingegriffen werden, soweit dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Nach der entsprechenden Bestimmung von
Art. 36 BV
bedürfen Einschränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein (Abs. 1). Einschränkungen von Grundrechten müssen zudem durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt (Abs. 2) und verhältnismässig sein (Abs. 3).
Ein schwerer Eingriff in ein Grundrecht bedarf einer klaren und ausdrücklichen Regelung in einem formellen Gesetz. Bei einem leichten Eingriff genügt ein Gesetz im materiellen Sinn. Ob ein Eingriff in ein Grundrecht schwer ist, beurteilt sich nach objektiven Kriterien. Nicht entscheidend ist das subjektive Empfinden des Betroffenen (
BGE 143 I 194
E. 3.2 S. 201;
BGE 141 I 211
E. 3.2 S. 214 f.).
5.2
Der EGMR geht bei der Möglichkeit einer detaillierten Profilbildung über intime Aspekte des Lebens davon aus, es liege ein besonders einschneidender Eingriff in das Privatleben ("particularly invasive interference [...] with private life") vor (EGMR-Urteil
Szabó und Vissy gegen Ungarn
vom 12. Januar 2016 [Nr. 37138/14]§ 70). Im gleichen Sinne schloss die Vorinstanz im vorliegenden Fall auf einen schweren Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Fernmeldeverkehrs und ihres Anspruchs auf informationelle Selbstbestimmung. Sie begründete dies im Wesentlichen damit, bei den gespeicherten und aufbewahrten Randdaten der Telekommunikation handle es sich um einen sehr grossen Datensatz, der über das hinausgehe, was die Fernmeldedienstanbieterinnen für die Vertragserfüllung benötigten, und der ohne konkreten Anlass erstellt werde, insbesondere ohne dass ein Verdacht auf eine Straftat vorliege. Die erfassten Informationen könnten zu Persönlichkeitsprofilen über die Kommunikation der Beschwerdeführer verdichtet
BGE 144 I 126 S. 135
werden und liessen in ihrer Gesamtheit ohne Weiteres Rückschlüsse auf ihre persönlichen Lebensverhältnisse und ihr Umfeld zu, auch wenn es dabei "lediglich" um die äusseren Umstände der Kommunikation und nicht um deren Inhalt gehe. Überdies werde durch die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten die Herrschaft der Beschwerdeführer über ihre personenbezogenen Daten beeinträchtigt. Deren mögliche Verwendung in einem späteren Strafverfahren wirke zusätzlich eingriffsbegründend bzw. -erschwerend, zumal ein "diffuses Gefühl des Überwacht- bzw. Beobachtet-Werdens" entstehen könne (sog. "chilling effect"; vgl. E. 9.4 des angefochtenen Entscheids).
Die Beschwerdeführer schliessen sich diesen Ausführungen im Wesentlichen an.
5.3
Diese Auffassung bedarf jedoch in mehrfacher Hinsicht einer differenzierten Beurteilung. Zunächst fällt relativierend ins Gewicht, dass es sich bei den gespeicherten und aufbewahrten Informationen lediglich um Randdaten und nicht um den Inhalt der Telekommunikation handelt. Dies wertet das Bundesgericht als deutlich weniger einschneidend als Fälle der inhaltlichen Kommunikationserfassung (
BGE 142 IV 34
E. 4.3.2 S. 38 f.;
BGE 139 IV 98
E. 4.2 S. 99). Auch der EGMR stuft die Eingriffsintensität je nach Art und Sensibilität der Daten unterschiedlich ein. So hielt er beispielsweise in
Uzun gegen Deutschland
dafür, dass die aus einer GPS-Überwachung gewonnenen Standortdaten - mithin Randdaten - von Informationen, die aus visuellen oder akustischen Überwachungen stammten, zu differenzieren seien, zumal Letztere empfindlichere Rückschlüsse auf das Verhalten, die Anschauungen und die Gefühle einer Person zuliessen und somit eher in das Recht auf Achtung des Privatlebens eingriffen (§ 52; ähnlich Urteil
S. und Marper gegen Grossbritannien
, § 86 und 120, wonach die Aufbewahrung von Fingerabdrücken aufgrund ihres geringeren Gehalts an sensiblen und persönlichen Informationen weniger schwere Auswirkungen auf das Privatleben habe als die Speicherung von Zellproben und DNA-Profilen).
5.4
Zwar trifft es zu, dass auch aus Randdaten in ihrer Gesamtheit gewisse Schlüsse auf das Privatleben der Benutzer von Fernmeldediensten gezogen werden können. So lassen sich daraus etwa Alltagsgewohnheiten, Aufenthaltsorte oder Ortswechsel sowie Informationen über berufliche und persönliche Kontakte, das Beziehungsnetz und das soziale Umfeld ableiten. Die Zusammenführung von
BGE 144 I 126 S. 136
Randdaten bzw. deren Kombination mit anderweitig erhobenen Daten ermöglicht somit, Profile zu erstellen, insbesondere Persönlichkeits- bzw. Bewegungsprofile oder solche über das Kommunikationsverhalten an sich. Aufgrund dessen liegt auch eine abschreckende Wirkung im Bereich der Nutzung von Fernmeldediensten nahe (vgl. Urteile
Klass und andere gegen Deutschland
vom 6. September 1978 [Nr. 5029/71] § 41;
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 53).
Die Möglichkeit der Verknüpfung von Randdaten, allenfalls in Kombination mit anderen Daten, besteht allerdings erst auf der Stufe der (rückwirkenden) Überwachung des Fernmeldeverkehrs, die einen zusätzlichen Eingriff bewirkt und vorliegend ausserhalb des Streitgegenstands liegt (vgl. E. 2.2 hiervor). Erst der Zugang zu den Randdaten und deren Auswertung im Einzelfall ermöglicht es den Strafverfolgungsbehörden, Erkenntnisse aus den gesammelten Informationen zu gewinnen und durch deren Verbindung allenfalls gewisse (Bewegungs-)Muster zu bilden. Demgegenüber werden die Randdaten auf der der Überwachung vorgelagerten Stufe der Speicherung und Aufbewahrung noch nicht zusammengeführt, weshalb auch keine sensiblen Profile gebildet werden können, die eine Beurteilung von wesentlichen Aspekten des Privatlebens erlauben würden. Ebenso wenig stehen die Randdaten den zuständigen staatlichen Stellen unmittelbar in ihrer Gesamtheit zur Verfügung. Vielmehr werden sie durch die einzelnen privaten Fernmeldedienstanbieterinnen erfasst und verbleiben während der Aufbewahrungsdauer in deren Sphäre, ohne dass eine Sichtung oder Verknüpfung mit anderen Daten stattfinden würde. Insofern ist zwischen zwei verschiedenen grund- und menschenrechtsrelevanten Massnahmen zu differenzieren, die eine unterschiedliche Eingriffsschwere aufweisen: Während die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation aufgrund der Masse der erfassten Daten und der grossen Anzahl der betroffenen Personen zwar wesentlich ist, nimmt der Eingriff mit dem Zugriff und der Nutzung dieser Daten durch die zuständigen Behörden erheblich an Intensität zu, wobei aber auch diesbezüglich anzumerken ist, dass die Anordnung einer rückwirkenden Überwachung im Einzelfall Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten zu genügen hat, was allfälligen Profilbildungen enge Grenzen setzt.
5.5
Dass die Eingriffsintensität im Bereich von
Art. 8 EMRK
variieren kann, je nachdem ob die Erfassung von Randdaten der Telekommunikation oder deren Übermittlung an und Verwendung durch
BGE 144 I 126 S. 137
die zuständigen staatlichen Stellen betroffen ist, findet auch in der Rechtsprechung des EGMR ihre Stütze. Im Fall
Malone gegen Grossbritannien
war neben der Zulässigkeit einer inhaltlichen Telefonüberwachung zu beurteilen, ob die Weitergabe an die Polizei von Verbindungsranddaten, namentlich die gewählten Telefonnummern sowie der Zeitpunkt und die Dauer der Anrufe, die der Fernmeldedienstanbieter mittels eines speziellen Messsystems (sog. "metering" bzw. "comptage") aufgezeichnet hatte, konventionskonform ist. Der EGMR hielt dazu fest, die Erfassung solcher Randdaten an sich, die von einer Überwachung des Inhalts der Kommunikation unterschieden werden müsse, sei mit Blick auf die Konvention unbedenklich; erst die Übermittlung dieser Daten an die Polizei sei mit Blick auf
Art. 8 EMRK
problematisch (EGMR-Urteil vom 2. August 1984 [Nr. 8691/79] § 83 f.). Der Gerichtshof bestätigte diese Praxis in einem kürzlich ergangenen Entscheid, in dem die Konventionskonformität einer Aufzeichnung von Telekommunikationsranddaten (ein- und ausgehende Telefonate mit Teilnehmeridentifikation) und deren rückwirkende Überwachung zu überprüfen war (EGMR-Urteil
Figueiredo Teixeira gegen Andorra
vom 8. November 2016 [Nr. 72384/14] § 43).
Diese Rechtsprechung legt in Übereinstimmung mit dem Vorerwähnten nahe, dass es sich bei der reinen Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation nicht um einen schweren Eingriff handelt. Wie nachfolgend aufzuzeigen ist, läge indes selbst bei der Annahme eines solchen eine hinreichende gesetzliche Grundlage vor.
6.
6.1
Nach der Rechtsprechung des EGMR muss das Gesetz hinreichend präzise formuliert sein, damit die betroffenen Personen - nötigenfalls mit sachkundiger Hilfe - in einem nach den Umständen angemessenen Umfang die Folgen ihres Handelns vorhersehen können (EGMR-Urteile
Kopp gegen Schweiz
vom 25. März 1998 [Nr. 23224/94] § 64;
Amann gegen Schweiz
, § 56;
S. und Marper gegen Grossbritannien
, § 95;
M.K. gegen Frankreich
, § 27;
Peruzzo und Martens gegen Deutschland
vom 4. Juni 2013 [Nr. 7841/08 und 57900/12] § 35). Das Bundesgericht stellt gleichartige Anforderungen an die Regelungsdichte: Danach verlangt das Legalitätsprinzip gemäss
Art. 36 Abs. 1 BV
im Interesse der Rechtssicherheit und der rechtsgleichen Rechtsanwendung eine hinreichende und angemessene
BGE 144 I 126 S. 138
Bestimmtheit der anzuwendenden Rechtssätze. Diese müssen so präzise formuliert sein, dass die Rechtsunterworfenen ihr Verhalten danach ausrichten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen können (
BGE 143 I 310
E. 3.3.1 S. 314;
BGE 139 I 280
E. 5.1 S. 284; je mit Hinweisen).
Das Gebot der Bestimmtheit rechtlicher Normen darf dabei nicht absolut verstanden werden. Der Gesetzgeber kann nicht darauf verzichten, allgemeine und mehr oder minder vage Begriffe zu verwenden, deren Auslegung und Anwendung der Praxis überlassen werden muss (
BGE 143 I 310
E. 3.3.1 S. 315; MEYER-LADEWIG/NETTESHEIM, in: EMRK, Handkommentar, Meyer-Ladewig und andere [Hrsg.], 4. Aufl. 2017, N. 105 zu
Art. 8 EMRK
). Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt festlegen. Er hängt unter anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und von der erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten Entscheidung ab (
BGE 143 I 253
E. 6.1 S. 264;
BGE 141 I 201
E. 4.1 S. 204;
BGE 139 I 280
E. 5.1 S. 284).
6.2
Soweit die Beschwerdeführer beanstanden, aus dem Gesetz gehe nicht klar hervor, welche Daten von den Fernmeldedienstanbieterinnen genau erfasst würden, kann ihnen nicht gefolgt werden. Denn an anderer Stelle in ihrer Rechtsschrift führen sie anhand einer exemplarischen Aufzählung aus, es würden systematisch Daten darüber gespeichert, wer mit wem, wann und von wo aus kommuniziere bzw. kommuniziert habe. Dies entspricht der vorinstanzlichen Umschreibung von Randdaten der Telekommunikation: Das Bundesverwaltungsgericht gelangte in überzeugender Auslegung der in Art. 15 Abs. 3 aBÜPF verwendeten unbestimmten Begriffe der "für die Teilnehmeridentifikation notwendigen Daten" sowie "Verkehrs- und Rechnungsdaten", auf die hier verwiesen wird (E. 10.6.2 f. des angefochtenen Entscheids; vgl. dazu ferner Art. 16 lit. d, Art. 24b und Ziff. 7 des Anhangs zur Verordnung vom 31. Oktober 2001 über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs [aVÜPF; AS 2001 3111]), zum Schluss, dass die Fernmeldedienstanbieterinnen verpflichtet seien, die mit dem Fernmeldeverkehr verbundenen äusseren Daten der Telekommunikation - im Gegensatz zu deren Inhalt - während sechs Monaten zu speichern und aufzubewahren. Die Beschwerdeführer selber lehnen sich mit ihrer Begriffserläuterung überdies zu Recht an die in Art. 8 lit. b nBÜPF vorgesehene
BGE 144 I 126 S. 139
Definition für Randdaten des Fernmeldeverkehrs an, die in materieller Hinsicht der geltenden Begriffsbestimmung entspricht (Botschaft vom 27. Februar 2013 zum Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs [nachfolgend: Botschaft zum nBÜPF], BBl 2013 2683, 2739 Ziff. 2.6). Dabei handelt es sich um Daten, aus denen hervorgeht, mit wem, wann, wie lange und von wo aus die überwachte Person Verbindung hat oder gehabt hat, sowie die technischen Merkmale der entsprechenden Verbindung (BBl 2016 1991).
Insofern ist für jeden Benutzer von Fernmeldediensten bzw. jeden Teilnehmer an Telekommunikationen ersichtlich, dass die mit seinen Kommunikationsvorgängen zusammenhängenden äusseren Daten während sechs Monaten von den Anbieterinnen gespeichert und aufbewahrt werden, insbesondere auch ohne konkreten Verdacht auf eine Straftat. Inwiefern es noch präziseren Angaben im Gesetz bedürfte, leuchtet nicht ein. Eine detaillierte Auflistung aller zu erfassenden Randdaten erwiese sich angesichts des zu ordnenden Sachverhalts und der damit einhergehenden Komplexität nicht als stufen- und sachgerecht (vgl. EGMR-Urteile
Zakharov gegen Russland
vom 4. Dezember 2015 [Nr. 47143/06] § 244 und 247;
Malone gegen Grossbritannien
, § 68;
Kennedy gegen Grossbritannien
vom 18. Mai 2010 [Nr. 26839/05] § 159;
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 64). Eine solche Aufzählung wäre sehr technisch und für einen Laien - wie von den Beschwerdeführern selbst bemängelt - wohl kaum verständlich. Der Vorinstanz ist daher darin beizupflichten, dass es vorliegend für eine hinreichende gesetzliche Grundlage ausreichen muss, dass der Umfang und der Zweck der Speicherung und Aufbewahrung von Telekommunikationsranddaten in den Grundzügen im Gesetz festgelegt sind. Diesen Anforderungen genügt Art. 15 Abs. 3 aBÜPF, der eine Vorratshaltung von Randdaten für allfällige künftige Strafverfahren, zum Vollzug von Rechtshilfeersuchen, für die Suche und Rettung von vermissten Personen sowie für die nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung bezweckt (vgl. Art. 1 Abs. 1 aBÜPF). Dass die Fernmeldedienstanbieterinnen dabei mehr Daten erfassen, als für die Rechnungsstellung notwendig ist, lässt sich aus dieser Bestimmung ermessen. Ausserdem ist für den Einzelnen aufgrund des Umfangs der Datenspeicherung voraussehbar, dass daraus - jedenfalls bei einer Verknüpfung mit weiteren Daten im Rahmen einer (rückwirkenden) Überwachung - sensible Informationen gewonnen werden können.
BGE 144 I 126 S. 140
6.3
Demnach bildet Art. 15 Abs. 3 aBÜPF eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs. Vor diesem Hintergrund durfte die Vorinstanz auch in willkürfreier, antizipierter Beweiswürdigung auf die Einholung der die Beschwerdeführer betreffenden Randdaten bei den jeweiligen Fernmeldedienstanbieterinnen verzichten, ohne dabei gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör zu verstossen.
7.
Wie bereits dargelegt, verfolgt die Vorratshaltung von Randdaten der Telekommunikation in erster Linie das Ziel, deren Verfügbarkeit mit Blick auf die Aufklärung und Verfolgung von Straftaten sicherzustellen. Mit der Vorinstanz ist daher davon auszugehen, dass die Speicherung und Aufbewahrung dieser Daten eine rückwirkende Überwachung als Mittel der Strafverfolgung ermöglicht. Diese Massnahmen dienen insofern nicht nur der im Gemeinwohl liegenden öffentlichen Sicherheit und Ordnung, indem sie zur Ermittlung und damit zur Verhütung von Straftaten beitragen (vgl. EGMR-Urteile
S. und Marper gegen Grossbritannien
, § 100;
M.K. gegen Frankreich
, § 29;
Aycaguer gegen Frankreich
, § 36; ferner
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 55;
Zakharov gegen Russland
, § 232 und 237), sondern schützen ebenso die Rechte und Freiheiten Dritter (vgl. EGMR-Urteile
Peruzzo und Martens gegen Deutschland
, § 40;
Uzun gegen Deutschland
, § 77). Dies räumen denn auch die Beschwerdeführer im Grundsatz ein. Darüber hinaus bezweckt die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs, die zuständigen Behörden bei der Suche und Rettung vermisster Personen zu unterstützen, womit ein Beitrag zur öffentlichen Gesundheit geleistet wird. Insofern liegt ein genügendes, sehr gewichtiges öffentliches Interesse vor.
8.
Zu prüfen bleibt, ob die systematische Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation verhältnismässig ist.
8.1
Die Beschwerdeführer stellen zunächst deren Eignung in Frage. Sie bemängeln, die Effektivität der Vorratsdatenspeicherung sei nicht empirisch erwiesen; vielmehr zeigten Studien auf, dass dieses Mittel weder einen Einfluss auf die Aufklärungsrate habe noch einen Abschreckungseffekt zeitige. Die Beschwerdeführer übersehen mit dieser Argumentation indes, dass es für einen Grundrechtseingriff unter dem Titel der Zwecktauglichkeit genügt, wenn er zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet ist, um vor dem Grundsatz
BGE 144 I 126 S. 141
der Verhältnismässigkeit standzuhalten (vgl.
BGE 131 I 223
E. 4.3 S. 232;
BGE 128 I 3
E. 3e/cc S. 15; je mit Hinweisen). Verlangt wird somit, dass die streitigen Massnahmen mit Blick auf den angestrebten Zweck Wirkungen zu entfalten vermögen und nicht gänzlich daran vorbei zielen (vgl.
BGE 138 I 256
E. 6.2 f. S. 263 f.;
BGE 137 IV 249
E. 4.5.2 S. 256 f.;
BGE 135 II 105
E. 2.3.3 S. 109 f.;
BGE 132 I 7
E. 4.2 S. 11 ff.). Dies ist bei der Speicherung und Aufbewahrung von Telekommunikationsranddaten ohne Weiteres der Fall, wie auch die von der Vorinstanz aufgeführten Beispiele aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Bereich der Strafverfolgung belegen (vgl. E. 12.5 des angefochtenen Entscheids). Durch die Vorratshaltung von Randdaten stehen den Strafverfolgungsbehörden zusätzliche Möglichkeiten zur Aufklärung von Straftaten zur Verfügung. Durch die weite Verbreitung und Nutzung von elektronischen Kommunikationsmitteln erweisen sich diese Massnahmen denn auch als nützliches Mittel für strafrechtliche Ermittlungen. Die Vorinstanz hat deren Eignung daher zu Recht bejaht. Überdies ist sie entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer nicht in Willkür verfallen, wenn sie den Verfahrensantrag, die Praxis zur Anordnung von rückwirkenden Überwachungen und deren richterliche Überprüfung seien zu evaluieren, in vorweggenommener Beweiswürdigung abgelehnt hat, soweit dieser denn überhaupt vom Streitgegenstand erfasst wird.
8.2
Die Beschwerdeführer bringen sodann vor, die systematische und anlasslose Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs seien nicht erforderlich, zumal die allermeisten der erfassten Daten nie in eine Strafuntersuchung einflössen. Diese Massnahmen müssten sich daher auf Angaben beschränken, die eng mit den untersuchten Delikten zusammenhingen. Im Vordergrund stünde dabei das sog. "quick freeze"-Verfahren, bei dem die Randdaten des Fernmeldeverkehrs erst bei aufkommendem dringendem Tatverdacht gesichert werden.
8.2.1
Soweit die Beschwerdeführer damit eine Eingrenzung der Vorratsdatenspeicherung in persönlicher, sachlicher und zeitlicher Hinsicht fordern, lehnen sie sich an die beiden Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 8. April 2014 und 21. Dezember 2016 an. In ersterem Entscheid erklärte der EuGH die Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig, weil sich diese nicht auf das absolut Notwendige beschränke und somit unverhältnismässig sei. Dies begründete er unter anderem damit, dass sich die Richtlinie generell auf alle Personen, alle
BGE 144 I 126 S. 142
elektronischen Kommunikationsmittel sowie auf sämtliche Verkehrsdaten erstrecke, ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme vorzusehen. Insbesondere betreffe sie alle Personen, die elektronische Kommunikationsmittel benutzten, ohne dass diese auch nur mittelbar oder entfernt Anlass zur Strafverfolgung geben könnten. Auch verlange die Richtlinie keinen Zusammenhang zwischen den auf Vorrat gespeicherten Daten und der Bedrohung für die öffentliche Sicherheit. So beschränke sie sich weder auf Daten eines bestimmten Zeitraums, Gebiets oder eines Kreises von Personen, die in irgendeiner Weise in schwere Straftaten verwickelt sein oder aus anderen Gründen zur Verhütung oder Verfolgung solcher Delikte beitragen könnten. Zudem sehe die Richtlinie eine Mindestdauer von sechs Monaten für die Vorratsdatenspeicherung vor, ohne dass eine Unterscheidung der Datenkategorien je nach deren etwaigen Nutzen für das verfolgte Ziel oder anhand der betroffenen Personen getroffen werde (Urteil des EuGH vom 8. April 2014 C-293/12 und C-594/12
Digital Rights Ireland
, Randnr. 57 ff.).
Der EuGH bestätigte diese Rechtsprechung in seinem zweiten Urteil zur Vorratsdatenspeicherung, worin er zum Schluss gelangte, dass eine nationale Regelung, die eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Daten vorsehe, aus den bereits genannten Gründen nicht vor Unionsrecht standhalte. Allerdings verbiete Letzteres den Mitgliedsstaaten nicht, eine Regelung zu erlassen, die eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten ermögliche, sofern sich diese hinsichtlich der Datenkategorien, der elektronischen Kommunikationsmittel, des Personenkreises und der Aufbewahrungsdauer auf das absolut Notwendige beschränke. Um diesen Erfordernissen zu genügen, müsse die nationale Regelung klar und präzise sein sowie ausreichende Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken enthalten. Sie habe anzugeben, unter welchen Umständen und Voraussetzungen eine Massnahme der Vorratsdatenspeicherung angeordnet werden dürfe. Insbesondere müsse sie auf objektive Anhaltspunkte gestützt sein, die es ermöglichten, diejenigen Personen zu erfassen, die einen zumindest mittelbaren Zusammenhang zu schweren Straftaten aufwiesen. Eine solche Begrenzung lasse sich auch durch ein geografisches Kriterium gewährleisten, wenn objektive Hinweise dafür bestünden, dass in gewissen Gebieten ein erhöhtes Risiko für die Vorbereitung oder Begehung von Straftaten bestehe (Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2016 C-203/15 und C-698/15
Tele2 Sverige
, Randnr. 108 ff.).
BGE 144 I 126 S. 143
8.2.2
Obschon diese Urteile für die Beurteilung der vorliegenden Streitsache nicht bedeutungslos sind, insbesondere weil sie die Rechtsfortbildung im europäischen Umfeld im Bereich der Vorratsdatenspeicherung entscheidend prägen und sich auch der EGMR in jüngeren Entscheiden darauf bezieht (vgl. EGMR-Urteile
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 70;
Zakharov gegen Russland
, § 147), sind sie für die Schweiz nicht verbindlich (vgl. ASTRID EPINEY, Staatliche Überwachung versus Rechtsstaat: Wege aus dem Dilemma?, AJP 2016 S. 1507). Abgesehen von gewissen Zweifeln ob der Praktikabilität einzelner, darin vorgesehener Einschränkungen der Datenerfassung (vgl. dazu z.B. CHRISTOPH GRABENWARTER, Die Vorratsdatenspeicherung aus der Perspektive der EMRK, der Grundrechte-Charta und des Verfassungsrechts, in: Strafe und Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat, Stuckenberg/Gärditz [Hrsg.], 2015, S. 786 f.), treffen sie die Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs auf Vorrat im Kern (vgl. HEINRICH WOLFF, Anmerkung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 8.4.2014 zur Vorratsdatenspeicherung, Die Öffentliche Verwaltung 14/2014 S. 610; GRABENWARTER, a.a.O., S. 790; KÜHLING, a.a.O., S. 683; REINHARD PRIEBE, Reform der Vorratsdatenspeicherung - strenge Massstäbe des EuGH, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 12/2014 S. 457; ALEXANDER ROSSNAGEL, Die neue Vorratsdatenspeicherung, Neue Juristische Wochenschrift 8/2016 S. 539; BOEHM/ANDREES, Zur Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit europäischem Recht, Computer und Recht 3/2016 S. 153). Das Wesen der Vorratsdatenspeicherung besteht gerade darin, die von den Benutzern von Fernmeldediensten bei ihren Kommunikationsvorgängen generierten äusseren Daten über eine gewisse Zeitspanne zu erhalten, ohne zu wissen, ob sie für eine allfällige künftige Strafuntersuchung von Bedeutung sein werden oder nicht (vgl. WOLFF, a.a.O., S. 610; ANTONIE MOSER-KNIERIM, Vorratsdatenspeicherung, 2014, S. 139). Der schweizerische Bundesgesetzgeber hat sich ausdrücklich für dieses System der umfassenden und anlasslosen Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation ausgesprochen und diesen Entscheid im Rahmen der Totalrevision des BÜPF bestätigt (vgl. Botschaft zum nBÜPF, BBl 2013 2683, 2740 f. Ziff. 2.6). Anlässlich der parlamentarischen Debatten im Nationalrat wurde die Einführung des von den Beschwerdeführern als mildere Massnahme vorgeschlagenen "quick freeze"-Verfahrens (zum Begriff vgl. E. 8.2 hiervor) explizit verworfen (Geschäft 13.025 zur
BGE 144 I 126 S. 144
Änderung des BÜPF, dritte Abstimmung zum Antrag der Minderheit IV, AB 2015 N 1165; vgl. ferner Voten Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, AB 2015 N 1160; NR Gabi Huber, AB 2015 N 1156; NR Jean Christophe Schwaab, AB 2015 N 1161; NR Beat Flach, AB 2015 N 1162). Dieses fällt als weniger weitreichende Massnahme ausser Betracht, zumal es eine geringere Zwecktauglichkeit aufweist als das geltende System und somit nicht den vom Gesetzgeber erwünschten Erfolg zu zeitigen vermag (vgl.
BGE 129 I 35
E. 10.2 S. 46).
8.3
Das Gebot der Verhältnismässigkeit verlangt im Weiteren, dass ein vernünftiges Verhältnis zwischen den behördlichen Massnahmen, welche die angestrebten Ziele zu erreichen bezwecken, und den betroffenen öffentlichen oder privaten Interessen besteht (angemessene Zweck-Mittel-Relation;
BGE 143 I 147
E. 3.1 S. 151,
BGE 143 I 310
E. 3.4.1 S. 318;
BGE 138 I 331
E. 7.4.3.1 S. 346;
BGE 137 IV 249
E. 4.5 S. 256).
8.3.1
Der EGMR gesteht den Konventionsstaaten bei der vorzunehmenden Güterabwägung und damit bei der Beurteilung, ob eine Massnahme im Sinne von
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
"in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist", einen gewissen Ermessensspielraum zu (EGMR-Urteile
Leander gegen Schweden
, § 59;
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 57). Dabei anerkennt er, dass an der mit der Kriminalitätsbekämpfung bezweckten Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein erhebliches Interesse besteht, weshalb sich eine Erfassung und Aufbewahrung von Informationen als notwendig erweisen kann (EGMR-Urteile
Leander gegen Schweden
, § 59;
S. und Marper gegen Grossbritannien
, § 105;
Aycaguer gegen Frankreich
, § 34). So sei es insbesondere aufgrund der heutigen Formen des modernen Terrorismus eine natürliche Folge, dass Regierungen auf neuste Technologien - einschliesslich massiver Kommunikationsüberwachungen - zurückgriffen, um solchen Anschlägen zuvorzukommen (EGMR-Urteile
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 68;
Klass und andere gegen Deutschland
, § 48). Dennoch bedeute dies nicht, dass den Konventionsstaaten ein unbegrenztes Ermessen zustehe: Angesichts der Gefahr, dass die Demokratie mit der Begründung, sie zu verteidigen, durch (geheime) Überwachungen ausgehöhlt oder gar zerstört werde, dürften nicht jede beliebigen, als angemessen erachteten Massnahmen ergriffen werden (EGMR-Urteile
Klass und andere gegen Deutschland
, § 49;
Leander gegen Schweden
, § 60;
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 57).
BGE 144 I 126 S. 145
In diesem Sinne hielt der EGMR dafür, dass die zeitlich unbeschränkte Aufbewahrung von Fingerabdrücken, Zellproben und DNA-Profilen in Datenbanken von bloss verdächtigen, nicht aber verurteilten Personen unverhältnismässig sei und somit nicht vor
Art. 8 EMRK
standhalte (EGMR-Urteile
S. und Marper gegen Grossbritannien
, § 125;
M.K. gegen Frankreich
, § 43; ferner ähnlich
Brunet gegen Frankreich
, § 44; vgl.
e contrario
EGMR-Urteile
Peruzzo und Martens gegen Deutschland
, § 49;
Gardel gegen Frankreich
, § 71 betreffend Datenbank für Sexualstraftäter). Ebenso erblickte er in der umfassenden und systematischen Überwachung aller Mobilfunkkommunikationen in Russland, auf die der Geheimdienst und die Polizei unmittelbar zugreifen konnten, eine Verletzung von
Art. 8 EMRK
(EGMR-Urteil
Zakharov gegen Russland
, § 302 ff.; vgl. ferner
Mustafa Sezgin Tanrikulu gegen Türkei
vom 18. Juli 2017 [Nr. 27473/06] § 65). Zum gleichen Ergebnis gelangte er im Entscheid
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, in welchem ein geheimes Anti-Terror-Überwachungssystem zu beurteilen war, das nahezu alle Personen in Ungarn betraf und die massenhafte Überwachung von Kommunikationen erlaubte, ohne ausreichende und effektive Schutzmassnahmen vorzusehen, § 89). In diesem Urteil nahm der Gerichtshof ausserdem Bezug auf den Entscheid
Kennedy gegen Grossbritannien
, in dem der Umstand, dass die dort zu beurteilende gesetzliche Grundlage keine unterschiedslose Überwachung von grossen Mengen von Kommunikationen erlaubte, ein wesentliches Element darstellte, um auf deren Konventionskonformität zu erkennen (§ 160; vgl. ähnlich
Uzun gegen Deutschland
, § 80).
8.3.2
Im vorliegenden Fall geht es zwar ebenfalls um die Beurteilung einer umfassenden und systematischen Datenerfassung. Allerdings ergeben sich ganz wesentliche Unterschiede zu den Sachverhalten, mit denen sich der EGMR in den vorgenannten Verfahren zu befassen hatte: Hinsichtlich der Art der gespeicherten Informationen geht es hier nicht um den Inhalt der Kommunikation, sondern bloss um deren äussere Umstände. Vor allem aber können die Strafverfolgungsbehörden auf die von den Fernmeldedienstanbieterinnen erfassten Daten nicht unmittelbar zugreifen und sie zu Untersuchungszwecken nutzen. Vielmehr kann ein solcher Zugriff erst auf der Stufe der Überwachung des Fernmeldeverkehrs erfolgen. Für deren Anordnung müssen die in der StPO vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sein, wobei es in verfahrensrechtlicher Hinsicht der
BGE 144 I 126 S. 146
Genehmigung durch ein unabhängiges Gericht bedarf. Darauf ist nachfolgend näher einzugehen.
Neben der eigentlichen (inhaltlichen) Überwachung (Art. 270-272 i.V.m.
Art. 269 StPO
) sieht
Art. 273 StPO
die Möglichkeit vor, dass die Staatsanwaltschaft Auskünfte über die Verkehrs- und Rechnungsdaten bzw. die Teilnehmeridentifikation einholt. Voraussetzung für den Zugang zu solchen Randdaten des Fernmeldeverkehrs ist, dass der dringende Verdacht eines Verbrechens oder Vergehens (oder einer Übertretung nach
Art. 179
septies
StGB
) besteht, dass die Schwere der Straftat die Überwachung rechtfertigt und dass die bisherigen Untersuchungshandlungen erfolglos geblieben sind oder die Ermittlungen sonst aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden (Art. 273 Abs. 1 Ingress i.V.m.
Art. 269 Abs. 1 lit. b und c StPO
;
BGE 141 IV 108
E. 4.4 S. 117 f.;
BGE 137 IV 340
E. 5.2 S. 346 f.; EGMR-Urteile
Uzun gegen Deutschland
, § 70;
Zakharov gegen Russland
, § 243 ff.). Mithin haben die Auskünfte, die bis sechs Monate rückwirkend verlangt werden können (
Art. 273 Abs. 3 StPO
und Art. 15 Abs. 3 aBÜPF), dem Gebot der Verhältnismässigkeit zu genügen (
Art. 197 Abs. 1 lit. c und d StPO
; EGMR-Urteil
Zakharov gegen Russland
, § 260). Wie die inhaltliche Kommunikationsüberwachung (
Art. 272 Abs. 1 StPO
), bedürfen Massnahmen nach
Art. 273 StPO
der Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht (
Art. 273 Abs. 2 StPO
), das gestützt auf die substanziierte und mit den wesentlichen Verfahrensakten belegte Eingabe der Staatsanwaltschaft (
Art. 274 Abs. 1 StPO
) innert fünf Tagen seit der Anordnung der Überwachung oder der Auskunftserteilung mit kurzer Begründung darüber entscheiden muss (
Art 274 Abs. 2 StPO
; EGMR-Urteile
Klass und andere gegen Deutschland
, § 55 f.;
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 77). Dabei hat sich die Genehmigung namentlich darüber zu äussern, ob Vorkehren zum Schutz von Berufsgeheimnissen getroffen werden müssen (
Art. 274 Abs. 4 lit. a StPO
). Dokumente und Datenträger aus nicht genehmigten Überwachungen sind sofort zu vernichten und dürfen nicht verwendet werden (
Art. 277 StPO
; EGMR-Urteil
Uzun gegen Deutschland
vom 2. September 2010 [Nr. 35623/05] § 71 f.). Grundsätzlich teilt die Staatsanwaltschaft den überwachten Personen spätestens mit Abschluss des Vorverfahrens den Grund, die Art und die Dauer der Überwachung mit (
Art. 279 Abs. 1 StPO
; für Vorbehalte vgl.
Art. 279 Abs. 2 StPO
; EGMR-Urteile
Klass und andere gegen Deutschland
, § 58;
Uzun gegen Deutschland
, § 72;
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 86).
BGE 144 I 126 S. 147
Ihnen steht dagegen der Beschwerdeweg offen (
Art. 279 Abs. 3 StPO
), der letztlich bis an das Bundesgericht führen kann (
Art. 78 ff. BGG
).
Wird eine Überwachung des Fernmeldedienstes angeordnet, prüft der Dienst ÜPF unter anderem, ob die Überwachung eine gemäss dem anwendbaren Recht überwachungsfähige Straftat betrifft und von der zuständigen Behörde angeordnet worden ist (Art. 13 Abs. 1 lit. a aBÜPF). Er weist die Anbieterinnen an, die für die Überwachung notwendigen Massnahmen zu treffen (Art. 13 Abs. 1 lit. b aBÜPF) und nimmt die von ihnen übermittelten Randdaten entgegen, bevor er sie an die anordnende Behörde weiterleitet (Art. 13 lit. e aBÜPF und Art. 8 Abs. 3 aVÜPF;
BGE 141 IV 108
E. 4.6 S. 118). Dabei setzt er die Vorkehren der Genehmigungsbehörde zum Schutz von Berufsgeheimnissen um und bewahrt die Überwachungsanordnung nach Einstellung der Massnahme während eines Jahres auf (Art. 13 Abs. 1 lit. f und i aBÜPF).
8.3.3
Aus diesen Ausführungen erhellt, dass die Strafverfolgungsbehörden keinen direkten und uneingeschränkten Zugriff auf die von den Fernmeldedienstanbieterinnen gespeicherten und aufbewahrten Randdaten der Telekommunikation haben. Vielmehr unterliegt dieser strengen Anforderungen, die insbesondere hinsichtlich des Personenkreises, der Art sowie des Umfangs der Daten zu massgeblichen Einschränkungen führen und zusammen mit zahlreichen Schutzmechanismen dazu beitragen, das Ermessen und die Zugriffsmöglichkeiten der Strafbehörden einzudämmen. Die vorerwähnte Rechtsprechung des EGMR kann somit nicht unbesehen auf die vorliegende Streitsache übertragen werden.
8.3.4
Gleichwohl bedingt die Vorratshaltung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs eine automatische Speicherung und Aufbewahrung einer grossen Menge von personenbezogenen Daten. Um insbesondere den Garantien von
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
und
Art. 13 BV
zu genügen, verlangt der EGMR in Übereinstimmung mit dem Bundesgericht, dass diese systematische Datenerfassung und -aufbewahrung von angemessenen und wirkungsvollen rechtlichen Schutzvorkehrungen begleitet werden, so dass Missbräuchen und Willkür vorgebeugt werden kann (
BGE 138 I 6
E. 4.3 S. 25;
BGE 133 I 77
E. 5.4 S. 86 f.; vgl.
BGE 136 I 87
E. 8.4 S. 116 f.; EGMR-Urteile
Rotaru gegen Rumänien
, § 59;
S. und Marper gegen Grossbritannien
, § 103;
Kennedy gegen Grossbritannien
, § 153;
M.K. gegen Frankreich
, § 32;
BGE 144 I 126 S. 148
Peruzzo und Martens gegen Deutschland
, § 42;
Zakharov gegen Russland
, § 232;
Szabó und Vissy gegen Ungarn
, § 68).
8.3.5
Die Beschwerdeführer bemängeln in diesem Zusammenhang, die datenschutzrechtlichen Grundsätze würden nicht eingehalten und es bestehe kein hinreichender Schutz vor Missbrauch.
Während das aBÜPF selbst keine Bestimmungen über den Datenschutz bzw. die Datensicherheit enthält, verweist Art. 9 Abs. 1 aVÜPF namentlich auf die Verordnung zum Bundesgesetz vom 14. Juni 1993 über den Datenschutz (VDSG; SR 235.11). In Art. 9 Abs. 2 aVÜPF wird überdies präzisierend festgehalten, dass die Fernmeldedienstanbieterinnen bei der Übertragung der Überwachungsdaten die Anweisungen des Dienstes ÜPF zu befolgen haben und sie für die Datensicherheit bis zum Übergabepunkt der Daten an den Dienst ÜPF verantwortlich sind. Die Richtlinien vom 22. Oktober 2015 über die organisatorischen und administrativen Anforderungen (OAR) sowie die technischen Anforderungen (TR TS) bei der rechtmässigen Überwachung des Fernmeldeverkehrs (vgl. Art. 33 Abs. 1
bis
aVÜPF; beide abrufbar unter
www.li.admin.ch/de/dokumentation/downloads
, besucht am 6. Dezember 2017) verweisen für die Gewährleistung der Datensicherheit durch die Fernmeldedienstanbieterinnen und den Dienst ÜPF auf das DSG (vgl. Ziff. 11.2 bzw. Ziff. 14.2), das ohnehin für Datenbearbeitungen durch private Personen oder Bundesorgane gilt (
Art. 2 Abs. 1 DSG
). Nach dessen Art. 7 müssen Personendaten durch angemessene technische und organisatorische Massnahmen gegen unbefugtes Bearbeiten geschützt werden, wobei der Bundesrat nähere Bestimmungen über die Mindestanforderungen an die Datensicherheit erlässt.
Gemäss
Art. 20 VDSG
treffen die verantwortlichen Bundesorgane die nach den
Art. 8-10 VDSG
erforderlichen technischen und organisatorischen Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit und der Grundrechte der Personen, über die Daten bearbeitet werden (Satz 1). Diese Bestimmung gilt nach den zutreffenden und unbestritten gebliebenen Ausführungen der Vorinstanz auch für die Fernmeldedienstanbieterinnen, zumal sie bei der Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs mit öffentlichen Aufgaben des Bundes betraut worden sind (
Art. 3 lit. h DSG
; vgl. E. 12.7.3 des angefochtenen Entscheids). Wer Personendaten bearbeitet bzw. ein Datenkommunikationsnetz betreibt, hat nach
Art. 8 Abs. 1 VDSG
für die Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität der Daten zu
BGE 144 I 126 S. 149
sorgen, um einen angemessenen Datenschutz zu gewährleisten. Die Systeme müssen dabei insbesondere gegen unbefugte oder zufällige Vernichtung (lit. a), zufälligen Verlust (lit. b), technische Fehler (lit. c), Fälschungen, Diebstahl oder widerrechtliche Verwendung (lit. d) sowie unbefugtes Ändern, Kopieren, Zugreifen oder andere unbefugte Bearbeitungen (lit. e) geschützt werden. Geschuldet ist kein absoluter Schutz; vielmehr müssen die technischen und organisatorischen Massnahmen bei gesamthafter Beurteilung unter der Berücksichtigung des Zwecks, der Art und des Umfangs der Datenbearbeitung, der abschätzbaren Risiken für die betroffenen Personen und dem Stand der Technik angemessen sein (
Art. 8 Abs. 2 VDSG
; vgl. DAVID ROSENTHAL, Handkommentar zum Datenschutzgesetz, 2008, N. 3 f. zu
Art. 7 DSG
; BRUNO BAERISWYL, in: Datenschutzgesetz [DSG], 2015, N. 22 zu
Art. 7 DSG
). Solche Massnahmen sollen insbesondere bei automatisierten Datensammlungen und Informationssystemen verhindern, dass Daten unrechtmässig bearbeitet werden. Zu diesem Zweck definiert
Art. 9 Abs. 1 VDSG
verschiedene Zielsetzungen, die unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgebots umzusetzen sind. Dazu gehören namentlich Datenträger-, Transport-, Bekanntgabe-, Speicher-, Benutzer- und Zugriffskontrollen (zur Erläuterung dieser Begriffe vgl. Kommentar des Bundesamts für Justiz zur VDSG vom 14. Juni 2011, Ziff. 6.1.2; CHRISTA STAMM-PFISTER, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl. 2014, N. 25 ff. zu
Art. 7 DSG
; ROSENTHAL, a.a.O., N. 19 zu
Art. 7 DSG
). Als technische oder organisatorische Schutzmassnahmen in Betracht fallen beispielsweise Zugriffsbeschränkungen, Filter (wie z.B. Firewalls), Datenverschlüsselungen, sichere Systemkonfigurationen, Software zum Schutz vor Computerviren, -angriffen oder -spionage, Schulungen des Personals, Kontrollen und Protokollierungen (vgl. dazu auch
Art. 10 VDSG
; EGMR-Urteile
Zakharov gegen Russland
, § 272;
Kennedy gegen Grossbritannien
, § 165; ROSENTHAL, a.a.O., N. 8 f. zu
Art. 7 DSG
; BAERISWYL, a.a.O., N. 19 f. zu
Art. 7 DSG
).
8.3.6
Soweit die Beschwerdeführer beanstanden, es reiche für die Gewährleistung der Datensicherheit nicht aus, sich auf generell-abstrakte Bestimmungen zu berufen, vermögen sie nicht durchzudringen. Immerhin führen die vorerwähnten technischen, organisatorischen und administrativen Richtlinien des Dienstes ÜPF wichtige Massnahmen auf, die eine sichere Datenbearbeitung gewährleisten. So hat die Kommunikation von Informationen im Sinne einer Transport- und
BGE 144 I 126 S. 150
Bekanntgabekontrolle nur durch vorgängig authentifiziertes Personal und verschlüsselt zu erfolgen (OAR-Richtlinie, Ziff. 11.1 bzw. TR TS-Richtlinie, Ziff. 14.1). Zudem haben auf das System zur Abfrage von Informationen zu Fernmeldedienstabonnenten nur nutzungsberechtigte Personen mit User-Identifikation Zugang, die sich vorgängig beim Dienst ÜPF registrieren lassen müssen und von diesem einer Überprüfung unterzogen werden (Technische und Administrative Richtlinie vom 30. November 2004 für die Fernmeldedienstanbieterinnen zum Call Center Informationssystem, Ziff. 10, abrufbar unter
www.li.admin.ch/de/dokumentation/downloads
, besucht am 6. Dezember 2017). Damit wird den Zielsetzungen der Speicher-, Benutzer- und Zugriffskontrolle bei automatisierten Datensammlungen Nachachtung verschafft. Überdies müssen die Fernmeldedienstanbieterinnen genauso wie der Dienst ÜPF ihre Systeme vor unbefugtem Zugriff schützen und die involvierten Personen haben bei ihrer Tätigkeit die Vertraulichkeit der Informationen zu wahren (OAR-Richtlinie, Ziff. 11.3 f. bzw. TR TS-Richtlinie, Ziff. 14.3 f.). Ihnen drohen bei einem Verstoss gegen die berufliche Schweigepflicht (
Art. 35 DSG
) genauso wie bei einer Verletzung des Fernmeldegeheimnisses (Art. 43 des Fernmeldegesetzes vom 30. April 1997 [FMG; SR 784.10]) durch die Bekanntgabe gespeicherter Daten an Dritte (
Art. 321
ter
StGB
) strafrechtliche Sanktionen. Der damit einhergehende Abschreckungseffekt trägt insoweit zum Schutz vor missbräuchlichen Datenbearbeitungen bei (vgl. EGMR-Urteil
Gardel gegen Frankreich
, § 70), wenngleich ein rechtswidriges Verhalten von Einzelpersonen - wie der von den Beschwerdeführern kritisierte Verkauf oder das Verschwindenlassen von Daten - nie gänzlich ausgeschlossen werden kann (vgl. EGMR-Urteile
Zakharov gegen Russland
, § 270;
Klass und andere gegen Deutschland
, § 59). Abgesehen davon sind keinerlei Anzeichen dafür ersichtlich, dass Hacker oder ausländische Behörden auf Randdaten der Beschwerdeführer hätten zugreifen wollen bzw. schweizerische Fernmeldedienstanbieterinnen diese unbefugten Dritten zugänglich gemacht hätten. Die Beschwerdeführer sind denn auch weder in der Lage, ihre Befürchtungen zu belegen noch konkrete Hinweise namhaft zu machen.
Dass weder die Richtlinien des Dienstes ÜPF noch die Fernmeldedienstanbieterinnen vollständig und im Detail über die technischen und organisatorischen Massnahmen informieren, ist nicht zu beanstanden, zumal durch deren Offenlegung die damit verfolgten
BGE 144 I 126 S. 151
Sicherheitsziele massgeblich beeinträchtigt werden könnten (vgl. BAERISWYL, a.a.O., N. 33 zu
Art. 7 DSG
). Überdies vermag die Kontrolle durch den EDÖB, der seine Funktionen unabhängig und ohne Weisungen ausübt (
Art. 26 Abs. 3 DSG
), diesbezüglich Abhilfe zu verschaffen. Nach
Art. 27 DSG
überwacht er die Einhaltung der bundesrechtlichen Datenschutzvorschriften durch die Bundesorgane (Abs. 1), wobei er bei seinen Abklärungen Akten herausverlangen, Auskünfte einholen und sich die Datenbearbeitung vorführen lassen kann (Abs. 3 Satz 1). Insofern verfügt der EDÖB auch im Bereich der Speicherung und Aufbewahrung von Telekommunikationsranddaten durch die Fernmeldedienstanbieterinnen bzw. der Weiterleitung solcher Informationen an den Dienst ÜPF im Falle einer Überwachungsanordnung über umfassende Befugnisse zur Überprüfung der Datensicherheit. Dabei darf erwartet werden, dass er diesen Rechten im Rahmen seiner Aufsichtstätigkeit, die er von sich aus oder auf Ersuchen Dritter hin einleiten kann (vgl. RENÉ HUBER, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl. 2014, N. 6 ff. zu
Art. 27 DSG
; YVONNE JÖHRI, in: Handkommentar zum Datenschutzgesetz, 2008, N. 6 zu
Art. 27 DSG
), auch tatsächlich nachlebt und insoweit Unregelmässigkeiten aufdeckt. Stellt er bei seinen Abklärungen eine Verletzung von Datenschutzbestimmungen fest, empfiehlt er dem verantwortlichen Bundesorgan, das Bearbeiten zu ändern oder zu unterlassen (
Art. 27 Abs. 4 DSG
). Gegen allfällige Verfügungen, die infolge abgelehnter oder nicht befolgter Empfehlungen ergehen können, kann er den Rechtsweg beschreiten (
Art. 27 Abs. 5 und 6 DSG
).
Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte oder Hinweise darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR letztlich jedoch davon ausgegangen werden, dass die einschlägigen Datenschutzvorschriften zur sicheren Bearbeitung personenbezogener Informationen vorliegend eingehalten werden (vgl.
BGE 137 I 167
E. 9.1.3 S. 191 f.;
BGE 133 I 77
E. 5.4 S. 87; EGMR-Urteil
Klass und andere gegen Deutschland
, § 59). Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die (teilweise) Auslagerung der Datenbearbeitung ins Ausland. In Übereinstimmung mit den Ausführungen der Vorinstanz (vgl. E. 12.7.3 des angefochtenen Entscheids) muss sich der Auftraggeber insbesondere vergewissern, dass der Dritte die Datensicherheit gewährleistet (
Art. 10a Abs. 2 DSG
). Denn das Bundesorgan, das Personendaten durch Dritte bearbeiten lässt, bleibt für den Datenschutz verantwortlich (vgl.
Art. 16 Abs. 1 DSG
und
Art. 22 Abs. 2 VDSG
).
BGE 144 I 126 S. 152
Untersteht der Dritte dem DSG nicht, vergewissert es sich, dass andere gesetzliche Bestimmungen einen gleichwertigen Datenschutz gewährleisten, andernfalls stellt es diesen auf vertraglichem Weg sicher (
Art. 22 Abs. 3 VDSG
). Bei der Übertragung eines Teils der Datenbearbeitung an einen Dritten im Ausland - z.B. im Rahmen eines IT-Outsourcings - ist zudem
Art. 6 DSG
zu beachten (vgl. ROSENTHAL, a.a.O., N. 7 zu Art. 6 und N. 28 zu
Art. 10a DSG
; BÜHLER/RAMPINI, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Auflage 2014, N. 6 zu
Art. 10a DSG
; EDÖB, Tätigkeitsbericht 18 [2010/2011], Datenübermittlung ins Ausland im Rahmen eines "Outsourcing"; a.M. BAERISWYL, a.a.O., N. 43 zu
Art. 10a DSG
). Nach dessen Abs. 1 dürfen Personendaten nicht ins Ausland bekannt gegeben werden, wenn dadurch die Persönlichkeit der betroffenen Person schwerwiegend gefährdet würde, namentlich weil eine Gesetzgebung fehlt, die einen angemessenen Schutz gewährleistet. Ein Indiz dafür, ob dies der Fall ist, lässt sich der Staatenliste des EDÖB entnehmen (
Art. 31 Abs. 1 lit. d DSG
i.V.m.
Art. 7 VDSG
; abrufbar unter
www.edoeb.admin.ch/datenschutz/00626/00753/index.html
, besucht am 6. Dezember 2017). Danach weist Rumänien, das von den Beschwerdeführern als Beispiel angeführt wird, entgegen ihrer Auffassung ein angemessenes Datenschutzniveau für das Bearbeiten von Daten natürlicher Personen auf.
Insofern bieten die datenschutzrechtlichen Bestimmungen einen ausreichenden Schutz vor unbefugten Datenbearbeitungen und Zweckentfremdungen. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt (vgl. E. 7 hiervor), verfolgt die Vorratshaltung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs primär das Ziel, deren Vorhandensein für allfällige künftige Strafverfahren zu gewährleisten (Art. 1 i.V.m.
Art. 15 Abs. 3 BÜPF
). Dies ist für die betroffenen Personen bereits bei der Datenbeschaffung erkennbar (vgl. E. 6.2 hiervor). Es leuchtet daher nicht ein, inwiefern ein Verstoss gegen den Bearbeitungsgrundsatz der Zweckbindung vorliegen soll.
8.3.7
Neben den vorgenannten Schutzmassnahmen stehen den Beschwerdeführern zusätzlich verfahrensrechtliche Garantien zum Schutz vor unsachgemässen Datenbearbeitungen zu. Im Vordergrund steht dabei das Auskunftsrecht nach
Art. 8 DSG
. Danach kann jede Person vom Inhaber einer Datensammlung Auskunft darüber verlangen, ob Daten über sie bearbeitet werden (Abs. 1). Der Inhaber der Datensammlung muss der betroffenen Person alle über sie
BGE 144 I 126 S. 153
vorhandenen Daten einschliesslich der verfügbaren Angaben über die Herkunft der Daten (Abs. 2 lit. a) bzw. den Zweck und gegebenenfalls die Rechtsgrundlagen des Bearbeitens sowie die Kategorien der bearbeiteten Personendaten, der an der Sammlung Beteiligten und der Datenempfänger mitteilen (Abs. 2 lit. b).
Art. 9 DSG
zählt allerdings verschiedene Gründe für eine Einschränkung des Auskunftsrechts auf. Nach dessen Abs. 1 lit. a kann der Inhaber einer Datensammlung die Auskunft verweigern, einschränken oder aufschieben, wenn ein Gesetz im formellen Sinn dies vorsieht.
Die Fernmeldedienstanbieterinnen berufen sich auf diese Ausnahme, um die Bekanntgabe der streitbetroffenen Randdaten an die Beschwerdeführer zu verweigern. Zur Begründung führen sie aus, das nur die Daten der Rechnungsstellung umfassende fernmelderechtliche Auskunftsrecht (
Art. 45 FMG
i.V.m. Art. 81 f. der Verordnung vom 9. März 2007 über Fernmeldedienste [FDV; SR 784.101.1]) gehe als
lex specialis
Art. 8 DSG
vor. Dieser Argumentation kann indes nicht gefolgt werden. Die Fernmeldedienstanbieterinnen verkennen, dass der durch
Art. 13 BV
bzw.
Art. 8 EMRK
gewährleistete Anspruch auf Auskunft und Einsicht eine unentbehrliche Voraussetzung für die Verwirklichung des Schutzes der Privatsphäre darstellt (
BGE 138 I 6
E. 7.5.2 S. 38 mit Hinweis). In diesem Sinne dient das Auskunftsrecht nach
Art. 8 DSG
der Durchsetzung des Persönlichkeitsschutzes, indem es den betroffenen Personen ermöglichen soll, die über sie in einer Datensammlung bearbeiteten Daten zu kontrollieren mit dem Ziel, die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Grundsätze und Bestimmungen zu überprüfen und gegebenenfalls durchzusetzen (vgl. Botschaft vom 23. März 1988 zum Bundesgesetz über den Datenschutz, BBl 1988 II 413, 433 Ziff. 213.1;
BGE 138 III 425
E. 5.3 S. 431 f.). Dies bezwecken denn auch die Beschwerdeführer mit ihren Auskunftsbegehren. Letztere erschöpfen sich nicht in der Verfolgung eines mit der Erbringung von Fernmeldedienstleistungen verbundenen Anspruchs im Sinne des FMG. Vielmehr zielen sie darauf ab, alle über sie in den Datensammlungen der Fernmeldedienstanbieterinnen vorhandenen Daten im Sinne des BÜPF in Erfahrung zu bringen, um deren rechtmässige Bearbeitung zu überprüfen. Dass die in den Datensammlungen erfassten Randdaten der Telekommunikation über die blossen Daten zur Rechnungsstellung hinausgehen, räumen die Fernmeldedienstanbieterinnen denn auch selbst ein. Eingedenk der mit den Gesuchen der Beschwerdeführer verfolgten Zielsetzung bedeutete
BGE 144 I 126 S. 154
eine Beschränkung ihres Anspruchs auf das fernmelderechtliche Auskunftsrecht im Ergebnis, sie nicht nur der Möglichkeit zu berauben, die Einhaltung der materiellen Bestimmungen des Datenschutzes zu kontrollieren, sondern auch die Wahrnehmung ihrer übrigen Datenschutzrechte zu vereiteln (vgl.
BGE 140 V 464
E. 4.2 S. 465;
BGE 139 V 492
E. 3.2 S. 494;
BGE 125 II 473
E. 4b S. 476). Dazu gehören namentlich die Ansprüche gemäss
Art. 25 Abs. 1 DSG
. Danach kann bei Vorliegen eines schutzwürdigen Interesses vom verantwortlichen Bundesorgan verlangt werden, dass es das widerrechtliche Bearbeiten von Personendaten unterlässt (lit. a), die Folgen eines widerrechtlichen Bearbeitens beseitigt (lit. b), oder die Widerrechtlichkeit des Bearbeitens feststellt (lit. c). Ferner verleiht
Art. 25 Abs. 3 lit. a DSG
dem Gesuchsteller namentlich das Recht auf Berichtigung unrichtiger Daten (vgl. dazu ferner
Art. 5 Abs. 2 DSG
). Gegen Verfügungen über solche datenschutzrechtlichen Ansprüche steht den betroffenen Personen der Rechtsweg offen (vgl.
Art. 33 Abs. 1 DSG
), womit sie die Sache einer Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht zuführen können (vgl. JÖHRI, a.a.O., N. 39 zu
Art. 25 DSG
; MONIQUE STURNY, in: Datenschutzgesetz [DSG], 2015, N. 3 f. zu
Art. 33 DSG
).
Im hier zu beurteilenden Fall stellen diese Rechte einen wirksamen Grundrechtsschutz sicher, zumal sie die Möglichkeit eröffnen, eine rechtmässige Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten der Telekommunikation durch die Fernmeldedienstanbieterinnen gegebenenfalls auch gerichtlich durchzusetzen (vgl. EGMR-Urteil
Zubkov und andere gegen Russland
vom 7. November 2017 [Nr. 29431/05] § 129). Insofern geht es vorliegend nicht an, den Anspruch der Beschwerdeführer im Sinne einer Ausnahme nach
Art. 9 Abs. 1 lit. a DSG
auf die Daten der Rechnungsstellung zu verkürzen (vgl. dazu auch Erläuterungsbericht des Eidg. Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation [UVEK] vom 15. Oktober 2014 zur Revision von Verordnungen zum FMG, S. 9, wonach
Art. 81 Abs. 1 FDV
wie bis anhin nicht beabsichtige, etwaige weitergehende, datenschutzrechtliche Auskunftsrechte einzuschränken). Vielmehr können sie sich auf das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht gemäss
Art. 8 DSG
berufen, um alle Angaben in Erfahrung zu bringen, die sich auf ihre Person beziehen bzw. ihnen zugeordnet werden können (vgl. GRAMIGNA/MAURER-LAMBROU, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl. 2014, N. 23 zu
Art. 8 DSG
). Soweit die Fernmeldedienstanbieterinnen in
BGE 144 I 126 S. 155
diesem Zusammenhang befürchten, die Gesuchsteller könnten durch das Auskunftsrecht sensible Informationen über andere Benutzer ihrer Fernmeldeanschlüsse erhältlich machen, vermag ihr Einwand nicht zu überzeugen. Denn wird ein Auskunftsbegehren einzig zum Zweck gestellt, eine andere Person auszuforschen, erweist es sich als rechtsmissbräuchlich (
BGE 138 III 425
E. 5.5 S. 432; GRAMIGNA/MAURER-LAMBROU, a.a.O., N. 9 zu
Art. 9 DSG
). Ein solches Gebaren verdient von vornherein keinen Rechtsschutz, stellt es doch eine zweckwidrige Verwendung des Auskunftsrechts dar. Überdies ist mit dem EDÖB davon auszugehen, dass einer solchen Missbrauchsgefahr weitgehend mittels geeigneter, auf das jeweilige Kommunikationsmittel abgestimmter Authentifizierungsmassnahmen zur Eruierung des Benutzers eines Fernmeldeanschlusses begegnet werden kann. Inwiefern weitere Vorkehrungen zur Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes und des Fernmeldegeheimnisses von Drittpersonen ergriffen werden müssten, braucht hier nicht weiter geprüft zu werden.
8.3.8
Zur Durchsetzung einer rechtmässigen Datenbearbeitung durch die Bundesorgane steht den betroffenen Personen im Weiteren ein Anspruch auf Löschung bzw. Vernichtung zu (
Art. 25 Abs. 3 lit. a DSG
), der grundrechtlich geschützt ist (
BGE 126 I 7
E. 3c/aa S. 12). Voraussetzung dafür ist, dass die Daten vom verantwortlichen Bundesorgan überhaupt nicht bzw. nicht mehr bearbeitet werden dürfen (vgl. JAN BANGERT, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl. 2014, N. 58 zu Art. 25/25
bis
DSG; JÖHRI, a.a.O., N. 29 zu
Art. 25 DSG
; STURNY, a.a.O., N. 24 zu
Art. 25 DSG
). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Datenbearbeitung zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe nicht (mehr) erforderlich ist bzw. rechtmässig erhobene Daten zu lange aufbewahrt werden (vgl.
BGE 120 Ia 147
E. 2a S. 150; EGMR-Urteil
Zakharov gegen Russland
, § 255; MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 169; KIENER/KÄLIN, Grundrechte, 2. Aufl. 2013, S. 180; SCHWEIZER/RECHSTEINER: in: Datenschutzrecht, 2015, Rn. 2.39).
In seiner aktuellen Fassung sieht
Art. 15 Abs. 3 BÜPF
eine Aufbewahrungsdauer von sechs Monaten vor, weshalb die gespeicherten Randdaten der Telekommunikation nach deren Ablauf durch die Fernmeldedienstanbieterinnen (unwiderruflich) zu löschen sind, sofern nicht spezielle Rechtfertigungsgründe eine längere Aufbewahrung gebieten (z.B. wenn das Entgelt für eine Fernmeldedienstleistung
BGE 144 I 126 S. 156
im Sinne von
Art. 80 FDV
weiterhin geschuldet ist). Die Löschungsverpflichtung nach sechs Monaten geht denn auch aus den Materialien zum aBÜPF hervor (Botschaft vom 1. Juli 1998 zu den Bundesgesetzen betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs und über die verdeckte Ermittlung, BBl 1998 IV 4241, 4268 Ziff. 212.22), weshalb davon auszugehen ist, dass die Telekommunikationsranddaten zur Erfüllung der damit verfolgten Zwecke, insbesondere die Vorratshaltung im Hinblick auf ein allfälliges künftiges Strafverfahren, jedenfalls nach geltendem Recht nicht mehr erforderlich ist. Soweit die Beschwerdeführer unter Hinweis auf
BGE 139 IV 98
bezweifeln, dass die Telekommunikationsranddaten tatsächlich nach sechs Monaten gelöscht werden, kann ihnen nicht gefolgt werden. In diesem Urteil entschied das Bundesgericht zwar, dass bei Internetdelikten Art. 14 Abs. 4 aBÜPF, der keine zeitliche Befristung für die rückwirkende Datenerhebung enthält, als
lex specialis
dem
Art. 273 Abs. 3 StPO
vorgeht, der eine Auskunftserteilung bis sechs Monate rückwirkend vorsieht (vgl. E. 4.8 S. 101 f.). In
BGE 139 IV 195
sprach es sich jedoch aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre der Benutzer und Dritter, wie sie aus den Materialien zum neuen BÜPF hervorgehen, für die Einhaltung der Frist nach
Art. 273 Abs. 3 StPO
aus, der eine rückwirkende Überwachung für eine Dauer von höchstens sechs Monaten erlaubt (vgl. E. 2.3 S. 197 ff.). In diesem Sinne bestätigen die Fernmeldedienstanbieterinnen im vorliegenden Verfahren denn auch ausdrücklich, dass sie die gespeicherten Randdaten des Fernmeldeverkehrs nach sechs Monaten löschen.
8.3.9
Mit Blick auf die Aufbewahrungsdauer an sich bleibt anzumerken, dass die Aufklärung von Straftaten, welcher die Vorratshaltung von Randdaten der Telekommunikation in erster Linie dient, insbesondere im Bereich der Bekämpfung schwerer Delikte wie Terrorismus oder organisiertes Verbrechen, oft viel Zeit in Anspruch nimmt. Dabei handelt es sich ausserdem häufig um komplexe und umfangreiche Verfahren, in die viele Personen involviert sind (vgl. THOMAS HANSJAKOB, Die Vorratsdatenspeicherung in der Schweiz, Kriminalstatistik 1/2015 S. 56;
ders.
, BÜPF/VÜPF, Kommentar zum Bundesgesetz und zur Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, 2. Aufl. 2006, N. 22 zu
Art. 5 BÜPF
). Vor diesem Hintergrund erweist sich der Aufbewahrungszeitraum von sechs Monaten, während dem die Strafverfolgungsbehörden die strengen Anforderungen für die Anordnung einer rückwirkenden
BGE 144 I 126 S. 157
Überwachung nachzuweisen haben (vgl. E. 8.3.2 f. hiervor), nicht als unverhältnismässig lange bemessen. Dies gilt umso mehr, als der EGMR im Entscheid
Zakharov gegen Russland
die im russischen Recht vorgesehene sechsmonatige Aufbewahrungsfrist für (inhaltliche) Überwachungsdaten der Mobilfunkkommunikation als vernünftig bezeichnete (§ 255).
8.4
Bei einer gesamthaften Betrachtung trifft es zwar zu, dass bei der Vorratshaltung von Randdaten der Telekommunikation sehr grosse Mengen an Daten erfasst werden und die Speicherung und Aufbewahrung alle Benutzer von Fernmeldediensten gleichermassen trifft, ohne dass diese Personen konkret Anlass zur Strafverfolgung geboten hätten. Auch ist nicht auszuschliessen, dass bereits das Wissen um die Datenerfassung und -aufbewahrung geeignet ist, das Kommunikationsverhalten zu beeinflussen. Die Beschwerdeführer berufen sich insoweit zu Recht auf ihre konventions- und verfassungsrechtlich geschützten Grundrechtspositionen. Diesen Schutzanliegen stehen jedoch gewichtige, im Gemeinwohl liegende Interessen am Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der öffentlichen Gesundheit entgegen, welche die Vorratshaltung der Telekommunikationsranddaten zu wahren bezweckten. Ausserdem ist die Eingriffsintensität insoweit zu relativieren, als es sich bei den gespeicherten und aufbewahrten Informationen lediglich um mit dem Fernmeldeverkehr verbundene, äussere Daten handelt, die nicht den Inhalt der Kommunikation betreffen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer werden die Randdaten überdies auf der Stufe der Speicherung und Aufbewahrung bei den einzelnen Fernmeldedienstanbieterinnen weder gesichtet noch miteinander verknüpft, weshalb auch keine sensiblen Profile erstellt werden können. Die Strafverfolgungsbehörden haben keinen unmittelbaren und uneingeschränkten Zugriff darauf. Vielmehr müssen die qualifizierten, in der StPO festgelegten Voraussetzungen erfüllt werden, damit eine rückwirkende Überwachung des Fernmeldeverkehrs vorgenommen werden kann.
Schliesslich sehen die datenschutzrechtlichen Bestimmungen zahlreiche wirksame und angemessene Garantien zum Schutz vor Missbrauch und behördlicher Willkür vor, denen ein automatisches System der Datenerfassung naturgemäss ausgesetzt ist. Insoweit können in der hier zu beurteilenden Speicherung und Aufbewahrung von Randdaten des Fernmeldeverkehrs keine Vorkehren erblickt werden, mit denen der demokratische Rechtsstaat mit der Begründung, ihn
BGE 144 I 126 S. 158
zu verteidigen, untergraben oder gar zerstört würde. Unter Berücksichtigung, dass der EGMR den Konventionsstaaten im Rahmen von
Art. 8 EMRK
einen gewissen Ermessensspielraum zugesteht und er sich in seiner Rechtsprechung (noch) nicht einlässlich mit der Frage der Vorratshaltung von Randdaten der Telekommunikation befasst hat, erscheinen die Einschränkungen des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Anspruchs auf informationelle Selbstbestimmung nicht als unverhältnismässig. Kann mit anderen Worten nicht von vornherein auf die Konventionswidrigkeit des schweizerischen Systems der Vorratsdatenspeicherung geschlossen werden, überwiegen bei einer Gesamtwürdigung aufgrund des Vorerwähnten die öffentlichen Interessen an der Aufklärung von Straftaten bzw. an der Wahrung der öffentlichen Gesundheit die privaten Interessen der Beschwerdeführer an der Löschung resp. Unterlassung einer künftigen Speicherung ihrer Telekommunikationsranddaten.
Die Rüge der Verletzung von Grundrechten, insbesondere
Art. 8 EMRK
und
Art. 13 BV
, erweist sich somit als unbegründet. Die von den Beschwerdeführern angeführten Urteile ausländischer Verfassungsgerichte sowie die weiteren von ihnen beigebrachten Dokumente und Stellungnahmen vermögen an dieser Beurteilung nichts zu ändern. Da der Eingriff insoweit gerechtfertigt ist, bedarf es entgegen ihrer Auffassung überdies keiner Einwilligung in die Speicherung und Aufbewahrung der Randdaten ihres Fernmeldeverkehrs. | de |
516196f4-1b2f-4d0f-af1c-92e2089fe42a | Sachverhalt
ab Seite 80
BGE 124 I 80 S. 80
Ein bis heute unbekannter Täter verübte zwischen dem 17. März 1992 und dem 7. Dezember 1996 in der weiteren Region Zürich mindestens fünf schwere Sexualdelikte an 10- bis 13jährigen Mädchen. Auf der Grundlage von DNA-Analysen wurde festgestellt, dass es sich in allen fünf Fällen um den gleichen Täter handelte. Vom Täter wurden drei Robotbilder publiziert. X. gleicht einem der Robotbilder. Die Bezirksanwaltschaft Bülach verfügte deshalb am 26. November 1997, die Kantonspolizei Zürich habe von X. eine Speichelprobe
BGE 124 I 80 S. 81
abzunehmen. Im Falle einer Verweigerung durch X. habe ein Arzt eine Blutprobe abzunehmen. Über die Probe sei durch das Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich eine DNA-Analyse durchzuführen.
X. erhob gegen diese Verfügung Rekurs. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich wies den Rekurs mit Verfügung vom 13. Januar 1998 ab.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 17. Februar 1998 stellt X. den Antrag, die Verfügungen der Bezirksanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft seien aufzuheben.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Beschwerdeführer rügt, die angefochtene Verfügung verletze seine persönliche Freiheit. Sie verstosse auch gegen das Legalitätsprinzip, denn es fehle eine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung einer Blutprobe im Falle des Beschwerdeführers. Die Staatsanwaltschaft habe § 156 Abs. 1 der kantonalen Strafprozessordnung willkürlich angewendet.
b) Die Willkürrüge und die Rüge einer Verletzung des Legalitätsprinzips fallen mit der Rüge zusammen, das ungeschriebene verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit sei verletzt worden. Die Fragen, ob das kantonale Recht willkürlich angewendet worden ist und ob die Staatsanwaltschaft das Legalitätsprinzip verletzt habe, sind zusammen mit der Frage zu prüfen, ob für den umstrittenen Eingriff in ein verfassungsmässiges Recht des Beschwerdeführers eine gesetzliche Grundlage bestehe.
c) Die Blutentnahme stellt einen Eingriff in die körperliche Integrität und damit in das ungeschriebene verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit dar (
BGE 112 Ia 249
E. 3;
BGE 98 Ia 412
E. 4, je mit Hinweisen). Solche Eingriffe sind, werden sie zwangsweise durchgeführt, nur zulässig, wenn sie auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind. Zudem darf die persönliche Freiheit weder völlig unterdrückt noch ihres Gehaltes als Institution der Rechtsordnung entleert werden (
BGE 112 Ia 249
E. 3, mit Hinweisen). Ob das öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit mit Bezug auf eine bestimmte Massnahme gegeben sind, prüft das Bundesgericht mit freier Kognition. Dagegen untersucht es die Frage, ob eine Anordnung
BGE 124 I 80 S. 82
im kantonalen Recht eine genügende gesetzliche Grundlage finde, nur auf Willkür hin, ausser wenn ein schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit zur Diskussion steht (
BGE 122 I 360
E. 5b/bb, S. 363). Die Schwere eines Eingriffs beurteilt sich nach objektiven Kriterien. Nicht entscheidend ist, wie er vom Beschwerdeführer empfunden wird (Urteil des Bundesgerichts vom 19. Dezember 1995 i.S. M., publiziert in EuGRZ 1996 470, E. 2b).
d) Nach der nicht veröffentlichten Rechtsprechung des Bundesgerichts bedeutet die Blutentnahme nur einen leichten Eingriff in die persönliche Freiheit, sofern im konkreten Einzelfall keine aussergewöhnlichen gesundheitlichen Risiken bestehen. Das Bundesgericht prüft daher Auslegung und Anwendung der von der Staatsanwaltschaft angerufenen kantonalen Gesetzesbestimmung nur auf Willkür hin.
Die Staatsanwaltschaft findet die gesetzliche Grundlage für die umstrittene Blutentnahme in § 156 Abs. 1 des kantonalen Gesetzes vom 4. Mai 1919 betreffend den Strafprozess (Strafprozessordnung, StPO). Nach dieser Bestimmung darf der Angeschuldigte, wenn es die Umstände erfordern, einer körperlichen Durchsuchung und Untersuchung, nötigenfalls auch der Entnahme einer Blutprobe durch einen Arzt unterzogen werden. Das Bundesgericht erkannte in dem in EuGRZ 1996 470 veröffentlichten Entscheid vom 19. Dezember 1995 i.S. M.,
§ 156 Abs. 1 StPO
bilde eine genügende gesetzliche Grundlage, um dem wegen Sittlichkeitsdelikten verfolgten Angeschuldigten einige Haare für eine Untersuchung durch das Institut für Rechtsmedizin zu entnehmen. Entsprechend ist es auch nicht willkürlich, die Anordnung einer Blutprobe, ebenfalls wegen Sittlichkeitsdelikten, auf diese Bestimmung zu stützen.
Der Beschwerdeführer wendet ein, nach
§ 156 Abs. 1 StPO
dürfe nur Personen Blut entnommen werden, gegen welche konkrete Verdachtsmomente bestehen. Die Bestimmung genüge nicht, um die männliche Bevölkerung systematisch zu untersuchen. Der Beschwerdeführer übersieht bei seiner Argumentation, dass die kantonalen Behörden nicht wahllos die männliche Bevölkerung untersuchen, sondern dass gegen ihn ein konkretes Verdachtsmoment besteht: Er gleicht einem der drei veröffentlichten Robotbilder. Robotbilder sollen helfen, einen Straftäter allein aufgrund seines Aussehens zu finden. Wird eine Person allein wegen einer gewissen Ähnlichkeit mit einem Robotbild in eine Strafuntersuchung hineingezogen, so besteht gegen die Person regelmässig zunächst nur ein einziges Verdachtsmoment, nämlich die äussere Ähnlichkeit mit dem Robotbild.
BGE 124 I 80 S. 83
Wenn auch die Ähnlichkeit einer Person mit einem Robotbild wenig aussagekräftig ist und in keinem Fall eine strafrechtliche Verurteilung allein auf die Ähnlichkeit des Angeschuldigten mit einem Robotbild gestützt werden darf, so reicht doch dieses schwache Indiz aus, um gegen die Person weitere Untersuchungshandlungen wie beispielsweise eine Blutuntersuchung durchzuführen. Wäre es anders, müssten die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich auf Robotbilder verzichten, weil sie in keinem Fall aufgrund der Ähnlichkeit einer Person mit einem Robotbild weitere Untersuchungen anstellen dürften.
§ 156 Abs. 1 StPO
ist somit auch auf den Beschwerdeführer anwendbar, gegen welchen ein einziges, wenig aussagekräftiges, aber trotzdem genügendes Verdachtsmoment besteht. Unwesentlich ist in diesem Zusammenhang, ob der Beschwerdeführer für eine der Tatzeiten ein Alibi nennen kann; mehrere Jahre nach den Taten dürfte ein solches auch kaum mehr überprüfbar sein. Hingegen muss sich der Beschwerdeführer über seine Ähnlichkeit mit einem der Robotbilder hinaus entgegenhalten lassen, dass er sich geweigert hatte, eine Speichelprobe abzugeben, womit er die Blutentnahme hätte vermeiden können. Die Rüge des Beschwerdeführers, für den umstrittenen Eingriff in die persönliche Freiheit fehle es an einer rechtsgenügenden gesetzlichen Grundlage, ist somit unbegründet.
e) Der Beschwerdeführer rügt weiter, für die umstrittene Blutentnahme fehle ein öffentliches Interesse, und ausserdem sei sie auch unverhältnismässig. Der Beschwerdeführer weist jedoch selbst auf das grosse öffentliche Interesse hin, das an der Aufklärung von mehreren durch einen einzigen Täter verübten schweren Sexualdelikten besteht. Insoweit ist auch diese Rüge unbegründet.
Es trifft hingegen zu, dass gegen den Beschwerdeführer bis heute nur ein einziges Indiz von schwacher Aussagekraft bekannt ist, eben seine Ähnlichkeit mit einem der Robotbilder. Deshalb ist in diesem Zusammenhang auch nur ein leichter Eingriff in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers verhältnismässig. Die kantonalen Behörden müssen daher die Blutprobe so durchführen, dass die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers möglichst wenig berührt wird. Für den Fall eines negativen Ergebnisses müssen alle weiteren möglichen Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit des Beschwerdeführers aufgrund der einmal durchgeführten Blutprobe vermieden werden. Für die Strafverfolgungsbehörden gelten deshalb die gleichen Regeln, wie sie das Bundesgericht für die Behandlung erkennungsdienstlicher Unterlagen aufgestellt hat.
BGE 124 I 80 S. 84
Gemäss
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
wird bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld vermutet, dass der wegen einer strafrechtlichen Handlung Angeklagte unschuldig ist. In
BGE 120 Ia 147
E. 3 erkannte das Bundesgericht, auch die Aufbewahrung erkennungsdienstlichen Materials könne gegen die Unschuldsvermutung verstossen, wenn die Behörden damit ausdrücken, die betroffene Person sei doch schuldig, obwohl sie freigesprochen oder das Strafverfahren eingestellt worden sei. Erkennungsdienstliches Material muss daher in der Regel vernichtet werden, wenn die Person, auf welche sich das Material bezieht, freigesprochen wird oder wenn das Strafverfahren, in welchem das Material erhoben wurde, eingestellt wird. Aufgrund erkennungsdienstlicher Unterlagen, vor allem aber von Fotografien (um welche es im erwähnten
BGE 120 Ia 147
ging) kann eine Person nicht eindeutig identifiziert werden. Bewahren die Strafverfolgungsbehörden solches Material auf, muss die betroffene Person damit rechnen, immer wieder wegen einer blossen Ähnlichkeit in Strafverfolgungen hineingezogen zu werden. Demgegenüber wird nach den Angaben der kantonalen Behörden eine Person durch die Ergebnisse der DNA-Analyse eindeutig identifiziert, weshalb es wenig wahrscheinlich ist, dass eine Person allein aufgrund der Ergebnisse der DNA-Analyse trotz ihrer Unschuld einen Verdacht auf sich zieht. Ganz ausgeschlossen ist diese Möglichkeit aber nicht, denn bei einer langen Aufbewahrungszeit steigt die Gefahr von Verwechslungen und Verfälschungen der Daten. Sollte sich im vorliegenden Fall ergeben, dass der Beschwerdeführer als Täter ausgeschlossen werden kann, so haben die kantonalen Strafverfolgungsbehörden die Blutprobe (oder gegebenenfalls die Speichelprobe) und die Ergebnisse der DNA-Analyse zu vernichten. Kommen die kantonalen Behörden dieser Pflicht nach, so erweist sich die Blutprobe als verhältnismässig, da der Beschwerdeführer - sofern er als Täter ausgeschlossen wird - mit keinem über die Blutprobe selbst hinausgehenden Eingriff in seine persönliche Freiheit rechnen muss. Seine Rüge der Unverhältnismässigkeit erweist sich deshalb als unbegründet. | de |
65c0bdc5-864d-4e43-9b58-7066319a0809 | Sachverhalt
ab Seite 92
BGE 144 II 91 S. 92
A.
Die Stiftung Greenpeace Schweiz (nachfolgend: Greenpeace) ersuchte das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) am 14. November 2014 gestützt auf das Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz, BGÖ; SR 152.3) um Zugang zu den Abluftdaten am Kamin des Kernkraftwerks Leibstadt (nachfolgend: KKL) für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis 1. November 2014. Sie verlangte insbesondere, dass ihr die sog. EMI-Daten (Edelgase, Aerosole, Jod bei der Normalbetriebsinstrumentierung und Edelgase bei der Störfallbetriebsinstrumentierung) in einem lesbaren Format bekanntgegeben werden.
Das ENSI teilte Greenpeace mit Schreiben vom 23. Dezember 2014 mit, es könne dem Gesuch nicht entsprechen, da man nicht mehr über
BGE 144 II 91 S. 93
die nachgesuchten Daten verfüge und die Betreiberin des KKL, die Kernkraftwerk Leibstadt AG, dem Ersuchen des ENSI, diese Daten noch einmal zu übermitteln, nicht nachgekommen sei.
B.
Nachdem Greenpeace beim Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) einen Schlichtungsantrag gestellt hatte, regte dieser mit Empfehlung vom 5. Oktober 2015 an, das ENSI solle sich die im Gesuch genannten Abluftdaten wiederbeschaffen und Greenpeace den Zugang dazu gewähren. Ausserdem solle es die Emissionsdaten der Kaminabluft von Kernkraftwerken gestützt auf Art. 19 der Verordnung vom 24. Mai 2006 über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (VBGÖ; SR 152.31) auf seiner Website publizieren.
C.
Die Kernkraftwerk Leibstadt AG verlangte daraufhin vom ENSI den Erlass einer Verfügung im Sinne von
Art. 15 BGÖ | de |
59b27714-647b-40ca-913c-f05d29596ec9 | Sachverhalt
ab Seite 216
BGE 108 II 216 S. 216
A.-
Josef Müller liess am 28. Dezember 1949 die Wortmarke "LESS" in das schweizerische Register eintragen und sie am 31. Oktober 1969 unter Nr. 242 534 erneuern. Die Marke ist für den Gebrauch auf pharmazeutischen Produkten bestimmt; sie wird insbesondere für eine Rheumasalbe verwendet, die von der Joseph Müller AG vertrieben wird.
BGE 108 II 216 S. 217
Das Zeichen "EES" ist zugunsten der Abbott AG, Zug, am 6. April 1979 unter Nr. 300 556 registriert worden. Es ist ebenfalls für pharmazeutische Erzeugnisse bestimmt.
B.-
Im Dezember 1980 klagte die Joseph Müller AG gegen die Abbott AG mit den Begehren, die CH-Marke 300 556 "EES" ungültig zu erklären, sie im Register löschen zu lassen und der Beklagten den Gebrauch des Zeichens für pharmazeutische Produkte bei Strafe zu verbieten.
Die Beklagte widersetzte sich diesen Begehren und erhob Widerklage mit den Anträgen, die Nichtigkeit der Marke "LESS" festzustellen und deren Löschung anzuordnen.
Mit Urteil vom 19. März 1982 wies das Kantonsgericht des Kantons Zug die Klage ab und stellte in Gutheissung der Widerklage fest, dass die Marke Nr. 242 534 "LESS" nichtig und deshalb im Register zu löschen sei.
C.-
Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingereicht mit den Anträgen, es aufzuheben, ihre Rechtsbegehren gutzuheissen und auf die Widerklage nicht einzutreten.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt das angefochtene Urteil. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Klägerin beantragt dem Bundesgericht, auf die Widerklage nicht einzutreten, weil die Marke "LESS" nicht auf ihren Namen, sondern auf Josef Müller persönlich eingetragen sei; sie sei folglich nicht passivlegitimiert. Im kantonalen Verfahren hat sie weder derartiges behauptet noch einen solchen Antrag gestellt. Im Berufungsverfahren sind aber sowohl neue Begehren wie neue tatsächliche Vorbringen und neue Einreden ausgeschlossen (
Art. 55 Abs. 1 lit. b und c OG
). Nach der Rechtsprechung sind Aktiv- und Passivlegitimation als materiellrechtliche Voraussetzungen des eingeklagten Anspruchs freilich von Amtes wegen zu prüfen. Das gilt jedoch nur für die Rechtsanwendung, nicht für den ihr zugrundeliegenden Sachverhalt (
BGE 107 II 85
E. 2a mit Hinweisen; KUMMER in ZBJV 112/1976 S. 166; LEUCH, N. 8 zu
Art. 192 ZPO
/BE). Diese Unterscheidung ist vorliegend von Belang.
a) Das Kantonsgericht stellt gestützt auf Angaben der Klageschrift fest, die Klägerin habe die Marke "LESS" 1949 eintragen und 1969 erneuern lassen. Entgegen der Annahme der Beklagten
BGE 108 II 216 S. 218
ist das Bundesgericht an diese Feststellung nicht gebunden, lauten die bei den Akten liegenden Registerauszüge doch auf Josef Müller persönlich. Es handelt sich um ein offensichtliches Versehen, das gemäss
Art. 63 Abs. 2 OG
zu berichtigen ist.
Der Registereintrag muss indes nicht mit dem materiellen Recht an der Marke übereinstimmen (
BGE 99 Ib 341
,
BGE 83 II 333
). Er schliesst namentlich nicht aus, dass die Marke mit dem Geschäftsbetrieb auf die Klägerin übertragen worden ist, was formlos und auch ohne Registereintrag geschehen kann (TROLLER, Immaterialgüterrecht II. S. 932 und 976 sowie I. S. 602 ff.). Die Klägerin hat sich im kantonalen Verfahren denn auch wiederholt und unwidersprochen als Inhaberin der Marke ausgegeben und geht selbst im Berufungsverfahren davon aus.
Wenn der Registereintrag und die Berechtigung zum Gebrauch der Marke in dieser Weise auseinanderfallen, rechtfertigt es sich, die Nichtigkeitsklage gegen den Benützer der Marke ebenfalls zuzulassen, wie dies TROLLER (a.a.O. II. S. 1163 und I. S. 601) in Analogie zu
Art. 33 PatG
befürwortet. Dem entspricht auch die Rechtslage bei der Aktivlegitimation für die Markenverletzungsklage (
Art. 27 Ziff. 1 MSchG
; TROLLER, a.a.O. II. S. 1153). Die Klägerin schweigt sich darüber aus, weshalb sie ihre Passivlegitimation für die Widerklage bestreitet, aber an ihrer Aktivlegitimation zur Hauptklage festhält, die erste Legitimation materiellrechtlich also anders beurteilt wissen will als die zweite. Eine solche Unterscheidung entbehrt jedoch der Rechtfertigung und ist daher zu vermeiden, zumal nach ständiger Rechtsprechung jedermann, der ein schutzwürdiges Interesse hat, sich klage- oder einredeweise auf die Nichtigkeit einer Marke berufen kann (
BGE 99 II 112
E. 5 mit Hinweisen).
b) Die Einrede der fehlenden Passivlegitimation müsste übrigens als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen werden, weil sie nicht nur den eigenen Vorbringen der Klägerin im kantonalen Verfahren, sondern auch dem Umstand widerspricht, dass die Klägerin selbst, nicht Josef Müller, mit ihrer Klage den Markenschutz beansprucht. So oder anders werden zudem keine persönlichen Interessen des Josef Müller am Bestand der Marke verletzt, weil Müller alleiniger Verwaltungsrat der Klägerin ist und an der vorinstanzlichen Hauptverhandlung als solcher teilgenommen hat, sich die Art der Prozessführung durch die Klägerin also ohnehin entgegenhalten lassen muss.
2.
Das Kantonsgericht geht zutreffend davon aus, dass als
BGE 108 II 216 S. 219
Gemeingut anzusehende Zeichen den gesetzlichen Schutz nicht geniessen und dass Marken, die dem widersprechen, nichtig sind (
Art. 3 Abs. 2 und 14 Ziff. 2 MSchG
;
BGE 103 II 342
f.). Beizupflichten ist ihm auch darin, dass das namentlich gilt für Hinweise auf Eigenschaften, die Beschaffenheit oder den Zweck des Erzeugnisses, für welches die Marke bestimmt ist (
BGE 106 II 246
, 103 II 343). Die Klägerin wendet dagegen mit Recht nichts ein.
a) Die Vorinstanz findet, die Marke "LESS" sei keine Phantasiebezeichnung, sondern bestehe aus einem englischen Wort, das mit "weniger" zu übersetzen sei. Dass jeder Käufer der damit versehenen Rheumasalbe das wisse oder leicht erkenne, sei nicht erforderlich; ein grosser Teil der schweizerischen Käufer werde dank seiner Englischkenntnisse die Bezeichnung "LESS" für eine solche Salbe sofort mit der Vorstellung "weniger Schmerzen" verbinden. Diese Vorstellung werde durch die entsprechenden Hinweise im Zettel, welcher der Packung beiliege, noch gefördert und komme daher einer verkappten Werbung für besondere Eigenschaften der Ware gleich. Was in
BGE 103 II 342
zur Marke "more" (= mehr) gesagt worden sei, müsse auch für das Zeichen "LESS" gelten.
Die Klägerin hält daran fest, dass das englische Wort "less" für den schweizerischen Sprachraum eine reine Phantasiebezeichnung sei, zumal es nach der Rechtsprechung auf den Eindruck des Durchschnittskäufers ankomme. Was zur Marke "more" ausgeführt worden sei, lasse sich nicht auf "less" übertragen, da dieses Wort bei angelernten Englischkenntnissen weniger geläufig sei. Weshalb für "less" im vornherein etwas anderes gelten soll als für "more", ist indes nicht zu ersehen. Die Rechtsprechung setzt ja bei der schweizerischen Kundschaft beträchtliche Englischkenntnisse voraus; in diesem Sinne hat das Bundesgericht z.B. Wörter wie "foam", "discotable", "top set", "ever fresh" und "Clip" als Sachbezeichnungen bzw. als beschreibender Natur gewürdigt und daher als Marken abgelehnt (
BGE 104 Ib 66
,
BGE 99 Ib 24
,
BGE 97 I 82
,
BGE 91 I 358
,
BGE 80 II 176
). Richtig ist dagegen, dass das Wort "more" für sich allein, gleichviel ob es auf die Qualität oder die Wirkung einer Ware bezogen wird, eher für die Werbung taugt als der Ausdruck "less", wozu es schon einer gedanklichen Verbindung mit "weniger Schmerzen" oder dergleichen bedarf. Entscheidend ist daher, ob beim Durchschnittskäufer eine solche Verbindung entstehen kann, wenn "less" als Marke einer Rheumasalbe verwendet wird.
Das Kantonsgericht bejaht diese Frage. Die Klägerin erblickt
BGE 108 II 216 S. 220
darin eine willkürliche, durch nichts erhärtete und mit keiner Erfahrung unterstellbare Annahme. Sie behauptet, ihre eigenen Umfragen hätten das Gegenteil ergeben, und beanstandet, dass darüber nicht Beweis erhoben worden ist. Die Beklagte meint hingegen, es handle sich um eine tatsächliche Feststellung, die das Bundesgericht binde. Sie irrt. Die Annahme des Kantonsgerichts stützt sich nicht auf Beweiserhebung über die Auffassung eines bestimmten Abnehmerkreises, sondern ausschliesslich auf die allgemeine Lebenserfahrung; sie kann daher vom Bundesgericht frei überprüft werden (
BGE 107 II 274
/75 mit Hinweisen).
b) Die Klägerin beruft sich auf das Urteil des Supreme Court of Victoria (Australien) vom 31. Juli 1979, wonach "less" für sich allein keine Beziehung zum Charakter oder zur Qualität einer Ware herstelle. Die Beklagte stützt sich dagegen auf den letztinstanzlichen Entscheid des High Court of Australia vom 9. August 1980, der dieses Urteil aufgehoben und das Wort "less" für ein pharmazeutisches Produkt als beschreibend von der Eintragung ausgeschlossen hat. Daraus kann für die hier streitige Marke nichts Entscheidendes abgeleitet werden. Zu bemerken ist immerhin, dass die letzte Instanz das Wort vor allem auf das vom Produkt benötigte Quantum bezogen wissen wollte. Wie nahe eine solche oder andere Beziehung liegt, hängt aber nicht von der verwendeten Sprache ab.
Die Klägerin will berücksichtigt wissen, dass ihre Marke auch für andere pharmazeutische Produkte bestimmt und eingetragen sei; das Kantonsgericht gehe über diese entscheidende Tatsache willkürlich hinweg, wenn es sich auf die Rheumasalbe beschränke und gar noch den Beipackzettel in Betracht ziehe; davon abgesehen handle es sich um eine Rheuma-Heilsalbe, nicht um ein Anti-Schmerzmittel. Das eine wie das andere ist unerheblich. Eine Bezeichnung ist schon dann Gemeingut, wenn sie für einen Teil der beanspruchten Waren beschreibenden Charakter hat. Und dass es um eine Heilsalbe geht, ändert nichts am Eindruck auf die Käufer, die zwischen Heilung und Schmerzen zweifellos keinen Unterschied machen.
c) Die Auffassung des Kantonsgerichts, das Zeichen "LESS" bestehe aus einem Begriff des Gemeingebrauchs und dürfe deshalb nicht als Marke eingetragen werden, ist somit im Ergebnis nicht zu beanstanden. Sie entspricht ständiger Rechtsprechung, wonach fremdsprachige Ausdrücke oder Wortbestandteile eine Marke ebenfalls zum Gemeingut machen können (
BGE 103 II 343
mit
BGE 108 II 216 S. 221
Hinweisen). Wer den Sinn des englischen Wortes "less" erkennt, wird aber als Käufer einer Rheumasalbe sofort nach einer Beziehung zur Ware suchen und ohne besondere Gedankenarbeit auf weniger Schmerzen schliessen, mag die Umsetzung in eine Eigenschaft des Erzeugnisses auch nicht so offensichtlich sein wie bei "more" oder ähnlichen Beispielen. | de |
1a8df358-b3c3-4371-9f2d-26a0d44e15ff | Sachverhalt
ab Seite 62
BGE 92 II 62 S. 62
A.-
Die Erben des Franz Anton Küttel-Pfyl sind Eigentümer eines landwirtschaftlichen Grundstücks in Seewen. Sie stellten beim Gemeinderat Schwyz das Gesuch um Einräumung
BGE 92 II 62 S. 63
eines Notfahrwegrechts über die benachbarten Grundstücke des Alois Küttel-Herger. Dieser widersetzte sich dem Begehren, doch entsprach die angerufene Behörde dem Gesuch und traf die näheren Anordnungen betreffend Wegbreite, Tragung der Errichtungs- und Unterhaltskosten, Stützmauer, Wegvermessung und Vormerkung im Grundbuch. Die Beschwerde des Gesuchsgegners an den Regierungsrat des Kantons Schwyz hatte in der Hauptsache keinen Erfolg. Der Regierungsrat änderte nur die Tragung des Unterhaltsaufwandes; im übrigen bestätigte er den erstinstanzlichen Entscheid.
B.-
Mit vorliegender Berufung an das Bundesgericht beantragt der Gesuchsgegner neuerdings die vollständige Abweisung des Gesuchsbegehrens. Den Streitwert bemisst er auf Fr. 15'000.--.
Der Antrag der Gesuchsteller geht auf Abweisung der Berufung, soweit darauf einzutreten sei. Zur Streitwertangabe bemerken sie was folgt: "Es ist unbestritten, dass der Streitwert für die Appellatschaft über Fr. 15'000.-- liegt. Für den Appellanten kann von einem derartigen Streitwert jedoch nicht gesprochen werden...".
C.-
Der Präsident der II. Zivilabteilung liess den Streitwert durch einen Sachverständigen feststellen. Dessen Bericht vom 16. März geht im wesentlichen dahin:
a) Die Grundstücke des Gesuchsgegners (Vermessungsparzelle Nr. 264) sind auf der in Frage stehenden Wegstrecke bereits mit andern Rechten belastet, die indessen nur einen geringen Ertragsausfall bewirken. Das von den Gesuchstellern beanspruchte Notfahrwegrecht bringt für den Gesuchsgegner folgende Nachteile mit sich:
Landverlust Fr. 340.--
" 120.--
Inkonvenienzen " 540.--
Nachteil der beschränkten Benützung von Auto-
abstellplätzen " 2000.--
"Total der Nachteile des Alois Küttel-Herger " Fr. 3000.--
b) Die Gesuchsteller ihrerseits ziehen aus dem beanspruchten Notfahrwegrecht einen Vorteil, der in seinem Nettowert zu berücksichtigen ist; denn nach dem Entscheid des Regierungsrates fällt der ganze Unterhaltsaufwand zu ihren Lasten. Der
BGE 92 II 62 S. 64
Weg wird nicht mit Schwerfahrzeugen befahren werden können, da seine Breite nur auf 2 bis 2,5 m festgesetzt ist und er im obern Teil gegen die Einmündung in die Kantonsstrasse eine Steigung von über 20% aufweist. Das Benutzungsrecht ist also beschränkt. Der jährliche Nutzwert kann auf Fr. 200. - bemessen werden. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1 - 2. - Über den Streitwert enthalten die kantonalen Akten und Entscheide keine zuverlässigen Angaben. Solche liegen namentlich nicht in den Bemerkungen des Regierungsrates betreffend die Kosten, die für ein praktisch nicht ausführbares Projekt aufzuwenden wären.
Die Parteien selber sind sich zwar zum Teil über die Bewertung des Streitgegenstandes einig. Beide bemessen in Berufungsschrift und Berufungsantwort die Vorteile des beanspruchten Notfahrwegrechtes für die Gesuchsteller auf mindestens Fr. 15'000.--. Indessen halten die Gesuchsteller (Berufungsbeklagten) dafür, es komme auf das Interesse des Gesuchsgegners (Berufungsklägers), also auf die ihm aus der streitigen Rechtseinräumung erwachsenden Nachteile an. Diese seien aber sehr gering; es möge darüber das kantonale Meliorationsamt befragt werden.
Bei Klagen, die nicht auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme gehen, hat das Bundesgericht nach dem geltenden Gesetz (
Art. 36 Abs. 2 OG
) nicht einfach (wie nach Art. 53 Abs. 3 des früheren OG) auf die übereinstimmenden Angaben der Parteien abzustellen. Es hat den Streitwert "von Amtes wegen auf summarischem Weg nach freiem Ermessen, nötigenfalls nach Befragung eines Sachverständigen" festzustellen (s. die Botschaft zum Gesetzesentwurf, BBl 1943 S. 114: Die neue Vorschrift will namentlich vermeiden, "dass durch eine die Wirklichkeit übersteigende Schätzung des Streitwertes, über die beide Parteien einig sind, die bundesgerichtliche Zuständigkeit begründet werden könne"). Im vorliegenden Fall war die Einholung eines Schätzungsbefundes angezeigt, einerseits, weil die Gesuchsteller die vom Gesuchsgegner zu gewärtigenden Nachteile gering einschätzen, und anderseits, weil die übereinstimmende Bewertung der Vorteile der streitigen
BGE 92 II 62 S. 65
Rechtseinräumung für die Gesuchsteller nicht als zuverlässig erschien.
3.
Nach
Art. 36 Abs. 1 OG
wird der Wert des Streitgegenstandes durch das klägerische Rechtsbegehren bestimmt. Das bedeutet nicht etwa, es sei nur das Interesse des Klägers an der Zusprechung, nicht auch das allenfalls nicht gleich zu bewertende Interesse des Beklagten an der Abweisung der Klage zu berücksichtigen. Immerhin fällt vorweg das Interesse des Klägers in Betracht. Kläger sind aber hier die Gesuchsteller, welche für sich ein Notfahrwegrecht beanspruchen. Ihr Interesse ist daher auch in der bundesgerichtlichen Instanz bei der Streitwertbemessung zu berücksichtigen. Der Umstand, dass der kantonale Entscheid zu ihren Gunsten ausfiel und sie infolgedessen in der Rolle der Berufungsbeklagten auftreten, spielt in dieser Hinsicht keine Rolle. Nach dem auf zutreffenden Überlegungen beruhenden Sachverständigenbefund erreicht nun aber dieses Interesse nicht den von den Parteien angegebenen Betrag von Fr. 15'000.--; ja es bleibt unter dem nach
Art. 46 OG
erforderlichen Betrag von Fr. 8000. -. Denn der jährliche Nutzen von Fr. 200.-- ergibt nach
Art. 36 Abs. 5 OG
einen Kapitalwert von bloss Fr. 4000.--.
4.
Die Eigenart der Streitsache bringt es allerdings mit sich, dass unabhängig vom Interesse der Gesuchsteller an der Zusprechung ihres Begehrens auch das Interesse des Gesuchsgegners an dessen Abweisung in Betracht fällt. Es würde also für die Anrufung des Bundesgerichts genügen, dass das eine oder das andere Interesse den nach
Art. 46 OG
erforderlichen Betrag erreicht. Zwar enthält
Art. 36 OG
keine besondere Bestimmung über den Wert einer Grunddienstbarkeit (oder einer nachbarrechtlichen Eigentumsbeschränkung), wie sie etwa in Art. 138 Abs. 4 der bernischen ZPO zu finden ist, und wonach zunächst der Wert eines solchen Rechts für das herrschende Grundstück in Betracht fällt, dann aber, "wenn der Betrag, um welchen sich der Wert des dienenden Grundstücks durch die Dienstbarkeit mindert, grösser ist", dieser zweite Betrag. Die Rechtsprechung hat jedoch diese sich aus der Natur der Sache ergebende Art der Streitwertberechnung auch beim Fehlen einer ausdrücklichen Vorschrift anerkannt (vgl.
BGE 45 II 406
oben,
BGE 81 II 193
Erw. 1,
BGE 82 II 123
unten). Nur dann, wenn die bei Errichtung der streitigen Grunddienstbarkeit zu erwartende Werterhöhung des herrschenden Grundstücks den erforderlichen
BGE 92 II 62 S. 66
Streitwert bereits erreicht, kann die dem dienenden Grundstück erwachsende Wertverminderung ungeprüft bleiben (so im Falle von
BGE 84 II 617
).
Die Nachteile, die sich für den Gesuchsgegner bei Einräumung des streitigen Rechts an die Gesuchsteller ergeben, sind nun zwar nach dem Sachverständigenbefund nicht unbeträchtlich. Sie erreichen aber den Wertbetrag von Fr. 8000. - ebenfalls bei weitem nicht; der Experte schätzt sie auf Fr. 3000.--.
5.
Die Vorteile des herrschenden und die Nachteile des dienenden Grundstücks sind nicht zusammenzurechnen. sondern bloss alternativ zu berücksichtigen. Wie dargetan, erreicht weder der eine noch der andere Betrag den nach
Art. 46 OG
erforderlichen Streitwert. Übrigens bliebe selbst ihre Summe unter Fr. 8000.--. | de |
13ade72c-ec8d-402a-8ce5-7d5304893552 | Erwägungen
ab Seite 468
BGE 90 II 467 S. 468
Aus den Erwägungen:
3.
Bei der güterrechtlichen Auseinandersetzung der unter dem Güterstand der Güterverbindung lebenden Parteien ist die Berechnung des Vorschlages umstritten. Die Beklagte fordert einen die zugesprochenen Fr. 92 367.-- übersteigenden Vorschlagsanteil. Sie beanstandet am Entscheid der Vorinstanz insbesondere, die Aktien der J. Huber u. Cie. AG. und das Rückkaufsrecht daran seien zu tief bewertet und damit bundesrechtliche Beweisvorschriften verletzt worden.
a) Das Obergericht hat die Aktien der J. Huber u. Cie. AG. ausgehend von der Verkehrswertschätzung der Steuerverwaltung von Fr. 1700.-- "ex aequo et bono" mit Fr. 2200.-- bewertet. Diese Schätzung ist nach den eigenen Ausführungen der Vorinstanz ohne "wirkliche Abklärung der für die Bewertung massgebenden Grundlagen" erfolgt. Der Verzicht des Gerichtes, die Bewertungsgrundlagen wirklich abzuklären, verstösst gegen Bundesrecht, wenn die Beklagte mit ihren Sachvorbringen nicht zum Beweise zugelassen und der von ihr prozesskonform angebotene, erhebliche Beweise verworfen wurde. (s.
BGE 86 II 301
/302,
BGE 88 II 190
und dort zitierte Entscheide; BIRCHMEIER, Handbuch zum OG, S. 93; ferner KUMMER, Kommentar, N. 76 zu
Art. 8 ZGB
). Die Beklagte verfügt über keine
BGE 90 II 467 S. 469
Beweismittel, ihre Behauptungen darzutun, den gescheiterten und seiner Natur nach ungeeigneten Zeugenbeweis ausgenommen. Sie beruft sich aber auf die in Händen des Klägers oder der ihm nahestehenden Aktiengesellschaft befindlichen Bücher und Belege und macht geltend, deren Edition ermögliche eine genaue Bewertung der Aktien durch das Gericht oder einen Sachverständigen.
b) Die von der Beklagten beantragte Edition von Urkunden betrifft das Beweisverfahren. Dieses wird auch in Ehesachen grundsätzlich vom kantonalen Prozessrecht bestimmt. Vorbehalten bleiben aber neben ausdrücklichen Vorschriften des ZGB über das Verfahren vor kantonalen Gerichten (wie
Art. 158 ZGB
) solche Prozessvorschriften, die in den privatrechtlichen Bestimmungen des ZGB implicite enthalten sind. Dabei muss es sich um Rechtssätze handeln, die der Verwirklichung des Privatrechts dienen.
In der Güterverbindung ist der Ehemann während der Dauer der Ehe nicht gehalten, der Ehefrau schlüssige Auskünfte über das eheliche Vermögen zu erteilen, soweit es nicht um ihr eingebrachtes Gut geht (LEMP, N. 9 zu Art. 205 und N. 7 zu 214 ZGB). Sie hat keinen Anspruch auf Aushändigung entsprechender Dokumente und Unterlagen, und sie würde pflichtwidrig handeln, wenn sie sich gegen den Willen des Mannes derartige Beweismittel aneignete. Kommt es zum Scheidungsprozess und der damit verbundenen güterrechtlichen Auseinandersetzung, so fehlen ihr regelmässig jegliche Beweise, um Höhe und Umfang des ehelichen Vermögens, soweit es zur Vorschlagsberechnung herbeizuziehen ist, darzutun. Ihr Recht auf eine sachgemässe Auseinandersetzung bleibt allein dann gewahrt, wenn man eine Pflicht des Ehemannes annimmt, über das eheliche Vermögen Rechnung abzulegen und über einzelne Positionen Auskunft zu geben (LEMP, N. 3 zu
Art. 205 ZGB
). Aus diesem materiellrechtlichen Anspruch auf Auskunft geht der ungeschriebene, zu seiner Verwirklichung jedoch notwendige Satz des Bundesrechts hervor, der Ehemann habe - unabhängig von den Regeln des kantonalen
BGE 90 II 467 S. 470
Prozessrechtes - im Scheidungsprozess Auskunft über das von ihm verwaltete eheliche Vermögen zu geben und die gemachten Angaben zu belegen (Bundesgerichtsentscheide vom 11. April 1957 i.S. Fonio c. Kellenberger S. 11 und vom 15. März 1962 i.S. L. c. V. betreffend Vorschlagsberechnung, S. 27; vgl. ferner ZR 1942 No. 87).
Im vorliegenden Fall hat der Kläger dementsprechend alle Urkunden, die sich in seiner tatsächlichen Gewalt befinden, dem Gerichte einzureichen, soweit deren Vorlage von der Beklagten in den Formen des aargauischen Prozessrechtes begehrt worden ist.
c) Die den Kläger treffende Auskunftspflicht erstreckt sich auch auf die J. Huber u. Cie. AG., die von ihm, nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz, "rechtlich und faktisch weitgehend beherrscht wird". Nichts Gegenteiliges ergibt sich daraus, dass das Obergericht in dieser Frage einen Prozessentscheid gefällt und erklärt hat, die Beklagte habe es unterlassen, zu ihren Editionsbegehren vom 29. Oktober 1959 gegen die J. Huber u. Cie. AG. einen Zwischenentscheid des erstinstanzlichen Gerichtes zu erwirken und diesen allenfalls mit selbständiger Beschwerde weiterzuziehen. Nachdem die Beklagte ihre Editionsbegehren formell und inhaltlich dem kantonalen Prozessrecht entsprechend eingereicht hat, muss sie zum Beweis zugelassen werden. Das Vorgehen des Obergerichtes, von der Beklagten zu verlangen, sie hätte die säumige erste Instanz zu einem Zwischenentscheid noch besonders auffordern müssen, nachdem sie die Editionsbegehren ordnungsgemäss eingereicht hatte, läuft daraus hinaus, der Beklagten den ihr obliegenden Beweis abzuschneiden.
d) Das Obergericht, das die Editionsbegehren der Beklagten gegen den Kläger und die J. Huber u. Cie. AG. abwies, hat
Art. 8 ZGB
verletzt. Die beweispflichtige Beklagte hat Anspruch darauf, dass die von ihr gestellten Editionsbegehren gutgeheissen, die Beweise abgenommen und gewürdigt werden.
BGE 90 II 467 S. 471
Das obergerichtliche Urteil enthält keine Feststellungen, wonach Geschäftsgeheimnisse vorliegen würden, die dazu führen müssten, die Auskunftspflicht einzuengen. Es ist auch nicht ersichtlich, welche legitimen Gründe den Kläger oder die J. Huber u. Cie. AG. davon abhalten könnten, der Beklagten die verlangte Auskunft zu erteilen. Sollte sich der Kläger berechtigterweise auf bestimmte Geheimnisse berufen, so hätte er gleichzeitig anzugeben, auf welchem Wege die erforderliche Auskunft unter Wahrung der Geheimsphäre zu erstatten ist (Bundesgerichtsentscheid vom 15. März 1962 i.S. L. c. V. betr.
Art. 4 BV
, S. 40 lit. g). | de |
71b8f123-0fc4-417e-a7fc-5244f89f773e | Sachverhalt
ab Seite 177
BGE 134 II 176 S. 177
Für den Sachverhalt kann auf
BGE 134 II 49
verwiesen werden. Vorliegend hatte die Eidgenössische Schätzungskommission über die Entschädigung für eine Liegenschaft zu entscheiden, welche von der Politischen Gemeinde Opfikon-Glattbrugg im Erdgeschoss als Kindergarten genutzt wird und im Obergeschoss drei Sozialwohnungen umfasst. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
11.
Die Schätzungskommission hat vorliegend zunächst anhand einer Ertragswertberechnung und einer Realwertbemessung einen Verkehrswert geschätzt. Sie hat den Ertragswert dabei auf Fr. 1'160'000.- festgesetzt, für den Kindergarten aber keinen tatsächlich erzielten, sondern einen ihrer Meinung nach erzielbaren Mietzins verwendet. Die Realwertberechnung ergab einen Betrag von Fr. 1'761'439.-, wobei unter anderem auf den Gebäudeversicherungswert abgestellt und eine mittlere Altersentwertung der Bauten von 41 % sowie ein Landwert von rund Fr. 320.-/m
2
angenommen wurde. Gestützt auf diese Zahlen wurde der Verkehrswert schliesslich unter doppelter Gewichtung des Realwertes auf gerundet Fr. 2'070'000.- festgelegt.
Diese Aufstellung hat die Schätzungskommission anlässlich der Entscheidfindung nochmals überprüft und erwogen, grundsätzlich sei
BGE 134 II 176 S. 178
eine Korrektur erforderlich, weil fälschlicherweise auch der erst 1966 erbaute Gebäudeteil einbezogen worden sei. Wie in E. 5.1 (nicht publ.) gesehen, gelangte die Schätzungskommission in der Folge zum Schluss, es liege kein fluglärmbedingter Minderwert vor, da die Liegenschaft im Verwaltungsvermögen auch nach dem Stichtag wie vorgesehen habe genutzt werden können. Sie verzichtete aufgrund ihrer Beurteilung darum auf eine korrigierte Schätzung, weil ohnehin kein massgebender Minderwert im Sinne eines schweren Schadens vorliege.
Die Enteigner stimmen der Argumentation der Schätzungskommission im Wesentlichen zu. Sie streiten eine bessere Verwendungsmöglichkeit ab und bezeichnen die von der Beschwerdeführerin angedeuteten Alternativnutzungen als reine Spekulation. Nachdem die Nutzung des fraglichen Gebäudes seit vielen Jahren andauere, könne nicht von einer "Zufallsnutzung" gesprochen werden. Gestützt auf die konkreten Verhältnisse sei ein fluglärmbedingter Minderwert zu verneinen. Da sich die Liegenschaft im Verwaltungsvermögen befinde und daher grundsätzlich nicht verkauft werden könne, stelle sich die Frage einer Veräusserung gar nicht. Die anders lautenden Ausführungen der Beschwerdeführerin träfen nicht zu. Bei der allfälligen Zusprechung einer Entschädigung seien die Schallschutzmassnahmen anzurechnen.
Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber geltend, es sei unerheblich, ob sich die Liegenschaft im Verwaltungs- oder Finanzvermögen befinde. Sie habe grundsätzlich die Möglichkeit, frei darüber zu verfügen. Entscheidend müsse sein, ob sich die Lärmbelastung im Falle der Veräusserung der Liegenschaft im freien Handel negativ auf den Verkaufspreis auswirken würde. Gleichzeitig verlangt sie eine Neuschätzung durch die Eidgenössische Oberschätzungskommission.
11.1
Nicht stattzugeben ist dem Begehren der Beschwerdeführerin um eine Neuschätzung durch die Oberschätzungskommission. Letztere ist kein Gremium, das als solches Schätzungen anstellen würde. Sie besteht vielmehr aus einer Reihe von Fachleuten aus verschiedenen Berufen, die vom Bundesgericht nach Bedarf zur fachtechnischen Beratung beigezogen werden können (vgl.
Art. 80 und 82 EntG
[SR 711];
BGE 128 II 74
E. 3 S. 77). Vor Bundesgericht fällt aber die Wiederholung von Schätzungsverfahren in einer Vielzahl von Fällen ausser Betracht.
11.2
Ob die Liegenschaft zum Verwaltungs- oder Finanzvermögen gehört, ist nicht ausschlaggebend bei der grundsätzlichen
BGE 134 II 176 S. 179
Beurteilung, ob überhaupt ein Schaden vorliegen kann. Dieser Umstand sagt nichts über eine allfällige wertmässige Einbusse der Liegenschaft aufgrund des Fluglärms aus. Soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist, unterliegen auch Rechte an Grundstücken, die einem öffentlichen Zwecke dienen, der Enteignung (
Art. 7 Abs. 1 EntG
). Für solche Grundstücke gelten die allgemeinen Entschädigungsgrundsätze des Enteignungsgesetzes. Daraus, dass ein Gemeinwesen etwa eine öffentliche Anlage als solche beibehalten und auf eine einträglichere Verwendung verzichtet hat, kann der Enteigner nichts zu seinen Gunsten ableiten (HEINZ HESS/HEINRICH WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, Bd. I, N. 125 zu
Art. 19 EntG
;
BGE 104 Ib 348
E. 2a und b S. 352 f.;
BGE 116 Ib 241
E. 3a S. 245).
11.3
Entspricht der lärmbedingte Schaden wie dargelegt der Differenz, die sich bei Gegenüberstellung des Verkehrswertes einer Liegenschaft vor und nach der Immissionsbelastung ergibt, so kann auch in Fällen wie dem vorliegenden grundsätzlich nicht von Verkehrswertermittlungen abgesehen werden. Diese richtet sich für vermietete Mehrfamilienhäuser in der Regel nach den für die Bewertung von Ertragsliegenschaften geltenden Grundsätzen.
Im vorliegenden Fall gilt es jedoch, einer weiteren Besonderheit Rechnung zu tragen: Die Wohnräume im Obergeschoss der beiden Gebäudeteile dienen der Beschwerdeführerin seit Jahren als Sozialwohnungen und werden deshalb zu einem tiefen Zins vermietet. Dass die Kindergartennutzung nicht auf Gewinn ausgerichtet ist, versteht sich. Auf diese Nutzung hat der Fluglärm keine direkten Auswirkungen. Die Beschwerdeführerin macht denn auch keinen konkreten Schaden aufgrund reduzierter Mietzinsen geltend. Sie vertritt aber die Auffassung, sie könne die Liegenschaft jederzeit ins Finanzvermögen überführen und besser verwenden. Aus ihrer Sicht hätte der Fluglärm in diesem Fall wertmindernden Einfluss auf das Grundstück.
11.4
Wird die Möglichkeit besserer Nutzung des Grundstücks geltend gemacht, so muss auch diese in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht am Stichtag bereits bestanden haben oder hätte, ohne die Enteignung, in nächster Zukunft eintreten müssen; bloss theoretische Möglichkeiten oder vage Aussichten auf eine künftige günstigere Verwendung genügen nicht (vgl.
BGE 112 Ib 531
E. 3 S. 533, E. 4 S. 536;
BGE 113 Ib 39
E. 3 S. 43;
BGE 129 II 470
E. 5 S. 474, E. 6.1 S. 477 f., mit Hinweisen).
BGE 134 II 176 S. 180
Am 1. Januar 1997 befand sich das fragliche Grundstück gemäss dem Zonenplan der Stadt Opfikon vom 24. September 1995/24. April 1996 und der Bau- und Zonenordnung (BZO) vom 24. September 1995 in der dreigeschossigen Wohnzone W3 mit einer Ausnützungsziffer von 65 %. Möglich sind in dieser Zone 3 Vollgeschosse. In allen Wohnzonen ist nicht störendes Gewerbe zulässig, wobei der gewerblich genutzte Anteil höchstens 20 % der Gesamtnutzfläche betragen darf (Art. 14 lit. a der damaligen BZO). Die Beschwerdeführerin nutzt die Liegenschaft seit deren Erbauung im Erdgeschoss als Kindergarten (zwei Klassenzimmer, ein Materialraum, eine Garderobe und die Toiletten für Knaben, Mädchen und Lehrpersonen). Im Obergeschoss befinden sich eine 2-Zimmer-Wohnung, die am Stichtag für monatlich Fr. 545.- vermietet war, eine 4 1/2-Zimmer-Wohnung zu Fr. 1'022.-/Monat und eine 5 1/2-Zimmer-Wohnung mit einem monatlichen Mietzins von Fr. 1'422.- (die Mietzinse verstehen sich jeweils ohne Nebenkosten). Bei einer Grundstücksfläche von 2'137 m
2
und einer Ausnützungsziffer von 65 % ist die Liegenschaft stark unternutzt im Vergleich zu den Möglichkeiten, welche sich aufgrund der Zonenordnung böten.
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass das Grundstück im Schätzungszeitpunkt nicht optimal genutzt wurde. Wenn sie nun geltend macht, sie könne die Liegenschaft ohne weiteres ins Finanzvermögen überführen und gewinnbringender bewirtschaften, so ist ihr zwar darin zuzustimmen, dass einer Umwidmung vom Verwaltungs- ins Finanzvermögen keine grundsätzlichen rechtlichen Hindernisse entgegenstünden. Indes geben die Enteigner zu Recht zu bedenken, dass am Stichtag keineswegs von einer Zufallsnutzung die Rede sein konnte, sondern dass es sich um eine langjährige entsprechende Bewirtschaftung handelte. Es hätten sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht mehrere Schritte unternommen und zahlreiche Aufwendungen getätigt werden müssen, um das Grundstück besser zu nutzen. Diese Vorkehren hätten, auch ohne die Teilenteignung, offensichtlich nicht in nächster Zukunft abgeschlossen werden können: Einerseits würde eine wirtschaftlichere Nutzung der Kindergartenräume zumindest einen Umbau bedingen, da eine alternative, gewinnbringendere Nutzung der Klassenzimmer im jetzigen Zustand kaum denkbar ist und von der Beschwerdeführerin auch nicht dargelegt wird. Daran ändert nichts, dass die Beschränkung des Gewerbeanteils inzwischen aufgehoben wurde (vgl. Art. 16 lit. b der BZO vom 7. Juli 2003, resp. 5. Dezember 2005 und 6. März 2006). Auch
BGE 134 II 176 S. 181
wenn das Gebäude zu reinen Gewerbezwecken genutzt würde, wären erhebliche bauliche Massnahmen von Nöten. Eine gewinnbringendere Vermietung des Obergeschosses bedürfte aufgrund der bisherigen Nutzung als Sozialwohnraum und des doch schon fortgeschrittenen Alters der Gebäude sicherlich zusätzlicher Investitionen. Am ehesten dürfte sich ein Abbruch anbieten. Darauf deutet der Umstand hin, dass die Schallschutzmassnahmen im Obergeschoss wegen eines möglichen baldigen Abbruches zurückgestellt wurden. Diese Kosten sind jedoch ebenfalls zu berücksichtigen. Sodann müsste die Beschwerdeführerin entweder selber als Bauherrin tätig werden oder das Bauland veräussern. Schliesslich wäre allfälligen Realisationsfristen in Form einer Abzinsung Rechnung zu tragen.
Setzt eine bessere Nutzung eines Grundstücks Aufwendungen und Investitionen voraus, können diese bei der Wertbestimmung nicht einfach übergangen werden (vgl.
BGE 128 II 74
E. 5c/bb S. 82, E. 6c S. 85). Wie hoch die nötigen Investitionen im vorliegenden Fall gewesen wären, kann offenbleiben, da sich die Möglichkeit einer besseren Verwendung des enteigneten Grundstücks als zu vage erweist und mit einer solchen am Stichtag nicht gerechnet werden konnte.
11.5
Aufgrund der im vorliegenden Fall nutzungsbedingt besonderen Ausgangslage kann deshalb von einer exakten Differenzberechnung abgesehen werden. In tatsächlicher Hinsicht wurde die Nutzung der Liegenschaft als Kindergarten und Sozialwohnraum am Schätzungstag durch den Fluglärm nicht beeinträchtigt, weshalb kein schwerer Schaden im Sinne der Rechtsprechung vorliegt. | de |
e2dbac98-b126-4467-b334-00b277f161ce | Sachverhalt
ab Seite 272
BGE 129 III 272 S. 272
A.-
Am 23. September 1996 schloss die Einwohnergemeinde der Stadt Bern (Klägerin) mit A. (Beklagter) einen Mietvertrag mit Beginn am 15. Oktober 1996 über eine 2-Zimmer-Wohnung in Bern ab. Der monatliche Nettomietzins wurde auf Fr. 512.- und die Nebenkosten auf Fr. 123.- festgesetzt. Der Mietvertrag war mit folgender Klausel versehen:
BGE 129 III 272 S. 273
"Der Mieter nimmt zur Kenntnis, dass diese subventionierte resp. sonst
wie verbilligte Wohnung vor allem zur Unterbringung von Familien mit
unmündigen Kindern dienen soll. Er ist verpflichtet, die Wohnung
nötigenfalls freizugeben, sobald die Kinder anderswo Wohnsitz nehmen
oder das Einkommen die zulässige Grenze überschreitet. Allfällige
Auskunftsformulare hat er wahrheitsgetreu auszufüllen."
Mit amtlichem Formular vom 12. Dezember 2000 wurde dem Beklagten eine Erhöhung des Nettomietzinses ab 1. Mai 2001 auf Fr. 770.- und eine Anpassung der Nebenkosten Akonto auf Fr. 110.- mitgeteilt. Diese Erhöhung wurde mit einer Anpassung an die orts- und quartierüblichen Mietzinse begründet. Einen Mietzinserhöhungsvorbehalt enthielten weder der Mietvertrag vom 23. September 1996 noch das Formular vom 11. Dezember 1998, mit welchem - bei gleich bleibendem Bruttomietzins - eine Senkung des Nettomietzinses von Fr. 512.- auf Fr. 509.- und eine Erhöhung der Nebenkosten von Fr. 123.- auf Fr. 126.- angezeigt wurde.
B.-
Die Mietzinserhöhung vom 12. Dezember 2000 wurde vom Beklagten beim Mietamt der Stadt Bern angefochten, welches am 12. Juni 2001 das Scheitern der Schlichtungsverhandlung feststellte. Am 12. Juli 2001 erhob die Klägerin beim Gerichtskreis VIII Bern-Laupen Klage mit dem Begehren, es sei festzustellen, dass der Nettomietzins von Fr. 770.- für die 2-Zimmer-Wohnung des Beklagten mit Wirkung ab 1. Mai 2001 nicht missbräuchlich sei. Mit Urteil vom 25. April 2002 hiess der Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen die Klage gut und stellte fest, dass der Nettomietzins von Fr. 770.- mit Wirkung ab 1. Mai 2001 nicht missbräuchlich sei. Gleich entschied der Appellationshof des Kantons Bern mit Urteil vom 17. September 2002.
C.-
Mit Berufung vom 23. Oktober 2002 beantragt der Beklagte dem Bundesgericht, das Urteil des Appellationshofes aufzuheben, die Klage vollumfänglich abzuweisen und die vorinstanzlichen Parteikosten neu zu verlegen.
Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass trotz fehlendem Vorbehalt im Mietvertrag eine Anpassung an die orts- und quartierüblichen Mietzinsen aus verschiedenen Gründen
BGE 129 III 272 S. 274
zulässig sei. Unter anderem wurde ausgeführt, dass der vorliegende Fall deutliche Parallelen zur Entlassung eines Mietobjektes aus der staatlichen Mietzinskontrolle aufweise, in welchem Fall auch ohne früheren Mietzinsvorbehalt eine Mietzinserhöhung nach der absoluten Methode zulässig sei.
Der Beklagte wendet dagegen ein, dass der hier zu beurteilende Fall mit dem Spezialfall der Entlassung eines Mietobjektes aus der staatlichen Mietzinskontrolle nicht vergleichbar sei. Im Unterschied zu behördlich kontrollierten Mietzinsen, die ausserhalb der Missbrauchsgesetzgebung stünden (
Art. 253b Abs. 3 OR
), liege hier kein Fall staatlicher kontrollierter Mietzinse vor, weshalb die Bestimmungen über den Schutz vor missbräuchlichen Mietzinsen anwendbar seien. Da der Mietvertrag vom 23. September 1996 und die Mietzinsanpassung vom 11. Dezember 1998 keinen Erhöhungsvorbehalt enthalten hätten, sei der Mieter in seinem Vertrauen zu schützen, dass der Vermieter einen ausreichenden Ertrag erziele. Eine Mietzinsanpassung nach der absoluten Methode sei daher unzulässig.
2.
2.1
Die Rechtsprechung geht davon aus, dass bei subventionierten Wohnungen, die aus der behördlichen Mietzinskontrolle entlassen werden, auch ohne früheren Erhöhungsvorbehalt eine Mietzinsanpassung nach der absoluten Berechnungsmethode zulässig ist (
BGE 123 III 171
E. 6a S. 173;
BGE 117 II 77
E. 2 S. 80). Die Möglichkeit einer Erhöhung nach der absoluten Methode wird einerseits damit begründet, dass sich die Bestimmungen zum Schutz vor missbräuchlichen Mieten nicht auf subventionierte Wohnungen mit behördlicher Mietzinskontrolle beziehen (
Art. 253b Abs. 3 OR
). Andrerseits begründe die behördliche Mietzinsfestsetzung beim Mieter nicht das Vertrauen bezüglich der genügenden Höhe des letzten von ihm bezahlten Mietzinses (
BGE 123 III 171
E. 6a S. 173; Urteil 4C.153/1993 vom 25. Januar 1994, publ. in: mp 1994 S. 93 ff., E. 2).
2.2
Im Unterschied zu den soeben erwähnten Entscheiden bezieht sich die hier zu beurteilende Mietzinserhöhung nicht auf eine Wohnung im Sinne von
Art. 253b Abs. 3 OR
. Die Förderung der Bereitstellung durch die öffentliche Hand besteht darin, dass das Gemeinwesen einem Dritten - dem Vermieter - entgeltliche Leistungen für die Bereitstellung zukommen lässt und im Gegenzug die Mietzinsgestaltung kontrolliert (vgl. die Beispiele in
BGE 123 III 171
und
BGE 117 II 77
). Wenn hingegen das fördernde Gemeinwesen wie im vorliegenden Fall selbst Vermieter ist, liegt kein Anwendungsfall von
Art. 253b Abs. 3 OR
vor (PETER HIGI, Zürcher Kommentar, N. 83
BGE 129 III 272 S. 275
zu
Art. 253a-253b OR
m.w.H.). In diesem Fall kann die direkte Anwendung der absoluten Berechnungsmethode nach dem Ende der Subventionierung somit nicht mit dem Argument begründet werden, die behördlich kontrollierten Mietzinse stünden ausserhalb der Missbrauchsgesetzgebung.
2.3
Nach der einleitend erwähnten Rechtsprechung wird die direkte Anwendbarkeit der absoluten Methode aber nicht nur dadurch gerechtfertigt, dass bei behördlich kontrollierten Mietzinsen der Anwendungsbereich der Missbrauchsgesetzgebung gemäss
Art. 253b Abs. 3 OR
beschränkt ist, sondern auch dadurch, dass die behördliche Mietzinsfestsetzung beim Mieter kein Vertrauen bezüglich der genügenden Höhe des letzten von ihm bezahlten Mietzinses erweckt. Dies gilt sowohl für den Fall, in welchem das Gemeinwesen dem Vermieter entgeltliche Leistungen für die vergünstigte Bereitstellung von Wohnungen zukommen lässt, als auch für den Fall, in welchem das Gemeinwesen selbst direkt verbilligten Wohnraum zur Verfügung stellt. Im vorliegenden Fall wurde dem Mieter im Mietvertrag klar und eindeutig zu Kenntnis gebracht, dass er eine "subventionierte resp. sonst wie verbilligte Wohnung" miete, so dass er sich nicht auf ein angebliches Vertrauen bezüglich der marktkonformen Höhe des letzten von ihm bezahlten Mietzinses berufen kann. Im Gegenteil musste ihm klar sein, dass das Gemeinwesen aus sozialpolitischen Gründen darauf verzichtete, den an sich zulässigen Mietzins auszuschöpfen. Hinzu kommt, dass auch dem Gemeinwesen, das aus sozialpolitischen Gründen verbilligten Wohnraum zur Verfügung stellt, nicht zumutbar ist, im Hinblick auf einen möglichen künftigen Übergang von der Objektverbilligung zur Subjekthilfe einen konkreten Erhöhungsvorbehalt zu formulieren. Im Unterschied zu Wohnungen, die das Gemeinwesen wie Private zu kostendeckenden Bedingungen vermietet, ist beim subventionierten Wohnungswesen die Bestimmung der genauen Ertragslage nämlich oft gar nicht notwendig, weil der zulässige Mietzins aus sozialpolitischen Gründen ohnehin nicht ausgeschöpft wird.
2.4
Die absolute Berechnungsmethode ist also nicht nur zulässig, wenn die staatliche Mietzinskontrolle bezüglich Wohnungen, die von einem Dritten vermietet werden, endet, sondern auch dann, wenn das Gemeinwesen selbst als Vermieter auftritt und die ursprüngliche Objektverbilligung eliminiert und durch eine Form von Subjekthilfe ersetzt (in diesem Sinn Urteil 4C.330/2002 vom 31. Januar 2003, E. 3.3 betreffend Kanton Basel-Stadt). Diese Regelung gilt indessen nur dann, wenn das Gemeinwesen effektiv subventionierten
BGE 129 III 272 S. 276
Wohnraum zur Verfügung gestellt hat. Anders verhält es sich, wenn Fiskalliegenschaften vom Gemeinwesen wie von Privaten zu kostendeckenden Bedingungen vermietet werden. In diesem Fall kann sich der Bürger gegenüber dem vermietenden Gemeinwesen in gleicher Art wie gegenüber dem privaten Vermieter auf den Vertrauensschutz berufen (Urteil 4C.170/1993 vom 25. Januar 1994, publ. in: mp 1994 S. 85 ff., E. 3 betreffend Stadt Zürich). | de |
0103f756-9bfe-4c72-ac8f-72fe65e69026 | Sachverhalt
ab Seite 77
BGE 100 IV 76 S. 77
A.-
Roth fuhr Sonntag nachmittags, den 17. Juni 1973 mit seinem Personenwagen auf der geraden Solothurnstrasse von Pieterlen gegen Biel. In der Gegend des Ausstellplatzes beim Schutzwald unterhalb des Schiessplatzes Bözingenmoos überholte er mit 100 km/h einen mit 80 km/h fahrenden Personenwagen, wobei sich ihm ein von Biel herkommender Personenwagen näherte, der ebenfalls 80 km/h inne hatte. Die Strasse ist dort durch eine Leitlinie in zwei Fahrbahnen von je 3,6 m Breite geteilt, an die je ein Radfahrerstreifen von 1,4 oder 1,5 m angrenzt. Roth fuhr beim Überholen vollständig auf die linke Fahrbahn. Vor dem überholten Fahrzeug schwenkte er wieder auf die rechte Fahrbahn ein noch ehe er den entgegenkommenden Wagen kreuzte. Polizeikorporal Leu, der beim Ausstellplatz den Verkehr kontrollierte und an dem Roth und das überholte Fahrzeug ungefähr gleichzeitig vorbeifuhren, hatte jedoch den Eindruck, Roth habe die beiden anderen Wagen gefährdet; der entgegenkommende habe ihn gezwungen, den Überholweg zu kurz zu gestalten. Er zeigte Roth daher wegen Übertretung der Art. 34 Abs. 4 und 35 Abs. 2 SVG an.
B.-
Mit Urteil vom 15. Oktober 1973 erklärte der Gerichtspräsident von Büren Roth der Widerhandlung gegen diese beiden Bestimmungen schuldig und verurteilte ihn in Anwendung von
Art. 90 Ziff. 1 SVG
zu Fr. 90.- Busse. Die hiegegen erhobene Appellation wies die II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils am 11. Januar 1974 ab.
Das Obergericht kam zum Schluss, bei Geschwindigkeiten von 100 km/h bzw. 80 km/h der beteiligten Fahrzeuge erfordere korrektes Überholen vom Ausbiegen bis zum Wiedereinbiegen eine Strecke von mindestens 450 m. Es sei technisch allerdings gerade noch möglich, bei diesen Geschwindigkeiten auf 300 m zu überholen. Als Roth ausbog, müsse er somit von Leu noch etwa 150 m entfernt gewesen sein. Leu müsse diese Entfernung unterschätzt haben, als er sie mit 100 m angab.
BGE 100 IV 76 S. 78
Diese Unterschätzung liege aber im Bereich des Möglichen. Deshalb sei davon auszugehen, dass Roth das Überholen auf einer Strecke von ca. 300 m ausgeführt habe. Eine solche Verkürzung des Überholweges sei aber nur bei knappem Aus- und Einbiegen möglich. Das knappe Wiedereinbiegen müsse zu Lasten des überholten Fahrzeuges gegangen sein und habe eine Behinderung desselben dargestellt.
Weiter stehe fest, dass das entgegenkommende Fahrzeug Lichtzeichen gegeben habe, der Fahrer sich also gefährdet fühlte. Bewiesen sei auch, dass nie drei Fahrzeuge gleichzeitig nebeneinander fuhren. Aus den Zeugenaussagen könne nicht geschlossen werden, das überholte Fahrzeug habe sich an den äussersten rechten Rand der Fahrbahn gehalten. Vielmehr sei davon auszugehen, dass es eher im Bereich der Mitte seiner Fahrbahnhälfte gefahren sei. Das entgegenkommende Fahrzeug sei auch nicht zuäusserst rechts gefahren, sonst hätte sein Führer sich nicht veranlasst gesehen, Lichtzeichen zu geben. Da Roth seinerseits mit der ganzen Wagenbreite links der Mittellinie gefahren sei, hätte die zur Verfügung stehende Motorfahrzeugspur von 3,6 m Breite zum Kreuzen nicht ausgereicht. Wenn es ihm auch gelungen sei, noch vor dem Kreuzen des entgegenkommenden Fahrzeuges wieder einzubiegen oder doch mit dem Einbiegen zu beginnen, so habe er mit diesem riskanten Manöver doch eine Gefährdung des entgegenkommenden Fahrzeuges in Kauf genommen.
C.-
Roth führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Die Feststellung des Obergerichtes, der Beschwerdeführer habe vom Ausbiegen bis zum Wiedereinbiegen nach rechts etwa 300 m zurückgelegt, ist tatsächlicher Natur und bindet daher das Bundesgericht (
Art. 277bis BStP
). Auf die Behauptung des Beschwerdeführers, die Überholstrecke müsse 450 m betragen haben, kann nicht eingetreten werden (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
). Sie wird nicht dadurch zulässig, dass er die Auffassung des Obergerichtes als willkürliche Annahme
BGE 100 IV 76 S. 79
hinstellt, die sich auf die Aussage des Polizeikorporals stütze, der ja auch nach der Meinung des Obergerichtes unrichtig geschätzt habe.
2.
Ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer vom Ausbiegen bis zum Wiedereinbiegen nach rechts rund 300 m zurücklegte, so erweist sich die Distanz des Überholenden vom Überholten beim Wiedereinschwenken als zu kurz. Um mit 100 km/h die Überholstrecke von 300 m zurückzulegen, benötigte der Beschwerdeführer 10,78 Sekunden (10,78 x 27,8 = 299,68 m). Während der gleichen Zeit legte der überholte Wagen mit 80 km/h 239,31 m zurück (10,78 x 22,2 = 239,31), also 60,37 m weniger als der Beschwerdeführer.
Die Längen der beiden Fahrzeuge sind nicht festgestellt. Der Wagen des Beschwerdeführers war ein "Alfa Romeo" und der unbekannt gebliebene überholte Wagen soll nach Angaben des Polizeikorporals ein solcher der Mittelklasse oder ein Kleinwagen gewesen sein. Es darf deshalb davon ausgegangen werden, dass die beiden Wagenlängen zusammen 9 m nicht überstiegen. Zieht man diese 9 m von den 60,37 m ab, die der Beschwerdeführer während des Überholens mehr zurücklegte als der überholte Wagen, so verbleiben 51,37 m. Verteilt man diese Strecke auf die Abstände, die der Beschwerdeführer vor dem Ausbiegen nach links und nach dem Wiedereinbiegen nach rechts vom anderen Wagen einhalten musste, so ergeben sich Abstände von je rund 25,5 m. Dass der Abstand vor und nach dem Überholen ungefähr gleich gross gewesen sein muss, ergibt sich daraus, dass nach der Feststellung des Obergerichtes der Wagen des Beschwerdeführers beim Ausbiegen etwa 150 m vom Polizeikorporal entfernt war, ungefähr gleichzeitig wie der überholte Wagen an Leu vorbeifuhr und zur Beendigung des Überholens nochmals etwa 150 m zur Verfügung hatte.
Der ermittelte Abstand von rund 25 m zwischen dem Überholenden und dem Überholten war allerdings erst in der Schlussphase des Überholmanövers erreicht, d.h. im Moment, da das überholende Fahrzeug seine Stelle am rechten Strassenrand wieder eingenommen hatte. Zuvor - während des Wiedereinbiegens - bestand diese Distanz nicht. Sie vergrösserte sich erst im Verlaufe des Einbiegens wegen der höheren Geschwindigkeit von dem Punkt, in welchem die
BGE 100 IV 76 S. 80
Fahrzeuge auf gleicher Höhe sich befanden, bis zu jenen 25 m bei Abschluss des Manövers. Da aber das überholende Fahrzeug zwischen diesen beiden Punkten einer vor dem überholten Wagen durchgehenden Schräge folgte, kam das erstere in bedrohliche Nähe des zweiten.
Nach
Art. 35 Abs. 3 SVG
muss derjenige, der überholt, auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich auf jene, die er überholen will, besondere Rücksicht nehmen. Das Überholen einzelner oder mehrerer Fahrzeuge ist nur erlaubt, wenn der Überholende sein Vorhaben gefahrlos abschliessen, d.h. ohne Behinderung des Gegenverkehrs und des zu Überholenden nach dem Manöver rechts wieder einschwenken kann (
BGE 93 IV 64
mit Verweisungen). Kann der Überholte seine Fahrt nicht ungestört fortsetzen, ist er vielmehr genötigt, wegen des zu engen Wiedereinbiegens des Überholenden seine Geschwindigkeit herabzusetzen, wird er dadurch behindert. Der Überholende lässt es in einem solchen Fall an der Rücksichtnahme ermangeln, zu der er nach
Art. 35 Abs. 3 SVG
verpflichtet ist (
BGE 93 IV 65
unten).
Wenn Roth in der Schlussphase seines Überholmanövers lediglich 25 m Abstand vom Überholten hatte, muss er diesen beim Wiedereinschwenken nach rechts gefährdet haben. Bei den gegebenen Geschwindigkeiten hätte er für ein gefahrloses Überholen eine erheblich längere Strecke benötigt, als die 300 m, die ihm zur Verfügung standen. Nach dem vom Kassationshof immer wieder verwendeten Paravit-Kreisschieber hätte der Überholweg hier 550 m betragen. Auch nach der in der Literatur verwendeten Berechnungsformel würde die fragliche Strecke etwa gleich lang sein (BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation routière, N. 2.9 zu
Art. 35 SVG
auf S. 135). Danach muss derjenige, der einen anderen Wagen mit mehr als 70 km/h überholt, von diesem beim Aus- und beim Wiedereinschwenken einen Abstand von 50 m wahren. Die Summe dieser Strecken plus die Längen der beiden Wagen multipliziert mit der Geschwindigkeit des Überholenden und das Ganze geteilt auf die Differenz zwischen der Geschwindigkeit des Überholenden und derjenigen des Überholten ergibt im vorliegenden Fall 545 m (50 + 50 + 4,5 + 4,5) x 100: 20 = 545 m. Selbst wenn man diese Richtwerte etwas herabsetzen würde, falls es sich beim Überholenden um einen erfahrenen Motorfahrzeugführer handelt (BUSSY/RUSCONI,
BGE 100 IV 76 S. 81
a.a.O. S. 136 oben), ergäbe das niemals eine so kurze Überholdistanz, wie sie Roth zur Verfügung stand. Der Beschwerdeführer ist somit seinen Rücksichtspflichten gemäss
Art. 35 Abs. 3 SVG
nicht nachgekommen, weshalb die Vorinstanz ihn zu Recht wegen Verletzung dieser Gesetzesbestimmung verurteilt hat.
3.
Eine andere Frage ist, ob der Beschwerdeführer das entgegenkommende Fahrzeug behindert habe.
Sie lässt sich nicht schon deshalb bejahen, weil der Lenker dieses Wagens den Beschwerdeführer durch ein Lichtzeichen warnte. Aus dem Zeichen ist an sich nur zu schliessen, dass er den Beschwerdeführer auf den entgegenkommenden Wagen aufmerksam machen wollte. Dass dieser Wagen die Geschwindigkeit herabsetzte, ist nicht festgestellt und behauptet auch der Polizeikorporal nicht.
Fuhr er aber mit unveränderter Geschwindigkeit (von 80 km/h) weiter, so kann sich sein Führer vernünftigerweise trotz des abgegebenen Lichtzeichens nicht als gefährdet betrachtet haben, zumal er nicht einmal auf den Radfahrerstreifen auswich.
Übrigens kommt auf das subjektive Empfinden des Führers des entgegenkommenden Fahrzeuges nichts an. Entscheidend ist nur, ob der Beschwerdeführer nach der objektiven Verkehrslage beim Beginn des Überholens annehmen musste, er werde das entgegenkommende Fahrzeug im Sinne des
Art. 35 Abs. 2 SVG
behindern, und er deshalb vom Überholen hätte absehen sollen.
Der festgestellte Sachverhalt reicht zur Beantwortung dieser Frage nicht aus. Das Obergericht weiss nicht, wo sich das entgegenkommende Fahrzeug unmittelbar nach der Beendigung des Überholens befand. Es drückt sich reichlich unbestimmt dahin aus, es sei dem Beschwerdeführer gelungen, "noch vor dem Kreuzen des entgegenkommenden Fahrzeuges wieder einzubiegen oder doch mit dem Einbiegen zu beginnen". Es nimmt auch nicht zur Behauptung des Polizeikorporals Stellung, der entgegenkommende Wagen sei nur noch etwa 60-80 m von ihm, Leu, entfernt gewesen, als Roth an ihm, Leu, vorbeifuhr. Diese Behauptung ist übrigens offensichtlich unvereinbar mit der feststehenden Tatsache, dass der Beschwerdeführer vom Polizeikorporal aus bis zur Stelle, wo er das Überholen beendete, noch etwa 150 m zurückzulegen
BGE 100 IV 76 S. 82
hatte. Die von Leu angegebenen 60-80 m liegen innerhalb dieser Strecke. Wäre die Behauptung Leus richtig, so hätte es unfehlbar zu einem frontalen Zusammstoss kommen müssen. Wenn der Beschwerdeführer, wie festgestellt ist, ungefähr 150 m vom Polizeikorporal entfernt das Überholen unbehelligt beenden konnte, muss der entgegenkommende Wagen noch wesentlich mehr als 150 m vom Polizeikorporal entfernt gewesen sein, als der Beschwerdeführer an diesem vorbeifuhr; denn während der Beschwerdeführer die 150 m zurücklegte - wofür er 5,39 Sekunden benötigte - näherte sich der mit 80 km/h entgegenkommende Wagen dem Polizeikorporal um 5,39 x 22,2 = 119,65 m. Wenn der entgegenkommende Wagen das Fahrzeug des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Beendigung des Überholens kreuzte, muss er somit, als der Beschwerdeführer am Polizeikorporal vorbeifuhr, noch etwa 119,65 + 150 = 269,65 m von diesem entfernt gewesen sein.
Falls das Obergericht nicht in der Lage ist, zuverlässig festzustellen, wo der Beschwerdeführer den entgegenkommenden Wagen kreuzte, wird es den Beschwerdeführer vom Vorwurf, diesen Wagen behindert zu haben, freisprechen müssen. Der blosse Vorwurf, der Beschwerdeführer habe zu wenig berücksichtigt, dass dieser Wagen seine Fahrweise ändern oder der Beschwerdeführer sich verschätzen könnte, reicht zur Verurteilung wegen Übertretung der Art. 34 Abs. 4 und 35 Abs. 2 SVG nicht aus. | de |
468d6db2-a5af-470e-ae0b-4566ac6008d8 | Sachverhalt
ab Seite 33
BGE 114 V 33 S. 33
A.-
Der 1933 geborene Adolf H. war seit 1. März 1973 bei der Maschinenfabrik X AG (nachfolgend Arbeitgeberin) als Einkaufschef tätig. Ab 1975 gehörte er der Versicherungskasse der Personalfürsorgestiftung (nachfolgend Stiftung) seiner Arbeitgeberin an. Auf Ende März 1985 kam es zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses wegen Veruntreuungen zum Nachteil der Arbeitgeberin im Schadensbetrag von mindestens Fr. 250'000.--. Auf diesen Zeitpunkt wurde ein Freizügigkeitsanspruch des Destinatärs gegenüber der Stiftung von Fr. 34'021.15 errechnet.
In der Folge trat Adolf H. eine neue Stelle bei der G. AG an. Damit wurde er bei der Pensionskasse Y vorsorgeversichert. Diese Pensionskasse ersuchte die Stiftung am 26. August 1985 um Überweisung
BGE 114 V 33 S. 34
des Freizügigkeitsanspruches von Adolf H. Die Stiftung weigerte sich jedoch, die Überweisung an die Pensionskasse Y vorzunehmen, weil die frühere Arbeitgeberin Anspruch auf die Freizügigkeitsleistung erhebe.
Die frühere Arbeitgeberin ersuchte am 7. Januar 1986 die Stiftung um Streichung von Adolf H. als Versicherungsnehmer und meldete ihren Anspruch auf dessen Freizügigkeitsguthaben an. Mit Schreiben vom gleichen Tag trat sie ihre Schadenersatzforderungen gegen Adolf H. "gemäss Verlustschein vom 30. August 1985 mit allen Rechten in der Höhe eines allfälligen Guthabens von Herrn H." an die Stiftung ab und ersuchte in diesem Umfang um Verrechnung. Die Zessionserklärung erfolgte eventualiter für den Fall, dass überhaupt ein Freizügigkeitsanspruch bestanden habe, was bestritten werde.
B.-
Adolf H. liess am 4. Februar 1986 beim Versicherungsgericht des Kantons Thurgau gegen die Stiftung Klage einreichen mit dem Begehren, diese sei zu verpflichten, der Pensionskasse Y die ihm zustehende Freizügigkeitsleistung im Betrag von Fr. 34'021.15 zu bezahlen. Die beklagte Stiftung erhob in der Klageantwort die Einrede der sachlichen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts. In der Sache selber trug sie auf Abweisung der Klage an. In der Replik und Duplik hielten die Parteien an ihren Standpunkten fest.
Das Versicherungsgericht des Kantons Thurgau schützte die Klage nach Bejahung seiner sachlichen Zuständigkeit und verpflichtete die Stiftung zur Bezahlung der dem Kläger zustehenden Freizügigkeitsleistung von Fr. 34'021.15 an die Pensionskasse Y (Entscheid vom 23. Januar 1987).
C.-
Die Stiftung lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Adolf H. und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss
Art. 73 Abs. 1 BVG
bezeichnet jeder Kanton als letzte kantonale Instanz ein Gericht, das über die Streitigkeiten zwischen Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten entscheidet. Der Bundesrat hat diese Bestimmung laut
Art. 98 Abs. 2 BVG
in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verordnung über die Inkraftsetzung und Einführung des BVG auf
BGE 114 V 33 S. 35
den 1. Januar 1985 in Kraft gesetzt.
Art. 73 BVG
findet auf den obligatorischen, vor-, unter- und überobligatorischen Bereich registrierter privat- und öffentlichrechtlicher Vorsorgeeinrichtungen Anwendung (
Art. 49 Abs. 2 BVG
), ferner auf nicht registrierte Personalvorsorgestiftungen (
Art. 89bis Abs. 6 ZGB
;
BGE 112 V 358
Erw. 1a). Das Eidg. Versicherungsgericht hat in
BGE 112 V 359
Erw. 3 die zeitlichen Grenzen der Anwendbarkeit von
Art. 73 BVG
festgelegt. Dessen Geltungsbereich ist auf die Beurteilung von Streitsachen beschränkt, in welchen der Versicherungsfall nicht vor dem 1. Januar 1985 eingetreten oder die in Frage stehende Forderung bzw. Verpflichtung nicht vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts entstanden ist. Der Umstand, dass in einem solchen Fall Sachverhalte aus der Zeit vor und nach dem 1. Januar 1985 zu beurteilen sind, ändert an der BVG-Rechtspflegezuständigkeit nichts (
BGE 113 V 200
Erw. 1b und 292; MEYER-BLASER, Die Rechtswege nach dem Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG), in: ZSR 106/1987 I S. 627 f.).
b) Bei der Stiftung handelt es sich um eine registrierte Vorsorgeeinrichtung im Sinne von
Art. 48 BVG
. Sodann steht fest, dass der Beschwerdegegner bis Ende März 1985 bei der Firma X AG angestellt war. Der Anspruch auf eine Freizügigkeitsleistung gegenüber der Stiftung konnte erst mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehen (
Art. 27 Abs. 2 BVG
;
Art. 331a Abs. 1 OR
sowie Art. 6 Abs. 1 des Reglementes der Stiftung). Da das Arbeitsverhältnis zwischen Adolf H. und der Maschinenfabrik X AG auf Ende März 1985 aufgelöst wurde, ist der Freizügigkeitsfall folglich nach dem Inkrafttreten des BVG (1. Januar 1985) eingetreten. Somit ist das Eidg. Versicherungsgericht nach dem in Erw. 1a Gesagten für die Beurteilung der vorliegenden Streitsache zuständig.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die angebliche Unzuständigkeit des kantonalen Versicherungsgerichts u.a. damit begründet, dass
Art. 49 Abs. 2 BVG
eng auszulegen sei; die Bestimmungen betreffend Rechtspflege gelangten nur in bezug auf die im Katalog von
Art. 49 Abs. 2 BVG
enthaltenen Vorschriften zur Anwendung. Nicht darunter falle die Frage, ob ein Freizügigkeitsanspruch des Beschwerdegegners gültig entstanden sei und ob die entsprechende Freizügigkeitsleistung allenfalls herausgegeben werden müsse. Diese Auffassung findet indessen im Gesetz keine Stütze. Durch die Verweisung in
Art. 49 Abs. 2 BVG
wird
BGE 114 V 33 S. 36
der sachliche Geltungsbereich des
Art. 73 BVG
auf Vorsorgeeinrichtungen ausgeweitet, die mehr als die Mindestleistungen erbringen (
BGE 112 V 359
Erw. 3). Ferner sind die Rechtspflegebestimmungen des BVG nach der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Ansicht nicht anwendbar, weil das BVG nicht rückwirkend gelte und im vorliegenden Fall ein (nicht erworbener) Freizügigkeitsanspruch aus vorobligatorischer Zeit zur Diskussion stehe, auf welchen das OR Anwendung finde. Dieser Auffassung kann im Hinblick auf die dargestellte klare Rechtslage ebenfalls nicht beigepflichtet werden. Entscheidend ist, dass das den Freizügigkeitsfall auslösende Ereignis der Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter der Herrschaft des BVG eingetreten ist. Dass die Freizügigkeitsleistung auch und überwiegend in vorobligatorischer Zeit finanziert wurde, ändert nach dem Gesagten an der Rechtsprechungszuständigkeit nach
Art. 73 BVG
nichts. Mithin hat die Vorinstanz ihre sachliche Zuständigkeit zu Recht bejaht.
c) Beim Prozess um Freizügigkeitsleistungen (Entstehung, Höhe, Erfüllung usw.) handelt es sich um einen Streit um Versicherungsleistungen, weshalb sich die Überprüfungsbefugnis des Eidg. Versicherungsgerichts nach
Art. 132 OG
richtet. Danach ist die Kognition nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung. Das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen. Ferner ist das Verfahren regelmässig kostenfrei (
Art. 134 OG
).
2.
a) Im Obligatoriumsbereich gewährleistet die Freizügigkeitsleistung dem Versicherten bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Erhaltung des Vorsorgeschutzes (
Art. 27 Abs. 1 BVG
). Der Versicherte hat Anspruch auf eine Freizügigkeitsleistung, wenn sein Arbeitsverhältnis vor Eintritt eines Versicherungsfalles aufgelöst wird und er die Vorsorgeeinrichtung verlässt (
Art. 27 Abs. 2 BVG
).
Art. 28 BVG
regelt die (vorliegend nicht umstrittene) Höhe der Freizügigkeitsleistung und
Art. 29 BVG
deren Übertragung von einer Vorsorgeeinrichtung auf eine andere. Abs. 1 dieser Bestimmung hält fest, dass der Betrag der Freizügigkeitsleistung der neuen Vorsorgeeinrichtung zu überweisen ist. Diese schreibt ihn dem Versicherten gut.
BGE 114 V 33 S. 37
Bezüglich des unter-, über- und vorobligatorischen Bereichs, somit der weitergehenden Vorsorge, hält
Art. 331a Abs. 1 OR
bei Spareinrichtungen fest:
Hat der Arbeitnehmer für die Alters-, Hinterlassenen- oder Invalidenvorsorge Beiträge an eine Spareinrichtung geleistet und erhält er bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses von ihr keine Leistungen, so hat er gegen sie eine Forderung, die mindestens seinen Beiträgen samt Zins entspricht.
Art. 331c Abs. 1 OR
mit dem Randtitel "Erfüllung der Schuldpflicht" lautet:
Die Personalfürsorgeeinrichtung hat ihre, der Forderung des Arbeitnehmers entsprechende Schuldpflicht in der Weise zu erfüllen, dass sie zu dessen Gunsten eine Forderung auf künftige Vorsorgeleistungen gegen die Personalfürsorgeeinrichtung eines anderen Arbeitgebers, gegen eine der Versicherungsaufsicht unterstellte Unternehmung oder, unter voller Wahrung des Vorsorgeschutzes, gegen eine Bank oder Sparkasse begründet, welche die vom Bundesrat festgesetzten Bedingungen erfüllt.
Art. 6 Abs. 1 des Reglementes der Stiftung, deren Kasse sich nach Art. 1 Abs. 3 aus einer betriebseigenen Sparkasse und einer Ergänzungsversicherung zusammensetzt, hält für den Fall des vorzeitigen Dienstaustritts fest:
Wird das Arbeitsverhältnis eines Mitglieds vor Erreichen des ordentlichen Rücktrittstermins aufgelöst, ohne dass ein Anspruch auf Leistungen gemäss den Abschnitten B und C besteht, so endet gleichzeitig dessen Mitgliedschaft bei der Kasse. In diesem Falle hat das ausscheidende Mitglied Anrecht auf eine Austrittsleistung, welche weiterhin dem Fürsorgezweck gewidmet bleiben muss.
Art. 6 Abs. 3 lit. b des Reglementes bestimmt zur Abgeltung der Austrittsleistung folgendes:
Falls das ausscheidende Mitglied ein neues Arbeitsverhältnis eingeht und beim neuen Arbeitgeber in eine Fürsorgeeinrichtung eintritt, kann die Austrittsleistung zur Begründung einer Forderung auf künftige Vorsorgeleistungen an diese Einrichtung überwiesen werden, anstelle der Bestellung einer Freizügigkeitsversicherung.
b) Die Vorinstanz ging in ihrem Entscheid davon aus, dass Adolf H. vom 1. März 1973 bis 31. März 1985 bei der Firma X AG angestellt war. Seine Arbeitsleistungen hätten die Pflicht der Arbeitgeberin zur Entrichtung des vereinbarten Lohnes begründet. Seit 1975 sei er Destinatär der Stiftung gewesen. Dementsprechend seien ihm die seinerseits zu leistenden Beiträge von der Arbeitgeberin jeweils bei der Lohnauszahlung in Abzug gebracht und der Kasse überwiesen worden; im gleichen Umfang sei aber auch die Arbeitgeberin selber beitragspflichtig gewesen.
BGE 114 V 33 S. 38
Dass diese Abrechnung lediglich "rein buchmässig zur Quantifizierung und Abgrenzung" erstellt worden sei, jedoch im Sinne der Klageantwort jeder materiellen Grundlage entbehre, sei unzutreffend, wie die Vorinstanz weiter erwog. Aus der Tatsache, dass Adolf H. der Arbeitgeberin grossen finanziellen Schaden zugefügt habe, könne nicht abgeleitet werden, dass die Lohnzahlungspflicht mit allen ihren Nebenfolgen wie der Pflicht zur Leistung von BVG-Beiträgen nie bestanden habe. Ebenso unbehelflich sei der Einwand, Adolf H. habe wegen seiner Veruntreuungen im Endeffekt gar keine eigenen Prämien bezahlt, habe doch die Arbeitgeberin selber zugegeben, auch bei ihm den reglementarisch vorgeschriebenen Lohnabzug vorgenommen zu haben. Entscheidend sei einzig, dass Adolf H. seit Frühling 1973 bei der früheren Arbeitgeberin beschäftigt und während dieser Zeit teilweise vorsorgeversichert gewesen sei bzw. dass ihm die Arbeitgeberin von 1975 bis 1984 insgesamt Fr. 19'423.40 und vom 1. Januar bis 31. März 1985 Fr. 936.-- vom Lohn abgezogen habe. Wenn die Arbeitgeberin heute Schadenersatzansprüche gegen Adolf H. geltend mache, so habe dies nicht zur Folge, dass die früher gestützt auf Gesetz und Reglement erbrachten Beiträge irrtümlich erfolgt seien. Es stelle sich höchstens die Frage, ob und in welchem Umfang der Arbeitnehmer nach
Art. 321e OR
für den Schaden verantwortlich sei, den er der Arbeitgeberin zugefügt habe. Dieses Problem stehe aber mit dem hier zu beurteilenden in keinem Zusammenhang.
c) Wie schon im erstinstanzlichen Verfahren vertritt die Stiftung in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneut den Standpunkt, der Beschwerdegegner habe keinen rechtsgültigen Freizügigkeitsanspruch erworben. Die Begründung geht dahin, dass die Beitragspflicht der Arbeitgeberin die Lohnzahlungspflicht voraussetze. Der Beschwerdegegner habe wegen schwerer Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten gar keinen Lohnanspruch gehabt. Der Rechtsgrund für die Gegenleistung Lohn mit allen Nebenfolgen sei ex tunc entfallen. Die Arbeitgeberin könne daher ihre Leistungen zurückverlangen. Mangels Lohnanspruches habe der Beschwerdegegner der Stiftung auch keine eigenen Prämienmittel zur Verfügung gestellt bzw. habe die Arbeitgeberin ohne Rechtsgrund "Beiträge" für den Beschwerdegegner an die Stiftung geleistet. Wohl habe diese die von der Arbeitgeberin als Inkassostelle überwiesenen Beitragszahlungen gebucht und abgegrenzt. Weder die blosse Tatsache der Beitragsleistung noch die formale Buchung, sondern nur ein Lohnanspruch aufgrund korrekter
BGE 114 V 33 S. 39
arbeitsvertraglicher Erfüllung begründe einen rechtsgültigen Anspruch des Beschwerdegegners auf eine Freizügigkeitsleistung. Der Arbeitnehmer habe lediglich dann einen Beitrag aus eigenen Mitteln geleistet, wenn er bei Geltendmachung des Freizügigkeitsanspruches eine "Entreicherung" in der Höhe mindestens seiner Beiträge nachweisen könne. Dies sei beim Beschwerdegegner nicht der Fall, weshalb diesem mangels eigener Beitragsleistung bei der Stiftung kein Freizügigkeitsanspruch entstanden sei.
d) Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Wie das BSV zutreffend ausführt, beurteilt sich die Frage der Entstehung des Freizügigkeitsanspruches im Obligatoriumsbereich nach
Art. 27 Abs. 2 BVG
und in der weitergehenden Vorsorge nach
Art. 331a Abs. 1 OR
sowie Art. 6 des Stiftungsreglementes. Da die entsprechenden Voraussetzungen - im Obligatoriumsbereich das Bestehen der Versicherungspflicht (vgl. dazu Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 10 Abs. 1 BVG
) bzw. im über- und vorobligatorischen Bereich die Bezahlung der Beiträge, sodann in beiden Bereichen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Eintritt des Versicherungsfalles und das Verlassen der Vorsorgeeinrichtung - beim Beschwerdegegner erfüllt sind, ist ein Freizügigkeitsanspruch entstanden. Als unbehelflich erweist sich insbesondere der Einwand der Beschwerdeführerin, die Beiträge des Beschwerdegegners seien wohl faktisch der Vorsorgeeinrichtung überwiesen worden - dies jedoch zu Unrecht, wie sich später herausgestellt habe, da sich die Arbeitgeberin bezüglich der Lohnzahlungspflicht in einem Irrtum befunden habe. Als Gegenleistung für die Leistung der vertraglich übernommenen Arbeit durch den Arbeitnehmer (
Art. 321 OR
) hatte ihm der Arbeitgeber dafür nach
Art. 322 Abs. 1 OR
den entsprechenden Lohn zu entrichten. Die in
Art. 323b Abs. 2 OR
vorgesehene und von der Arbeitgeberin bzw. der Beschwerdeführerin geltend gemachte Verrechnungseinrede bei Ersatzforderungen für absichtlich zugefügten Schaden setzt den Bestand einer Lohnforderung gerade voraus. Ob bei rechtzeitiger Kenntnis des Schadens die Lohnforderung allenfalls durch Verrechnung mit der Schadenersatzforderung erloschen wäre und insofern im Sinne der Ausführungen der Beschwerdeführerin keine Lohnzahlungspflicht mehr bestanden hätte, ist daher im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Für die Entstehung einer Forderung nach
Art. 331a Abs. 1 OR
ist vielmehr entscheidend, dass gestützt auf den massgebenden Lohn Beiträge geschuldet (vgl. Art. 13 des Reglementes) und demzufolge - wie im vorliegenden
BGE 114 V 33 S. 40
Fall - zu Recht überwiesen wurden. Im übrigen endete die für die Entstehung eines Freizügigkeitsanspruches (stillschweigend) vorausgesetzte Versicherungspflicht im seit 1. Januar 1985 geltenden Obligatoriumsbereich nach
Art. 10 Abs. 2 BVG
erst mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses Ende März 1985. Bei der Argumentation der Beschwerdeführerin wird im übrigen der Unterschied zwischen den Rechtsbeziehungen aus dem Arbeitsverhältnis einerseits und dem gesetzlichen bzw. vertraglichen Vorsorgeverhältnis (d.h. dem BVG-Obligatoriumsbereich bzw. dem über- und vorobligatorischen Bereich) anderseits verkannt (zu den Vorsorgebeteiligten und ihren gegenseitigen Rechtsbeziehungen, insbesondere bei der Personalfürsorgestiftung als Trägerin der Personalvorsorge, vgl. RIEMER, Berufliche Vorsorge,
§ 4 N 1
ff.; ferner SCHNEITER, Die Rechtsbeziehungen zwischen Dienst- und Vorsorgeverhältnis bei privatrechtlichen Wohlfahrtseinrichtungen, Diss. Zürich 1966, S. 49 ff.; WALSER, Die Personalvorsorgestiftung, Diss. Zürich 1975, S. 101 ff.).
3.
Im weiteren ist streitig, ob der vom Beschwerdegegner erworbene (masslich unbestrittene) Freizügigkeitsanspruch durch Verrechnung mit der von der ehemaligen Arbeitgeberin an die Stiftung abgetretenen Schadenersatzforderung untergegangen ist.
a) Dies ist nach Auffassung der Beschwerdeführerin zu bejahen. Es müsse zwischen den Interessen des Destinatärs an der Erhaltung von Vorsorgeansprüchen und jenen des Arbeitgebers und damit verbunden der Personalfürsorgestiftung, eine Schadenersatzforderung verrechnen zu können, abgewogen werden. Da die AHV/IV existenzsichernd sei und
Art. 323b Abs. 2 OR
die Verrechnung von Ersatzforderungen des Arbeitgebers bei absichtlicher Schadenszufügung in der Gegenwart unbeschränkt zulasse, könne nicht das gleiche Gesetz die Verrechnung mit Guthaben, die künftig die Fortführung der gewohnten Lebenshaltung sichern sollen, verbieten. Eine "Inkassozession" von Schadenersatzforderungen an die Personalfürsorgestiftung sei durch den Stiftungszweck gedeckt und liege im Interesse sowohl der Stiftung als auch ihrer Destinatäre. Die analoge Anwendung von
Art. 39 Abs. 2 und 3 BVG
in der weitergehenden Vorsorge verstosse wegen indirekter Rückwirkung gegen
Art. 91 BVG
. Der Schutz des Freizügigkeitsanspruches des einzelnen sei relativ und finde seine Grenze beim "Straffälligen". Es könne nicht Sinn und Zweck der Rechtsordnung sein, Vermögensteile eines Delinquenten vor dem berechtigten Zugriff eines vorsätzlich Geschädigten zu schützen.
BGE 114 V 33 S. 41
Art. 39 Abs. 2 und 3 BVG
, die scheinbar eine Regelung zugunsten des Beschwerdegegners träfen, enthielten für Fälle der vorliegenden Art eine unechte Lücke. Es widerspreche Treu und Glauben, sei rechtsmissbräuchlich und verstosse gegen Sinn und Zweck der Rechtsordnung, wenn der Beschwerdegegner den Freizügigkeitsanspruch geltend mache.
b) Wie die Vorinstanz und das BSV zutreffend festgestellt haben, darf im Obligatoriumsbereich der Leistungsanspruch mit Forderungen, die der Arbeitgeber der Vorsorgeeinrichtung abgetreten hat, nur verrechnet werden, wenn sie sich auf Beiträge beziehen, die nicht vom Lohn abgezogen worden sind (
Art. 39 Abs. 2 BVG
). Rechtsgeschäfte, die dieser Bestimmung widersprechen, sind nichtig (Abs. 3). Damit schliesst das Gesetz die Verrechnung mit Forderungen, welche der Arbeitgeber seiner Vorsorgeeinrichtung abgetreten hat, von der erwähnten Ausnahme abgesehen, generell und zwingend aus (
BGE 111 II 169
Erw. 2c; RIEMER, a.a.O.,
§ 5 N 30
). Besteht nach dem Gesagten ein generelles Verrechnungsverbot bezüglich Forderungen, die der Vorsorgeeinrichtung abgetreten wurden (Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 19. Dezember 1975, BBl 1976 I 251), so verbietet sich eine Lückenfüllung im Sinne der Vorbringen der Beschwerdeführerin. Die gesetzliche Konzeption mit dem Barauszahlungsverbot und eng begrenzten Ausnahmen (
Art. 30 BVG
) sowie dem Verrechnungsverbot bei Nichtigkeit der damit in Widerspruch stehenden Rechtsgeschäfte (
Art. 39 Abs. 2 und 3 BVG
) beruht auf einer Interessenabwägung des Gesetzgebers zugunsten der Erhaltung des Vorsorgeschutzes. Diesem kommt Vorrang zu gegenüber anderen Interessen, weshalb die für die berufliche Vorsorge geäufneten Mittel nicht zweckentfremdet werden dürfen.
c) Das Bundesgericht hat in
BGE 111 II 168
Erw. 2 die Verrechnung von Schadenersatzansprüchen einer Personalfürsorgestiftung mit Forderungen des Destinatärs auf künftige Vorsorgeleistungen der Stiftung gemäss
Art. 331c Abs. 1 und 2 OR
als grundsätzlich unzulässig erklärt (vgl. auch
BGE 112 II 39
Erw. 3). Das Gericht führte aus:
Anders als beim Lohn (
Art. 323b Abs. 2 OR
) hat der Gesetzgeber bei den Leistungen der Fürsorgeeinrichtung nur die Abtretung und Verpfändung, nicht aber die Verrechenbarkeit ausdrücklich ausgeschlossen (
Art. 331c Abs. 2 OR
). Daraus ist in der Literatur zum Teil auf die Zulässigkeit der Verrechnung geschlossen worden... Diese Betrachtungsweise
BGE 114 V 33 S. 42
wird indes dem Zweck der gesetzlichen Regelung nicht gerecht.
Art. 331c OR
will die Beiträge dem Vorsorgezweck erhalten, soweit nicht ein Ausnahmefall von Abs. 4 vorliegt.
Art. 331c Abs. 1 und 2 OR
enthält deshalb ein zwingendes Barauszahlungsverbot. Zweck der starren Bindung einer Freizügigkeitspolice ist es, unter allen Umständen dem Arbeitnehmer eine Vorsorge zu gewährleisten. Daraus ist abgeleitet worden, bis zum Eintritt des Vorsorgefalls seien die betreffenden Forderungen der Destinatäre diesen gegenüber gar nicht erfüllbar, was eine Verrechnung ausschliesse... In der Literatur wird überdies angenommen, der Anspruch des Destinatärs auf Geldzahlung an die neue Personalfürsorgeeinrichtung schliesse die Verrechnung auch mangels Gleichartigkeit der Forderungen aus... Entscheidend ist jedoch, dass eine Zweckentfremdung der Vorsorgemittel im Anwendungsbereich des
Art. 331c Abs. 1 und 2 OR
ausgeschlossen werden muss. Eine Verrechnung ist daher unzulässig, soweit sie eine solche Zweckentfremdung bewirkt (
BGE 111 II 168
Erw. 2a).
Auch bei einer ursprünglichen (d.h. nicht abgetretenen) Forderung der Stiftung führt die Verrechnung im Ergebnis zu einer zweckwidrigen Verwendung des Stiftungsvermögens. Daran ändert nichts, dass die Mittel zur Abdeckung von Schadenersatzforderungen aus unerlaubter Handlung verwendet werden sollen. Ob allenfalls in Analogie zu
Art. 323b Abs. 2 OR
davon bei absichtlicher Schädigung eine Ausnahme zu machen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden (
BGE 111 II 169
Erw. 2c).
d) Wie sich dem zitierten Entscheid des Bundesgerichts entnehmen lässt, ist für den Ausschluss der Verrechnung die Zweckbindung der Vorsorgemittel ausschlaggebend. Dabei kann im vorliegenden Fall die Frage, ob die Verrechnung noch an andern, spezifisch verrechnungsmässigen Voraussetzungen wie Gleichartigkeit der geschuldeten Leistungen und Fälligkeit der Forderungen (vgl.
Art. 120 Abs. 1 OR
sowie VIRET, La prévoyance en faveur du personnel selon le nouveau droit du contrat de travail, in: ZSR 94/1975 I S. 169 ff.) scheitern müsste, dahingestellt bleiben. Die vom Bundesgericht offengelassene Frage, ob bei absichtlicher Schädigung in Analogie zu
Art. 323b Abs. 2 OR
die Zweckbindung aufgehoben und die Verrechnungsmöglichkeit ausnahmsweise zugelassen werden sollen, ist zu verneinen. Kommt dem Vorsorgeschutz hohe Priorität zu, so ist kein überzeugendes Argument dafür ersichtlich, die Verrechnungsmöglichkeit bei Schadenersatzforderungen aus unerlaubter Handlung nach
Art. 41 OR
bei (leichter und grober) Fahrlässigkeit zu verneinen, bei absichtlicher Schadenszufügung die Freizügigkeitsleistungen dagegen aus der strengen gesetzlichen Zweckbindung der Vorsorgemittel zu entlassen. Dabei muss der Schutz aller Destinatäre, auch der der Angehörigen des Arbeitnehmers, im Auge behalten werden. Entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung
BGE 114 V 33 S. 43
steht somit bei einer punktuellen Aufhebung des Verrechnungsverbots nicht nur der Vorsorgeschutz des "Straffälligen" auf dem Spiel.
4.
(Parteientschädigung.) | de |
657334a1-1cee-4b7e-bd33-e5488baa964b | Sachverhalt
ab Seite 156
BGE 106 II 155 S. 156
Im Rahmen der Liquidation der Personalfürsorgestiftung der T. AG erstellte der Stiftungsrat am 6. August 1979 einen Plan für die Verteilung des Stiftungsvermögens an die Destinatäre, der vom Bezirksrat Zürich am 6. September 1979 genehmigt wurde. Dieser Plan schloss G. und S. von der Verteilung aus. Mit Entscheid vom 6. Februar 1980 wies der Regierungsrat des Kantons Zürich einen Rekurs dieser beiden Destinatäre ab. Es hielt die Stiftung für berechtigt, ihre Verantwortlichkeitsansprüche gegenüber S. als ehemaligem Mitglied des Stiftungsrats mit dessen Destinatärsansprüchen zu verrechnen.
Das Bundesgericht weist die von G. und S. gegen den Entscheid des Regierungsrats erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
6.
Bezüglich des Beschwerdeführers 2, dessen Destinatäreigenschaft unbestritten ist, stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage, ob eine Personalfürsorgeeinrichtung die Forderungen ihrer Destinatäre mit ihren Gegenforderungen verrechnen dürfe. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement führte in seiner Vernehmlassung aus, diese Frage sei umstritten; sie werde von RIEMER (Die Verrechnungseinrede der Personalfürsorgestiftung gegenüber Forderungen ihrer Destinatäre, SJZ 75/1979, S. 341 ff.) verneint, von STREIFF (Leitfaden zum neuen Arbeitsvertragsrecht, 3. Aufl. N. 9 zu
Art. 331c OR
) dagegen bejaht. Soweit sich diese Meinungsäusserung auf RIEMER bezieht, ist sie mit bezug auf Fälle der vorliegenden Art falsch. RIEMER unterscheidet in seiner Abhandlung zunächst zwischen Forderungen, die immer nur der Stiftung zugestanden haben, und solchen, die ihr vom Arbeitgeber oder von Dritten abgetreten worden sind. Verantwortlichkeitsansprüche sind Forderungen der erstgenannten Art. Sodann unterscheidet RIEMER die Fälle, in denen die Verrechnung nach oder vor Eintritt des Vorsorgefalles geltend gemacht wird. Im vorliegenden Fall wird sie vor Eintritt des Vorsorgefalles geltend gemacht. Für diesen Fall unterscheidet RIEMER weiter, ob die Stiftung ihre Schuldpflicht nach
Art. 331c Abs. 1 OR
(Begründung einer Forderung auf künftige Vorsorgeleistungen) oder nach
Art. 331c Abs. 4 OR
(Barauszahlung) erfülle. Im vorliegenden Fall ist vorgesehen, dass die Destinatäre in bar abgefunden
BGE 106 II 155 S. 157
werden. Für diesen Fall schreibt RIEMER ausdrücklich, die Verrechnung sei auch bei Verweigerung der Zustimmung des Arbeitnehmers zulässig (a.a.O., S. 343/44). Auch nach STREIFF ist sie nicht verboten. Der Auffassung dieser beiden Autoren ist beizutreten.
Anders als beim Lohn (
Art. 323b Abs. 2 OR
) hat der Gesetzgeber bei den Leistungen der Personalfürsorgeeinrichtung nur die Abtretung und Verpfändung, nicht aber die Verrechenbarkeit ausdrücklich ausgeschlossen (
Art. 331c Abs. 2 OR
). Selbst eine Lohnforderung darf mit Gegenforderungen des Arbeitgebers verrechnet werden, soweit sie das Existenzminimum überschreitet. Ersatzforderungen für absichtlich zugefügten Schaden darf der Arbeitgeber mit Lohnforderungen des Arbeitnehmers sogar unbeschränkt verrechnen (
Art. 323b Abs. 2 OR
). Unter diesen Umständen ist nicht einzusehen, weshalb Verantwortlichkeitsansprüche der Stiftung gegenüber einem Destinatär, der als Stiftungsrat für das Stiftungsvermögen mitverantwortlich war, nicht mit dessen Destinatäransprüchen sollten verrechnet werden dürfen. Eine solche Verrechnung muss jedenfalls dann zulässig sein, wenn die Stiftung, wie im vorliegenden Fall, ausschliesslich vom Arbeitgeber gespiesen wurde. Indem die Stiftung, der Bezirksrat und der Regierungsrat die Verrechnung im vorliegenden Fall zuliessen, verletzten sie demnach das Bundesrecht nicht. | de |
3b44deb5-e8ce-49da-95fb-59dd049ed833 | Sachverhalt
ab Seite 295
BGE 118 II 295 S. 295
Für Arbeiten an drei Mehrfamilienhäusern des in Davos wohnhaften Hans C. klagte die A. C. SA am 12. April 1988 beim Bezirksgericht Oberlandquart gegen C. auf Zahlung von Werklohn. Das Bezirksgericht liess die Ausmasse, welche die Klägerin ihren Unternehmerrechnungen zugrundegelegt hatte, durch einen Experten überprüfen. Dieser bestätigte die Richtigkeit der Ausmasse weitgehend und hielt insbesondere fest, dass die bei drei Rechnungspositionen aufgrund von Ziffer 7.44 SIA-Norm 243 (Verputzte Aussenwärmedämmung) vorgenommenen Zuschläge zu den Ausmassen korrekt seien. Gestützt auf die überprüften Rechnungen hiess das Bezirksgericht die Klage am 9. August 1990 für Fr. 146'788.-- gut. Das Kantonsgericht Graubünden reduzierte den zugesprochenen
BGE 118 II 295 S. 296
Betrag auf Fr. 126'227.75. Die vom Beklagten gegen das kantonsgerichtliche Urteil vom 23. Oktober 1991 erhobene Berufung heisst das Bundesgericht teilweise gut und spricht der Klägerin Fr. 107'485.05 zu. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Zu prüfen bleibt die Rüge des Beklagten, das Kantonsgericht sei bei der Festsetzung des Werklohns zu Unrecht von der Anwendbarkeit der SIA-Norm 243 ausgegangen, weshalb für die drei Rechnungspositionen 4, 5.50 und 6.3 nur auf die effektiven Ausmasse ohne Zuschläge nach Ziff. 7.44 dieser Norm abgestellt werden dürfe.
a) Wie in einem neuesten Entscheid (
BGE 117 II 284
E. 4b) ausgeführt worden ist, anerkennt das Bundesgericht die vom Schweizerischen Ingenieur- und Architekten-Verein herausgegebenen Normen, denen die Bedeutung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen zukommt, nicht als regelbildende Übung und stellt darauf nur ab, wenn die Parteien sie zum Vertragsinhalt erhoben haben (
BGE 107 II 178
E. 1; vgl. auch
BGE 109 II 452
Nr. 96). Vorgeformte Vertragsinhalte können zwar Ausdruck der Verkehrsauffassung oder -übung sein. Zu vermuten ist dies aber nicht, sondern muss im Einzelfall nachgewiesen werden (JÄGGI/GAUCH, N. 403 zu
Art. 18 OR
; KRAMER, N. 33 zu
Art. 18 OR
; GAUCH, Der Werkvertrag, 3. A. 1985, S. 64 f. Rz. 225, S. 67 f. Rz. 238 f.; GAUCH in: Kommentar zur SIA-Norm 118, S. 24 ff. Rz. 2; MERZ, ZBJV 114/1978 S. 540 f.).
b) Die Parteien haben die SIA-Norm 243 unstreitig nicht in den Werkvertrag übernommen. Das Kantonsgericht hält sie trotzdem für massgeblich, weil die einschlägige Ziffer 7.44 lediglich technische Anweisungen darüber enthalte, wie nicht oder schwer messbare Ausmasse zu ermitteln seien. Träfe diese Auffassung zu und gäbe Ziffer 7.44 nur eine übliche Messmethode wieder, dann hätte die Vorinstanz mit der Bestimmung des streitigen Ausmasses der drei Rechnungspositionen eine tatsächliche Feststellung getroffen, die im Berufungsverfahren nicht zu überprüfen wäre (
Art. 63 Abs. 2 OG
). Um eine vereinfachte Messmethode, die den Unternehmer in gewissen Fällen von der genauen Feststellung des effektiven Ausmasses entbinden würde, handelt es sich indessen nicht. Ziffer 7.44 berechtigt den Unternehmer vielmehr zu Zuschlägen zum festgestellten Ausmass für Aussenisolationsarbeiten in gewissen Bereichen (Anschlüsse an Fensterbänken, Ecken mit Kantenabrundungen,
BGE 118 II 295 S. 297
runde Bauteile und Untersichten). Offensichtlich ist diese Regelung auf schwierigere Arbeiten zugeschnitten, für die der Unternehmer eine zusätzliche Vergütung soll beanspruchen können. Eine solche von einem interessierten Berufsverband einseitig erlassene Bestimmung zur Festsetzung der Werklohnhöhe hätte aber zu ihrer Verbindlichkeit der ausdrücklichen Übernahme in den Werkvertrag bedurft (JÄGGI/GAUCH, N. 403 zu
Art. 18 OR
).
Eine Übernahme wäre selbst dann erforderlich gewesen, wenn Ziffer 7.44 bloss eine erleichterte Feststellung der Ausmasse bezwecken würde. Zwar können technische Usanzen im Gegensatz zu rechtlichen Verbandsnormen auch ohne ausdrückliche Übernahme die Auslegung von Parteierklärungen bestimmen, sofern sie die massgebende Verkehrssitte konkretisieren (KRAMER, N. 105 zu
Art. 1 OR
). Die zahlreichen Regeln, welche die Praxis zur Ermittlung der nach Einheitspreisen zu vergütenden Menge entwickelt hat und die sich auch in verschiedenen SIA-Normen finden, gehören jedoch nicht dazu. Als Grundlage für die Berechnung des geschuldeten Werklohns dürfen sie dem Bauherrn nur entgegenhalten werden, wenn die Parteien sie vereinbart haben (GAUCH, Der Werkvertrag, S. 184 Rz. 641). Das gilt erst recht für diejenigen Regeln, die es dem Unternehmer ermöglichen, vom tatsächlichen Ausmass abzuweichen, darf doch der Bauherr ohne gegenteilige Abmachung annehmen, dass ihm die effektiv erbrachten Leistungen berechnet werden. | de |
581cd410-c111-42cf-bd83-2972542cff75 | Sachverhalt
ab Seite 264
BGE 125 III 263 S. 264
A.-
Die Lobos Informatik AG und die Debita AG sind Parteien eines Lizenzvertrages vom 19. Dezember 1988 über Buchhaltungs-Software. Im Nachtrag zu diesem Vertrag wurde festgehalten, die Installation erfolge im Object Code; die Programme wurden dann aber sowohl im Object Code als auch im Source Code installiert.
Am 25. Januar 1996 ersuchte die Debita AG die Lobos Informatik AG um Support per Modem. Letztere stellte bei dieser Gelegenheit fest, dass das Programmmaterial seit dem 3. Mai 1993, d.h. seit der letzten von ihr selbst vorgenommenen Änderung, modifiziert worden war. Sie remonstrierte dagegen bei der Debita AG, doch kam es in der Folge zu keiner Einigung.
B.-
Mit Klage vom 6. November 1996 beantragte die Lobos Informatik AG dem Kantonsgericht des Kantons Schwyz unter anderem, die Debita AG zur Herausgabe der im Source Code abgespeicherten Programme und Programmteile sowie zur Rückgängigmachung der seit 4. Mai 1993 vorgenommenen Änderungen an diesen, eventuell zu deren ausschliesslicher Verwendung im Zustand vom 3. Mai 1993
BGE 125 III 263 S. 265
zu verpflichten. Das Kantonsgericht wies die Klage mit Urteil vom 4. August 1998 ab.
C.- Die Klägerin hat gegen das Urteil des Kantonsgerichts sowohl Berufung als auch staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut, hebt das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Schwyz vom 4. August 1998 insoweit auf, als es die genannten Begehren der Klägerin abweist, und weist die Streitsache insoweit zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an das Kantonsgericht zurück.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
Die Vorinstanz nahm an, da die Beklagte die Bedeutung der im Nachtrag zum Lizenzvertrag verwendeten Formulierung «Die Installation erfolgt im Object-Code» nicht habe kennen müssen, habe sie aufgrund des in Ziff. 5.4 des Lizenzvertrages statuierten umfassenden Rechts auf Abänderung des Lizenzmaterials davon ausgehen dürfen, ihr werde auch das Recht eingeräumt, über den Source Code zu verfügen. Diese Auffassung werde durch die Tatsache gestützt, dass die Klägerin den Source Code während Jahren bei der Beklagten beliess. Diese sei daher berechtigt, daran Änderungen vorzunehmen, und sei nicht zur Herausgabe verpflichtet.
Die Klägerin macht geltend, der Source Code werde weder im Lizenzvertrag noch im Nachtrag je erwähnt und sei damit nicht Gegenstand der der Beklagten eingeräumten Rechte. Entgegen der Annahme der Vorinstanz hätte die Beklagte die Einschränkung ihres Änderungsrechts aufgrund der Formulierung «Die Installation erfolgt im Object-Code» auch ohne entsprechende Aufklärung seitens der Klägerin erkennen müssen. Zudem seien Lizenzverträge nach einer allgemeinen Regel in dem Sinne restriktiv auszulegen, als im Zweifel die Nichtübertragung einzelner Teilrechte anzunehmen sei; dies gelte vorliegend bezogen auf den Source Code umso mehr, als dieser allgemein nur ausnahmsweise an Dritte weitergegeben werde. Da gemäss Ziff. 5.1, 10.1 und 10.5 des Lizenzvertrages alle nachträglichen Vertragsänderungen der Schriftlichkeit bedürften, dürfe auch nicht von einer stillschweigenden Ausdehnung des Lizenzvertrages auf den Source Code ausgegangen werden. Dieser Auffassung stehe das im Lizenzvertrag statuierte Änderungsrecht nicht entgegen, weil Programmänderungen auch dann möglich seien, wenn das Programm allein in Form des Object Code zur Verfügung stehe. Es bestehe demnach kein Rechtsgrund für die Verweigerung
BGE 125 III 263 S. 266
der Herausgabe des Source Code an die Klägerin; allein die Tatsache, dass die Klägerin den Source Code bei der Beklagten beliess, vermöge keinen Rechtsübergang zu bewirken.
a) Ein Nutzungsrecht an Software kann auf verschiedenen Rechtsgrundlagen erworben werden. In der Regel wird entweder ein - durch die vertraglichen Bestimmungen eingeschränktes - Eigentumsrecht an einer Programmkopie übertragen oder aber, im Falle eines echten Lizenzvertrages, die Software unter Einräumung eines Nutzungsrechts bloss leihweise überlassen (THOMANN, Grundriss des Softwareschutzes, Zürich 1992, S. 51 f.). Der Umfang des Nutzungsrechtes des Nehmers ergibt sich aus den Parteivereinbarungen, welche grundsätzlich nicht formpflichtig sind (Rehbinder, Schweizerisches Urheberrecht, 2. Auflage, Bern 1996, S. 132). Dies gilt auch für die Frage, ob dem Lizenznehmer der Source Code zur Verfügung gestellt wird oder nicht (BLICKENSTORFER, Der Sourcecode-Escrow, in: Thomann/Rauber (Hrsg.), Softwareschutz, Bern 1998, S. 213 f.).
Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ist bezüglich der Frage, ob die Beklagte aufgrund des Lizenzvertrages auch den Source Code nutzen, insbesondere diesen verändern dürfe, kein übereinstimmender tatsächlicher Parteiwille festzustellen. In diesem Fall sind zur Ermittlung des mutmasslichen Parteiwillens die Erklärungen der Parteien aufgrund des Vertrauensprinzipes so auszulegen, wie sie nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang sowie den gesamten Umständen verstanden werden durften und mussten. Das Bundesgericht prüft diese objektivierte Vertragsauslegung im Berufungsverfahren als Rechtsfrage (
BGE 123 III 165
E. 3a S. 168;
121 III 118
E. 4b/aa S. 123 mit Hinweisen).
b) aa) Die massgebliche Parteivereinbarung besteht aus einem «Lizenzvertrag für Programmprodukte» vom 19. Dezember 1988 und einem irrtümlich mit 13. Dezember 1988 datierten Nachtrag dazu. Der Lizenzvertrag sieht in Ziff. 1.3 und 6.1 vor, dass der Beklagten das Lizenzmaterial leihweise zur Verfügung gestellt wird, während das Eigentum daran bei der Klägerin verbleibt. Die Nutzungsdauer ist gemäss Ziff. 7 Abs. 1 des Nachtrages unbeschränkt, doch wurde die im Lizenzvertrag (Ziff. 2.6) vorgesehene Möglichkeit der Vertragskündigung beibehalten. Ein Anspruch der Beklagten auf Übertragung des Eigentums am Source Code, wie auch am Object Code, lässt sich demnach aus Lizenzvertrag und Nachtrag nicht ableiten.
bb) Der Lizenzvertrag enthält allgemeine Vertragsbestimmungen, welche durch die Vereinbarungen im Nachtrag individuell konkretisiert werden. Ziff. 1.2 des Lizenzvertrages statuiert bei Widersprüchlichkeiten
BGE 125 III 263 S. 267
den Vorrang ausdrücklich anderslautender Bestimmungen des Nachtrages, was den allgemeinen Grundsätzen über das Verhältnis von individuellen zu allgemeinen Vertragsbedingungen entspricht (
BGE 123 III 35
E. 2c/bb S. 44 mit Hinweis; KRAMER, Berner Kommentar, N. 210 f. zu
Art. 1 OR
; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 7. Auflage, Zürich 1998, S. 235 Rz. 1139; BUCHER, Basler Kommentar, N. 54 zu
Art. 1 OR
). Die Beklagte hat gemäss Ziff. 5.4 des Lizenzvertrages das Recht, das Lizenzmaterial ganz oder teilweise zu ändern und an ihre Bedürfnisse anzupassen. Demgegenüber sieht Ziff. 2 Abs. 2 des Nachtrages vor, die Installation der Programme erfolge im Object Code. Da ein im Object Code geschriebenes Programm nur unter stark erschwerten Bedingungen lesbar ist, was eine Abänderung praktisch verunmöglicht, wird damit das im Lizenzvertrag vorgesehene Abänderungsrecht der Beklagten stark eingeschränkt. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz handelt es sich dabei um eine «ausdrückliche» Andersregelung im Sinne von Ziff. 1.2 des Lizenzvertrages, ist doch die Einschränkung des Abänderungsrechtes durch die Installation im Object Code für jeden ohne weiteres einsichtig, dem die Bedeutung des Begriffes «Object Code» geläufig ist. Auch sonst sind keine Umstände erkennbar, aufgrund derer die grundsätzliche Einräumung eines Abänderungsrechts als Zusicherung der Anpassungsfähigkeit des im Nachtrag zu konkretisierenden Lizenzmaterials zu verstehen sein und damit den individuellen Bestimmungen des Nachtrages vorgehen sollte. Vielmehr hatte die Beklagte aufgrund von Ziff. 1.2 des Lizenzvertrages zu gewärtigen, dass die allgemeinen Vertragsbestimmungen durch die individuellen Abreden im Nachtrag modifiziert würden. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz wäre die Klägerin nach Treu und Glauben nicht verpflichtet gewesen, die Beklagte von sich aus auf die Bedeutung der Nachtragsbestimmung, wonach die Installation im Object Code erfolge, hinzuweisen. Es oblag vielmehr der Beklagten selbst, sich über die Tragweite der von ihr unterzeichneten Vertragsbestimmungen kundig zu machen. Selbst wenn diesbezüglich ein grosses Wissensgefälle zwischen den Parteien bestand, war es doch der Beklagten bzw. deren Organen ohne weiteres möglich und zumutbar, die Bedeutung des Begriffes «Object Code» herauszufinden. So hätten sie sich z.B. vor der Unterzeichnung bei der Klägerin darüber erkundigen können. Die Klägerin durfte nach Treu und Glauben davon ausgehen, dass der Beklagten, soweit sie keine Fragen stellte, die im Vertrag verwendeten
BGE 125 III 263 S. 268
EDV-technischen Begriffe vertraut waren, und dass sie demnach die Einschränkung ihres Abänderungsrechts erkannte und dieser zustimmte. Damit ist der Vertrag in diesem Sinne für beide Parteien bindend; ob sich die Beklagte allenfalls in einem Erklärungsirrtum befand, ist vorliegend nicht zu prüfen. Aus dem Lizenzvertrag und Nachtrag vom 19. Dezember 1988 kann demnach die Beklagte kein Recht auf Nutzung und Abänderung des Source Code ableiten.
c) Nach dem Gesagten erbrachte die Klägerin mit der Installation des Source Code eine Leistung, zu der sie nicht verpflichtet war. Ob die Beklagte dies als Offerte zu einer Vertragsänderung verstehen durfte, mit welcher ihr ein Nutzungsrecht auch am Source Code eingeräumt werden sollte, ist, da die Vorinstanz keine tatsächliche Willensübereinstimmung feststellen konnte, wiederum nach Treu und Glauben zu beurteilen. Der im Lizenzvertrag vorgesehene Schriftlichkeitsvorbehalt steht der Annahme einer entsprechenden Vertragsänderung nicht von vornherein entgegen, kann doch namentlich auch durch konkludentes Handeln nachträglich auf die vorbehaltene Form verzichtet werden (
BGE 105 II 75
E. 1 S. 78; SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 45 zu
Art. 16 OR
; MERZ, Vertrag und Vertragsschluss, 2. Auflage, Freiburg 1992, S. 225 N. 422). Ausser Betracht hat aber entgegen der Ansicht der Vorinstanz zu bleiben, dass die Klägerin den Source Code während Jahren bei der Beklagten belassen hatte, denn für die Vertrauensauslegung sind lediglich Umstände zu berücksichtigen, welche den Parteien beim Vertragsschluss - bzw. hier bei der Vertragsänderung - bekannt oder erkennbar waren (
BGE 107 II 417
E. 6 S. 418).
Die Überlassung des Source Code vereinfacht die Abänderung der Programme in massgeblicher Weise und ermöglicht die Verwertung des im Programm enthaltenen Know-How. Sie würde gegenüber den anfänglich vereinbarten Vertragsleistungen der Klägerin eine substanzielle Mehrleistung darstellen, welche im Allgemeinen gar nicht, höchstens aber gegen Bezahlung eines diese zusätzlichen Möglichkeiten abgeltenden Preises gewährt wird (BLICKENSTORFER, a.a.O., S. 213 unten f.; FREI, Softwareschutz durch das Patentrecht, in: THOMANN/RAUBER, Softwareschutz, Bern 1998, S. 105). Die Beklagte durfte unter diesen Umständen nicht davon ausgehen, dass die Klägerin ihr diese Leistung freiwillig und ohne entsprechende Gegenleistung zusätzlich zum vertraglich Geschuldeten erbringen wollte. Zu welchem anderen Zweck die Klägerin den Source Code bei der Beklagten installierte, kann dabei offen bleiben, vermöchte doch angesichts des Nachteils, den die Nutzung und Änderung des Source
BGE 125 III 263 S. 269
Code durch die Beklagte für die Klägerin bedeutet, selbst die aus einem der Beklagten nicht verständlichen Grund erfolgte Installation deren Annahme, sie sei hierzu berechtigt, nicht zu rechtfertigen.
d) Nach dem Gesagten ist die Beklagte nicht berechtigt, über den Source Code zu verfügen. Die Klägerin kann demnach die Herausgabe der im Source Code gespeicherten Programme sowie die Beseitigung bestehender bzw. das Verbot künftiger Schutzrechtsverletzungen verlangen, sofern sie für die Programme urheberrechtlichen Schutz beanspruchen kann. Computerprogramme gelten als Werke im Sinne des Urheberrechtsgesetzes (
Art. 2 Abs. 3 URG
) und sind damit durch dieses geschützt, sofern sie individuellen Charakter haben (
Art. 2 Abs. 1 URG
; BBl 1989 III 522; Thomann, Softwareschutz durch das Urheberrecht, in: Thomann/Rauber, Softwareschutz, Bern 1998, S. 13). Da die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil zur Beurteilung dieser Frage durch das Bundesgericht nicht ausreichen, ist die Streitsache insoweit zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. | de |
f32515ac-6470-4298-add2-89b5777fe033 | Zur vollständigen Sachverhaltsermittlung gehört die Quantifizierung des Risikos der verschiedenen Störfallszenarien hinsichtlich Schadensausmass (Störfallwert) und Eintretenswahrscheinlichkeit in Form einer Risikosummenkurve (E. 5a-c).
Eine absolute Schadenobergrenze darf jedenfalls nicht schon bei Störfallwerten von 0.5-0.6 angenommen werden (E. 5d).
Überprüfung der Grundannahmen der Risikoermittlung (E. 5e-h).
Sachverhalt
ab Seite 19
BGE 127 II 18 S. 19
Die X. AG betreibt in Pfäffikon/SZ eine grosse Badeanlage. Die Desinfektion des Badewassers erfolgt mit Chlorgas, welches in zwei 500 kg-Druckfässern in flüssiger Form gelagert wird. Gestützt auf Art. 10 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz (USG; SR 814.01) und
Art. 6 der Verordnung vom 27. Februar 1991 über den Schutz vor Störfällen (Störfallverordnung, StFV; SR 814.012)
forderte das Amt für Feuer- und Zivilschutz des Kantons Schwyz (AFZ) am 28. Juni 1994 die X. AG auf, eine quantitative Risikoermittlung gemäss Anhang 4 StFV vorzunehmen.
In der Folge reichte die X. AG die vom Ingenieurbüro A. und Partner AG erstellte Risikoermittlung vom 2. März 1995 ein. Das AFZ zog zur Beurteilung das Ingenieurbüro B. AG bei. Gestützt auf dessen Überprüfungsbericht verfasste das AFZ am 12. Februar 1996 einen Kontrollbericht gemäss
Art. 7 StFV
. Darin gelangte es zum Schluss, das mit der Lagerung des verflüssigten Chlorgases verbundene Risiko sei zu gross, und setzte der X. AG Frist bis Ende 1996, um den Betrieb auf ein alternatives Desinfektionsverfahren umzurüsten und das Risiko damit auf ein akzeptables Mass zu senken.
Nachdem der X. AG mehrere Fristerstreckungen gewährt worden waren, forderte das Militär- und Polizeidepartement (MPD) die X. AG mit Verfügung vom 30. September 1996 dazu auf, bis Ende 1997 die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um die Risiken in den akzeptablen Bereich zu bringen, und setzte ihr Frist bis Ende 1996 an, um einen eigenen, fachmännisch ausgearbeiteten Lösungsvorschlag einzureichen. Mangels eines solchen Vorschlags gelte eines der im Bericht B. aufgezeigten Verfahren als verbindlich, bei welchem auf die Lagerung von Chlor in Druckbehältern verzichtet wird.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde der X. AG wies der Regierungsrat des Kantons Schwyz am 29. September 1998 ab. Auch die Beschwerde der X. AG an das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz blieb erfolglos.
Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes vom 21. Mai 1999 erhob die X. AG Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Angelegenheit sei soweit notwendig zur Ergänzung des Beweisverfahrens, zum Verzicht auf ein Chlorgasverbot und zur Neubeurteilung an die Vorinstanzen zurückzuweisen.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde gutgeheissen, soweit darauf einzutreten war, und die Sache zu erneuter Beurteilung an das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz zurückgewiesen.
BGE 127 II 18 S. 20 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
a) Es ist unbestritten, dass die Anlage der Beschwerdeführerin aufgrund der gelagerten Menge Chlor der Störfallverordnung untersteht und der Verpflichtung zur Erstellung einer Risikoermittlung gemäss
Art. 6 Abs. 4 StFV
unterliegt.
Art. 7 Abs. 2 StFV
bestimmt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Störfalls umso kleiner sein muss, je schwerer die Schutzbedürfnisse von Bevölkerung und Umwelt wiegen und/oder je grösser das Ausmass der möglichen Schädigungen derselben ist. Das BUWAL hat - gestützt auf
Art. 22 StFV
- mit dem Handbuch I zur Störfallverordnung 1991 (im Folgenden zitiert als "Handbuch I"), ergänzt bzw. abgeändert durch die Beurteilungskriterien I zur Störfallverordnung vom September 1996 (nachfolgend zitiert als "Beurteilungskriterien I"), quantifizierte Kriterien für das Verhältnis von Störfallausmass (Störfallwert) und Störfallwahrscheinlichkeit pro Betrieb und Jahr festgelegt. Entsprechend dem Handbuch I (Anhang G S. 45 ff.) ist das von der Anlage ausgehende Risiko in einem Wahrscheinlichkeits-Ausmass-Diagramm (W-A-Diagramm) darzustellen. Das aus den verschiedenen untersuchten Störfallszenarien resultierende Risiko wird darin als Risikosummenkurve dargestellt. Das Diagramm unterscheidet drei Risikobereiche: akzeptabel, Übergangsbereich und nicht akzeptabel.
Gemäss der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Risikoermittlung vom 2. März 1995 liegt das von den Chlordruckfässern im "Ist-Zustand" ausgehende Risiko (als Summenkurve dargestellt) deutlich im Übergangsbereich (auch unter Berücksichtigung der Änderungen gemäss Beurteilungskriterien I), erreicht indessen nie den Bereich des inakzeptablen Risikos. Das hat zur Folge, dass in Anwendung von
Art. 7 StFV
die Tragbarkeit des Risikos im Rahmen einer Interessenabwägung zu beurteilen ist; erscheint das Risiko als untragbar, ist über zusätzliche risikomindernde Massnahmen zu entscheiden (
Art. 8 StFV
; Handbuch I S. 36 f. und Anhang G S. 51 ff.; Beurteilungskriterien I S. 10 f.).
Das MPD hat das Risiko, das aktuell (im "Ist-Zustand") von der Lagerung von bis zu 1000 kg druckverflüssigtem Chlor auf dem Areal der Beschwerdeführerin ausgeht, als nicht tragbar im Sinne von
Art. 7 StFV
qualifiziert und die Beschwerdeführerin aufgefordert, die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um die Risikosummenkurve in den akzeptablen Bereich nach Handbuch I zu bringen. Der Beschwerdeführerin wurde Gelegenheit gegeben, einen eigenen Lösungsvorschlag, der die gesetzten Werte einhält, zur Genehmigung
BGE 127 II 18 S. 21
einzureichen. Für den Fall, dass innert der gesetzten Frist kein Vorschlag oder eine Lösung mit ungenügenden Werten eintreffen sollte, wurde die Umstellung auf ein Desinfektionsverfahren angeordnet, bei dem auf die Lagerung von Chlor in Druckbehältern verzichtet wird.
Streitig ist im Wesentlichen der zweite Teil dieser Verfügung: Die Beschwerdeführerin behauptet, die von ihr vorgeschlagenen zusätzlichen baulichen und betrieblichen Massnahmen genügten, um das Risiko - auch unter Beibehaltung der Lagerung von Chlor in Druckbehältern - in den akzeptablen Bereich zu verlegen und damit der Zielvorgabe des MPD zu entsprechen. Es sei daher unverhältnismässig, die Umstellung auf ein alternatives Desinfektionsverfahren zu verlangen, welches für Grossanlagen noch nicht erprobt sei und mit hohen Kosten verbunden wäre. Hierzu hat die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren mehrere Berichte vorgelegt: die Risikoermittlung vom 2. März 1995, den Zusatzbericht vom 19. Dezember 1996, die ergänzenden Untersuchungen zur Risikoermittlung vom 20. Januar 1998 und die ergänzenden Untersuchungen zur Anlieferung vom 4. November 1998, alle verfasst vom Ingenieurbüro A. und Partner AG.
b) aa) Bereits in der Risikoermittlung vom 2. März 1995 wurden gewisse risikomindernde Massnahmen vorgeschlagen (Anpassung des Chlorraums an die geltende SIA-Norm; Anlieferung von Chlor nur noch vor Betriebsöffnung); unter Berücksichtigung dieser zusätzlichen Massnahmen verläuft die Risikosummenkurve (gemäss der Berechnung des Ingenieurbüros A. und Partner AG) allerdings weiterhin im Übergangsbereich.
Im Zusatzbericht vom Dezember 1996 werden zusätzliche Schutzmassnahmen untersucht; dabei gelangt die günstigere Beurteilungsweise zum Zuge, welche die Beurteilungskriterien I (vom September 1996) eingeführt haben. Gemäss den Beurteilungskriterien I gelten Risiken mit einem Störfallwert bis zu 0,3 ungeachtet ihrer Eintretenswahrscheinlichkeit als akzeptabel. Auch unter Berücksichtigung dieser Änderung der Richtlinie und der zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen verläuft die Risikosummenkurve beim vorhandenen Chlorraum (Chlorraum 1) im Übergangsbereich. Indessen schlägt der Zusatzbericht erstmalig auch die Errichtung eines neuen Chlorraumes (Chlorraum 2) vor. Der Zusatzbericht gelangt zum Schluss, dass mit dem Chlorraum 2 die Risikosummenkurve gemäss den Beurteilungskriterien I vollständig im akzeptablen Bereich liegt, während sie nach dem alten Massstab gemäss
BGE 127 II 18 S. 22
Handbuch I in einem kleinen Abschnitt durch den Übergangsbereich geführt hätte.
Die ergänzenden Untersuchungen vom Januar 1998 befassen sich mit der Wirkung weiterer Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit, nämlich dem erdbebensicheren und druckfesten Ausbau des Chlorraums 2. Die Risikosummenkurve würde gemäss den ergänzenden Untersuchungen vollständig im akzeptablen Bereich verlaufen, und zwar auch unter Anwendung der strengeren Kriterien des Handbuchs I.
In den ergänzenden Untersuchungen zur Anlieferung vom November 1998 wird schliesslich ein weiteres Potential für eine Risikosenkung darin erkannt, dass die Anlieferungen der Chlorfässer ausschliesslich zwischen 01.00 und 06.00 Uhr erfolgen würden.
bb) Gestützt auf die bei der B. AG eingeholte Überprüfung gelangte das AFZ in seinem Kontrollbericht vom 12. F-ebruar 1996 zum Ergebnis, die Risikoermittlung sei vollständig. Indessen werde bei einem Chlorgasleck die Flucht von Personen im Nahbereich (bis 100 m) durch Reizungen von Augen und Schleimhäuten stark erschwert. Die angenommenen Fluchtfaktoren für die einzelnen Freisetzungsszenarien seien daher mit oder ohne Massnahmen nicht nachvollziehbar.
Das MPD wies in seiner Verfügung vom 30. September 1996 ergänzend darauf hin, dass die Literaturangaben zur Gefährlichkeit von Chlor uneinheitlich seien. Je nach Annahme der Chlorkonzentration, welche zum Tode führe, liege die Risikosummenkurve im Übergangsbereich oder gar im nicht akzeptablen Bereich. Im anschliessenden Beschwerdeverfahren vor dem Regierungsrat erklärte das MPD, die in den Zusatzberichten vorgeschlagenen Massnahmen genügten unter anderem deshalb nicht, weil alle Zusatzberichte wie schon die Risikoermittlung auf unrealistischen Annahmen hinsichtlich der Personendichte im betroffenen Gebiet und des Anteils an Personen, die rechtzeitig flüchten könnten, beruhten. Dieser Kritik schlossen sich der Regierungsrat und das Verwaltungsgericht an.
cc) Die Feststellungen des Verwaltungsgerichts betreffend Personendichte in der Umgebung des Chlorlagers und betreffend Fluchtverhalten bei einem Störfall sind Sachverhaltsfeststellungen, an die das Bundesgericht im Rahmen von
Art. 105 Abs. 2 OG
gebunden ist. Dasselbe gilt für Feststellungen über die lokalen räumlichen Gegebenheiten. Weiter ist Tatfrage, mit welcher Häufigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit ein definiertes Störfallszenarium zu erwarten ist. Hingegen ist es Rechtsfrage, ob das Risiko tragbar ist oder nicht.
BGE 127 II 18 S. 23
c) Die Beschwerdeführerin rügt, das Verwaltungsgericht habe nicht geprüft, zu welchen Ergebnissen die von ihm befürworteten negativeren Grundannahmen führen würden; hierfür hätte der genaue Verlauf der Summenkurve festgestellt werden müssen. Zudem habe das Verwaltungsgericht nicht beachtet, dass bei Szenarien mit höherem Störfallwert die Häufigkeit entsprechend tiefer angesetzt werden müsse, weshalb der akzeptable Bereich nicht überschritten werde. Schliesslich sei die vom Verwaltungsgericht und den Behörden geübte Kritik an den in der Risikoermittlung zugrundegelegten Personendichten, Fluchtfaktoren und Schadenauswirkungen offensichtlich nicht stichhaltig.
Das Verwaltungsgericht hat aufgrund seiner Erwägungen zu den Personendichten im betroffenen Gebiet, der Ausbreitung des bei einem Störfall freigesetzten Chlorgases, dem Bereich mit letalen Konzentrationen, den Fluchtfaktoren, dem Störfallwert im schlimmsten Fall und der Häufigkeit "angenommen", dass nicht nur beim Ist-Zustand, sondern auch bei Berücksichtigung der verschiedenen vorgeschlagenen zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen, die Risikosummenkurve teilweise im Übergangsbereich liege. Es hat allerdings das Risiko, das sich bei Verwendung der ihm als zutreffend erscheinenden Ausgangsdaten ergeben würde, nicht in Form einer Summenkurve aufgezeichnet oder die in den Akten liegende, vom AFZ am 27. Januar 1999 erstellte "voraussichtliche Summenkurve bei einer Risikoermittlung nach BUWAL-Grundsätzen" für massgeblich erklärt. Eine Quantifizierung des Risikos ist jedoch erforderlich, um zu beurteilen, ob die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen Massnahmen genügen, d.h. geeignet sind, das Risiko auf ein tragbares Mass i.S. des Handbuchs I und den Beurteilungskriterien I zu reduzieren. Im Folgenden ist daher zu prüfen, ob aufgrund der vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen der Verlauf der Summenkurve ermittelt und der Sachverhalt insofern vervollständigt werden kann.
d) aa) Das Verwaltungsgericht hat für die von ihm erwarteten "worst cases" eine gewisse Quantifizierung vorgenommen, indem es im schlimmsten Fall einen Störfallwert von 0,5 bis 0,6 (mit 50 bis 100 Todesopfern) mit einer Eintretenswahrscheinlichkeit im Bereich 10-9 bis 10-7 rechnete. Dabei legte es die Wahrscheinlichkeitsberechnungen der Beschwerdeführerin für die spontane Freisetzung bei Expositionsdichtekombination Spitze zugrunde. Damit hat das Verwaltungsgericht verkannt, dass die Risikoermittlung nicht von absoluten Spitzenzeiten, sondern von einer durchschnittlichen
BGE 127 II 18 S. 24
Spitzenbetriebszeit (an Feiertagen, Wochenenden, Abenden und während der Schulferien) ausgeht, mit einem prozentualen zeitlichen Anteil von immerhin 34%. Geht man dagegen vom Eintritt eines Störfalls zu einem Zeitpunkt mit stark erhöhter Personendichte aus (z.B. 100 Personen, die gleichzeitig aus zwei vollbesetzten Bussen aussteigen), so erhöht sich zwar die Zahl der Todesopfer, zugleich verringert sich aber zwangsläufig die Eintretenswahrscheinlichkeit. Die Übernahme der vom Ingenieurbüro A. und Partner AG für andere Szenarien berechneten Häufigkeiten auch für die "worst-case"-Szenarien führt damit offensichtlich zu einem zu hohen Gesamtrisiko.
bb) Allerdings ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass eine Interessenabwägung bei katastrophalem Schadenausmass selbst dann zulässig sei, wenn das Risiko gemäss W-A-Diagramm im akzeptablen Bereich liege, d.h. dass Risiken mit erheblichem Schadenspotential in jedem Fall unzulässig seien, unabhängig von der Eintretenswahrscheinlichkeit. Würde diese Rechtsauffassung zutreffen, wäre die fehlende (bzw. zu hohe) Eintretenswahrscheinlichkeit für die "worstcase"-Szenarien unerheblich.
Die Frage, ob gewisse katastrophale Schadenspotentiale in jedem Fall unzulässig sind, unabhängig von der Eintretenswahrscheinlichkeit, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet (Übersicht zum Diskussionsstand in: HANSJÖRG SEILER, Recht und technische Risiken, Zürich 1997, S. 258; derselbe, Staats- und verwaltungsrechtliche Fragen der Bewertung technischer Risiken, insbesondere am Beispiel des Vollzugs von
Art. 10 USG
, in: ZBJV 130/1994 S. 1 ff., insbes. S. 15). USG und Störfallverordnung enthalten keine ausdrückliche maximale Schadenobergrenze. Das Handbuch I (S. 36) hält es für möglich, dass es ein Mass an Schädigungen gebe, das durch die privaten und öffentlichen Interessen nicht mehr aufgewogen werden könne und unabhängig von der Eintretenswahrscheinlichkeit als untragbar zu bezeichnen sei. Es hat in Anhang G Fig. G.4 S. 52 eine solche Grenze bei Störfallwert 1.0 gezogen. In den Beurteilungskriterien (S. 8) wurde die Frage dagegen offen gelassen: Ausmassachse und Akzeptabilitätslinie enden beim Störfallwert 1.0, da bei den in der Schweiz vorhandenen Betrieben nicht mit Ereignissen mit grösserem Schadenausmass zu rechnen sei. Grundsätzlich sind die Kantone, denen der Vollzug der Störfallverordnung obliegt, daher berechtigt, eine derartige maximale Schadenobergrenze festzulegen (SEILER, Bewertung technischer Risiken, a.a.O., S. 15). Dabei kann es aber nur um Schadenausmasse gehen, die wirklich Grosskatastrophen
BGE 127 II 18 S. 25
darstellen, nicht aber schon um Störfallwerte von 0.5 oder 0.6 (ca. 50-100 Tote). Ein Gefährdungspotential in dieser Grössenordnung haben sehr viele Anlagen (z.B. Tankstellen, Tanklastwagen, Eisenbahn- oder Strassentunnels, Chemiebetriebe, usw.). Würde man bereits bei solchen Schadenspotentialen ungeachtet der Wahrscheinlichkeit Betriebsverbote zulassen, könnte fast jede gewerbliche, industrielle oder kulturelle Tätigkeit gestützt auf die Störfallverordnung verboten werden. Dies kann nicht der Sinn von
Art. 10 USG
und von Art. 7 f. StFV sein.
cc) Nach dem Gesagten müssen auch den Risiken mit Störfallwerten von 0.5-0.6 Wahrscheinlichkeitswerte zugeordnet werden. Da gesicherte Berechnungen hierzu fehlen und auf die Annahmen des Verwaltungsgerichts nicht abgestellt werden kann, ist der Sachverhalt insofern ergänzungsbedürftig. Eine Rückweisung könnte daher allenfalls unterbleiben, wenn feststünde, dass die Risikosummenkurve im Übrigen (für Störfallwerte zwischen 0.3 und 0.5) eindeutig im Übergangsbereich verläuft. Die kantonalen Instanzen haben dies angenommen, weil die Risikoermittlung von einer zu geringen Personendichte und zu hohen Fluchtraten ausgegangen sei. Die Beschwerdeführerin hält diese Kritik für unberechtigt.
e) Für die Berechnung der möglicherweise im Freien von einem Störfall betroffenen Personenzahl nimmt die Risikoermittlung an, dass sich auf einem Parkplatz von 0,007 km2 (d.h. 7000 m2) in der Spitzenzeit 20 und im Durchschnitt 5 Personen aufhalten; auf dem Schulhausgelände (ca. 0.01 km2 bzw. 10'000 m2) 50 Personen während der Pausen und 5 Personen während der Unterrichtszeit, und im Eingangsbereich des Bades (0,002 km2 bzw. 2000 m2) 20 Personen an einem Spitzentag und 2 Personen an einem normalen Tag. Die Risikoermittlung begründet diese Annahmen nicht näher. Namentlich wird nicht behauptet, dass sie auf einer entsprechenden Erhebung an Ort und Stelle beruhen. Auf der Basis dieser Zahlen haben die Autoren Personendichten im Personen/km2 errechnet, welche der Risikoermittlung und allen Zusatzberichten zu Grunde gelegt wurden.
aa) Das Verwaltungsgericht hielt diese Werte für unrealistisch tief. Umgerechnet auf eine Parkplatzfläche von 1000 m2 ergäben sich an einem Spitzentag ganze 3 Personen, an Durchschnittstagen 0,75 Personen; auf 100 m Zufahrtsstrasse zum benachbarten Einkaufszentrum würden tagsüber 0,03 Personen geschätzt. Diese Zahlen würden der Personendichte auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums offensichtlich nicht gerecht, ebensowenig der Tatsache, dass
BGE 127 II 18 S. 26
die Zubringerstrasse zum Einkaufszentrum und zum Bad in Spitzenzeiten sehr stark befahren sei. Während dieser Zeiten sei mit etwa 3 Personen pro 100 m Strasse zu rechnen, also dem Hundertfachen dessen, was in der Risikoermittlung angenommen worden sei. Den 50 Personen, die sich gemäss Risikoermittlung während der Pausen auf dem Schulhaus aufhalten sollen, stehe gegenüber, dass sich in der Kantons- und Berufsschule 600 bis 700 Personen (Schülerinnen und Schüler sowie Lehrpersonen) aufhielten. Schliesslich seien auch für den Eingangsbereich und den Carparkplatz eindeutig zu tiefe Personendichten angenommen worden.
bb) Die Beschwerdeführerin macht nur geltend, das Verwaltungsgericht habe es bei seinen Berechnungen zu Unrecht unterlassen, eine Flächengewichtung vorzunehmen, d.h. in Rechnung zu stellen, dass die Werte Durchschnittswerte je km2 seien, während sich die Personendichten auf den Strassen konzentrierten und die Grünflächen menschenleer blieben. Dieser Einwand übersieht allerdings, dass das Verwaltungsgericht lediglich die Grundannahmen der Risikoermittlung (vor Umrechnung auf km2) auf besser vorstellbare kleinere Flächen umgerechnet hat. Die Umrechnungsmethode ist soweit ersichtlich dieselbe, die auch in der Risikoermittlung angewendet wurde.
Berechtigt ist der Einwand dagegen möglicherweise für die Strassen: Diese wurden vom Ingenieurbüro A. und Partner AG mit "übrigen Gebäuden" zu einer Zone zusammengefasst und eine Personendichte von 20 P/km2 (sowohl für Spitzentage als auch an normalen Tagen) zugrundegelegt, ohne nähere Erläuterung zur Berechnungsweise. Es mag sein, dass darin auch Frei- und Grünflächen berücksichtigt und eine Flächengewichtung vorgenommen worden ist. Das ist jedoch nicht überprüfbar, weil Lage, Art, Ausmass und Abgrenzung dieser Zone unbekannt sind.
Rechnet man mit P/km2 (anstatt mit absoluten Zahlen, d.h. Todesfällen je Szenarium), muss dies auf transparente, nachvollziehbare Weise geschehen. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass es sich bei der Personenzahl bzw. -dichte um Durchschnittszahlen handelt. Dies fällt für kurze Zeiträume (z.B. Pause im Schulhof) weniger ins Gewicht, sehr stark aber für die Expositionsdichtekombination Spitze mit einem zeitlichen Anteil von immerhin 34%. Insofern darf nicht unbesehen auf die maximale Zahl der Personen auf der Zufahrtsstrasse, dem Parkplatz und dem Eingangsbereich des Bades zu Stosszeiten abgestellt werden, sondern es muss von der Zahl von Personen ausgegangen werden, die sich durchschnittlich, während
BGE 127 II 18 S. 27
34% der gesamten Zeit, in diesen Bereichen aufhalten. Stellt man dagegen auf Situationen mit höherer Personendichte aber kleinerem zeitlichen Anteil ab (z.B. Staulage auf der Strasse), muss auch die damit verbundene niedrigere Eintretenswahrscheinlichkeit berücksichtigt werden.
cc) Zusammenfassend gibt es zwar gewichtige Einwände gegen die vom Ingenieurbüro A. und Partner AG zugrunde gelegten Personendichten; es fehlen jedoch zuverlässige quantifizierte Feststellungen der kantonalen Instanzen, die es zulassen würden, die Ausmassberechnungen vom Ingenieurbüro A. und Partner AG verlässlich zu überprüfen.
f) Unklar ist ferner, ob und wie stark Personen im Innern der Gebäude betroffen sind. Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass die bestehenden und geplanten Gebäude eindringende Gase nicht völlig zurückhalten könnten, zumal Türen und Fenster vielfach geöffnet seien; auch wenn in den Gebäuden keine tödliche Chlorgaskonzentration erreicht werde, müsse im Falle eines Panikausbruchs mit Todesopfern gerechnet werden. Diese Einwände erscheinen berechtigt; die kantonalen Instanzen haben jedoch das Risiko von Todesfällen aufgrund von Panikreaktionen (hinsichtlich Ausmass und Wahrscheinlichkeit) nicht quantifiziert. Diese Risikoeinschätzung wird noch erschwert durch die in der Umgebung des Bades geplanten neuen Anlagen (u.a. Aufstockung des bestehenden Einkaufscenters; Neuerstellung eines Migros-Fachmarktes und Gartencenter; Aufstockung der Parkplatzzahl auf insgesamt 2070), deren Auswirkungen auf die Risikosituation zusätzlicher Abklärung bedarf.
g) Streitig sind schliesslich die der Risikoermittlung zugrundezulegenden Fluchtfaktoren, d.h. die Annahmen dazu, wie viele betroffene Personen sich bei einem Störfall in Sicherheit bringen können. Diese Fluchtfaktoren wurden in der ursprünglichen Risikoermittlung je nach angenommenem Störfallszenarium auf 60 bis 95% angesetzt. In den nachfolgenden Untersuchungen wurden teilweise noch günstigere Annahmen (70 bis 99%) getroffen.
aa) Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass nach einer Freisetzung von Chlor die Flucht von Personen im Nahbereich der Quelle (bis ca. 100 m) dadurch stark erschwert werde, dass das Chlor zu Reizungen von Augen und Schleimhäuten führe und Panik auslösen könne. Weiter stellte es fest, dass in diesem Bereich innerhalb von drei Minuten Chlorkonzentrationen von >1000 ppm (parts per million) auftreten, die zum sofortigen Tod führen. Es erwog, bei dieser
BGE 127 II 18 S. 28
Ausgangslage sei es zu optimistisch anzunehmen, dass sich bei spontanen Chlorfreisetzungen 60 bzw. 70% und bei kontinuierlichen Freisetzungen (bei denen eine kleinere Menge Chlor pro Zeiteinheit freigesetzt wird) gar 80 bzw. 90% der Betroffenen retten könnten. Dabei sei in Rechnung zu stellen, dass sich unter den Betroffenen auch Kinder und Betagte oder aus anderen Gründen nicht ohne weiteres fluchtfähige Personen befinden könnten.
bb) Die Beschwerdeführerin hält dem bloss entgegen, die Fluchtfaktoren beruhten auf anerkannten Modellrechnungen; laienhafte Annahmen vermöchten dagegen nicht aufzukommen. Gleichzeitig legt sie eine Stellungnahme ihrer Gutachterin ins Recht (Stellungnahme zu den Grundannahmen, 1. Juli 1999), in welcher ausgeführt wird, die Annahme von Fluchtfaktoren stelle im Rahmen von Risikoanalysen eine anerkannte Modelltechnik dar. Die eingesetzten Werte seien Ermessenssache unter Berücksichtigung des zu erwartenden Ablaufs des abgebildeten Ereignisses. Die Letalität sei eine Funktion von Konzentrationsverlauf und Dauer der Einwirkung. Innerhalb von drei Minuten könne der Mensch bei normalem Schritttempo eine Strecke von 240 m zurücklegen. Bei Annahme einer zufälligen Fluchtrichtung könne davon ausgegangen werden, dass sich mindestens 75% in eine günstige Richtung, d.h. vom Gefahrenherd weg, bewegten. Der Bereich, in dem mit 100 %-iger Letalität gerechnet werden müsse, sei somit im Durchschnitt bedeutend geringer als vom Verwaltungsgericht angenommen worden sei.
cc) Diese Ausführungen vermögen jedoch nicht darüber hinweg zu täuschen, dass offenbar gesicherte Erfahrungswerte über die Fluchtfaktoren bei Chlorgas- oder vergleichbaren Unfällen fehlen und damit jede Annahme mit Unsicherheiten behaftet ist.
Auch wenn zahlreiche Betroffene theoretisch die Möglichkeit haben, sich innert nützlicher Frist aus dem Gefahrenbereich zu retten, so muss doch ernsthaft damit gerechnet werden, dass die starken Reizungen, welche das Gas auslöst, eine erfolgreiche Flucht erschweren oder verunmöglichen. Ferner können Personen zu Tode kommen, die an sich flüchten könnten, aber anderen zu helfen versuchen, Flüchtende können sich gegenseitig behindern, usw.
Die Risikoermittlung beruht überdies auf der Annahme, dass sich bei einem Störfall keine Personen von Aussen in das Gefahrengebiet bewegen. Diese Annahme ist ebenfalls fragwürdig. Wie die kantonalen Instanzen geltend gemacht haben und auch die Beauftragte der Beschwerdeführerin grundsätzlich anerkennt, ist nicht auszuschliessen, dass Chlorgas in benachbarte Gebäude, namentlich das
BGE 127 II 18 S. 29
Einkaufszentrum, eindringt. Auch wenn dabei keine letalen Konzentrationen auftreten, ist doch zu erwarten, dass ein Teil der in diesem Gebäude befindlichen Personen nach Draussen flieht und sich dort erhöhter, ja sogar Todesgefahr aussetzt. Dies gilt erst recht für gewisse, in der Risikoermittlung berücksichtigte Szenarien (z.B. starke Erdbeben), bei denen mit einer allgemeinen Flucht aus den Gebäuden ins Freie zu rechnen ist.
dd) Es liegt somit, wie das Verwaltungsgericht zu Recht erwogen hat, im Rahmen des behördlichen Ermessens, die Fluchtfaktoren, welche der Risikoanalyse zu Grunde liegen, als zu optimistisch anzusehen. Dies entbindet die Behörden jedoch nicht davon, ihrerseits ihre Annahmen zu quantifizieren, d.h. die zugrundezulegenden Fluchtraten zu beziffern (evtl. nach Szenarien differenziert) und deren Auswirkungen auf das Gesamtrisiko zu berechnen.
h) Schliesslich macht die Beschwerdeführerin geltend, dass das Risiko durch den Bau eines neuen Chlorraums in der Nähe des Carparkplatzes in den akzeptablen Bereich gesenkt werden könnte.
aa) In den ergänzenden Untersuchungen vom Januar 1998 hatte die Beschwerdeführerin vorgeschlagen, den neuen Chlorraum so zu gestalten, dass er dem Gasdruck bei der Freisetzung eines vollen Behälters standhalte. Dadurch hätten Freisetzungen bei geschlossener Türe keine Auswirkungen. Die Tür des neuen Chlorraums würde dieselbe Drucksicherheit aufweisen wie das restliche Gebäude und schliesse bei Gasalarm selbständig. Zudem seien bauliche Massnahmen vorzusehen, so dass Erdbeben bis und mit einer Stärke VIII (MSK-1964-Skala) keine Lecks zur Folge hätten. Durch diese bauliche Massnahmen könne das Risiko einer Chlorgasfreisetzung aufgrund eines Störfalls im Chlorraum (z.B. Behälterbersten, Armaturenleck) wesentlich gesenkt werden. In den ergänzenden Untersuchungen zur Anlieferung vom 4. November 1998 schlägt die Beschwerdeführerin darüber hinaus vor, die Anlieferung der Chlorfässer auf den Zeitraum 01.00 bis 06.00 Uhr zu beschränken (während in den ergänzenden Untersuchungen vom Januar 1998 noch angenommen worden war, dass 10% aller Anlieferungen in der Betriebszeit erfolgen. Dies hätte zur Folge, dass sich bei Freisetzungen im Rahmen von Umschlaghandlungen nur sehr wenige Personen im gefährdeten Bereich befänden.
bb) Das Verwaltungsgericht hat dem entgegengehalten, die Machbarkeit und Verlässlichkeit einer druckfesten Abschottung bzw. eines innenüberdrucksicheren Chlorraumes am Alternativstandort sei nicht nachvollziehbar erstellt. Nach den Berechnungen
BGE 127 II 18 S. 30
der Beschwerdeführerin, denen das Verwaltungsgericht insoweit nicht widerspricht, beträgt der Innenüberdruck, den der Chlorraum aushalten müsste, jedoch (je nach Raumgrösse) nur 1 bis 2 bar. Es ist nicht ersichtlich, weshalb dies technisch nicht realisierbar sein soll. Die am Augenschein vom 3. Februar 1999 geäusserten Bedenken des kantonalen Störfallkoordinators betrafen denn auch nur die Druckfestigkeit der automatisch schliessenden Türen. Diese Massnahme (Kopplung der Türe mit Gaswarnern, welche die Tür bei Alarm automatisch schliessen) wurde jedoch bei der Risikoabschätzung im Sinne einer konservativen Betrachtungsweise nicht berücksichtigt. Zwar sind weitere kritische Punkte denkbar (z.B. Nichtverschliessen der druckfesten Türe durch Fehlverhalten des Personals, Mängel beim Bau des druckfesten Chlorraums bzw. der Tür); dies ist aber kein Grund, die vorgeschlagenen zusätzlichen Massnahmen von vornherein, ohne nähere Überprüfung, als ungenügend abzutun und in die Risikoabschätzung nicht einzubeziehen.
cc) Es erscheint plausibel, dass die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen Massnahmen (druckfester Raum und Umschlag ausschliesslich zwischen 01.00 und 06.00 Uhr) geeignet wären, das Risiko wesentlich abzusenken: Den grössten Beitrag zum Gesamtrisiko der bestehenden Anlage liefern nämlich gemäss Risikoermittlung die Szenarien "spontane Freisetzung durch Behälterversagen im Gebäude" (Störfallwert von mehr als 0,3 mit Wahrscheinlichkeit von ca. 4 x 10-7) und "spontane Freisetzung im Freien durch Schäden an Behälter/Ventil bei Umschlag" (Störfallwert von mehr als 0,3 mit Wahrscheinlichkeit von ca. 1,3 x 10-6), mithin gerade diejenigen Szenarien, deren Risiko sich durch die vorgeschlagenen Massnahmen plausibel reduziert.
Durch die dichte Ausgestaltung des Lagerraums würde zwar nicht das maximale Schadenausmass, wohl aber die Wahrscheinlichkeit einer Freisetzung von Chlorgas aus dem Gebäude erheblich gesenkt: Behälterbersten und Armaturenleck hätten nämlich ausserhalb des Chlorraums nur Auswirkungen, wenn gleichzeitig die Türe offensteht (d.h. vor allem bei Anlieferungen, die jedoch grundsätzlich nicht mehr in den Betriebszeiten stattfinden würden). Im Übrigen wäre eine Ausbreitung von Chlorgas aus dem Gebäude ins Freie nur noch im Fall eines starken Erdbebens oder Sabotagehandlungen möglich, wenn auch die Baute selbst zerstört würde. Die kantonalen Behörden wären deshalb verpflichtet gewesen, diese zusätzlichen Massnahmen näher zu prüfen. Dabei durften sie sich nicht - wie im Beschwerdeentscheid des Regierungsrates geschehen - mit
BGE 127 II 18 S. 31
dem Hinweis auf das nach wie vor bestehende hohe Schadenpotential begnügen, sondern mussten auch die Reduktion der Eintretenswahrscheinlichkeit würdigen.
dd) Allerdings hatten Regierungsrat und Verwaltungsgericht Bedenken hinsichtlich des vorgeschlagenen Standorts des 2. Chlorraums. Dieser soll in unmittelbarer Nähe des kommunalen Chemiewehrstützpunkts errichtet werden, mit der Folge, dass die Chemiewehr bei einem Störfall durch das Chlorgas allenfalls daran gehindert werden könnte, zu ihren Gerätschaften zu gelangen. Diese - durchaus erheblichen - Bedenken befreiten das Verwaltungsgericht jedoch nicht davor, die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen Massnahmen zur Risikominderung ernsthaft zu prüfen und allenfalls zu überlegen, ob ein anderer Standort für die Errichtung eines druckfesten Chlorraums in Betracht kommt bzw. ob die Standortnachteile aufgrund einer erheblichen Minderung der Eintretenswahrscheinlichkeit in Kauf genommen werden können.
i) Nach dem Gesagten ist es nicht möglich, den Sachverhalt im bundesgerichtlichen Verfahren zu ergänzen; vielmehr ist die Sache zu erneuter Abklärung an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen. | de |
2ffc91f7-70fe-49d4-877c-d0b71a94791f | Erwägungen
ab Seite 274
BGE 126 V 273 S. 274
Aus den Erwägungen:
2.
Streitig und zu prüfen sind die versicherungsmässigen Voraussetzungen für den Bezug einer Invalidenrente.
a) Nach
Art. 6 Abs. 1 IVG
haben Anspruch auf Leistungen alle bei Eintritt der Invalidität versicherten Schweizer Bürger, Ausländer und Staatenlosen. Ausländische Staatsangehörige sind nach Abs. 2 derselben Bestimmung vorbehältlich des hier nicht relevanten
Art. 9 Abs. 3 IVG
nur anspruchsberechtigt, solange sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben und sofern sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben.
Gemäss
Art. 36 Abs. 1 IVG
haben Anspruch auf eine ordentliche Rente die rentenberechtigten Versicherten, die bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet haben.
Die nicht erwerbstätigen Ehefrauen von Versicherten waren nach
Art. 3 Abs. 2 lit. b AHVG
(in der bis Ende 1996 gültig gewesenen Fassung) von der Beitragspflicht befreit. Am 1. Januar 1997 trat die 10. AHV-Revision in Kraft. Dabei wurde der soeben erwähnte Abs. 2 lit. b von
Art. 3 AHVG
ersatzlos gestrichen. Neu sind die Versicherten gemäss
Art. 3 Abs. 1 AHVG
beitragspflichtig, solange sie eine Erwerbstätigkeit ausüben. Für Nichterwerbstätige beginnt die Beitragspflicht am 1. Januar nach Vollendung des 20. Altersjahres und dauert bis zum Ende des Monats, in welchem Frauen das 64. und Männer das 65. Altersjahr vollendet haben. Nach
Art. 3 Abs. 3 AHVG
(in Kraft seit 1. Januar 1997) gelten die eigenen Beiträge als bezahlt, sofern der Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des Mindestbeitrags bezahlt hat, bei:
a. nichterwerbstätigen Ehegatten von erwerbstätigen Versicherten
b. (...)
Gemäss Ziff. 1 lit. c Abs. 1 Satz 1 der Übergangsbestimmungen zur 10. AHV-Revision (ÜbBest. AHV 10) gelten die neuen Vorschriften für alle Renten, auf die der Anspruch nach dem 31. Dezember 1996 entsteht.
BGE 126 V 273 S. 275
b) Unbestrittenermassen reiste die Versicherte nach ihrer Heirat mit einem italienischen Staatsangehörigen im August 1980 aus Italien in die Schweiz ein. Eigene Beiträge an die Alters- und Hinterlassenenversicherung oder Erziehungszeiten weist sie nur für einen Monat (Mai 1982) nach. Ihr Ehemann hat seit der Einreise jedes Jahr mehr als den doppelten Mindestbeitrag an die Alters- und Hinterlassenenversicherung geleistet.
Im Rahmen eines ersten Rentengesuchs fasste die Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Basel-Landschaft (heute IV-Stelle) am 5. November 1990 einen Beschluss, wonach die Versicherte seit dem 1. Mai 1985 (Ablauf der Wartezeit von einem Jahr gemäss
Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG
) zu 100% invalid sei. Mangels Erfüllung der versicherungsmässigen Voraussetzungen (Fehlen eigener Beitragszahlungen) lehnte die Ausgleichskasse Basel-Landschaft jedoch die Auszahlung einer Rente mit Verfügung vom 20. März 1991 ab. Das zweite, vorliegend streitige Gesuch lehnte die IV-Stelle Basel-Landschaft mit derselben Begründung ab.
Die Vorinstanz hingegen erwog, dank der auf 1. Januar 1997 mit der 10. AHV-Revision in Kraft gesetzten neuen Regelung, wonach die Mindestbeitragspflicht auch dann erfüllt sei, wenn der Ehegatte bzw. die Ehegattin der betreffenden Person wenigstens das Doppelte des Mindestbeitrags bezahlt habe, erfülle die Versicherte über die Beiträge ihres Ehegatten nun die versicherungsmässigen Voraussetzungen. Dem widerspricht die Beschwerde führende IV-Stelle mit dem Argument, das neue Recht sei nur anwendbar, wenn der Versicherungsfall für die jeweilige Leistungsart (hier: Invalidenrente) am 1. Januar 1997 oder später eingetreten sei. Die Versicherte sei jedoch schon am 1. Mai 1985 invalid geworden, ihr Versicherungsfall somit vor dem 1. Januar 1997 eingetreten, weshalb die neue Regelung keine Anwendung finde.
c) Zwar trifft zu, dass laut der am 1. Januar 1997 im Rahmen der 10. AHV-Revision in Kraft getretenen Fassung von
Art. 6 Abs. 2 IVG
bei der Ermittlung der einjährigen Mindestbeitragsdauer für den ordentlichen Rentenanspruch nach IVG keine persönliche Beitragsentrichtung mehr nötig ist (
BGE 125 V 254
Erw. 1). Dies verschafft der Versicherten aber noch keinen Anspruch auf eine Invalidenrente. Vielmehr ist Folgendes zu beachten: Die Invalidität gilt laut
Art. 4 Abs. 2 IVG
als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat. Vorliegend ist nach dem Gesagten erstellt und im Übrigen nicht bestritten, dass der Versicherungsfall (Eintritt der
BGE 126 V 273 S. 276
Invalidität bezüglich einer Rente) bereits in den 80er Jahren eingetreten ist. Im damaligen Zeitpunkt waren die versicherungsmässigen Voraussetzungen (einjährige Mindestbeitragsdauer) nach den damals geltenden Rechtsvorschriften unbestrittenermassen nicht erfüllt. Daher könnte die Versicherte nach neuem Recht nur dann Anspruch auf eine Invalidenrente erheben, wenn bei Versicherungsfällen, welche vor dem 1. Januar 1997 eingetreten sind, rückwirkend vom Erfordernis der persönlichen Beitragsentrichtung abgesehen werden könnte. Wie das Eidg. Versicherungsgericht in AHI 2000 S. 174 ff. Erw. 3-5 einlässlich dargelegt hat, wollte der Gesetzgeber mit Ausnahme der in Ziff. 1 lit. f Abs. 2 (betrifft Witwenrenten geschiedener Frauen) und Ziff. 1 lit. h (betrifft Staatsangehörige von Ländern ohne Sozialversicherungsabkommen mit der Schweiz) ÜbBest. AHV 10 ausdrücklich geregelten Fälle keine Anknüpfung neuen Rechts an früher eingetretene Versicherungsfälle (erster Satz von Ziff. 1 lit. c Abs. 1 ÜbBest. AHV 10; vgl. ferner
BGE 126 V 5
und nicht veröffentlichtes Urteil H. vom 6. Dezember 1999). Der vorliegende Sachverhalt lässt sich unter keine dieser Ausnahmen subsumieren. Demnach muss es dabei sein Bewenden haben, dass im Zeitpunkt des Versicherungsfalls für eine Rente die versicherungsmässigen Voraussetzungen nicht erfüllt waren und die Versicherte sich nicht rückwirkend auf die erst später in Kraft gesetzten Erleichterungen der 10. AHV-Revision berufen kann. Da sich sodann auch aus dem Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Italienischen Republik vom 14. Dezember 1962 über Soziale Sicherheit nichts zu ihren Gunsten ableiten lässt, hat sie keinen Anspruch auf eine Invalidenrente. | de |
93c8e387-78a8-489a-abff-944286657a53 | Sachverhalt
ab Seite 124
BGE 133 V 123 S. 124
A.
B., wohnhaft im Kanton St. Gallen, war bei der Visana gesetzlich für Krankenpflege versichert. Vom 15. Dezember 2003 bis 28. Februar 2004 hielt sie sich nach einem Gehirnschlag mit halbseitiger Lähmung zu einer stationären Neuro-Rehabilitationsbehandlung in der allgemeinen Abteilung der in Appenzell Ausserrhoden gelegenen Rheinburg-Klinik Walzenhausen auf. Die Visana erteilte der Klinik Kostengutsprache über Fr. 220.- pro Tag mit dem Vermerk "analog dem Tarif der Rehabilitationsklinik Walenstadtberg". Die Klinik stellte B. einen Tagesansatz von Fr. 580.- in Rechnung. Diese teilte der Visana mit, sie sei nicht bereit, eine Vergütung von lediglich Fr. 220.- pro Tag zu akzeptieren, und ersuchte um die Übernahme der gesamten fakturierten Kosten. Mit Verfügung vom 26. Mai 2004 beschränkte die Visana ihre Vergütung, da die Behandlung ohne weiteres auch in der st. gallischen Rehabilitationsklinik Walenstadtberg hätte durchgeführt werden können, auf die betreffende Tagespauschale von Fr. 220.- abzüglich der Kostenbeteiligung. Sie bestätigte dies mit Einspracheentscheid vom 18. November 2004.
B.
B. liess Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen erheben und beantragen, die Visana sei zu verpflichten, ihr für den Aufenthalt in der Rheinburg-Klinik pro Tag Fr. 580.- zu vergüten; eventualiter sei wenigstens der Tarif zu übernehmen, der beim Aufenthalt im st. gallischen Rheuma- und Rehabilitationszentrum Klinik Valens zu bezahlen gewesen wäre. Das kantonale Gericht hiess die Beschwerde teilweise gut; es verpflichtete die Visana, der Versicherten für den stationären Aufenthalt in der Rheinburg-Klinik die Tagespauschale der Klinik Valens von Fr. 499.- (resp. Fr. 541.- ab 1. Januar 2004) zu vergüten.
C.
Die Visana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei insoweit aufzuheben, als sie verpflichtet werde, die Leistungen für den Aufenthalt in der Rheinburg-Klinik nach der tarifvertraglich vereinbarten Tagespauschale der Klinik Valens zu vergüten, und nicht nach derjenigen der Klinik Walenstadtberg.
B. beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; die Visana sei zu verpflichten, ihr für den Aufenthalt in der Rheinburg-Klinik pro Tag Fr. 602.- zu vergüten, eventualiter aber mindestens das, was sie bei einem stationären Rehabilitationsaufenthalt in der Klinik Valens zu bezahlen gehabt hätte. Vorinstanz und Bundesamt für Gesundheit verzichten auf Vernehmlassung.
BGE 133 V 123 S. 125
D.
Am 20. Dezember 2006 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Die Kostenübernahme bei stationärer Behandlung im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ist in
Art. 41 KVG
geregelt. Danach können die Versicherten unter den zugelassenen Leistungserbringern, die für die Behandlung ihrer Krankheit geeignet sind, frei wählen. Der Versicherer muss die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der im Wohnkanton der versicherten Person gilt (Abs. 1 Satz 3). Beanspruchen Versicherte aus medizinischen Gründen einen anderen Leistungserbringer, so richtet sich die Kostenübernahme nach dem Tarif, der für diesen Leistungserbringer gilt (Abs. 2). Medizinische Gründe liegen bei einem Notfall vor oder wenn die erforderlichen Leistungen im Wohnkanton oder in einem auf der Spitalliste des Wohnkantons nach Artikel 39 Absatz 1 Buchstabe e KVG aufgeführten ausserkantonalen Spital nicht angeboten werden (Abs. 2 lit. b). Beansprucht die versicherte Person aus medizinischen Gründen die Dienste eines ausserhalb ihres Wohnkantons befindlichen öffentlichen oder öffentlich subventionierten Spitals, so übernimmt der Wohnkanton die Differenz zwischen den in Rechnung gestellten Kosten und den Tarifen des betreffenden Spitals für Einwohner und Einwohnerinnen des Kantons (Abs. 3 Satz 1; Ausgleichs- oder Differenzzahlungspflicht:
BGE 130 V 218
;
BGE 123 V 290
und 310).
3.2
Nach
BGE 127 V 145
f. E. 4d zeigen Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte zu
Art. 41 KVG
, dass die Revision des Krankenversicherungsrechts an der altrechtlichen Konzeption der grundsätzlich freien Wahl der Heilanstalt resp. des Leistungserbringers "Spital" bei allenfalls masslich beschränkter Versicherungsdeckung, soweit nicht medizinische Gründe einen bestimmten ausserkantonalen Behandlungsort erfordern, nichts geändert hat (ausführlich zum früheren Recht:
BGE 127 V 143
E. 4c/aa-bb; vgl. auch
BGE 125 V 452
f. E. 3a mit Hinweisen auf die Lehre). Neu ist im Wesentlichen einzig, dass im Unterschied zu früher einheitlich der Wohnkanton der versicherten Person als räumlicher Bereich mit voller Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung gilt, sowie die Differenzzahlungspflicht der Kantone im Rahmen von
Art. 41 Abs. 3 KVG
. Diese
BGE 133 V 123 S. 126
Neuerungen bieten indessen nicht Anlass, den Begriff der medizinischen Gründe gemäss Art. 41 Abs. 2 (Satz 2) lit. b KVG grundsätzlich anders zu interpretieren als im Rahmen des
Art. 19
bis
Abs. 5 KUVG
. Daran ändert die Zielsetzung des
Art. 41 Abs. 3 KVG
(Lastenausgleich zwischen Kantonen mit unterschiedlichen Spitalversorgungsgraden sowie verstärkte Koordination zwischen den Kantonen im Bereich der Spitalplanung [
BGE 123 V 297
f. E. 3b/aa-cc]) nichts, zumal der Gesetzgeber gleichsam folgerichtig den für die Frage medizinischer Gründe massgebenden räumlichen Bereich mit maximaler Kostendeckung um die auf der Spitalliste des Wohnkantons aufgeführten ausserkantonalen Spitäler erweitert hat (Art. 41 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 lit. b KVG). Mit anderen Worten, so wenig die planerischen Elemente die aus dem Krankenversicherungsgesetz und den dazugehörigen Verordnungen sich ergebenden Ansprüche der Versicherten tangieren (
BGE 125 V 454
E. 3b), so wenig können die medizinischen Gründe als ein zusätzliches Instrument der Spitalfinanzierung und -planung verstanden und gehandhabt werden. Desgleichen gilt in sinngemässer Übernahme der altrechtlichen Ordnung (
BGE 127 V 143
f. E. 4c/ bb), dass bei medizinisch begründeter stationärer Behandlung ausserhalb des in
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
umschriebenen räumlichen Bereichs der Umfang der Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung sich grundsätzlich nach dem Gebot der Wirtschaftlichkeit der Leistungen gemäss
Art. 32 Abs. 1 KVG
richtet.
3.3
Der Entscheid, ob ein Spital in die Spitalliste aufzunehmen sei, hat eine wesentliche gesundheits- und sozialpolitische, aber regelmässig auch regional-, beschäftigungs- und allgemeinpolitische Bedeutung. Es handelt sich dabei um einen primär politischen Entscheid. Dementsprechend gibt das Gesetz den einzelnen Spitälern keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme in die Spitalliste; es fehlt weitgehend an rechtlichen Kriterien für den Entscheid, welche Spitäler in die Spitalliste aufzunehmen sind. Vielmehr haben die zuständigen kantonalen Behörden einen erheblichen Ermessensspielraum (
BGE 132 V 12
E. 2.4.1 in fine mit Hinweisen auf
BGE 126 V 182
E. 4b und 6d; Entscheid des Bundesrates vom 19. Dezember 2001 in Sachen Privatklinik P. [RKUV 2002 Nr. KV 219 S. 301 E. 2.1]; EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Basel 1998, S. 127 f.; MATTIG, Grenzen der Spitalplanung aus
BGE 133 V 123 S. 127
verfassungsrechtlicher Sicht, Zürich 2003, S. 130). Was hier vorab in Bezug auf die Spitalliste des Standortkantons ausgeführt worden ist (STAFFELBACH, Interkantonale Spitalplanung und Kostentragung, in: AJP 3/2006 S. 269), hat ebenso für die Aufnahme eines ausserkantonal gelegenen Spitals zu gelten.
4.
Die Hospitalisation der Beschwerdegegnerin ist nicht aus medizinischen Gründen ausserhalb des Wohnkantons erfolgt, denn die erforderliche Leistung wird im Kanton St. Gallen angeboten (
Art. 41 Abs. 2 lit. a KVG
e contrario). Ein solcher Grund ist nach dem eben Gesagten insbesondere nicht darin zu sehen, dass die ausserrhodische Rheinburg-Klinik eine im Vergleich zu den st. gallischen Kliniken Walenstadtberg und Valens hohe Zahl von Pflegetagen für Neuro-Rehabilitationspatienten aus dem Kanton St. Gallen aufweisen soll. Streitfrage hier ist nicht die Aufnahme der Rheinburg-Klinik auf die Spitalliste des Kantons St. Gallen, sondern, welcher Referenztarif bei einer nicht im Sinne von
Art. 41 Abs. 2 KVG
medizinisch indizierten Behandlung einer Person aus dem Kanton St. Gallen in der genannten Klinik heranzuziehen ist, um die Vergütung durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung zu bestimmen. Die Vorinstanz hat richtig ausgeführt, dass es nicht Sache des Krankenversicherers bzw. der angerufenen Gerichte sein kann, Leistungen zuzusprechen, auf die nach den gesetzlichen Vorschriften kein Anspruch besteht, selbst wenn der Kanton St. Gallen für die Durchführung von neurologischen Rehabilitationen auf die Kapazitäten der Rheinburg-Klinik angewiesen sein sollte (vorinstanzliche E. 3b in fine). Da der Kanton St. Gallen im Zeitraum der Behandlung in der Rheinburg-Klinik über keine Spitalliste nach
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
verfügte, konnte dieses Spital auch nicht als ausserkantonaler Leistungserbringer darauf aufgeführt sein (
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
). Die Auffassung der Beschwerdegegnerin, es seien sämtliche ihr durch den Aufenthalt in der betreffenden Klinik entstandenen Kosten zu ersetzen, vermag auch nicht zu stützen, dass, solange der Kanton die in
Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG
vorgesehene Liste der Spitäler und Pflegeheime noch nicht erstellt hat, gemäss
Art. 101 Abs. 2 KVG
vorerst früheres Recht des KUVG weiter gilt, und Anstalten oder deren Abteilungen, die nach bisherigem Recht als Heilanstalten galten, als Leistungserbringer nach neuem Recht zugelassen sind. Denn die Leistungspflicht der Versicherer und die Höhe der Vergütung richten sich gemäss
Art. 101 Abs. 2 Satz 2 KVG
(nur) bis
BGE 133 V 123 S. 128
zu einem vom Bundesrat zu bestimmenden Zeitpunkt nach den bisherigen Verträgen oder Tarifen. Die dafür gesetzte Frist - bis 31. Dezember 1997 gemäss
Art. 8 Abs. 1 der Verordnung vom 12. April 1995 über die Inkraftsetzung und Einführung des KVG (SR 832.101)
- ist verstrichen. Zudem ist unbestritten, dass für die Kliniken Walenstadtberg und Valens im Kanton St. Gallen und für die Rheinburg-Klinik im Kanton Appenzell Ausserrhoden unter dem neuen Krankenversicherungsrecht Verträge und Tarife vereinbart und genehmigt worden sind. Diese sind anzuwenden, auch wenn noch keine gültige Spitalliste verfügbar ist. Der Umstand, dass ein Spital auf die Spitalliste gesetzt wird, bedeutet einzig, dass es sich dabei um einen zugelassenen Leistungserbringer handelt. Über die Frage des anwendbaren Tarifs ist damit noch nichts gesagt (vgl.
BGE 127 V 404
f. E. 2b/dd).
5.
Da alle drei Rehabilitationskliniken als Leistungserbringer zugelassen und für die Behandlung der Krankheit der Beschwerdegegnerin geeignet sind, konnte sie unter ihnen frei wählen. Weil keine medizinischen Gründe im Sinne von
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
für den Aufenthalt in der ausserkantonalen Rheinburg-Klinik bestanden, muss die Beschwerdeführerin die Kosten aber höchstens nach dem Tarif übernehmen, der im Wohnkanton gilt (
Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG
). Offen ist damit noch die Frage, welcher Referenztarif zur Anwendung zu gelangen hat. Gemäss der Zusammenstellung der Vereinigung Privatkliniken Schweiz über die bei ihr zusammengeschlossenen Spitäler (abrufbar unter www.privatehospitals.ch) handelt es sich bei allen drei Kliniken um Spitäler mit privater Trägerschaft. Nach der "Liste der nach Art. 39 Abs. 1 oder 101 Abs. 2 KVG zur Krankenversicherung zugelassenen Spitäler" der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK (Stand 1. Januar 2006; abrufbar unter www.gdk-cds.ch) ist die Klinik Walenstadtberg öffentlich subventioniert, die Institutionen in Valens und Walzenhausen sind es nicht. Alle drei Einrichtungen sind auf Neuro-Rehabilitation spezialisiert.
6.
6.1
Die Vorinstanz hat als Referenztarif die von der Kantonsregierung genehmigten tarifvertraglichen Tagespauschalen der Kliniken Walenstadtberg (Fr. 220.-) und Valens (Fr. 499.-/resp. 541.- ab 1. Januar 2004) in Betracht gezogen. Dass sich die Vorinstanz für den Pauschaltarif der Klinik Valens als Referenztarif entschieden hat, begründet sie im Wesentlichen damit, dass die
BGE 133 V 123 S. 129
Beschwerdeführerin zur Kostendeckung nach diesem Tarif verpflichtet gewesen wäre, falls die Beschwerdegegnerin sich in der Klinik hätte behandeln lassen. Da jener die Wahl dieser Klinik gemäss
Art. 41 Abs. 4 KVG
offen gestanden hätte, habe sie Anspruch auf Kostenersatz in der entsprechenden Höhe.
6.2
Es trifft zwar zu, dass der Beschwerdegegnerin das Wahlrecht unter den zugelassenen stationären Leistungserbringern zustand. Indessen hat sie in einer Weise davon Gebrauch gemacht, bei der das Gesetz zum Vornherein keine volle Kostendeckung aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vorsieht, denn sie hat es vorgezogen, sich ohne medizinischen Grund im Sinne von
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
ausserkantonal behandeln zu lassen. Ihr hier in jedem Fall die Rückvergütung der dabei entstanden Kosten im Umfang des höchsten Tarifs eines zur Behandlung ihrer Krankheit geeigneten innerkantonalen Spitals zu garantieren, ist nicht im Sinne der in Erwägung 3.2 geschilderten Neuordnung des KVG, anders als früher nicht nur das Spital, das dem Wohnort des Versicherten innerhalb des gleichen Kantons am nächsten lag, als Referenzspital zu bezeichnen, sondern neu den Wohnkanton als räumlichen Bereich mit voller Kostenübernahme (vgl. dazu
BGE 127 V 145
f. E. 4d). Denn dies hätte zur Folge, dass in Kantonen mit hohen Tarifen - allenfalls nur einer einzigen Privatklinik - wohnende Versicherte bei fehlendem medizinischen Grund ihr Wahlrecht ohne Kostenrisiko auf viele oder sämtliche ausserkantonale Spitäler ausdehnen könnten, obwohl dies vom Gesetzgeber nach der Regelung in
Art. 41 Abs. 1-3 KVG
grundsätzlich nur bei medizinischer Begründetheit gewollt ist.
6.3
Zwar besteht hier nicht - wie bei dem in RKUV 2004 Nr. KV 281 S. 208 f. (Urteil K 34/02 vom 12. Dezember 2004) beurteilten Sachverhalt bejaht und in dem in
BGE 131 V 133
f. (insbesondere 144 f. E. 12.2) erörterten verneint - die Gefahr einer Umgehung der Spitalplanung, da die betreffenden Spitäler ja im Standortkanton eingeplant sind. Aber dem Wohnkanton verbleibt keine Möglichkeit, solchen Entwicklungen Gegensteuer zu geben, da er nur die Befugnis hat, ausserkantonale Kliniken auf seine Spitalliste zu setzen (
Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG
), nicht aber, sie auszugrenzen. Zwar verbliebe ihm theoretisch die Möglichkeit, zur Verhinderung hoher Referenztarife gar keine nicht subventionierten Privatkliniken auf seine Spitalliste aufzunehmen. Dies widerspräche aber dem klar geäusserten gesetzgeberischen
BGE 133 V 123 S. 130
Willen, private Trägerschaften seien angemessen in die Spitalplanung einzubeziehen (
Art. 39 Abs. 1 lit. d KVG
). Nach dem Gesagten entspricht die von der Vorinstanz gefundene Lösung, die versicherte Person habe auf jeden Fall Anspruch auf Vergütung der Kosten im Umfang des höchsten in ihrem Wohnkanton gültigen Tarifs eines zur Behandlung ihrer Krankheit geeigneten Spitals, nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers, denn sowohl der Grundsatz "volle Kostendeckung bei medizinisch begründeter ausserkantonaler Hospitalisation" sowie die mit der Pflicht der Kantone zu einer "bedarfsgerechten" Spitalplanung verfolgten Absichten würden zum Teil vereitelt.
7.
Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, das Wirtschaftlichkeitsgebot habe im Einzelfall Anwendung zu finden und gemäss Rechtsprechung (
BGE 127 V 143
) sei es bei medizinisch gleichwertigen, aber unterschiedlich preiswerten innerkantonalen Behandlungsangeboten zu berücksichtigen. Deshalb sei auf den tieferen Tarif der Klinik Walenstadtberg abzustellen.
7.1
Auch diese Lösung ist nicht geeignet. Das Wirtschaftlichkeitsgebot greift in diesem Zusammenhang nicht, da nicht gesagt werden kann, die Behandlung in der Rheinburg-Klinik (oder der Klinik Valens) sei nicht wirtschaftlich: Für beide Kliniken liegen von der Kantonsregierung oder vom Bundesrat bewilligte Tarife vor; diese sind nach
Art. 46 Abs. 4 KVG
von der Genehmigungsbehörde darauf überprüft worden, ob sie mit dem Gesetz und dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Billigkeit in Einklang stehen. Zudem ist unbestritten, dass die bei der Neuro-Rehabilitation erbrachten Leistungen der Rheinburg-Klinik sich auf ein Mass beschränkten, das im Interesse der Versicherten lag und für den Behandlungszweck erforderlich war (
Art. 56 Abs. 1 KVG
), und dass die spitalbedürftige Beschwerdegegnerin eine Spitalabteilung wählte, in die sie vom medizinischen Standpunkt aus gehörte. Im Übrigen bezieht sich die von der Beschwerdeführerin zitierte Rechtsprechung
BGE 127 V 143
auf die ausserkantonale stationäre Behandlung aus medizinischen Gründen und damit auf eine grundlegend andere Fragestellung als hier.
7.2
Im Weitern ist zu beachten, dass die innerkantonal grosse Tarifdifferenz zwischen den Kliniken Walenstadtberg und Valens dadurch bedingt ist, dass erstere öffentlich subventioniert ist und die im Kanton St. Gallen wohnenden Versicherten sie über ihre
BGE 133 V 123 S. 131
Steuern mitfinanzieren. Die von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu vergütende Pauschale der Privatklinik Walenstadtberg hat darum höchstens 50 Prozent der anrechenbaren Kosten je Patient oder Patientin oder je Versichertengruppe in der allgemeinen Abteilung zu decken. Zudem werden Betriebskostenanteile aus Überkapazität, Investitionskosten sowie Kosten für Lehre und Forschung nicht angerechnet (Art. 49 Abs. 1 Sätze 2 und 4 KVG). Der Tarif der nicht subventionierten Privatklinik Valens hingegen hat die gesamten anrechenbaren Kosten und zusätzlichen Betriebskostenanteile abzudecken, denn auch er hat der gesetzlichen Vorgabe in
Art. 43 Abs. 4 KVG
zu genügen, betriebswirtschaftlich bemessen und sachgerecht strukturiert zu sein. Wenn nach der von der Beschwerdeführerin vertretenen Auffassung die St. Galler Versicherten ihren nicht medizinisch bedingten ausserkantonalen Spitalaufenthalt ausschliesslich nach der niedrigsten innerkantonalen Referenztaxe vergütet erhalten sollen, wird nicht berücksichtigt, dass sie als Steuerzahlende den (effektiv um mehr als das Doppelte höheren) Tarif bereits mitfinanziert haben. Anderseits würden die gleichen Versicherten - nun als Prämienzahlende - bei der von der Vorinstanz entschiedenen "Maximalvariante" zusätzlich belastet, wenn für die Vergütung ausserkantonaler Spitalaufenthalte immer der höchste innerkantonale Tarif die Referenztaxe abgeben würde. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung würde in vielen Fällen sogar stärker beansprucht als bei Vorliegen medizinischer Gründe für die ausserkantonale Behandlung; denn dann hätte der Wohnkanton bei der Behandlung im öffentlichen oder öffentlich subventionierten ausserkantonalen Spital die Differenz zwischen den in Rechnung gestellten Kosten und den Tarifen des betreffenden Spitals für Einwohner und Einwohnerinnen des Kantons zu übernehmen und damit mindestens die Hälfte der Kosten zu tragen (vgl. oben E. 3.1).
8.
Bei der geschilderten Konstellation gegenläufiger Interessen der Kantone, Spitäler, Versicherer und Versicherten sowie unter den genannten gesetzlichen (Ziel-)Vorgaben kann der Referenztarif nicht tunlichst tief oder hoch festgesetzt werden, sondern es ist ein möglichst zweckmässiger Ausgleich zu schaffen. Zunächst ist die durch die öffentliche Subventionierung der Klinik Walenstadtberg geschaffene "Unvergleichbarkeit der Tarife" der beiden einzigen innerkantonalen Referenzspitäler zu beseitigen. Dazu sind im Pauschaltarif der Klinik Walenstadtberg die in
Art. 49 Abs. 1 KVG
BGE 133 V 123 S. 132
genannten Kosten aufzurechnen. Dann ist zu ermitteln, in welchem Verhältnis im Jahre 2003 - die Beschwerdegegnerin traf ihre Spitalwahl auf Mitte Dezember 2003 - die in ihrem Wohnkanton gebliebenen St. Galler Rehabilitationspatienten ihr Wahlrecht zwischen den beiden Referenzkliniken ausgeübt haben. Mit dem so berücksichtigten "typischen Wahlverhalten" der St. Galler Versicherten wird einerseits dem Umstand Rechnung getragen, dass anders als früher unter dem KUVG nicht nur das Spital, das dem Wohnort des einzelnen Versicherten innerhalb des gleichen Kantons am nächsten liegt, als Referenzspital zu bezeichnen ist, sondern neu der Wohnkanton als räumlicher Bereich mit voller Kostenübernahme gilt (vgl. oben E. 3.2 und 6.2). Anderseits wird berücksichtigt, dass der Gesetzgeber nach der Regelung in
Art. 41 Abs. 1-3 KVG
nur bei medizinischer Begründetheit das Wahlrecht ohne grundsätzliches Kostenrisiko (vgl. auch
BGE 127 V 143
) auf viele oder sämtliche ausserkantonale Spitäler ausdehnen wollte. Das "typische Wahlverhalten" bemisst sich nach der Anzahl Pflegetage, welche sämtliche im Kanton St. Gallen tätigen Krankenversicherer für die im betreffenden Kanton wohnhaften Patienten den Kliniken Walenstadtberg und Valens zu vergüten hatten. Der aufgerechnete und angepasste Tarif der Klinik Walenstadtberg des Jahres 2003 und der Tarif der Klinik Valens sind dann bei der Festsetzung des Referenztarifes entsprechend den erhobenen Pflegetagen zu gewichten.
Die Vorinstanz wird die massgeblichen Faktoren für den hier zur Diskussion stehenden Zeitraum erheben und den Referenztarif berechnen, um dann im Sinne der Erwägungen neu zu entscheiden. | de |
d8c6a8b6-f55d-4dfb-9d6d-b2dbb5e1889a | Sachverhalt
ab Seite 189
BGE 105 II 188 S. 189
A.-
Die Immobiliengesellschaft Arben AG mit Sitz in Wiler/VS fiel im Jahre 1976 in Konkurs. Ihr Zweck hatte unter anderem im Kauf und Verkauf von Grundstücken, in deren Erschliessung und Überbauung mit Wohnhäusern und gewerblichen Bauten, in der Verpachtung von Grundstücken und Gebäuden, im Betrieb von Hotels, Restaurants und ähnlichen Gaststätten sowie in der Beteiligung an anderen Immobiliengesellschaften bestanden.
Am 5. Februar 1975 hatte die Arben AG der Treuco Treuhand-Gesellschaft Dr. Studer & Co. in Zürich (im folgenden Treuco genannt), einer Kommanditgesellschaft, deren Zweck in der Tätigung aller Treuhandgeschäfte sowie in der Rechts- und Steuerberatung besteht, eine Generalvollmacht erteilt, die sich nach dem unterzeichneten Vollmachtsformular insbesondere auf folgende Handlungen bezog: Aussergerichtliche Vertretung, Vertretung vor allen Gerichten, Verwaltungsbehörden und Schiedsgerichten, Abschluss von Gerichtsstandsvereinbarungen und Schiedsverträgen, Ergreifung von Rechtsmitteln, Abgabe von Abstandserklärungen, Abschluss von Vergleichen, Vollzug von Urteilen und abgeschlossenen Vergleichen, Empfangnahme und Herausgabe von Wertschriften und anderen Wertgegenständen, Inkasso und Vornahme von Zahlungen, Vertretung in Erbschaftssachen, Vertretung bei öffentlichen Beurkundungen jedwelcher Art und bei Grundbuchgeschäften, Ausübung des Stimmrechts in Versammlungen.
Grundlage der erwähnten Vollmacht hatte ein Beschluss des Verwaltungsrates der Arben AG vom gleichen Tag gebildet,
BGE 105 II 188 S. 190
mit welchem Dr. Studer bzw. der Treuco der Auftrag erteilt worden war, eine Sanierung der Arben AG anzustreben und dabei insbesondere folgende Aufgaben zu übernehmen:
a) Überprüfung und gegebenenfalls Reduktion der Ausgaben der Gesellschaft,
b) Verhandlungen mit den Grossgläubigern,
c) Verhandlungen mit möglichen neuen Partnern.
Nachdem die angestrebte Sanierung misslungen war, hatte sich die Treuco im Auftrag der Arben AG um eine gerichtliche Nachlassstundung bemüht. Es gelang indessen nicht, dieses Ziel zu erreichen und den Konkurs der Arben AG abzuwenden.
B.-
Im Konkurs der Arben AG machte die Treuco eine Forderung von Fr. 65'387.05 geltend, die sich aus verschiedenen Rechnungsbeträgen zusammensetzte. Der weitaus grösste Teil entfiel auf Honorarrechnungen für Bemühungen im Zusammenhang mit dem Versuch zur Sanierung der Arben AG sowie mit dem angestrebten Nachlassverfahren. Ein Teilbetrag von Fr. 1'465.- betraf sodann eine Rechnung für Bemühungen von Dr. Studer persönlich, der während einer gewissen Zeit im Sinne einer Übergangslösung als Sekretär der Arben AG tätig gewesen war. Ein weiterer Betrag von insgesamt Fr. 7'500.- entfiel schliesslich auf Depotgebühren für die Aufbewahrung von über 30000 Namenaktien zu 100 Franken der Luftseilbahn Wiler/Lötschental AG, einer von der Arben AG beherrschten Gesellschaft. Die Treuco hatte die Aktien am 16. April 1975 im Auftrage der Arben AG von der Fides Treuhandgesellschaft, die sie bis dahin aufbewahrt hatte, ausgeliefert erhalten. Sie machte daran für die gesamte im Konkurs angemeldete Forderung ein Retentionsrecht geltend. Auf Ersuchen des zuständigen Konkursamtes reichte sie diesem die in ihrem Besitz befindlichen Aktien ein, wobei sie im Begleitbrief vom 11. Februar 1977 ausdrücklich darauf hinwies, dass sie daran ein Retentionsrecht beanspruche.
Im Kollokationsplan wurde die von der Treuco angemeldete Forderung von Fr. 65'387.05 in vollem Umfang zugelassen, jedoch nur in der fünften Klasse. Das an den Aktien der Luftseilbahn Wiler/Lötschental AG geltend gemachte Retentionsrecht anerkannte die Konkursverwaltung nicht.
C.-
Mit Rechtsbot vom 6. September 1977 erhob die Treuco beim Instruktionsrichter der Bezirke Leuk und
BGE 105 II 188 S. 191
Westlich-Raron gegen die Konkursmasse der Arben AG Klage auf Abänderung des Kollokationsplanes mit folgendem Rechtsbegehren:
"Die im Kollokationsplan im Konkurs über die Arben AG, Wiler, in der fünften Klasse unter der Ordnungsnummer 57 aufgeführte Forderung der Klägerin von Fr. 65'387.05 ist vollumfänglich sowie mit den laufenden Zinsen zu 5% ab Datum der Konkurseröffnung unter den pfandversicherten, insbesondere den faustpfandversicherten Forderungen zu kollozieren."
Die Beklagte beantragte im Instruktionsverfahren die vollumfängliche Abweisung der Klage.
Nach Durchführung des Beweisverfahrens übermittelte der Instruktionsrichter die Akten zur Urteilsfällung an das Kantonsgericht Wallis. In den Schlussverhandlungen vor Kantonsgericht änderte die Beklagte ihr ursprüngliches Begehren dahin ab, dass sie beantragte, die Forderung der Klägerin sei im Betrage von Fr. 8'965.- (Depotgebühren von insgesamt Fr. 7'500.- für die Aufbewahrung der Aktien sowie Honorar von Fr. 1'465.- für die Bemühungen von Dr. Studer als Sekretär der Gemeinschuldnerin) nebst 5% Zinsen bis zum Datum der Verteilung unter den pfandversicherten Forderungen zu kollozieren; im übrigen sei die Klage abzuweisen. Am 23. März 1979 fällte das Kantonsgericht folgendes Urteil:
"1. Die im Kollokationsplan im Konkurs über die Arben AG, Wiler, in der 5. Klasse aufgeführte Forderung der Klägerin von Fr. 65'387.05 ist lediglich im Betrag von Fr. 8'965.-, nebst Zins zu 5% ab Datum der Konkurseröffnung, unter den faustpfandversicherten Forderungen zu kollozieren.
2. Die Kosten des Verfahrens und Urteils werden zu 3/4 der Klägerin und zu 1/4 der Beklagten auferlegt.
3. Alle weitergehenden Begehren der Klägerin werden abgewiesen."
In der Urteilsbegründung wurde festgehalten, dass - abgesehen von den Depotgebühren für die Aufbewahrung der Aktien - zwischen der klägerischen Forderung und den im Streite liegenden Namenaktien ein innerer Zusammenhang im Sinne von
Art. 895 Abs. 1 ZGB
und damit ein Retentionsrecht gemäss dieser Bestimmung nicht bestehe. Ebenso wurde verneint, dass der Klägerin ein kaufmännisches Retentionsrecht gemäss
Art. 895 Abs. 2 ZGB
zustehe.
D.-
Dieses Urteil hat die Klägerin sowohl mit Berufung als auch mit staatsrechtlicher Beschwerde beim Bundesgericht angefochten.
BGE 105 II 188 S. 192
In der Berufung verlangt sie vollumfängliche Gutheissung ihrer Klage.
Die Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Art. 895 ZGB
bestimmt in Absatz 1, dass bewegliche Sachen und Wertpapiere, die sich mit Willen des Schuldners im Besitze des Gläubigers befinden, von diesem bis zu seiner Befriedigung zurückbehalten werden können, wenn die Forderung fällig ist und ihrer Natur nach mit dem Gegenstand der Retention in Zusammenhang steht. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels besteht unter Kaufleuten dieser Zusammenhang bereits dann, wenn sowohl der Besitz als auch die Forderung aus ihrem geschäftlichen Verkehr herrühren.
3.
Es ist unbestritten, dass folgende sich aus den erwähnten Bestimmungen ergebenden Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind:
a) Bei den Namenaktien der Luftseilbahn Wiler/Lötschental AG handelt es sich um Wertpapiere, an denen ein Retentionsrecht erworben werden kann. Unter Wertpapieren gemäss
Art. 895 Abs. 1 ZGB
sind solche im Sinne von
Art. 965 OR
zu verstehen (JÄGGI, N. 320 zu
Art. 965 OR
, S. 164; OFTINGER, N. 29 und 33 zu
Art. 895 ZGB
). Dazu gehören zweifellos auch die in Frage stehenden Namenaktien, ohne dass hier auf deren Einordnung unter die verschiedenen Arten von Wertpapieren näher eingegangen werden müsste (vgl. dazu JÄGGI, N. 25 zu
Art. 974 OR
; OFTINGER, N. 23 zu
Art. 901 ZGB
).
b) Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil waren die Aktien aufgrund eines zwischen der Klägerin und der Arben AG zustandegekommenen Hinterlegungsvertrages seit dem 16. April 1975 bei der Klägerin deponiert. Sie befanden sich demnach mit dem Einverständnis der Gemeinschuldnerin bis zum Konkursausbruch im Besitze der Klägerin. Im Umstand, dass diese die Aktien in der Folge an die Konkursmasse herausgab, kann selbstverständlich keine Besitzesaufgabe erblickt werden, die das Erlöschen eines allfälligen Retentionsrechtes hätte bewirken können. Gemäss
Art. 232 Abs. 2 Ziff. 4 SchKG
war die Klägerin zur Herausgabe der in ihrem Besitz befindlichen Aktien verpflichtet. Die Erfüllung dieser Pflicht konnte ihr wie aus der zitierten Bestimmung selber hervorgeht, nicht schaden (so auch
BGE 43 II 766
E. a).
BGE 105 II 188 S. 193
c) Schliesslich ist auch das Erfordernis der Fälligkeit der Forderung erfüllt. Spätestens mit der Konkurseröffnung über die Arben AG sind sämtliche Einzelforderungen der Klägerin dieser gegenüber fällig geworden (
Art. 208 Abs. 1 SchKG
).
4.
Streitig ist demgegenüber, ob der vom Gesetz verlangte Zusammenhang zwischen der klägerischen Forderung und dem Retentionsgegenstand, den Aktien der Luftseilbahn Wiler/Lötschental AG, gegeben sei.
Unter Kaufleuten besteht der notwendige Zusammenhang zwischen der Forderung und dem Retentionsgegenstand schon dann, wenn sowohl der Besitz an diesem Gegenstand als auch die Forderung aus ihrem geschäftlichen Verkehr herrühren. Im angefochtenen Urteil wird hiezu ausgeführt, bei den Beziehungen zwischen der Klägerin und der Arben AG habe es sich nicht um einen eigentlichen geschäftlichen Verkehr gehandelt, der beidseitig mit der Eigenart des Geschäftsbetriebes zusammengehangen habe. Schon aus der Umschreibung der von den beiden Gesellschaften gemäss den Handelsregistereinträgen verfolgten Zwecke ergebe sich, dass hier nicht von Kaufleuten bzw. von einem geschäftlichen Verkehr unter solchen gesprochen werden könne.
In der Berufung wird gerügt, dass die Vorinstanz die Kaufmannseigenschaft der Klägerin und der Arben AG nicht eindeutig bejaht und das Bestehen eines geschäftlichen Verkehrs zwischen den beiden verneint habe.
a) Das angefochtene Urteil äussert sich in der Tat nicht klar zur Frage, ob die Klägerin und die Arben AG als Kaufleute zu betrachten seien. Es enthält indessen alle tatbeständlichen Elemente, die es dem Bundesgericht ermöglichen, diese Frage, soweit sie rechtlicher Natur ist, selber zu beurteilen.
Als Kaufmann im Sinne von
Art. 895 Abs. 2 ZGB
ist nach Lehre und Rechtsprechung zu betrachten, wer nach den gesetzlichen Bestimmungen verpflichtet ist, seine Firma im Handelsregister einzutragen, und wer auch tatsächlich ein nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe betreibt (OFTINGER, N. 116, und LEEMANN, N. 51/52 zu
Art. 895 ZGB
;
BGE 78 II 142
E. 1). Die Klägerin ist eine im Handelsregister eingetragene Kommanditgesellschaft, deren Zweck wie folgt umschrieben ist: "Tätigung aller Treuhandgeschäfte, insbesondere Rechts- und Steuerberatung". Gemäss Art. 53 lit. A Ziff. 4 in Verbindung mit Art. 54 der Verordnung über das Handelsregister war sie
BGE 105 II 188 S. 194
als Treuhandgesellschaft unabhängig von der Höhe ihrer Roheinnahmen zur Eintragung im Handelsregister verpflichtet. Auch die Arben AG war sowohl im Handelsregister eingetragen als auch hiezu verpflichtet, andernfalls sie die Rechtspersönlichkeit als Aktiengesellschaft gar nicht erlangt hätte (
Art. 643 Abs. 1 OR
). Aus dem angefochtenen Urteil und den Akten ergibt sich sodann mit ausreichender Deutlichkeit, dass beide Gesellschaften auch tatsächlich ein nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe betrieben haben. Die erste Voraussetzung des kaufmännischen Retentionsrechtes, die Kaufmannseigenschaft der beiden Vertragsparteien, ist demnach als erfüllt zu betrachten.
b) Der Bestand des streitigen Retentionsrechts hängt somit nur noch davon ab, ob der Besitz der Klägerin an den fraglichen Aktien und ihre Honorarforderung gegenüber der Arben AG aus dem gegenseitigen geschäftlichen Verkehr herrühren (französischer Text von
Art. 895 Abs. 2 ZGB
: "...résultent de leurs relations d'affaires"; der italienische Text stimmt mit dem französischen überein). Dabei handelt es sich um eine vom Bundesgericht überprüfbare Rechtsfrage.
Der Besitz am Gegenstand der Retention und die Forderung müssen, wie auch die Klägerin anerkennt, beidseitig mit der Eigenart des Geschäftsbetriebes zusammenhängen, das heisst, aus Geschäften herrühren, die bei beiden Teilen zum Betrieb des Gewerbes gehören (OFTINGER, N. 117, und LEEMANN, N. 53 zu
Art. 895 ZGB
). Was den Besitz der Klägerin an den bei ihr hinterlegten Aktien betrifft, so ist diese Voraussetzung ohne weiteres erfüllt. Zum Geschäftsbetrieb der Klägerin als Treuhänderin gehört es, von Kunden Wertschriften zur Aufbewahrung entgegenzunehmen. Das geht denn auch ausdrücklich aus dem Vollmachtsformular hervor, das die Arben AG am 5. Februar 1975 unterzeichnet hatte. Aber auch bei der Arben AG hing die Hinterlegung der in ihrem Eigentum stehenden Aktien der Luftseilbahn Wiler/Lötschental AG bei einer Treuhandgesellschaft mit der Eigenart ihres Geschäftsbetriebes als Immobiliengesellschaft zusammen. Zu ihrem Gesellschaftszweck gehörte nicht nur der Erwerb und Verkauf von Grundstücken und deren Erschliessung, sondern auch die Beteiligung an andern Immobiliengesellschaften. Soweit sie bei der Ausübung dieser Geschäftstätigkeit in den Besitz von Aktien anderer Gesellschaften gelangte, lag es nahe, dass sie diese nicht selber
BGE 105 II 188 S. 195
aufbewahrte, sondern an einem hiefür geeigneten Ort hinterlegte. Selbst wenn bei der Wahl des Hinterlegungsortes eine Rolle gespielt haben sollte, dass Dr. Studer vorübergehend als Sekretär des Verwaltungsrates der Arben AG tätig war, worauf die Beklagte starkes Gewicht legt, wird dadurch der geschäftsbedingte Zusammenhang mit der Hinterlegung der Aktien bei der Klägerin nicht aufgehoben. Die Aktien blieben übrigens auch dann bei der Klägerin deponiert, als Dr. Studer seine Tätigkeit als Sekretär des Verwaltungsrates der Arben AG aufgab. Zudem ist zu beachten, dass der Hinterlegungsvertrag nicht mit Dr. Studer persönlich, sondern mit der klägerischen Gesellschaft als solcher abgeschlossen wurde.
Ob auch die streitige Forderung aus Rechtsgeschäften herrührt, die mit der Eigenart des Geschäftsbetriebes zusammenhingen, ist hinsichtlich der Klägerin ohne weiteres zu bejahen. In den Geschäftsbereich einer Treuhandgesellschaft gehört auch die Ausführung von Aufträgen zur Sanierung von Unternehmen und zur Anstrebung von Nachlassverträgen. Stellt man bei der Beurteilung der gleichen Frage auf seiten der Arben AG - wie die Vorinstanz - nur auf den im Handelsregister eingetragenen Gesellschaftszweck ab, so könnte in der Tat die Auffassung vertreten werden, der geschäftliche Charakter des der Klägerin erteilten Auftrages sei zu verneinen. Diese Betrachtungsweise wird indessen den gegebenen Verhältnissen und dem Sinn des Gesetzes nicht gerecht, hätte sie doch zur Folge, dass für Honorarforderungen im Zusammenhang mit Sanierungsbemühungen überhaupt nie ein kaufmännisches Retentionsrecht beansprucht werden könnte. Forderungen, die aus Bemühungen zur Sanierung einer in Schwierigkeiten geratenen Gesellschaft oder zur Erlangung einer Nachlassstundung herrühren, weisen jedoch einen derart engen Zusammenhang mit dem gesamten Geschäftsbetrieb dieser Gesellschaft auf, dass ihre geschäftliche Natur vernünftigerweise nicht verneint werden kann (für eine extensive Auslegung des Konnexitätsbegriffs beim kaufmännischen Retentionsrecht spricht sich auch BRANDER, Das Retentionsrecht nach schweizerischem Zivilrecht, Zürcher Diss. 1933, S. 31, aus).
5.
Steht der Klägerin nach dem Gesagten ein kaufmännisches Retentionsrecht zu, braucht nicht geprüft zu werden, Ob auch die Voraussetzungen eines gewöhnlichen Retentionsrechtes im Sinne von
Art. 895 Abs. 1 ZGB
erfüllt wären.
BGE 105 II 188 S. 196 | de |
c6eda983-a05e-493a-a4b3-f4ab3b646f2a | Sachverhalt
ab Seite 209
BGE 115 IV 207 S. 209
A.-
Auf Grund eines Vertrages vom 22. August 1985 hatte K. dem L. eine Wärmepumpenheizungsanlage geliefert. Nachdem die installierten vier Wärmepumpen die vorgesehene Heizleistung angeblich nicht erbringen konnten, forderte L. die Lieferfirma auf, die Anlage zu überprüfen. Im Anschluss an eine Besichtigung der Anlage vom 4. Juni 1987 baute K. die Wärmepumpen aus, um Messungen auf dem firmeneigenen Prüfstand vornehmen zu können. Am 17. August 1987 forderte L. den K. auf, die Wärmepumpen innert 10 Tagen zu reinstallieren. Am 25. September 1987 antwortete ihm K., eine Rückgabe der Wärmepumpen komme nur in Frage, wenn L. die noch offenen Installationskosten von Fr. 51'553.50 begleiche. Er verlangte sofortige Bezahlung der Hälfte der Forderung und Sicherstellung für die andere Hälfte zuzüglich Fr. 5'000.-- durch eine vollwertige Bankgarantie und schloss mit folgenden Bemerkungen: "Wir erwarten bis zum 29.9.1987 17.00 Uhr Ihren Entscheid. Sollten Sie sich bis dahin für unseren Vorschlag entschieden haben, dauert unsere Lieferfrist ca. 20 Tage. Andernfalls benötigen wir 6 bis 8 Wochen." In der Folge gab er die Wärmepumpen mit einem Gesamtwert von rund Fr. 40'000.-- nicht zurück.
B.-
Das Bezirksgericht Diessenhofen verurteilte K. am 18. Oktober 1988 wegen Sachentziehung und vollendeten Versuchs der Nötigung (Art. 143 und 181 i.V.m.
Art. 22 StGB
) zu fünf Tagen Gefängnis bedingt. Am 14. März 1989 bestätigte das Obergericht des Kantons Thurgau den erstinstanzlichen Schuldspruch, sprach indessen lediglich eine Busse von Fr. 600.-- aus.
C.-
Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der Gebüsste, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Sachentziehung gemäss
Art. 143 StGB
begeht, wer ohne Bereicherungsabsicht eine bewegliche Sache dem Berechtigten entzieht und ihn dadurch schädigt. Der Tatbestand hat die Funktion eines Auffangtatbestandes zu den Aneignungsdelikten Diebstahl, Veruntreuung (in der Form von
Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
) und Unterschlagung. Dabei geht es, was die gegenwärtige Fassung vom Wortlaut her allerdings nicht deutlich zum Ausdruck bringt, einerseits um die Erfassung von Aneignungen ohne (rechtswidrige) Bereicherungsabsicht, sofern diese zu einer
BGE 115 IV 207 S. 210
Schädigung geführt haben, und andererseits um den Schutz gewisser Positionen wie etwa des Besitzers gegen schädigende Entziehungen. In der von der Expertenkommission vorgeschlagenen Neufassung (Vorentwurf Art. 141; wiedergegeben bei JACHEN CURDIN BONORAND, Die Sachentziehung, Diss. Zürich 1987, S. A-5), wo diese Bereiche in zwei verschiedenen Absätzen geregelt werden, wird dies wesentlich klarer (vgl. auch Bericht zum Vorentwurf S. 12).
b) Vorliegend wird dem Beschwerdeführer nicht eine Aneignung ohne Bereicherungsabsicht, sondern eine eigentliche Sachentziehung vorgeworfen. Er hat die Pumpen bis zur Bezahlung der Lieferungsrestanz zurückbehalten und (jedenfalls einstweilen) nicht behalten wollen, um wie ein Eigentümer über sie zu verfügen. Für die Erfüllung dieser Tatbestandalternative sind kumulativ Entziehung und Schädigung erforderlich.
aa) Entziehen bedeutet insbesondere Wegnehmen. Allerdings wird teilweise angenommen, dass darüber hinaus auch das Vorenthalten ein Entziehen im Sinne von
Art. 143 StGB
darstellen könne (NOLL, Schweizerisches Strafrecht, BT, S. 168). Dabei ist allerdings zu präzisieren, dass unter Vorenthalten nicht jede Verletzung einer Rückgabepflicht verstanden werden darf, weil andernfalls etwa jede verspätete Rückgabe eines beweglichen Mietgegenstandes erfasst würde (so schon deutlich
BGE 72 IV 62
; NOLL, a.a.O.; STRATENWERTH, BT I, S. 225; vgl. JACHEN CURDIN BONORAND, a.a.O., S. 39 und 46 ff.), was mit dem Gedanken der Subsidiarität des Strafrechtes nicht zu vereinbaren wäre. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz gilt dies, wie bereits aus
BGE 72 IV 62
ersichtlich, auch dann, wenn dem Eigentümer eine Sache vorenthalten wird, was gerade bei der Verletzung von Rückgabepflichten die Regel sein dürfte. Deshalb ist die Entziehung in der Form des Vorenthaltens einzuschränken auf Fälle, wo es der Täter dem Opfer verunmöglicht, eine Sache wiederzuerlangen (vgl. etwa den Sachverhalt von
BGE 99 IV 155
: Wegwerfen der Handtasche, die das Opfer im Auto zurückgelassen hat;
BGE 72 IV 62
: Edelstein, der in den tiefen See geworfen wird), oder die Wiedererlangung zumindest erheblich verzögert oder erschwert, etwa wenn Gegenstände in den Räumen des Berechtigten so versteckt werden, dass sie nur mit Mühe wieder aufgefunden werden können (vgl. etwa den Sachverhalt von
BGE 104 IV 156
). Es geht mit anderen Worten um Fälle der dauernden Enteignung ohne gleichzeitige Zueignung und der "vorübergehenden
BGE 115 IV 207 S. 211
Enteignung" (vgl. BONORAND, a.a.O., S. 40;
BGE 96 IV 21
).
Der Beschwerdeführer hat vorliegend die Wärmepumpen im Rahmen der vertraglichen Beziehungen mit dem Beschwerdegegner und mit dessen Einverständnis mitgenommen. Seine Weigerung, sie zurückzugeben, verstiess also gegen seine - unter dem Vorbehalt des von ihm behaupteten Retentionsrechtes bestehende - vertragliche Rückgabepflicht. Die Verletzung einer solchen vertraglichen Pflicht fällt aber nach dem Gesagten nicht unter die Sachentziehung. Für solche Fälle besteht auch - unter dem Gesichtspunkt des Vermögensschutzes - kein Bedürfnis für eine strafrechtliche Sanktion; vielmehr genügen hier die zivilrechtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten (vgl.
BGE 112 IV 34
für den insoweit vergleichbaren Sachverhalt des Verbleibens im Mietobjekt nach Ablauf der Mietdauer).
bb) Nach dem Gesagten ist das Tatbestandsmerkmal der Entziehung in der vorliegenden Konstellation nicht gegeben, weshalb der Beschwerdeführer zu Unrecht wegen Sachentziehung verurteilt wurde. Auf die Frage eines allfälligen Retentionsrechts und der über die Entziehung hinaus erforderlichen Schädigung muss unter diesen Umständen im Rahmen von
Art. 143 StGB
nicht eingegangen werden.
2.
Wegen Nötigung gemäss
Art. 181 StGB
macht sich strafbar, wer einen anderen durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden.
a) Zu prüfen ist vorliegend, ob die Androhung ernstlicher Nachteile zu bejahen ist. Der Beschwerdeführer drohte dem Beschwerdegegner, die Wärmepumpen so lange nicht zurückzugeben, wie dieser die behauptete noch offene Forderung nicht bezahlt habe. Er drohte ihm also nicht mit einem aktiven Tun, sondern mit einem Unterlassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist diese Unterscheidung unerheblich (
BGE 105 IV 122
E. 2b;
BGE 96 IV 61
E. 2), während die Literatur zu dieser Frage teilweise eine differenziertere Haltung einnimmt (vgl. STRATENWERTH, BT I, S. 95; NOLL, BT, S. 71; SCHUBARTH, Kommentar Art. 181 N. 23 ff.; MARTINO IMPERATORI, Das Unrecht der Nötigung, Diss. Zürich 1987, S. 81 ff.). Die Frage braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden, weil der Beschwerdeführer, falls man ihm kein Retentionsrecht zubilligt, zur Rückgabe der Wärmepumpen verpflichtet war, also eine Rechtspflicht zum Handeln bestand.
BGE 115 IV 207 S. 212
Beruft er sich jedoch zutreffend auf ein Retentionsrecht, dann wäre sein Verhalten jedenfalls nicht rechtswidrig.
Auch das Erfordernis des erheblichen Nachteils ist zu bejahen, da die Androhung, die Wärmepumpen nicht zurückzugeben, kurz vor Beginn der Heizperiode erfolgte und der Beschwerdegegner deshalb vor die Wahl gestellt war, entweder den geforderten Betrag umgehend zu bezahlen oder weiterhin auf die notwendige Wärmequelle zu verzichten bzw. sich mit erheblichen Kosten eine Ersatzwärmequelle zu beschaffen. Denn eine Möglichkeit, kurzfristig auf dem Zivilweg Remedur zu schaffen, was die Ernstlichkeit des angedrohten Nachteils ausschliessen könnte (vgl. SCHUBARTH, Art. 181 N. 37), bestand hier offensichtlich nicht.
b) Entscheidend ist somit, ob das Vorgehen des Beschwerdeführers als rechtswidrig zu betrachten ist. Die Rechtswidrigkeit entfiele auf jeden Fall, wenn er aufgrund eines Retentionsrechtes zur Zurückbehaltung der Wärmepumpen berechtigt war.
aa) Die Vorinstanz hat (allerdings im Zusammenhang mit der von ihr erörterten Widerrechtlichkeit der Sachentziehung) ein Retentionsrecht des Beschwerdeführers verneint. Zur Begründung führte sie an, soweit ihm ursprünglich für die Kaufpreisrestforderung ein Retentionsrecht zugestanden sein sollte, wäre dies mit der Lieferung der Pumpen an den Beschwerdegegner untergegangen; mit der späteren Rücknahme der Pumpen zu Prüfzwecken und gegebenenfalls zur Vornahme von Reparaturarbeiten sei ein neues Retentionsrecht in bezug auf die alte Kaufpreisrestanz nicht entstanden; einzig bei Nichtbegleichung einer allenfalls daraus entstehenden neuen Forderung hätte sich ein neuer Retentionsanspruch ergeben können; die Voraussetzung des kaufmännischen Retentionsrechtes sei nicht gegeben, da der Beschwerdegegner nicht Kaufmann sei.
Der Beschwerdeführer versucht nicht, diese Begründung in Frage zu stellen. Er macht einzig geltend, die Verknüpfung des hier gewählten Zwangsmittels sei weder rechtsmissbräuchlich noch sittenwidrig, weil ein direkter Zusammenhang zwischen der Weigerung, die Wärmepumpen herauszugeben, und der Bezahlung des restlichen Werklohnes bestand.
bb) Die Frage, ob der Beschwerdeführer gestützt auf ein Retentionsrecht berechtigt war, die Wärmepumpen zurückzubehalten, ist von Amtes wegen zu prüfen.
Gemäss
Art. 895 Abs. 1 ZGB
kann der Gläubiger bewegliche Sachen, die sich mit Willen des Schuldners in seinem Besitz befinden,
BGE 115 IV 207 S. 213
bis zur Befriedigung für seine Forderung zurückbehalten, wenn die Forderung fällig ist und ihrer Natur nach mit dem Gegenstand der Retention im Zusammenhang steht. Gemäss Abs. 2 besteht dieser Zusammenhang unter Kaufleuten, sobald sowohl Besitz wie auch Forderung aus ihrem geschäftlichen Verkehr herrühren. Diese Bestimmung ist jedoch vorliegend nicht anwendbar, weil nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz die Voraussetzungen des sogenannten kaufmännischen Retentionsrechts nicht gegeben sind.
Das engere, sogenannte bürgerliche Retentionsrecht setzt einen Zusammenhang zwischen der Forderung und dem Retentionsobjekt voraus. Ein solcher Zusammenhang kann hier nicht von vorneherein verneint werden, denn die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Forderung geht auf die Lieferung und Installation der Wärmepumpen zurück, welche sich im Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Nötigungshandlung wieder in seinem Besitz befanden, und die Rücknahme der Wärmepumpen erfolgte offensichtlich aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung zur Überprüfung und gegebenenfalls Nachbesserung von etwaigen Mängeln. Wie weit in einer derartigen Konstellation die vom Gesetz geforderte Konnexität bejaht werden darf, ist unter Rückgriff auf das Prinzip von Treu und Glauben zu beantworten. Die Zurückbehaltung ist dann, aber auch nur dann zulässig, wenn es Treu und Glauben widersprechen würde, den Gläubiger zur Rückgabe der Sache an den Eigentümer zu verpflichten, wo er eine mit der gleichen Sache im Zusammenhang stehende Gegenforderung hat (OFTINGER/BÄR,
Art. 895 ZGB
N. 83). Vorliegend hatte der Beschwerdeführer ein Retentionsrecht an den Wärmepumpen jedenfalls in bezug auf Forderungen, die ihm aus etwaigen Reparaturarbeiten entstanden waren. Solche hat er jedoch nicht geltend gemacht. In bezug auf seine frühere Forderung hatte er ursprünglich ebenfalls ein Retentionsrecht, welches jedoch, wie die Vorinstanz zu Recht festhält, mit der Lieferung der Wärmepumpen an den Beschwerdegegner L. untergegangen ist. Dass bei späterer Rücknahme der Sache ein solches Retentionsrecht wieder auflebe, wird im allgemeinen abgelehnt (OFTINGER/BÄR,
Art. 895 ZGB
N. 104a und 179). In der Tat wäre es schwer einsichtig, dass ein Lieferant, der für eine Forderung von über Fr. 50'000.-- keine Pfandsicherung mehr hat, von neuem in den Genuss einer solchen gelangen soll, bloss weil er die gelieferte Sache für Kontrollzwecke zu sich zurücknimmt. Die damit verbundene Privilegierung des Gläubigers gegenüber andern
BGE 115 IV 207 S. 214
Gläubigern wäre jedenfalls schwer begründbar. Die neue Inbesitznahme des Gegenstandes lässt deshalb ein Retentionsrecht nur für neue Forderungen, nicht aber für frühere entstehen (OFTINGER/ BÄR,
Art. 895 ZGB
N. 104a). Der Beschwerdeführer kann sich somit zur Rechtfertigung nicht auf ein Retentionsrecht berufen.
cc) Mit der Verneinung der Voraussetzungen eines besonderen Rechtfertigungsgrundes, wie hier eines Retentionsrechtes aus
Art. 895 ZGB
, ist jedoch die Frage der Rechtswidrigkeit nicht endgültig beantwortet, da die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale von
Art. 181 StGB
die Rechtswidrigkeit noch nicht indiziert. Vielmehr ist eine besondere, über die üblichen Rechtfertigungsgründe hinaus vorzunehmende Rechtswidrigkeitsprüfung erforderlich (vgl.
BGE 69 IV 172
). Die Rechtswidrigkeit der Nötigung ist nur dann zu bejahen, wenn entweder der Zweck der Nötigung oder das eingesetzte Nötigungsmittel bereits rechtswidrig war, oder aber dann, wenn Zweck und Mittel der Nötigung zwar als rechtmässig erscheinen, aber ihre Verknüpfung als rechtswidrig oder sittenwidrig anzusehen ist (SCHUBARTH, Kommentar Art. 181 N. 55 ff. mit Nachweisen). Der Beschwerdeführer bezweckte die Bezahlung einer (behaupteten) ausstehenden Schuld. Der Zweck der von ihm begangenen Nötigung erscheint deshalb nicht als rechtswidrig. Ob das eingesetzte Nötigungsmittel als rechtswidrig anzusehen ist, kann dann offenbleiben, wenn jedenfalls die Zweck/Mittel-Relation als rechtswidrig erscheint. Hier kommt dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer nicht auf ein Retentionsrecht berufen kann, Indizwirkung zu, da auch das Retentionsrecht nur im Rahmen einer gewissen, hier nicht gegebenen Konnexität zu bejahen ist. Allerdings wird man nicht schon aus dem Fehlen eines Retentionsrechtes auf die Rechtswidrigkeit des Vorgehens schliessen dürfen; sonst ergäbe sich aus der vertraglichen Pflicht des Beschwerdeführers, die Wärmepumpen zurückzugeben, von vorneherein die Rechtswidrigkeit der nötigenden Handlung, ohne dass die für
Art. 181 StGB
erforderliche zusätzliche Rechtswidrigkeitsprüfung stattgefunden hätte. Erschwerend ins Gewicht fällt vorliegend, dass der Beschwerdeführer die Situation des Beschwerdegegners kurz vor Beginn der Heizperiode ausnützen wollte. Er nahm die Wärmepumpen im Laufe des Sommers zurück, um Messungen auf dem firmeneigenen Prüfstand vorzunehmen, und verweigerte dann (ohne Retentionsrecht) die Reinstallierung kurz vor Beginn der Heizperiode bis zur Bezahlung einer behaupteten Forderung. Überdies drohte er L. für den Fall, dass er nicht
BGE 115 IV 207 S. 215
kurzfristig seinem Zahlungsvorschlag zustimme, eine wesentliche Verlängerung der Lieferfrist an. Damit nützte er die Situation seines Vertragspartners in einer Art aus, die als sittenwidrig bezeichnet werden muss. Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer deshalb zu Recht wegen versuchter Nötigung verurteilt. | de |
85009ceb-70c7-41e3-9b54-ce7ae7963414 | Sachverhalt
ab Seite 276
BGE 104 Ib 275 S. 276
A.-
Der 1941 in Westberlin geborene deutsche Staatsangehörige W. wurde am 18. Mai 1972 vom Strafgericht Basel-Stadt wegen wiederholter und fortgesetzter qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und wiederholten Verweisungsbruchs zu zwei Jahren Zuchthaus und wegen wiederholter Zollübertretung und wiederholter Hinterziehung der Warenumsatzsteuer zu einer Busse verurteilt. Gleichzeitig ordnete das Strafgericht die Landesverweisung auf Lebenszeit an. Am 9. Januar 1974 wurde vom Polizeidepartement Basel-Stadt die gerichtliche Ausweisung publiziert.
Trotz der Ausweisung reiste W. Anfang September 1976 in die Schweiz ein und verübte bis zu seiner Verhaftung am 19. September 1976 zahlreiche Einbruchdiebstähle. Am 19. April 1977 verurteilte ihn das Kriminalgericht des Kantons Glarus wegen wiederholten Diebstahls und Diebstahlsversuches, wiederholter Sachbeschädigung, wiederholten Hausfriedensbruches, wiederholten Verweisungsbruches und Verletzung von Verkehrsregeln zu drei Jahren Zuchthaus und Fr. 50.- Busse.
B.-
Am 29. Juli 1978 entliess der Regierungsrat des Kantons Glarus W. auf den 18. September 1978 bedingt aus dem Vollzug der vom Kriminalgericht ausgesprochenen Zuchthausstrafe, setzte die Probezeit auf zwei Jahre an und erteilte ihm die Weisung, seinen jeweiligen Aufenthaltsort der Staatskasse des Kantons Glarus zu melden.
Gestützt auf eine seit 1963 bestehende Einreisesperre, die unbefristet und mit Gültigkeit für das ganze Gebiet der Schweiz verfügt worden war, ordnete die Polizeidirektion des Kantons Glarus am 18. September 1978 die sofortige Ausschaffung von W. durch die Fremdenpolizei Basel an. Seither befindet er sich wieder in der Bundesrepublik Deutschland.
Am 5. September 1978 hatte der Vertreter des W. das Strafgericht Basel-Stadt ersucht, die von diesem Gericht am 18. Mai 1972 ausgesprochene Landesverweisung auf Lebenszeit probeweise
BGE 104 Ib 275 S. 277
aufzuschieben. Das Justizdepartement des Kantons Basel-Stadt, an welches das Gesuch überwiesen wurde, leitete es an den Regierungsrat des Kantons Glarus weiter in der Meinung, der Kanton Glarus sei zum Entscheid zuständig, weil er die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug verfügt habe. Am 21. September 1978 lehnte der Regierungsrat des Kantons Glarus das Gesuch um probeweisen Aufschub der Landesverweisung ab.
C.-
W. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen, es sei der Beschluss des Regierungsrates des Kantons Glarus vom 21. September 1978 aufzuheben, der Vollzug der am 18. Mai 1972 ausgesprochenen Landesverweisung für die Dauer von zwei Jahren probeweise aufzuschieben und es sei der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen und demzufolge dem Beschwerdeführer zu gestatten, während der Dauer des Beschwerdeverfahrens in der Schweiz Wohnsitz zu nehmen oder zu Besuchszwecken in die Schweiz einzureisen.
Der Regierungsrat des Kantons Glarus beantragt Abweisung der Beschwerde: Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Wird der Verurteilte bedingt entlassen, so entscheidet die zuständige Behörde, ob und unter welchen Bedingungen der Vollzug der Landesverweisung probeweise aufgeschoben werden soll (
Art. 55 Abs. 2 StGB
).
a) Der probeweise Aufschub des Vollzuges der Landesverweisung setzt voraus, dass der des Landes Verwiesene aus dem Vollzug der Hauptstrafe bedingt entlassen wurde. Die Landesverweisung muss daher die Nebenstrafe zur Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe sein, aus welcher der Verurteilte bedingt entlassen wird.
Wird die bedingte Entlassung aus dem Vollzug der Hauptstrafe nicht gewährt, so kann die Landesverweisung, für die der bedingte Strafvollzug nicht bewilligt worden ist, auch nicht probeweise aufgeschoben werden, so dass sie an dem Tag wirksam wird, an dem die Freiheitsstrafe verbüsst ist. Entsprechendes gilt, wenn der Verurteilte - auch wenn er bedingt entlassen und der Vollzug der Landesverweisung probeweise aufgeschoben wurde - sich während der Probezeit nicht bewährt hat; auch in diesem Falle wird die Landesverweisung mit der Verbüssung des Strafrestes wirksam (
Art. 55 Abs. 4 StGB
). Ist
BGE 104 Ib 275 S. 278
die Landesverweisung auf diese Weise rechtskräftig und vollziehbar geworden, kann auf sie nicht mehr zurückgekommen werden. Selbst die Rehabilitation ist gesetzlich nicht vorgesehen. Vorbehalten bleibt lediglich die Begnadigung.
Eine spätere Straffälligkeit in der Schweiz mit nachfolgender bedingter Entlassung kann nicht zum Anlass genommen werden, eine früher verhängte, rechtskräftig und wirksam gewordene Landesverweisung nachträglich aufzuheben. Dies wäre ein gesetzlich nicht vorgesehener Eingriff in ein rechtskräftiges und vollstreckbares Strafurteil.
b) Aus dem Gesagten folgt, dass die für den Vollzug einer später ausgefällten Hauptstrafe zuständige Behörde nicht befugt ist, über den probeweisen Aufschub der in einem früheren Strafverfahren ausgesprochenen Landesverweisung zu entscheiden. Will der des Landes Verwiesene eine Änderung der früheren Anordnung erwirken, so muss er sich an die Behörden wenden, die zuständig sind, hinsichtlich des Urteils, das die Landesverweisung ausgesprochen hat, nachträgliche richterliche oder vollzugsrechtliche Verfügungen zu treffen. Entsprechend wurde entschieden für die Umwandlung der Busse in Haft (VEB 18/1947 Nr. 13 S. 29 f.), für die Begnadigung (
BGE 101 Ia 283
ff.) und die Löschung der Busse gemäss
Art. 49 Ziff. 4 StGB
(
BGE 104 IV 66
ff.). Eine Ausnahme von der allgemeinen Zuständigkeitsregel, wie sie
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB
für den Widerruf des Bedingten Strafvollzuges vorsieht, kennt das Gesetz für den probeweisen Aufschub der Landesverweisung und dessen Widerruf nicht.
2.
Im vorliegenden Fall hat der Regierungsrat des Kantons Glarus materiell über den probeweisen Aufschub einer Landesverweisung entschieden, die von einem Gericht des Kantons Basel-Stadt ausgesprochen worden war. Dazu war er nicht zuständig. Die Verletzung der eidgenössischen Zuständigkeitsordnung ist im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde von Amtes wegen, ohne Bindung an die Beschwerdebegründung, zu beachten (
Art. 114 Abs. 1 OG
). Das hat zur Folge, dass dem ersten Begehren des Beschwerdeführers um Aufhebung des angefochtenen Entscheides stattzugeben ist.
3.
Auf das zweite Begehren, der Vollzug der mit Urteil des Strafgerichtes Basel-Stadt vom 18. Mai 1972 ausgesprochenen Landesverweisung auf Lebenszeit sei für die Dauer von zwei Jahren probeweise aufzuschieben, ist nicht einzutreten, da diese
BGE 104 Ib 275 S. 279
Frage noch nicht von einer zuständigen kantonalen Behörde geprüft wurde.
Damit wird das weitere Begehren, es sei der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen und dem Beschwerdeführer während des Beschwerdeverfahrens die Einreise in die Schweiz zu bewilligen, gegenstandslos. Ihm hätte auch mit Rücksicht auf die fremdenpolizeiliche Einreisesperre nicht entsprochen werden können. | de |
bd7fe9e5-37c6-4fe9-ac32-f0d16d225cb0 | Erwägungen
ab Seite 442
BGE 119 Ia 441 S. 442
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Amtsgerichtspräsident - auf den der Appellationshof verweist - hat ausgeführt, gemäss
Art. 493 OR
unterlägen nicht nur die in der Bürgschaftsverpflichtung objektiv wesentlichen Punkte der Formvorschrift des Abs. 2 dieser Bestimmung, sondern nach
Art. 12 OR
auch sämtliche subjektiv wesentlichen Punkte. Die Übernahme der Bürgschaft unter der Voraussetzung, dass daneben noch andere Bürgen sich für die gleiche Schuld im Sinne von
Art. 497 Abs. 4 OR
(Mitbürgen, Nebenbürgen) verpflichtet hätten, bilde einen solchen subjektiv wesentlichen Punkt. Weil die mitverpflichteten Bürgen in der Bürgschaftserklärung vom 20. Dezember 1990 nicht aufgeführt worden seien, habe dies die Ungültigkeit der Bürgschaft zur Folge (
Art. 493 Abs. 1 OR
).
Der Beschwerdeführer wendet dagegen im wesentlichen ein, der Umstand, dass noch andere Bürgen für die gleiche Schuld gehaftet hätten, sei kein subjektiv wesentlicher Punkt, welcher von der Formvorschrift gemäss
Art. 493 OR
hätte umfasst werden müssen. Der Appellationshof habe demzufolge Bundesrecht krass und unrichtig ausgelegt.
c) Der öffentlichen Beurkundung nach
Art. 493 Abs. 2 OR
unterliegen alle objektiv und subjektiv wesentlichen Angaben (GIOVANOLI, N. 17 und 37 zu
Art. 493 OR
; SCHÖNENBERGER, N. 22 zu
Art. 493 OR
; TERCIER, La partie spéciale du Code des obligations, N. 3726; SCYBOZ, Garantievertrag und Bürgschaft, SPR VII/2, S. 400; SCHMID, Die öffentliche Beurkundung von Schuldverträgen, Diss. Freiburg 1988, N. 493). Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist, dem Bürgen die Tragweite seiner Verpflichtung vor Augen zu führen und ihn vor übereilten Bürgschaftsversprechen abzuhalten (
BGE 111 II 175
E. 3a S. 178). Von der Formvorschrift werden alle Punkte umfasst, welche die Rechtsstellung des Bürgen erschweren, nicht aber diejenigen, die den Vertrag bloss in einem Nebenpunkt ergänzen oder die Stellung des Bürgen ausschliesslich in dessen Interesse erleichtern
BGE 119 Ia 441 S. 443
(
BGE 50 II 245
E. 2b S. 249,
BGE 44 II 61
E. 3 S. 64; GIOVANOLI, loc.cit.; SCHÖNENBERGER, N. 26 und 28 zu
Art. 493 OR
; TERCIER, loc.cit.; SCYBOZ, a.a.O., S. 400/401; SCHMID, a.a.O., N. 502; BECK, Das neue Bürgschaftsrecht, Zürich 1942, N. 11 zu
Art. 493 OR
). Nach SCHMID (a.a.O., N. 521) stellt die Mitbürgschaft eine Erleichterung des Bürgen dar.
Der Amtsgerichtspräsident hat seine Ansicht auf GIOVANOLI (N 17 zu
Art. 493 OR
a.E.) abgestützt. Dieser Autor erblicke einen subjektiv wesentlichen Punkt bei der Übernahme einer Bürgschaft in der Voraussetzung, dass noch andere Bürgen für die gleiche Schuld bürgten (sog. Mitbürgschaft gemäss
Art. 497 Abs. 4 OR
). Auch der Appellationshof, der auf den erstinstanzlichen Entscheid verweist, übersieht, dass dieser Autor offenbar den Fall anvisiert, wo der Verpflichtungswille eines Bürgen von einem Engagement zusätzlicher Garanten abhängig gemacht wird, was hier eindeutig nicht zutrifft. Denn in der Solidarbürgschaftsverpflichtung des Beschwerdegegners vom 20. Dezember 1990 ist von anderen Bürgen überhaupt nicht die Rede, weshalb die eingegangene Schuld nur eine Bürgschaft mehrerer voneinander unabhängiger Personen im Sinne von
Art. 497 Abs. 4 OR
sein kann. In diesem Fall haben die einzelnen Bürgen keine Beziehungen untereinander, und sie wissen nicht, dass sich noch weitere Personen verbürgt haben (SCHÖNENBERGER, N. 74 zu
Art. 497 OR
; SCYBOZ, a.a.O., S. 422 lit. A; BECK, N. 67 zu
Art. 497 OR
; OR-PESTALOZZI, N. 27 zu
Art. 497 OR
). Es ist deshalb nicht ersichtlich, warum der Umstand, dass die anderen Bürgen in der Bürgschaftsurkunde nicht erwähnt werden, einen Formmangel begründen soll, wenn das Vorhandensein anderer Garanten für den einzelnen Bürgen grundsätzlich ohne Bedeutung ist. Ein subjektiv wesentlicher Punkt gemäss dem Zitat von GIOVANOLI (loc.cit.) scheint aber dann vorzuliegen, wenn ein Bürge sich nicht allein für die Hauptschuld verpflichten will. Dieser Tatbestand beschlägt jedoch
Art. 497 Abs. 3 OR
mit den dort vorgesehenen Rechtsfolgen (vgl. SCYBOZ, a.a.O., S. 423 ff.), wo indessen nicht verlangt wird, dass die andern Bürgen in der Bürgschaftsurkunde erwähnt werden.
Das Ergebnis würde vorliegendenfalls wahrscheinlich auch nicht anders ausfallen, wenn von einer Mitbürgschaft auszugehen wäre. Eine solche erheischt weder eine ausdrückliche Erklärung noch die Verwendung des Ausdrucks "Mitbürge"; das kann sich aus den Umständen ergeben (SCYBOZ, a.a.O., S. 424). Die Lehre hält zudem dafür, dass die Gemeinsamkeit der Verbürgung nicht öffentlich beurkundet
BGE 119 Ia 441 S. 444
werden muss (BECK, N. 10 zu
Art. 497 OR
; SCHÖNENBERGER, N. 15 zu
Art. 497 OR
).
d) Aus dem Gesagten erhellt, dass die Ansicht des Appellationshofes unhaltbar ist, die Bürgschaftsverpflichtung sei ungültig und stelle somit keinen provisorischen Rechtsöffnungstitel dar, da nicht sämtliche Bürgen in der Urkunde aufgeführt worden seien. Die weiteren Rügen des Beschwerdeführers, insbesondere das Fehlen eines subjektiv wesentlichen Punktes führe nicht zur Nichtigkeit des gesamten Vertrages, sind deshalb nicht mehr zu prüfen. | de |
2fc3b87d-3615-4615-a5d9-9a1e39d346fe | Sachverhalt
ab Seite 498
BGE 126 III 497 S. 498
A.-
Y. und X. heirateten im Jahre 1985. Aus dieser Ehe gingen die Kinder L. (geb. 15. Februar 1986), G. (geb. 24. Februar 1987), F. (geb. 3. April 1989) und T. (geb. 2. März 1991) hervor.
B.-
Nachdem das Scheidungsverfahren am 18. November 1998 eingeleitet worden war, wies der Bezirksgerichtspräsident Unterlandquart am 3. Februar 2000 die Kinder für die Dauer des Verfahrens zur Pflege und Erziehung Y. zu und stellte sie unter deren alleinige Obhut. X. räumte er ein Besuchsrecht ein und verpflichtete ihn zu Unterhaltsbeiträgen für seine Kinder. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde von X. wies der Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart mit Beiurteil vom 3. Mai 2000 ab.
C.-
X. führt staatsrechtliche Beschwerde unter anderem wegen Verletzung von
Art. 9 BV
mit dem Antrag, das angefochtene Beiurteil aufzuheben.
Y. sowie der Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart schliessen auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt das angefochtene Beiurteil auf. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
a) Nach
Art. 144 Abs. 1 ZGB
sind die Eltern persönlich anzuhören, wenn Anordnungen über die Kinder zu treffen sind. Abs. 2 der genannten Bestimmung sieht vor, dass die Kinder in geeigneter Weise durch das Gericht oder durch eine beauftragte Drittperson persönlich anzuhören sind, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen.
b) Aus dem Wortlaut von Abs. 1 des
Art. 144 ZGB
in Verbindung mit Abs. 2 der Bestimmung lässt sich folgern, dass auch eine persönliche Anhörung der Kinder vorgeschrieben ist, wenn sie betreffende Anordnungen getroffen werden; daraus ergibt sich, dass es sich bereits im Massnahmeverfahren nach
Art. 137 ZGB
von Gesetzes wegen aufdrängt, die Kinder persönlich anzuhören, sofern die im Gesetz umschriebenen Massnahmen verfügt werden. Die hier vertretene Auslegung rechtfertigt sich denn auch im Lichte von Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (SR 0.107); diese Bestimmung gebietet grundsätzlich eine Anhörung der Kinder, wenn ein Gerichts- oder Verwaltungsverfahren ihre Angelegenheiten betrifft (vgl. dazu auch:
BGE 124 III 90
). In der Literatur wird eine Anhörung bereits im Massnahmeverfahren nach
Art. 137 ZGB
unter anderem aus den
BGE 126 III 497 S. 499
vorgenannten Gründen befürwortet (vgl. insbes. SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, N. 6 zu
Art. 144 ZGB
; SPÜHLER, Neues Scheidungsverfahren, Zürich 1999, S. 30; RUMO-JUNGO, Die Anhörung des Kindes unter besonderer Berücksichtigung verfahrensrechtlicher Fragen, AJP 1999 S. 1587, VII. 2.; etwas nuancierter: SCHWEIGHAUSER, in Schwenzer [Herausg.], Praxiskommentar zum Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 18 zu
Art. 144 ZGB
, wonach sich die Anhörung lediglich aufdrängt, wenn die Frage der Zuteilung der Obhut oder des Besuchsrechts strittig ist).
c) Im vorliegenden Fall sind keine Gründe ersichtlich, die im Sinne von
Art. 144 Abs. 2 ZGB
gegen eine solche Anhörung sprechen würden. Dies gilt bezüglich des Alters der Kinder; dabei wird keineswegs übersehen, dass das Jüngste derzeit erst ca. 9 1/2 Jahre alt ist. In dem in
BGE 124 III 93
/94 beschriebenen Fall wurde ein 6-jähriges Kind vor allem wegen des bis dahin fehlenden Kontaktes zum Vater, aber auch wegen anderer wichtiger Gründe nicht persönlich angehört (vgl. hiezu auch RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 1581/1582). Ferner besteht auch keine Dringlichkeit, bei der eine Anhörung im Verfahren der vorsorglichen Massnahmen allenfalls unterbleiben könnte (RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 1587 Anm. 129). | de |
3858f218-11a0-4361-9f90-60a3a28dd5cb | (wegen Kollusionsgefahr), indem solche auch mit Bezug auf Firmen angeordnet wurden, die im Ersuchen und den zugehörigen Unterlagen nicht ausdrücklich genannt, aber in den Gegenstand der Untersuchung bildenden Sachverhalt verwickelt sind. Auf diese Firmen bezogen muss das Ersuchen innert kurzer Frist hinreichend ergänzt werden; andernfalls würden die sie betreffenden vorläufigen Massnahmen ohne weiteres dahinfallen (E. 3b). Würden diese Massnahmen aufrechterhalten und die gestützt auf
Art. 18 IRSG
vorläufig beschlagnahmten Unterlagen ohne solche Ergänzung des Ersuchens rechtshilfeweise herausgegeben, so würde dadurch das Übermassverbot verletzt (E. 5b).
2. Im Falle von Abgabebetrug muss die ersuchende Behörde hinreichende Verdachtsmomente darlegen, damit ihrem Gesuch entsprochen werden kann. Es ist dabei an Indizien - z.B. Zeugenaussagen, Urkunden - zu denken, welche geeignet sind, die Angaben der ersuchenden Behörde wenigstens in dem Sinne objektiv zu erhärten, dass diese nicht völlig haltlos erscheinen. Diesen Anforderungen genügt das Ersuchen in casu jedenfalls zur Zeit nicht. Sollte es nicht hinreichend ergänzt werden, so würden sich die bereits erfolgten Zwangsmassnahmen als ungerechtfertigt erweisen. Diesfalls müssten die beschlagnahmten Akten den Berechtigten unbeschwert zurückerstattet werden (E. 4).
Sachverhalt
ab Seite 97
BGE 116 Ib 96 S. 97
Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Würzburg (BRD) führt ein Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche verschiedener Firmen des Konzerns Z. wegen des Verdachts der fortgesetzten gewerbsmässigen Steuerhinterziehung und der fortgesetzten mittelbaren Steuerhinterziehung. Am 1. Juni 1989 überbrachte ein Beamter des Zollfahndungsdienstes Karlsruhe dem Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) ein Rechtshilfeersuchen des Leitenden Oberstaatsanwaltes bei dem Landgericht Würzburg. Mit dem Ersuchen wird die Durchsuchung, Beschlagnahme
BGE 116 Ib 96 S. 98
und Herausgabe von Unterlagen bei den von den deutschen Behörden beschuldigten schweizerischen Staatsbürgern A. und B., verantwortliche Organe im Rahmen des Konzerns, sowie bei den zu diesem gehörenden Firmen C., D., E. und H. beantragt. Dem Ersuchen sind vom 1. Juni 1989 datierte, die genannten natürlichen und juristischen Personen betreffende Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse des Amtsgerichts Würzburg beigelegt.
Die deutschen Behörden halten dafür, dass der untersuchte Sachverhalt den Tatbestand eines besonders schweren Falles der fortgesetzten gewerbsmässigen Steuerhinterziehung gemäss § 369 Abs. 1 Ziff. 1, § 370 Abs. 1 Ziff. 1 und 2, Abs. 3 Ziff. 1 und 4, Abs. 4 und 6 sowie § 373 Abs. 1 der deutschen Abgabenordnung (AO) und zudem den Tatbestand der fortgesetzten mittelbaren Falschbeurkundung gemäss § 271 des deutschen Strafgesetzbuches (dStGB) erfüllten; es bestehe der dringende Verdacht, dass die genannten natürlichen und juristischen Personen die dargelegten Straftaten begangen hätten. Zur Aufklärung der Straftaten wird um Vornahme verschiedener Zwangsmassnahmen - namentlich Durchsuchungen sowie Beschlagnahme und Herausgabe von Geschäftsunterlagen - ersucht.
Als Vororientierung sandte das BAP das Ersuchen am 2. Juni 1989 an die Oberzolldirektion (OZD) der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV). Am selben Tag teilte die OZD dem BAP mit, dass die Beschuldigten sich - soweit gemäss der Darstellung im Ersuchen ersichtlich - des Abgabebetruges im Sinne von Art. 14 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR, SR 313.0) strafbar gemacht haben dürften. Dabei stünden Zolldelikte in Frage, welche, falls sie in der Schweiz begangen worden wären, durch die Zollverwaltung zu verfolgen und zu beurteilen wären (Art. 87 Abs. 1 des Zollgesetzes vom 1. Oktober 1925, ZG, SR 631.0).
Nachdem das BAP das Ersuchen gemäss Art. 78 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG, SR 351.1) geprüft, es als den massgebenden staatsvertraglichen Formerfordernissen genügend und als materiell vollständig erachtet und keinen Grund festgestellt hatte, der die Rechtshilfeleistung als offensichtlich unzulässig erscheinen liesse, übertrug es die Durchführung des Verfahrens mit Verfügung vom 7. Juni 1989 der OZD (
Art. 17 Abs. 4 IRSG
i.V.m.
Art. 87 Abs. 1 ZG
). Diese Verfügung blieb unangefochten.
BGE 116 Ib 96 S. 99
Parallel zu den im Ersuchen angekündigten Ermittlungshandlungen (Durchsuchungen) in der BRD verfügte die OZD am 9. Juni 1989 folgendes:
"1. Die nachgesuchte Rechtshilfe wird zum Vollzug vorsorglicher
Massnahmen bewilligt.
2. Mit dem Vollzug wird die Direktion des I. Zollkreises (unter
Mitwirkung des Zolluntersuchungsdienstes Zürich) beauftragt.
3. Einer allfälligen Beschwerde wird die aufschiebende Wirkung entzogen.
4. Gegen diese Zwischenverfügung kann binnen 10 Tagen nach Eröffnung beim
Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, Beschwerde geführt
werden.
5. Mitteilung an die Direktion des I. und II. Zollkreises
a)zur Eröffnung der Verfügung an den Betroffenen
b) zum Vollzug der Rechtshilfemassnahme
c) zur Rückleitung der Akten."
Wegen angenommener Kollusionsgefahr wurde diese Zwischenverfügung den beschuldigten natürlichen und juristischen Personen erst unmittelbar vor den bei ihnen am 12. Juni 1989 vorgenommenen Hausdurchsuchungen eröffnet, wobei verschiedene Personen einvernommen und Unterlagen beschlagnahmt wurden. Zusätzlich wurden derartige vorsorgliche Massnahmen auch bei im Ersuchen nicht genannten Firmen getroffen, so bei den ebenfalls zum Konzern Z. gehörenden Firmen F. und G., obwohl die Zwischenverfügung der OZD nicht auch mit Bezug auf diese Firmen getroffen worden war.
Mit gemeinsamer Eingabe erhoben die erwähnten beschuldigten natürlichen und juristischen Personen sowie die Firmen F. und G. am 21. Juni 1989 Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragen (soweit hier wesentlich), die von der OZD bewilligte Rechtshilfe zum Vollzug vorsorglicher Massnahmen sei, soweit überhaupt noch möglich, rückgängig zu machen; sämtliche beschlagnahmten Akten und andern Unterlagen seien den Beschwerdeführern zurückzuerstatten. Das Bundesgericht weist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
a) Die Beschwerdeführer übersehen, dass es sich bei den von der OZD auf Ersuchen der deutschen Behörden am 9. Juni 1989 verfügten und am 12. Juni 1989 getroffenen Massnahmen
BGE 116 Ib 96 S. 100
- Einvernahmen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen - erst um vorläufige Massnahmen im Sinne von
Art. 18 IRSG
handelt, die ausdrücklich als solche bezeichnet worden sind.
Vorläufige Massnahmen zur Erhaltung des bestehenden Zustandes, zur Wahrung bedrohter rechtlicher Interessen oder zur Sicherung gefährdeter Beweise können auf ausdrückliches Ersuchen eines anderen Staates getroffen werden, wenn das Verfahren nach den massgebenden Bestimmungen des IRSG nicht offensichtlich als unzulässig oder unzweckmässig erscheint; bei Gefahr im Verzuge können sie, sobald ein Ersuchen angekündigt ist, auf Antrag des BAP angeordnet werden, wenn ausreichende Angaben zur Beurteilung der Voraussetzungen vorliegen (
Art. 18 IRSG
).
Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich zweifelsfrei, dass die formellen Bestimmungen über das Rechtshilfeersuchen (s. namentlich Art. 28 i.V.m.
Art. 78 IRSG
bzw.
Art. 14 EÜR
i.V.m.
Art. 10 Abs. 2 IRSV
) bei einem Gesuch um Anordnung vorläufiger Massnahmen noch nicht in jeder Hinsicht erfüllt sein müssen (s. etwa
BGE 113 Ib 264
f. E. 2, zudem nicht publ. Urteile des Bundesgerichts vom 29. Mai 1989 i.S. K. S.A. und Mitb., vom 7. März 1989 i.S. B.M., vom 21. Februar 1989 i.S. D.B. und vom 18. April 1986 i.S. T.F. und Mitb., E. 3a). Die ausdrücklich oder sinngemäss gegen diese Bestimmungen gerichteten Einwendungen der Beschwerdeführer gehen daher fehl.
Einzig ist erforderlich, dass die in
Art. 18 IRSG
selber genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Im übrigen hat sich das Bundesgericht, wenn erst vorsorgliche Massnahmen im Sinne dieser Bestimmung zur Diskussion stehen, auf eine vorläufige Prüfung der Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der Rechtshilfe und dieser Massnahmen zu beschränken (
BGE 113 Ib 264
f. E. 2 und das bereits erwähnte Urteil vom 29. Mai 1989). Im vorliegenden Fall betrifft diese Frage namentlich den Aspekt der beidseitigen Strafbarkeit bzw. der Darlegung hinreichender Verdachtsmomente bei einem wegen Abgabebetruges gestellten Rechtshilfeersuchen und den Verhältnismässigkeitsgrundsatz. Eine derartige vorläufige Prüfung schon im Stadium der vorsorglichen Massnahmen drängt sich aber deshalb auf, weil so unnütze Weiterungen des Verfahrens verhindert werden könnten, falls sich die grundsätzlichen Voraussetzungen der verlangten Rechtshilfe bereits zu diesem Zeitpunkt als nicht gegeben erweisen sollten.
Dass die in
Art. 18 IRSG
selber genannten Voraussetzungen für die von der OZD wegen Kollusionsgefahr als vorläufige Massnahmen
BGE 116 Ib 96 S. 101
getroffenen Vorkehren nicht erfüllt seien, machen die Beschwerdeführer nicht geltend und ist denn auch nicht ersichtlich. Das BAP und die OZD hatten von dieser gemäss den Angaben im Ersuchen bestehenden Kollusionsgefahr auszugehen und durften dieses dem Grundsatze nach - vorbehältlich der mit Bezug auf die Firmen F. und G. nachfolgend zu erörternden Einschränkungen - ohne weiteres als jedenfalls nicht offensichtlich unzulässig erachten. Als es den schweizerischen Behörden übergeben wurde, genügte es übrigens - wiederum vorbehältlich der noch zu nennenden Einschränkungen - bereits den massgebenden Formerfordernissen des
Art. 14 EÜR
i.V.m.
Art. 10 Abs. 2 IRSV
, auch wenn dies nach dem Gesagten noch nicht einmal erforderlich gewesen wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts werden, dem Zweck des EÜR entsprechend, an die Begründung eines Rechtshilfeersuchens keine strengen Anforderungen gestellt; es genügt, wenn die darin gemäss
Art. 14 EÜR
i.V.m.
Art. 10 Abs. 2 IRSV
enthaltenen Angaben es den schweizerischen Behörden ermöglichen, zu prüfen, ob kein Sachverhalt vorliege, für den die Rechtshilfe unzulässig wäre (
BGE 115 Ib 77
f. mit Hinweisen). Jedenfalls diesen Anforderungen genügt das vorliegende Ersuchen grundsätzlich, ermöglicht es doch die genannte Prüfung.
Im übrigen lag auch ein an die OZD gerichteter Antrag des BAP vor, die von den ersuchenden deutschen Behörden verlangten vorläufigen Massnahmen zu treffen.
b) Zutreffend ist an sich die Feststellung der Beschwerdeführer, dass auch mit Bezug auf die beiden Firmen F. und G. vorläufige Massnahmen im Sinne von
Art. 18 IRSG
- Durchsuchungen und Beschlagnahmungen - getroffen worden sind, dies, obwohl die betreffenden beiden Firmen weder im Ersuchen noch in der diesem beigelegten, den Konzern Z. betreffenden Firmenzusammenstellung in Erscheinung treten. Auch die OZD bestätigt dies in ihren im bundesgerichtlichen Verfahren erstatteten Stellungnahmen. Im genannten Umfange gehen somit die erfolgten Zwangsmassnahmen über das vorliegende Ersuchen hinaus.
Allerdings ist mit der OZD festzustellen, dass die beiden Firmen im Verlaufe des Vollzugs der vorsorglich verlangten Rechtshilfemassnahmen bei den andern Personen bzw. Firmen in die Untersuchung einbezogen werden mussten, da den untersuchenden Beamten bekannt wurde, dass die Firma F. mit der Firma H. (BRD) Geschäfte tätige und Kompensationsgeschäfte mit dem Ostblock abwickle, so dass der dringende Verdacht entstand, dass sich dort
BGE 116 Ib 96 S. 102
ein Teil der gesuchten Akten befinde. Dasselbe gilt auch in bezug auf die die Firma G. betreffende Durchsuchung. Bei einer weiteren Firma wurden aus den genannten Gründen lediglich Akten der Firma F. erhoben und gesichtet. Diese Ausdehnung der Untersuchung im genannten Umfange auf die ebenfalls zum Konzern Z. gehörenden Firmen F. und G. war bei den gegebenen Verhältnissen - verflochtene Geschäftsbeziehungen, Kollusionsgefahr - geboten und stützte sich auf
Art. 48 Abs. 4 VStrR
, wonach der untersuchende Beamte dann, wenn Gefahr im Verzuge ist und ein Durchsuchungsbefehl nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, von sich aus eine Durchsuchung anordnen oder vornehmen kann. Da bei den gegebenen Verhältnissen, nach bereits erfolgtem Beginn der Untersuchungshandlungen, ein entsprechender Durchsuchungsbefehl auch in bezug auf die Firmen F. und G. nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden konnte und - wie ausgeführt - Kollusionsgefahr bestand, somit im Sinne von
Art. 48 Abs. 4 VStrR
"Gefahr im Verzuge" war, durften die untersuchenden Beamten die erforderliche Durchsuchung auch bei diesen beiden Firmen vornehmen. Nach den Akten bilden die verschiedenen Firmen ein kaum entwirrbares Firmengeflecht, so dass eine Beschränkung der vorläufigen Massnahmen auf die von den ersuchenden Behörden genannten Firmen den Zweck der Durchsuchung vereitelt hätte. Die durchgeführten Massnahmen haben somit jedenfalls dem Zweck des Ersuchens entsprochen. Dieses wird aber mit Bezug auf die beiden Firmen F. und G. innert kurzer, von der OZD anzuordnender Frist ergänzt werden müssen (in bisherigen, ähnlich gelagerten Fällen hat das Bundesgericht eine Frist von höchstens sechs Monaten, von der Zustellung seines begründeten Urteils an die die Rechtshilfe verfügende Instanz an gerechnet, als angemessen erachtet; s.
BGE 111 Ib 251
f. E. 6 mit Hinweisen, zudem etwa nicht publ. Urteil vom 1. Februar 1989 i.S. G.V. und Mitb., E. 2c mit weiteren Hinweisen). Ohne solche fristgerechte und hinreichende Ergänzung des Ersuchens würden die hinsichtlich der beiden Firmen getroffenen vorsorglichen Massnahmen ohne weiteres dahinfallen, was heisst, dass diesfalls die beschlagnahmten Dokumente den Berechtigten umgehend unbeschwert zurückzuerstatten wären (soweit dies noch nicht erfolgt ist).
Im Sinne dieser Erwägungen erweist sich die Beschwerde somit auch insoweit als unbegründet.
4.
b) Dass der Sachverhalt gemäss dem vorliegenden Ersuchen, falls er sich tatsächlich bewahrheiten sollte, u.a. den Tatbestand
BGE 116 Ib 96 S. 103
der qualifizierten, mittels Urkundenfälschung begangenen Steuerhinterziehung gemäss
§ 370 Ziff. 4 AO
und dementsprechend nach schweizerischem Recht den Tatbestand des Abgabebetruges - verbunden mit Urkundenfälschung - erfüllt (
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 IRSG
i.V.m.
Art. 24 Abs. 1 IRSV
,
Art. 14 Abs. 2 VStrR
; s.
BGE 115 Ib 71
ff., insb. 74 ff., mit Hinweisen), ist unbestritten und bedarf keiner weiteren Erörterungen. Entsprechend handelt es sich um rechtshilfefähige Delikte und ist das Erfordernis der beidseitigen Strafbarkeit erfüllt (
Art. 5 Abs. 1 lit. a EÜR
i.V.m. der von der Schweiz dazu abgegebenen auslegenden Erklärung, s. SR 0.351.1 S. 2 und 25).
c) Steht somit ein Fall von Abgabebetrug zur Diskussion, so sind die genannten, von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verlangten erhöhten Anforderungen an ein Ersuchen massgebend (
BGE 115 Ib 78
mit Hinweisen). Dabei verlangt das Bundesgericht von der ersuchenden Behörde nicht einen strikten Beweis des Tatbestandes, wäre diese doch hiezu oftmals gar nicht in der Lage, da sie wichtiges - die Beschuldigten belastendes oder auch entlastendes - Beweismaterial erst auf dem Rechtshilfeweg erlangen kann; die Anforderungen an den Nachweis eines Abgabebetruges sollen nicht allzu hoch gesetzt werden, damit
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 IRSG
nicht toter Buchstabe wird (vgl. HANS SCHULTZ, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1988, ZbJV 1990 S. 46 zu
BGE 114 Ib 56
ff.). Die ersuchende Behörde hat aber hinreichende Verdachtsmomente darzulegen, damit ihrem Gesuch entsprochen werden kann. Es ist dabei an Indizien - z. B. Zeugenaussagen, Urkunden - zu denken, welche geeignet sind, die Angaben im Ersuchen wenigstens in dem Sinne objektiv zu erhärten, dass diese nicht völlig haltlos erscheinen, sondern eben einen hinreichenden Verdacht der den Beschuldigten angelasteten Straftaten zu begründen vermögen (vgl.
BGE 115 Ib 68
ff.,
BGE 114 Ib 56
ff.,
BGE 111 Ib 242
ff.).
Diesen Anforderungen, die zwar - wie ausgeführt - nicht bereits zur Anordnung vorläufiger Massnahmen, aber als Voraussetzung der eigentlichen Rechtshilfeleistung im Falle von Abgabebetrug erfüllt sein müssen, vermag das vorliegende Ersuchen jedenfalls zur Zeit noch nicht zu genügen. Wodurch die darin aufgestellten Behauptungen erhärtet werden sollen, wird darin in keiner Weise dargelegt. Einzig liegt ihm eine Firmenaufstellung betreffend den Konzern Z. bei, während allfällige Zeugenaussagen oder irgendwelche der angeblich gefälschten Dokumente oder
BGE 116 Ib 96 S. 104
andere Beweisstücke, wie sie offenbar - allerdings ohne nähere Angaben - erst in der der Duplik der OZD beiliegenden Aktennotiz vom 1. Dezember 1989 angerufen werden, völlig fehlen. Offenbar stützen sich die im Ersuchen erhobenen Vorwürfe des Abgabebetruges einzig auf den von den Beschwerdeführern genannten Denunzianten X. Auch wenn mit dem BAP und der OZD festzustellen ist, dass der Stellenwert der Angaben dieses Denunzianten im deutschen Verfahren der Sache nach letztlich die dortige Beweiswürdigung betrifft und demgemäss nicht hier im Rechtshilfeverfahren zu prüfen ist, ob sich die betreffenden Vorwürfe tatsächlich bewahrheiten (s.
BGE 109 Ib 67
), ist nicht zu übersehen, dass die Angaben des Denunzianten nicht als Zeugenaussagen vorliegen, sondern dass dieser seinerseits in verschiedene Strafverfahren verwickelt ist und dass es sich bei seinen Angaben möglicherweise - jedenfalls gemäss der Darstellung der Beschwerdeführer - um einen blossen Racheakt gegenüber dem Konzern Z. handelt, nachdem er von einer hiezu gehörenden Firma wegen strafbarer Handlungen entlassen werden musste. Dies führt zur Feststellung, dass seine durch nichts erhärteten Angaben im Rahmen der Prüfung der Frage, ob von der ersuchenden Behörde hinreichende Verdachtsgründe dargelegt werden, nicht zum vornherein glaubwürdig erachtet bzw. nicht als den Sachverhalt gemäss Ersuchen objektiv erhärtende Indizien berücksichtigt werden können. Anderseits kann auch nicht übersehen werden, dass gemäss dem von den Beschwerdeführern zu den Akten gegebenen Bericht der Betriebsprüfungsstelle Zoll für den Oberfinanzbezirk Nürnberg vom 8. Mai 1989 der gesamte Aussenwirtschaftsverkehr der Firma H. (BRD) (Zentralsitz der Firma H.) für den Zeitraum von wenigstens 1. Januar 1987 bis 10. Oktober 1988 im wesentlichen - abgesehen von einzelnen Ordnungswidrigkeiten - nicht zu beanstanden ist (dies bei einem geprüften Volumen von DM 700 Mio.), was ebenfalls mit Bezug auf die vom Amtsgericht Würzburg genannten Länder gilt.
Zusammenfassend ist demnach festzustellen, dass das Rechtshilfebegehren im Hinblick auf die Rechtshilfeleistung an sich - Herausgabe der verlangten Geschäftsunterlagen - jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt den genannten, von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung für den Fall von Abgabebetrug vorausgesetzten Anforderungen nicht genügt, da es keine objektiv erhärteten Verdachtsmomente darlegt.
BGE 116 Ib 96 S. 105
d) Entgegen der Darstellung der Beschwerdeführer kann indes davon, die deutschen Behörden hätten die Strafverfahren gegen die fraglichen Beschuldigten eingestellt, so dass die verlangte Rechtshilfe auch aus diesem Grunde nicht zu leisten sei, nicht die Rede sein. Somit müsste dem Begehren entsprochen werden, falls die aufgezeigten Erfordernisse zur Rechtshilfeleistung erfüllt wären (s.
Art. 1 Ziff. 1 EÜR
). Dass diese Erfordernisse mit einer das Ersuchen ergänzenden Tatbestandsdarstellung noch erfüllt werden können, ist keineswegs ausgeschlossen, nachdem das Zollfahndungsamt Karlsruhe am 1. Dezember 1989 mitgeteilt hat, es gebe Beweise, die belegen könnten, dass die Firma Z. Ursprungsnachweise (Form. A) zu Unrecht erwirkt habe und dass Falschdeklarationen erfolgt seien. Bei dieser Sachlage sind die angeordneten vorläufigen Massnahmen aufrechtzuerhalten und die beschlagnahmten Unterlagen, soweit diese als für das Rechtshilfeverfahren nötig erscheinen und den Berechtigten nicht bereits zurückerstattet worden sind, durch die OZD zurückzubehalten. Sollte das Ersuchen nicht hinreichend im Sinne der vorstehenden Ausführungen ergänzt werden (können), so würde sich eine weitere Beschlagnahmung als ungerechtfertigt erweisen. Diesfalls müssten die noch beschlagnahmten Akten den Berechtigten unbeschwert zurückerstattet werden.
5.
b) Die schweizerischen Behörden dürfen nicht über die im Rechtshilfegesuch ausdrücklich gestellten Begehren hinausgehen (Übermassverbot,
BGE 111 Ib 131
E. 4). Dies geht daraus hervor, dass einerseits das EÜR den ersuchten Staat nicht verpflichtet, vom ersuchenden Staat nicht verlangte Massnahmen zu treffen, und dass anderseits das IRSG bei verfassungskonformer Auslegung - in Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes - es der ersuchten Behörde verbietet, vom ersuchenden Staat nicht verlangte Massnahmen zu treffen (
BGE 115 Ib 375
E. 7). Die Überprüfung des vorliegenden Ersuchens ergibt in dieser Hinsicht, dass - soweit hier wesentlich - nur die Beschlagnahmung von Unterlagen verlangt wird, welche die Beschwerdeführer A.-E. und H. betreffen. Wie bereits dargelegt worden ist, ergibt sich aber aus den Akten, dass auch mit Bezug auf die beiden Firmen F. und G. Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchgeführt worden sind, obwohl diese beiden Firmen weder im Ersuchen noch in der diesem beigegebenen Firmenzusammenstellung in Erscheinung treten. Nach dem Ausgeführten sind zwar auch diese Massnahmen - vorbehältlich der erörterten Einschränkungen (oben E. 3b)
BGE 116 Ib 96 S. 106
- als vorläufige Massnahmen als zulässig zu erachten. Ohne fristgerechten Eingang der genannten, mit Bezug auf die beiden Firmen zu verlangenden Ergänzung des Ersuchens würden die diese Firmen betreffenden vorläufigen Massnahmen indes ohne weiteres hinfällig werden. Würden die die Firmen F. und G. betreffenden Beschlagnahmungen ohne diese Ergänzung des Ersuchens aufrechterhalten und die noch beschlagnahmten Unterlagen den ersuchenden Behörden ebenfalls ohne diese Ergänzung rechtshilfeweise herausgegeben, so würde dadurch das Übermassverbot verletzt. | de |
31035bc8-c5c3-41fa-8b63-586184bcac50 | Sachverhalt
ab Seite 454
BGE 119 Ia 453 S. 454
Die Bezirksanwaltschaft I für den Kanton Zürich führt eine Strafuntersuchung gegen X. und Y., u.a. wegen Mordversuchen und schwersten Sexualverbrechen an Kindern. Bei einer Hausdurchsuchung am 21. Januar 1993 in den Räumlichkeiten der Fa. X. AG und am Wohnort des Angeschuldigten X. wurde neben weiterem Mobiliar diverser Schmuck und eine Uhrensammlung sichergestellt. Am 11. März 1993 machte Z. eine Scheidungsklage gegen ihren Ehemann X. anhängig. Am 8./9. April 1993 wurde unter den Eheleuten eine Trennungskonvention abgeschlossen und eine güterrechtliche Regelung getroffen. Danach wurden verschiedene Vermögenswerte aus dem Eigentum von X. an Z. übertragen.
Mit Urteil des Bezirksgerichtes Bülach vom 28. April 1993 wurden die Eheleute X. und Z. auf die Dauer von 18 Monaten getrennt. Gleichzeitig wurde die Vereinbarung der Parteien über die Nebenfolgen der Trennung genehmigt. Am 12. Mai 1993 erliess die Zürcher Bezirksanwaltschaft eine Beschlagnahmeverfügung betreffend eine Wohnung von X. Einen Tag später, am 13. Mai 1993, erwuchs das Urteil des Bezirksgerichtes Bülach in Rechtskraft.
Mit Schreiben vom 14. Mai 1993 an die Bezirksanwaltschaft beantragte Z. die Herausgabe der beschlagnahmten Vermögenswerte, soweit ihr diese gemäss Trennungsurteil zugesprochen worden waren. Am 20. Mai 1993 beschwerte sich Z. über eine von der Bezirksanwaltschaft unterdessen veranlasste Grundbuchsperre betreffend die genannte Wohnung. Sie verlangte die Zustellung einer Beschlagnahmeverfügung bzw. die Bekanntgabe der Gründe für die getroffenen Massnahmen. Am 25. Mai 1993 forderte Z. die Bezirksanwaltschaft auf, ihr sämtliche sie betreffenden Beschlagnahmeverfügungen zuzustellen.
Mit Eingabe vom 17. Juni 1993 erhob Z. Rekurs bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen "diverse, der Rekurrentin nicht eröffnete (...) Beschlagnahmeverfügungen". Sie stellte im wesentlichen die Anträge, es seien ihr die Beschlagnahmeverfügungen in der Strafuntersuchung gegen X. formell und begründet zu eröffnen und es seien ihr die mit Trennungsurteil des Bezirksgerichtes Bülach rechtskräftig zugesprochenen Vermögenswerte herauszugeben. Eventualiter sei die Beschlagnahme von ihr zustehenden Vermögenswerten nur in dem Umfange aufrechtzuerhalten, als dies zur Deckung der bis 11. März 1993 (Rechtshängigkeit der Scheidungsklage) aufgelaufenen Kosten der Strafuntersuchung notwendig ist.
BGE 119 Ia 453 S. 455
Mit Entscheid vom 21. Juli 1993 wies die Staatsanwaltschaft den Rekurs ab, soweit sie darauf eintrat. Dagegen führt Z. staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht. Sie rügt eine Verletzung von
Art. 4 BV
(rechtliches Gehör) sowie Art. 2 ÜbBest.BV (derogatorische Kraft des Bundesrechts). Das Bundesgericht erklärt die letztere Rüge für unbegründet, heisst die Beschwerde jedoch wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die Staatsanwaltschaft ging im angefochtenen Entscheid davon aus, dass die Beschwerdeführerin dazu legitimiert sei, die Aufhebung der Beschlagnahme über die ihr gerichtlich zugesprochenen Vermögenswerte zu verlangen. Soweit ihr die Bezirksanwaltschaft konkludent die Herausgabe verweigert habe, sei auf ihren Rekurs einzutreten. In der Folge lehnte die Staatsanwaltschaft den Rekurs ab.
aa) Zur Begründung wird ausgeführt, die Beschwerdeführerin könne ihr Herausgabegesuch "nur auf Gründe stützen, welche nicht schon seinerzeit durch den Angeschuldigten bei Anordnung der Beschlagnahmen hätten vorgebracht werden können". Ausserdem würden die beschlagnahmten Vermögenswerte "nach Wortlaut wie auch Sinn und Zweck des Gesetzes Haftungssubstrat für sämtliche im Verfahren anfallenden Kosten" bilden. Deshalb könne das von der Beschwerdeführerin beanspruchte Vermögen auch nicht in dem Umfang freigegeben werden, als die zum Zeitpunkt des Eigentümerwechsels angefallenen Verfahrenskosten durch Beschlagnahme gedeckt wären. Dem Angeschuldigten dürfe nicht ermöglicht werden, "durch Veräusserung beschlagnahmter Werte die Beschlagnahme zu unterlaufen". Das beschlagnahmte Vermögen hafte für die "seinerzeitigen, Gegenstand der Strafuntersuchung bildenden Handlungen des Angeschuldigten", somit für "vor dem 11. März 1993 liegende Umstände". Im übrigen hätte "der Einwand des Übermasses der Beschlagnahme seinerzeit vom Angeschuldigten vorgebracht werden müssen", die Beschwerdeführerin sei damit ausgeschlossen. Weder habe sie einen "Anspruch auf Abrechnung der aufgelaufenen Untersuchungskosten", noch sprächen ihre Vorbringen gegen eine Aufrechterhaltung der Beschlagnahme als Beweis- oder Einziehungsbeschlagnahme.
BGE 119 Ia 453 S. 456
bb) Im Ergebnis weigern sich die kantonalen Behörden, der Beschwerdeführerin den ihr vom Trennungsrichter rechtskräftig zugesprochenen ehegüterrechtlichen Vermögensanteil herauszugeben, und es wird die Haftung ihres güterrechtlichen Anteils für sämtliche (auch nach der Ehetrennung angefallenen und noch anfallenden) Verfahrenskosten beansprucht.
cc) Die Beschwerdeführerin rügt, der auf kantonales Recht gestützte angefochtene Entscheid verstosse gegen den Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes (Art. 2 ÜbBest.BV). Entgegen der in dieser Hinsicht abschliessenden Regelung des Bundeszivilrechtes werde ihr eine Haftung ihres Vermögens für neue Schulden des Ehemannes trotz rechtskräftiger gerichtlicher Trennung auferlegt. Ausserdem würden ihre durch rechtskräftiges Gerichtsurteil zugesprochenen Vermögensansprüche aus Ehegüterrecht verletzt. Die Verweigerung der Herausgabe der ihr zustehenden Vermögenswerte bzw. deren Verwendung zur Deckung von Strafverfahrenskosten treffe sie um so härter, als sie und ihre drei minderjährigen Kinder dadurch der Sozialfürsorge anheimgefallen seien. Ausserdem sei ihr von den kantonalen Behörden das rechtliche Gehör verweigert worden, indem ihr weder die sie persönlich tangierenden Beschlagnahmeverfügungen noch die Rekursvernehmlassung der Bezirksanwaltschaft eröffnet worden seien. Dieses Vorgehen verletze
Art. 4 BV
.
b) Der in Art. 2 ÜbBest.BV enthaltene Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts bedeutet, dass die Kantone in Sachgebieten, welche die Bundesgesetzgebung abschliessend geregelt hat, nicht zur Rechtsetzung befugt sind. In Sachgebieten, die das Bundesrecht nicht abschliessend ordnet, sind die Kantone nur zuständig, öffentlichrechtliche Vorschriften zu erlassen, die nicht gegen den Sinn und Geist des Bundesrechts verstossen und dessen Zwecke nicht beeinträchtigen oder gar vereiteln. Der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes regelt zwar das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen; er hat aber auch unmittelbare Auswirkungen auf die Rechtsstellung des einzelnen und ist insofern als verfassungsmässiges Individualrecht anerkannt. Wird mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung des Grundsatzes gerügt, prüft das Bundesgericht frei, ob die beanstandete Norm bzw. deren Anwendung durch die kantonalen Behörden mit dem Bundesrecht vereinbar ist (
BGE 117 Ia 27
E. 7c S. 34, 472 E. 2a S. 473 f.;
BGE 116 Ia 264
E. 4a S. 272;
BGE 114 Ia 164
E. 3a S. 166;
113 Ia 126
E. 9 S. 141 f.;
BGE 112 Ia 398
E. 4a S. 401, je mit Hinweisen; vgl. ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER,
BGE 119 Ia 453 S. 457
Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 3. Aufl., Zürich 1993, N. 365 ff., 395).
3.
c) Im vorliegenden Fall bezieht sich die streitige Beschlagnahme auf Vermögenswerte, die unter den ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung gefallen sind. Dieser Güterstand umfasst die Errungenschaft und das Eigengut jedes Ehegatten (
Art. 196 ZGB
). Jeder Ehegatte haftet während der Ehe für seine Schulden gegenüber Dritten mit seinem eigenen Vermögen (
Art. 202 ZGB
). Mit der Trennung der Ehe tritt von Gesetzes wegen die Gütertrennung ein (
Art. 155 ZGB
). Tritt Gütertrennung ein, so gelten für die güterrechtliche Auseinandersetzung die Bestimmungen des bisherigen Güterstandes, sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt (
Art. 192 ZGB
). Jeder Ehegatte nimmt seine Vermögenswerte zurück, die sich im Besitz des andern Ehegatten befinden, und die Ehegatten regeln ihre gegenseitigen Schulden (
Art. 205 ZGB
). Jedem Ehegatten steht ausserdem bei der Errungenschaftsbeteiligung die Hälfte des Vorschlages des andern zu (
Art. 215 ZGB
). Durch Begründung oder Änderung des Güterstandes oder durch güterrechtliche Auseinandersetzungen kann jedoch ein Vermögen, aus dem bis anhin die Gläubiger eines Ehegatten oder der Gemeinschaft Befriedigung verlangen konnten, dieser Haftung nicht entzogen werden. Ist ein solches Vermögen auf einen Ehegatten übergegangen, so hat er die Schulden zu bezahlen, kann sich aber von dieser Haftung so weit befreien, als er nachweist, dass das empfangene Vermögen hiezu nicht ausreicht (
Art. 193 ZGB
). Letztere Bestimmung will verhindern, dass die Ehegatten durch güterrechtliche Vermögensverschiebungen ihren Gläubigern Haftungssubstrat entziehen (vgl. HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar zu
Art. 193 ZGB
, N 5).
d) Nach der güterrechtlichen Auseinandersetzung, welche im vorliegenden Fall auf dem Konventionswege vorgenommen und am 13. Mai 1993 durch den Trennungsrichter rechtskräftig genehmigt worden ist, stehen der Ehefrau auf die ihr in der Trennungskonvention zugewiesenen Vermögenswerte grundsätzlich Alleineigentumsansprüche zu. An den zivilrechtlichen Eigentumsverhältnissen ändert die strafprozessuale Beschlagnahme nichts (vgl. HANSJÖRG RASCH, Die Beschlagnahme von Beweismitteln im Gewahrsam Dritter im schweizerischen Strafprozess, Diss. ZH 1975, S. 48). Die Beschwerdeführerin haftet ab 13. Mai 1993 gegenüber Dritten für ihre eigenen Schulden mit ihrem gesamten Privatvermögen nach den Regeln der Gütertrennung (
Art. 249 ZGB
). Allerdings unterliegen diejenigen Forderungen, die zum Zeitpunkt der güterrechtlichen
BGE 119 Ia 453 S. 458
Auseinandersetzung bzw. der Änderung des Güterstandes schon bestanden haben, dem Gläubigerschutz von
Art. 193 ZGB
(vgl. HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 25).
Das Bundeszivilrecht regelt die Nebenfolgen der Ehetrennung und die Haftung der güterrechtlich ausgeschiedenen Vermögensteile gegenüber Dritten grundsätzlich in abschliessender Weise.
4.
d)
§ 83 StPO
/ZH sieht vor, dass das Vermögen des Angeschuldigten für sämtliche (auch erst künftig anfallenden) voraussichtlichen Prozesskosten mit Beschlag belegt werden kann. Gemäss angefochtenem Entscheid "bilden die beschlagnahmten Werte nach Wortlaut wie auch Sinn und Zweck des Gesetzes Haftungssubstrat für sämtliche im Verfahren anfallenden Kosten". Es stellt sich die Frage, ob diese Auffassung im hier zu entscheidenden Fall, in dem die Beschwerdeführerin unterdessen Alleineigentumsansprüche aus Güterrecht auf gewisse beschlagnahmte Vermögenswerte geltend machen kann, mit dem Bundeszivilrecht vereinbar ist.
aa) Der Gläubigerschutz von
Art. 193 ZGB
gilt zwar nur für Schuldverhältnisse, die im Zeitpunkt der güterrechtlichen Auseinandersetzung bereits bestanden haben. Im vorliegenden Fall wurde jedoch der Rechtsgrund für eine allfällige Ersatzforderung des Staates für die Kosten des Strafverfahrens (nämlich die mutmasslichen Straftaten von X.) bereits vor der Übertragung des Vermögens auf die Beschwerdeführerin gesetzt.
Art. 44 SchKG
behält sodann für die Verwertung von Gegenständen, welche auf Grund strafrechtlicher oder fiskalischer Gesetze mit Beschlag belegt wurden, ausdrücklich die zutreffenden eidgenössischen oder kantonalen Gesetzesbestimmungen vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ergibt sich daraus im Fall von strafprozessual beschlagnahmtem Vermögen eine Privilegierung des Staates für die Deckung sämtlicher Strafverfahrenskosten (
BGE 115 III 1
;
BGE 105 III 1
BGE 78 I 215
;
BGE 76 I 28
). Dieses Privileg hat nach der zitierten Praxis Vorrang vor allen privatrechtlichen Forderungen (
BGE 78 I 215
E. 2 S. 221). Im übrigen handelt es sich bei der Deckungsbeschlagnahme nach Zürcher Strafprozessrecht lediglich um eine provisorische Sicherungsmassnahme. Über die Verwendung von beschlagnahmten Gegenständen wird nötigenfalls bei Abschluss des Verfahrens gemäss
§
§ 106 ff. StPO
/ZH zu entscheiden sein (
§ 98 Abs. 2 StPO
/ZH). Allerdings muss dem von einer Deckungsbeschlagnahme direkt Betroffenen schon während der Strafuntersuchung die Möglichkeit offenstehen, einen allfälligen Beschlagnahmeexzess anzufechten. Gemäss
§ 83 StPO
/ZH darf vom Vermögen des Angeschuldigten nur so viel
BGE 119 Ia 453 S. 459
mit Beschlag belegt werden, als zur Deckung der Prozesskosten, einer allfälligen Busse, des verursachten Schadens und der Strafvollzugskosten voraussichtlich erforderlich ist. Es muss dem direkt Betroffenen daher möglich sein, die Verhältnismässigkeit der Deckungsbeschlagnahme zu überprüfen.
bb) Nach dem Gesagten ist es mit dem Bundesrecht vereinbar, wenn die kantonalen Behörden das auf Grund von Ehegüterrecht unterdessen rechtskräftig an die Beschwerdeführerin zugewiesene Vermögen weiterhin als Haftungssubstrat für bereits aufgelaufene und künftig noch anfallende Kosten des Strafverfahrens beanspruchen. Ein entsprechender Deckungsanspruch zugunsten des Kantons Zürich im Sinne von
Art. 193 ZGB
ist jedenfalls mit den mutmasslichen Straftaten und der faktischen Einleitung des Strafverfahrens entstanden. Letztere ist Voraussetzung dafür, dass dem Staat überhaupt Kosten und damit eine allfällige Ersatzforderung gegenüber dem Angeschuldigten für Verfahrenskosten anfallen können.
Die Rüge der Verletzung von Art. 2 ÜbBest.BV erweist sich demnach als unbegründet. (Im folgenden wird die staatsrechtliche Beschwerde jedoch wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gutgeheissen.) | de |
b4bd3227-a85e-4d78-a401-dcc9181ad5a1 | Sachverhalt
ab Seite 689
BGE 138 III 689 S. 689
A.
X. (Ehemann, geb. 1955) und Y. (Ehefrau, geb. 1960) heirateten am 26. August 1983. Aus der Ehe ging die gemeinsame Tochter A. (geb. 1991) hervor. Im September 1999 bzw. August 2001 bewilligte das Bezirksgericht Muri den Ehegatten auf Antrag von Y. das Getrenntleben und traf die entsprechenden Regelungen. Am 3. Dezember 2007 machte die Ehefrau die Klage auf Scheidung beim Kantonsgericht Zug anhängig. Mit Urteil vom 26. Januar 2011 des Kantonsgerichts Zug wurde die Ehe geschieden und wurden die Nebenfolgen geregelt. Dabei wurde u.a. Y. verpflichtet, X. in Abgeltung seiner güterrechtlichen Ansprüche den Betrag von Fr. 32'266.40 zu bezahlen.
Zur Ermittlung der güterrechtlichen Ansprüche rechnete das Kantonsgericht der Errungenschaft von X. den Betrag von Fr. 116'000.-
BGE 138 III 689 S. 690
hinzu, den er an B. geleistet hatte. B. ist die Mutter von C. (geb. 2000), den X. am 5. April 2005 als sein Kind anerkannte.
B.
Gegen das Urteil gelangte X. mit Berufung an das Obergericht des Kantons Zug und verlangte u.a., dass Y. ihm aus Güterrecht Fr. 92'292.40 zu bezahlen habe. Zur Begründung führte er an, dass bei seiner Errungenschaft zu Unrecht der Betrag von Fr. 116'000.- als "unentgeltliche Zuwendung" (im Sinne von
Art. 208 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
) hinzugerechnet worden sei. Das Obergericht hiess die Berufung mit Urteil vom 28. Februar 2012 teilweise gut und verpflichtete Y., X. in Abgeltung güterrechtlicher Ansprüche den Betrag von Fr. 34'292.40 zu bezahlen. Im Übrigen wurde das erstinstanzliche Urteil (mit der erwähnten Hinzurechnung) bestätigt.
C.
Mit Eingabe vom 22. März 2012 hat X. Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Der Beschwerdeführer verlangt die Aufhebung des Urteils des Obergerichts des Kantons Zug vom 28. Februar 2012 und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur neuen Entscheidung.
Y. (Beschwerdegegnerin) beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht schliesst ohne weitere Gegenbemerkungen auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt die güterrechtliche Auseinandersetzung zwischen den Parteien, welche dem ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung unterstanden. Es steht fest, dass der Beschwerdeführer (neben dem Kindesunterhalt) von Juli 2005 bis November 2007 monatliche Zahlungen von Fr. 4'000.- an B., die Mutter des von ihm anerkannten Kindes, geleistet hat. Einziger Streitpunkt ist die Hinzurechnung von insgesamt Fr. 116'000.- zur Errungenschaft des Beschwerdeführers, welche das Obergericht im Umfang der Geldzahlungen an die Mutter seines nichtehelichen Kindes vorgenommen hat.
3.1
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Geldzahlungen seien entgegen der Auffassung des Obergerichts keine "unentgeltlichen Zuwendungen" im Sinne von
Art. 208 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
, weshalb die Hinzurechnung zu seiner Errungenschaft eine Rechtsverletzung darstelle. Sein überschüssiges Einkommen könne er rechtmässig verbrauchen, was er im Interesse seines nichtehelichen Kindes
BGE 138 III 689 S. 691
getan habe, indem er diesem durch die Geldzahlungen an die Mutter eine gute mütterliche Fürsorge und Betreuung sichergestellt habe.Die Zahlungen an die Mutter des Kindes habe er gestützt auf eineverantwortungsvolle, soziale Entscheidung als sittliche Pflicht erfüllt.
3.2
Gemäss
Art. 208 Abs. 1 ZGB
werden zur Errungenschaft hinzugerechnet: die unentgeltlichen Zuwendungen, die ein Ehegatte während der letzten fünf Jahre vor Auflösung des Güterstandes ohne Zustimmung des anderen Ehegatten gemacht hat, ausgenommen die üblichen Gelegenheitsgeschenke (Ziff. 1), sowie Vermögensentäusserungen, die ein Ehegatte während der Dauer des Güterstandes vorgenommen hat, um den Beteiligungsanspruch des andern zu schmälern (Ziff. 2). Zweck der Bestimmung ist, die Anwartschaft des Ehegatten auf Beteiligung am Vorschlag des anderen zu schützen (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar, 1992, N. 5 zu
Art. 208 ZGB
). Der Beschwerdeführer hält demgegenüber im Wesentlichen fest, dass er nicht verpflichtet gewesen sei, Errungenschaft zu bilden, zumal er seine Pflicht, Unterhalt an die Ehefrau und das gemeinsame Kind zu leisten, nicht verletzt habe und daher in guten Treuen auf das Einverständnis der Beschwerdegegnerin zu den Geldzahlungen habe schliessen dürfen. Damit und mit seinem Vorbringen, die Geltendmachung des Hinzurechnungsanspruchs komme einer "doppelten Alimentierung" der Beschwerdegegnerin gleich und sei rechtsmissbräuchlich, geht er fehl. Der Beschwerdeführer verkennt, dass die grundsätzliche Dispositionsfreiheit der Ehegatten gemäss
Art. 201 Abs. 1 ZGB
nur innerhalb der gesetzlichen Schranken gilt (
BGE 118 II 27
E. 4b S. 30 f.) und das Gesetz gewisse illoyale Vermögensverminderungen sanktioniert (HUWILER, Beiträge zur Dogmatik des neuen ordentlichen Güterstandes der Errungenschaftsbeteiligung, in: Das neue Ehe- und Erbrecht [...], 1988, S. 98). Das Obergericht hat verneint, dass eine Vermögensentäusserung mit Schmälerungsabsicht im Sinne von Ziff. 2 von
Art. 208 Abs. 1 ZGB
vorliege. In Frage kommt daher nur eine Hinzurechnung gemäss Ziff. 1.
3.3
Unter einer unentgeltlichen Zuwendung (libéralité, liberalità) im Sinne von
Art. 208 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
sind alle Arten von Vermögensentäusserungen ohne Gegenleistung zu verstehen, welche die Errungenschaft vermindert oder deren Zunahme verhindert haben (STEINAUER, in: Commentaire romand, Code civil, Bd. I, 2010, N. 11 zu
Art. 208 ZGB
; vgl. Botschaft vom 11. Juli 1979 über die Änderung des ZGB [Wirkungen der Ehe im allgemeinen, Ehegüterrecht und
BGE 138 III 689 S. 692
Erbrecht], BBl 1979 II 1191, 1317 Ziff. 222.532; Urteil 5C.111/2002 vom 26. August 2002 E. 2.1.3, in: FamPra.ch 2003 S. 388). Das Obergericht hat die Geldzahlungen des Beschwerdeführers als unentgeltliche Zuwendung erfasst und die Erfüllung einer sittlichen Pflicht verneint.
3.3.1
Laut der Botschaft (a.a.O.) fallen unter die unentgeltlichen Zuwendungen auch "Leistungen aufgrund einer moralischen Verpflichtung". Nach der Lehre soll der Begriff "unentgeltliche Zuwendungen" möglichst gleich wie in
Art. 527 Ziff. 1 ZGB
ausgelegt werden (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 20 zu
Art. 208 ZGB
; DESCHENAUX/STEINAUER/BADDELEY, Les effets du mariage, 2. Aufl. 2009, Rz. 1319 S. 604). Die Erfüllung einer sittlichen Pflicht unterliegt nach der Rechtsprechung der Herabsetzung gestützt auf
Art. 527 ff. ZGB
(
BGE 116 II 243
E. 4a und b S. 245;
BGE 102 II 313
E. 4c S. 325 f.), weshalb die analoge Anwendung auf
Art. 208 ZGB
befürwortet wird (DESCHENAUX/STEINAUER/BADDELEY, a.a.O., Rz. 1320 und Fn. 38 S. 604). Nach einem Teil der Lehre vermag eine bloss systematische Überlegung nicht zu begründen, warum das Recht eines Ehegatten beschränkt werden soll, eine sittliche Verpflichtung zu erfüllen. Eine Handlung soll demnach von der Herabsetzung ausgenommen werden, wenn ihr Unterlassen als unsittlich angesehen werden müsste, nicht jedoch, wenn die Vornahme moralisch bloss vertretbar erscheine (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 22 a.E. zu
Art. 208 ZGB
). Inwieweit allgemein die Erfüllung einer sittlichen Pflicht von
Art. 208 ZGB
erfasst ist, kann mit Blick auf die konkret in Frage stehenden Zahlungen des Beschwerdeführers - wie sich aus dem Folgenden ergibt - offengelassen werden.
3.3.2
Das Gesetz gewährt der Mutter eines nichtehelichen Kindes lediglich einen Anspruch für die "Kosten des Unterhalts" für eine beschränkte Zeit vor und nach der Geburt (
Art. 295 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
), welcher als eine Art Entschädigung verstanden wird (BREITSCHMID, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 1 zu
Art. 295 ZGB
; MEIER/STETTLER, Droit de filiation, 4. Aufl. 2009, Rz. 1111 S. 640 f. mit Hinweisen). Der Anspruch gemäss
Art. 295 ZGB
bedeutet jedoch keinen Anspruch auf Unterhalt für die Betreuung, welcher
de lege lata
nicht besteht (im Gegensatz zum deutschen Recht, vgl. § 1651
l
Abs. 2 BGB; vgl. RUMO-JUNGO, Betreuungsunterhalt bei getrennt lebenden nicht verheirateten Eltern - ein Denkanstoss, recht 26/2008 S. 31 ff.). Der Bundesrat hat auch kürzlich keinen hinreichenden Grund gesehen, um einen
BGE 138 III 689 S. 693
status
un
abhängigen Betreuungsunterhalt vorzuschlagen (Botschaft vom 16. November 2011 zur Änderung des ZGB [Elterliche Sorge], BBl 20119077, 9096 Ziff. 1.5.5.2). Der Anspruch auf Betreuungsunterhalt kann sich jedoch auf einen Vertrag mit dem Vater stützen (MEIER/STETTLER, a.a.O.). Vereinbarungen ausserhalb der gesetzlichen Unterhaltspflicht erscheinen grundsätzlich als Schenkungsversprechen (
Art. 239 OR
) oder als Versprechen der Erfüllung einer sittlichen Pflicht (vgl. HAUSHEER/SPYCHER, in: Handbuch des Unterhaltsrechts, 2. Aufl. 2010, Rz. 06.201 S. 473; HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, 5. Aufl. 1999, Rz. 21.24 S. 162).
3.3.3
Der Beschwerdeführer und B. haben offenbar am 27. Juni 2005 eine schriftliche Vereinbarung betreffend Unterhalt getroffen. Darin kann jedoch nicht das Versprechen der Erfüllung einer sittlichen Pflicht erblickt werden. Zu Recht hat das Obergericht erwogen, dass dem Beschwerdeführer kein unsittliches Verhalten vorzuwerfen gewesen wäre, wenn er keine Zahlungen an B. für die Betreuung des über 5-jährigen Kindes geleistet hätte, während er gleichzeitig mit der Beschwerdegegnerin im ordentlichen Güterstand lebte. Dass der Beschwerdeführer aufgrund der tatsächlichen konkreten Erziehungslasten (vgl.
BGE 137 III 102
E. 4.2.2.2 S. 109, betreffend Nachscheidungssituation) oder aufgrund eines Konkubinatsverhältnisses (vgl. Urteil der Cour de Cassation Civile/NE vom 25. April 1979 E. 3, in: Recueil de jurisprudence neuchâteloise [RJN] 1979 S. 269) sittlich verpflichtet gewesen wäre, B. zu unterstützen, lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen bzw. hat die Vorinstanz verneint, was nicht in Frage gestellt wird. Insoweit ist nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht zum Schluss gelangt ist, dass die Geldzahlungen des Beschwerdeführers an die Mutter seines nichtehelichen Kindes als "Zuwendung" gemäss
Art. 208 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
gelten.
3.4
Was der Beschwerdeführer weiter vorbringt, vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Entgegen seiner Darstellung konnte er nicht ein Einverständnis der Beschwerdegegnerin zu den erwähnten Geldzahlungen annehmen. Aus dem angefochtenen Urteil gehen in tatsächlicher Hinsicht keine Anhaltspunkte hervor, welche auf das Vorliegen einer sich aus den Umständen ergebenden Zustimmung der Beschwerdegegnerin schliessen lassen (vgl. HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 33 zu
Art. 208 ZGB
). Die Geldzahlungen des Beschwerdeführers fallen sodann unbestrittenermassen nicht unter "übliche Gelegenheitsgeschenke", und sie wurden innerhalb der letzten
BGE 138 III 689 S. 694
fünf Jahre vor dem 3. Dezember 2007 (Einreichung des Scheidungsbegehrens), d.h. dem für die Auflösung des Güterstandes massgebenden Zeitpunkt (
Art. 204 Abs. 2 ZGB
), vorgenommen. Wenn das Obergericht die Geldzahlungen im Umfang von Fr. 116'000.- an B. gestützt auf
Art. 208 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
zur Errungenschaft des Beschwerdeführers hinzugerechnet hat, stellt dies keine Verletzung von Bundesrecht dar. Somit bleibt es bei der im angefochtenen Urteil angeordneten güterrechtlichen Nebenfolge. | de |
5aaf14e4-4133-401c-ac61-0266b4a4fdb1 | 810.30 1 / 26 Bundesgesetz über die Forschung am Menschen (Humanforschungsgesetz, HFG) vom 30. September 2011 (Stand am 1. Dezember 2022) Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf Artikel 118b Absatz 1 der Bundesverfassung1, nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 21. Oktober 20092, beschliesst: 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen 1. Abschnitt: Zweck, Geltungsbereich und Begriffe Art. 1 Zweck 1 Dieses Gesetz soll Würde, Persönlichkeit und Gesundheit des Menschen in der For- schung schützen. 2 Es soll zudem: a. günstige Rahmenbedingungen für die Forschung am Menschen schaffen; b. dazu beitragen, die Qualität der Forschung am Menschen sicherzustellen; c. die Transparenz der Forschung am Menschen gewährleisten. Art. 2 Geltungsbereich 1 Dieses Gesetz gilt für die Forschung zu Krankheiten des Menschen sowie zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers, die durchgeführt wird: a. mit Personen; b. an verstorbenen Personen; c. an Embryonen und Föten; d. mit biologischem Material; e. mit gesundheitsbezogenen Personendaten. 2 Es ist nicht anwendbar auf Forschung: a. an Embryonen in vitro nach dem Stammzellenforschungsgesetz vom 19. De- zember 20033; AS 2013 3215 1 SR 101 2 BBl 2009 8045 3 SR 810.31 810.30 Medizin und Menschenwürde 2 / 26 810.30 b. mit anonymisiertem biologischem Material; c. mit anonym erhobenen und anonymisierten gesundheitsbezogenen Daten. Art. 2a4 Anwendbarkeit des Bundesgesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen Der Bundesrat kann nach Anhörung der Eidgenössischen Kommission für genetische Untersuchungen beim Menschen nach Artikel 54 des Bundesgesetzes vom 15. Juni 20185 über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) die Bestimmungen des GUMG betreffend die folgenden Bereiche für die Forschung am Menschen für anwendbar erklären: a. genetische Beratung; b. Vermeidung von Überschussinformationen und Umgang mit diesen; c. genetische Untersuchungen bei urteilsunfähigen Personen; d. pränatale Untersuchungen; e. Durchführung von genetischen Untersuchungen und Umgang mit genetischen Daten bei Arbeits- und Versicherungsverhältnissen sowie in Haftpflichtfällen. Art. 3 Begriffe Im Sinne dieses Gesetzes gelten als: a. Forschung: methodengeleitete Suche nach verallgemeinerbaren Erkenntnis- sen; b. Forschung zu Krankheiten: Forschung über Ursachen, Prävention, Diagnose, Therapie und Epidemiologie von physischen und psychischen Beeinträchti- gungen der Gesundheit des Menschen; c. Forschung zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers: Grundlagen- forschung, insbesondere zur Anatomie, Physiologie und Genetik des mensch- lichen Körpers, sowie nicht auf Krankheiten bezogene Forschung zu Eingrif- fen und Einwirkungen auf den menschlichen Körper; d. Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen: ein Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse eine Verbesserung der Gesundheit der teilnehmenden Per- sonen erwarten lassen; e. biologisches Material: Körpersubstanzen, die von lebenden Personen stam- men; f. gesundheitsbezogene Personendaten: Informationen über eine bestimmte o- der bestimmbare Person, die sich auf deren Gesundheit oder Krankheit bezie- hen, einschliesslich ihrer genetischen Daten; 4 Eingefügt durch Anhang Ziff. II 3 des BG vom 15. Juni 2018 über genetische Untersu- chungen beim Menschen, in Kraft seit 1. Dez. 2022 (AS 2022 537; BBl 2017 5597). 5 SR 810.12 Humanforschungsgesetz 3 / 26 810.30 g.6 genetische Daten: durch eine genetische Untersuchung gewonnene Informa- tionen über ererbte oder während der Embryonalphase erworbene Eigenschaf- ten; h. verschlüsseltes biologisches Material und verschlüsselte gesundheitsbezo- gene Personendaten: biologisches Material und Daten, die mit einer bestimm- ten Person über einen Schlüssel verknüpft sind; i. anonymisiertes biologisches Material und anonymisierte gesundheitsbezo- gene Daten: biologisches Material und gesundheitsbezogene Daten, die nicht oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand auf eine bestimmte Person zu- rückgeführt werden können; j. Kind: minderjährige Person bis zur Vollendung des 14. Altersjahres; k. Jugendliche oder Jugendlicher: minderjährige Person ab der Vollendung des 14. Altersjahres; l.7 … 2. Abschnitt: Grundsätze Art. 4 Vorrang der Interessen des Menschen Interesse, Gesundheit und Wohlergehen des einzelnen Menschen haben Vorrang ge- genüber den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft. Art. 5 Wissenschaftlich relevante Fragestellung Forschung am Menschen darf nur durchgeführt werden, wenn eine wissenschaftlich relevante Fragestellung gegeben ist: a. zum Verständnis von Krankheiten des Menschen; b. zum Aufbau und zur Funktion des menschlichen Körpers; oder c. zur öffentlichen Gesundheit. Art. 6 Nichtdiskriminierung 1 Niemand darf im Rahmen der Forschung diskriminiert werden. 2 Ohne triftige Gründe darf insbesondere bei der Auswahl der Personen für die For- schung keine Personengruppe übermässig in die Forschung einbezogen oder von der Forschung ausgeschlossen werden. 6 Fassung gemäss Anhang Ziff. II 3 des BG vom 15. Juni 2018 über genetische Untersu- chungen beim Menschen, in Kraft seit 1. Dez. 2022 (AS 2022 537; BBl 2017 5597). 7 Aufgehoben durch Anhang des BG vom 22. März 2019, mit Wirkung seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). Medizin und Menschenwürde 4 / 26 810.30 Art. 7 Einwilligung 1 Forschung am Menschen darf nur durchgeführt werden, wenn gemäss den Bestim- mungen dieses Gesetzes die betroffene Person nach hinreichender Aufklärung einge- willigt oder nach entsprechender Information von ihrem Widerspruchsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. 2 Die betroffene Person kann ihre Einwilligung jederzeit ohne Begründung verwei- gern oder widerrufen. Art. 8 Recht auf Information 1 Die betroffene Person hat das Recht, über die ihre Gesundheit betreffenden Ergeb- nisse informiert zu werden. Die Weitergabe der Information hat in angemessener Form zu erfolgen. Die betroffene Person kann auf diese Information verzichten. 2 Sie hat das Recht auf Auskunft über alle Personendaten, die über sie vorhanden sind. Art. 98 Kommerzialisierungsverbot 1 Es ist verboten, für den menschlichen Körper oder dessen Teile als solche ein Entgelt oder einen anderen geldwerten Vorteil anzubieten, zu gewähren, zu fordern oder an- zunehmen. 2 Es ist zudem verboten, den menschlichen Körper oder dessen Teile zu verwenden, wenn damit eine unerlaubte Handlung nach Absatz 1 stattgefunden hat. Art. 10 Wissenschaftliche Anforderungen 1 Forschung am Menschen darf nur durchgeführt werden, wenn: a. die anerkannten Regelungen über die wissenschaftliche Integrität eingehalten werden, insbesondere bezüglich des Umgangs mit Interessenkonflikten; b. die Anforderungen an die wissenschaftliche Qualität erfüllt sind; c. die anerkannten internationalen Regeln der Guten Praxis über die Forschung am Menschen eingehalten werden; und d. die verantwortlichen Personen fachlich hinreichend qualifiziert sind. 2 Der Bundesrat regelt, welche nationalen und internationalen Regelungen einzuhal- ten sind. 8 Fassung gemäss Anhang Ziff. 2 des BB vom 19. Juni 2020 über die Genehmigung des Übereinkommens des Europarats gegen den Handel mit menschlichen Organen und über seine Umsetzung, in Kraft seit 1. Febr. 2021 (AS 2020 6567; BBl 2019 5971). Humanforschungsgesetz 5 / 26 810.30 2. Kapitel: Allgemeine Anforderungen an die Forschung mit Personen 1. Abschnitt: Schutz der teilnehmenden Personen Art. 11 Subsidiarität 1 Ein Forschungsprojekt mit Personen darf nur durchgeführt werden, wenn gleichwer- tige Erkenntnisse anders nicht gewonnen werden können. 2 Ein Forschungsprojekt mit besonders verletzbaren Personen darf nur durchgeführt werden, wenn gleichwertige Erkenntnisse anders nicht gewonnen werden können. Art. 12 Risiken und Belastungen 1 Bei jedem Forschungsprojekt müssen die Risiken und Belastungen für die teilneh- menden Personen so gering wie möglich gehalten werden. 2 Die voraussichtlichen Risiken und Belastungen für die teilnehmenden Personen dür- fen nicht in einem Missverhältnis zum erwarteten Nutzen des Forschungsprojekts ste- hen. Art. 13 Placebo In Forschungsprojekten mit einem erwarteten direkten Nutzen ist die Verwendung eines Placebos oder der Verzicht auf eine Therapie nur zulässig, wenn für die be- troffene Person kein zusätzliches Risiko eines ernsten oder irreversiblen Schadens zu erwarten ist und: a. keine dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechende Therapie verfüg- bar ist; oder b. die Verwendung eines Placebos aus zwingenden und wissenschaftlich fun- dierten methodischen Gründen notwendig ist, um die Wirksamkeit oder Si- cherheit einer therapeutischen Methode festzustellen. Art. 14 Unentgeltlichkeit der Teilnahme 1 Niemand darf für die Teilnahme an einem Forschungsprojekt mit erwartetem direk- tem Nutzen ein Entgelt oder einen andern geldwerten Vorteil erhalten. Die Teilnahme an einem Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen kann angemessen ent- golten werden. 2 Für die Teilnahme an einem Forschungsprojekt darf von einer Person weder ein Ent- gelt noch ein anderer geldwerter Vorteil verlangt oder entgegengenommen werden. Art. 15 Sicherheits- und Schutzmassnahmen 1 Wer ein Forschungsprojekt durchführt, muss vor dessen Beginn alle erforderlichen Massnahmen zum Schutz der teilnehmenden Personen treffen. 2 Treten während des Forschungsprojekts Umstände auf, welche die Sicherheit oder die Gesundheit der teilnehmenden Personen beeinträchtigen können oder die zu einem Medizin und Menschenwürde 6 / 26 810.30 Missverhältnis zwischen den Risiken und Belastungen und dem Nutzen führen, so sind unverzüglich alle erforderlichen Massnahmen zu ihrem Schutz zu treffen. 2. Abschnitt: Aufklärung und Einwilligung Art. 16 Einwilligung nach Aufklärung 1 Eine Person darf in ein Forschungsprojekt nur einbezogen werden, wenn sie nach hinreichender Aufklärung eingewilligt hat. Die Einwilligung ist schriftlich zu erteilen; der Bundesrat kann Ausnahmen vorsehen. 2 Die betroffene Person muss in verständlicher Form mündlich und schriftlich aufge- klärt werden über: a. Art, Zweck, Dauer und Verlauf des Forschungsprojekts; b. die voraussehbaren Risiken und Belastungen; c. den erwarteten Nutzen des Forschungsprojekts, insbesondere für sie oder für andere Personen; d. die Massnahmen zum Schutz der erhobenen Personendaten; e. ihre Rechte. 3 Bevor die betroffene Person über die Einwilligung entscheidet, muss ihr eine ange- messene Bedenkfrist eingeräumt werden. 4 Der Bundesrat kann weitere Inhalte der Aufklärung festlegen. Art. 17 Einwilligung in die Weiterverwendung für die Forschung Ist bei der Entnahme von biologischem Material oder bei der Erhebung von gesund- heitsbezogenen Personendaten die Weiterverwendung für die Forschung beabsichtigt, so ist bereits im Zeitpunkt der Entnahme oder Erhebung die Einwilligung der betroffe- nen Person einzuholen beziehungsweise diese Person über ihr Widerspruchsrecht zu informieren. Art. 18 Partielle Aufklärung 1 Ausnahmsweise darf die betroffene Person über einzelne Punkte eines Forschungs- projekts vor dessen Beginn partiell aufgeklärt werden: a. soweit dies aus methodischen Gründen zwingend ist; und b. wenn mit dem Forschungsprojekt nur minimale Risiken und Belastungen ver- bunden sind. 2 Die teilnehmende Person muss nachträglich so bald als möglich hinreichend aufge- klärt werden. Humanforschungsgesetz 7 / 26 810.30 3 Ist sie gemäss Absatz 2 aufgeklärt worden, so kann sie in die Verwendung ihres biologischen Materials oder ihrer Daten einwilligen oder die Einwilligung verwei- gern. Erst wenn diese Einwilligung vorliegt, dürfen das biologische Material bezie- hungsweise die Daten für das Forschungsprojekt verwendet werden. 3. Abschnitt: Haftung und Sicherstellung Art. 19 Haftung 1 Wer die Durchführung eines Forschungsprojekts mit Personen veranlasst, haftet für den Schaden, den sie im Zusammenhang mit dem Projekt erleiden. Der Bundesrat kann Ausnahmen von der Haftpflicht vorsehen. 2 Die Ersatzansprüche verjähren nach Artikel 60 des Obligationenrechts9. Der Bun- desrat kann für einzelne Forschungsbereiche eine längere Frist festlegen.10 3 Im Übrigen gelten die Bestimmungen des Obligationenrechts über die unerlaubten Handlungen; bei der Ausübung einer amtlichen Tätigkeit gilt das Verantwortlichkeits- gesetz vom 14. März 195811 beziehungsweise das kantonale Staatshaftungsrecht. Art. 20 Sicherstellung 1 Die Haftung ist durch Versicherung oder in anderer Form angemessen sicherzustel- len. Der Bund sowie seine öffentlich-rechtlichen Anstalten und Körperschaften sind von der Sicherstellungspflicht ausgenommen. 2 Der Bundesrat kann: a. die Anforderungen an die Versicherung und andere Formen der Sicherstellung festlegen; b. Forschungsbereiche oder Schadenskategorien von der Sicherstellungspflicht ausnehmen. 3 Er kann zum Schutz der geschädigten Person: a. dieser ein unmittelbares Forderungsrecht gegen die Person, welche die Haf- tung sicherstellt, einräumen; b. Kündigungsrechte und Einreden der Person, welche die Haftung sicherstellt, unter Gewährung angemessener Rückgriffsrechte einschränken. 9 SR 220 10 Fassung gemäss Anhang Ziff. 17 des BG vom 15. Juni 2018 (Revision des Verjährungs- rechts), in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2018 5343; BBl 2014 235). 11 SR 170.32 Medizin und Menschenwürde 8 / 26 810.30 3. Kapitel: Zusätzliche Anforderungen an die Forschung mit besonders verletzbaren Personen 1. Abschnitt: Forschung mit Kindern, Jugendlichen und urteilsunfähigen Erwachsenen Art. 21 Einbezug urteilsunfähiger Personen in das Einwilligungsverfahren 1 Urteilsunfähige Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind so weit wie möglich in das Einwilligungsverfahren einzubeziehen. 2 Der Meinung von urteilsunfähigen Kindern und Jugendlichen kommt mit zuneh- mendem Alter und zunehmender Reife ein immer höheres Gewicht zu. Art. 22 Forschungsprojekte mit Kindern 1 Ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen darf mit urteilsfähigen Kin- dern nur durchgeführt werden, wenn: a. das Kind nach hinreichender Aufklärung eingewilligt hat; und b. die gesetzliche Vertretung nach hinreichender Aufklärung schriftlich einge- willigt hat. 2 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsfähigen Kin- dern nur durchgeführt werden, wenn es zusätzlich zu Absatz 1: a. nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist; und b. wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die Personen mit derselben Krank- heit oder Störung oder in demselben Zustand längerfristig einen Nutzen brin- gen können. 3 Ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen darf mit urteilsunfähigen Kindern nur durchgeführt werden, wenn: a. die gesetzliche Vertretung nach hinreichender Aufklärung schriftlich einge- willigt hat; und b. das Kind die Forschungshandlung durch Äusserungen oder entsprechendes Verhalten nicht erkennbar ablehnt. 4 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsunfähigen Kindern nur durchgeführt werden, wenn die Anforderungen der Absätze 2 und 3 er- füllt sind. Art. 23 Forschungsprojekte mit Jugendlichen 1 Ein Forschungsprojekt mit oder ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsfä- higen Jugendlichen nur durchgeführt werden, wenn: a. die oder der Jugendliche nach hinreichender Aufklärung schriftlich eingewil- ligt hat; und Humanforschungsgesetz 9 / 26 810.30 b. die gesetzliche Vertretung nach hinreichender Aufklärung schriftlich einge- willigt hat, sofern das Forschungsprojekt mit mehr als minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist. 2 Ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen darf mit urteilsunfähigen Jugendlichen nur durchgeführt werden, wenn: a. die gesetzliche Vertretung nach hinreichender Aufklärung schriftlich einge- willigt hat; und b. die oder der Jugendliche die Forschungshandlung durch Äusserungen oder entsprechendes Verhalten nicht erkennbar ablehnt. 3 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsunfähigen Jugendlichen nur durchgeführt werden, wenn es zusätzlich zu den Anforderungen nach Absatz 2: a. nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist; und b. wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die Personen mit derselben Krank- heit oder Störung oder in demselben Zustand längerfristig einen Nutzen brin- gen können. Art. 24 Forschungsprojekte mit urteilsunfähigen Erwachsenen 1 Ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen darf mit urteilsunfähigen Erwachsenen nur durchgeführt werden, wenn: a. eine von der betroffenen Person im Zustand der Urteilsfähigkeit erteilte und dokumentierte Einwilligung dies erlaubt; b. die gesetzliche Vertretung, eine bezeichnete Vertrauensperson oder die nächs- ten Angehörigen nach hinreichender Aufklärung schriftlich eingewilligt ha- ben, falls keine dokumentierte Einwilligung vorliegt; und c. die betroffene Person die Forschungshandlung durch Äusserungen oder ent- sprechendes Verhalten nicht erkennbar ablehnt. 2 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsunfähigen Erwachsenen nur durchgeführt werden, wenn es zusätzlich zu den Anforderungen nach Absatz 1: a. nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist; und b. wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die Personen mit derselben Krank- heit oder Störung oder in demselben Zustand längerfristig einen Nutzen brin- gen können. Medizin und Menschenwürde 10 / 26 810.30 2. Abschnitt: Forschung mit schwangeren Frauen sowie an Embryonen und Föten in vivo Art. 25 Unzulässige Forschungsprojekte Forschungsprojekte, die eine Änderung von Eigenschaften des Embryos oder des Fö- tus ohne Bezug zu einer Krankheit zum Ziel haben, sind unzulässig. Art. 26 Forschungsprojekte mit schwangeren Frauen sowie an Embryonen und Föten in vivo 1 Ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen für die schwangere Frau o- der den Embryo beziehungsweise den Fötus darf nur durchgeführt werden, wenn die voraussehbaren Risiken und Belastungen sowohl für die schwangere Frau als auch für den Embryo beziehungsweise den Fötus in keinem Missverhältnis zum erwarteten Nutzen stehen. 2 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen für die schwangere Frau und für den Embryo beziehungsweise den Fötus darf durchgeführt werden, wenn es: a. nur mit minimalen Risiken und Belastungen für den Embryo beziehungsweise den Fötus verbunden ist; und b. wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die schwangeren Frauen oder Emb- ryonen beziehungsweise Föten längerfristig einen Nutzen bringen können. Art. 27 Forschungsprojekte über Methoden des Schwangerschaftsabbruchs 1 Eine schwangere Frau darf für die Teilnahme an einem Forschungsprojekt über Me- thoden des Schwangerschaftsabbruchs erst angefragt werden, nachdem sie sich zum Schwangerschaftsabbruch entschlossen hat. 2 Artikel 26 ist nicht anwendbar. 3. Abschnitt: Forschung mit Personen im Freiheitsentzug Art. 28 Forschungsprojekte mit Personen im Freiheitsentzug 1 Für ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen mit Personen im Frei- heitsentzug gelten die allgemeinen Anforderungen an die Forschung mit Personen; Artikel 11 Absatz 2 ist nicht anwendbar. 2 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen mit Personen im Freiheits- entzug darf nur durchgeführt werden, wenn es nur mit minimalen Risiken und Belas- tungen verbunden ist. Humanforschungsgesetz 11 / 26 810.30 Art. 29 Unzulässigkeit von Erleichterungen im Freiheitsentzug Die Teilnahme an einem Forschungsprojekt darf nicht mit Erleichterungen im Rah- men des Freiheitsentzugs verbunden sein. 4. Abschnitt: Forschung in Notfallsituationen Art. 30 Forschungsprojekte in Notfallsituationen 1 Ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen darf in Notfallsituationen durchgeführt werden, wenn: a. die nötigen Vorkehrungen getroffen sind, um den Willen der betroffenen Per- son so bald als möglich abzuklären; b. die betroffene Person die Forschungshandlung durch Äusserungen oder ent- sprechendes Verhalten nicht erkennbar ablehnt; und c. eine Ärztin oder ein Arzt, die oder der am Forschungsprojekt nicht beteiligt ist, vor dem Einbezug der betroffenen Person in das Projekt zur Wahrung von deren Interessen beigezogen wird; ausnahmsweise darf der Beizug später er- folgen, wenn triftige Gründe vorliegen. 2 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf in Notfallsituationen durchgeführt werden, wenn es zusätzlich zu den Anforderungen nach Absatz 1: a. nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist; und b. wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die Personen mit derselben Krank- heit oder Störung oder in demselben Zustand längerfristig einen Nutzen brin- gen können. Art. 31 Nachträgliche oder stellvertretende Einwilligung 1 Sobald die betroffene Person wieder dazu in der Lage ist, ist sie hinreichend über das Forschungsprojekt aufzuklären. Sie kann anschliessend ihre Einwilligung erteilen oder verweigern. 2 Verweigert die betroffene Person die nachträgliche Einwilligung, so dürfen das bio- logische Material und die Daten nicht länger für das Forschungsprojekt verwendet werden. 3 Der Bundesrat regelt das Verfahren zur Einholung einer nachträglichen oder stell- vertretenden Einwilligung, insbesondere beim Einbezug von Kindern, Jugendlichen und urteilsunfähigen Erwachsenen. Medizin und Menschenwürde 12 / 26 810.30 4. Kapitel: Weiterverwendung von biologischem Material und gesundheitsbezogenen Personendaten für die Forschung Art. 32 Weiterverwendung von biologischem Material und genetischen Daten 1 Biologisches Material und genetische Daten dürfen in unverschlüsselter Form für ein Forschungsprojekt weiterverwendet werden, wenn die betroffene Person bezie- hungsweise die gesetzliche Vertretung oder die nächsten Angehörigen nach hinrei- chender Aufklärung eingewilligt haben. Für die Einwilligung gelten die Artikel 16 und 22–24 sinngemäss. 2 Biologisches Material und genetische Daten dürfen in verschlüsselter Form zu For- schungszwecken weiterverwendet werden, wenn die betroffene Person beziehungs- weise die gesetzliche Vertretung oder die nächsten Angehörigen nach hinreichender Aufklärung eingewilligt haben. Für die Einwilligung gelten die Artikel 16 und 22–24 sinngemäss. 3 Biologisches Material und genetische Daten dürfen zu Forschungszwecken anony- misiert werden, wenn die betroffene Person beziehungsweise die gesetzliche Vertre- tung oder die nächsten Angehörigen vorgängig informiert worden sind und der Ano- nymisierung nicht widersprochen haben. Für den Widerspruch gelten die Artikel 22– 24 sinngemäss. Art. 33 Weiterverwendung von nichtgenetischen gesundheitsbezogenen Personendaten 1 Nichtgenetische gesundheitsbezogene Personendaten dürfen in unverschlüsselter Form zu Forschungszwecken weiterverwendet werden, wenn die betroffene Person beziehungsweise die gesetzliche Vertretung oder die nächsten Angehörigen nach hin- reichender Aufklärung eingewilligt haben. Für die Einwilligung gelten die Artikel 16 und 22–24 sinngemäss. 2 Nichtgenetische gesundheitsbezogene Personendaten dürfen in verschlüsselter Form zu Forschungszwecken weiterverwendet werden, wenn die betroffene Person bezie- hungsweise die gesetzliche Vertretung oder die nächsten Angehörigen vorgängig in- formiert worden sind und nicht widersprochen haben. Für den Widerspruch gelten die Artikel 22–24 sinngemäss. Art. 34 Fehlende Einwilligung und Information Sind die Anforderungen an Einwilligung und Information nach den Artikeln 32 und 33 nicht erfüllt, so dürfen biologisches Material oder gesundheitsbezogene Personen- daten ausnahmsweise zu Forschungszwecken weiterverwendet werden, wenn: a. es unmöglich oder unverhältnismässig schwierig ist, die Einwilligung einzu- holen beziehungsweise über das Widerspruchsrecht zu informieren, oder dies der betroffenen Person nicht zugemutet werden kann; b. keine dokumentierte Ablehnung vorliegt; und Humanforschungsgesetz 13 / 26 810.30 c. das Interesse der Forschung gegenüber dem Interesse der betroffenen Person, über die Weiterverwendung ihres biologischen Materials und ihrer Daten zu bestimmen, überwiegt. Art. 35 Anonymisierung und Verschlüsselung Der Bundesrat regelt die Anforderungen an die korrekte und sichere Anonymisierung und Verschlüsselung sowie die Voraussetzungen für die Entschlüsselung. 5. Kapitel: Forschung an verstorbenen Personen Art. 36 Einwilligung 1 Forschung an verstorbenen Personen darf durchgeführt werden, wenn diese vor ih- rem Tod in die Verwendung ihres Körpers zu Forschungszwecken eingewilligt haben. 2 Liegt keine dokumentierte Einwilligung oder Ablehnung der verstorbenen Person vor, so dürfen ihr Körper oder dessen Teile zu Forschungszwecken verwendet werden, wenn die nächsten Angehörigen oder eine von der verstorbenen Person zu Lebzeiten bezeichnete Vertrauensperson einwilligen. 3 Die Einwilligung der nächsten Angehörigen oder der Vertrauensperson richtet sich nach Artikel 8 des Transplantationsgesetzes vom 8. Oktober 200412. 4 Forschung an verstorbenen Personen, deren Tod vor mehr als 70 Jahren eintrat, darf ohne Einwilligung nach Absatz 2 durchgeführt werden. Wenden sich die nächsten Angehörigen gegen diese Forschung, so darf sie nicht durchgeführt werden. Art. 37 Weitere Voraussetzungen 1 Ein Forschungsprojekt an verstorbenen Personen darf durchgeführt werden, wenn deren Tod festgestellt worden ist. 2 Ein Forschungsprojekt an verstorbenen Personen, die künstlich beatmet werden, darf durchgeführt werden, wenn zusätzlich zur Anforderung nach Absatz 1 gleichwertige Erkenntnisse nicht mit verstorbenen Personen gewonnen werden können, die nicht künstlich beatmet werden. Der Bundesrat kann weitere Voraussetzungen festlegen. 3 Wer ein Forschungsprojekt nach Absatz 2 durchführt, darf bei der Feststellung des Todes nicht mitgewirkt haben und gegenüber den daran beteiligten Personen nicht weisungsbefugt sein. Art. 38 Forschung im Rahmen einer Obduktion oder Transplantation Werden im Rahmen einer Obduktion oder Transplantation Körpersubstanzen entnom- men, so darf eine geringfügige Menge davon ohne Einwilligung zu Forschungszwe- cken anonymisiert werden, sofern keine dokumentierte Ablehnung der verstorbenen Person vorliegt. 12 SR 810.21 Medizin und Menschenwürde 14 / 26 810.30 6. Kapitel: Forschung an Embryonen und Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen und Spontanaborten einschliesslich Totgeburten Art. 39 Voraussetzungen für die Forschung an Embryonen und Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen 1 Eine schwangere Frau darf erst angefragt werden, ob sie ihren Embryo beziehungs- weise Fötus zu Forschungszwecken zur Verfügung stellt, nachdem sie sich zum Schwangerschaftsabbruch entschlossen hat. Für die Einwilligung gelten die Artikel 16 und 22–24 sinngemäss. 2 Zeitpunkt und Methode des Schwangerschaftsabbruchs müssen unabhängig vom Forschungsprojekt gewählt werden. 3 Embryonen und Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen dürfen für ein Forschungs- projekt verwendet werden, wenn der Tod festgestellt worden ist. 4 Wer ein Forschungsprojekt nach Absatz 3 durchführt, darf beim Schwangerschafts- abbruch nicht mitwirken und gegenüber den daran beteiligten Personen nicht wei- sungsbefugt sein. Art. 40 Voraussetzungen für die Forschung an Embryonen und Föten aus Spontanaborten einschliesslich Totgeburten 1 Embryonen und Föten aus Spontanaborten einschliesslich Totgeburten dürfen nur mit der Einwilligung des betroffenen Paares zu Forschungszwecken verwendet wer- den. Für die Einwilligung gilt Artikel 16 sinngemäss. 2 Embryonen und Föten aus Spontanaborten dürfen für ein Forschungsprojekt ver- wendet werden, wenn der Tod festgestellt worden ist. 7. Kapitel: Weitergabe, Ausfuhr und Aufbewahrung Art. 41 Weitergabe zu anderen als zu Forschungszwecken Biologisches Material oder gesundheitsbezogene Personendaten, die zu Forschungs- zwecken entnommen beziehungsweise erhoben oder weiterverwendet worden sind, dürfen zu anderen als zu Forschungszwecken nur weitergegeben werden, wenn: a. für die Weitergabe eine gesetzliche Grundlage besteht; oder b. die betroffene Person im Einzelfall nach hinreichender Aufklärung in die Wei- tergabe eingewilligt hat. Art. 42 Ausfuhr 1 Biologisches Material oder genetische Daten dürfen zu Forschungszwecken ins Aus- land ausgeführt werden, wenn die betroffene Person nach hinreichender Aufklärung Humanforschungsgesetz 15 / 26 810.30 eingewilligt hat. Für die Einwilligung gelten die Artikel 16 und 22–24 sowie 32 sinn- gemäss. 2 Nichtgenetische gesundheitsbezogene Personendaten dürfen zu Forschungszwecken ins Ausland bekanntgegeben werden, wenn die Anforderungen von Artikel 6 des Bun- desgesetzes vom 19. Juni 199213 über den Datenschutz erfüllt sind. Art. 43 Aufbewahrung 1 Wer biologisches Material oder gesundheitsbezogene Personendaten zu For- schungszwecken aufbewahrt, muss sie durch geeignete technische und organisatori- sche Massnahmen gegen unbefugten Umgang schützen sowie die betrieblichen und fachlichen Anforderungen erfüllen. 2 Der Bundesrat regelt die Anforderungen an die Aufbewahrung. Art. 44 Verstorbene Personen, Embryonen und Föten einschliesslich Totgeburten Die Artikel 41–43 sind sinngemäss anwendbar auf verstorbene Personen, auf Embry- onen und Föten einschliesslich Totgeburten sowie deren Teile und auf in diesem Zu- sammenhang erhobene Daten. 8. Kapitel: Bewilligungen, Meldungen und Verfahren Art. 45 Bewilligungspflicht 1 Eine Bewilligung der zuständigen Ethikkommission ist erforderlich für: a. die Durchführung eines Forschungsprojekts; oder b. die Weiterverwendung von biologischem Material oder gesundheitsbezoge- nen Personendaten zu Forschungszwecken bei fehlender Einwilligung oder Information über das Widerspruchsrecht (Art. 34). 2 Die Bewilligung wird erteilt, wenn die ethischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Anforderungen dieses Gesetzes erfüllt sind. Der Entscheid muss innert zwei Monaten nach Einreichung des Gesuchs vorliegen. Der Bundesrat kann: a. kürzere, risikoadaptierte Obergrenzen für Bearbeitungsfristen festlegen; b. die Bearbeitungsfristen anpassen, wenn anerkannte internationale Regelungen das verlangen.14 3 Der Bundesrat kann Änderungen an Forschungsprojekten einer Bewilligungspflicht unterstellen. Dabei beachtet er anerkannte internationale Regelungen. 13 SR 235.1 14 Fassung gemäss Anhang des BG vom 22. März 2019, in Kraft seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). Medizin und Menschenwürde 16 / 26 810.30 Art. 46 Melde- und Informationspflichten 1 Der Bundesrat kann Melde- und Informationspflichten vorsehen, insbesondere bei: a. dem Abschluss oder Abbruch eines Forschungsprojekts; b. unerwünschten Ereignissen im Rahmen eines Forschungsprojekts; c. dem Auftreten von Umständen während der Durchführung eines Forschungs- projekts, die sich auf die Sicherheit oder die Gesundheit der teilnehmenden Personen auswirken können. 2 Dabei beachtet er anerkannte internationale Regelungen. Art. 47 Zuständige Ethikkommission 1 Zuständig ist die Ethikkommission des Kantons, in dessen Gebiet die Forschung durchgeführt wird. 2 Wird ein Forschungsprojekt nach einheitlichem Plan, aber in verschiedenen Kanto- nen durchgeführt (multizentrisches Forschungsprojekt), so ist eine Bewilligung der- jenigen Ethikkommission erforderlich, die am Tätigkeitsort der das Projekt koordi- nierenden Person zuständig ist (Leitkommission). 3 Die Leitkommission holt zur Beurteilung der fachlichen und der betrieblichen Vo- raussetzungen in anderen Kantonen die Stellungnahme der betreffenden Ethikkom- missionen ein. Sie ist an deren Stellungnahme gebunden. 4 Die Absätze 2 und 3 gelten sinngemäss für die Bewilligung zum Umgang mit bio- logischem Material und gesundheitsbezogenen Personendaten nach Artikel 34, die nach einheitlichem Plan, aber in verschiedenen Kantonen weiterverwendet oder ge- sammelt werden. Art. 48 Behördliche Massnahmen 1 Ist die Sicherheit oder die Gesundheit der betroffenen Personen gefährdet, so kann die Ethikkommission die erteilte Bewilligung widerrufen oder sistieren oder die Wei- terführung des Forschungsprojekts von zusätzlichen Auflagen abhängig machen. 2 Die Ethikkommission kann von der Inhaberin oder dem Inhaber der Bewilligung Auskünfte und Unterlagen verlangen. Diese sind unentgeltlich zu erteilen beziehungs- weise zur Verfügung zu stellen. 3 Massnahmen der zuständigen Behörden des Bundes und der Kantone bleiben vor- behalten. 4 Behörden und Ethikkommissionen informieren einander und koordinieren ihre Mas- snahmen. Humanforschungsgesetz 17 / 26 810.30 Art. 49 Verfahren 1 Die Dokumente für die Bewilligungs- und Meldeverfahren sowie für die Berichter- stattung und Aufsicht sind in das Informationssystem der Kantone nach Artikel 56a einzugeben.15 1bis Der Bundesrat regelt das Verfahren, um einen einheitlichen Vollzug und die Um- setzung nationaler und internationaler Regelungen sicherzustellen. Er kann festlegen, dass die Eingabe von Gesuchen, der Schriftenverkehr und die Eröffnung von Ent- scheiden auf elektronischem Weg erfolgen müssen.16 2 Er kann insbesondere für Forschungsprojekte mit biologischem Material und gene- tischen Daten nach Artikel 32 sowie mit nichtgenetischen gesundheitsbezogenen Per- sonendaten nach Artikel 33 erleichterte Anforderungen an das Verfahren vorsehen. 3 Im Übrigen gilt das kantonale Verfahrensrecht. Art. 50 Rechtsschutz 1 Das Verfahren für Beschwerden gegen Entscheide der Ethikkommissionen richtet sich nach dem kantonalen Verfahrensrecht und den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege. 2 Die beschwerdeführende Person kann die Rüge der Unangemessenheit nicht erhe- ben. 9. Kapitel: Ethikkommissionen für die Forschung Art. 51 Aufgaben 1 Die Ethikkommissionen überprüfen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten nach dem 8. Kapitel, ob die Forschungsprojekte und deren Durchführung den ethischen, recht- lichen und wissenschaftlichen Anforderungen dieses Gesetzes entsprechen. Insbeson- dere überprüfen sie, ob der Schutz der betroffenen Personen gewährleistet ist. 2 Sie können die Forscherinnen und Forscher insbesondere zu ethischen Fragen bera- ten und auf deren Anfrage hin Stellungnahmen zu nicht diesem Gesetz unterstehenden Forschungsvorhaben abgeben, namentlich zu solchen, die im Ausland durchgeführt werden. Art. 52 Unabhängigkeit 1 Die Ethikkommissionen üben ihre Aufgaben fachlich unabhängig aus, ohne diesbe- züglich Weisungen der Aufsichtsbehörde zu unterliegen. 2 Die Mitglieder der Ethikkommissionen legen ihre Interessenbindungen offen. Jede Ethikkommission führt hierüber ein öffentlich zugängliches Verzeichnis. 15 Fassung gemäss Anhang des BG vom 22. März 2019, in Kraft seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). 16 Eingefügt durch Anhang des BG vom 22. März 2019, in Kraft seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). Medizin und Menschenwürde 18 / 26 810.30 3 Mitglieder, die befangen sind, treten bei der Beurteilung und beim Entscheid in den Ausstand. Art. 53 Zusammensetzung 1 Die Ethikkommissionen müssen so zusammengesetzt sein, dass sie über die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlichen Fachkompetenzen und Erfahrungen verfügen. Ihnen müssen angehören: a. Sachverständige verschiedener Bereiche, insbesondere der Medizin, der Ethik und des Rechts; und b. mindestens eine Person, welche die Patientinnen und Patienten vertritt.17 2 Die Ethikkommissionen können externe Fachpersonen als Gutachterinnen bezie- hungsweise Gutachter beiziehen. 3 Der Bundesrat erlässt weitere Vorschriften zur Zusammensetzung der Ethikkommis- sionen und zu den Anforderungen an deren Mitglieder. Dabei beachtet er anerkannte internationale Regelungen. Art. 54 Organisation und Finanzierung 1 Jeder Kanton bezeichnet die für sein Gebiet zuständige Ethikkommission und wählt deren Mitglieder. Er nimmt die Aufsicht über die Ethikkommission wahr. 2 In jedem Kanton besteht höchstens eine Ethikkommission. Mehrere Kantone können eine gemeinsame Ethikkommission bezeichnen oder vereinbaren, dass die Ethikkom- mission eines Kantons auch für weitere Kantone zuständig ist. 3 Der Bundesrat kann Vorgaben über die Mindestzahl der von einer Ethikkommission jährlich zu beurteilenden Forschungsprojekte machen. Er hört die Kantone vorgängig an. 4 Jede Ethikkommission verfügt über ein wissenschaftliches Sekretariat. Organisation und Arbeitsweise sind in einem Geschäftsreglement öffentlich zugänglich. 5 Der Kanton stellt die Finanzierung der Ethikkommission sicher. Er kann die Erhe- bung von Gebühren vorsehen. Art. 55 Koordination und Information 1 Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) stellt die Koordination zwischen den Ethik- kommissionen sowie mit weiteren Prüfbehörden sicher. Es kann diese Aufgabe Drit- ten übertragen. 2 Die Ethikkommissionen erstatten dem BAG jährlich Bericht über ihre Tätigkeit, ins- besondere über Art und Anzahl der beurteilten Forschungsprojekte und die Bearbei- tungszeiten. 17 Fassung gemäss Anhang des BG vom 22. März 2019, in Kraft seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). Humanforschungsgesetz 19 / 26 810.30 3 Das BAG veröffentlicht ein Verzeichnis der Ethikkommissionen und informiert die Öffentlichkeit regelmässig über deren Tätigkeit. 4 Es kann nach Rücksprache mit den Ethikkommissionen und weiteren betroffenen Prüfbehörden Empfehlungen zur angemessenen Harmonisierung der Verfahren und der Beurteilungspraxis erlassen. 10. Kapitel: Transparenz und Datenschutz Art. 56 Registrierung 1 Bewilligte klinische Versuche müssen in einem öffentlichen Register erfasst wer- den. Der Bundesrat umschreibt die klinischen Versuche näher und kann Ausnahmen von der Registrierungspflicht bezeichnen; er orientiert sich dabei an den anerkannten internationalen Regelungen.18 2 Er bezeichnet das Register, informiert über den Zugang zu diesem und legt dessen Inhalt sowie die Meldepflicht und das Meldeverfahren fest. Er beachtet dabei aner- kannte internationale Regelungen und berücksichtigt nach Möglichkeit bereits beste- hende Register. 3 Er kann: a. Organisationen des öffentlichen oder des privaten Rechts mit der Einrichtung und Führung des Registers betrauen; b.19 vorsehen, dass die Ergebnisse registrierter Forschungsprojekte auf einer aner- kannten Plattform veröffentlicht werden müssen. Art. 56a20 Informationssystem der Kantone 1 Die Kantone führen ein gemeinsames Informationssystem für die Durchführung der Bewilligungs- und Meldeverfahren, die Übermittlung von Berichten und die Aus- übung der Aufsicht bei Forschungsprojekten. 2 Das System enthält Daten, einschliesslich Personendaten über administrative oder strafrechtliche Verfolgungen und Sanktionen oder über die Gesundheit, die für die Durchführung von Bewilligungs- und Meldeverfahren und zu Berichterstattung und Aufsicht nach diesem Gesetz notwendig sind. 3 Die Kantone sorgen dafür, dass das Informationssystem mit dem Informationssys- tem «Medizinprodukte» des Schweizerischen Heilmittelinstituts und mit der Europä- ischen Datenbank für Medizinprodukte (Eudamed) kompatibel ist. 4 Der Bundesrat kann vorsehen, dass: 18 Fassung des zweiten Satzes gemäss Anhang des BG vom 22. März 2019, in Kraft seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). 19 Fassung gemäss Anhang des BG vom 22. März 2019, in Kraft seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). 20 Eingefügt durch Anhang des BG vom 22. März 2019, in Kraft seit 26. Mai 2021 (AS 2020 2961; BBl 2019 1). Medizin und Menschenwürde 20 / 26 810.30 a. die Daten nach Absatz 2, die klinische Versuche mit Medizinprodukten be- treffen, automatisch abgeglichen werden mit dem Informationssystem «Me- dizinprodukte» des Schweizerischen Heilmittelinstituts oder mit Eudamed; b. die Daten nach Absatz 2, die nicht besonders schützenswert sind, unter Wah- rung von Berufs- und Geschäftsgeheimnissen veröffentlicht werden. Art. 57 Schweigepflicht Die mit dem Vollzug dieses Gesetzes beauftragten Personen unterstehen der Schwei- gepflicht. Art. 58 Bearbeitung von Personendaten Die Ethikkommissionen sowie die weiteren Vollzugsorgane sind berechtigt, zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben Personendaten zu bearbeiten. Besonders schützens- werte Personendaten dürfen bearbeitet werden, soweit dies notwendig ist. Art. 59 Datenbekanntgabe 1 Sofern kein überwiegendes Privatinteresse entgegensteht, dürfen Daten bekanntge- geben werden an: a. die für den Vollzug dieses Gesetzes zuständigen Stellen von Bund und Kan- tonen sowie Organisationen und Personen des öffentlichen oder des privaten Rechts, wenn die Daten für die Erfüllung der ihnen nach diesem Gesetz über- tragenen Aufgaben erforderlich sind; b. Strafuntersuchungsbehörden, wenn es die Anzeige oder die Abwendung eines Verbrechens oder einer nach diesem Gesetz strafbaren Handlung erfordert. 2 Sofern kein überwiegendes Privatinteresse entgegensteht, dürfen Daten im Einzel- fall und auf schriftliches Gesuch hin bekanntgegeben werden an: a. Zivilgerichte, wenn die Daten für die Beurteilung eines Streitfalles erforder- lich sind; b. Strafgerichte und Strafuntersuchungsbehörden, wenn die Daten für die Ab- klärung eines Verbrechens oder eines Vergehens erforderlich sind. 3 Daten, die von allgemeinem Interesse sind und sich auf die Anwendung dieses Ge- setzes beziehen, dürfen veröffentlicht werden. Die betroffenen Personen dürfen dabei nicht bestimmbar sein. 4 In den übrigen Fällen dürfen Daten an Dritte wie folgt bekanntgegeben werden: a. nicht personenbezogene Daten, sofern die Bekanntgabe einem überwiegenden Interesse entspricht; b. Personendaten, sofern die betroffene Person im Einzelfall schriftlich einge- willigt hat. 5 Es dürfen nur die Daten bekanntgegeben werden, die für den in Frage stehenden Zweck erforderlich sind. Humanforschungsgesetz 21 / 26 810.30 6 Der Bundesrat regelt die Modalitäten der Bekanntgabe und die Information der be- troffenen Personen. Art. 60 Datenweitergabe an ausländische Behörden und internationale Organisationen 1 Vertrauliche Daten dürfen an ausländische Behörden und Institutionen sowie an in- ternationale Organisationen nur weitergegeben werden, wenn: a. völkerrechtliche Vereinbarungen oder Beschlüsse internationaler Organisati- onen dies erfordern; b. dies zur Abwendung einer unmittelbar drohenden Gefahr für Leben oder Ge- sundheit notwendig ist; oder c. dies die Aufdeckung schwerwiegender Verstösse gegen dieses Gesetz ermög- licht. 2 Der Bundesrat regelt Zuständigkeiten und Verfahren für den Austausch von Daten mit ausländischen Behörden und Institutionen sowie mit internationalen Organisatio- nen. Art. 61 Evaluation 1 Das BAG sorgt für die Überprüfung der Wirksamkeit dieses Gesetzes. 2 Das Eidgenössische Departement des Innern erstattet dem Bundesrat Bericht über die Ergebnisse der Evaluation und unterbreitet Vorschläge für das weitere Vorgehen. 11. Kapitel: Strafbestimmungen Art. 62 Vergehen 1 Sofern keine schwerere strafbare Handlung nach dem Strafgesetzbuch21 vorliegt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer vorsätzlich: a. ein Forschungsprojekt ohne Bewilligung einer Ethikkommission oder abwei- chend von einem bewilligten Forschungsplan durchführt (Art. 45) und dadurch die Gesundheit der teilnehmenden Personen gefährdet; b. ein Forschungsprojekt nach dem 2., 3., 5. oder 6. Kapitel durchführt, ohne dass die nach diesem Gesetz erforderliche Einwilligung vorliegt (Art. 16, 17, 18 Abs. 3, 22 Abs. 1, 3 Bst. a und 4, Art. 23, 24, 26, 28, 30, 36 Abs. 1 und 2, 39 Abs. 1, 40); c.22 für den menschlichen Körper oder dessen Teile als solche ein Entgelt oder einen anderen geldwerten Vorteil anbietet, gewährt, fordert oder annimmt; 21 SR 311.0 22 Fassung gemäss Anhang Ziff. 2 des BB vom 19. Juni 2020 über die Genehmigung des Übereinkommens des Europarats gegen den Handel mit menschlichen Organen und über seine Umsetzung, in Kraft seit 1. Febr. 2021 (AS 2020 6567; BBl 2019 5971). Medizin und Menschenwürde 22 / 26 810.30 cbis.23 den menschlichen Körper oder dessen Teile verwendet, wenn damit eine strafbare Handlung nach Buchstabe c stattgefunden hat; d. ein Forschungsprojekt durchführt, das eine Änderung von Eigenschaften des Embryos oder des Fötus ohne Bezug zu einer Krankheit zum Ziel hat (Art. 25); e. Embryonen oder Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen und Spontanaborten für ein Forschungsprojekt verwendet, bevor der Tod festgestellt worden ist (Art. 39 Abs. 3, 40 Abs. 2). 2 Wird die Tat gewerbsmässig begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren; mit dieser ist eine Geldstrafe zu verbinden. 3 Wird die Tat fahrlässig begangen, so ist die Strafe Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen. Art. 63 Übertretungen 1 Mit Busse wird bestraft, wer vorsätzlich oder fahrlässig: a. den Tatbestand nach Artikel 62 Absatz 1 Buchstabe a erfüllt, ohne dass die Gesundheit der teilnehmenden Personen gefährdet wird; b. einer Person für die Teilnahme an einem Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen ein Entgelt oder einen andern geldwerten Vorteil entrichtet oder von einer Person für die Teilnahme an einem Forschungsprojekt ein Ent- gelt oder einen andern geldwerten Vorteil verlangt oder entgegennimmt (Art. 14); c. biologisches Material oder gesundheitsbezogene Personendaten ohne die nach diesem Gesetz erforderliche Einwilligung beziehungsweise Information wei- terverwendet (Art. 32, 33), ohne dass die Voraussetzungen nach Artikel 34 und eine entsprechende Bewilligung der zuständigen Ethikkommission vor- liegen; d. biologisches Material oder gesundheitsbezogene Personendaten zu anderen als Forschungszwecken ohne gesetzliche Grundlage oder ohne erforderliche Einwilligung weitergibt (Art. 41). 2 Eine Übertretung und die Strafe für eine Übertretung verjähren in fünf Jahren. Art. 64 Zuständigkeiten und Verwaltungsstrafrecht 1 Die Verfolgung und Beurteilung strafbarer Handlungen sind Sache der Kantone. 2 Die Artikel 6 und 7 (Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben) sowie 15 (Urkunden- fälschung, Erschleichen einer falschen Beurkundung) des Bundesgesetzes vom 22. März 197424 über das Verwaltungsstrafrecht sind anwendbar. 23 Eingefügt durch Anhang Ziff. 2 des BB vom 19. Juni 2020 über die Genehmigung des Übereinkommens des Europarats gegen den Handel mit menschlichen Organen und über seine Umsetzung, in Kraft seit 1. Febr. 2021 (AS 2020 6567; BBl 2019 5971). 24 SR 313.0 Humanforschungsgesetz 23 / 26 810.30 3 Die zuständigen Behörden teilen dem BAG sämtliche Urteile mit, die nach Arti- kel 62 Absatz 1 Buchstaben b–cbis oder 63 Absatz 1 Buchstabe c aufgrund einer straf- baren Handlung mit dem menschlichen Körper oder dessen Teilen ergangen sind.25 12. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 65 Ausführungsbestimmungen 1 Der Bundesrat erlässt die Ausführungsbestimmungen. 2 Er beachtet dabei namentlich das unterschiedliche Ausmass der Gefährdung von Würde und Persönlichkeit, das mit den einzelnen Forschungsbereichen und -vorgehen verbunden ist, insbesondere bei der Festlegung: a. der wissenschaftlichen Anforderungen (Art. 10); b. allfälliger Ausnahmen zur Haftung (Art. 19) und der Pflicht zur Sicherstellung (Art. 20); c. der Anforderungen an die Versicherung und andere Formen der Sicherstel- lung (Art. 20); d. der Verfahren (Art. 49). Art. 66 Änderung bisherigen Rechts Die Änderung bisherigen Rechts wird im Anhang geregelt. Art. 67 Übergangsbestimmungen 1 Bewilligungen kantonaler Ethikkommissionen für die Durchführung von For- schungsprojekten bleiben bis zum Ablauf der Bewilligungsdauer gültig. 2 Liegt für ein Forschungsprojekt, das bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits durch- geführt wird, keine Bewilligung nach Absatz 1 vor, so ist der zuständigen Ethikkom- mission innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes ein Gesuch um die Erteilung einer Bewilligung nach Artikel 45 Absatz 1 Buchstabe a einzu- reichen. 3 Bewilligungen für die Offenbarung des Berufsgeheimnisses in der medizinischen Forschung bleiben bis zum Ablauf der Bewilligungsdauer gültig. Ist die Bewilligung unbefristet, so ist der zuständigen Ethikkommission innerhalb eines Jahres nach In- krafttreten dieses Gesetzes ein Gesuch um die Erteilung einer Bewilligung nach Arti- kel 45 Absatz 1 einzureichen. 4 Der Bundesrat regelt die Registrierung nach Artikel 56 von Forschungsprojekten, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes durchgeführt werden. 25 Eingefügt durch Anhang Ziff. 2 des BB vom 19. Juni 2020 über die Genehmigung des Übereinkommens des Europarats gegen den Handel mit menschlichen Organen und über seine Umsetzung, in Kraft seit 1. Febr. 2021 (AS 2020 6567; BBl 2019 5971). Medizin und Menschenwürde 24 / 26 810.30 Art. 68 Referendum und Inkrafttreten 1 Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum. 2 Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten. Datum des Inkrafttretens: 1. Januar 201426 26 BRB vom 20. Sept. 2013 Humanforschungsgesetz 25 / 26 810.30 Anhang (Art. 66) Änderung bisherigen Rechts Die nachstehenden Bundesgesetze werden wie folgt geändert: …27 27 Die Änd. können unter AS 2013 3215 konsultiert werden. Medizin und Menschenwürde 26 / 26 810.30 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen 1. Abschnitt: Zweck, Geltungsbereich und Begriffe Art. 1 Zweck Art. 2 Geltungsbereich Art. 2a Anwendbarkeit des Bundesgesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen Art. 3 Begriffe 2. Abschnitt: Grundsätze Art. 4 Vorrang der Interessen des Menschen Art. 5 Wissenschaftlich relevante Fragestellung Art. 6 Nichtdiskriminierung Art. 7 Einwilligung Art. 8 Recht auf Information Art. 9 Kommerzialisierungsverbot Art. 10 Wissenschaftliche Anforderungen 2. Kapitel: Allgemeine Anforderungen an die Forschung mit Personen 1. Abschnitt: Schutz der teilnehmenden Personen Art. 11 Subsidiarität Art. 12 Risiken und Belastungen Art. 13 Placebo Art. 14 Unentgeltlichkeit der Teilnahme Art. 15 Sicherheits- und Schutzmassnahmen 2. Abschnitt: Aufklärung und Einwilligung Art. 16 Einwilligung nach Aufklärung Art. 17 Einwilligung in die Weiterverwendung für die Forschung Art. 18 Partielle Aufklärung 3. Abschnitt: Haftung und Sicherstellung Art. 19 Haftung Art. 20 Sicherstellung 3. Kapitel: Zusätzliche Anforderungen an die Forschung mit besonders verletzbaren Personen 1. Abschnitt: Forschung mit Kindern, Jugendlichen und urteilsunfähigen Erwachsenen Art. 21 Einbezug urteilsunfähiger Personen in das Einwilligungsverfahren Art. 22 Forschungsprojekte mit Kindern Art. 23 Forschungsprojekte mit Jugendlichen Art. 24 Forschungsprojekte mit urteilsunfähigen Erwachsenen 2. Abschnitt: Forschung mit schwangeren Frauen sowie an Embryonen und Föten in vivo Art. 25 Unzulässige Forschungsprojekte Art. 26 Forschungsprojekte mit schwangeren Frauen sowie an Embryonen und Föten in vivo Art. 27 Forschungsprojekte über Methoden des Schwangerschaftsabbruchs 3. Abschnitt: Forschung mit Personen im Freiheitsentzug Art. 28 Forschungsprojekte mit Personen im Freiheitsentzug Art. 29 Unzulässigkeit von Erleichterungen im Freiheitsentzug 4. Abschnitt: Forschung in Notfallsituationen Art. 30 Forschungsprojekte in Notfallsituationen Art. 31 Nachträgliche oder stellvertretende Einwilligung 4. Kapitel: Weiterverwendung von biologischem Material und gesundheitsbezogenen Personendaten für die Forschung Art. 32 Weiterverwendung von biologischem Material und genetischen Daten Art. 33 Weiterverwendung von nichtgenetischen gesundheitsbezogenen Personendaten Art. 34 Fehlende Einwilligung und Information Art. 35 Anonymisierung und Verschlüsselung 5. Kapitel: Forschung an verstorbenen Personen Art. 36 Einwilligung Art. 37 Weitere Voraussetzungen Art. 38 Forschung im Rahmen einer Obduktion oder Transplantation 6. Kapitel: Forschung an Embryonen und Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen und Spontanaborten einschliesslich Totgeburten Art. 39 Voraussetzungen für die Forschung an Embryonen und Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen Art. 40 Voraussetzungen für die Forschung an Embryonen und Föten aus Spontanaborten einschliesslich Totgeburten 7. Kapitel: Weitergabe, Ausfuhr und Aufbewahrung Art. 41 Weitergabe zu anderen als zu Forschungszwecken Art. 42 Ausfuhr Art. 43 Aufbewahrung Art. 44 Verstorbene Personen, Embryonen und Föten einschliesslich Totgeburten 8. Kapitel: Bewilligungen, Meldungen und Verfahren Art. 45 Bewilligungspflicht Art. 46 Melde- und Informationspflichten Art. 47 Zuständige Ethikkommission Art. 48 Behördliche Massnahmen Art. 49 Verfahren Art. 50 Rechtsschutz 9. Kapitel: Ethikkommissionen für die Forschung Art. 51 Aufgaben Art. 52 Unabhängigkeit Art. 53 Zusammensetzung Art. 54 Organisation und Finanzierung Art. 55 Koordination und Information 10. Kapitel: Transparenz und Datenschutz Art. 56 Registrierung Art. 56a Informationssystem der Kantone Art. 57 Schweigepflicht Art. 58 Bearbeitung von Personendaten Art. 59 Datenbekanntgabe Art. 60 Datenweitergabe an ausländische Behörden und internationale Organisationen Art. 61 Evaluation 11. Kapitel: Strafbestimmungen Art. 62 Vergehen Art. 63 Übertretungen Art. 64 Zuständigkeiten und Verwaltungsstrafrecht 12. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 65 Ausführungsbestimmungen Art. 66 Änderung bisherigen Rechts Art. 67 Übergangsbestimmungen Art. 68 Referendum und Inkrafttreten Anhang Änderung bisherigen Rechts | de |
5919d088-8427-47f5-a449-7e91b1da308b | Erwägungen
ab Seite 216
BGE 101 Ib 216 S. 216
Aus den Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer hat gegen den Entscheid der Eidg. Schätzungskommission, Kreis 6, vom 14. Februar 1975 Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach
Art. 77 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG)
erhoben. Die Beschwerdeschrift enthält jedoch folgenden Vorbehalt: "Nach dem Ent-Gesetz 1930 u. Aussagen vom Präsidenten der Schätz-Kom. hat der Enteigner die Kosten zu tragen, im gegenteiligen Fall gilt meine Beschwerde wie das letzte Mal als nicht existierend."
2.
Die bedingte Anfechtung eines Entscheides ist nach dem Grundsatz, dass Prozesshandlungen im allgemeinen bedingungsfeindlich sind (GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. A., S. 211), nur in Ausnahmefällen zulässig. Solche liegen zum Beispiel dann vor, wenn die Beschwerde bloss "vorsorglich" für den Fall eingereicht wird, dass eine zusätzlich angerufene Instanz auf ein weiteres Rechtsmittel oder einen Rechtsbehelf nicht eintritt (vgl.
BGE 100 Ib 353
). Der vom Beschwerdeführer angebrachte Vorbehalt ist jedoch anderer Art. Ob sich die mit der Beschwerdeerhebung verknüpfte Bedingung erfüllt, hängt hier vom Ausgang des - nur bedingt eingeleiteten - Prozessverfahrens ab. Dies ist offensichtlich unzulässig und auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten.
Anders könnte nur dann entschieden werden, wenn sich der Vorbehalt des Beschwerdeführers auf Grund der gesetzlichen Regelung zum vornherein erübrigen würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Zwar trägt in Enteignungsstreitigkeiten grundsätzlich der Enteigner die Kosten des Verfahrens vor dem Bundesgericht. Werden die Begehren des Enteigneten aber
BGE 101 Ib 216 S. 217
ganz oder zum grösseren Teil abgewiesen, so können die Kosten auch anders verteilt werden (
Art. 116 Abs. 1 EntG
). Ob die Begehren des Enteigneten abgewiesen werden müssen, ergibt sich erst im Laufe des Prozessverfahrens. Die Möglichkeit der Abweisung der Beschwerde kann im vorliegenden Fall schon deshalb nicht zum vornherein ausgeschlossen werden, weil das Bundesgericht über die vom Beschwerdeführer nunmehr erneut erhobenen Rügen schon einmal in abweisendem Sinne entschieden hat (
BGE 99 Ib 87
). | de |
85215bf6-2cef-4f13-bf24-2cba11dd50cc | Sachverhalt
ab Seite 534
BGE 137 III 534 S. 534
X. und Y. bilden zusammen eine Stockwerkeigentümergemeinschaft, wobei X. die Mehrheit der Anteile innehat. Die Parteien und der damals noch lebende Ehegatte von Y. standen bereits seit 1989 miteinander in rechtlicher Beziehung. Als Folge von Provokationen, Körperverletzungen, Tätlichkeiten unter den Beteiligten und aufgrund von Beschlüssen der Stockwerkeigentümergemeinschaft kam es zu unzähligen Prozessverfahren zwischen den
BGE 137 III 534 S. 535
Verfahrensbeteiligten, die das Verhältnis untereinander vergifteten. Die Parteien sind nunmehr verfeindet.
Mit Urteil vom 29. März 2010 ordnete das Amtsgericht Luzern-Land in Gutheissung der Klage von X. den Ausschluss von Y. aus der Stockwerkeigentümergemeinschaft und die Veräusserung deren Stockwerkeigentumsanteils sowie die Zwangsversteigerung für den Fall der Weigerung des freiwilligen Verkaufs des Anteils an. Mit Urteil vom 26. Januar 2011 wies das Obergericht des Kantons Luzern die Klage ab.
Das Bundesgericht weist die am 16. August 2011 gegen das obergerichtliche Urteil eingereichte Beschwerde des X. ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach
Art. 649b Abs. 1 ZGB
kann ein Miteigentümer durch richterliches Urteil aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, wenn durch sein Verhalten oder das Verhalten von Personen, denen er den Gebrauch der Sache überlassen oder für die er einzustehen hat, Verpflichtungen gegenüber allen oder einzelnen Mitberechtigten so schwer verletzt werden, dass diesen die Fortsetzung der Gemeinschaft
nicht zugemutet
werden kann. Diese Bestimmung gilt auch für das Stockwerkeigentum im Sinn der
Art. 712a ff. ZGB
(
BGE 113 II 15
E. 2 S. 17). Besteht die Gemeinschaft - wie hier - aus nur zwei Mitgliedern, steht jedem das Klagerecht zu (BRUNNER/WICHTERMANN, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 3. Aufl. 2007, N. 22 zu
Art. 649b ZGB
).
2.2
2.2.1
Das Amtsgericht stellte fest, dass beide Parteien eine schwere Mitverantwortung am hoffnungslos vergifteten Verhältnis treffe und jede Partei rücksichtsloses und jeglichen Anstand vermissendes Verhalten gegenüber der anderen an den Tag gelegt habe. Mangels Antrages der Beschwerdegegnerin entsprach es dem Klageantrag des Beschwerdeführers und ordnete den Ausschluss der Beschwerdegegnerin aus der Stockwerkeigentümergemeinschaft und die Veräusserung deren Stockwerkeigentumsanteils sowie die Zwangsversteigerung für den Fall der Weigerung des freiwilligen Verkaufs des Anteils an. Im Gegensatz zur ersten Instanz hat das Obergericht die Klage des Beschwerdeführers abgewiesen. In einer ersten
BGE 137 III 534 S. 536
Begründung hat es in grundsätzlicher Hinsicht erwogen, die Ausschlussmöglichkeit stehe nur einem loyalen Miteigentümer zu. Wer sich grob pflichtwidrig verhalte, könne sich nicht auf
Art. 649b ZGB
berufen. Trügen - wie im konkreten Fall - beide Parteien eine schwere Mitverantwortung an der bestehenden Situation, fehle es an der Unzumutbarkeit der Fortführung der Gemeinschaft durch den Beschwerdeführer.
2.2.2
Dem hält der Beschwerdeführer im Wesentlichen entgegen, nicht nur der "loyale" Miteigentümer könne sich auf
Art. 649b ZGB
berufen. Bei
Art. 649b ZGB
gehe es vielmehr nur darum, dass der sich korrekt verhaltende Miteigentümer nicht wegen des renitenten Miteigentümers auf seine Anteile verzichten müsse. Selbst wenn sich beide Parteien unkorrekt verhielten, könne die Fortführung der Gemeinschaft bei einer verwahrlosten und funktionsunfähigen Gemeinschaft unzumutbar sein.
2.3
Vorliegend stellt sich die grundsätzliche Frage, ob im Lichte von
Art. 649b ZGB
einem Mitglied der Stockwerkeigentümergemeinschaft, das auf Ausschluss eines anderen Mitgliedes klagt, die Fortsetzung der Gemeinschaft mit dem eingeklagten Mitglied zumutbar ist, wenn es sich selbst grob gemeinschaftswidrig verhält.
2.3.1
Die vor der Stockwerkeigentumsnovelle vom 19. Dezember 1963 geltende Regelung des Miteigentums kannte den Ausschluss eines missliebigen Mitgliedes der Gemeinschaft der Miteigentümer nicht. Diejenigen Miteigentümer, die sich infolge eines unverträglichen Gemeinschaftsmitgliedes zum Verkauf ihres Anteils gezwungen sahen, mussten unter Umständen mit Nachteilen rechnen, zumal sich das ungebührliche Verhalten eines Mitgliedes nachteilig auf den zu erwartenden Verkaufserlös auswirken oder den Verkauf sogar verunmöglichen konnte (HANS-PETER FRIEDRICH, Die Wiedereinführung des Stockwerkeigentums in der Schweiz, ZSR 75/1956 II S. 241a). Mit der Einfügung von
Art. 649b ZGB
in das schweizerische Zivilgesetzbuch wurde nach dem Vorbild namentlich des deutschen Wohneigentumsgesetzes (
§ 18 ff. WEG
/D) die bis anhin fehlende Möglichkeit geschaffen, beim Gericht auf Ausschluss eines renitenten Mitgliedes der Stockwerkeigentümergemeinschaft zu klagen (Botschaft des Bundesrates vom 7. Dezember 1962 an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Abänderung des vierten Teils des Zivilgesetzbuches [Miteigentum und Stockwerkeigentum], BBl 1962 II 1510). Die mit dieser Bestimmung eingeführte Ausschlussmöglichkeit schützt indes nur den
BGE 137 III 534 S. 537
Miteigentümer, der sich an die sich aus dem Gemeinschaftsverhältnis ergebenden rechtlichen und moralischen Regeln hält (vgl. PETER LIVER, Das Miteigentum als Grundlage des Stockwerkeigentums, in: Gedächtnisschrift Ludwig Marxer, Sonderdruck, S. 39; BRUNNER/WICHTERMANN, a.a.O., N. 3 zu
Art. 649b ZGB
). Die Bestimmung wird den Interessen der sich korrekt verhaltenden Mitgliedern der Gemeinschaft gerecht, indem sie ihnen einen wirkungsvollen Schutz gegenüber dem sich gemeinschaftswidrig benehmenden Mitglied bietet (RETO STRITTMATTER, Ausschluss aus Rechtsgemeinschaften, 2002, S. 27). Der Ausschluss aus der Stockwerkeigentümergemeinschaft, der von der Lehre etwa als eine Art privatrechtliche Enteignung qualifiziert wird (z.B. HANS-PETER FRIEDRICH, Das Stockwerkeigentum, Reglement für die Stockwerkeigentümer, 2. Aufl. 1972, § 51 S. 195 Rz. 1), stellt einen schweren Eingriff in die Rechte des betroffenen Mitgliedes dar. Dieser wird damit gerechtfertigt, dass die Interessen der sich korrekt verhaltenden Mitglieder höher einzustufen sind als jene der sich gemeinschaftswidrig verhaltenden (zum Ganzen: STRITTMATTER, a.a.O., S. 27 und 28).
Art. 649b ZGB
enthält eine lex specialis i.S. des wichtigen Grundes (vgl. BÄRMANN/PICK, Wohneigentumsgesetz, Kommentar, 18. Aufl. 2007, N. 3 zu
§ 18 WEG
/D). Er nimmt einen Gedanken auf, wie er sich auch in Dauerschuldverhältnissen - wie zum Beispiel der Miete - wiederfindet (zum Verweis auf andere Dauerschuldverhältnisse; WOLFGANG LÜKE, Wohneigentumsgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 1995, N. 2 zu
§ 18 WEG
/D). So sieht etwa
Art. 266g Abs. 1 OR
vor, dass die Parteien das Mietverhältnis aus wichtigen Gründen, welche die Vertragserfüllung für sie
unzumutbar
machen, mit der gesetzlichen Frist auf einen beliebigen Zeitpunkt kündigen können. Mit Bezug auf die Unzumutbarkeit wird hier von einem wesentlichen Teil der Literatur die Auffassung vertreten, dass solche Gründe nicht zur Auflösung des Mietverhältnisses führen können, die der Kündigende massgeblich (mit-)verschuldet hat (ROGER WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 5 zu
Art. 266g OR
S. 1464 mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen).
Im Lichte des mit
Art. 649b ZGB
verfolgten Zwecks, der Ausführungen in der Literatur und des Vergleichs mit der Bestimmung des Mietrechts ist die Auffassung des Obergerichts mit dem Bundesrecht vereinbar, die Fortführung der Gemeinschaft mit einem sich renitent verhaltenden Mitglied sei für denjenigen zumutbar, der sich selbst in grober Weise gemeinschaftswidrig verhält. Es wäre - wie
BGE 137 III 534 S. 538
das Obergericht zu Recht feststellt - in der Tat unbillig, den Ausschluss eines Mitgliedes anzuordnen, wenn sich auch das klagende Mitglied grob gemeinschaftswidrig verhält und für die eingetretene Situation mitverantwortlich ist. Anders entscheiden bedeutete im Ergebnis, die Interessen eines sich grob gemeinschaftswidrig verhaltenden Mitgliedes höher einzuschätzen und zu schützen, was dem Zweck der Bestimmung zuwiderliefe. Dem Beschwerdeführer ist unter diesen Umständen zuzumuten, das Gemeinschaftsverhältnis mit der Beschwerdegegnerin fortzusetzen oder aber seinen Anteil zu veräussern.
2.3.2
Das Obergericht hat eine schwere Mitverantwortung des Beschwerdeführers angenommen und zur Begründung namentlich auf dessen Verurteilung wegen mehrfacher übler Nachrede zulasten der Beschwerdegegnerin (Strafbefehl vom 11. September 2008) verwiesen. Erwähnt wird ferner ein Entscheid des Amtsstatthalteramtes vom 19. Juli 2000 betreffend Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung, weil er der im Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern vom 9. August 1999 enthaltenen Verpflichtung, das Stockwerkeigentümerreglement in einem bestimmten Umfang abzuändern, nicht nachgekommen war. Hingewiesen wird sodann auf einen Entscheid vom 11. Januar 1993, mit welchem das Amtsstatthalteramt Luzern ein vom Beschwerdeführer gegen die Beschwerdegegnerin und deren Ehemann angehobenes Strafverfahren eingestellt hat. Aufgeführt werden des Weiteren die vom Beschwerdeführer im Jahr 1999 veranlasste Sperrung des Telefonanschlusses des Ehemannes der Beschwerdegegnerin, das Urteil des Einzelrichters am Kantonsgericht Nidwalden vom 15. September 2009, mit dem eine Genugtuungsklage aus Ehrverletzung der Beschwerdegegnerin und deren Anwalts gegen den Beschwerdeführer gutgeheissen wurde, schliesslich eine Verurteilung des Beschwerdeführers vom 12. November 2010 wegen mehrfacher Verleumdung (
Art. 174 Ziff. 1 StGB
), namentlich begangen zum Nachteil der Beschwerdegegnerin. Der Beschwerdeführer behauptet einfach, er habe sich nicht in grober Weise gemeinschaftswidrig verhalten. Er setzt sich aber mit dem wiedergegebenen Teil der Begründung nicht rechtsgenüglich auseinander und stellt insbesondere die aufgeführten tatsächlichen Begebenheiten nicht rechtsgenüglich infrage, sodass sich Weiterungen dazu erübrigen. Angesichts der auch in jüngster Vergangenheit ausgetragenen Gerichtsverfahren, die alle zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgegangen sind,
BGE 137 III 534 S. 539
durfte das Obergericht ohne Verletzung seines Ermessenspielraums (ARTHUR MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, 1966, N. 73 zu
Art. 4 ZGB
;
BGE 132 III 49
E. 2.1 S. 51;
BGE 130 III 571
E. 4.3 S. 576; je mit Hinweisen) annehmen, der Beschwerdeführer habe sich entgegen seinen Behauptungen selbst grob gemeinschaftswidrig verhalten und habe dadurch die Klageverfahren provoziert, und es könne der Beschwerdegegnerin somit nicht vorgeworfen werden, sie habe böswillig gegen die Stockwerkeigentümergemeinschaft geklagt.
2.4
Nach dem Gesagten hat das Obergericht mit der Abweisung der Klage wegen grob gemeinschaftswidrigen Verhaltens des Beschwerdeführers kein Bundesrecht verletzt. | de |
0581c139-a207-4c4b-a44f-85451158cd3d | 817.024.1 1 Verordnung des EDI über die Hygiene beim Umgang mit Lebensmitteln (Hygieneverordnung EDI, HyV) vom 16. Dezember 2016 (Stand am 1. Juli 2020) Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI), gestützt auf die Artikel 10 Absätze 4 und 5 und 95 Absatz 3 der Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständeverordnung vom 16. Dezember 20161 (LGV), verordnet: 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Gegenstand 1 Diese Verordnung regelt: a. die beim Umgang mit Lebensmitteln zu beachtende Hygiene; b. die Hygiene des Personals von Lebensmittelbetrieben und seine Schulung in Hygienefragen; c. die thermischen Verfahren und die Verarbeitungshygiene; d. besondere Bestimmungen für Lebensmittel tierischer Herkunft; e. spezielle Bestimmungen über die hygienische Milchverarbeitung in Sömme- rungsbetrieben; f. die für Lebensmittel geltenden mikrobiologischen Kriterien. 2 Vorbehalten bleiben die spezifischen Anforderungen der Verordnung vom 23. November 20052 über die Primärproduktion. Art. 2 Abweichungen 1 Die zuständige kantonale Vollzugsbehörde kann im Einzelfall Abweichungen von den allgemeinen Hygienevorschriften nach den Artikeln 6–19 zulassen für: a. Produzentinnen und Produzenten, die ausschliesslich selbst produzierte Pri- märprodukte direkt oder über lokale Einzelhandelsbetriebe in kleinen Men- gen an Konsumentinnen und Konsumenten abgeben; b. Einzelhandelsbetriebe, die Lebensmittel nur direkt an Konsumentinnen und Konsumenten abgeben. AS 2017 2009 1 SR 817.02 2 SR 916.020 817.024.1 Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 2 817.024.1 2 Die zuständige kantonale Vollzugsbehörde kann im Einzelfall Abweichungen von den Artikeln 7, 9 und 13 zulassen für: a. die Herstellung von traditionellen Lebensmitteln; b. Betriebe in schwierigen geografischen Lagen; als solche gelten das Sömme- rungsgebiet sowie das Berggebiet nach Artikel 1 Absätze 2 und 3 der Land- wirtschaftliche Zonen-Verordnung vom 7. Dezember 19983. 3 Die Grundsätze von Artikel 10 Absätze 1 bis 3 LGV sind in jedem Fall einzuhal- ten. Art. 3 Sorgfaltspflicht 1 Die verantwortliche Person muss Sorge dafür tragen, dass auf allen Herstellungs-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen die Hygienevorschriften dieser Verordnung eingehalten werden. 2 Sie muss namentlich sicherstellen, dass: a. die Temperaturvorschriften für Lebensmittel eingehalten werden und die Kühlkette nicht unterbrochen wird; b. die in Anhang 1 festgelegten mikrobiologischen Kriterien eingehalten wer- den. Art. 4 Begriffe 1 Genussfertige Lebensmittel sind Lebensmittel, die von der Herstellerin oder dem Hersteller zum unmittelbaren menschlichen Verzehr bestimmt sind, ohne dass eine weitere Erhitzung oder eine sonstige Verarbeitung zur Abtötung der entsprechenden Mikroorganismen oder zu deren Reduzierung auf ein akzeptables Niveau erforder- lich ist. 2 Ein mikrobiologisches Kriterium ist ein Kriterium, das die Akzeptabilität eines Produkts, einer Partie Lebensmittel oder eines Prozesses anhand des Nichtvorhan- denseins, des Vorhandenseins oder der Anzahl von Mikroorganismen oder anhand der Menge ihrer Toxine oder Metaboliten pro definierte Einheit festlegt. Es wird unterschieden zwischen: a. Lebensmittelsicherheitskriterium; b. Prozesshygienekriterium; c.4 mikrobiologischem Richtwert für die Überprüfung der guten Verfahrens- praxis. 3 Mit einem Lebensmittelsicherheitskriterium wird die Akzeptabilität eines sich im Handel befindlichen Produkts oder einer sich im Handel befindlichen Partie Le- bensmittel festgelegt. 3 SR 912.1 4 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Hygieneverordnung EDI 3 817.024.1 4 Ein Prozesshygienekriterium gibt die akzeptable Funktionsweise des Herstellungs- prozesses an. Bei dessen Überschreitung sind die erforderlichen Korrekturmassnah- men zur Sicherstellung der Prozesshygiene zu treffen. Es gilt nicht für sich im Handel befindliche Produkte. 5 Ein mikrobiologischer Richtwert für die Überprüfung der guten Verfahrenspraxis bezeichnet die Anzahl Mikroorganismen, die erfahrungsgemäss in hergestellten, verarbeiteten oder zubereiteten Produkten während ihrer Haltbarkeitsdauer nicht überschritten wird, wenn die Rohstoffe sorgfältig ausgewählt werden, die gute Verfahrenspraxis eingehalten und das Produkt sachgerecht aufbewahrt wird.5 6 In dieser Verordnung gilt als Partie eine Gruppe oder Serie bestimmbarer Erzeug- nisse, die anhand eines bestimmten Prozesses unter praktisch identischen Bedingun- gen gewonnen und an einem bestimmten Ort in einem festgelegten Produktionszeit- raum hergestellt werden. 7 Tiefgefrorene Lebensmittel sind Lebensmittel, mit Ausnahme von Speiseeis, die einem Gefrierprozess, wie Tiefgefrieren, unterzogen worden sind, bei dem der Temperaturbereich der maximalen Kristallisation entsprechend der Art des Erzeug- nisses so schnell wie nötig durchschritten wird, mit der Wirkung, dass die Tempera- tur des Erzeugnisses nach der thermischen Stabilisierung ständig bei Werten von mindestens –18 °C gehalten wird. 8 Ein Sömmerungsbetrieb ist ein Betrieb nach Artikel 9 der Landwirtschaftlichen Begriffsverordnung vom 7. Dezember 19986. 9 Sauberes Süsswasser ist natürliches, künstliches oder gereinigtes Süsswasser, das keine Mikroorganismen und keine schädlichen Stoffe in Mengen aufweist, die die Gesundheitsqualität von Lebensmitteln direkt oder indirekt beeinträchtigen können. Art. 5 Untersuchungsmethoden 1 Proben sind nach den analytischen Referenzmethoden in Anhang 1 zu untersuchen. 2 Andere Untersuchungsmethoden sind zulässig, wenn sie anhand der Referenzme- thode nach international anerkannten Protokollen validiert sind und zu gleichen Beurteilungen führen wie die Referenzmethoden. 2. Kapitel: Allgemeine Hygienevorschriften für den Umgang mit Lebensmitteln Art. 6 Allgemeine Vorschriften für Lebensmittelbetriebe 1 Räume und Einrichtungen von Lebensmittelbetrieben müssen sauber sein und stets instand gehalten werden. 5 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 6 SR 910.91 Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 4 817.024.1 2 Räume und Einrichtungen müssen so konzipiert, angelegt, gebaut, gelegen und bemessen sein, dass folgende Anforderungen erfüllt werden können: a. Sie müssen zweckdienlich instand gehalten, gereinigt und desinfiziert wer- den können, aerogene Kontaminationen müssen vermieden oder auf ein Mindestmass beschränkt werden können. Es müssen ausreichende Arbeits- flächen vorhanden sein, die hygienisch einwandfreie Arbeitsgänge ermögli- chen. b. Die Ansammlung von Schmutz, der Kontakt mit toxischen Stoffen, das Ein- dringen von Fremdteilchen in Lebensmittel, die Bildung von Kondensflüs- sigkeit und unerwünschte Schimmelbildung auf Oberflächen muss vermie- den werden können. c. Es muss eine gute Lebensmittelhygiene gewährleistet sein, die auch den Schutz vor Kontamination beinhaltet. d. Soweit erforderlich müssen geeignete, temperaturkontrollierte Bearbeitungs- und Lagerräume von ausreichender Kapazität vorhanden sein, damit die Le- bensmittel auf einer geeigneten Temperatur gehalten werden können und ei- ne Überwachung beziehungsweise erforderlichenfalls die Registrierung der Temperatur möglich ist. e. Abwasserableitungssysteme müssen zweckdienlich so konzipiert und gebaut sein, dass jedes Risiko der Kontamination von Lebensmitteln vermieden wird. Abwässer in offenen oder teilweise offenen Abflussrinnen dürfen nicht aus einem kontaminierten in einen reinen Bereich fliessen können, insbe- sondere nicht in einen Bereich, in dem mit Lebensmitteln umgegangen wird, falls damit ein erhöhtes Risiko für Konsumentinnen und Konsumenten ver- bunden sein könnte. f. Bereiche, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, müssen über eine angemessene natürliche oder künstliche Beleuchtung verfügen. g. Räume und Installationen müssen frei von Schädlingen und Ungeziefer ge- halten werden. Erforderlichenfalls sind geeignete Verfahren zur Bekämp- fung vorzusehen. h. Reinigungs- und Desinfektionsmittel dürfen nicht in Räumen gelagert wer- den, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird. Art. 7 Besondere Vorschriften für Räume 1 Räume, in denen Lebensmittel zubereitet, verarbeitet oder behandelt werden, müssen so konzipiert und angelegt sein, dass eine gute Lebensmittelhygiene gewähr- leistet ist und Kontaminationen während der Arbeitsgänge und zwischen den Ar- beitsgängen vermieden werden. 2 Sie müssen insbesondere folgende Anforderungen erfüllen: a. Die Bodenbeläge sind in einwandfreiem Zustand zu halten und müssen leicht zu reinigen und erforderlichenfalls zu desinfizieren sein. Sie müssen wasserundurchlässig, wasserabstossend und abriebfest sein und aus nicht- toxischem Material bestehen. Gegebenenfalls müssen sie ein geeignetes Ab- Hygieneverordnung EDI 5 817.024.1 flusssystem aufweisen. Die verantwortliche Person kann gegenüber der zu- ständigen kantonalen Vollzugsbehörde nachweisen, dass andere verwendete Materialien geeignet sind. b. Die Wandflächen sind in einwandfreiem Zustand zu halten und müssen leicht zu reinigen und erforderlichenfalls zu desinfizieren sein. Sie müssen wasserundurchlässig, wasserabstossend und abriebfest sein und aus nicht- toxischem Material bestehen sowie bis zu einer den jeweiligen Arbeitsvor- gängen angemessenen Höhe glatte Flächen aufweisen. Die verantwortliche Person kann gegenüber der zuständigen kantonalen Vollzugsbehörde nach- weisen, dass andere verwendete Materialien geeignet sind. c. Decken, direkt sichtbare Dachinnenseiten und Deckenstrukturen müssen so gebaut und verarbeitet sein, dass Schmutzansammlungen vermieden und Kondensation, unerwünschter Schimmelbefall sowie das Ablösen von Mate- rialteilchen auf ein Mindestmass beschränkt werden. d. Fenster und andere Öffnungen müssen so gebaut sein, dass Schmutzan- sammlungen vermieden werden. Lassen sie sich nach aussen öffnen, so müssen sie erforderlichenfalls mit Insektengittern versehen sein, die zu Rei- nigungszwecken leicht entfernt werden können. Begünstigen offene Fenster die Kontamination, so müssen sie während des Herstellungs-, des Verarbei- tungs- oder des Behandlungsprozesses geschlossen bleiben. e. Türen müssen leicht zu reinigen und erforderlichenfalls zu desinfizieren sein. Entsprechend müssen sie glatte und wasserabstossende Oberflächen haben. Die verantwortliche Person kann gegenüber der zuständigen kanto- nalen Vollzugsbehörde nachweisen, dass andere verwendete Materialien ge- eignet sind. f. Flächen in Bereichen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, und insbesondere Flächen, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen, sind in einwandfreiem Zustand zu halten und müssen leicht zu reinigen und erfor- derlichenfalls zu desinfizieren sein. Sie müssen entsprechend aus korrosions- festem, glattem, abriebfestem und nichttoxischem Material bestehen. Die verantwortliche Person kann gegenüber der zuständigen kantonalen Voll- zugsbehörde nachweisen, dass andere verwendete Materialien geeignet sind. 3 Falls erforderlich, müssen geeignete Vorrichtungen zum Reinigen, Desinfizieren und Lagern von Arbeitsgeräten und Ausrüstungen vorhanden sein. Diese Vorrich- tungen müssen korrosionsfest und leicht zu reinigen sein und über eine angemessene Warm- und Kaltwasserzufuhr verfügen. Art. 8 Vorrichtungen zum Waschen von Lebensmitteln 1 Zum Waschen der Lebensmittel müssen, falls erforderlich, geeignete separate Vorrichtungen vorhanden sein. 2 Jede Vorrichtung zum Waschen von Lebensmitteln muss je nach Bedarf über eine Zufuhr von warmem oder kaltem Trinkwasser verfügen. 3 Sie muss sauber gehalten sowie erforderlichenfalls desinfiziert werden. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 6 817.024.1 Art. 9 Sanitäre Einrichtungen in Lebensmittelbetrieben 1 In Lebensmittelbetrieben müssen genügend Toiletten mit Wasserspülung und Kanalisationsanschluss vorhanden sein. Toilettenräume dürfen nicht direkt in Räume öffnen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird. 2 An geeigneten Standorten müssen genügend Handwaschbecken mit Warm- und Kaltwasseranschluss sowie Material zum hygienischen Händewaschen und Hände- trocknen vorhanden sein. 3 Alle sanitären Einrichtungen müssen über eine angemessene natürliche oder künst- liche Belüftung verfügen. Art. 10 Belüftung in Lebensmittelbetrieben 1 Die Bereiche von Lebensmittelbetrieben, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, müssen ausreichend natürlich oder künstlich belüftet sein. 2 Künstlich erzeugte Luftströmungen aus einem kontaminierten in einen reinen Bereich sind zu vermeiden. 3 Die Lüftungssysteme müssen so installiert sein, dass Filter und andere Teile, die gereinigt oder ausgetauscht werden müssen, leicht zugänglich sind. Art. 11 Nicht ortsfeste Einrichtungen, vorrangig als private Wohngebäude genutzte Einrichtungen, in denen jedoch Lebensmittel regelmässig für das Inverkehrbringen zubereitet werden, sowie Verkaufsautomaten 1 Nicht ortsfeste Einrichtungen wie Marktstände, Verkaufszelte oder Verkaufsfahr- zeuge, vorrangig als private Wohngebäude genutzte Einrichtungen, in denen jedoch Lebensmittel regelmässig für das Inverkehrbringen zubereitet werden sowie Ver- kaufsautomaten müssen, soweit praktisch durchführbar, so gelegen, konzipiert und gebaut sein, dass das Risiko der Kontamination, insbesondere durch Tiere, Schäd- linge und Ungeziefer weitestgehend vermieden wird. Sie müssen entsprechend sauber und instand gehalten werden. 2 Insbesondere müssen erforderlichenfalls folgende Anforderungen erfüllt sein: a. Es müssen geeignete Vorrichtungen zur Verfügung stehen, damit die persön- liche Hygiene gewährleistet ist. Dazu gehören insbesondere Vorrichtungen zum hygienischen Waschen und Trocknen der Hände sowie hygienisch ein- wandfreie sanitäre Anlagen und Umkleideräume. b. Flächen, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen, sind in einwandfrei- em Zustand zu halten und müssen leicht zu reinigen und erforderlichenfalls zu desinfizieren sein. Sie müssen aus korrosionsfestem, glattem, abriebfes- tem und nichttoxischem Material bestehen. c. Es müssen geeignete Vorrichtungen zum Reinigen und erforderlichenfalls Desinfizieren von Arbeitsgeräten und Ausrüstungen vorhanden sein. Hygieneverordnung EDI 7 817.024.1 d. Müssen Lebensmittel gesäubert werden, so muss dafür gesorgt sein, dass die jeweiligen Arbeitsgänge unter hygienisch einwandfreien Bedingungen ab- laufen können. e. Die Zufuhr einer ausreichenden Menge an warmem oder kaltem Trinkwasser muss gewährleistet sein. f. Es müssen angemessene Einrichtungen oder Vorrichtungen zur hygienischen Lagerung und Entsorgung von gesundheitlich bedenklichen oder ungeniess- baren Stoffen und Abfällen vorhanden sein. g. Es müssen Vorrichtungen oder Einrichtungen zur Haltung und Überwa- chung geeigneter Temperaturbedingungen für die Lebensmittel vorhanden sein. h. Die Lebensmittel müssen, soweit praktisch durchführbar, so aufbewahrt werden, dass das Risiko einer Kontamination vermieden wird. Art. 12 Transport 1 Transportbehälter zur Beförderung von Lebensmitteln müssen sauber und instand gehalten werden, damit die Lebensmittel vor Kontamination geschützt sind. Sie müssen erforderlichenfalls so konzipiert und gebaut sein, dass sie zweckmässig gereinigt oder desinfiziert werden können. 2 Besteht die Gefahr, dass Lebensmittel durch andere Transportgüter kontaminiert werden, so müssen Transportbehälter verwendet werden, die ausschliesslich der Beförderung von Lebensmitteln dienen. 3 Dienen Transportbehälter der gleichzeitigen Beförderung von Lebensmitteln und anderen Waren oder von verschiedenen Lebensmitteln, so sind diese Erzeugnisse erforderlichenfalls streng voneinander zu trennen. 4 Werden Transportbehälter auch für die Beförderung anderer Waren als Lebensmit- tel oder für die Beförderung verschiedener Lebensmittel verwendet, so sind sie zwischen den einzelnen Ladungsvorgängen sorgfältig zu reinigen. 5 Für Lebensmittel, die in flüssigem, granulat- oder pulverförmigem Zustand als Massengut befördert werden, müssen Transportbehälter verwendet werden, die ausschliesslich der Beförderung von Lebensmitteln vorbehalten sind. Diese Trans- portbehälter sind in einer Amtssprache des Bundes deutlich sichtbar und dauerhaft als ausschliessliches Beförderungsmittel für Lebensmittel anzuschreiben. 6 Lebensmittel sind in Transportbehältern so zu platzieren und zu schützen, dass das Kontaminationsrisiko so gering wie möglich gehalten wird. 7 Transportbehälter, die zur Beförderung von Lebensmitteln verwendet werden, die auf einer bestimmten Temperatur gehalten werden müssen, müssen so beschaffen sein, dass die Lebensmittel auf der geeigneten Temperatur gehalten werden können und dass eine Überwachung der Transporttemperatur möglich ist. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 8 817.024.1 Art. 13 Ausrüstungen 1 Für Ausrüstungen, wie Gefässe, Apparate, Werkzeuge, sowie weitere Gegenstände und Vorrichtungen, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen, gelten folgende Vorschriften: a. Sie müssen zur Vermeidung einer Kontamination regelmässig gründlich ge- reinigt und erforderlichenfalls desinfiziert werden. Ausgenommen sind Ein- wegbehälter und -verpackungen. b. Sie müssen so gebaut und beschaffen sein und instand gehalten werden, dass das Risiko einer Kontamination so gering wie möglich ist. c. Sie müssen so installiert sein, dass sie und das unmittelbare Umfeld ange- messen gereinigt werden können. d. Sie müssen erforderlichenfalls mit entsprechenden Kontrollvorrichtungen versehen sein. 2 Sind chemische Zusatzstoffe erforderlich, um eine Korrosion der Ausrüstungen zu verhindern, so müssen diese nach guter fachlicher Praxis verwendet werden. Art. 14 Halten und Mitführen von Tieren 1 In Räumen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, dürfen Tiere weder gehalten noch mitgeführt werden. 2 Ausgenommen sind: a. Hunde, die eine behinderte Person führen oder begleiten; b. Hunde in Begleitung des Gastes in Gästeräumen von Gastgewerbebetrieben, wenn die verantwortliche Person dies erlaubt; c. Tiere, die in Gästeräumen von Gastgewerbebetrieben so gehalten werden, dass kein Kontaminationsrisiko besteht, namentlich in Aquarien und in Ter- rarien. Art. 15 Abfälle 1 Lebensmittelabfälle, ungeniessbare Nebenerzeugnisse und andere Abfälle müssen aus Räumen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, so schnell wie möglich entfernt werden. 2 Sie sind in verschliessbaren Behältern zu lagern. Diese müssen geeignet sein, einwandfrei instand gehalten werden können und leicht zu reinigen und erforderli- chenfalls leicht zu desinfizieren sein. 3 Es sind geeignete Vorkehrungen für die Lagerung und die Entsorgung von Le- bensmittelabfällen, ungeniessbaren Nebenerzeugnissen und anderen Abfällen zu treffen. 4 Abfallsammelräume müssen so konzipiert und geführt werden, dass sie sauber sowie frei von Tieren und Ungeziefer gehalten werden können. Sie sind nötigenfalls zu kühlen. Hygieneverordnung EDI 9 817.024.1 5 Abfälle sind hygienisch einwandfrei zu entsorgen. Sie dürfen Lebensmittel weder direkt noch indirekt kontaminieren. 6 Die verantwortliche Person kann gegenüber der zuständigen kantonalen Vollzugs- behörde nachweisen, dass andere Behälterarten oder andere Entsorgungssysteme ebenso geeignet sind. Art. 16 Wasserversorgung 1 In Lebensmittelbetrieben muss in ausreichender Menge Trinkwasser nach der Verordnung des EDI vom 16. Dezember 20167 über Trinkwasser sowie Wasser in öffentlich zugänglichen Bädern und Duschanlagen zur Verfügung stehen. 2 Trinkwasser ist immer dann zu verwenden, wenn gewährleistet sein muss, dass Lebensmittel nicht kontaminiert werden. 3 Wasser, das zur Verarbeitung oder zur Verwendung als Zutat aufbereitet wird, darf für das betreffende Lebensmittel keine mikrobiologische, chemische oder physikali- sche Gefahrenquelle darstellen und muss den Anforderungen an Trinkwasser ent- sprechen. 4 Eis, das mit Lebensmitteln in Berührung kommt oder das eine Kontaminations- quelle für Lebensmittel darstellen kann, muss aus Trinkwasser hergestellt werden. Das Eis muss so hergestellt, behandelt und gelagert werden, dass jegliche Kontami- nation ausgeschlossen ist. 5 Dampf, der direkt mit Lebensmitteln in Berührung kommt, darf weder gesund- heitsgefährdende Stoffe enthalten noch die Lebensmittel kontaminieren. 6 Brauchwasser, das zur Brandbekämpfung, Dampferzeugung, Kühlung oder zu ähnlichen Zwecken verwendet wird, ist separat zu leiten und als solches zu kenn- zeichnen. Die betreffenden Installationen müssen in Abhängigkeit des trinkwasser- gefährdenden Potentials der Brauchwasserqualität nach den anerkannten Regeln der Technik rückflussgesichert sein. Art. 17 Rohstoffe, Zutaten und Lebensmittel 1 Die verantwortliche Person darf Rohstoffe oder Zutaten nicht akzeptieren, wenn diese erwiesenermassen oder aller Voraussicht nach derart mit Parasiten, pathogenen Mikroorganismen oder toxischen, verdorbenen oder fremden Stoffen kontaminiert sind, dass sie auch nach ihrer normalen Aussortierung oder nach einer hygienisch einwandfreien Vorbehandlung oder Verarbeitung nicht zum Verzehr durch den Menschen geeignet sind. 2 Rohe, nicht genussfertige Lebensmittel sind von genussfertigen Lebensmitteln getrennt aufzubewahren. Bei der Verarbeitung und der Zubereitung, namentlich beim Waschen und beim Rüsten, sind zur Abgrenzung geeignete Vorkehrungen zu treffen. 7 SR 817.022.11 Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 10 817.024.1 3 Rohstoffe und Zutaten, die in einem Lebensmittelbetrieb vorrätig gehalten werden, sind so zu lagern, dass ein gesundheitsgefährdender Verderb verhindert wird und der Schutz vor Kontamination gewährleistet ist. 4 Lebensmittel sind bei der Herstellung, der Verarbeitung, der Behandlung, der Lagerung, der Verpackung, der Abgabe und dem Transport vor Kontaminationen zu schützen, die sie nicht zum Verzehr durch den Menschen geeignet machen. 5 Gesundheitsgefährdende oder ungeniessbare Stoffe sind entsprechend zu etikettie- ren und in separaten, verschlossenen Behältnissen zu lagern. Art. 18 Offenangebot von Lebensmitteln 1 Lebensmittel, die an Verkaufsstellen oder in Verpflegungsstätten offen zur Selbst- bedienung angeboten werden oder die den Konsumentinnen und Konsumenten sonst zugänglich sind, dürfen durch den Umstand, dass sie unverpackt sind, nicht nachtei- lig beeinflusst werden. 2 Zur Selbstbedienung müssen geeignete Bedienungswerkzeuge und Verpackungs- materialien vorhanden sein. Art. 19 Umhüllen und Verpacken von Lebensmitteln 1 Umhüllungs- und Verpackungsmaterial darf keine Kontaminationsquelle für Le- bensmittel darstellen. Insbesondere wenn Metall oder Glas verwendet wird, ist sicherzustellen, dass das betreffende Behältnis sauber und nicht beschädigt ist. 2 Umhüllungs- und Verpackungsmaterial muss so gelagert werden, dass es nicht kontaminiert werden kann. 3 Umhüllungs- und Verpackungsmaterial, das für Lebensmittel wiederverwendet wird, muss leicht zu reinigen und erforderlichenfalls leicht zu desinfizieren sein. 3. Kapitel: Persönliche Hygiene und Schulung Art. 20 Persönliche Hygiene 1 Personen, die in einem Lebensmittelbetrieb beschäftigt sind, müssen im Umgang mit Lebensmitteln auf persönliche Hygiene und Sauberkeit achten. 2 Die Arbeitskleidung oder die Schutzkleidung muss zweckmässig und sauber sein. 3 Lebensmittelbetriebe müssen über die nötigen Umkleideräume und über Einrich- tungen für die persönliche Hygiene verfügen. 4 Die verantwortliche Person muss das Personal zur persönlichen Hygiene, insbe- sondere zur Hände-, Körper- und Kleiderhygiene anhalten. Art. 21 Kranke oder verletzte Personen 1 Personen, die akut an einer durch Lebensmittel übertragbaren Krankheit leiden, ist der Zugang zu Bereichen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, verboten. Hygieneverordnung EDI 11 817.024.1 2 Für Personen, die nach der Genesung noch Erreger ausscheiden oder die eine infizierte Wunde, eine Hautverletzung oder Ähnliches aufweisen, ist der Zugang zu Bereichen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, verboten, sofern nicht durch geeignete Hygienemassnahmen sichergestellt wird, dass eine direkte oder indirekte Kontamination von Lebensmitteln ausgeschlossen ist. 3 Sind Personen, die in einem Lebensmittelbetrieb arbeiten und mit Lebensmitteln in Berührung kommen können, von einer durch Lebensmittel übertragbaren Krankheit betroffen, so haben sie der verantwortlichen Person Krankheiten und Symptome und soweit möglich auch deren Ursachen unverzüglich zu melden. 4 Treten in einem Lebensmittelbetrieb gleichzeitig bei mehreren Personen durch Lebensmittel übertragbare Krankheiten auf, so muss die verantwortliche Person dies der zuständigen kantonalen Vollzugsbehörde melden. Art. 22 Schulung und Überwachung 1 Die verantwortliche Person hat zu gewährleisten, dass Betriebsangestellte, die mit Lebensmitteln umgehen, entsprechend ihrer Tätigkeit überwacht und in Fragen der Lebensmittelhygiene angewiesen oder geschult sind. 2 Die verantwortliche Person hat zu gewährleisten, dass Betriebsangestellte, die für die Entwicklung und Anwendung der Verfahren nach Artikel 78 Absatz 1 LGV zuständig sind, in allen Fragen der Anwendung der Grundsätze der Gefahrenanalyse und der kritischen Kontrollpunkte (Hazard Analysis and Critical Control Points, HACCP-Grundsätze) angemessen geschult sind. Art. 23 Zutritt betriebsfremder Personen Die verantwortliche Person regelt den Zutritt betriebsfremder Personen, namentlich Besucherinnen und Besucher, zu Bereichen, in denen mit Lebensmitteln umgegan- gen wird, und legt die notwendigen Hygienemassnahmen fest. 4. Kapitel: Thermische Verfahren und Verarbeitungshygiene Art. 24 Kühlung 1 Rohstoffe, Zutaten, Zwischenerzeugnisse und genussfertige Lebensmittel, die die Vermehrung pathogener Mikroorganismen oder die Bildung von Toxinen fördern können, müssen bei Temperaturen aufbewahrt werden, die dies weitestgehend verhindern. 2 Kühltemperaturen sind so zu wählen, dass die Lebensmittelsicherheit jederzeit gewährleistet ist. Bei der Abgabe an Konsumentinnen und Konsumenten oder bis zum Erreichen des Verbrauchsdatums müssen insbesondere die im Anhang 1 festge- legten mikrobiologischen Kriterien eingehalten werden. 3 Die Kühlkette darf nicht unterbrochen werden. Von Temperaturvorschriften darf höchstens für eine begrenzte Zeit abgewichen werden, sofern dies bei der Zuberei- tung, beim Transport, bei der Lagerung, bei der Abgabe oder beim Servieren des Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 12 817.024.1 Lebensmittels erforderlich ist und die Gesundheit der Konsumentinnen und Konsu- menten dadurch nicht gefährdet wird. Art. 25 Tiefgefrieren 1 Lebensmittel, die von einwandfreier und handelsüblicher Qualität sind und den nötigen Frischegrad besitzen, können zur Verlängerung ihrer Haltbarkeit oder zur Erhöhung der hygienisch-mikrobiologischen Sicherheit tiefgefroren werden. 2 Das Verfahren ist so anzuwenden, dass die stoffliche Zusammensetzung sowie die physikalischen, ernährungsphysiologischen und sensorischen Eigenschaften des Lebensmittels möglichst wenig verändert werden. 3 Tiefgefrorene Lebensmittel müssen bei –18 °C oder kälter gehalten werden. Die Kühlkette darf nicht unterbrochen werden. Die Lagertemperatur darf während des Transportes und beim Abtauen der Tiefkühlgeräte im Detailhandel kurzfristig erhöht werden. Die Produkttemperatur darf in den Randschichten –15 °C jedoch nicht übersteigen. 4 Tiefgefrorene Lebensmittel müssen vorverpackt sein. Ausgenommen sind Roh- oder Zwischenprodukte, die zur industriellen oder gewerblichen Verarbeitung be- stimmt sind. 5 Tiefgefrorene Lebensmittel sind so aufzutauen, dass das Risiko der Entwicklung pathogener Mikroorganismen oder die Bildung von Toxinen in den Lebensmitteln auf ein Mindestmass beschränkt wird. Sie müssen bei einer Temperatur auftauen, die kein Gesundheitsrisiko birgt. Sofern Tauflüssigkeit ein Gesundheitsrisiko darstellt, muss diese abfliessen können. Aufgetaute Lebensmittel müssen so bearbeitet wer- den, dass das Risiko der Entwicklung pathogener Mikroorganismen oder der Bil- dung von Toxinen auf ein Mindestmass beschränkt wird. 6 In unmittelbaren Kontakt mit tiefgefrorenen Lebensmitteln dürfen nur folgende Gefriermittel gelangen: a. Luft; b. Stickstoff; c. Kohlendioxid. 7 Die Vorgaben zur Überwachung der Temperaturen von tiefgefrorenen Lebensmit- teln in Beförderungsmitteln sowie in Einlagerungs- und Lagereinrichtungen sind in Anhang 2 festgelegt. Art. 26 Hitzebehandlungen 1 Lebensmittel, die sich dazu eignen, können zur Verlängerung ihrer Haltbarkeit oder zur Erhöhung der hygienisch-mikrobiologischen Sicherheit einer Hitzebehand- lung unterzogen werden. Hitzebehandlungen sind so durchzuführen, dass die stoff- liche Zusammensetzung sowie die physikalischen, ernährungsphysiologischen und sensorischen Eigenschaften der Lebensmittel möglichst wenig verändert werden. 2 Lebensmittel gelten als: Hygieneverordnung EDI 13 817.024.1 a. pasteurisiert, wenn sie auf mindestens 63 °C erhitzt und bei dieser Tempera- tur oder höheren Temperaturen so lange gehalten werden, bis alle vegetati- ven pathogenen Keime abgetötet sind; b. ultrahocherhitzt (UHT), wenn sie auf Temperaturen von 135–155 °C erhitzt und während einiger Sekunden auf einer solchen Temperatur gehalten wer- den, bis alle wachstumsfähigen Mikroorganismen und Sporen abgetötet sind; c. sterilisiert, wenn sie einem Erhitzungsverfahren unterzogen werden, das Gewähr bietet, dass das Lebensmittel unter normalen Lagerbedingungen weder mikrobiell noch enzymatisch verderben kann. 3 Andere Hitzebehandlungen sind im Rahmen von Absatz 1 zulässig. Vorbehalten bleiben die produktspezifischen Vorschriften des 5. Kapitels zu Lebensmitteln tierischer Herkunft. 4 Für alle Lebensmittel, die in hermetisch verschlossenen Behältnissen an Konsu- mentinnen und Konsumenten abgegeben werden, gilt: a. Bei jeder Hitzebehandlung zur Verarbeitung eines unverarbeiteten Erzeug- nisses oder zur Weiterverarbeitung eines verarbeiteten Erzeugnisses muss jeder Teil des behandelten Erzeugnisses für eine bestimmte Zeit auf eine be- stimmte Temperatur erhitzt werden. Dabei muss verhindert werden, dass das Erzeugnis während dieses Prozesses kontaminiert wird. b. Die verantwortliche Person muss regelmässig die wichtigsten in Betracht kommenden Parameter wie die Temperatur, den Druck, die Versiegelung oder den mikrobiologischen Zustand überprüfen, unter anderem auch durch die Verwendung automatischer Vorrichtungen, um sicherzustellen, dass mit dem angewandten Verfahren die angestrebten Ziele erreicht werden. c. Es ist sicherzustellen, dass das Wasser, das nach dem Erhitzen zum Kühlen der Behältnisse verwendet wird, keine Kontaminationsquelle darstellt. d. Das angewandte Verfahren, wie Pasteurisation, Ultrahocherhitzung oder Ste- rilisation, soll international anerkannten Normen entsprechen. Art. 27 Kühlhalten, Warmhalten 1 Sollen Lebensmittel und Speisen kühl vorrätig gehalten oder serviert werden, so müssen sie nach ihrer Erhitzung oder ihrer sonstigen Zubereitung so schnell wie möglich auf eine Temperatur abgekühlt werden, die kein Gesundheitsrisiko birgt und den Verderb verzögert. 2 Das Warmhalten von Speisen muss bei Temperaturen erfolgen, die die Vermeh- rung schädlicher Mikroorganismen verhindert. 3 Das Kühl- und das Warmhalten von Lebensmitteln und Speisen müssen mit geeig- neten Temperaturmessgeräten sowie Kühl-, Tiefgefrier- oder Warmhalteeinrichtun- gen jederzeit gesichert sein und im Rahmen der Selbstkontrolle kontrolliert werden. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 14 817.024.1 5. Kapitel: Besondere Bestimmungen für Lebensmittel tierischer Herkunft 1. Abschnitt: Fleisch und daraus hergestellte Erzeugnisse Art. 28 Zerlege- und Herstellungsbetriebe 1 Zerlege- und Herstellungsbetriebe müssen so ausgelegt sein, dass eine Kontamina- tion des Fleisches und der daraus hergestellten Verarbeitungserzeugnisse vermieden wird. Insbesondere muss sichergestellt sein, dass: a. die Arbeitsvorgänge ununterbrochen vorangehen; oder b. eine zeitliche Trennung zwischen den verschiedenen Produktionspartien ge- währleistet ist. 2 Zum Verarbeiten bestimmtes Fleisch darf nur nach und nach, je nach Bedarf, in die Arbeitsräume gebracht werden. 3 Der Betrieb muss über folgende Einrichtungen verfügen: a. getrennte Räume für die Lagerung von verpacktem und unverpacktem Fleisch sowie von verpackten und unverpackten Erzeugnissen, es sei denn, die Erzeugnisse werden zu verschiedenen Zeitpunkten oder in einer Weise gelagert, die gewährleistet, dass das Fleisch durch das Verpackungsmaterial und die Art der Lagerung nicht kontaminiert werden kann; b. Handwaschvorrichtungen für das mit unverpacktem Fleisch umgehende Per- sonal, die so ausgelegt sind, dass eine Kontamination nicht weitergegeben werden kann; c. Desinfektionsvorrichtungen für Arbeitsgeräte mit einer Wassertemperatur von mindestens 82 °C oder ein alternatives System mit gleicher Wirkung; d. Räume, deren Ausrüstung gewährleistet, dass beim Zerlegen, Entbeinen, Zerschneiden, Herstellen von Fleischzubereitungen, Umhüllen und Verpa- cken durch eine Raumtemperatur von höchstens 12 °C oder durch ein alter- natives System mit gleicher Wirkung das Fleisch und die Fleischzubereitun- gen auf den in Artikel 29 Absatz 1 genannten Temperaturen gehalten werden können; diese Bestimmung gilt nur für Betriebe mit einer Betriebsbewilli- gung nach Artikel 21 Absatz 1 LGV. Art. 29 Temperaturvorschriften 1 Fleisch und dessen Verarbeitungserzeugnisse müssen nach der Schlachtung oder nach der Herstellung schnellstmöglich auf folgende Kerntemperaturen abgekühlt und auf diesen gehalten werden:8 a. Fleisch von domestizierten Huftieren, Zuchtreptilien und Wild; ausgenom- men sind wilde Vögel, Wildkaninchen und Hasen: 7 °C; 8 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Hygieneverordnung EDI 15 817.024.1 b. Fleisch von Hausgeflügel, Laufvögeln, Hauskaninchen, wilden Vögeln, Wildkaninchen, Hasen, Murmeltieren und Nutrias: 4 °C; c. Fleischzubereitungen und Fleischerzeugnisse: 4 °C; d. Nebenprodukte der Schlachtung, wie Innereien und Blut, von Tierarten nach Artikel 2 Buchstaben a–f der Verordnung des EDI vom 16. Dezember 20169 über Lebensmittel tierischer Herkunft: 3 °C; e. Hackfleisch: 2 °C. 2 Bei Fleisch von domestizierten Huftieren muss während der Kühlung eine ange- messene Belüftung gewährleistet sein, um die Bildung von Kondenswasser auf der Fleischoberfläche zu verhindern. 3 Fleisch und dessen Verarbeitungserzeugnisse, die zum Tiefgefrieren bestimmt sind, müssen unverzüglich tiefgefroren und andauernd tiefgefroren gelagert und transportiert werden. Vor dem Gefrieren ist erforderlichenfalls eine gewisse Rei- fungszeit zulässig. Einzelhandelsbetriebe sind von diesen Anforderungen ausgenom- men, sofern die Lebensmittelsicherheit jederzeit gewährleistet bleibt.10 4 Für den Transport sind die Temperaturen nach Absatz 1 einzuhalten. Davon aus- genommen sind unmittelbare Transporte während längstens 2 Stunden von: a. schlachtwarmen Schlachttierkörpern vom Schlachtbetrieb zur weiteren Ver- arbeitung; b. Fleisch, das den Schlachtbetrieb oder den Zerlegeraum, der sich am gleichen Ort wie die Schlachtanlage befindet, unmittelbar verlässt. 4bis Der Transport von Schlachttierkörpern, Schlachttierkörperhälften oder -vierteln oder in drei Teile zerteilten Schlachttierkörperhälften von Schafen, Ziegen, Rindern oder Schweinen kann erfolgen, bevor die in Absatz 1 Buchstabe a vorgegebene Kerntemperatur erreicht ist, sofern folgende Voraussetzungen erfüllt sind: a. Der Transport erfolgt im Inland und dauert maximal sechs Stunden. b. Die Kerntemperatur wird im Rahmen der Selbstkontrollmassnahmen im Schlachtbetrieb oder im an den Schlachtbetrieb angrenzenden Zerlegebetrieb überwacht und dokumentiert; die Oberflächentemperatur auf den zu trans- portierenden Fleischteilen darf 7 °C nicht überschreiten. c. Die Behörde, die für die lebensmittelrechtliche Überwachung im Schlacht- betrieb oder im an den Schlachtbetrieb angrenzenden Zerlegebetrieb zustän- dig ist, wird über den bevorstehenden Transport informiert; sie kann den Transport vor Erreichen der vorgeschriebenen Kerntemperatur untersagen, wenn die Transportbedingungen nicht eingehalten werden. d. Ein Lebensmittelbetrieb, der zum ersten Mal Schlachttierkörper, Schlacht- tierkörperhälften oder -viertel oder in drei Teile zerteilte Schlachttierkörper- hälften erhält, die vor dem Transport nicht auf die in Absatz 1 Buchstabe a 9 SR 817.022.108 10 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 16 817.024.1 vorgeschriebene Kerntemperatur abgekühlt wurden, unterrichtet die zustän- dige Behörde am Bestimmungsort vorgängig über diesen Sachverhalt. e. Das Transportfahrzeug ist mit einem Instrument ausgestattet, das die Luft- temperatur im Innern des Fahrzeugs und die Transportzeit überwacht und aufzeichnet, so dass die Einhaltung der Vorgaben überprüft werden kann. f. Fleischteile, die nach den Bestimmungen dieses Absatzes transportiert wer- den, dürfen nur dann im selben Abteil wie bereits auf die Temperatur nach Absatz 1 Buchstabe a abgekühlten Fleischteilen transportiert werden, wenn sie zu Beginn des Transports eine Kerntemperatur von maximal 15 °C auf- weisen. g. Der Sendung liegt eine Erklärung (z. B. ein Lieferschein) des Schlachtbe- triebs oder des angrenzenden Zerlegebetriebs bei, aus der hervorgeht, bei welchen Fleischteilen der Transport nach den Bestimmungen dieses Absat- zes erfolgt.11 4ter Bei Transporten von mehr als 6 Stunden und bei grenzüberschreitenden Trans- porten in die Europäische Union gelten hinsichtlich der Temperaturen während der Beförderung des Fleischs die Transportbedingungen nach Artikel 1 der Verordnung (EU) 2017/198112.13 5 Im Verkauf müssen Fleisch und dessen Verarbeitungserzeugnisse bei einer Tempe- ratur von nicht mehr als 5 °C gehalten werden. 6 Die Temperaturvorschriften gelten nicht für: a. Sterilerzeugnisse; b. Rohwurst- und Rohpökelwaren; c. andere Fleischerzeugnisse mit einer Wasseraktivität (aw-Wert) unter 0,93. Art. 30 Zerlegen von Fleisch 1 Fleisch kann vor Erreichen der in Artikel 29 Absatz 1 genannten Temperaturen zerlegt werden, wenn sich der Zerlegeraum am gleichen Ort wie die Schlachtanlage befindet oder wenn schlachtwarme Schlachttierkörper innerhalb von 2 Stunden von einer Schlachtanlage zur weiteren Verarbeitung transportiert worden sind. 1bis Schlachttierkörper, Schlachttierkörperhälften oder -viertel oder in höchstens drei Teile zerteilte Schlachttierkörperhälften können vor dem Erreichen der in Artikel 29 Absatz 1 Buchstabe a genannten Temperatur zerlegt und entbeint werden, wenn sie gemäss der Ausnahmeregelung nach Artikel 29 Absatz 4bis befördert wurden. In diesem Fall muss das Fleisch bei einer Lufttemperatur zerlegt und entbeint werden, 11 Eingefügt durch Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 12 Verordnung (EU) 2017/1981 der Kommission vom 31. Oktober 2017 zur Änderung des Anhangs III der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Temperaturbedingungen während der Beförderung von Fleisch, Fassung gemäss ABl. L 285 vom 1.11.2017, S. 10. 13 Eingefügt durch Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Hygieneverordnung EDI 17 817.024.1 die eine kontinuierliche Senkung der Temperatur des Fleisches gewährleistet. So- bald das Fleisch zerlegt und gegebenenfalls verpackt ist, muss es auf die Temperatur nach Artikel 29 Absatz 1 Buchstabe a abgekühlt werden.14 2 Ist ein Betrieb für das Zerlegen von Fleisch verschiedener Tierarten zugelassen, so muss sichergestellt sein, dass Kreuzkontaminationen vermieden werden. Das Zerle- gen muss entweder zeitlich oder räumlich getrennt erfolgen. Art. 31 Hackfleisch und Fleischzubereitungen 1 Wird zur Herstellung von Hackfleisch und von Fleischzubereitungen gefrorenes Fleisch verwendet, so ist dieses vor dem Einfrieren zu entbeinen. 2 Wird Hackfleisch aus gekühltem Fleisch hergestellt, so muss dies innerhalb fol- gender Fristen nach der Schlachtung geschehen: a. bei Hausgeflügel: innerhalb von 3 Tagen; b. bei allen anderen Tieren: innerhalb von 6 Tagen; c. bei entbeintem, vakuumverpacktem Rind- und Kalbfleisch: innerhalb von 15 Tagen. 3 Hackfleisch und Fleischzubereitungen müssen unmittelbar nach der Herstellung umhüllt oder verpackt und auf die in Artikel 29 Absatz 1 genannten Temperaturen gekühlt oder tiefgefroren werden. 4 Hackfleisch und Fleischzubereitungen dürfen nach dem Auftauen nicht wieder eingefroren werden. 5 In Einzelhandelsbetrieben sind erlaubt: a. Abweichungen von den in Absatz 2 genannten Fristen, sofern die Lebens- mittelsicherheit jederzeit gewährleistet bleibt; b. der Verkauf von unverpacktem Hackfleisch und unverpackten Fleischzube- reitungen. Art. 32 Separatorenfleisch 1 Wird Separatorenfleisch hergestellt, so müssen die nicht entbeinten Rohstoffe innerhalb folgender Fristen nach der Schlachtung verwendet werden: a. wenn sie direkt aus einem angegliederten Schlachthof kommen: 7 Tage; b. in den übrigen Fällen: 5 Tage; c.15 ausgenommen von der Frist nach Buchstabe b sind Hausgeflügel-Schlacht- tierkörper: für sie gilt eine Frist von 3 Tagen. 14 Eingefügt durch Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 15 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 18 817.024.1 2 Findet die maschinelle Gewinnung von Separatorenfleisch nicht unmittelbar nach dem Entbeinen statt, so müssen die fleischtragenden Knochen bei nicht mehr als 2 °C oder tiefgefroren gelagert und befördert werden. 3 Gefrorene fleischtragende Knochen dürfen nach dem Auftauen nicht wieder einge- froren werden. 4 Wird das Separatorenfleisch nicht sofort nach der Gewinnung verwendet, so ist es unverzüglich auf eine Temperatur von nicht mehr als 2 °C zu kühlen. Wird es nach der Kühlung nicht innerhalb von 24 Stunden verarbeitet, so muss es innerhalb von 12 Stunden nach der Gewinnung tiefgefroren, umhüllt und verpackt sowie andau- ernd tiefgefroren gehalten werden. Es muss innerhalb von sechs Stunden eine Kern- temperatur von –18 °C oder darunter erreichen. 5 Gefrorenes Separatorenfleisch darf nicht länger als 3 Monate gelagert werden. Nach dem Auftauen darf es nicht wieder eingefroren werden. 6 Eine Partie Separatorenfleisch, die das mikrobiologische Kriterium nach Anhang 1 Teil 1 Ziffer 1.7 nachweislich nicht erfüllt, darf in der Lebensmittelkette nur zur Herstellung hitzebehandelter Fleischerzeugnisse in Betrieben verwendet werden, die nach Artikel 21 LGV bewilligt sind.16 Art. 33 Abgabe von Geflügelleber 1 Geflügelleber, die aus einer nachweislich campylobacterfreien Herde stammt, kann gekühlt an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden. 2 Jede andere Geflügelleber darf nur in tiefgefrorenem Zustand an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden. 2. Abschnitt: Bearbeitete Mägen, Blasen und Därme Art. 34 Bearbeitete Mägen, Blasen und Därme, die nicht bei Raumtemperatur aufbewahrt werden können, müssen bis zu ihrer Versendung gekühlt in dafür vorgesehenen Räumlichkeiten gelagert werden. Insbesondere müssen nicht gesalzene oder nicht getrocknete Erzeugnisse bei nicht mehr als 3 °C aufbewahrt werden. 3. Abschnitt: Gelatine und Kollagen Art. 35 Gelatineherstellung 1 Rohstoffe für die Gelatineherstellung sind gekühlt oder gefroren zu transportieren und zu lagern, sofern ihre Verarbeitung nicht innerhalb von 24 Stunden nach der Gewinnung erfolgt. 16 Eingefügt durch Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Hygieneverordnung EDI 19 817.024.1 2 Bei Raumtemperatur können transportiert und gelagert werden: a. entfettete und getrocknete Knochen oder Ossein; b. gesalzene, getrocknete oder gekalkte Häute; c. Häute und Felle, die mit Lauge oder Säure behandelt wurden. 3 Das Verfahren zur Herstellung von Gelatine für den menschlichen Konsum muss gewährleisten, dass: a. Knochenmaterial von Wiederkäuern einem Verarbeitungsprozess unterzogen wird, bei dem das gesamte Knochenmaterial fein vermahlen, mit heissem Wasser entfettet und für mindestens 2 Tage mit verdünnter Salzsäure (min- destens 4 Prozent konzentriert und pH < 1,5) behandelt wird; an diese Be- handlung schliesst sich an: 1. eine Laugenbehandlung mit gesättigter Kalklösung (pH > 12,5) von mindestens 20 Tagen und eine Hitzebehandlung von 4 Sekunden bei mindestens 138 °C, 2. eine Säurebehandlung (pH < 3,5) von mindestens 10 Stunden, mit einer Hitzebehandlung von 4 Sekunden bei mindestens 138 °C, 3. ein Hitze-Druck-Prozess von mindestens 20 Minuten mit gesättigtem Dampf bei 133 °C bei mehr als 3 bar, oder 4. ein gleichwertiges zugelassenes Verfahren; b. andere Rohstoffe einer Säuren- oder Laugenbehandlung unterzogen und an- schliessend ein- oder mehrmals abgespült werden; der pH-Wert ist entspre- chend anzupassen; die Gelatine muss durch ein- oder mehrmaliges Erhitzen extrahiert und anschliessend durch Filtrieren gereinigt und einer Hitzebe- handlung unterzogen werden. 4 Betriebe, die Gelatine für den menschlichen Konsum herstellen, können auch Gelatine, die nicht für den menschlichen Konsum bestimmt ist, herstellen und la- gern, sofern alle Rohstoffe und der Produktionsprozess die Anforderungen an Spei- segelatine erfüllen. Art. 36 Kollagenherstellung 1 Rohstoffe für die Kollagenherstellung sind gekühlt oder gefroren zu transportieren und zu lagern, sofern ihre Verarbeitung nicht innerhalb von 24 Stunden nach der Gewinnung erfolgt. 2 Bei Raumtemperatur können transportiert und gelagert werden: a. entfettete und getrocknete Knochen oder Ossein; b. gesalzene, getrocknete und gekalkte Häute; c. Häute und Felle, die mit Lauge oder Säure behandelt wurden. 3 Für das Verfahren zur Herstellung von Kollagen für den menschlichen Konsum gilt Folgendes: a. Knochenmaterial von Wiederkäuern wird einem Verarbeitungsprozess un- terzogen, bei dem das gesamte Knochenmaterial fein vermahlen, mit heis- Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 20 817.024.1 sem Wasser entfettet und für mindestens 2 Tage mit verdünnter Salzsäure (mindestens 4 Prozent konzentriert und pH < 1,5) behandelt wird; nach die- ser Behandlung wird der pH-Wert unter Verwendung von Säure oder Lauge wie folgt angepasst: 1. mit einem oder mehreren nachfolgenden Spülvorgängen sowie an- schliessendem Filtrieren, Mahlen oder Extrudieren; oder 2. durch ein zugelassenes gleichwertiges Verfahren. b. Andere Rohstoffe müssen einem Verarbeitungsprozess unterzogen werden, der das Waschen und eine pH-Anpassung unter Verwendung von Säure oder Lauge umfasst, gefolgt von: 1. einem oder mehreren Spülvorgängen und anschliessendem Filtrieren, Mahlen oder Extrudieren; oder 2. einem zugelassenen gleichwertigen Verfahren.17 4 Das Kollagen kann nach Anwendung des Verfahrens nach Absatz 3 einem Trock- nungsverfahren unterzogen werden. 5 Betriebe, die Kollagen für den menschlichen Konsum herstellen, können auch Kollagen, das nicht für den menschlichen Konsum bestimmt ist, herstellen und lagern, sofern alle Rohstoffe und der Produktionsprozess die Anforderungen an Kollagen für den menschlichen Konsum erfüllen. 4. Abschnitt: Ausgeschmolzene tierische Fette und Grieben Art. 37 Sammel- und Verarbeitungsbetriebe 1 Betriebe, die rohe Schlachtfette sammeln und zu Verarbeitungsbetrieben weiter- transportieren, müssen über Einrichtungen verfügen, die es ermöglichen, die Roh- stoffe bei einer Temperatur von nicht mehr als 7 °C zu lagern. 2 Verarbeitungsbetriebe müssen über Folgendes verfügen: a. Kühleinrichtungen; b. einen Versandraum, es sei denn, der Betrieb versende ausgeschmolzene tie- rische Fette nur in Tankwagen; c. gegebenenfalls geeignete Gerätschaften für die Zubereitung von Erzeugnis- sen, die unter Zusatz anderer Lebensmittel oder von Gewürzen aus ausge- schmolzenen tierischen Fetten hergestellt werden. Art. 38 Umgang mit den Rohstoffen 1 Rohstoffe für die Herstellung von ausgeschmolzenen tierischen Fetten und Grieben müssen hygienisch einwandfrei bei einer Kerntemperatur von nicht mehr als 7 °C transportiert und bis zum Ausschmelzen gelagert werden. Sie können jedoch ohne 17 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Hygieneverordnung EDI 21 817.024.1 Kühlung gelagert und transportiert werden, wenn sie innerhalb von 12 Stunden nach dem Tag, an dem sie gewonnen wurden, ausgeschmolzen werden. 2 Grieben, die bei nicht mehr als 70 °C gewonnen werden, müssen wie folgt gelagert werden: a. bei nicht mehr als 7 °C für höchstens 24 Stunden; oder b. tiefgefroren. 3 Grieben, die bei über 70 °C gewonnen werden und einen Feuchtigkeitsgehalt von mindestens 10 Prozent (m/m) aufweisen, müssen wie folgt gelagert werden: a. bei nicht mehr als 7 °C für maximal 48 Stunden oder einer anderen Zeit-/Temperaturkombination, die dieselbe Wirkung hat; oder b. tiefgefroren. 4 Für Grieben, die bei über 70 °C gewonnen werden und einen Feuchtigkeitsgehalt von unter 10 Prozent (m/m) aufweisen, gelten keine besonderen Lagervorschriften. 5. Abschnitt: Lebende Muscheln Art. 39 1 Lebende Muscheln müssen bei einer Temperatur gelagert, transportiert und gehal- ten werden, die ihre Lebensfähigkeit und die Lebensmittelsicherheit nicht beein- trächtigt. 2 Lebende Muscheln dürfen nach ihrer Verpackung für den Einzelhandel nicht mehr in Wasser eingetaucht oder mit Wasser besprengt werden. 3 Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Stachelhäuter, Manteltiere und Meeresschne- cken, die lebend abgegeben werden. 6. Abschnitt: Fischereierzeugnisse Art. 40 Versteigerungshallen und Fischgrossmärkte 1 Versteigerungshallen und Grossmärkte, in denen Fischereierzeugnisse verkauft werden, müssen über gesonderte Einrichtungen für die Lagerung von Fischereier- zeugnissen verfügen, die vorläufig beschlagnahmt oder als für den menschlichen Konsum ungeeignet erklärt worden sind. 2 Während des Verkaufs oder der Lagerung von Fischereierzeugnissen dürfen: a. die Räumlichkeiten nicht für andere Zwecke genutzt werden; b. Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, deren Abgase die Qualität der Er- zeugnisse beeinträchtigen könnten, keinen Zugang zu den Räumlichkeiten haben; Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 22 817.024.1 c. Personen, die Zugang zu den Räumlichkeiten haben, keine anderen Tiere mitbringen. Art. 41 Frische Fischereierzeugnisse 1 Gekühlte unverpackte Fischereierzeugnisse, die nicht unmittelbar nach ihrer An- kunft im Bestimmungsbetrieb verteilt, versendet, zubereitet oder verarbeitet werden, müssen in geeigneten Anlagen in Eis gelagert werden. Neues Eis ist so oft wie nötig nachzufüllen. 2 Verpackte frische Fischereierzeugnisse müssen auf Schmelzeistemperatur (nicht mehr als 2 °C) abgekühlt werden. 3 Für die äussere Reinigung von ganzen frischen Fischereierzeugnissen kann anstelle von Trinkwasser sauberes Wasser, namentlich Süsswasser von vergleichbarer Quali- tät, verwendet werden. Arbeitsgänge wie Köpfen und Ausnehmen müssen unter hygienisch einwandfreien Bedingungen erfolgen. Unmittelbar nach diesen Arbeiten sind die Erzeugnisse gründlich mit sauberem Wasser zu waschen. 4 Bei Arbeitsgängen wie Filetieren und Zerteilen ist darauf zu achten, dass die Filets und die Stücke nicht verunreinigt werden. Die Filets und die Stücke dürfen nur während der für ihre Herstellung erforderlichen Zeit auf den Arbeitstischen verblei- ben. Fertige Filets und Stücke müssen umhüllt und erforderlichenfalls verpackt und unverzüglich nach ihrer Herstellung gekühlt werden. 5 Behältnisse für den Transport, den Versand oder die Lagerung von frischen Fische- reierzeugnissen müssen wasserfest und so beschaffen sein, dass die Erzeugnisse nicht mit dem Schmelzwasser in Berührung bleiben. 6 Sind Fischereierzeugnisse zum Tiefgefrieren bestimmt, so müssen sie so rasch als möglich tiefgefroren und so gehalten werden. Die Lagerräume müssen mit Tempera- turschreibern ausgestattet sein, deren Temperaturfühler im wärmsten Bereich des Raumes angebracht sind. 7 Die verantwortliche Person muss die Fischereierzeugnisse einer organoleptischen Untersuchung unterziehen. Bei dieser Untersuchung muss insbesondere sicherge- stellt werden, dass die Fischereierzeugnisse die Frischekriterien erfüllen. Art. 42 Schutz vor Parasiten 1 Bei folgenden Fischereierzeugnissen, die aus Flossenfischen oder Cephalopoden gewonnen werden, muss der Rohstoff oder das Enderzeugnis einer Gefrierbehand- lung unterzogen werden, um lebensfähige Parasiten abzutöten, die ein Risiko für die Gesundheit der Konsumentinnen und Konsumenten darstellen können: a. Fischereierzeugnisse, die roh konsumiert werden; b. marinierte, gesalzene oder anderweitig behandelte Fischereierzeugnisse, wenn die gewählte Behandlung nicht ausreicht, um lebensfähige Parasiten abzutöten. 2 Die Gefrierbehandlung muss in allen Teilen des Fischereierzeugnisses mindestens bei folgenden Temperaturen und über mindestens den folgenden Zeitraum erfolgen: Hygieneverordnung EDI 23 817.024.1 a. –20 °C, 24 Stunden lang; oder b. –35 °C, 15 Stunden lang. 3 Keiner Gefrierbehandlung bedürfen Fischereierzeugnisse, die: a. vor dem Konsum einer Hitzebehandlung unterzogen wurden oder unterzo- gen werden sollen, die lebensfähige Parasiten abtötet; dazu soll das Erzeug- nis mindestens 1 Minute lang auf eine Kerntemperatur von mindestens 60 °C erhitzt werden; b. als gefrorene Fischereierzeugnisse so lange aufbewahrt werden, dass die le- bensfähigen Parasiten abgetötet sind; c. aus Wildfang stammen, sofern gegenüber der zuständigen kantonalen Voll- zugsbehörde epidemiologische Daten vorgelegt werden können, die belegen, dass die Herkunftsfanggründe keine Gesundheitsgefahr aufgrund des Vor- handenseins von Parasiten darstellen; d. aus Fischzuchten stammen, deren Bestand: 1. aus Embryonen gezogen worden ist, und 2. ausschliesslich mit Futtermitteln gefüttert und in einer Umgebung auf- gezogen wird, die keine lebensfähigen Parasiten enthalten, die eine Ge- sundheitsgefahr darstellen. 4 Beim Inverkehrbringen ist den in Absatz 1 genannten Erzeugnissen ein Dokument beizufügen, auf dem die Art der Gefrierbehandlung angegeben ist, der die Erzeug- nisse unterzogen worden sind. Die verantwortliche Person des Lebensmittelbetriebs, die die Behandlung durchführt, ist für die Ausstellung des Dokuments zuständig. Keine Dokumentenpflicht besteht bei der Abgabe an Konsumentinnen und Konsu- menten. 5 Vor dem Inverkehrbringen müssen Fischereierzeugnisse von blossem Auge auf sichtbare Parasiten kontrolliert werden (Sichtkontrolle). Von Parasiten befallene Fischereierzeugnisse dürfen nicht zum menschlichen Konsum abgegeben werden. 6 Bringt ein Lebensmittelbetrieb Fischereierzeugnisse in Verkehr, die keiner Gefrier- behandlung unterzogen wurden oder die vor dem Konsum keiner Behandlung zur Abtötung lebensfähiger Parasiten, die eine Gesundheitsgefahr darstellen, unterzogen werden sollen, so muss die verantwortliche Person des Lebensmittelbetriebs nach- weisen können, dass die Fischereierzeugnisse aus Fanggründen oder Fischzuchten stammen, die die besonderen Anforderungen nach Absatz 3 Buchstabe c oder d erfüllen. Dies kann in Form von entsprechenden Handelspapieren oder anderen Dokumenten erfolgen. Art. 43 Verarbeitung von Krebs- und Weichtieren Beim Abkochen von Krebs- und Weichtieren ist Folgendes zu beachten: a. Nach dem Garen müssen die Erzeugnisse rasch abgekühlt werden. Wird kein anderes Verfahren zur Haltbarmachung angewandt, so müssen die Erzeug- nisse auf Schmelzeistemperatur (nicht mehr als 2 °C) abgekühlt werden. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 24 817.024.1 b. Die Schalen müssen unter hygienisch einwandfreien Bedingungen und unter Vermeidung jeglicher Verunreinigung der Erzeugnisse entfernt werden. Ge- schieht dies von Hand, so muss das Personal auf sorgfältiges Händewaschen achten. c. Nach dem Entfernen der Schalen müssen die gegarten Erzeugnisse unverzüg- lich eingefroren oder nach Buchstabe a abgekühlt werden. Art. 44 Temperaturvorschriften 1 Frische Fischereierzeugnisse, aufgetaute unverarbeitete Fischereierzeugnisse sowie gegarte und gekühlte Krebs- und Weichtiererzeugnisse müssen bei Schmelzeistem- peratur (nicht mehr als 2 °C) gelagert und transportiert werden. 2 Gefrorene Fischereierzeugnisse müssen durch und durch tiefgefroren gelagert und transportiert werden. Davon ausgenommen sind ganze Fische, die in Salzlake eingefroren und zum Eindosen bestimmt sind; sie dürfen bis zu einer Temperatur von –9 °C gelagert und transportiert werden. 3 Fischereierzeugnisse, die lebend in Verkehr gebracht werden sollen, müssen so gelagert und transportiert werden, dass die Lebensmittelsicherheit oder ihre Lebens- fähigkeit in keiner Weise beeinträchtigt wird. 4 Im Verkauf gelten folgende Temperaturen: a. Fischereierzeugnisse frisch, unverarbeitet oder mariniert: Schmelzeistempe- ratur; b. Fischereierzeugnisse gegart, heiss oder kalt geräuchert: 5 °C; c. verarbeitete Fischereierzeugnisse mit erkaltetem, mit Reisessig < pH 4,5 ge- säuertem Reis (Sushi): 5 °C. 7. Abschnitt: Froschschenkel Art. 45 Froschschenkel müssen unmittelbar nach ihrer Gewinnung unter fliessendem Trink- wasser gründlich abgewaschen und unverzüglich auf Schmelzeistemperatur (nicht mehr als 2 °C) abgekühlt und bei dieser gehalten, eingefroren oder verarbeitet wer- den. 8. Abschnitt: Milch und Milchprodukte Art. 46 Umgang mit Rohmilch nach dem Melken 1 Während des Wegtransports von Rohmilch vom Erzeugerbetrieb muss die Kühl- kette aufrechterhalten bleiben. Beim Eintreffen am Bestimmungsort darf die Milch- temperatur nicht mehr als 10 °C betragen. Hygieneverordnung EDI 25 817.024.1 2 Von dieser Temperatur darf abgewichen werden, wenn: a. die Rohmilch innerhalb von zwei Stunden nach Ende des Melkvorgangs ge- sammelt oder verarbeitet wird; oder b. aus Rohmilch Käse nach Artikel 14 Absatz 7 der Verordnung des EDI vom 23. November 200518 über die Hygiene bei der Milchproduktion hergestellt wird. Art. 47 Abgabe von Rohmilch Wird Rohmilch vorverpackt direkt an Konsumentinnen und Konsumenten abgege- ben, so muss sie mechanisch gereinigt werden. Art. 48 Milchverarbeitungsbetriebe 1 Rohmilch muss nach ihrer Annahme im Verarbeitungsbetrieb rasch auf eine Tem- peratur von nicht mehr als 6 °C gekühlt und bis zur Verarbeitung auf dieser Tempe- ratur gehalten werden. 2 Die Milch darf auf einer höheren Temperatur gehalten werden, wenn: a. die Verarbeitung unmittelbar nach dem Melken oder innerhalb von 4 Stun- den nach der Annahme im Verarbeitungsbetrieb beginnt; oder b. dies aus technologischen Gründen notwendig ist und die Lebensmittelsi- cherheit jederzeit gewährleistet bleibt. 3 In Betrieben, in denen Milchprodukte hergestellt werden, muss mit geeigneten Verfahren sichergestellt sein, dass unmittelbar vor der Hitzebehandlung die folgen- den mikrobiologischen Kriterien eingehalten werden: a. für Rohmilch: eine Keimzahl von weniger als 300 000 pro ml bei 30 °C; b. für hitzebehandelte Milch, die zur Herstellung von Milchprodukten verwen- det wird: eine Keimzahl von weniger als 100 000 pro ml bei 30 °C; c. für Rahm: eine Keimzahl von weniger als 300 000 pro ml bei 30 °C. 4 Für die Überprüfung der Werte nach Absatz 3 ist die «SN EN ISO 4833-1, 2013, Mikrobiologie der Lebensmittelkette – Horizontales Verfahren zur Zählung von Mikroorganismen – Teil 1: Koloniezählverfahren bei 30 °C mittels Gussplattenver- fahren»19 als Referenzverfahren heranzuziehen.20 Art. 49 Behandlung 1 Milch gilt nur dann als genussfertig, wenn sie einer ausreichenden Behandlung unterzogen worden ist. Als ausreichend gelten: 18 SR 916.351.021.1 19 Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. 20 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 26 817.024.1 a.21 eine Erhitzung auf mindestens 72 °C während 15 Sekunden oder Tempera- tur-Zeit-Relationen mit gleicher Wirkung, die zu einem negativen Phospha- tase- und einem positiven Peroxidasetest führen (Pasteurisation), oder Erhit- zung auf eine Temperatur zwischen 85 und 135 °C, die zusätzlich zu einem negativen Peroxidasetest führt (Hochpasteurisation); zur Bestimmung der Aktivität der Phosphathase ist die «SN EN ISO 11816-1, 2013, Milch und Milcherzeugnisse – Bestimmung der Aktivität der alkalischen Phosphatase – Teil 1: Fluorimetrisches Verfahren für Milch und flüssige Milchprodukte»22 als Referenzverfahren heranzuziehen; b. die UHT-Behandlung nach Artikel 26 Absatz 2 Buchstabe b; c. die Sterilisation nach Artikel 26 Absatz 2 Buchstabe c, sofern die Produkte mikrobiologisch stabil sind nach: 1. einer 15-tägigen Inkubation in verschlossenen Packungen bei 30 °C, 2. einer 7-tägigen Inkubation in verschlossenen Packungen bei 55 °C, o- der 3. der Anwendung einer anderen Methode, die zeigt, dass eine geeignete Hitzebehandlung durchgeführt wurde; d. andere Behandlungen, die zu einer mindestens gleichwertigen Haltbarkeit und Hygienisierung wie die unter Buchstabe a genannten Behandlungen füh- ren. 2 Milch darf vor der UHT-Behandlung oder der Sterilisation einer einmaligen Pas- teurisation unterzogen werden. 3 Bei der Hitzebehandlung von Rohmilch und von Milchprodukten müssen die Anforderungen nach Artikel 26 eingehalten sowie die HACCP-gestützten Verfahren berücksichtigt werden. 4 In Betrieben, in denen Milchprodukte aus Rohmilch hergestellt werden, muss mit geeigneten Verfahren sichergestellt sein, dass die Lebensmittelsicherheit jederzeit gewährleistet ist. 5 Rahm gilt nur dann als genussfertig, wenn er einer Hitzebehandlung nach Artikel 26 Absatz 2 unterzogen worden ist. Andere Behandlungen sind zulässig, sofern sie zu einer mindestens gleichwertigen Haltbarkeit und Hygienisierung führen wie die Hitzebehandlung nach Artikel 26 Absatz 2 Buchstabe a. Art. 50 Nachbehandlung hitzebehandelter Milch 1 Genussfertige Milch und Milchprodukte in flüssiger Form müssen unmittelbar nach der letzten Hitzebehandlung in geschlossene Behältnisse abgefüllt werden, die eine Kontamination verhindern. Das Verschlusssystem muss so konzipiert sein, dass 21 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 22 Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. Hygieneverordnung EDI 27 817.024.1 deutlich zu erkennen und leicht nachzuprüfen ist, ob das betreffende Behältnis geöffnet wurde. 2 Pasteurisierte Milch muss unmittelbar nach der Hitzebehandlung abgekühlt wer- den. 3 UHT-Milch und sterilisierte Milch dürfen keiner weiteren Nacherhitzung unterzo- gen werden. Art. 51 Abgabe genussfertiger Milch 1 UHT-Milch und sterilisierte Milch dürfen ausser im Gastgewerbe und in Kollek- tivverpflegungsbetrieben nur vorverpackt abgegeben werden. 2 Pasteurisierte Milch und pasteurisierte Milchprodukte in flüssiger Form dürfen im Offenverkauf an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden, wenn durch das Abgabesystem, namentlich Behälter oder Zapfstelle, die kontaminations- freie Entnahme sichergestellt ist. Die Abgabestelle ist verpflichtet, die Konsumen- tinnen und Konsumenten über die Haltbarkeit und die Aufbewahrungsbedingungen der Milch und der Milchprodukte zu informieren. Art. 52 Kolostrum und Erzeugnisse auf Kolostrumbasis 1 Für den Umgang mit Kolostrum und Erzeugnissen auf Kolostrumbasis sowie für die Verarbeitung und die Hitzebehandlung von Kolostrum und von Erzeugnissen auf Kolostrumbasis gelten die Artikel 46, 48 Absätze 1 und 2, 49 Absätze 1 und 3 sowie 50 Absatz 1 sinngemäss. 2 Wird Kolostrum nicht täglich abgeholt, so kann es nach dem Melken eingefroren werden. In diesem Falle muss es nach Annahme im Verarbeitungsbetrieb bis zur Verarbeitung gefroren bleiben. Art. 53 Milch und Milchprodukte anderer Säugetierarten 1 Mit Ausnahme von Artikel 48 Absatz 3 gelten die Artikel 46–52 für Milch von anderen Säugetierarten und für Milchprodukte aus solcher Milch sinngemäss. 2 Bei Milch, die aus produktionstechnischen Gründen keiner Wärmebehandlung unter- zogen werden darf, namentlich Stutenmilch, muss die verantwortliche Person die Lebensmittelsicherheit durch Sicherstellung der guten Verfahrenspraxis gewährleis- ten. 9. Abschnitt: Eier und Eiprodukte Art. 54 Eier 1 Eier müssen bis zur Abgabe an Konsumentinnen und Konsumenten sauber, trocken und frei von Fremdgeruch gehalten sowie vor Stössen und vor Sonneneinstrahlung geschützt werden. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 28 817.024.1 2 Sie müssen bei der Temperatur aufbewahrt und transportiert werden, die die hygi- enische Beschaffenheit des Erzeugnisses am besten gewährleistet. Die Temperatur sollte möglichst konstant sein. 3 Sie dürfen längstens während 21 Tagen nach dem Legedatum an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden. Art. 55 Eiverarbeitungsbetriebe Eiverarbeitungsbetriebe müssen so gebaut, ausgelegt und ausgerüstet sein, dass die verschiedenen Arbeitsgänge gesondert voneinander durchgeführt werden können, insbesondere: a. das Waschen, Trocknen und Desinfizieren verschmutzter Eier; b. das Aufschlagen der Eier zur Gewinnung des Eiinhalts und zur Beseitigung der Schalen und Schalenhäute. Art. 56 Trennung von Eiern verschiedener Tierarten 1 Eier, die nicht von Hühnern, Truthühnern oder Perlhühnern stammen, sind im Betrieb getrennt von diesen zu bearbeiten und zu verarbeiten. 2 Vor der Wiederaufnahme der Verarbeitung von Hühner-, Truthühner- oder Perl- hühnereiern müssen die Ausrüstungen gereinigt und desinfiziert werden. Art. 57 Verfahren zur Herstellung von Eiprodukten 1 Die Eier müssen so aufgeschlagen werden, dass Kontaminationen möglichst ver- mieden werden, insbesondere durch eine Trennung der Arbeitsgänge. 2 Knickeier sind so bald als möglich zu verarbeiten. 3 Der Eiinhalt darf nicht durch Zentrifugieren oder Zerdrücken der Eier gewonnen werden. Das Zentrifugieren der leeren Schalen zur Gewinnung von Eiweissresten, die zum menschlichen Konsum bestimmt sind, ist verboten. 4 Nach dem Aufschlagen sind alle Teile des Flüssigeis unverzüglich einer Behand- lung zu unterziehen, die mikrobiologische Gefahren ausschaltet oder auf ein an- nehmbares Mass reduziert. Unzulänglich behandelte Partien können im selben Betrieb unverzüglich erneut behandelt werden, sofern diese erneute Behandlung sie genusstauglich macht. 5 Eiweiss zur Herstellung von getrocknetem oder kristallisiertem Albumin, das anschliessend einer Hitzebehandlung unterzogen werden soll, muss nicht nach Absatz 4 behandelt werden. 6 Wird eine Partie für genussuntauglich befunden, so muss sie denaturiert werden, damit sie nicht dem menschlichen Konsum zugeführt werden kann. 7 Erfolgt die Behandlung nicht umgehend nach dem Aufschlagen, so muss Flüssigei entweder eingefroren oder bei einer Temperatur von nicht mehr als 4 °C gelagert werden. Die Lagerzeit in nicht gefrorenem Zustand darf 48 Stunden nicht über- Hygieneverordnung EDI 29 817.024.1 schreiten; dies gilt nicht für Erzeugnisse, die entzuckert werden sollen, sofern die Entzuckerung so bald als möglich erfolgt. 8 Eiprodukte, die nicht so stabilisiert wurden, dass sie bei Raumtemperatur haltbar bleiben, sind auf eine Temperatur von nicht mehr als 4 °C abzukühlen. 9 Gefrierprodukte müssen unmittelbar nach der Behandlung tiefgefroren werden. 10. Abschnitt: Zusammengesetzte Lebensmittel Art. 58 Werden Ausgangsprodukte tierischer Herkunft zur Herstellung eines Lebensmittels verwendet, das auch Zutaten pflanzlicher Herkunft enthält, namentlich Ravioli, so müssen die Ausgangsprodukte tierischer Herkunft nach den besonderen Bestim- mungen dieses Kapitels sowie der Verordnung des EDI vom 16. Dezember 201623 über Lebensmittel tierischer Herkunft gewonnen und verarbeitet werden. 6. Kapitel: Spezielle Bestimmungen über die hygienische Milchverarbeitung in Sömmerungsbetrieben Art. 59 Grundsatz Für Sömmerungsbetriebe, in denen Milch verarbeitet wird, gehen die Bestimmungen dieses Kapitels den Artikeln 7, 9, 13, 14, 20 und 48 vor. Art. 60 Besondere Vorschriften für Räume in Sömmerungsbetrieben 1 Die Räume eines Sömmerungsbetriebs, in denen mit Milch oder Milchprodukten umgegangen wird, namentlich Verarbeitungsräume, Reiferäume und Lagerräume, müssen so konzipiert und angelegt sein, dass eine gute Lebensmittelhygiene gewähr- leistet ist und Kontaminationen während der Arbeitsgänge und zwischen den Ar- beitsgängen vermieden werden. 2 Sie müssen insbesondere folgende Anforderungen erfüllen: a. Bodenbeläge sind in einwandfreiem Zustand zu halten und müssen leicht zu reinigen und erforderlichenfalls zu desinfizieren sein. Sie müssen aus fes- tem, nichttoxischem und säurefestem Material bestehen. Eine hygienische Restwasserentfernung muss gewährleistet sein. Für die Lagerung von Milchprodukten in Räumen wie Naturkellern oder Speichern können die Bodenbeläge aus Material bestehen, das nicht fest ist. b. Die Wandflächen sind in einwandfreiem Zustand zu halten und müssen im unmittelbaren Verarbeitungsbereich leicht zu reinigen und erforderlichen- falls zu desinfizieren sein. 23 SR 817.022.108 Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 30 817.024.1 c. Decken, direkt sichtbare Dachinnenseiten und Deckenstrukturen müssen so gebaut und verarbeitet sein, dass Schmutzansammlungen vermieden und Kondensation, unerwünschter Schimmelbefall sowie das Ablösen von Mate- rialteilchen auf ein Mindestmass beschränkt werden. d. Fenster und andere Öffnungen müssen so gebaut sein, dass Schmutz- ansammlungen vermieden werden. Lassen sie sich ins Freie öffnen, so müs- sen sie erforderlichenfalls mit Insektengittern versehen sein. e. Türen müssen leicht zu reinigen und erforderlichenfalls zu desinfizieren sein. Türen und andere Öffnungen, die vom Stall direkt in einen Verarbei- tungsraum öffnen, müssen dicht schliessen. f. Flächen in Bereichen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, insbe- sondere Flächen, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen, sind in ein- wandfreiem Zustand zu halten und müssen leicht zu reinigen und erforderli- chenfalls zu desinfizieren sein. Sie müssen aus abriebfestem und nicht toxischem Material bestehen. 3 Werden Materialien verwendet, die die Anforderungen von Absatz 2 nicht erfüllen, so hat die verantwortliche Person gegenüber der zuständigen kantonalen Vollzugs- behörde nachzuweisen, dass diese ebenso geeignet sind. Holz in einwandfreiem Zustand ist als Material zulässig. 4 Es müssen geeignete Vorrichtungen zum Reinigen, Desinfizieren und Lagern von Arbeitsgeräten und Ausrüstungen vorhanden sein. Diese Vorrichtungen müssen korrosionsfest und leicht zu reinigen sein. 5 Warm- und Kaltwasser müssen verfügbar sein. 6 Milch muss in einem eigenen Verarbeitungsraum verarbeitet werden. Ausgenom- men sind Sömmerungsbetriebe, in deren Verarbeitungsraum auch gekocht und gegessen wird. In diesen Betrieben müssen die Bereiche für die Milchverarbeitung einerseits und für das Kochen und Essen andererseits klar getrennt sein. 7 Die traditionelle Verarbeitung im Hängekessi über offenem Feuer ist zulässig. 8 Wird im Verarbeitungsraum Holz als Brennmaterial verwendet, so ist in diesem Verarbeitungsraum das Stapeln von Brennholz zulässig. Art. 61 Sanitäre Einrichtungen in Sömmerungsbetrieben 1 In Sömmerungsbetrieben müssen hygienisch einwandfreie Toiletten vorhanden sein. Toilettenräume dürfen nicht direkt in Räume öffnen, in denen mit Lebensmit- teln umgegangen wird. 2 An geeigneten Standorten müssen Vorrichtungen zum hygienischen Waschen und Trocknen der Hände vorhanden sein. 3 Alle sanitären Einrichtungen müssen über eine angemessene natürliche oder künst- liche Belüftung verfügen. Hygieneverordnung EDI 31 817.024.1 Art. 62 Ausrüstungen in Sömmerungsbetrieben 1 Gefässe, Apparate, Werkzeuge sowie weitere Gegenstände und Ausrüstungen, die mit Milch oder Milchprodukten in Berührung kommen, müssen aus lebensmittel- tauglichem Material sein. Sie müssen zur Vermeidung einer Kontamination regel- mässig gründlich gereinigt und erforderlichenfalls desinfiziert werden. 2 Ausrüstungen aus Holz in einwandfreiem Zustand sind zulässig. Sie müssen nach Gebrauch mit Heisswasser von mindestens 85° C gründlich gereinigt werden. 3 In Verarbeitungsräumen, in denen auch gekocht und gegessen wird, müssen sepa- rate Gegenstände und Ausrüstungen für die Verarbeitung und die Lagerung von Milch- und Milchprodukten verwendet werden. Art. 63 Halten und Mitführen von Tieren in Sömmerungsbetrieben 1 In Räumen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird, dürfen Tiere weder gehalten noch mitgeführt werden. 2 In Abweichung von Absatz 1 ist die Anwesenheit von Heimtieren in Verarbei- tungsräumen, in denen auch gekocht und gegessen wird, ausser während der Milch- verarbeitung, zulässig. Art. 64 Personenhygiene in Sömmerungsbetrieben 1 Personen, die in einem Sömmerungsbetrieb beschäftigt sind, müssen im Umgang mit Lebensmitteln auf persönliche Hygiene und Sauberkeit achten. 2 Die Arbeitskleidung oder die Schutzkleidung muss zweckmässig und sauber sein. 3 Erfolgt in einem Sömmerungsbetrieb die Milchgewinnung und die Milchverarbei- tung durch dieselbe Person, so muss diese durch zeitliche Trennung der Arbeitsgän- ge, Kleiderwechsel, Händehygiene sowie weitere angemessene Massnahmen den hygienischen Umgang mit den Lebensmitteln gewährleisten. Art. 65 Milchverarbeitung in Sömmerungsbetrieben 1 Die Rohmilch ist nach der Gewinnung wirkungsvoll zu kühlen. 2 Wird die Rohmilch nicht unmittelbar nach dem Melken verarbeitet, so ist sie innerhalb von zwei Stunden auf eine Temperatur von 8 °C oder tiefer abzukühlen und bis zur Verarbeitung bei dieser Temperatur zu halten. 3 Für die Herstellung von Käse darf die Rohmilch auf einer höheren Temperatur gehalten werden. Die Lagertemperatur darf jedoch höchstens 18 °C betragen. Liegt die Lagertemperatur über 8° C, so muss die Verarbeitung spätestens 24 Stunden nach der Gewinnung des ältesten Gemelkes erfolgen. Die Lebensmittelsicherheit ist jederzeit zu gewährleisten. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 32 817.024.1 7. Kapitel: Besondere Bestimmungen für die mikrobiologische Untersuchung und die Probenahme Art. 66 Verpflichtungen der verantwortlichen Person 1 Die verantwortliche Person muss im Rahmen ihrer Selbstkontrolle alle notwen- digen Massnahmen treffen, um sicherzustellen, dass: a. die Prozesshygienekriterien für die Rohstoffe und die Lebensmittel, die ihrer Kontrolle unterstehen, eingehalten werden; b. die während der gesamten Haltbarkeitsdauer der Produkte geltenden Le- bensmittelsicherheitskriterien unter vernünftigerweise vorhersehbaren Be- dingungen für den Vertrieb, die Lagerung und die Verwendung eingehalten werden; c.24 hergestellte, verarbeitete oder zubereitete Produkte während ihrer Haltbar- keitsdauer die mikrobiologischen Richtwerte für die Überprüfung der guten Verfahrenspraxis einhalten. 2 Erforderlichenfalls hat die verantwortliche Person bei der Herstellung der Erzeug- nisse Untersuchungen nach Anhang 3 durchzuführen, um die Einhaltung der Krite- rien während der gesamten Haltbarkeitsdauer des Erzeugnisses zu überprüfen. Dies gilt insbesondere für genussfertige Lebensmittel, die das Wachstum von Listeria monocytogenes begünstigen und ein dadurch verursachtes Risiko für die öffentliche Gesundheit bergen können. 3 Bei der Validierung oder der Überprüfung des ordnungsgemässen Funktionierens ihrer HACCP-gestützten Verfahren oder anderer Hygienekontrollmassnahmen hat die verantwortliche Person, wo dies angemessen ist, Untersuchungen nach den mikrobiologischen Kriterien nach Anhang 1 Teile 1 und 2 durchzuführen. 4 Zur Überprüfung der guten Verfahrenspraxis hat die verantwortliche Person herge- stellte, verarbeitete oder zubereitete Produkte während ihrer Haltbarkeitsdauer nach den mikrobiologischen Richtwerten gemäss Branchenleitlinien nach Artikel 80 LGV zu untersuchen. Hat die Branche keine mikrobiologischen Richtwerte festgelegt, so kann das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) Richt- werte festlegen.25 5 Betriebe, die keine Branchenleitlinie benutzen, haben ein dem Betrieb angepasstes, äquivalentes Konzept der guten Verfahrenspraxis zu entwickeln und zu befolgen. Art. 67 Mikrobiologische Untersuchung und Probenahme 1 Kann die verantwortliche Person anhand zurückliegender Aufzeichnungen nach- weisen, dass sie über funktionierende HACCP-gestützte Verfahren verfügt, so kann die Anzahl der nach Anhang 1 zu ziehenden Probeeinheiten verringert werden. 24 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 25 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Hygieneverordnung EDI 33 817.024.1 2 Werden die Untersuchungen speziell zur Bewertung der Akzeptabilität einer Le- bensmittelpartie oder eines bestimmten Prozesses durchgeführt, so sind mindestens die in Anhang 1 aufgeführten Probenahmepläne einzuhalten. 3 Die verantwortliche Person kann andere Probenahme- und Untersuchungsverfah- ren anwenden, wenn sie gegenüber der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen kann, dass diese Verfahren zumindest gleichwertige Garantien bieten. Diese Verfah- ren können alternative Probenahmestellen und die Verwendung von Trendanalysen umfassen. 4 Die Untersuchung auf alternative Mikroorganismen und damit zusammenhängende mikrobiologische Grenzwerte sowie die Durchführung von anderen als mikrobiolo- gischen Untersuchungen sind nur für Prozesshygienekriterien zulässig. Art. 68 Häufigkeit der Probenahme 1 Die verantwortliche Person entscheidet im Rahmen der Selbstkontrolle über die angemessene Häufigkeit der Probenahme. 2 Die Häufigkeit der Probenahme kann an die Art und die Grösse der Lebensmittel- betriebe angepasst werden, sofern die Sicherheit der Lebensmittel jederzeit gewähr- leistet ist. 3 Die verantwortliche Person eines Schlachtbetriebs oder eines Lebensmittelbetriebs, der Hackfleisch, Fleischzubereitungen, Separatorenfleisch oder frisches Geflügel- fleisch herstellt, hat mindestens einmal wöchentlich Proben zur mikrobiologischen Untersuchung zu entnehmen. Der Tag der Probenahme ist wöchentlich zu ändern, um sicherzustellen, dass jeder Wochentag abgedeckt ist.26 4 Diese Häufigkeit kann verringert werden: a. auf eine 14-tägige Untersuchung für Untersuchungen auf E. coli und auf ae- robe, mesophile Keime, sofern in 6 aufeinander folgenden Wochen befriedi- gende Ergebnisse erzielt wurden; b. auf eine 14-tägige Untersuchung für Untersuchungen auf Salmonella, sofern in 30 aufeinander folgenden Wochen befriedigende Ergebnisse erzielt wur- den; c. auf eine halbjährliche Untersuchung für Untersuchungen auf Salmonella in Hackfleisch und Fleischzubereitungen aus Masthühnchenfleisch schweizeri- scher Herkunft; d. auf eine halbjährliche Untersuchung für Untersuchungen auf Salmonella ty- phimurium und Salmonella enteritidis in frischem Masthühnchenfleisch schweizerischer Herkunft. 5 Einzelhandelsbetriebe sind von den Verpflichtungen nach den Absätzen 3 und 4 ausgenommen. 26 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 34 817.024.1 Art. 69 Probenahme in Verarbeitungsbereichen und bei Ausrüstungen 1 In den Verarbeitungsbereichen und bei den verwendeten Ausrüstungen sind Proben zu entnehmen, wenn dies notwendig ist, um die Einhaltung der Kriterien sicherzu- stellen. Bei diesen Probenahmen ist die «SN EN ISO 18593 2018, Mikrobiologie von Lebensmitteln und Futtermitteln – Horizontales Verfahren für Probenahmetech- niken von Oberflächen»27 als Referenzverfahren heranzuziehen.28 2 Lebensmittelbetriebe, die genussfertige Lebensmittel herstellen, die ein durch Listeria monocytogenes verursachtes Risiko für die menschliche Gesundheit bergen könnten, haben im Rahmen ihres Probenahmeplans Proben aus den Verarbeitungs- bereichen und den verwendeten Ausrüstungen auf Listeria monocytogenes zu unter- suchen. 3 Lebensmittelbetriebe, die getrocknete Säuglingsanfangsnahrung oder getrocknete Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke herstellen, die für Säuglinge unter sechs Monaten bestimmt sind und ein durch Cronobacter spp. (Enterobacter sakaz- akii) verursachtes Risiko bergen können, haben im Rahmen ihres Probenahmeplans die Verarbeitungsbereiche und die verwendeten Ausrüstungen auf Enterobacteri- aceae zu untersuchen. Art. 70 Trendanalysen Die verantwortliche Person hat Trends bei den Ergebnissen dieser mikrobiologi- schen Untersuchungen zu analysieren. Bewegt sich ein Trend auf unbefriedigende Resultate zu, so hat sie unverzüglich geeignete Massnahmen zu treffen, um das Auftreten mikrobiologischer Gefahren zu verhindern. Art. 71 Unbefriedigende Ergebnisse 1 Führt die Untersuchung anhand der in Anhang 1 festgelegten Kriterien zu unbe- friedigenden Ergebnissen, so hat die verantwortliche Person die im Rahmen der Selbstkontrolle festgelegten Korrekturmassnahmen sowie folgende Massnahmen zu ergreifen: a. Sie muss die Ursache der unbefriedigenden Ergebnisse finden, um das er- neute Auftreten der nicht akzeptablen mikrobiologischen Kontamination zu verhindern. b. Bei unbefriedigenden Ergebnissen hinsichtlich der Untersuchung der Le- bensmittelsicherheitskriterien in Anhang 1 Teil 1 muss das Produkt oder die Partie Lebensmittel nach Artikel 84 LGV vom Markt genommen oder zu- rückgerufen werden. Bereits in den Handel gebrachte Produkte, die noch nicht im Einzelhandel angelangt sind, können einer weiteren Verarbeitung unterzogen werden, die die entsprechende Gefahr beseitigt. Diese Behand- 27 Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. 28 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Hygieneverordnung EDI 35 817.024.1 lung kann nur von einem Lebensmittelbetrieb durchgeführt werden, der nicht der Einzelhandelsebene angehört. c. Bei unbefriedigenden Ergebnissen, die die Prozesshygienekriterien betref- fen, sind die in Anhang 1 Teil 2 aufgeführten Massnahmen zu ergreifen. d.29 Bei Überschreitung von mikrobiologischen Richtwerten gilt die gute Verfah- renspraxis als nicht erfüllt; es sind die erforderlichen Korrekturmassnahmen zu treffen. 2 Vom Markt genommene oder zurückgerufene Produkte oder Lebensmittelpartien können für andere als die ursprünglich vorgesehenen Zwecke verwendet werden, sofern diese Verwendung keine Gefahr für die Gesundheit von Mensch oder Tier darstellt und sie im Rahmen der HACCP-gestützten Verfahren festgelegt und von der zuständigen Vollzugsbehörde genehmigt wurde. 8. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 72 Nachführen der Anhänge 1 Das BLV passt die Anhänge dem Stand von Wissenschaft und Technik sowie dem Recht der wichtigsten Handelspartner der Schweiz an.30 2 Es kann Übergangsbestimmungen festlegen. Art. 73 Aufhebung anderer Erlasse Es werden aufgehoben: a. Hygieneverordnung des EDI vom 23. November 200531. b. Verordnung des EDI vom 11. Mai 200932 über die hygienische Milchverar- beitung in Sömmerungsbetrieben; Art. 74 Übergangsbestimmung Für das Prozesshygienekriterium für Campylobacter nach Anhang 1 Teil 2 Ziffer 2.1.6 gilt eine Übergangsfrist bis zum 30. April 2018. Art. 74a33 Übergangsbestimmung zur Änderung vom 27. Mai 2020 Lebensmittel, die der Änderung vom 27. Mai 2020 nicht entsprechen, dürfen noch bis zum 30. Juni 2021 nach bisherigem Recht eingeführt und hergestellt und noch 29 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 30 Fassung gemäss Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 31 [AS 2005 6521, 2006 5129, 2008 1167 6125, 2009 2393, 2010 4773, 2013 5307] 32 [AS 2009 2395] 33 Eingefügt durch Ziff. I der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 36 817.024.1 bis zum Abbau der Bestände an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden. Art. 75 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Mai 2017 in Kraft. Hygieneverordnung EDI 37 817.024.1 Anhang 134 (Art. 3 Abs. 2 Bst. b, 5 Abs. 1, 24 Abs. 2, 32 Abs. 6, 66 Abs. 3 und 4, 67 Abs. 1 und 2, 71 Abs. 1 sowie 74) Mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel Teil 1 Lebensmittelsicherheitskriterien Teil 2 Prozesshygienekriterien 2.1 Fleisch und Fleischerzeugnisse 2.2 Milch und Milcherzeugnisse 2.3 Eiprodukte 2.4 Fischereierzeugnisse 2.5 Gemüse, Obst und daraus hergestellte Erzeugnisse 34 Bereinigt gemäss Ziff. I der V des BLV vom 12. März 2018 (AS 2018 1339), der Be- richtigung vom 30. Okt. 2018 (AS 2018 3795) und Ziff. II der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 38 817.024.1 Teil 1. Lebensmittelsicherheitskriterien Legende: KBE = koloniebildende Einheit n = Anzahl der Probeeinheiten der Stichprobe c = Anzahl der Probeeinheiten, deren Werte zwischen m und M liegen 1. Lebensmittelkategorien Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert35 Analytische Referenzme- thode36 Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.1 Genussfertige Lebensmittel, die für Säuglinge oder für be- sondere medizinische Zwecke bestimmt sind37 Listeria monocytogenes 10 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 11290-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 35 Bei Nummern Bei Nummern 1.1–1.25, 1.27a, 1.28 und 1.30: m = M. 36 Es ist die neueste Fassung der Norm zu verwenden. Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. 37 Eine regelmässige Untersuchung anhand des Kriteriums ist unter normalen Umständen bei folgenden genussfertigen Lebensmitteln nicht sinnvoll: – bei Lebensmitteln, die einer Wärmebehandlung oder einer anderen Verarbeitung unterzogen wurden, durch die Listeria monocytogenes abgetötet werden, wenn eine erneute Kontamination nach der Verarbeitung nicht möglich ist (z. B. bei in der Endverpackung wärmebehandelten Erzeugnissen); – bei frischem nicht zerkleinertem und nicht verarbeitetem Obst und Gemüse; – bei Brot, Keksen und ähnlichen Erzeugnissen; – bei in Flaschen abgefülltem oder abgepacktem Wasser, alkoholfreien Getränken, Bier, Apfelwein, Wein, Spirituosen und ähnlichen Erzeugnissen; – bei Zucker, Honig und Süsswaren, einschliesslich Kakao- und Schokoladeerzeugnissen; – bei lebenden Muscheln; – bei Speisesalz. Hygieneverordnung EDI 39 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.2 Andere als für Säuglinge oder für besondere medizini- sche Zwecke bestimmte, ge- nussfertige Lebensmittel, die die Vermehrung von L. monocytogenes begünsti- gen können Listeria monocytogenes 5 0 100 KBE/g38 SN EN ISO 11290-39 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 5 0 In 25 g nicht nachweisbar40 SN EN ISO 11290-1 Bevor das Lebensmittel die unmit- telbare Kontrolle der verantwortli- chen Person des Herstellerbetriebs verlassen hat 38 Die verantwortliche Person muss zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen können, dass das Erzeugnis während der gesamten Haltbar- keitsdauer den Wert von 100 KBE/g nicht übersteigt. 39 1 ml Inoculum wird auf eine Petrischale (140 mm Durchmesser) oder auf 3 Petrischalen (je 90 mm Durchmesser) aufgebracht. 40 Dieses Kriterium gilt für Erzeugnisse, bevor sie die unmittelbare Kontrolle der verantwortlichen Person des Herstellerbetriebs verlassen, wenn diese nicht zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen kann, dass das Erzeugnis den Grenzwert von 100 KBE/g während der gesamten Haltbarkeitsdauer nicht überschreitet. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 40 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.3 Andere als für Säuglinge oder für besondere medizini- sche Zwecke bestimmte, ge- nussfertige Lebensmittel, die die Vermehrung von L. monocytogenes nicht be- günstigen können41 42 Listeria monocytogenes 5 0 100 KBE/g SN EN ISO 11290-43 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.4 Hackfleisch und Fleischzube- reitungen, die zum Rohver- zehr bestimmt sind Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.5 Hackfleisch und Fleischzube- reitungen aus Geflügelfleisch, die zum Verzehr in durcher- hitztem Zustand bestimmt sind Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 41 Eine regelmässige Untersuchung anhand des Kriteriums ist unter normalen Umständen bei folgenden genussfertigen Lebensmitteln nicht sinnvoll: – bei Lebensmitteln, die einer Wärmebehandlung oder einer anderen Verarbeitung unterzogen wurden, durch die Listeria monocytogenes abgetötet werden, wenn eine erneute Kontamination nach der Verarbeitung nicht möglich ist (z. B. bei in der Endverpackung wärmebehandelten Erzeugnissen); – bei frischem nicht zerkleinertem und nicht verarbeitetem Obst und Gemüse; – bei Brot, Keksen und ähnlichen Erzeugnissen; – bei in Flaschen abgefülltem oder abgepacktem Wasser, alkoholfreien Getränken, Bier, Apfelwein, Wein, Spirituosen und ähnlichen Erzeugnissen; – bei Zucker, Honig und Süsswaren, einschliesslich Kakao- und Schokoladeerzeugnissen; – bei lebenden Muscheln; – bei Speisesalz. 42 Erzeugnisse mit einem pH-Wert von ≤ 4,4 oder aw-Wert von ≤ 0,92, Erzeugnisse mit einem pH-Wert von ≤ 5,0 und aw-Wert von ≤ 0,94; Erzeugnisse mit einer Haltbarkeitsdauer von weniger als 5 Tagen werden automatisch dieser Kategorie zugeordnet. Andere Lebensmittelkategorien können vorbehaltlich einer wis- senschaftlichen Begründung ebenfalls zu dieser Kategorie zählen. 43 1 ml Inoculum wird auf eine Petrischale (140 mm Durchmesser) oder auf 3 Petrischalen (je 90 mm Durchmesser) aufgebracht. Hygieneverordnung EDI 41 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.6 Hackfleisch und Fleischzu- bereitungen, die aus anderen Fleischarten als Geflügel her- gestellt wurden und zum Ver- zehr in durcherhitztem Zu- stand bestimmt sind Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.7 Separatorenfleisch Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.8 Fleischerzeugnisse, die zum Verzehr in rohem Zustand be- stimmt sind, ausser Er- zeugnissen, bei denen das Salmonellenrisiko durch das Herstellungsverfahren oder die Zusammensetzung des Er- zeugnisses ausgeschlossen ist Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.9 Fleischerzeugnisse aus Geflügelfleisch, die zum Ver- zehr in durcherhitztem Zu- stand bestimmt sind Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.10 Gelatine und Kollagen Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 42 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.11 Käse, Butter und Rahm aus Rohmilch oder aus Milch, die einer Wärmebehandlung unterhalb der Pasteurisie- rungstemperatur unterzogen wurden44 Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.12 Milch- und Molkepulver Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.13 Speiseeis45, ausser Erzeug- nissen, bei denen das Sal- monellenrisiko durch das Herstellungsverfahren oder die Zusammensetzung des Er- zeugnisses ausgeschlossen ist Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.14 Eiprodukte, ausser Erzeug- nissen, bei denen das Sal- monellenrisiko durch das Herstellungsverfahren oder die Zusammensetzung des Er- zeugnisses ausgeschlossen ist Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 44 Ausgenommen Erzeugnisse, für die die verantwortliche Person zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen kann, dass aufgrund der Rei- fungszeit und, wo angemessen, des aw-Wertes des Erzeugnisses kein Salmonellenrisiko besteht. 45 Nur Speiseeis, das Milchbestandteile enthält. Hygieneverordnung EDI 43 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.15 Genussfertige Lebensmittel, die rohes Ei enthalten, ausser Erzeugnissen, bei denen das Salmonellenrisiko durch das Herstellungsverfahren oder die Zusammensetzung des Er- zeugnisses ausgeschlossen ist Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.16 Gekochte Krebs- und Weich- tiere Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.17 Lebende Muscheln, Stachel- häuter, Manteltiere und Schnecken Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.18 Genussfertige Keimlinge46 Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.19 Vorzerkleinertes, genussferti- ges Obst und Gemüse Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.20 Nicht pasteurisierte47 genuss- fertige Obst- und Gemüsesäf- te Salmonella 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 46 Ausgenommen Sprossen, die einem zur Abtötung von Salmonella spp. und STEC wirksamen Behandlungsverfahren unterzogen wurden. 47 «Nicht pasteurisiert» bedeutet, dass der Saft keiner Pasteurisierung durch Zeit-/Temperaturkombination und keinen anderen validierten Verfahren unterzogen wurde, mit denen eine der Pasteurisierung im Hinblick auf ihre Wirkung auf Salmonellen gleichwertige bakterizide Wirkung erzielt wird Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 44 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.21 Käse, Milch- und Molkepul- ver nach den Kriterien für ko- agulasepositive Staphylokok- ken in Teil 2.2 dieses Anhangs Staphylokokken-Enterotoxine 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 19020 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.22 Getrocknete Säuglingsan- fangsnahrung und getrock- nete diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, die für Säuglinge un- ter 6 Monaten bestimmt sind Salmonella 30 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.23 Getrocknete Folgenahrung Salmonella 30 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer Hygieneverordnung EDI 45 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.24 Getrocknete Säuglingsan- fangsnahrung und getrock- nete diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, die für Säuglinge un- ter 6 Monaten bestimmt sind48 Cronobacter spp. 30 0 In 10 g nicht nachweisbar SN EN ISO 22964 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.25 Lebende Muscheln, Stachel- häuter, Manteltiere und Schnecken E. coli49 550 1 230 MPN/ 100 g Fleisch und Schalen- flüssig- keit 700 MPN/ 100 g Fleisch und Schalen- flüssigkeit SN EN ISO 16649-3 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 48 Eine Paralleluntersuchung auf Enterobacteriaceae und Cronobacter spp. ist durchzuführen, sofern nicht eine Korrelation zwischen diesen Mikroorganismen auf Ebene der einzelnen Betriebe festgestellt wurde. Werden in einem Betrieb in einer Probeneinheit Enterobacteriaceae nachgewiesen, ist die Partie auf Cro- nobacter spp. (Enterobacter sakazakii) zu untersuchen. Die verantwortliche Person muss zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen, ob zwischen Enterobacteriaceae und Cronobacter spp. (Enterobacter sakazakii) eine derartige Korrelation besteht. 49 E. coli wird hier als Indikator für fäkale Kontamination verwendet. 50 Jede Probenahmeeinheit umfasst eine Mindestanzahl an einzelnen Tieren gemäss EN ISO 6887-3. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 46 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.26 Fischereierzeugnisse von Fischarten, bei denen ein ho- her Gehalt an Histidin auf- tritt51 Histamin 952 2 100 mg/kg 200 mg/kg SN EN ISO 19343 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.27 Fischereierzeugnisse, ausser Erzeugnissen der Lebensmit- telkategorie 1.27a, die einem enzymatischen Reifungspro- zess in Salzlösung unterzogen und aus Fischarten hergestellt werden, bei denen ein hoher Gehalt an Histidin auftritt53 Histamin 954 2 200 mg/kg 400 mg/kg SN EN ISO 19343 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 51 Vor allem Fischarten der Familien: Scombridae, Clupeidae, Engraulidae, Coryfenidae, Pomatomidae und Scombraesosidae. 52 Auf Einzelhandelsebene können einzelne Proben entnommen werden. In diesem Fall gilt die Annahme nach Artikel 5 der Verordnung vom … über den Voll- zug der Lebensmittelgesetzgebung (SR …) nicht, nach der die gesamte Partie als unsicher eingestuft werden sollte, es sei denn, das Ergebnis liegt über M. 53 Vor allem Fischarten der Familien: Scombridae, Clupeidae, Engraulidae, Coryfenidae, Pomatomidae und Scombraesosidae. 54 Auf Einzelhandelsebene können einzelne Proben entnommen werden. In diesem Fall gilt die Annahme nach Artikel 5 der Verordnung vom … über den Voll- zug der Lebensmittelgesetzgebung (SR …) nicht, nach der die gesamte Partie als unsicher eingestuft werden sollte, es sei denn, das Ergebnis liegt über M. Hygieneverordnung EDI 47 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzme- thode Stufe, für die das Kriterium gilt n c m M 1.27a Durch Fermentierung von Fischereierzeugnissen herge- stellte Fischsauce Histamin 1 0 500 mg/kg55 SN EN ISO 19343 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.28 Frisches Geflügelfleisch56 Salmonella Typhimurium57 Salmonella Enteritidis 5 0 In 25 g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 (für den Nachweis), White-Kaufmann- LeMinor-Schema (für die Serotypisierung) In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.29 Sprossen58 59 60 Shiga-Toxin bildende E. coli (STEC) O157, O26, O111, O103, O145 und O104:H4 5 0 In 25 g nicht nachweisbar CEN/ISO TS 13136 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer 1.30 Reptilienfleisch61 Salmonella 5 0 In 25g nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu den Lebensmittelkategorien Die angegebenen Grenzwerte beziehen sich auf jede einzelne untersuchte Probeneinheit. 55 Grenzwert bezogen auf einen Stickstoffgehalt von 20 g/L 56 Das Kriterium gilt für frisches Geflügelfleisch aus Gallus-gallus-Zuchtherden, von Legehennen, Masthähnchen und aus Zucht- und Masttruthühnerherden. 57 Einschliesslich des monophasischen Salmonella-typhimurium-Stammes 1,4,[5],12:i:- 58 Als Sprossen gilt das Produkt, das durch die Keimung von Samen und deren Entwicklung in Wasser oder einem anderen Medium entsteht, und das vor der Bildung vollständiger Laubblätter geerntet wird, um als Lebensmittel mit dem Samen verzehrt zu werden. 59 Ausgenommen Sprossen, die einem zur Abtötung von Salmonella spp. und STEC wirksamen Behandlungsverfahren unterzogen wurden. 60 Für die Probenahme und die Untersuchung von Sprossen gelten die Bestimmungen unter Teil 3. 61 Reptilienfleisch: Essbare Teile, unverarbeitet oder verarbeitet, von Zuchtreptilien. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 48 817.024.1 Die Testergebnisse belegen die mikrobiologische Qualität der untersuchten Partie62. L. monocytogenes in genussfertigen Lebensmitteln für Säuglinge und für besondere medizinische Zwecke: – befriedigend, wenn alle gemessenen Werte auf Nichtvorhandensein des Bakteriums hinweisen; – unbefriedigend, wenn das Bakterium in einer Probeneinheit nachgewiesen wird. L. monocytogenes in genussfertigen Lebensmitteln, die das Wachstum von L. monocytogenes begünstigen können, bevor das Lebensmittel aus der unmittelbaren Kontrolle des Lebensmittelunternehmers, der es hergestellt hat, gelangt, wenn er nicht nachweisen kann, dass das Erzeugnis wäh- rend der gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreitet: – befriedigend, wenn alle gemessenen Werte auf Nichtvorhandensein des Bakteriums hinweisen; – unbefriedigend, wenn das Bakterium in einer Probeneinheit nachgewiesen wird. L. monocytogenes in sonstigen genussfertigen Lebensmitteln: – befriedigend, wenn alle gemessenen Werte ≤ dem Grenzwert sind; – unbefriedigend, wenn einer der Werte > als der Grenzwert ist. E. coli in lebenden Muscheln, Stachelhäutern, Manteltieren und Schnecken: – befriedigend, wenn alle fünf gemessenen Werte ≤ 230 MPN/100 g Fleisch und Schalenflüssigkeit sind oder wenn einer der fünf gemesse- nen Werte > 230 MPN/100 g Fleisch und Schalenflüssigkeit, jedoch ≤ 700 MPN/100 g Fleisch und Schalenflüssigkeit ist; – unbefriedigend, wenn einer der fünf gemessenen Werte > 700 MPN/100 g Fleisch und Schalenflüssigkeit ist oder wenn mindestens zwei der fünf gemessenen Werte > 230 MPN/100 g Fleisch und Schalenflüssigkeit sind. Salmonella in verschiedenen Lebensmittelkategorien: – befriedigend, wenn alle gemessenen Werte auf Nichtvorhandensein des Bakteriums hinweisen; – unbefriedigend, wenn das Bakterium in einer Probeneinheit nachgewiesen wird. Staphylokokken-Enterotoxine in Milcherzeugnissen: 62 Die Untersuchungsergebnisse können auch zum Nachweis der Wirksamkeit des HACCP-gestützten Verfahrens oder der guten Hygienepraxis dienen. Hygieneverordnung EDI 49 817.024.1 – befriedigend, sofern die Enterotoxine in keiner Probeneinheit nachgewiesen werden; – unbefriedigend, sofern die Enterotoxine in einer Probeneinheit nachgewiesen werden. Cronobacter spp. in getrockneter Säuglingsanfangsnahrung und getrockneten diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke, die für Säuglinge unter 6 Monaten bestimmt sind: – befriedigend, wenn alle gemessenen Werte auf Nichtvorhandensein des Bakteriums hinweisen; – unbefriedigend, wenn das Bakterium in einer Probeneinheit nachgewiesen wird. Histamin in Fischereierzeugnissen: – In Fischereierzeugnissen von Fischarten, bei denen ein hoher Gehalt an Histidin auftritt, ausser durch Fermentierung von Fischereierzeug- nissen hergestellte Fischsauce: – befriedigend, sofern folgende Anforderungen erfüllt sind: 1. der gemessene Durchschnittswert ist ≤ m, 2. die Höchstzahl der gemessenen c/n-Werte liegt zwischen m und M, 3. kein gemessener Wert überschreitet den Grenzwert M; – unbefriedigend, sofern der gemessene Durchschnittswert > m ist oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen oder ein gemes- sener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind; – durch Fermentierung von Fischereierzeugnissen hergestellte Fischsauce: 1. befriedigend, wenn der gemessene Wert ≤ dem Grenzwert ist, 2. unbefriedigend, wenn der gemessene Wert > dem Grenzwert ist. Teil 2. Prozesshygienekriterien Legende: KBE = koloniebildende Einheit n = Anzahl der Probeeinheiten der Stichprobe c = Anzahl der Probeeinheiten, deren Werte zwischen m und M liegen Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 50 817.024.1 2.1 Fleisch und Fleischerzeugnisse Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahmeplan Grenzwert63 Analytische Refe- renzmethode64 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M 2.1.1 Schlachttierkörper von Rindern, Schafen, Ziegen und Pferden65 Aerobe mesophile Keime 3,5 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert 5,0 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert SN EN ISO 4833-1 Schlachttierkörper nach dem Zurich- ten, aber vor dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene und Überprüfung der Prozesskontrolle Enterobacteriaceae 1,5 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert 2,5 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert SN EN ISO 21528-2 Schlachttierkörper nach dem Zurich- ten, aber vor dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene und Überprüfung der Prozesskontrolle 2.1.2 Schlachttierkörper von Schweinen66 Aerobe mesophile Keime 4,0 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert 5,0 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert SN EN ISO 4833-1 Schlachttierkörper nach dem Zurich- ten, aber vor dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene und Überprüfung der Prozesskontrolle 63 Bei Nummern 2.1.3–2.1.5: m = M 64 Es ist die neueste Fassung der Norm zu verwenden. Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. 65 Die Grenzwerte (m und M) gelten nur für im destruktiven Verfahren entnommene Proben. Der tagesdurchschnittliche Log-Wert wird berechnet, indem zu- nächst ein Log-Wert jedes einzelnen Untersuchungsergebnisses ermittelt und dann der Durchschnitt dieser Log-Werte berechnet wird. 66 Die Grenzwerte (m und M) gelten nur für im destruktiven Verfahren entnommene Proben. Der tagesdurchschnittliche Log-Wert wird berechnet, indem zu- nächst ein Log-Wert jedes einzelnen Untersuchungsergebnisses ermittelt und dann der Durchschnitt dieser Log-Werte berechnet wird. Hygieneverordnung EDI 51 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahmeplan Grenzwert63 Analytische Refe- renzmethode64 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M Enterobacteriaceae 2,0 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert 3,0 log KBE/cm2 tagesdurch- schnittlicher Logwert SN EN ISO 21528-2 Schlachttierkörper nach dem Zurich- ten, aber vor dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene und Überprüfung der Prozesskontrolle 2.1.3 Schlachttierkörper von Rindern, Schafen, Ziegen und Pferden Salmonella 50 267 In dem je Schlachttier- körper beprobten Bereich nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 Schlachttierkörper nach dem Zurich- ten, aber vor dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene, Überprüfung der Prozesskontrolle und der Her- kunft der Tiere 2.1.4 Schlachttierkörper von Schweinen Salmonella 50 368 In dem je Schlachttier- körper beprobten Bereich nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 Schlachttierkörper nach dem Zurich- ten, aber vor dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene, Überprüfung der Pro- zesskontrolle und der Herkunft der Tiere sowie der Massnah- men im Bereich der Biosicher- heit in den Herkunftsbetrieben 67 Die Anzahl der Proben, in denen Salmonellen nachgewiesen wurden. Der Wert c ist zu überprüfen, damit die Fortschritte bei der Verringerung der Salmonel- lenprävalenz berücksichtigt werden können. 68 Die Anzahl der Proben, in denen Salmonellen nachgewiesen wurden. Der Wert c ist zu überprüfen, damit die Fortschritte bei der Verringerung der Salmonel- lenprävalenz berücksichtigt werden können. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 52 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahmeplan Grenzwert69 Analytische Refe- renzmethode70 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M 2.1.5 Geflügelschlachttierkör- per von Masthühnern und Truthühnern Salmonella spp.71 50 572 In 25 g einer gepoolten Probe von der Halshaut nicht nachweisbar SN EN ISO 6579-1 Schlachttierkörper nach dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene, Überprüfung der Prozesskontrolle und der Her- kunft der Tiere sowie der Massnahmen im Bereich der Biosicherheit in den Herkunfts- betrieben 2.1.6 Geflügelschlachttierkörper von Masthühnern Campylobacter spp. 50 1573 1000 KBE/g ISO 10272-2 Schlachttierkörper nach dem Kühlen Verbesserungen in der Schlacht- hygiene, Massnahmen zur Keimreduktion, Überprüfung der Prozesskontrolle und der Herkunft der Tiere sowie der Massnahmen im Bereich der Biosicherheit in den Herkunfts- betrieben 2.1.7 Hackfleisch Aerobe mesophile Keime74 5 2 5 × 105 KBE/g 5 × 106 KBE/g SN EN ISO 4833-1 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene und bei der Auswahl und/oder der Herkunft der Rohstoffe 69 Bei Nummern 2.1.3–2.1.6: m = M 70 Es ist die neueste Fassung der Norm zu verwenden. Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. 71 Wird Salmonella spp. nachgewiesen, so werden die Isolate für den Nachweis von Salmonella typhimurium und Salmonella enteritidis weiter serotypisiert, damit die Einhaltung des mikrobiologischen Kriteriums nach Teil 1 Nummer 1.28 verifiziert werden kann. 72 Die Anzahl der Proben, in denen Salmonellen nachgewiesen wurden. Der Wert c ist zu überprüfen, damit die Fortschritte bei der Verringerung der Salmonel- lenprävalenz berücksichtigt werden können. 73 Ab dem 1.1.2025: c = 10 74 Dieses Kriterium gilt nicht für auf Einzelhandelsebene erzeugtes Hackfleisch, sofern die Haltbarkeitsdauer des Erzeugnisses weniger als 24 Stunden beträgt. Hygieneverordnung EDI 53 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahmeplan Grenzwert69 Analytische Refe- renzmethode70 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M E. coli75 5 2 50 KBE/g 500 KBE/g ISO 16649-1 oder 2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene und bei der Auswahl und/oder der Herkunft der Rohstoffe 2.1.8 Separatorenfleisch Aerobe mesophile Keime 5 2 5 × 105 KBE/g 5 × 106 KBE/g SN EN ISO 4833-1 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene und bei der Auswahl und/oder der Herkunft der Rohstoffe E. coli76 5 2 50 KBE/g 500 KBE/g ISO 16649-1 oder 2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene und bei der Auswahl und/oder der Herkunft der Rohstoffe 2.1.9 Fleischzubereitungen E. coli77 5 2 500 KBE/g 5000 KBE/g ISO 16649-1 oder 2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Her- stellungshygiene und bei der Auswahl und/oder der Herkunft der Rohstoffe Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu Fleisch und Fleischerzeugnissen Die angegebenen Grenzwerte beziehen sich auf jede einzelne untersuchte Probeneinheit, ausser auf die Untersuchung von Schlachtkörpern, bei denen sie sich auf die Sammelproben beziehen. Die Testergebnisse weisen auf die mikrobiologischen Bedingungen des entsprechenden Herstellungsprozesses hin. 75 E. coli wird hier als Indikator für fäkale Kontamination verwendet. 76 E. coli wird hier als Indikator für fäkale Kontamination verwendet. 77 E. coli wird hier als Indikator für fäkale Kontamination verwendet. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 54 817.024.1 Enterobacteriaceae und aerobe mesophile Keimzahl bei Schlachttierkörpern von Rindern, Schafen, Ziegen, Pferden und Schweinen: – befriedigend, sofern der tagesdurchschnittliche Log-Wert ≤ m ist; – akzeptabel, sofern der tagesdurchschnittliche Log-Wert zwischen m und M liegt; – unbefriedigend, sofern der tagesdurchschnittliche Log-Wert > M ist. Salmonella in Schlachtkörpern: – befriedigend, sofern Salmonella in höchstens c/n Proben nachgewiesen wird; – unbefriedigend, sofern Salmonella in mehr als c/n Proben nachgewiesen wird. Nach jeder Probenerhebung werden die Ergebnisse der 10 letzten Probenerhebungen bewertet, um die Anzahl n an Proben zu ermitteln. a. Campylobacter in Schlachttierkörpern von Masthühnern: – befriedigend, wenn höchstens c/n Werten > m sind, – unbefriedigend, wenn mehr als c/n Werten > m sind. Berechnung des tagesdurchschnittlichen Log-Wertes: Die Ergebnisse der einzelnen Poolproben werden als Anzahl KBE/g Probenmaterial angegeben. Von jedem dieser Werte muss der dekadische Logarithmus (Log) berechnet werden. Von den 5 Log-Werten der 5 Poolproben wird das arithmetische Mittel errechnet. Dies ergibt den tages- durchschnittlichen Log-Wert. E.coli und aerobe mesophile Keimzahl in Hackfleisch, Fleischzubereitungen und Separatorenfleisch: – befriedigend, sofern alle gemessenen Werte ≤ m sind; – akzeptabel, sofern die Höchstzahl der c/n-Werte zwischen m und M liegt und die übrigen gemessenen Werte ≤ m sind; – unbefriedigend, sofern ein gemessener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen. Hygieneverordnung EDI 55 817.024.1 2.2 Milch und Milcherzeugnisse Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahme- plan Grenzwert78 Analytische Referenzmethode79 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M 2.2.1 Pasteurisierte Milch und sonstige pasteurisi- erte flüssige Milcher- zeugnisse80 Enterobacteriaceae 5 0 10 KBE/ml SN EN ISO 21528-2 Ende des Herstel- lungsprozesses Kontrolle der Wirksamkeit der Hitzebehandlung und Vermei- dung einer erneuten Kontamina- tion sowie Kontrolle der Roh- stoffqualität 2.2.2 Käse aus Milch oder Molke, die einer Hitzebe- handlung unterzogen wurden E. coli81 5 2 100 KBE/g 1000 KBE/g ISO 16649-1 oder 2 Zu einem Zeit- punkt während der Herstellung, zu dem der höchste E. coli-Gehalt erwartet wird Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene und bei der Auswahl der Rohstoffe 2.2.3 Käse aus Rohmilch Koagulasepositive Staphylokokken 5 2 104 KBE/g 105 KBE/g SN EN ISO 6888-2 Zu einem Zeit- punkt während- der Herstellung, zu dem der höchs- te Staphylokok- kengehalt erwartet wird82 Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene und bei der Auswahl der Rohstoffe. Sofern Werte > 105 KBE/g nachgewie- sen werden, ist die Partie auf Staphylokokken-Enterotoxine zu untersuchen. 78 Bei Nummern 2.2.1, 2.2.8, 2.2.10 und 2.2.11: m = M 79 Es ist die neueste Fassung der Norm zu verwenden. Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. 80 Dieses Kriterium gilt nicht für Erzeugnisse, die zur weiteren Verarbeitung in der Lebensmittelindustrie bestimmt sind. 81 E. coli wird hier als Hygieneindikator verwendet. 82 In der Regel ist dies für Weichkäse und Halbhartkäse beim Prozessschritt «Käse vor Salzbad», für Hart- und Extrahartkäse beim Prozessschritt «Start Brennen» (nur Bruchkörner entnehmen). Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 56 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahme- plan Grenzwert78 Analytische Referenzmethode79 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M 2.2.4 Käse aus Milch, die einer Hitzebehandlung unterhalb der Pasteurisie- rungstemperatur unterzo- gen wurde83, und gereif- ter Käse aus Milch oder Molke, die pasteurisiert oder einer Hitzebehand- lung über der Pasteurisie- rungstemperatur unterzo- gen wurde84 Koagulasepositive Staphylokokken 5 2 100 KBE/g 1000 KBE/g SN EN ISO 6888-1 oder 2 " " 2.2.5 Nicht gereifter Weich- käse (Frischkäse) aus Milch oder Molke, die pasteurisiert oder einer Hitzebehandlung über der Pasteurisierungs- temperatur unterzogen wurden85 Koagulasepositive Staphylokokken 5 2 10 KBE/g 100 KBE/g SN EN ISO 6888-1 oder 2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen der Herstel- lungshygiene. Sofern Werte > 105 KBE/g nachgewiesen werden, ist die Partie auf Staphylokokken-Enterotoxine zu untersuchen. 83 Dieses Kriterium gilt nicht, wenn die verantwortliche Person zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen kann, dass kein Risiko einer Belastung mit Staphylokokken-Enterotoxinen besteht. 84 Dieses Kriterium gilt nicht, wenn die verantwortliche Person zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen kann, dass kein Risiko einer Belastung mit Staphylokokken-Enterotoxinen besteht. 85 Dieses Kriterium gilt nicht, wenn die verantwortliche Person zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen kann, dass kein Risiko einer Belastung mit Staphylokokken-Enterotoxinen besteht. Hygieneverordnung EDI 57 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahme- plan Grenzwert78 Analytische Referenzmethode79 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M 2.2.6 Butter und Rahm aus Rohmilch oder Milch, die einer Hitzebehand- lung unterhalb der Pasteu- risierungstemperatur un- terzogen wurde E. coli86 5 2 10 KBE/g 100 KBE/g ISO 16649-1 oder 2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Her- stellungshygiene und bei der Auswahl der Rohstoffe. 2.2.7 Milch- und Molkepul- ver87 Enterobacteriaceae 5 0 10 KBE/g SN EN ISO 21528-2 Ende des Herstel- lungsprozesses Kontrolle der Wirksamkeit der Hitzebehandlung und Verhinde- rung einer erneuten Kontamina- tion Koagulasepositive Staphylokokken 5 2 10 KBE/g 100 KBE/g SN EN ISO 6888-1 oder 2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen der Herstel- lungshygiene. Sofern Werte > 105 KBE/g nachgewiesen werden, ist die Partie auf Staphylokokken-Enterotoxine zu untersuchen. 2.2.8 Speiseeis88 und ver- gleichbare gefrorene Er- zeugnisse auf Milchbasis Enterobacteriaceae 5 2 10 KBE/g 100 KBE/g SN EN SN EN ISO 21528-2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene 86 E. coli wird hier als Hygieneindikator verwendet. 87 Dieses Kriterium gilt nicht für Erzeugnisse, die zur weiteren Verarbeitung in der Lebensmittelindustrie bestimmt sind. 88 Nur Speiseeis, das Milchbestandteile enthält. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 58 817.024.1 Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahme- plan Grenzwert78 Analytische Referenzmethode79 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M 2.2.9 Getrocknete Säuglingsan- fangsnahrung und ge- trocknete Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, die für Säuglinge unter 6 Monaten bestimmt sind Enterobacteriaceae 10 0 In 10 g nicht nachweisbar SN EN ISO 21528-1 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene zur Minimierung der Kontamination89 2.2.10 Getrocknete Folgenah- rung Enterobacteriaceae 5 0 In 10 g nicht nachweisbar SN EN ISO 21528-1 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Herstel- lungshygiene zur Minimierung der Kontamination 2.2.11 Getrocknete Säuglingsan- fangsnahrung und ge- trocknete diätetische Le- bensmittel für besondere medizinische Zwecke, die für Säuglinge unter 6 Monaten bestimmt sind Präsumptiver Bacillus cereus 5 1 50 KBE/g 500 KBE/g SN EN ISO 793290 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen der Herstel- lungshygiene. Verhinderung der Rekontamination. Auswahl der Rohstoffe. 89 Eine Paralleluntersuchung auf Enterobacteriaceae und Cronobacter spp. ist durchzuführen, sofern nicht eine Korrelation zwischen diesen Mikroorganismen auf Ebene der einzelnen Betriebe festgestellt wurde. Werden in einem Betrieb in einer Probeneinheit Enterobacteriaceae nachgewiesen, ist die Partie auch auf Cronobacter spp. zu untersuchen. Die verantwortliche Person muss zur Zufriedenheit der zuständigen Vollzugsbehörde nachweisen, ob zwischen Enterobacte- riaceae und Cronobacter spp. eine derartige Korrelation besteht. 90 1 ml Inoculum wird auf eine Petrischale (140 mm Durchmesser) oder auf 3 Petrischalen (je 90 mm Durchmesser) aufgebracht. Hygieneverordnung EDI 59 817.024.1 Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu Milch und Milcherzeugnissen Die angegebenen Grenzwerte beziehen sich auf jede einzelne untersuchte Probeneinheit. Die Testergebnisse weisen auf die mikrobiologischen Bedingungen des entsprechenden Herstellungsprozesses hin. Enterobacteriaceae in getrockneter Säuglingsanfangsnahrung und getrockneten diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke, die für Säuglinge unter 6 Monaten bestimmt sind: – befriedigend, wenn alle gemessenen Werte auf Nichtvorhandensein des Bakteriums hinweisen; – unbefriedigend, wenn das Bakterium in einer Probeneinheit nachgewiesen wird. E.coli, Enterobacteriaceae (andere Lebensmittelkategorien) und koagulasepositive Staphylokokken: – befriedigend, sofern alle gemessenen Werte ≤ m sind; – akzeptabel, sofern die Höchstzahl der c/n-Werte zwischen m und M liegt und die übrigen gemessenen Werte ≤ m sind; – unbefriedigend, sofern ein gemessener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen. Präsumptiver Bacillus cereus in getrockneter Säuglingsanfangsnahrung und getrockneten diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke, die für Säuglinge unter 6 Monaten bestimmt sind: – befriedigend, sofern alle gemessenen Werte ≤ m sind; – akzeptabel, sofern die Höchstzahl der c/n-Werte zwischen m und M liegt und die übrigen gemessenen Werte ≤ m sind; – unbefriedigend, sofern ein gemessener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 60 817.024.1 2.3 Eiprodukte Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahmeplan Grenzwert Analytische Referenzmethode91 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedigender Ergebnisse n c m M 2.3.1 Eiprodukte Enterobacteriaceae 5 2 10 KBE/g oder ml 100 KBE/g oder ml SN EN ISO 21528-2 Ende des Herstel- lungsprozesses Kontrolle der Wirksamkeit der Hitzebehandlung und Verhinde- rung einer erneuten Kontamina- tion Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu den Eiprodukten Die angegebenen Grenzwerte beziehen sich auf jede einzelne untersuchte Probeneinheit. Die Testergebnisse weisen auf die mikrobiologischen Bedingungen des entsprechenden Herstellungsprozesses hin. Enterobacteriaceae in Eiprodukten: – befriedigend, sofern alle gemessenen Werte ≤ m sind; – akzeptabel, sofern die Höchstzahl der c/n-Werte zwischen m und M liegt und die übrigen gemessenen Werte ≤ m sind; – unbefriedigend, sofern ein gemessener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen. 91 Es ist die neueste Fassung der Norm zu verwenden. Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. Hygieneverordnung EDI 61 817.024.1 2.4 Fischereierzeugnisse Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahmeplan Grenzwert Analytische Refe- renzmethode92 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedi- gender Ergebnisse n c m M 2.4.1 Erzeugnisse von gekoch- ten Krebs- und Weichtie- ren ohne Panzer oder Schale E. coli 5 2 1 MPN/g 10 MPN/g SN EN ISO 16649-3 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Her- stellungshygiene Koagulasepositive Staphylokokken 5 2 100 KBE/g 1000 KBE/g SN EN ISO 6888-1 oder 2 Ende des Herstel- lungsprozesses Verbesserungen in der Her- stellungshygiene Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu den Fischereierzeugnissen Die angegebenen Grenzwerte beziehen sich auf jede einzelne untersuchte Probeneinheit. Die Testergebnisse weisen auf die mikrobiologischen Bedingungen des entsprechenden Herstellungsprozesses hin. E. coli in Erzeugnissen von gekochten Krebs- und Weichtieren ohne Panzer oder Schale: – befriedigend, sofern alle gemessenen Werte ≤ m sind; – akzeptabel, sofern die Höchstzahl der c/n-Werte zwischen m und M liegt und die übrigen gemessenen Werte ≤ m sind; – unbefriedigend, sofern ein gemessener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen. Koagulasepositive Staphylokokken in gekochten Krebs- und Weichtieren ohne Panzer oder Schale: – befriedigend, sofern alle gemessenen Werte ≤ m sind; – akzeptabel, sofern die Höchstzahl der c/n-Werte zwischen m und M liegt und die übrigen gemessenen Werte ≤ m sind; – unbefriedigend, sofern ein gemessener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen. 92 Es ist die neueste Fassung der Norm zu verwenden. Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 62 817.024.1 2.5 Gemüse, Obst und daraus hergestellte Erzeugnisse Lebensmittelkategorie Mikroorganismen Probenahmeplan Grenzwert Analytische Refe- renzmethode93 Stufe, für die das Kriterium gilt Massnahmen im Fall unbefriedi- gender Ergebnisse n c m M 2.5.1 Vorzerkleinertes, genuss- fertiges Obst und Gemüse E. coli 5 2 100 KBE/g 1000 KBE/g ISO 16649-1 oder 2 Während der Herstellung Verbesserungen in der Her- stellungshygiene und bei der Auswahl der Rohstoffe 2.5.2 Nicht pasteurisierte94, genussfertige Obst- und Gemüsesäfte E. coli 5 2 100 KBE/g 1000 KBE/g ISO 16649-1 oder 2 Während der Herstellung Verbesserungen in der Her- stellungshygiene und bei der Auswahl der Rohstoffe Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu Gemüse, Obst und den daraus hergestellten Erzeugnissen Die angegebenen Grenzwerte beziehen sich auf jede einzelne untersuchte Probeneinheit. Die Testergebnisse weisen auf die mikrobiologischen Bedingungen des entsprechenden Herstellungsprozesses hin. E.coli in vorzerkleinertem, genussfertigem Obst und Gemüse und in nicht pasteurisierten genussfertigen Obst- und Gemüsesäften: – befriedigend, sofern alle gemessenen Werte ≤ m sind; – akzeptabel, sofern die Höchstzahl der c/n-Werte zwischen m und M liegt und die übrigen gemessenen Werte ≤ m sind; – unbefriedigend, sofern ein gemessener Wert oder mehrere gemessene Werte > M sind oder mehr als c/n-Werte zwischen m und M liegen. 93 Es ist die neueste Fassung der Norm zu verwenden. Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. 94 «Nicht pasteurisiert» bedeutet, dass der Saft keiner Pasteurisierung durch Zeit-/Temperaturkombination bzw. keinen anderen validierten Verfahren unterzogen wurde, mit denen eine der Pasteurisierung im Hinblick auf ihre Wirkung auf E.Coli gleichwertige bakterizide Wirkung erzielt wird. Hygieneverordnung EDI 63 817.024.1 Teil 3. Besondere Bestimmungen für die Probenahme und die Untersuchung von Sprossen 3.1. Für die Zwecke dieses Abschnitts gilt als: a. Partie: diejenige Menge von Sprossen oder von Samen für die Spros- senerzeugung mit derselben taxonomischen Bezeichnung, die am sel- ben Tag von einem bestimmten Betrieb an einen anderen Betrieb ver- sandt wird; Samen mit unterschiedlichen taxonomischen Bezeichnungen in derselben Verpackung, die zusammen keimen sollen, sowie die daraus entstehenden Sprossen gelten ebenfalls als Partie. b. Sendung: der Versand von einer oder mehreren Partien. 3.2. Voruntersuchung von Chargen von Samen 3.2.1 Betriebe, die Sprossen erzeugen, haben eine Voruntersuchung bei einer repräsentativen Probe von allen Partien von Samen durchzuführen. 3.2.2 Eine repräsentative Probe muss aus mindestens 0,5 Prozent des Gewichts der Partie von Samen in Teilproben zu je 50 g bestehen oder ist mittels einer strukturierten und statistisch äquivalenten Probenahmestrategie auszuwäh- len. 3.2.3 Für die Voruntersuchung muss der Betrieb die Samen in der repräsentativen Probe unter denselben Bedingungen keimen lassen, wie dies für den Rest der Partie von Samen vorgesehen ist. Die Anwendung einer mikrobiologischen Hygienisierungsmassnahme, die im Produktionsprozess dem Keimprozess vorgeschaltet sein kann, ist bei der Voruntersuchung der Chargen von Sa- men auszuschliessen. 3.2.4 Auf die Voruntersuchung von Chargen von Samen kann verzichtet werden, wenn: a. sich die zuständige Vollzugsbehörde vergewissert hat, dass der Betrieb ein Lebensmittelsicherheits-Management betreibt, das auch Schritte im Produktionsprozess beinhaltet, mit dem das mikrobiologische Risiko gesenkt wird; und b. historische Daten belegen, dass alle Partien der verschiedenen in dem Betrieb erzeugten Arten von Sprossen während der letzten 6 Monate die im Anhang 1 Teil 1 Ziffern 1.18 und 1.29 aufgeführten Lebensmittelsi- cherheitskriterien erfüllen. 3.3. Probenahme und Untersuchung der Sprossen und des benutzten Bewässe- rungswassers 3.3.1 Betriebe, die Sprossen erzeugen, haben Proben zu entnehmen für die mikro- biologische Untersuchung auf der Stufe, auf der die Wahrscheinlichkeit, Shiga-Toxin bildende E. coli (STEC) und Salmonella spp. festzustellen, am grössten ist, in jedem Fall aber frühestens 48 Stunden nach Beginn des Keimvorgangs. 3.3.2 Die Sprossenproben sind nach den Vorgaben nach Anhang 1 Teil 1 Ziffern 1.18 und 1.29 zu analysieren. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 64 817.024.1 3.3.3 Sprossen erzeugende Betriebe, die einen Probenahmeplan mit entsprechen- den Verfahren und mit Entnahmepunkten im benutzten Bewässerungswasser haben, können jedoch anstelle der Analyse nach den Bestimmungen für die Probenahme entsprechend den Vorgaben nach Anhang 1 Teil 1 Ziffern 1.18 und 1.29 fünf Proben zu je 200 ml von Wasser analysieren, das für die Be- wässerung der Sprossen verwendet wurde. In diesem Fall gelten die genann- ten Anforderungen für die Analyse des für die Bewässerung der Sprossen benutzten Wassers mit der Nachweisgrenze in 200 ml. 3.3.4 Bei der erstmaligen Untersuchung einer Partie von Samen dürfen die Betrie- be nur Sprossen in Verkehr bringen, wenn die Ergebnisse der mikrobiologi- schen Analyse den Anforderungen nach Anhang 1 Teil 1 Ziffern 1.18 und 1.29 genügen beziehungsweise wenn das Ergebnis der Analyse von benutz- tem Bewässerungswasser in 200 ml negativ ist. 3.4. Probenahmehäufigkeit 3.4.1 Betriebe, die Sprossen erzeugen, haben mindestens einmal im Monat Proben zu entnehmen für die mikrobiologische Analyse auf der Stufe, auf der die Wahrscheinlichkeit, Shiga-Toxin bildende E. coli (STEC) und Salmonella spp. festzustellen, am grössten ist, in jedem Fall aber frühestens 48 Stunden nach Beginn des Keimvorgangs. 3.4.2 Die Probenahmehäufigkeit kann verringert werden, wenn: a. sich die zuständige Vollzugsbehörde vergewissert hat, dass der Betrieb ein Lebensmittelsicherheits-Management betreibt, das auch Schritte im Produktionsprozess beinhaltet, mit dem das mikrobiologische Risiko gesenkt wird; und b. historische Daten belegen, dass alle Partien der verschiedenen in dem Betrieb erzeugten Arten von Sprossen während der letzten 6 Monate die im Anhang 1 Teil 1 Ziffern 1.18 und 1.29 aufgeführten Lebensmittelsi- cherheitskriterien erfüllen. Hygieneverordnung EDI 65 817.024.1 Anhang 295 (Art. 25 Abs. 7) Vorgaben zur Überwachung der Temperaturen von tiefgefrorenen Lebensmitteln in Beförderungsmitteln sowie in Einlagerungs- und Lagereinrichtungen 1. Temperaturüberwachung und Temperaturaufzeichnung 1.1 Die Beförderungsmittel sowie die Einlagerungs- und Lagereinrichtungen für tiefgefrorene Lebensmittel sind mit geeigneten Aufzeichnungsgeräten aus- zustatten, um die Lufttemperatur, der die tiefgefrorenen Lebensmittel ausge- setzt sind, in regelmässigen Abständen zu überwachen. 1.2 Alle zur Temperaturüberwachung eingesetzten Messgeräte müssen die Normen «SN EN 12830, 2019-01, Temperaturregistriergeräte für den Trans- port, die Lagerung und die Verteilung von temperaturempfindlichen Produk- ten – Prüfungen, Leistung, Gebrauchstauglichkeit», «SN EN 13485, 2001, Thermometer zur Messung der Luft- und Produkttemperatur für den Trans- port, die Lagerung und die Verteilung von gekühlten, gefrorenen, tiefgefro- renen Lebensmitteln und Eiskrem – Prüfungen, Leistung, Gebrauchstaug- lichkeit» und «SN EN 13486, 2001, Temperaturregistriergeräte und Ther- mometer für den Transport, die Lagerung und die Verteilung von gekühlten, gefrorenen, tiefgefrorenen Lebensmitteln und Eiskrem – Regelmässige Prü- fungen»96 erfüllen. 1.3 Die Temperaturaufzeichnung ist zu datieren und durch die verantwortliche Person des Lebensmittelbetriebs je nach Art und Haltbarkeit des tiefgefrore- nen Lebensmittels mindestens ein Jahr lang oder länger aufzubewahren. 2. Ausnahmen 2.1 In Einzelhandelsbetrieben kann die Lufttemperatur in den Verkaufsmöbeln nur mit mindestens einem leicht sichtbaren Thermometer gemessen werden. 2.2 Bei offenen Verkaufsmöbeln: a. ist die Linie für die maximale Befüllung der Truhe eindeutig zu markie- ren; b. ist das Thermometer auf der Höhe dieser Markierung anzubringen. 2.3 In Einzelhandelsbetrieben mit Kühlräumen von weniger als 25 m3, kann die zuständige Vollzugsbehörde zulassen, dass die Lufttemperatur ebenfalls durch ein leicht sichtbares Thermometer gemessen werden kann. 95 Bereinigt gemäss Ziff. II der V des EDI vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2429). 96 Die aufgeführten Normen können kostenlos eingesehen und gegen Bezahlung bezogen werden bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, 8404 Winterthur; www.snv.ch. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände 66 817.024.1 Anhang 3 (Art. 66 Abs. 2) Vorgaben für die Untersuchungen 1. Die in Artikel 66 Absatz 2 genannten Untersuchungen müssen berücksichti- gen: 1.1 die Spezifikationen der chemisch-physikalischen Merkmale des Erzeugnis- ses, wie den pH-Wert, den aw-Wert, den Salzgehalt, die Konzentration der Konservierungsmittel und die Art des Verpackungssystems, wobei die La- ger- und die Verarbeitungsbedingungen, die Kontaminationsmöglichkeiten sowie die geplante Haltbarkeitsdauer zu berücksichtigen sind; und 1.2 die verfügbaren wissenschaftlichen Literatur- und Forschungsdaten hinsicht- lich der Wachstums- und der Überlebensmerkmale der betreffenden Mikro- organismen. 2. Sofern die vorgenannten Untersuchungen dies erforderlich machen, hat die verantwortliche Person zusätzliche Untersuchungen durchzuführen, die Fol- gendes umfassen können: 2.1 mathematische Vorhersagemodelle, die für das betreffende Lebensmittel unter Verwendung kritischer Wachstums- oder Überlebensfaktoren für die betreffenden Mikroorganismen im betreffenden Erzeugnis erstellt werden; 2.2 Tests, anhand derer die Fähigkeit eingeimpfter Mikroorganismen zu deren Vermehrung oder zum Überleben im Erzeugnis unter verschiedenen ver- nünftigerweise vorhersehbaren Lagerbedingungen untersucht wird; 2.3 Untersuchungen zur Bewertung des Wachstums oder Überlebens der im betreffenden Erzeugnis während der Haltbarkeitsdauer unter vernünftiger- weise vorsehbaren Vertriebs-, Lager- und Verwendungsbedingungen mög- licherweise vorhandenen entsprechenden Mikroorganismen. 3. Bei den genannten Untersuchungen ist die dem Erzeugnis, den entsprechen- den Mikroorganismen sowie den Verarbeitungs- und Lagerbedingungen je- weils inhärente Variabilität zu berücksichtigen. 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Gegenstand Art. 2 Abweichungen Art. 3 Sorgfaltspflicht Art. 4 Begriffe Art. 5 Untersuchungsmethoden 2. Kapitel: Allgemeine Hygienevorschriften für den Umgang mit Lebensmitteln Art. 6 Allgemeine Vorschriften für Lebensmittelbetriebe Art. 7 Besondere Vorschriften für Räume Art. 8 Vorrichtungen zum Waschen von Lebensmitteln Art. 9 Sanitäre Einrichtungen in Lebensmittelbetrieben Art. 10 Belüftung in Lebensmittelbetrieben Art. 11 Nicht ortsfeste Einrichtungen, vorrangig als private Wohngebäude genutzte Einrichtungen, in denen jedoch Lebensmittel regelmässig für das Inverkehrbringen zubereitet werden, sowie Verkaufsautomaten Art. 12 Transport Art. 13 Ausrüstungen Art. 14 Halten und Mitführen von Tieren Art. 15 Abfälle Art. 16 Wasserversorgung Art. 17 Rohstoffe, Zutaten und Lebensmittel Art. 18 Offenangebot von Lebensmitteln Art. 19 Umhüllen und Verpacken von Lebensmitteln 3. Kapitel: Persönliche Hygiene und Schulung Art. 20 Persönliche Hygiene Art. 21 Kranke oder verletzte Personen Art. 22 Schulung und Überwachung Art. 23 Zutritt betriebsfremder Personen 4. Kapitel: Thermische Verfahren und Verarbeitungshygiene Art. 24 Kühlung Art. 25 Tiefgefrieren Art. 26 Hitzebehandlungen Art. 27 Kühlhalten, Warmhalten 5. Kapitel: Besondere Bestimmungen für Lebensmittel tierischer Herkunft 1. Abschnitt: Fleisch und daraus hergestellte Erzeugnisse Art. 28 Zerlege- und Herstellungsbetriebe Art. 29 Temperaturvorschriften Art. 30 Zerlegen von Fleisch Art. 31 Hackfleisch und Fleischzubereitungen Art. 32 Separatorenfleisch Art. 33 Abgabe von Geflügelleber 2. Abschnitt: Bearbeitete Mägen, Blasen und Därme Art. 34 3. Abschnitt: Gelatine und Kollagen Art. 35 Gelatineherstellung Art. 36 Kollagenherstellung 4. Abschnitt: Ausgeschmolzene tierische Fette und Grieben Art. 37 Sammel- und Verarbeitungsbetriebe Art. 38 Umgang mit den Rohstoffen 5. Abschnitt: Lebende Muscheln Art. 39 6. Abschnitt: Fischereierzeugnisse Art. 40 Versteigerungshallen und Fischgrossmärkte Art. 41 Frische Fischereierzeugnisse Art. 42 Schutz vor Parasiten Art. 43 Verarbeitung von Krebs- und Weichtieren Art. 44 Temperaturvorschriften 7. Abschnitt: Froschschenkel Art. 45 8. Abschnitt: Milch und Milchprodukte Art. 46 Umgang mit Rohmilch nach dem Melken Art. 47 Abgabe von Rohmilch Art. 48 Milchverarbeitungsbetriebe Art. 49 Behandlung Art. 50 Nachbehandlung hitzebehandelter Milch Art. 51 Abgabe genussfertiger Milch Art. 52 Kolostrum und Erzeugnisse auf Kolostrumbasis Art. 53 Milch und Milchprodukte anderer Säugetierarten 9. Abschnitt: Eier und Eiprodukte Art. 54 Eier Art. 55 Eiverarbeitungsbetriebe Art. 56 Trennung von Eiern verschiedener Tierarten Art. 57 Verfahren zur Herstellung von Eiprodukten 10. Abschnitt: Zusammengesetzte Lebensmittel Art. 58 6. Kapitel: Spezielle Bestimmungen über die hygienische Milchverarbeitung in Sömmerungsbetrieben Art. 59 Grundsatz Art. 60 Besondere Vorschriften für Räume in Sömmerungsbetrieben Art. 61 Sanitäre Einrichtungen in Sömmerungsbetrieben Art. 62 Ausrüstungen in Sömmerungsbetrieben Art. 63 Halten und Mitführen von Tieren in Sömmerungsbetrieben Art. 64 Personenhygiene in Sömmerungsbetrieben Art. 65 Milchverarbeitung in Sömmerungsbetrieben 7. Kapitel: Besondere Bestimmungen für die mikrobiologische Untersuchung und die Probenahme Art. 66 Verpflichtungen der verantwortlichen Person Art. 67 Mikrobiologische Untersuchung und Probenahme Art. 68 Häufigkeit der Probenahme Art. 69 Probenahme in Verarbeitungsbereichen und bei Ausrüstungen Art. 70 Trendanalysen Art. 71 Unbefriedigende Ergebnisse 8. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 72 Nachführen der Anhänge Art. 73 Aufhebung anderer Erlasse Art. 74 Übergangsbestimmung Art. 74a Übergangsbestimmung zur Änderung vom 27. Mai 2020 Art. 75 Inkrafttreten Anhang 1 Mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel Teil 1. Lebensmittelsicherheitskriterien 1. Lebensmittelkategorien Teil 2. Prozesshygienekriterien 2.1 Fleisch und Fleischerzeugnisse 2.2 Milch und Milcherzeugnisse 2.3 Eiprodukte 2.4 Fischereierzeugnisse 2.5 Gemüse, Obst und daraus hergestellte Erzeugnisse Teil 3. Besondere Bestimmungen für die Probenahme und die Untersuchung von Sprossen Anhang 2 Vorgaben zur Überwachung der Temperaturen von tiefgefrorenen Lebensmitteln in Beförderungsmitteln sowie in Einlagerungs- und Lagereinrichtungen Anhang 3 Vorgaben für die Untersuchungen | de |
6beae17e-757d-447a-b393-d59de7ecfb6a | Erwägungen
ab Seite 88
BGE 112 III 88 S. 88
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Beschwerdeführer stellt nicht in Abrede, dass eine Schuldanerkennung auch dann einen gültigen Rechtsöffnungstitel darstellen kann, wenn sie nicht durch den betriebenen Schuldner persönlich, sondern durch einen Vertreter unterzeichnet worden ist. Indessen ist er der Ansicht, die Unterschrift des Schuldners müsse in einem solchen Fall wenigstens auf einer entsprechenden schriftlichen Vollmacht angebracht sein.
b) Das dem schweizerischen Recht eigene Verfahren der provisorischen Rechtsöffnung schafft für den Betreibungsgläubiger insofern eine Erleichterung, als dieser, falls der Schuldner die Schuld anerkannt hat, zur Zwangsvollstreckung schreiten kann, ohne den Richter anrufen zu müssen, und der Schuldner, der sich dieser widersetzen will, seinerseits in die Rolle des Klägers (auf Aberkennung der Forderung) gedrängt wird. Der angeführte Weg steht dem Gläubiger allerdings nur unter der Voraussetzung offen, dass die Schuldanerkennung durch öffentliche Urkunde festgestellt oder "durch Unterschrift bekräftigt" wurde (
Art. 82 Abs. 1 SchKG
).
c) In der Praxis der kantonalen Rechtsöffnungsinstanzen wird die zur Beurteilung stehende Frage nicht einheitlich beantwortet.
BGE 112 III 88 S. 89
Während in gewissen Entscheiden mit dem Beschwerdeführer angenommen wird, die unterschriftliche Anerkennung einer Schuld durch einen Dritten bilde gegenüber dem nach dem Wortlaut der Urkunde Verpflichteten nur dann einen Rechtsöffnungstitel, wenn ein Auftrag an den Dritten zur Schuldanerkennung urkundlich ausgewiesen sei (vgl. PANCHAUD/CAPREZ, Die Rechtsöffnung 1980, § 5, Nrn. 2 und 16), wurde in andern Fällen ein konkludentes Verhalten des vertretenen Schuldners als ausreichend betrachtet (vgl. PANCHAUD/CAPREZ, § 5, Nrn. 1 und 17). Der zweiten, weniger strengen Auffassung ist auch JAEGER, der unter Hinweis auf die allgemeinen Bestimmungen über die Stellvertretung (
Art. 32 ff. OR
) festhält, dass dort, wo durch ein vertragliches Stellvertretungsverhältnis oder sonstwie die Wirksamkeit der Unterschrift eines andern für den Betriebenen liquid ausgewiesen sei, auch die Unterschrift eines Dritten als Stellvertreter im Hinblick auf die provisorische Rechtsöffnung genüge (N. 3 zu
Art. 82 SchKG
).
Es ist einzuräumen, dass namentlich die Strenge, die das Rechtsöffnungsverfahren in formeller Hinsicht an sich prägt, für die Betrachtungsweise des Beschwerdeführers spricht. Andererseits wird aber nirgends ausdrücklich vorgeschrieben, dass dort, wo eine Schuldanerkennung durch einen Vertreter unterschrieben wird (was auch der Beschwerdeführer nicht für unzulässig hält), das Vertretungsverhältnis durch eine vom Schuldner unterzeichnete schriftliche Vollmacht dargetan sein müsse. Die Auffassung des Appellationshofes ist jedenfalls nicht vollkommen unhaltbar; weder verstösst sie krass gegen eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz, noch läuft sie in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwider (vgl.
BGE 107 Ia 114
E. 2 mit Hinweisen). Der Hinweis des Beschwerdeführers auf
BGE 106 III 97
ff. vermag am Gesagten nichts zu ändern. Jenes Urteil hatte eine andere Frage zum Gegenstand, nämlich diejenige, ob die stillschweigende Genehmigung eines Kontokorrentauszuges in Verbindung mit dem vom Schuldner unterzeichneten Krediteröffnungsvertrag eine Anerkennung des passiven Kontosaldos darstelle. Die Verhältnisse liegen im zu beurteilenden Fall somit insofern wesentlich anders, als hier eine ausdrückliche schriftliche (wenn auch von einem Vertreter des Beschwerdeführers unterzeichnete) Anerkennung vorhanden ist.
... | de |
fa15f2e6-368d-49ab-abb1-68a96edde185 | Sachverhalt
ab Seite 260
BGE 139 V 259 S. 260
A.
Die 1955 geborene J. ist seit 1. Januar 2009 teilzeitlich auf Abruf bei M. als Kursleiterin tätig. Mit Verfügung vom 7. Februar 2012 verneinte die Arbeitslosenkasse Unia (nachfolgend: Arbeitslosenkasse) einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab 19. Februar 2012 mangels eines anrechenbaren Arbeitsausfalls, nachdem J. seit 19. Februar 2010 wiederholt Taggelder der Arbeitslosenversicherung bezogen hatte. Daran hielt die Arbeitslosenkasse mit Einspracheentscheid vom 30. März 2012 fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 17. August 2012 ab.
C.
J. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, es sei die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids an die Arbeitslosenkasse zur Prüfung ihres Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung zurückzuweisen, eventualiter sei die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Vorinstanz, die Arbeitslosenkasse und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
5.1
Gemäss konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts handelt es sich bei einem Arbeitsverhältnis auf Abruf, das nach dem Verlust einer Vollzeitstelle nicht freiwillig, sondern der Not gehorchend und um die Arbeitslosigkeit zu überbrücken, eingegangen wurde, um eine notgedrungene Zwischenlösung, was sich auch aus der Tatsache ergibt, dass die versicherte Person bereit ist, diese Tätigkeit unverzüglich aufzugeben. Eine versicherte Person hat dann mit der Aufnahme eines Abrufverhältnisses nur das getan, wozu sie gemäss der ihr obliegenden Schadenminderungspflicht (
Art. 17
BGE 139 V 259 S. 261
AVIG
; SR 837.0) gehalten ist (Urteil C 266/06 vom 26. Juli 2007 E. 3.2, in: SVR 2008 ALV Nr. 3 S. 6). Deshalb hielt das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht (heute Bundesgericht) fest, die Annahme eines Arbeitsverhältnisses auf Abruf nach Verlust einer Vollzeitstelle sei als Überbrückungstätigkeit zu werten und nicht anstelle der letzten Vollzeittätigkeit als massgebendes letztes Arbeitsverhältnis im Sinne von
Art. 4 Abs. 1 AVIV
(SR 837.02) zu betrachten (Urteil C 279/95 vom 10. Juni 1996 E. 3a, in: SVR 1996 ALV Nr. 74 S. 227).
Vorliegender Fall ist davon zu unterscheiden, denn die Beschwerdeführerin beantragte nach Aufnahme ihres Abrufverhältnisses im Jahr 2009 nun die Eröffnung der dritten Rahmenfrist zum Leistungsbezug, aufgrund desselben Arbeitsverhältnisses auf Abruf bei M., welches sie weiterhin als Zwischenverdiensttätigkeit abgerechnet haben will. Nachdem die Versicherte nun ununterbrochen seit über vier Jahren dieselbe Tätigkeit als Kursleiterin innehat, ging die Vorinstanz zu Recht davon aus, dass es sich hierbei nicht mehr um eine notgedrungene Überbrückungstätigkeit handelt, sondern, wie dies das SECO in Rz. B97b der AVIG-Praxis ALE
http://www.treffpunkt-arbeit.ch/publikationen/Kreisschreiben
festhielt: "Je länger dieses Arbeitsverhältnis auf Abruf jedoch dauert, desto mehr ist davon auszugehen, dass die neue Arbeitssituation für die versicherte Person zur Normalität wird und desto mehr geht der Gedanke der Schadenminderung verloren." Angesichts der langen Dauer des Arbeitsverhältnisses kann sich die Beschwerdeführerin nicht mehr darauf berufen, das Arbeitsverhältnis überbrückungsweise eingegangen zu sein.
5.2
Unbehelflich ist sodann der Verweis auf den öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutz (
Art. 9 BV
). Bei der Eröffnung der zweiten Leistungsrahmenfrist wertete die Kasse das Arbeitsverhältnis noch als notgedrungene Überbrückungstätigkeit zugunsten der Versicherten, während es sich bei der hier zu beurteilenden Folgerahmenfrist insofern um eine neue Situation handelt, als die Beschwerdeführerin nun schon seit mehreren Jahren im gleichen Abrufverhältnis steht und dabei seit fünf Jahren Leistungen der Arbeitslosenversicherung bezog. Die Beschwerdeführerin verkennt, dass beim Aufeinanderfolgen von Rahmenfristen jedes Mal eine Neuprüfung aller Anspruchsvoraussetzungen zu erfolgen hat. Der durch Zeitablauf veränderte Sachverhalt rechtfertigt eine andere rechtliche Beurteilung
BGE 139 V 259 S. 262
als die Situation, wie sie bei der Eröffnung der vorangegangenen Rahmenfrist vorlag. Eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht des Versicherungsträgers im Sinne von
Art. 27 Abs. 2 ATSG
(SR 830.1), die allenfalls einen Vertrauensschutz begründen könnte (
BGE 124 V 215
E. 2b/aa S. 221;
BGE 131 V 472
E. 5 S. 481), ist überdies nicht auszumachen, zumal die Versicherte während der ganzen Dauer ihrer Arbeitslosigkeit bestrebt sein musste, diese durch eine zumutbare, vollzeitliche Festanstellung zu beenden.
5.3
5.3.1
Ist das Einkommen aus dem Arbeitsverhältnis nicht mehr im Rahmen der Schadenminderungspflicht als Zwischenverdienst anzurechnen, erleidet die versicherte Person dem Grundsatz nach keinen anrechenbaren Verdienstausfall. Rechtsprechungsgemäss (
BGE 107 V 59
E. 1 S. 61 f.; Urteil 8C_379/2010 vom 28. Februar 2011, in: ARV 2011 S. 149 mit weiteren Hinweisen) kann von diesem Grundsatz dann abgewichen werden, wenn der auf Abruf erfolgte Einsatz während längerer Zeit im Wesentlichen mehr oder weniger konstant war.
5.3.2
Nach den nicht offensichtlich unrichtigen und daher für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz sind die Beschäftigungsschwankungen der Beschwerdeführerin zu gross, um die effektiv absolvierte Arbeitszeit als normal anzusehen, wogegen die Beschwerdeführerin auch nichts einwendet. Mit dem kantonalen Gericht ist demnach zu schliessen, dass sie ab 19. Februar 2012 mangels anrechenbaren Arbeitsausfalls keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hat. | de |
d6090393-c249-40d5-8dc7-cf488a5fab85 | Sachverhalt
ab Seite 212
BGE 98 IV 212 S. 212
A.-
Am 8. Juli 1970 nach Mitternacht bemerkten zwei Kantonspolizisten bei einem Kontrollgang auf dem Brünig, dass sich im Restaurant Alpina mehrere Personen hinter verhängten Fenstern angeregt unterhielten. Sie erkannten die Stimme des Josef Kathriner. Da die Polizeistunde längst überschritten war, verlangten sie Einlass, mussten aber, obwohl sie sich zu erkennen gaben, unverrichteter Dinge abziehen. Tür und Fenster blieben verschlossen, das Gespräch im Innern brach ab. Anhand der Kontrollnummern stellten die Polizisten fest, dass die beiden vor der Wirtschaft stehenden Autos Hans Wenger und Josef Kathriner gehörten.
Kathriner war Pächter des Restaurants Alpina und führte es zusammen mit der Serviertochter Irma Enz. Als Wirt mit vorläufig provisorischem Patent figurierte Walter von Ah, der sich aber wenig um den Betrieb kümmerte.
B.-
Die Polizisten verzeigten den Patentinhaber von Ah wegen Überwirtens und Nichtöffnens der Gastwirtschaft zur Kontrolle.
Kathriner wurde am 31. Juli 1970 vom Untersuchungsrichter als Zeuge einvernommen. Er bestritt, im fraglichen Zeitpunkt im Restaurant Alpina gewesen zu sein. Am Nachmittag desselben Tages telefonierte er dem Untersuchungsrichter und gab zu, am Morgen falsch ausgesagt zu haben. Er habe sich mit den
BGE 98 IV 212 S. 213
Ehegatten Wenger nach der Polizeistunde noch im "Alpina" aufgehalten. Der Untersuchungsrichter liess ihn sofort polizeilich vorführen und eröffnete ein Strafverfahren wegen falschen Zeugnisses.
Frau Enz war vor Kathriner am selben Tag als Zeugin vernommen worden. Sie behauptete, am 8. Juli 1970 nach Mitternacht allein im "Alpina" verblieben zu sein. Ohne diese Aussage unterzeichnen zu lassen, eröffnete ihr der Untersuchungsrichter mündlich, er leite gegen sie ein Strafverfahren wegen falschen Zeugnisses und Hinderung einer Amtshandlung ein. Frau Enz hielt an ihrer Darstellung fest und nahm von der Eröffnung des Untersuchungsrichters Kenntnis, dass sie in Untersuchungshaft gesetzt werde. Erst jetzt liess der Untersuchungsrichter Frau Enz das Protokoll unterzeichnen. Angesichts der gegenteiligen Aussagen der Ehegatten Wenger und der korrigierten Aussage Kathriners gab Frau Enz zu, die Unwahrheit gesagt zu haben. Sie machte geltend, Kathriner habe ihr geklagt, er sei in der Klemme, wenn sie die Wahrheit sage; das "Alpina" würde geschlossen.
C.-
Das Amtsgericht von Oberhasli verurteilte Irma Enz wegen Hinderung einer Amtshandlung zu Fr. 100.-- Busse, Josef Kathriner wegen Hinderung einer Amtshandlung sowie Nichtabgabe des Fahrzeugausweises und der Kontrollschilder trotz Aufforderung zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von einem Monat. Beide Angeklagten wurden von der Anklage des falschen Zeugnisses freigesprochen, Kathriner auch von der Anklage der Anstiftung zu falschem Zeugnis.
In Gutheissung der Berufung des Staatsanwalts verurteilte das Obergericht des Kantons Bern am 19. November 1971 Irma Enz wegen falschen Zeugnisses und Hinderung einer Amtshandlung zu Fr. 200.-- Busse, Kathriner wegen falschen Zeugnisses und Anstiftung dazu, Hinderung einer Amtshandlung sowie Nichtabgabe von Fahrzeugausweis und Kontrollschildern trotz amtlicher Aufforderung zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von einem Monat.
D.-
Kathriner führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Rückweisung der Sache an das Obergericht zur Freisprechung von der Anklage des falschen Zeugnisses und der Anstiftung dazu.
Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde.
BGE 98 IV 212 S. 214 Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Falsches Zeugnis Strafbares falsches Zeugnis nach
Art. 307 StGB
setzt voraus, dass die Einvernahme einer zeugnisfähigen Person in gültiger Form durchgeführt und nach den Bestimmungen des Prozessrechts abgeschlossen ist. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, so bleibt der Täter straflos, obwohl er über eine wesentliche Tatsache falsch ausgesagt hat (unveröffentlichte Urteile des Kassationshofes i.S. Wälti vom 18. Dezember 1959 und Bürgi vom 23. Dezember 1964).
Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei nicht zeugnisfähig gewesen. Da er von Anfang an dringend einer strafbaren Handlung verdächtig war, hätte er nur als Angeschuldigter und nicht als Zeuge einvernommen werden dürfen.
Der Natur der Sache nach und gemäss allgemein anerkanntem Prozessgrundsatz kann nicht Zeuge sein, wer im Verfahren Partei, insbesondere Beschuldigter ist (
BGE 92 IV 207
). Allgemein anerkannt ist ferner, dass auch ein schwer Tatverdächtiger nicht als Zeuge einvernommen werden darf; dies gilt entgegen der Meinung der Vorinstanz selbst im Verfahren gegen Dritte, soweit der Verdächtige sich durch seine Antworten selber belasten würde.
Das Obergericht erklärt, es sei "keine Frage", ob ein Schuldverdächtiger als Zeuge einvernommen werden dürfe: für die Vollendung des falschen Zeugnisses gemäss
Art. 307 StGB
sei vielmehr von Bedeutung, ob er als Zeuge einvernommen wurde oder nicht. Der Beschwerdeführer erblickt in dieser Auffassung eine Verletzung von
Art. 307 StGB
und rügt anderseits die Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach das Kriterium, ob eine Zeugenaussage gültig sei, eine Frage des kantonalen Prozessrechtes ist, als zu absolut. Diesen formellen Erfordernissen stehe noch eine materielle Komponente gegenüber, die nicht im kantonalen Recht, sondern in einem allgemeinen Rechtsgrundsatz wurzle: Zeuge könne nur sein, wer an der Sache unbeteiligt sei; sobald die Einvernahme darauf abziele, ein Geständnis zu erwirken, werde der Zeuge zum Angeschuldigten und seine Aussage verliere den Zeugnischarakter.
Der vom Obergericht vertretenen These ist entgegenzuhalten, dass die Frage der Zeugnisfähigkeit sich nicht aus
Art. 306-308 StGB
lösen lässt. Die Bestimmungen des Strafgesetzbuches
BGE 98 IV 212 S. 215
bezwecken die Erzwingung der Wahrheitspflicht des Zeugen. Ob jemand Zeuge sein kann und unter welchen Voraussetzungen, ist dagegen eine Frage des Verfahrensrechts (
BGE 92 IV 207
). Was der Beschwerdeführer gegen diese bundesgerichtliche Rechtsprechung vorbringt, dringt nicht durch. Auch wenn man anerkennt, dass die "Zeugeneinvernahme" eines ernsthaft Tatverdächtigen grundsätzlich nicht falsches Zeugnis sein kann, so handelt es sich bei diesem Grundsatz eben trotzdem um prozessuales und nicht um materielles Recht. Verletzt ein kantonales Gericht diesen Grundsatz, so kann das Urteil nicht wegen Verletzung von Bundesrecht durch Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b BStP). Die Vorinstanz hat zwar fälschlich Bundesstrafrecht angewendet; da sie dies aber lediglich tat, indem sie es als Auslegungsmittel in einer Frage heranzog, die in Wirklichkeit kantonales Prozessrecht betrifft, liegt ein Nichtigkeitsgrund nicht vor (vgl.
BGE 73 IV 135
;
BGE 96 II 63
,
BGE 93 II 191
a,
BGE 83 II 348
E 1). Dagegen wäre einer staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
eher Erfolg beschieden gewesen, nachdem das bernische Prozessrecht keine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz enthält und die Vorinstanz ihr von der bisherigen Berner Praxis abweichendes Urteil gar nicht auf prozessuale Bestimmungen gestützt hat.
2.
Anstiftung zu falschem Zeugnis
a) Der Beschwerdeführer bestreitet auch die Zeugenqualität von Frau Enz. Da sie tatverdächtig war, hätte sie nicht als Zeugin befragt werden dürfen. Somit hätte er jedenfalls nicht wegen Anstiftung zu falschem Zeugnis, sondern höchstens wegen Versuchs dazu bestraft werden können. Ferner kritisiert er den Umstand, dass der Untersuchungsrichter Frau Enz anfänglich als Zeugin befragte und ihre Aussage protokollierte, dann aber ohne Abschluss des Protokolls und Unterzeichnung durch Frau Enz als Zeugin diese des falschen Zeugnisses beschuldigte und weiter zu Protokoll einvernahm, das sie schliesslich als Angeschuldigte unterschrieb.
Die Frage nach der Zeugnisfähigkeit ist indessen, wie in Erwägung 1 dargelegt, eine solche des kantonalen Prozessrechts. Da das Gleiche für die Frage gilt, wann eine Zeugeneinvernahme beendet ist und ob, wie die Vorinstanz meint, Formfehler so, wie es hier angeblich geschehen ist, geheilt werden
BGE 98 IV 212 S. 216
können, sind dem Kassationshof im Nichtigkeitsverfahren die Hände gebunden. Der Mangel hätte durch Willkürbeschwerde geltend gemacht werden müssen. Nachdem schon aus diesem Grunde auf die Beschwerde in diesen Punkten nicht einzutreten ist, kann offen bleiben, ob die Rüge eines wegen Anstiftung verurteilten Täters, der Haupttäter sei zwar rechtskräftig aber zu Unrecht verurteilt worden, überhaupt zu hören ist.
b) Sodann bringt der Beschwerdeführer vor, das angefochtene Urteil widerspreche auch materiell den aus den Akten ersichtlichen Tatsachen. Er habe Frau Enz in Wirklichkeit nie aufgefordert, falsch auszusagen. Damit kritisiert der Beschwerdeführer den für den Kassationshof verbindlich festgestellten Sachverhalt (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
). Mit solchen Rügen, die sich gegen die Beweiswürdigung richten, ist der Beschwerdeführer ausgeschlossen (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
).
c) Zu dem weiteren Einwand des Beschwerdeführers, bei den Besprechungen unter den Beteiligten habe niemand an eine gerichtliche Zeugeneinvernahme gedacht und darum habe er Frau Enz auch nicht dazu angestiftet, als Zeuge falsch auszusagen, nimmt das Obergericht nicht Stellung. Es stellt tatbeständlich fest, Kathriner habe im "Alpina" zu Frau Enz gesagt, er werde jetzt mit den Eheleuten Wenger weggehen "und niemandem etwas sagen". Frau Enz ihrerseits habe deponiert, Kathriner habe sie dazu verhalten, die Wahrheit zu verschweigen. Die Vorinstanz folgert zusammenfassend, es sei "der Beweis dafür ... erbracht, dass Kathriner Frau Enz-Wigger angestiftet und ihr zugleich das Versprechen abgenommen hat, vor dem Richter die Wahrheit zu verschweigen". Daraus ergibt sich noch nicht, dass Kathriner Frau Enz anstiftete, als Zeugin falsch auszusagen. Selbst wenn von der Aussage vor dem Richter die Rede war, so konnte damit ebensogut die Aussage als Angeschuldigte gemeint sein. Die Umstände sprechen für diese Annahme. Kathriner, die Eheleute Wenger und Frau Enz hatten soeben gemeinsam der Polizei die Kontrolle verunmöglicht; keiner hatte die Türe geöffnet, keiner auf die Rufe der Polizei geantwortet. Alle vier hatten sich möglichst still verhalten, um vorzutäuschen, ausser Frau Enz sei niemand in der Wirtschaft. Die Gruppe war sich darüber klar, dass die Polizei der Sache nachgehen werde, weshalb für die ihnen drohende Untersuchung vereinbart wurde, nichts Belastendes zuzugeben. In dieser Lage sahen jedenfalls der Beschwerdeführer
BGE 98 IV 212 S. 217
und Frau Enz ihre Einvernahme als Eventualangeschuldigte voraus, da sie sich gemeinsam vergangen und Strafe zu gewärtigen hatten. Dass Frau Enz als Zeugin befragt würde, erschien dagegen nach der Sachlage ganz unwahrscheinlich. Der Umstand, dass Kathriner Frau Enz aufforderte, vor dem Richter die Wahrheit zu verschweigen, genügt somit nicht zur Verurteilung wegen Anstiftung zu falschem Zeugnis. Der Vorsatz Kathriners muss auch das Tatbestandsmerkmal umfassen, dass Frau Enz nicht als Angeschuldigte, sondern als Zeugin befragt werde. Davon hat sich der Richter wie von jedem andern Element des gesetzlichen Tatbestands materiell zu überzeugen und darüber von Amtes wegen Beweis zu führen. Die Sache ist deshalb nach
Art. 277 BStP
an das Obergericht zurückzuweisen, damit es sich in der zu treffenden neuen Entscheidung darüber ausspreche, ob und aufgrund welcher Tatsachen es dem Beschwerdeführer den genannten Vorsatz zur Last legt. | de |
2b7e1254-63b1-4fa8-824c-49a5e3d928cd | 748.215.1 1 / 32 Verordnung des UVEK über die Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen1 (VLL) vom 18. September 1995 (Stand am 1. Oktober 2022) Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK)2, gestützt auf die Artikel 57 Absätze 1 und 2 sowie 58 Absatz 2 des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 19483 (LFG) und auf die Artikel 13, 21 und 138a Absätze 1 und 2 der Luftfahrtverordnung vom 14. November 19734,5 verordnet: 1. Kapitel:6 Geltungsbereich und anwendbares Recht Art. 1 1 Diese Verordnung gilt für: a. Luftfahrzeuge, die im schweizerischen Luftfahrzeugregister eingetragen sind oder eingetragen werden sollen; b. Luftfahrzeuge, Triebwerke, Propeller, Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen, die in der Schweiz oder von schweizerischen Betrieben auf dem Flughafen Basel-Mülhausen entwickelt, hergestellt oder geändert werden und für die ein Baumusterzeugnis, ein Lufttüchtigkeitszeugnis, ein Export-Lufttüchtigkeits- zeugnis oder eine andere amtliche Bestätigung oder Bewilligung erforderlich ist oder beantragt wird; c. Triebwerke, Propeller, Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen, die in schweize- rische Luftfahrzeuge eingebaut werden oder für die ein Baumusterzeugnis, ein Lufttüchtigkeitszeugnis, ein Export-Lufttüchtigkeitszeugnis oder eine andere amtliche Bestätigung oder Bewilligung erforderlich ist oder beantragt wird. AS 1995 4897 1 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 20. Sept. 2004, in Kraft seit 1. Okt. 2004 (AS 2004 4271). 2 Bezeichnung gemäss nicht veröffentlichtem BRB vom 19. Dez. 1997. Diese Änd. ist im ganzen Erlass berücksichtigt. 3 SR 748.0 4 SR 748.01 5 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 6 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 748.215.1 Luftfahrt 2 / 32 748.215.1 2 Sie gilt nur, soweit nicht gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Abkommen vom 21. Juni 19997 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Ge- meinschaft über den Luftverkehr (Luftverkehrsabkommen) eine der folgenden Ver- ordnungen in der für die Schweiz jeweils verbindlichen Fassung8 anwendbar ist: a. Verordnung (EG) Nr. 2042/20039; b. Verordnung (EG) Nr. 216/200810; c. Verordnung (EU) Nr. 748/201211.12 3 Sie gilt insbesondere für Luftfahrzeuge, die gemäss Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 216/200813 vom Geltungsbereich der Verordnungen nach Absatz 2 ausgenommen sind. Art. 2 Zwischenstaatliche Vereinbarungen Zwischenstaatliche Vereinbarungen über die Zulassung, Entwicklung und Herstellung von Luftfahrzeugen, Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen bleiben vorbehalten. 2. Kapitel: Entwicklung und Herstellung Art. 314 Lufttüchtigkeitskategorien 1 Luftfahrzeuge werden folgenden Lufttüchtigkeitskategorien zugeteilt: a. der Standardkategorie, wenn sie nach dem Verfahren gemäss Artikel 9 Absatz 1bis zugelassen werden und den Lufttüchtigkeitsanforderungen von Artikel 10 Absatz 1 entsprechen; 7 SR 0.748.127.192.68 8 Die für die Schweiz jeweils verbindliche Fassung ist im Anhang zum Luftverkehrsabkom- men genannt und kann beim BAZL eingesehen oder bezogen werden. Adresse: Bundes- amt für Zivilluftfahrt, 3003 Bern (www.bazl.admin.ch). 9 V (EG) Nr. 2042/2003 der Kommission vom 20. Nov. 2003 über die Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen und luftfahrttechnischen Erzeugnissen, Teilen und Ausrüstungen und die Erteilung von Genehmigungen für Organisationen und Personen, die diese Tätigkeiten ausführen. 10 V (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Febr. 2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Eu- ropäischen Agentur für Flugsicherheit, zur Aufhebung der Richtlinie 91/670/EWG des Rates, der V (EG) Nr. 1592/2002 und der Richtlinie 2004/36/EG. 11 V (EU) Nr. 748/2012 der Kommission vom 3. Aug. 2012 zur Festlegung der Durchfüh- rungsbestimmungen für die Erteilung von Lufttüchtigkeits- und Umweltzeugnissen für Luftfahrzeuge und zugehörige Produkte, Bau- und Ausrüstungsteile sowie für die Zulas- sung von Entwicklungs- und Herstellungsbetrieben (Neufassung). 12 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 13 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). Diese Änd. ist im ganzen Text berücksichtigt. 14 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 3 / 32 748.215.1 b. der Sonderkategorie, wenn sie nicht oder nicht vollständig den Anforderungen der Standardkategorie entsprechen. 2 Jedes Luftfahrzeug der Sonderkategorie wird einer Unterkategorie zugeteilt. 3 Die Kriterien für die Zuteilung zu den einzelnen Unterkategorien, die jeweiligen Lufttüchtigkeitsanforderungen, die allgemeinen Betriebsauflagen und die Beschrif- tung sind in den Anhängen festgelegt. 4 Es gibt folgende Unterkategorien: a. Ecolight (Anhang 1); b. Ultraleicht (Anhang 2); c. Historisch / Historic (Anhang 3); d. Eigenbau (Anhang 4); e. Limitiert / Limited (Anhang 5); f. Experimental (Anhang 6); g. Eingeschränkt / Restricted (Anhang 7). Art. 415 Anforderungen 1 Das BAZL legt im Einzelfall fest: a. die Anforderungen an die Entwicklung von Luftfahrzeugen sowie ihrer Trieb- werke, Propeller, Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen; b. die Voraussetzungen für die Anerkennung von Entwicklungsbetriebszulas- sungen nach Anhang I Teil 21 Hauptabschnitt A Abschnitt J der Verordnung (EU) Nr. 748/201216; das BAZL erlässt dazu Richtlinien in Form von Tech- nischen Mitteilungen (Art. 50). 2 Die Herstellung von Luftfahrzeugen sowie von deren Triebwerken, Propellern, Luft- fahrzeugteilen und Ausrüstungen richtet sich nach der Verordnung des UVEK vom 5. Februar 198817 über die Luftfahrzeug-Herstellerbetriebe (VLHb). Art. 518 Ausnahmen Für die Entwicklung und die Herstellung von Luftfahrzeugen, Triebwerken, Propel- lern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen, die von einer ausländischen Behörde zu- gelassen werden, kann das BAZL auf deren Ersuchen hin Abweichungen von den Grundsätzen gemäss Artikel 4 vorsehen. 15 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 16 Gemäss Ziff. 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 17 SR 748.127.5 18 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 4 / 32 748.215.1 Art. 6 Unternehmen im Ausland Entwicklungs- und Herstellungsarbeiten können mit Zustimmung des BAZL19 an Un- ternehmen im Ausland übertragen werden. Das BAZL kann seine Zustimmung mit Auflagen oder Bedingungen verbinden. 3. Kapitel: Zulassung von Luftfahrzeugen 1. Abschnitt: Grundsatz20 Art. 721 Das BAZL stellt aufgrund einer amtlichen Prüfung aus: a. das für die Zulassung eines Baumusters erforderliche Baumusterzeugnis; b. das für die Zulassung eines Luftfahrzeuges zum Verkehr erforderliche Luft- tüchtigkeitszeugnis oder die Fluggenehmigung. 2. Abschnitt: Baumusterzulassung22 Art. 823 Art. 9 Zulassungsverfahren 1 Zulassungsbehörde ist in jedem Fall das BAZL.24 1bis Das Verfahren für die Zulassung von Luftfahrzeugen der Standardkategorie sowie von deren Triebwerken und Propellern richtet sich abweichend von Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 216/200825 nach der Verordnung (EU) Nr. 748/201226.27 19 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Diese Änd. ist im ganzen Text berücksichtigt. 20 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 21 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 22 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 23 Aufgehoben durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 24 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 25 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 26 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 27 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008 (AS 2008 3629). Fassung ge- mäss Ziff. I der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 5 / 32 748.215.1 2 Das Verfahren für die Zulassung von Luftfahrzeugen der Sonderkategorie sowie von deren Triebwerken und Propellern wird im Einzelfall vom BAZL festgelegt (Techni- sche Mitteilung, Art. 50). 3 Der Antragsteller oder die Antragstellerin hat die für das Zulassungsverfahren benö- tigten Unterlagen über die Lufttüchtigkeitsanforderungen selbst zu beschaffen. 4 Der Antragsteller oder die Antragstellerin hat dem BAZL alle für die Zulassung er- forderlichen Unterlagen und deren Nachträge kostenlos zuzustellen. Diese sind in englischer Sprache oder in einer Amtssprache abzufassen. 5 Das BAZL kann ausländische Baumusterzeugnisse anerkennen, die nach den Luft- tüchtigkeitsanforderungen nach Artikel 10 ausgestellt worden sind.28 Art. 1029 Lufttüchtigkeitsanforderungen 1 Luftfahrzeuge der Standardkategorie sowie deren Triebwerke und Propeller haben grundsätzlich den Lufttüchtigkeitsanforderungen der Verordnung (EU) Nr. 748/201230 zu entsprechen. Als solche gelten namentlich die folgenden Lufttüch- tigkeitsanforderungen der EASA31: CS32-22, CS-VLA, CS-VLR, CS-23, CS-25, CS-27, CS-29, CS-TGB, CS-GB, CS-HB, CS-E, CS-P. 2 Kann ein Luftfahrzeug nicht nach in der Schweiz geltenden Lufttüchtigkeitsanfor- derungen zugelassen werden, so kann das BAZL es im Einzelfall zulassen, wenn ein gleichwertiges Sicherheitsniveau erreicht wird. Dabei orientiert sich das BAZL an be- stehenden ausländischen Lufttüchtigkeitsanforderungen, namentlich an Vorschriften der Luftfahrtbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika, wie FAR33 23, FAR 25, FAR 27, FAR 29 und FAR 31. 3 Die antragstellende Person hat durch Berichte und Versuche nachzuweisen, dass die Lufttüchtigkeitsanforderungen erfüllt sind. Das BAZL kann zusätzlich Kontrollen, Berechnungen oder Versuche am Boden und in der Luft verlangen oder, nach Anhö- rung der antragstellenden Person, selbst durchführen oder durch Dritte durchführen lassen. Art. 10a34 Ausnahmen Das BAZL kann von den Zulassungsverfahren und den Lufttüchtigkeitsanforderungen für Luftfahrzeuge der Standardkategorie abweichen, wenn eine ausländische Behörde für ein Luftfahrzeug, das ihrer Aufsicht untersteht, eine Zulassung nach anderen Ver- fahren oder Lufttüchtigkeitsanforderungen begehrt. 28 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 29 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 30 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 31 EASA = European Aviation Safety Agency (www.easa.europa.eu) 32 CS = Certification Specification: Lufttüchtigkeitsanforderungen der EASA 33 FAR = Federal Aviation Regulation: Anforderungen der FAA (Federal Aviation Administration der Vereinigten Staaten von Amerika; www.faa.gov). 34 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 6 / 32 748.215.1 3. Abschnitt: Zulassung zum Verkehr35 Art. 10b36 Lufttüchtigkeitszeugnis und Fluggenehmigung 1 Bei Luftfahrzeugen der Standardkategorie erfolgt die Zulassung zum Verkehr mit Erteilung eines Lufttüchtigkeitszeugnisses. Befinden sich die Luftfahrzeuge im Zu- lassungsverfahren oder weichen sie von den wesentlichen Anforderungen an die Luft- tüchtigkeit ab, so erfolgt die Zulassung mit Erteilung einer Fluggenehmigung. 2 Bei Luftfahrzeugen der Sonderkategorie erfolgt die Zulassung zum Verkehr mit Er- teilung einer Fluggenehmigung. Art. 1137 Zulassungsbereich und Auflagen für den Betrieb Das BAZL legt fest: a. den Zulassungsbereich: in einem Anhang zum Lufttüchtigkeitszeugnis oder zur Fluggenehmigung; b. soweit erforderlich Auflagen für den Betrieb: im Flughandbuch. Art. 12 Anerkennung ausländischer Export-Lufttüchtigkeitszeugnisse 1 Bei der Einfuhr eines Luftfahrzeuges kann das BAZL bis zur Ausstellung eines schweizerischen Lufttüchtigkeitszeugnisses oder einer schweizerischen Fluggeneh- migung ein vom Exportstaat ausgestelltes Export-Lufttüchtigkeitszeugnis oder gleich- wertige Unterlagen anerkennen. Abweichungen vom Baumuster müssen darin ver- merkt sein.38 2 Die Gültigkeitsdauer eines ausländischen Export-Lufttüchtigkeitszeugnisses richtet sich nach den zwischenstaatlichen Vereinbarungen. Fehlen solche, so entscheidet das BAZL über die Gültigkeitsdauer des ausländischen Zeugnisses. 3 Das BAZL kann nach Ablauf der Gültigkeitsdauer eines ausländischen Export-Luft- tüchtigkeitszeugnisses die Durchführung besonderer Instandhaltungsarbeiten39 ver- langen. Art. 1340 35 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 36 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 37 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 38 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 39 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. 40 Aufgehoben durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 7 / 32 748.215.1 Art. 14 Mindestausrüstung der Luftfahrzeuge Das BAZL legt im Einzelfall für die vorgesehene Einsatzart die Mindestausrüstung eines Luftfahrzeuges fest, soweit diese nicht aus den Lufttüchtigkeitsanforderungen hervorgeht (Technische Mitteilung, Art. 50). 4. Kapitel: Zulassung von Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen41 Art. 15 Zulassungsverfahren42 1 Das Verfahren für die Zulassung von Luftfahrzeugteilen und von Ausrüstungen ent- spricht grundsätzlich den Verfahren für die Zulassung von Luftfahrzeugen (3. Kap. 2. Abschn.).43 1bis Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen müssen dem in der Luftfahrtindustrie aner- kannten Standard entsprechen. Als anerkannter Standard gelten insbesondere die Nor- men DIN, TSO, JTSO, ETSO, MIL Spec, AN, MS und NAS.44 2 Luftfahrzeugteile, die Bestandteil eines Luftfahrzeuges sind, werden in der Regel zusammen mit dem betreffenden Baumuster des Luftfahrzeuges zugelassen. Die Ver- wendung solcher Luftfahrzeugteile in einem anderen Baumuster bedarf einer beson- deren Baumusterprüfung. 3 Das BAZL bestimmt im Einzelfall, für welche Luftfahrzeugteile eine besondere Baumusterprüfung durchzuführen ist. Art. 16 Lufttüchtigkeitsanforderungen 1 Für die Lufttüchtigkeitsanforderungen für Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen gel- ten sinngemäss Artikel 10 sowie die Standards gemäss Artikel 15 Absatz 1bis.45 2 Für die Zulassung radioelektrischer Sende- und Empfangsanlagen bleiben besondere Bestimmungen vorbehalten. 41 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 42 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 43 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 44 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 45 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 8 / 32 748.215.1 Art. 17 Zulassung des Baumusters eines Luftfahrzeugteils oder einer Ausrüstung46 1 Das BAZL kann die Erfüllung der Lufttüchtigkeitsanforderungen eines Luftfahr- zeugteils oder einer Ausrüstung in einem Baumusterzeugnis und einem zugehörigen Gerätekennblatt bestätigen.47 2 Das Verfahren zur Erteilung oder Anerkennung eines Baumusterzeugnisses richtet sich sinngemäss nach den Artikeln 9 und 10. 3 Teile, für die ein Baumusterzeugnis ausgestellt wurde, müssen mit den zugehörigen Baumusterunterlagen übereinstimmen. Abweichungen sind vom BAZL zu genehmi- gen. Art. 18 Verwendung von Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen48 1 Luftfahrzeugteile, die nach Artikel 15 Absatz 2 oder 3 einer Baumusterprüfung un- terworfen sind, dürfen verwendet werden, wenn sie den anwendbaren Lufttüchtig- keitsanforderungen entsprechen und wenn: a. sie neu sind, sachgemäss gelagert und soweit erforderlich unterhalten worden sind; oder b. für sie eine Freigabebescheinigung49 ausgestellt worden ist. 2 Die übrigen Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen dürfen verwendet werden, wenn sie den anwendbaren Lufttüchtigkeitsanforderungen entsprechen und wenn sie:50 a. neu sind und sachgemäss gelagert worden sind; oder b. sachgemäss unterhalten und gelagert worden sind. 5. Kapitel: Technische Akten und weitere Unterlagen Art. 19 Technische Akten 1 Der Halter oder die Halterin oder die mit der Instandhaltung51 betraute Person muss für jedes Luftfahrzeug sowie für Triebwerke und Propeller die Technischen Akten führen. Diese enthalten in der Regel folgende Unterlagen und Angaben: a. die vom BAZL verlangten technischen Unterlagen des Herstellers; 46 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 47 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 48 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 49 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. 50 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 51 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Diese Änd. ist im ganzen Text berücksichtigt. Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 9 / 32 748.215.1 b. die Angaben über Ein- und Ausbau von Triebwerken, Propellern, Baugruppen und Ausrüstungen; c. die Angaben über die durchgeführten Instandhaltungsarbeiten mit Vermerk des Zeitpunktes und der Anzahl Betriebsstunden und allenfalls der Landungen oder Zyklen; d. die Bestätigung der ausgeführten Lufttüchtigkeitsanweisungen (Art. 26); e.52 die Freigabebescheinigungen und die zugehörigen Arbeitsberichte; f.53 die Kontrollen über laufzeitbegrenzte Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen; g.54 das Lufttüchtigkeitsfolgezeugnis oder den Prüfbericht. 2 Das BAZL kann verlangen, dass auch für andere Luftfahrzeugteile und Ausrüstun- gen Technische Akten zu führen sind.55 3 Die Aufzeichnungen in den Technischen Akten sowie die Meldungen betreffend die Behebung von technischen Störungen und Mängeln (Art. 29) an das BAZL haben wahrheitsgetreu und lückenlos zu erfolgen. Art. 20 Flugreisebuch und ähnliche Unterlagen 1 Für Flugzeuge, Helikopter und Motorsegler ist ein vom BAZL herausgegebenes Flugreisebuch oder ein gleichwertiges, vom BAZL anerkanntes Dokument zu führen. 2 Die Besatzung nimmt die Eintragungen spätestens nach dem letzten Flug des betref- fenden Tages vor und bestätigt sie mit der Unterschrift. …56 3 Für Segelflugzeuge ist eine Flugstundenkontrolle, für Freiballone ein Fahrtenbuch zu führen. 4 Alle Aufzeichnungen haben wahrheitsgetreu und lückenlos zu erfolgen. Art. 21 Ergänzende Richtlinien Das BAZL kann ergänzende Richtlinien über die Form, das Führen und Aufbewahren der Technischen Akten, des Flugreisebuches und der ähnlichen Unterlagen erlassen (Technische Mitteilung, Art. 50). 52 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 53 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 54 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 55 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 56 Satz aufgehoben durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 10 / 32 748.215.1 Art. 22 Unterlagen an Bord 1 In jedem Luftfahrzeug, das zum Verkehr zugelassen ist, sind folgende Bordpapiere und Unterlagen mitzuführen: a. das Eintragungszeugnis; b.57 das Lufttüchtigkeitszeugnis oder die Fluggenehmigung mit dem Anhang «Zu- lassungsbereich»; für Schleppflugzeuge zusätzlich das Schlepptüchtigkeits- zeugnis; bbis.58das gültige Lufttüchtigkeits-Folgezeugnis (Airworthiness Review Certifi- cate) oder die gültige Prüfbestätigung über die Kontrolle der Lufttüchtigkeit; c. das Lärmzeugnis, wenn ein solches vorgeschrieben ist; d.59 der Nachweis der Versicherung der Haftpflicht gegenüber Dritten auf der Erde und, sofern vorgeschrieben, der Nachweis der Versicherung der Haftpflicht gegenüber Reisenden; e. die «Konzession für Flugzeugstation» für Luftfahrzeuge, die mit radioelektri- schen Empfangs- und Sendeanlagen ausgerüstet sind; f. das Flughandbuch; g.60 das Flugreisebuch oder gleichwertige Unterlagen, einschliesslich Freigabebe- scheinigungen; h.61 die vom Hersteller herausgegebene oder eine vom Halter oder der Halterin erstellte Prüfliste (Check List). 2 …62 3 In speziellen Fällen, wie insbesondere für Luftfahrzeuge im Zulassungsverfahren, bestimmt das BAZL die mitzuführenden Bordpapiere und Unterlagen im Einzelfall.63 57 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 58 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 59 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 8. Aug. 2005, in Kraft seit 5. Sept. 2005 (AS 2005 4197). 60 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 61 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 62 Aufgehoben durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 63 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 11 / 32 748.215.1 6. Kapitel: Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit64 1. Abschnitt: Verantwortung des Halters oder der Halterin Art. 2365 1 Der Halter oder die Halterin eines Luftfahrzeuges ist für die Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit des Luftfahrzeuges verantwortlich. 2 Er oder sie muss sicherstellen, dass das Luftfahrzeug entsprechend den massgeben- den Instandhaltungsanforderungen instand gehalten und der vorgeschriebenen perio- dischen Überprüfung der Lufttüchtigkeit unterzogen wird. 2. Abschnitt: Instandhaltung im Allgemeinen66 Art. 24 Für die Inverkehrsetzung erforderliche Instandhaltung67 1 Ein Luftfahrzeug darf unter Vorbehalt von Artikel 41 nur in Verkehr gesetzt werden, wenn: a. die erforderlichen Instandhaltungsarbeiten ordnungsgemäss durchgeführt worden sind; b. der vom BAZL festgelegte jährliche Mindestinstandhaltung68 durchgeführt worden ist; c. nach technischen Störungen, Mängeln oder anormalen Beanspruchungen, welche die Lufttüchtigkeit des Luftfahrzeuges in Frage stellen, eine Überprü- fung des Luftfahrzeuges durch eine dazu berechtigte Person erfolgt ist und diese Überprüfung ergeben hat, dass die Lufttüchtigkeit nicht beeinträchtigt ist; d. vom BAZL festgestellte Mängel innerhalb der festgelegten Frist behoben wor- den sind; e. eine gültige Freigabebescheinigung nach Artikel 37 vorliegt; f.69 eine gültige Bestätigung des BAZL über die Kontrolle der Lufttüchtigkeit vor- liegt. 64 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 65 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 66 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 67 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 68 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Diese Änd. ist im ganzen Text berücksichtigt. 69 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). Luftfahrt 12 / 32 748.215.1 2 Sind die Voraussetzungen für die Inverkehrsetzung nicht mehr erfüllt, so muss der Halter oder die Halterin dafür sorgen, dass die Besatzungen davon in Kenntnis gesetzt werden. 3 Ein Triebwerk, Propeller, Luftfahrzeugteil oder eine Ausrüstung darf nur verwendet werden, wenn:70 a. die erforderlichen Instandhaltungsarbeiten ordnungsgemäss durchgeführt worden sind; b.71 nach technischen Störungen, Mängeln oder Beanspruchungen, welche die Verwendbarkeit in Frage stellen, eine Überprüfung des Triebwerks, Propel- lers, Luftfahrzeugteils oder der Ausrüstung durch eine dazu berechtigte Per- son erfolgt ist und diese Überprüfung ergeben hat, dass die Verwendbarkeit nicht beeinträchtigt ist; c. vom BAZL festgestellte Mängel innerhalb der festgelegten Frist behoben wor- den sind; d. eine Freigabebescheinigung vorliegt, soweit eine solche nach Artikel 37 vor- geschrieben ist. Art. 25 Grundlagen der Instandhaltung 1 Luftfahrzeuge, Triebwerke, Propeller, Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen müssen in Übereinstimmung mit den für die Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit oder Ver- wendbarkeit massgebenden, nachgeführten Instandhaltungsunterlagen instand gehal- ten werden.72 2 Als Instandhaltungsunterlagen, die für die Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit o- der Verwendbarkeit verbindlich sind, gelten insbesondere:73 a. die Instandhaltungspläne74 (Maintenance Review Board Reports/Documents), die zum Baumusterzeugnis gehören und vom BAZL anwendbar erklärt wor- den sind; b. die vom Inhaber des Baumusterzeugnisses festgelegten oder empfohlenen Be- triebszeiten; das BAZL kann im Einzelfall Ausnahmen und Toleranzen von den Betriebszeiten festlegen (Technische Mitteilung, Art. 50); c.75 die vom Inhaber des Baumusterzeugnisses herausgegebenen Instandhal- tungsprogramme, Arbeitsanleitungen, Kontrollblätter und Reparaturanwei- 70 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 71 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 72 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 73 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 74 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 75 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 13 / 32 748.215.1 sungen; das BAZL kann im Einzelfall Ausnahmen und Toleranzen von den Instandhaltungsprogrammen festlegen (Technische Mitteilungen, Art. 50); d. die Lufttüchtigkeitsanweisungen und die weiteren Weisungen des BAZL; e.76 die vom BAZL genehmigten Instandhaltungsprogramme. 3 Erweisen sich die Instandhaltungsunterlagen77 des Inhabers des Baumusterzeugnis- ses als ungenügend, so kann das BAZL verlangen, dass sie geändert oder ergänzt wer- den. 4 Sind für Reparaturarbeiten oder andere Instandhaltungsarbeiten keine Mindestin- standhaltung vorhanden, so muss der Halter oder die Halterin vom Inhaber des Bau- musterzeugnisses ergänzende Unterlagen anfordern. Sind solche nicht erhältlich, so gelten die Artikel 42–47 sinngemäss. 5 Der Halter oder die Halterin muss die Instandhaltungsunterlagen und die ihm oder ihr vom BAZL zugestellten Weisungen und Richtlinien dem Instandhaltungsbetrieb oder Unterhaltspersonal und gegebenenfalls dem Flugbetriebsunternehmen zur Ver- fügung stellen.78 Art. 26 Lufttüchtigkeitsanweisungen 1 Zur Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit bestimmter Luftfahrzeuge oder der Ver- wendbarkeit bestimmter Luftfahrzeugteile kann das BAZL Lufttüchtigkeitsanweisun- gen erlassen oder ausländische Lufttüchtigkeitsanweisungen für verbindlich erklären. 2 Abweichungen von einer Lufttüchtigkeitsanweisung müssen vom BAZL genehmigt werden. Art. 27 Art der Instandhaltungsarbeiten 1 Das BAZL erlässt Richtlinien (Technische Mitteilung, Art. 50) für die Unterschei- dung zwischen:79 a.80 komplexen und nicht komplexen Instandhaltungsarbeiten; b. Instandhaltungsarbeiten und Bereitstellungsarbeiten. 2 Das BAZL legt den Umfang der jährlichen Mindestinstandhaltung (Annual Inspec- tion) im Einzelfall fest (Technische Mitteilung, Art. 50). 76 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 77 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 78 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 79 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 80 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 14 / 32 748.215.1 Art. 2881 Einbau von Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen 1 Bei Instandhaltungsarbeiten dürfen nur Triebwerke, Propeller, Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen eingebaut werden, die für das Baumuster des Luftfahrzeuges zugelas- sen und verwendbar sind (Art. 15 und 18). 2 Triebwerk- und Propellerwechsel sind dem BAZL innert zehn Arbeitstagen schrift- lich zu melden; die erforderliche Dokumentation ist der Meldung beizulegen. 3. Abschnitt: Meldepflicht bei technischen Störungen und Mängeln Art. 29 1 Werden während des Betriebes eines Luftfahrzeuges technische Störungen, Mängel oder anormale Beanspruchungen festgestellt, so muss die Besatzung diese im Flug- reisebuch oder in einem gleichwertigen Dokument eintragen und dem Halter oder der Halterin oder der dafür bezeichneten Stelle unverzüglich melden. Ist nichts zu bean- standen, muss die Besatzung dies ebenfalls eintragen. 2 …82 3 Der Halter oder die Halterin oder die dafür bezeichnete Stelle muss dem BAZL er- hebliche technische Störungen, Mängel und anormale Beanspruchungen unverzüglich melden. Das BAZL erlässt darüber Richtlinien (Technische Mitteilung, Art. 50). 4. Abschnitt: 83 Instandhaltung von Luftfahrzeugen im gewerbsmässigen Einsatz Art. 30 Die Anforderungen an die Durchführung von Instandhaltungsarbeiten für Luftfahr- zeuge im gewerbsmässigen Einsatz richten sich nach den Vorschriften über den Be- trieb von Luftfahrzeugen im gewerbsmässigen Luftverkehr. Art. 31 Aufgehoben 81 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 82 Aufgehoben durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 83 Ursprünglich Kapitel 7 und Abschnitt 1. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 15 / 32 748.215.1 5. Abschnitt:84 Instandhaltung für andere Luftfahrzeuge Art. 32 Flugzeuge, Helikopter und Motorsegelflugzeuge 1 Die Anforderungen an die Instandhaltung von Flugzeugen der Standardkategorie mit einer höchstzulässigen Startmasse von 5700 kg und mehr sowie für mehrmotorige Helikopter der Standardkategorie werden durch das BAZL im Einzelfall festgelegt. 2 Komplexe Instandhaltungsarbeiten an den übrigen Flugzeugen, an Motorsegelflug- zeugen mit einer höchstzulässigen Startmasse von mehr als 1200 kg und an Helikop- tern sowie jegliche Instandhaltungsarbeiten an Luftfahrzeugen, die regelmässig zu Schulungszwecken verwendet werden, müssen in einem Instandhaltungsbetrieb ge- mäss der Verordnung des UVEK vom 19. März 200485 über Luftfahrzeug-Instandhal- tungsbetriebe (VLIb) ausgeführt oder bescheinigt werden. Das BAZL kann auf Ge- such Ausnahmen bewilligen.86 3 Komplexe Instandhaltungsarbeiten an Flugzeugen und Motorsegelflugzeugen bis zu einer höchstzulässigen Startmasse von 1200 kg sowie alle übrigen nicht komplexen Instandhaltungsarbeiten an Flugzeugen und Helikoptern dürfen ausgeführt oder be- scheinigt werden durch:87 a. einen Instandhaltungsbetrieb gemäss VLIb; b. das Luftfahrzeug-Instandhaltungspersonal, soweit dieses: 1. nach Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 2042/200388 oder der Verord- nung vom 25. August 200089 über das Luftfahrzeug-Instandhaltungsper- sonal (VLIp) dazu berechtigt ist, und 2. über die erforderlichen Instandhaltungsunterlagen, Werkzeuge und Ein- richtungen verfügt; c. die Herstellerbetriebe, soweit sie gemäss ihrer Herstellerbetriebsbewilligung nach der Verordnung (EG) Nr. 1702/200390 oder nach Artikel 17 Absatz 1 Buchstabe b VLHb91 berechtigt sind. Art. 33 Segelflugzeuge, Segelflugzeuge mit Klapptriebwerken, Luftschiffe und Ballone 1 Komplexe Instandhaltungsarbeiten an Segelflugzeugen, Segelflugzeugen mit Klapptriebwerken, Luftschiffen und Ballonen dürfen ausgeführt oder bescheinigt wer- den durch: 84 Ursprünglich Abschnitt 3. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 85 SR 748.127.4 86 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 87 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 88 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 89 SR 748.127.2 90 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 91 SR 748.127.5 Luftfahrt 16 / 32 748.215.1 a. einen Instandhaltungsbetrieb gemäss VLIb92; b. die Herstellerbetriebe, soweit sie gemäss ihrer Herstellerbetriebsbewilligung nach der Verordnung (EG) Nr. 1702/200393 oder nach Artikel 17 Absatz 1 Buchstabe b VLHb94 berechtigt sind; c.95 das Luftfahrzeug-Instandhaltungspersonal, soweit dieses: 1. nach Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 2042/200396 oder nach VLIp97 dazu berechtigt ist; und 2. über die erforderlichen Instandhaltungsunterlagen, Werkzeuge und Ein- richtungen verfügt. 2 Nicht komplexe Instandhaltungsarbeiten an Segelflugzeugen, Segelflugzeugen mit Klapptriebwerken, Luftschiffen und Ballonen dürfen ausgeführt oder bescheinigt wer- den durch: a. die Halter oder Halterinnen, soweit sie über die erforderlichen technischen Kenntnisse, Instandhaltungsunterlagen, Werkzeuge und Einrichtungen verfü- gen; b. das Luftfahrzeug-Instandhaltungspersonal, soweit dieses: 1. nach Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 2042/200398 oder nach VLIp99 dazu berechtigt ist, und 2. über die erforderlichen Instandhaltungsunterlagen, Werkzeuge und Ein- richtungen verfügt; c. einen Instandhaltungsbetrieb gemäss VLIb; d. die Herstellerbetriebe, soweit sie gemäss ihrer Herstellerbetriebsbewilligung nach der Verordnung (EG) Nr. 1702/2003 oder nach Artikel 17 Absatz 1 Buchstabe b VLHb dazu berechtigt sind. 3 Artikel 34 Absatz 4 ist sinngemäss anwendbar. Art. 34 Sonderfälle 1 Das BAZL kann einen nach der Verordnung (EG) Nr. 2042/2003100 für die Instand- haltung von Luftfahrzeugen berechtigten Instandhaltungsbetrieb dazu ermächtigen, Instandhaltungsarbeiten an Luftfahrzeugen, welche nicht in den Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 216/2008101 fallen, nach dieser Verordnung durchzuführen und zu bescheinigen, sofern die Arbeiten entsprechend einem vom BAZL bewilligten na- tionalen Anhang zum gemäss der Verordnung (EG) Nr. 2042/2003 genehmigten In- standhaltungsbetriebshandbuch (MOE/MOM) durchgeführt und bescheinigt werden. 92 SR 748.127.4 93 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 94 SR 748.127.5 95 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 96 Gemäss Ziff. 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 97 SR 748.127.2 98 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 99 SR 748.127.2 100 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). 101 Gemäss Ziffer 3 des Anhangs zum Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 17 / 32 748.215.1 Das BAZL kann in den Technischen Mitteilungen nach Artikel 50 Richtlinien erlas- sen. 2 Es kann dem Halter oder der Halterin eines einmotorigen Flugzeuges mit Kolben- triebwerk oder eines Luftfahrzeuges der Sonderkategorie bewilligen, bestimmte nicht komplexe Instandhaltungsarbeiten am Luftfahrzeug selbst durchzuführen und zu be- scheinigen. Es erlässt dazu Richtlinien (Technische Mitteilungen, Art. 50). 3 Es kann den Halter oder die Halterin eines Luftfahrzeugs der Sonderkategorie «Ei- genbau» oder eine von ihm oder ihr bezeichnete Fachperson ermächtigen, nebst dem berechtigten Luftfahrzeug-Instandhaltungspersonal bestimmte Instandhaltungsarbei- ten nach den Instandhaltungsunterlagen selbst auszuführen, zu überwachen und zu bescheinigen. Es legt den Umfang der Ermächtigung und die Auflagen fest. Es kann die Instandhaltungsarbeiten überwachen.102 4 Für die Instandhaltung eines Luftfahrzeugs der Unterkategorien «Historisch» und «Limitiert» kann der Halter oder die Halterin nebst dem berechtigten Luftfahrzeug- Instandhaltungspersonal weitere Fachpersonen beiziehen.103 Das BAZL überprüft diese Personen auf ihre Fähigkeiten. Es kann sie ermächtigen, bestimmte Instandhal- tungsarbeiten auszuführen, zu überwachen und zu bescheinigen. Es legt den Umfang der Ermächtigung und die Auflagen fest. Es kann die Instandhaltungsarbeiten über- wachen oder dafür zusätzliche Auflagen festlegen. 5 Stellt das BAZL Mängel in der Instandhaltung nach den Absätzen 1–4 fest, so kann es der betroffenen Person die Bewilligung oder Ermächtigung entziehen oder ein- schränken. 6. Abschnitt:104 Instandhaltung von Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen Art. 35 Für die Berechtigung zur Durchführung von Instandhaltungsarbeiten an Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen sind die Artikel 30–34 sinngemäss anwendbar. 102 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 103 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 104 Ursprünglich Abschnitt 5. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 18 / 32 748.215.1 7. Abschnitt:105 Instandhaltungsarbeiten im Ausland Art. 36 1 Die Anforderungen an die Durchführung von Instandhaltungsarbeiten im Ausland für Luftfahrzeuge im gewerbsmässigen Einsatz richten sich nach den Vorschriften über den Betrieb von Luftfahrzeugen im gewerbsmässigen Luftverkehr. 2 Instandhaltungsarbeiten an nicht gewerbsmässig eingesetzten Luftfahrzeugen oder an Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen, die zum Einbau in nicht gewerbsmässig eingesetzte Luftfahrzeuge bestimmt sind, dürfen im Ausland nur vom betreffenden Herstellerbetrieb oder von Instandhaltungsbetrieben, die von der zuständigen Luftfahrtbehörde für solche Arbeiten anerkannt sind, ausgeführt oder be- scheinigt werden. 3 Werden Instandhaltungsarbeiten an ausländische Hersteller- oder Instandhaltungs- betriebe übertragen, so muss der Halter oder die Halterin verlangen, dass: a. die massgebenden Unterlagen verwendet werden (Art. 25); und b. die erforderlichen Bescheinigungen und Arbeitsberichte sinngemäss nach den geltenden Vorschriften ausgestellt werden (Art. 37 und 38). 4 Das BAZL kann solche Instandhaltungsarbeiten an Ort und Stelle prüfen. 5 Stellt das BAZL fest, dass Instandhaltungsarbeiten im Ausland mangelhaft ausge- führt worden sind, so kann es verfügen, dass: a. das betreffende Luftfahrzeug erst wieder in Verkehr gesetzt oder das Trieb- werk, der Propeller, das Luftfahrzeugteil oder die Ausrüstung erst wieder ver- wendet werden darf, wenn die erforderlichen Instandhaltungsarbeiten von ei- nem schweizerischen Instandhaltungsbetrieb durchgeführt worden sind; b. solche Arbeiten nicht mehr dem betreffenden ausländischen Instandhaltungs- betrieb übertragen werden. 6 Das BAZL kann im Einzelfall Ausnahmen von den Absätzen 2 und 3 vorsehen. 8. Abschnitt: Abschluss und Bestätigung der Instandhaltungsarbeiten106 Art. 37107 Freigabebescheinigung 1 Nach Instandhaltungsarbeiten an Luftfahrzeugen und an darin eingebauten Trieb- werken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen, insbesondere nach der Be- hebung von technischen Störungen, Mängeln und nach anormalen Beanspruchungen, 105 Ursprünglich Abschnitt 6. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 106 Ursprünglich Abschnitt 7. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 107 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 19 / 32 748.215.1 hat eine dazu berechtigte Person die Instandhaltung mit einer Freigabebescheinigung zu bestätigen: a. bei Flugzeugen, Helikoptern und Motorseglern: im Flugreisebuch oder in ei- nem gleichwertigen Dokument; b. bei Ballonen: im Fahrtenbuch oder in einem gleichwertigen Dokument. 2 Nach Instandhaltungsarbeiten an Triebwerken, Propellern Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen, die nicht zum sofortigen Einbau in ein Luftfahrzeug bestimmt sind, hat eine dazu berechtigte Person eine Freigabebescheinigung auszustellen. 3 Die Freigabebescheinigung darf erst ausgestellt werden, wenn die Instandhaltungs- arbeiten nach den massgebenden Instandhaltungsunterlagen (Art. 25) durchgeführt und abgeschlossen worden sind und wenn dabei nur verwendbare Triebwerke, Pro- peller, Luftfahrzeugteile und Ausrüstungen eingebaut worden sind (Art. 18 und 28). 4 Die Gültigkeit der Freigabebescheinigung erlischt: a. wenn eine technische Störung, ein Mangel oder eine anormale Beanspruchung auftritt, welche die Lufttüchtigkeit beeinträchtigt; b. wenn neue Instandhaltungsarbeiten fällig werden; c. sechs Monate nach dem letzten Flug eines Flugzeuges, Helikopters oder Mo- torseglers, wenn während der Stilllegung die erforderliche Instandhaltung nicht durchgeführt worden ist; d. wenn ein Triebwerk, Propeller, Luftfahrzeugteil oder eine Ausrüstung, die nicht zum sofortigen Einbau in ein Luftfahrzeug bestimmt ist, nicht sachge- mäss gelagert oder nicht im erforderlichen Umfang instand gehalten wird. 5 Die Freigabebescheinigung darf nicht ausgestellt werden, wenn Tatbestände bekannt sind, die die Flugsicherheit ernsthaft beeinträchtigen. Art. 38 Arbeitsberichte 1 Nach komplexen Instandhaltungsarbeiten infolge Unfall, technischen Störungen o- der anormaler Beanspruchung des Luftfahrzeugs kann das BAZL einen Arbeitsbericht verlangen.108 2 Über die Erstellung von Arbeitsberichten in den übrigen Fällen sowie über die Form und die Aufbewahrung der Arbeitsberichte erlässt das BAZL ergänzende Richtlinien (Technische Mitteilung, Art. 50). Art. 39 Wägung der Luftfahrzeuge 1 Kann nach Instandhaltungsarbeiten das Gewicht oder die Schwerpunktslage eines Luftfahrzeuges nicht eindeutig errechnet werden, so ist das Luftfahrzeug zu wägen. 2 Das BAZL kann Wägungen unabhängig von Instandhaltungsarbeiten anordnen.109 108 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 109 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 20 / 32 748.215.1 Art. 40110 Kontrollflug 1 Kann die Betriebstüchtigkeit nach Instandhaltungsarbeiten an Luftfahrzeug, Trieb- werk, Propeller, Luftfahrzeugteilen oder Ausrüstungen nicht durch Bodenversuche überprüft werden, so ist ein Kontrollflug durchzuführen. 2 Vorbehalten bleiben besondere Anweisungen des BAZL oder des Inhabers oder der Inhaberin des entsprechenden Baumusterzeugnisses. 9. Abschnitt:111 Überflug nach Beschädigung eines Luftfahrzeuges Art. 41 1 Ist die Lufttüchtigkeit eines Luftfahrzeuges durch Schäden, technische Störungen, wegen anormaler Beanspruchungen oder aus anderen Gründen beeinträchtigt und ist die ordnungsgemässe Instandstellung des Luftfahrzeuges an Ort und Stelle nicht mög- lich, so kann das BAZL eine Fluggenehmigung erteilen, sofern der Nachweis eines gefahrlosen Überfluges erbracht wird. 2 Das BAZL kann die Fluggenehmigung mit Auflagen verbinden, insbesondere kann es die Flugbedingungen festlegen. 3 Es kann Richtlinien erlassen (Technische Mitteilung, Art. 50). 7. Kapitel: Änderungen112 Art. 42113 Genehmigungspflicht 1 Änderungen an Luftfahrzeugen sowie an Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugtei- len und Ausrüstungen bedürfen der Genehmigung durch das BAZL. 2 Dem BAZL sind vor Beginn der Ausführung der Änderungen die erforderlichen Un- terlagen einzureichen. 3 Reparaturen, die nicht im Rahmen der ordentlichen Instandhaltung durchgeführt werden und Entwicklungsarbeiten erfordern, gelten als Änderungen. Art. 43114 Lufttüchtigkeitsanforderungen, weitere Anforderungen und Verfahren 1 Für die Festlegung der Lufttüchtigkeitsanforderungen, der weiteren Anforderungen und der Verfahren für die Vornahme von Änderungen sind sinngemäss anwendbar: 110 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 111 Ursprünglich Abschnitt 8. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 112 Ursprünglich Kapitel 8. 113 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 114 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 21 / 32 748.215.1 a. im Falle von Luftfahrzeugen der Standardkategorie sowie von deren Trieb- werken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen: die Artikel 9 Ab- satz 1bis und 10 Absatz 1; b. im Falle von Luftfahrzeugen der Sonderkategorie sowie von deren Triebwer- ken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen: die Artikel 9 Absatz 2 und 10 Absatz 2. 2 Das BAZL ist in jedem Fall die zuständige Bewilligungsbehörde. Art. 44115 Genehmigung und Anerkennung von Änderungen 1 Das BAZL unterscheidet zwischen grossen und kleinen Änderungen des Baumus- ters.116 2 Es bestimmt im Einzelfall, welche Baumusterunterlagen bei Änderungen eines Bau- musters erforderlich sind. 3 Bei einer grossen Änderung des Baumusters bestätigt das BAZL, dass die Lufttüch- tigkeitsanforderungen erfüllt sind: a. mit einem erweiterten Baumusterzeugnis, sofern der Antragsteller Inhaber der Musterzulassung ist; b. mit einem ergänzenden Baumusterzeugnis, sofern der Antragsteller nicht In- haber der Musterzulassung ist. 4 Kleine Änderungen genehmigt das BAZL, wenn die Lufttüchtigkeitsanforderungen erfüllt sind. 5 Das BAZL kann die von einer ausländischen Luftfahrtbehörde ausgestellten erwei- terten oder zusätzlichen Baumusterzeugnisse sowie Genehmigungen kleiner Ände- rungen anerkennen. 6 Es erlässt Richtlinien in Form von Technischen Mitteilungen (Art. 50) über: a. die Unterscheidung von grossen und kleinen Änderungen; b. die entsprechenden Verfahren; c. die erforderlichen Baumusterunterlagen.117 Art. 45–47118 115 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 116 Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 117 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 118 Aufgehoben durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 22 / 32 748.215.1 Art. 48 Berechtigung zur Durchführung von Änderungen 1 Für die Berechtigung zur Durchführung und für die Bescheinigung von Änderungs- arbeiten sind die Artikel 30–40 sinngemäss anwendbar. 2 …119 8. Kapitel:120 Export-Lufttüchtigkeitszeugnis Art. 49 Das BAZL stellt auf Gesuch für Luftfahrzeuge, Triebwerke oder Propeller Export- Lufttüchtigkeitszeugnisse aus, wenn: a. in einer amtlichen Prüfung festgestellt wurde, dass das Luftfahrzeug, das Triebwerk oder der Propeller dem Baumusterzeugnis und den Baumusterun- terlagen entspricht; und b. die für die Lufttüchtigkeit oder die Verwendbarkeit erforderlichen Instandhal- tungsarbeiten durchgeführt worden sind. 9. Kapitel:121 Veröffentlichungen und Pflicht, sich zu informieren Art. 50 Technische Mitteilungen 1 Das BAZL erlässt Richtlinien und Mitteilungen über die Entwicklung, Zulassung, Herstellung und Instandhaltung der Luftfahrzeuge, Triebwerke, Propeller, Luftfahr- zeugteile und Ausrüstungen als Technische Mitteilungen. 2 Es veröffentlicht die Technischen Mitteilungen122. 3 Eine Kopie der Technischen Mitteilungen kann beim BAZL gegen Entgelt bezogen werden. Art. 51 Lufttüchtigkeitsanweisungen Das BAZL veröffentlicht die gültigen Lufttüchtigkeitsanweisungen und eine perio- disch aktualisierte Sammelliste dieser Anweisungen. 119 Aufgehoben durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 120 Ursprünglich Kapitel 9. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 121 Ursprünglich Kapitel 10. Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 122 Bezugsquelle: Bundesamt für Zivilluftfahrt, 3003 Bern (www.bazl.admin.ch). Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 23 / 32 748.215.1 Art. 51a Pflicht, sich zu informieren Der Halter oder die Halterin ist verpflichtet, sich regelmässig über neu erschienene Lufttüchtigkeitsanweisungen für Luftfahrzeuge, Triebwerke, Propeller, Luftfahrzeug- teile und Ausrüstungen seines oder ihres Luftfahrzeuges zu informieren. 10. Kapitel: Entzug von Zeugnissen und Bewilligungen123 Art. 52 Das BAZL kann in Anwendung von Artikel 92 des LFG Zeugnisse, Bewilligungen und Ausweise entziehen oder einschränken, wenn die für die Erteilung massgebenden Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind. 10a. Kapitel:124 Strafbestimmung Art. 52a Wer eine Pflicht nach den Artikeln 19, 20, 22 und 29 Absatz 1 verletzt, wird nach Artikel 91 Absatz 1 Buchstabe i LFG bestraft. 11. Kapitel: Schlussbestimmungen125 Art. 53 Aufhebung bisherigen Rechts Die Verordnung vom 8. Juli 1985126 über die Zulassung und den Unterhalt von Luft- fahrzeugen wird aufgehoben. Art. 54 Änderung bisherigen Rechts …127 Art. 54a128 Übergangsbestimmung zur Änderung vom 8. August 2005 Die Versicherungsnachweise nach Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe d müssen bis zum 30. Juni 2006 an die neuen Vorschriften angepasst sein. 123 Ursprünglich Kapitel 11. 124 Eingefügt durch Ziff. I 4 der V des UVEK vom 4. März 2011, in Kraft seit 1. April 2011 (AS 2011 1155). 125 Ursprünglich Kapitel 12. 126 [AS 1985 1567, 1993 2322, 1994 3076 Art. 22 Ziff. 2, 1995 125] 127 Die Änderung kann unter AS 1995 4897 konsultiert werden. 128 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 8. Aug. 2005, in Kraft seit 5. Sept. 2005 (AS 2005 4197). Luftfahrt 24 / 32 748.215.1 Art. 54b129 Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 14. Juli 2008 1 Luftfahrzeuge die nach Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a in der Fassung vom 18. Sep- tember 1995130 dieser Verordnung in der Standardkategorie eingeteilt waren, bleiben der Standardkategorie zugeteilt. 2 Verantwortliche Personen, die nach Artikel 34 Absatz 4 in der Fassung vom 18. Sep- tember 1995 dieser Verordnung zur Instandhaltung eines Luftfahrzeuges der Unter- kategorie «Historisch» berechtigt sind, behalten diese Berechtigung bis zum 31. De- zember 2010. Art. 54c131 Übergangsbestimmung zur Änderung vom 1. Februar 2013 Die Berechtigungen nach Artikel 34 Absatz 3 in der Fassung vom 14. Juli 2008132 sind bis zum 31. Dezember 2014 gültig. Art. 55 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 1996 in Kraft. 129 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 14. Juli 2008, in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). 130 AS 1995 4897 131 Eingefügt durch Ziff. I der V des UVEK vom 16. Jan. 2013, in Kraft seit 1. Febr. 2013 (AS 2013 309). 132 AS 2008 3629 Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 25 / 32 748.215.1 Anhang133 Art. 50 Abs. 3 133 Aufgehoben durch Ziff. II der V des UVEK vom 14. Juli 2008, mit Wirkung seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 3629). Luftfahrt 26 / 32 748.215.1 Anhang 1134 (Art. 3 Abs. 3 und 4 Bst. a ) Unterkategorie Ecolight135 134 Eingefügt durch Ziff. II der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 135 Der Text des Anhangs wird in der AS nicht veröffentlicht. Er kann beim Bundesamt für Zivilluftfahrt kostenlos abgerufen werden unter www.bazl.admin.ch > Portal für Fach- leute > Luftfahrzeuge > Entwicklung, Herstellung und Baumuster Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 27 / 32 748.215.1 Anhang 2136 (Art. 3 Abs. 3 und 4 Bst. b) Unterkategorie Ultraleicht137 136 Eingefügt durch Ziff. II der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 137 Der Text des Anhangs wird in der AS nicht veröffentlicht . Er kann beim Bundesamt für Zivilluftfahrt kostenlos abgerufen werden unter www.bazl.admin.ch > Portal für Fach- leute > Luftfahrzeuge > Entwicklung, Herstellung und Baumuster Luftfahrt 28 / 32 748.215.1 Anhang 3138 (Art. 3 Abs. 3 und 4 Bst. c) Unterkategorie Historisch / Historic139 138 Eingefügt durch Ziff. II der V des UVEK vom 24. Juni 2015 (AS 2015 2181). Fassung gemäss Ziff. I der V des UVEK vom 24. Aug. 2022, in Kraft seit 1. Okt. 2022 (AS 2022 480). 139 Der Inhalt dieses Anhangs wird in der AS und in der SR nur durch Verweis veröffentlicht. Er kann abgerufen werden unter https://fedlex.data.admin.ch/eli/oc/2022/480 > Allge- meine Informationen > Umfang der Veröffentlichung > Veröffentlichung eines Textteils durch Verweis. https://fedlex.data.admin.ch/eli/oc/2022/480 Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 29 / 32 748.215.1 Anhang 4140 (Art. 3 Abs. 3 und 4 Bst. d) Unterkategorie Eigenbau141 140 Eingefügt durch Ziff. II der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 141 Der Text des Anhangs wird in der AS nicht veröffentlicht. Er kann beim Bundesamt für Zivilluftfahrt kostenlos abgerufen werden unter www.bazl.admin.ch > Portal für Fach- leute > Luftfahrzeuge > Entwicklung, Herstellung und Baumuster Luftfahrt 30 / 32 748.215.1 Anhang 5142 (Art. 3 Abs. 3 und 4 Bst. e) Unterkategorie Limitiert / Limited143 142 Eingefügt durch Ziff. II der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 143 Der Text des Anhangs wird in der AS nicht veröffentlicht. Er kann beim Bundesamt für Zivilluftfahrt kostenlos abgerufen werden unter www.bazl.admin.ch > Portal für Fach- leute > Luftfahrzeuge > Entwicklung, Herstellung und Baumuster Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen. V des UVEK 31 / 32 748.215.1 Anhang 6144 (Art. 3 Abs. 3 und 4 Bst. f) Unterkategorie Experimental145 144 Eingefügt durch Ziff. II der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 145 Der Text des Anhangs wird in der AS nicht veröffentlicht. Er kann beim Bundesamt für Zivilluftfahrt kostenlos abgerufen werden unter www.bazl.admin.ch > Portal für Fach- leute > Luftfahrzeuge > Entwicklung, Herstellung und Baumuster Luftfahrt 32 / 32 748.215.1 Anhang 7146 (Art. 3 Abs. 3 und 4 Bst. g) Unterkategorie Eingeschränkt / Restricted147 146 Eingefügt durch Ziff. II der V des UVEK vom 24. Juni 2015, in Kraft seit 15. Juli 2015 (AS 2015 2181). 147 Der Text des Anhangs wird in der AS nicht veröffentlicht. Er kann beim Bundesamt für Zivilluftfahrt kostenlos abgerufen werden unter www.bazl.admin.ch > Portal für Fach- leute > Luftfahrzeuge > Entwicklung, Herstellung und Baumuster 1. Kapitel: Geltungsbereich und anwendbares Recht Art. 1 Art. 2 Zwischenstaatliche Vereinbarungen 2. Kapitel: Entwicklung und Herstellung Art. 3 Lufttüchtigkeitskategorien Art. 4 Anforderungen Art. 5 Ausnahmen Art. 6 Unternehmen im Ausland 3. Kapitel: Zulassung von Luftfahrzeugen 1. Abschnitt: Grundsatz Art. 7 2. Abschnitt: Baumusterzulassung Art. 8 Art. 9 Zulassungsverfahren Art. 10 Lufttüchtigkeitsanforderungen Art. 10a Ausnahmen 3. Abschnitt: Zulassung zum Verkehr Art. 10b Lufttüchtigkeitszeugnis und Fluggenehmigung Art. 11 Zulassungsbereich und Auflagen für den Betrieb Art. 12 Anerkennung ausländischer Export-Lufttüchtigkeitszeugnisse Art. 13 Art. 14 Mindestausrüstung der Luftfahrzeuge 4. Kapitel: Zulassung von Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen Art. 15 Zulassungsverfahren Art. 16 Lufttüchtigkeitsanforderungen Art. 17 Zulassung des Baumusters eines Luftfahrzeugteils oder einer Ausrüstung Art. 18 Verwendung von Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen 5. Kapitel: Technische Akten und weitere Unterlagen Art. 19 Technische Akten Art. 20 Flugreisebuch und ähnliche Unterlagen Art. 21 Ergänzende Richtlinien Art. 22 Unterlagen an Bord 6. Kapitel: Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit 1. Abschnitt: Verantwortung des Halters oder der Halterin Art. 23 2. Abschnitt: Instandhaltung im Allgemeinen Art. 24 Für die Inverkehrsetzung erforderliche Instandhaltung Art. 25 Grundlagen der Instandhaltung Art. 26 Lufttüchtigkeitsanweisungen Art. 27 Art der Instandhaltungsarbeiten Art. 28 Einbau von Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen 3. Abschnitt: Meldepflicht bei technischen Störungen und Mängeln Art. 29 4. Abschnitt: Instandhaltung von Luftfahrzeugen im gewerbsmässigen Einsatz Art. 30 Art. 31 5. Abschnitt: Instandhaltung für andere Luftfahrzeuge Art. 32 Flugzeuge, Helikopter und Motorsegelflugzeuge Art. 33 Segelflugzeuge, Segelflugzeuge mit Klapptriebwerken, Luftschiffe und Ballone Art. 34 Sonderfälle 6. Abschnitt: Instandhaltung von Triebwerken, Propellern, Luftfahrzeugteilen und Ausrüstungen Art. 35 7. Abschnitt: Instandhaltungsarbeiten im Ausland Art. 36 8. Abschnitt: Abschluss und Bestätigung der Instandhaltungsarbeiten Art. 37 Freigabebescheinigung Art. 38 Arbeitsberichte Art. 39 Wägung der Luftfahrzeuge Art. 40 Kontrollflug 9. Abschnitt: Überflug nach Beschädigung eines Luftfahrzeuges Art. 41 7. Kapitel: Änderungen Art. 42 Genehmigungspflicht Art. 43 Lufttüchtigkeitsanforderungen, weitere Anforderungen und Verfahren Art. 44 Genehmigung und Anerkennung von Änderungen Art. 45–47 Art. 48 Berechtigung zur Durchführung von Änderungen 8. Kapitel: Export-Lufttüchtigkeitszeugnis Art. 49 9. Kapitel: Veröffentlichungen und Pflicht, sich zu informieren Art. 50 Technische Mitteilungen Art. 51 Lufttüchtigkeitsanweisungen Art. 51a Pflicht, sich zu informieren 10. Kapitel: Entzug von Zeugnissen und Bewilligungen Art. 52 10a. Kapitel: Strafbestimmung Art. 52a 11. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 53 Aufhebung bisherigen Rechts Art. 54 Änderung bisherigen Rechts Art. 54a Übergangsbestimmung zur Änderung vom 8. August 2005 Art. 54b Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 14. Juli 2008 Art. 54c Übergangsbestimmung zur Änderung vom 1. Februar 2013 Art. 55 Inkrafttreten Anhang Anhang 1 Unterkategorie Ecolight Anhang 2 Unterkategorie Ultraleicht Anhang 3 Unterkategorie Historisch / Historic Anhang 4 Unterkategorie Eigenbau Anhang 5 Unterkategorie Limitiert / Limited Anhang 6 Unterkategorie Experimental Anhang 7 Unterkategorie Eingeschränkt / Restricted | de |
dfd32405-6dc4-40ce-9449-8feaefb21d68 | Sachverhalt
ab Seite 327
BGE 134 III 326 S. 327
Y. und X. heirateten im Jahre 1997. Die Ehefrau (Y.) lebt in der Schweiz und ist Schweizer Bürgerin. Der Ehemann ist schweizerisch-tschechischer Doppelbürger.
Am 4. Juli 2005 reichte X. in Prag/Tschechien die Scheidungsklage ein. Y. gelangte am 18. Oktober 2005 an das Amtsgericht Hochdorf und ersuchte um Regelung des Getrenntlebens. Mit Entscheid vom 19. Juni 2006 stellte der Amtsgerichtspräsident II von Hochdorf im Rahmen von Eheschutzmassnahmen fest, dass die Parteien zum Getrenntleben berechtigt seien; weiter wurde die eheliche Wohnung der Ehefrau zur Benützung zugewiesen und der Ehemann zur Zahlung von abgestuften Unterhaltsbeiträgen an die Ehefrau verpflichtet.
Gegen den Entscheid des Amtsgerichtspräsidenten erhob X. Rekurs beim Obergericht des Kantons Luzern mit der Begründung, der Amtsgerichtspräsident sei zur Entscheidung nicht zuständig; weiter rügte er die Berechnung seiner Unterhaltspflicht. Mit Entscheid vom 29. September 2006 verwarf das Obergericht die Unzuständigkeitseinrede und setzte die Unterhaltsbeiträge geringfügig im Sinne der Rekursanträge herab.
X. führt mit Eingabe vom 14. November 2006 eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt dem Bundesgericht, den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom 29. September 2006 aufzuheben.
Y. als Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Das Obergericht ist im Wesentlichen zum Ergebnis gelangt, dass die schweizerischen Gerichte gemäss
Art. 10 IPRG
zuständig sind, während des in Tschechien hängigen Scheidungsverfahrens vorsorgliche Massnahmen anzuordnen. Der Beschwerdeführer bestreitet die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte und rügt eine Verletzung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit (
Art. 68 Abs. 1 lit. e OG
).
BGE 134 III 326 S. 328
3.1
Die Beschwerdegegnerin hat in der Schweiz - ihrem Wohnsitzstaat - Eheschutzmassnahmen verlangt, nachdem der Beschwerdeführer im Ausland die Scheidungsklage eingereicht hatte. Damit liegt ohne weiteres ein internationales Verhältnis im Sinne von
Art. 1 Abs. 1 IPRG
vor. Die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte und Behörden richtet sich nach dem IPRG, zumal hierfür zwischen der Schweiz und der Tschechischen Republik kein dem Bundesgesetz vorgehender Staatsvertrag besteht (
Art. 1 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 IPRG
).
3.2
Es ist zu Recht unbestritten, dass sich die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte zum Erlass von Massnahmen nicht auf
Art. 62 Abs. 1 IPRG
stützen lässt, da in der Schweiz kein Scheidungsverfahren hängig ist. Für Massnahmen betreffend die ehelichen Rechte und Pflichten - worunter die von der Beschwerdeführerin anbegehrten Eheschutzmassnahmen gemäss Art. 172 ff. grundsätzlich fallen - sind die Gerichte in der Schweiz als Wohnsitzstaat eines der Ehegatten zuständig (
Art. 46 IPRG
). Sobald die Klage eines Ehegatten auf Scheidung beim zuständigen Gericht rechtshängig gemacht worden ist, können Eheschutzmassnahmen für die Zeit nach Eintritt der Rechtshängigkeit nicht mehr getroffen werden, sondern nur noch vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens angeordnet werden (
BGE 129 III 60
E. 2 S. 61 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat entschieden, dass diese für Binnensachverhalte geltende Regel auch in internationalen Verhältnissen grundsätzlich massgebend ist (Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991, E. 2c, SJ 1991 S. 463). Vorliegend hat die Beschwerdegegnerin das Gesuch um Eheschutzmassnahmen in der Schweiz als Wohnsitzstaat zu einem Zeitpunkt (am 18. Oktober 2005) gestellt, als die Scheidungsklage in Prag (seit dem 4. Juli 2005) bereits hängig war. Damit sind die schweizerischen Gerichte zur Anordnung von Eheschutzmassnahmen grundsätzlich nicht mehr zuständig.
3.3
Die Zuständigkeit des schweizerischen Eheschutzrichters ist allerdings vorbehalten, wenn von vornherein, d.h. bereits bei Einleitung des Eheschutzverfahrens offensichtlich ist, dass ein im Ausland ergangenes Scheidungsurteil in der Schweiz nicht anerkannt werden kann (vgl.
BGE 86 II 303
E. 3 S. 310; WALTER BÜHLER/KARL SPÜHLER, Berner Kommentar, N. 9 zu
Art. 145 ZGB
; MICHEL CZITRON, Die vorsorglichen Massnahmen während des Scheidungsprozesses, Diss. St. Gallen 1995, S. 170; ANDREAS BUCHER, Le couple en droit international privé, Basel 2004, Rz. 184). Vorliegend sind die
BGE 134 III 326 S. 329
Wohnsitzverhältnisse des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Einleitung der Scheidungsklage in seinem Heimatstaat umstritten. Diese können für die Anerkennbarkeit des in Tschechien ergangenen Scheidungsurteils zwar entscheidend sein (vgl.
Art. 65 IPRG
sowie Art. 2 des Übereinkommens vom 1. Juni 1970 über die Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen [SR 0.211.212.3]), doch erlaubt hier die blosse Strittigkeit der Wohnsitzverhältnisse nicht, bereits im Rahmen der Einreichung des Eheschutzbegehrens die offensichtliche Unzuständigkeit des Scheidungsgerichts in Tschechien anzunehmen, und das ausländische Scheidungsverfahren daher als unbeachtlich zu erklären. Somit bleibt es dabei, dass sich vorliegend die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zur Anordnung von Eheschutzmassnahmen nicht auf
Art. 46 IPRG
stützen lässt. Bleibt zu prüfen, ob eine Zuständigkeit gemäss
Art. 10 IPRG
in Frage kommt, wonach die schweizerischen Gerichte und Behörden vorsorgliche Massnahmen treffen, auch wenn sie für die Entscheidung in der Hauptsache nicht zuständig sind.
3.4
Nichts anderes lässt sich aus dem von beiden Parteien sowie dem Obergericht erwähnten
BGE 104 II 246
ableiten. Mit diesem Urteil entschied das Bundesgericht, dass die Zuständigkeit des schweizerischen Eheschutzrichters nicht schon mit der Einleitung des Scheidungsverfahrens im Ausland entfällt, sondern erst dann, wenn der ausländische Richter vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Prozesses angeordnet hat und diese in der Schweiz vollstreckbar erklärt worden sind. Solange dies nicht erfolgt ist, besteht nach dem erwähnten Urteil die Zuständigkeit des schweizerischen Richters weiter, "derartige Massnahmen" anzuordnen (
BGE 104 II 246
E. 3 S. 248 am Ende). Mit diesem vor Inkrafttreten des IPRG ergangenen Urteil wurde zum Ausdruck gebracht, dass es in solchen Fällen der schweizerischen Rechtsordnung obliegt, für einen lückenlosen Schutz zu sorgen (
BGE 104 II 246
E. 3 S. 247). In der Lehre wurde zu Recht erkannt, dass es sich insoweit (d.h. nach Einleitung der Scheidungsklage im Ausland) inhaltlich um vorsorgliche Massnahmen (aArt. 145,
Art. 137 ZGB
) handelt, welche in der Schweiz während des im Ausland hängigen, grundsätzlich anerkennbaren (E. 3.3) Scheidungsverfahrens angeordnet werden (BÜHLER/SPÜHLER, a.a.O., N. 416 und 9 zu
Art. 145 ZGB
; ANDREAS BUCHER, Droit international privé suisse, Bd. II: Personnes, famille, successions, Basel 1992, Rz. 538; DANIEL CANDRIAN, Scheidung und Trennung im internationalen Privatrecht der Schweiz, Diss. St. Gallen 1994, S. 67; DANIEL TRACHSEL,
BGE 134 III 326 S. 330
Konkurrierende Zuständigkeiten in internationalen Familienrechtsfällen - einige praktische Hinweise, AJP 2003 S. 450). Nach Inkrafttreten des IPRG hat das Bundesgericht im Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991 (E. 2c und 5a, SJ 1991 S. 463, 465) bestätigt, dass der in
BGE 104 II 246
ausgesprochene Grundsatz eines lückenlosen Rechtsschutzes, d.h. die Gewährleistung des notwendigen und unverzüglichen Schutzes durch Massnahmen in internationalen Scheidungen bei der Tragweite von
Art. 10 IPRG
zu berücksichtigen ist. Das Obergericht hat zu Recht angenommen, dass
Art. 10 IPRG
eine schweizerische Massnahmenzuständigkeit begründen kann, wenn - wie hier - die Scheidungsklage vor einem ausländischen Gericht hängig ist.
3.5
Der Beschwerdeführer behauptet allerdings, dass die Vorinstanz die Voraussetzungen zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen in der Schweiz zu Unrecht als erfüllt betrachtet habe.
3.5.1
Im bereits erwähnten Urteil aus dem Jahre 1991 hat das Bundesgericht (vor dem Hintergrund des in
BGE 104 II 246
festgelegten Grundsatzes) Fallgruppen aufgezählt, in welchen in Bezug auf Scheidungssachen ein Rechtsschutzinteresse für den Erlass von vorsorglichen Massnahmen gestützt auf
Art. 10 IPRG
besteht. Dies ist der Fall, (1.) wenn das vom ausländischen Gericht anzuwendende Recht keine dem
Art. 137 ZGB
(aArt. 145 ZGB) vergleichbare Regelung kennt; (2.) wenn Massnahmenentscheide des ausländischen Scheidungsgerichts am schweizerischen Wohnsitz der Partei(en) nicht vollstreckt werden können; (3.) wenn Massnahmen zur Sicherung künftiger Vollstreckung in Vermögensobjekte in der Schweiz angeordnet werden sollen; (4.) wenn Gefahr in Verzug ist, oder (5.) wenn man nicht damit rechnen kann, dass das ausländische Gericht innert angemessener Frist entscheidet (Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991, E. 5a und b, SJ 1991 S. 465 f.). Diese Rechtsprechung zum Erlass vorsorglicher Massnahmen gestützt auf
Art. 10 IPRG
für den Fall, dass im Ausland eine Scheidungsklage hängig ist, wird in der Lehre bestätigt (IVO SCHWANDER, AJP 1992 S. 409, 2001 S. 609; BUCHER, Le couple, a.a.O., Rz. 340; PAUL VOLKEN, in: Zürcher Kommentar zum IPRG, 2. Aufl. 2004, N. 10 zu
Art. 62 IPRG
; BERNARD DUTOIT, Commentaire de la loi fédérale du 18 décembre 1987, 4. Aufl. 2005, N. 2 zu
Art. 62 IPRG
; LUKAS BOPP, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 2. Aufl., 2007, N. 10 zu
Art. 62 IPRG
), und es gibt keinen Anlass, diese in Frage zu stellen.
3.5.2
Der Einwand des Beschwerdeführers, die Voraussetzungen zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen in der Schweiz seien
BGE 134 III 326 S. 331
vorliegend nicht erfüllt, geht fehl. Der Beschwerdeführer übergeht, dass die nicht erwerbstätige Beschwerdegegnerin (geboren 1947) in ihrem Begehren vom 18. Oktober 2005 an das Amtsgericht neben Unterhaltsbeiträgen die Zuweisung der ehelichen Wohnung verlangt hatte mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe den Bankauftrag für monatliche Mietzinszahlungen bereits per Ende Mai 2005 widerrufen. Bei dieser Sachlage kann dem Obergericht nicht vorgeworfen werden, dass es die Frage, ob vom ausländischen Gericht innert Frist eine entsprechende Entscheidung erwartet werden könne, nicht weiter erörtert hat. Wenn - wie hier - die Bezahlung des Mietzinses für die Wohnung seit mehreren Monaten in Frage steht und die Beschwerdegegnerin als Gesuchstellerin über kein Erwerbseinkommen verfügt, ist nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht von einer in Verzug stehenden Gefahr ausgegangen ist und dem Massnahmenrichter erlaubt hat, sofort über die eheliche Wohnung und die Unterhaltsbeiträge zu entscheiden. Es liegt keine Verletzung von
Art. 10 IPRG
vor, wenn das Obergericht die schweizerische Zuständigkeit zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen und das Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin angenommen hat. Dass das Gericht in Prag mit Urteil vom 5. September 2006 angeblich die Scheidung ausgesprochen haben soll, ändert im Übrigen nichts daran, dass die schweizerischen Gerichte zuständig sind, während des seit 4. Juli 2005 im Ausland hängigen Scheidungsverfahrens vorsorgliche Massnahmen anzuordnen.
3.6
Nach dem Dargelegten liegt keine Verletzung der Regeln über die internationale Zuständigkeit bzw. kein Nichtigkeitsgrund gemäss
Art. 68 Abs. 1 lit. e OG
vor. Zwar hat der erstinstanzliche Richter als Eheschutzrichter entschieden und hat das Obergericht dies durch Abweisung des Rekurses geschützt, obwohl es die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte - zu Recht - auf
Art. 10 IPRG
stützte. Dies allein kann aber nicht zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führen, wird doch zu Recht nicht geltend gemacht, die vom erstinstanzlichen Richter getroffenen Anordnungen hätten nicht auch als vorsorgliche Massnahmen erlassen werden können. | de |
92fde62f-fcaa-4e9b-ab06-b770c9f63ca7 | Erwägungen
ab Seite 1
BGE 107 IV 1 S. 1
Aus den Erwägungen:
9.
Nach dem vorinstanzlichen Schuldbefund hat B. von K. Fr. 77'200.- durch Betrug bzw. Urkundenfälschung und von D. Fr. 29'000.- durch Nötigung erlangt. Das Obergericht hat den Beschwerdeführer, da diese Beträge nicht aus seinem Vermögen ausgeschieden werden könnten, zu einer entsprechenden Ersatzleistung an den Staat gemäss
Art. 58 Abs. 4 StGB
, d.h. zur Bezahlung von Fr. 98'400.- (= Fr. 106'400.- abzüglich der bereits im kantonalen Verfahren gemäss § 119 Abs. 1 LU/StPO zur Deckung der Gerichtskosten beschlagnahmten Fr. 8'000.-)verurteilt. Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, die Vorinstanz habe den revidierten
Art. 58 StGB
, der die Einziehung zur Beseitigung eines unrechtmässigen Vorteils zulasse, nicht anwenden dürfen, weil die genannte Bestimmung erst am 1. Januar 1975 in Kraft getreten sei, die "Defraudationsverträge" mit K. und D. aber zuvor abgeschlossen worden seien.
BGE 107 IV 1 S. 2
Auf den Abschluss dieser Verträge kommt es nicht an, denn der Betrug zum Nachteil des K. bzw. die Nötigung des D. ist nicht durch jene Vertragsabschlüsse begangen worden. Die tatbestandsmässige Wirkung der Nötigung nach
Art. 181 StGB
("etwas zu tun") ist erst dadurch eingetreten, dass D. dem Beschwerdeführer Fr. 29'200.- bezahlt hat. Das aber ist nach dem 1. Januar 1975 geschehen (Quittung des B. vom 28.4.1976). Im Fall K. wurden die 24 Blankowechsel, welche der Beschwerdeführer ertrog, zwar vom Geschädigten als Akzeptant am 28. Juli 1974 unterzeichnet und daraufhin B. übergeben, womit der Betrug an sich vollendet war. Indessen war der Schaden nur formellrechtlich eingetreten. Faktisch geschädigt wurde K. erst, als B. einen Teil der Wechsel zum Inkasso bei Banken präsentierte und ihm diese zu Lasten des Akzeptanten insgesamt Fr. 77'200.- ausbezahlten. Erst dadurch wurde der Betrug beendet, d.h. nach Erfüllung der objektiven Tatbestandsmerkmale das verwirklicht, was der Täter nach
Art. 148 StGB
beabsichtigt hat (
BGE 99 IV 124
). Diese Beendigungshandlungen lassen sich wie nach Art. 3 Ziff. 1 Abs. 1 Abs. StGB, so auch nach
Art. 2 Abs. 1 StGB
in den Begriff der Tatverübung einbeziehen, ohne dass dadurch gegen den Sinn des Gesetzes verstossen würde. Da aber B. 18 der von K. erlangten Wechsel nicht sogleich, sondern erst im Jahre 1975 zum Inkasso präsentierte, verstiess die Vorinstanz nicht gegen
Art. 58 Abs. 1 lit. a und Abs. 4 StGB
, wenn sie bezüglich der mittels der ertrogenen Wechsel erlangten Vermögensvorteile nach jenen Bestimmungen verfuhr.
Was im übrigen die Einziehung der acht noch bei B. vorgefundenen unbenutzten Wechsel betraf, so hätte diese auch schon unter der Herrschaft des alten
Art. 58 StGB
stattfinden können.
Die dem Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren abgenommenen Fr. 8'000.- schliesslich wurden, wie sich unmissverständlich aus den Erwägungen des erstinstanzlichen Urteils ergibt, das vom Obergericht insoweit mangels begründeter Anfechtung ohne weiteres bestätigt wurde (Urteil S. 19), in Anwendung von § 119 LU/StPO zum Zweck der Deckung von Verfahrenskosten beschlagnahmt.
Art. 58 StGB
kam hier nicht zum Zuge. Die Anwendung kantonalen Rechts aber entzieht sich der Überprüfung durch das Bundesgericht im Verfahren auf Nichtigkeitsbeschwerde (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
). | de |
2116a32d-c89b-4012-bf54-daf509491700 | Sachverhalt
ab Seite 429
BGE 119 Ib 429 S. 429
A.-
Mit Verfügung vom 13. März 1992 verpflichtete der Kanton Zürich Christoph H., für die direkten Bundessteuern der Jahre 1985 bis 1988 den Betrag von Fr. ... sicherzustellen. Sodann erwirkte der Kanton Zürich beim Kreisamt Oberengadin die Verarrestierung des Christoph H. gehörenden Grundstücks in X. Der Kanton Zürich prosequierte den Arrest mit der Betreibung Nr. 3801 des Betreibungsamtes Oberengadin. Christoph H. erhob Rechtsvorschlag.
B.-
Das Kreisamt Oberengadin erteilte dem Kanton Zürich Rechtsöffnung.
BGE 119 Ib 429 S. 430
Eine gegen diesen Entscheid von Christoph H. erhobene Beschwerde wurde mit Urteil vom 17. Juli 1993 vom Ausschuss des Kantonsgerichts Graubünden abgewiesen.
C.-
Christoph H. gelangt mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht und verlangt die Aufhebung dieses Urteils. Der Kanton Zürich und das Kantonsgericht Graubünden beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Es ist unbestritten, dass die Steuerbehörde die Adresse des Beschwerdeführers stets gekannt hat. Sie hat aber die Sicherstellungsverfügung durch Publikation zugestellt, weil der Beschwerdeführer im Ausland wohnte, ohne einen Vertreter in der Schweiz zu bestellen. Eine briefliche Zustellung einer Steuerverfügung ins Ausland ist aber völkerrechtswidrig, was auch vom Beschwerdeführer nicht bestritten wird.
a) Wie der Beschwerdeführer richtig festhält, sieht Art. 118 Abs. 3 des Bundesbeschlusses über die Erhebung einer direkten Bundessteuer (BdBSt (SR 642.11)) nur eine Zustellung der Sicherstellungsverfügung durch eingeschriebenen Brief vor. Jedoch erlaubt
Art. 74 Abs. 2 BdBSt
die Zustellung durch Veröffentlichung im kantonalen Amtsblatt, wenn eine steuerpflichtige Person unbekannten Aufenthaltes ist. Ein anderer Grund für eine Publikation ist in dieser Bestimmung nicht vorgesehen. Daraus zu schliessen, das Steuerrecht verlange auch ins Ausland eine Zustellung mittels eingeschriebenem Brief, wäre indessen verfehlt. Der Bundesrat wäre nicht befugt, mit dem Bundesratsbeschluss über die Erhebung einer direkten Bundessteuer völkerrechtswidrige Normen zu erlassen. Der Fall, dass sich der Adressat der Verfügung im Ausland befindet, ist vielmehr im BdBSt gar nicht geregelt. Gemäss Art. 36 Bst. b des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG (SR 172.021)) kann eine Verfügung "gegenüber einer Partei, die sich im Ausland aufhält und keinen erreichbaren Vertreter hat" durch Veröffentlichung in einem amtlichen Blatt eröffnet werden, "wenn die Zustellung an ihren Aufenthaltsort unmöglich ist". Diese Bestimmung ist gemäss Art. 1 Abs. 2 Bst. e und Abs. 3 sowie
Art. 2 Abs. 1 VwVG
auch für kantonale Verwaltungen massgebend, welche gestützt auf den BdBSt verfügen (KÄNZIG/BEHNISCH, Die direkte Bundessteuer, Basel 1992, N. 10 zu
Art. 74 BdBSt
).
BGE 119 Ib 429 S. 431
Warum bei einer Sicherstellungsverfügung nach
Art. 118 BdBSt
etwas anderes gelten soll, wie dies KÄNZIG/BEHNISCH (N. 8 zu Art. 118) annehmen, ist nicht ersichtlich. Wenn der BdBSt hier vorschreibt, dass die Eröffnung mit eingeschriebenem Brief zu erfolgen hat, soll damit nur zum Ausdruck gebracht werden, dass eine gewöhnliche Postzustellung nicht ausreicht. Damit werden aber nicht die Zustellungsmöglichkeiten ausgeschlossen, welche im VwVG für besondere Fälle vorgesehen sind. Etwas anderes lässt sich auch nicht dem von KÄNZIG/BEHNISCH zitierten Entscheid der Obergerichtskommission Obwalden entnehmen (SJZ 1985, S. 150 f.). Dort wird nur festgehalten, dass eine Zustellung gültig sei, wenn sie mit einem eingeschriebenen Brief ins Ausland erfolgt sei. Auf die Völkerrechtswidrigkeit einer Zustellung kann sich nicht die betroffene Partei, sondern nur der Staat berufen, der in seinem Hoheitsrecht verletzt worden ist.
b) Wenn Art. 36 Bst. b VwVG die Publikation von der Unmöglichkeit einer postalischen Zustellung abhängig macht, so sind nicht nur tatsächliche, sondern auch rechtliche Unmöglichkeiten gemeint. Es kann von einer Behörde nicht verlangt werden, dass sie sich völkerrechtswidrig verhält. Die Zustellung hat deshalb auch als unmöglich zu gelten, wenn sie völkerrechtlich unzulässig ist. | de |
2c95ad3d-95c5-45f7-bf7a-6315129313cf | Erwägungen
ab Seite 448
BGE 131 III 448 S. 448
Aus den Erwägungen:
2.
Die Beschwerdeführerin rügt, dass die Konkursandrohung in Deutschland am Wohnsitz des einen Gesellschafters in S. (direkt postalisch) zugestellt worden sei, was mangels eines entsprechenden Rechtshilfeabkommens unzulässig gewesen sei; die Zustellung sei daher nichtig.
2.1
Wie die erkennende Kammer in
BGE 94 III 35
(E. 4 S. 42) - im Falle einer Zustellung nach Italien - entschieden hat, ist die (direkte) postalische Zustellung einer Betreibungsurkunde nach dem Ausland schlechthin nichtig, wenn sie in Verletzung staatsvertraglicher Bestimmungen vorgenommen wurde. Die Nichtigkeit einer Betreibungshandlung ist - von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen aus Gründen des zu schützenden guten Glaubens abgesehen (dazu FRANCO LORANDI, Betreibungsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeit, Basel 2000, N. 176 f. zu
Art. 22 SchKG
) - jederzeit zu beachten und von Amtes wegen festzustellen (vgl.
BGE 131 III 448 S. 449
Art. 22 Abs. 1 SchKG
;
BGE 121 III 142
E. 2 S. 144 mit Hinweis). Auf die gegen die Form der Zustellung der Konkursandrohung erhobene Rüge ist hier daher einzutreten.
2.2
Für die Zustellung von Betreibungsurkunden ins Ausland ist grundsätzlich die Vermittlung der dortigen Behörden in Anspruch zu nehmen; soweit völkerrechtliche Verträge dies vorsehen oder wenn der Empfängerstaat zustimmt, kann auch durch die Post zugestellt werden (
Art. 66 Abs. 3 SchKG
).
2.2.1
Im internationalen Verhältnis bestimmt sich die Zustellung von Betreibungsurkunden im Allgemeinen nach dem Haager Übereinkommen vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen (SR 0.274.131;
BGE 122 III 395
E. 2a S. 396), das für Deutschland am 26. Juni 1979 und für die Schweiz am 1. Januar 1995 in Kraft trat. Darnach sind die Schriftstücke grundsätzlich durch Vermittlung der von jedem Vertragsstaat zu bestimmenden zentralen Behörde zuzustellen (Art. 2 bis 6). Unter dem Vorbehalt, dass der Bestimmungsstaat keinen Widerspruch erklärt, sieht Art. 10 des Übereinkommens freilich vor, dass gerichtliche Schriftstücke unter anderem auch unmittelbar durch die Post übersandt werden dürfen (lit. a). Wie die Schweiz (in Ziff. 5 ihrer Vorbehalte) hat Deutschland indessen (in Ziff. 4 Abs. 2 seiner Vorbehalte) ausdrücklich erklärt, dass eine Zustellung nach Art. 10 des Übereinkommens nicht stattfindet (dazu REINHOLD GEIMER, Internationales Zivilprozessrecht, 5. Aufl., Köln 2005, S. 640 Rz. 2084 und S. 677 Rz. 2176). Die strittige Zustellung der Konkursandrohung verstösst mithin gegen das einschlägige Haager Übereinkommen.
2.2.2
Angesichts des konkreten Bestimmungsortes drängt sich die Frage auf, ob die (direkte) postalische Zustellung allenfalls auf Grund eines der bezüglich Deutschland territorial begrenzten Staatsverträge zulässig gewesen sei. S. liegt im Bundesland Baden- Württemberg und gehörte früher zum Grossherzogtum Baden bzw. zum Land Baden, das seit 1952 Teil des neu gebildeten Landes Baden-Württemberg ist (dazu die Stellungnahme vom 16. Februar 1988 des Ministeriums für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten von Baden-Württemberg, [auszugsweise] wiedergegeben bei ERICH BÜRGI, Konkursrechtliche Staatsverträge der Schweiz, insbesondere mit den ehemaligen Königreichen Württemberg und
BGE 131 III 448 S. 450
Bayern sowie mit Frankreich, in: Festschrift 100 Jahre SchKG, Zürich 1989, S. 175 ff., insbes. S. 179, und in: BlSchK 1989 S. 81 ff., insbes. S. 86 f.).
Ein am 9. Juli 1808 vom Landammann der Schweiz namens der damaligen Kantone (mit Ausnahme von Schwyz und Glarus) mit dem Grossherzogtum Baden geschlossener Vertrag betreffend die Gleichstellung beiderseitiger Staatsbürger in Konkursfällen wurde auf Wunsch von Baden auf den 1. Januar 1903 ausser Kraft gesetzt (dazu LUCAS DAVID, In Vergessenheit geratene Staatsverträge, in: SJZ 69/1973 S. 84).
Zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Krone Württemberg wurde alsdann unter den Daten vom 12. Dezember 1825 und 13. Mai 1826 die Übereinkunft "betreffend die Konkursverhältnisse und gleiche Behandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen in Konkursfällen (Konkursvertrag)" geschlossen (abgedruckt bei HANS ULRICH WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs, 16. Aufl., Zürich 2002, S. 970 f.). Nach deren Art. I wurde gegenseitig die "Allgemeinheit des Konkursstandes in dem Wohnorte des Gemeinschuldners" anerkannt. Dass das Abkommen nach wie vor gilt, ist schweizerischerseits auch nach der Ablösung des Staatenbundes durch den Bundesstaat nie bezweifelt worden (vgl. DAVID, a.a.O., S. 85; PAUL VOLKEN, in: Zürcher Kommentar zum IPRG, Zürich 2004, Rz. 71 und 73 vor Art. 166-175). Ebenso ist das Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten von Baden-Württemberg in seiner bereits erwähnten Stellungnahme davon ausgegangen, die Übereinkunft stehe nach wie vor in Kraft. In territorialer Hinsicht hielt es allerdings dafür, dass es nur im Gebiet des früheren Königreichs Württemberg (mit Einschluss der ehemaligen Hohenzollerschen Lande) Anwendung finde, das den Vertrag abgeschlossen habe, und dass der Zusammenschluss der Länder Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und (Süd-)Baden (in dem S. gelegen war) im Jahre 1952 nicht zu einer Ausdehnung des Geltungsbereichs geführt habe (vgl. BÜRGI, in: Festschrift 100 Jahre SchKG, S. 179, und in: BlSchK 1989 S. 86 f.).
2.2.3
Nach dem Gesagten bleibt es bei der Feststellung, dass die (direkte) postalische Zustellung der Konkursandrohung gegen staatsvertragliche Bestimmungen verstiess. Sie ist daher nichtig. Auf Grund der Erklärung vom 1./13. Dezember 1878 zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche betreffend den unmittelbaren
BGE 131 III 448 S. 451
Geschäftsverkehr zwischen den beiderseitigen Gerichtsbehörden (SR 0.274.181.361) und Art. 1 der Erklärung vom 30. April 1910 zwischen der Schweiz und Deutschland betreffend Vereinfachung des Rechtshilfeverkehrs (SR 0.274.181.362) hätte das Betreibungsamt B. (direkt) das für S. zuständige Amtsgericht Waldshut-Tiengen um die Zustellung der Konkursandrohung ersuchen müssen (vgl.
BGE 107 III 11
E. 3 S. 13). | de |
01963048-8101-4b69-bc08-85bf3cfbb0b3 | Sachverhalt
ab Seite 323
BGE 104 II 322 S. 323
A.-
Die Bata Schuh AG, Möhlin, hinterlegte 1975/76 beim Internationalen Amt für gewerbliches Eigentum mehrere Stiefelmodelle aus Plastikmaterial. Dazu gehörten insbesondere die Hinterlegungen Nr. 61'723 mit den Modellen "Panda", "Eskimo" und "Copain", Nr. 62'481 mit "Atlantic", Nr. 62'663 mit "Luchs" und Nr. 63'397 mit "Sheriff". Das Panda-Modell ist mit einem 5 bis 6 cm breiten weichen Kragen ausgestattet, auf dem Panda-Bären in verschiedenen Grössen abgebildet sind. Der Kragen ist mit einem Schnürverschluss ausgerüstet. Das Luchs-Modell zeigt auf der Aussenseite des Schaftes ein eingeprägtes Luchsbild, das kreisförmig eingerahmt ist von den Tiernamen "Luchs-Lynx-Bobcat". Sein Kragen unterscheidet sich von dem des Panda-Modells dadurch, dass sein Äusseres einem Tierfell nachgebildet ist. Die Schaftaussenseite des Sheriff-Modells ist mit einer besonders auffallenden Verzierung von etwa 15 cm Länge sowie einem 3 cm grossen Sheriff-Stern aus Leichtmetall versehen; am obern Rande des Schaftes ist zudem ein halbrundes Läppchen mit der Bezeichnung "Sheriff" angebracht. Alle Modelle sind ausserdem an den bei Lederstiefeln üblichen Nahtstellen mit reliefartigen Linien versehen, die den Eindruck von Verbindungen oder Verstärkungen erwecken.
Die Bata Schuh AG liess Stiefel dieser Art in der Schweiz vertreiben.
B.-
Im Dezember 1976 klagte sie gegen die Minerva Schuhfabrik AG, Porrentruy, weil diese praktisch identische Modelle auf den schweizerischen Markt bringe, dadurch ihre Modellschutzrechte verletze und unlauteren Wettbewerb begehe. Ihre Rechtsbegehren lauteten insbesondere auf Feststellung der Verletzung, auf Untersagung des weiteren Vertriebes, auf Zahlung von Schadenersatz und auf Veröffentlichung des Urteils.
BGE 104 II 322 S. 324
Die Beklagte widersetzte sich diesen Begehren und erhob Widerklage auf Feststellung, dass die klägerischen Modellhinterlegungen nichtig seien.
In der Replik machte die Klägerin bezüglich des Sheriff-Modells ferner eine Verletzung von Markenrechten geltend, anerkannte die Widerklage dagegen teilweise, indem sie ihre Rechtsbegehren auf die Modelle "Panda", "Luchs" und "Sheriff" beschränkte. Die Beklagte anerkannte ihrerseits das Begehren, dass die Klägerin aus dem Markenrecht ableitete.
Nach den eingeschränkten Rechtsbegehren beantragte die Klägerin dem Handelsgericht des Kantons Bern insbesondere: 1. festzustellen, dass von der Beklagten vertriebene Stiefelmodelle, die näher angegeben werden, ihre durch die Hinterlegungen Nr. 61'723, 62'663 und 63'397 geschützten Modelle "Panda", "Luchs" und "Sheriff" verletzen und der Vertrieb widerrechtlich hergestellter Stiefel gegen Grundsätze des UWG verstosse (Rechtsbegehren 1 lit. a-d); 2. der Beklagten den weiteren Vertrieb der streitigen Modelle zu untersagen (Rechtsbegehren 2) und sie zu verurteilen, ihr für jedes verkaufte Paar Fr. 5.- Schadenersatz zu bezahlen (Rechtsbegehren 3).
Die Beklagte wollte mit der Widerklage festgestellt wissen, dass die noch streitigen Modellhinterlegungen "Panda" (Nr. 61'723), "Luchs" (Nr. 62'663) und "Sheriff" (Nr. 63'397) der Klägerin nichtig und daher im internationalen Register für das Gebiet der Schweiz zu löschen seien.
Durch Urteil vom 8. Dezember 1977 hielt das Handelsgericht fest, dass die Beklagte die Klage mit Bezug auf die behauptete Verletzung der Marke "Sheriff" anerkannte; es verbot ihr bei Strafe, weitere Stiefel mit dieser Marke zu vertreiben. Es hielt ferner fest, dass die Klägerin teilweise den Abstand erklärte, indem sie die Ungültigkeit der Hinterlegung Nr. 61'723 mit Bezug auf die Modelle "Eskimo" und "Copain" sowie der Hinterlegung Nr. 62'481 ("Atlantic") anerkannte. Das Handelsgericht fand sodann, dass alle übrigen Rechtsbegehren der Klage und Widerklage abzuweisen seien.
C.-
Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, der sich die Beklagte angeschlossen hat.
Jede Partei wiederholt sinngemäss ihre vor dem Handelsgericht noch streitigen Rechtsbegehren, hält daran fest und widersetzt sich den Begehren der Gegenpartei.
BGE 104 II 322 S. 325 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Klägerin ergänzte ihr Schadenersatzbegehren in der Berufung mit dem Antrag, die Sache zur Ermittlung des Schadenbetrages an das Handelsgericht zurückzuweisen. Die Beklagte hält dem entgegen, die Vorinstanz habe das Verfahren vorläufig im Einvernehmen mit den Parteien auf die Grundsatzfrage beschränkt. Bei Abweisung der Berufung werde die Schadenersatzfrage hinfällig, bei Gutheissung könne sie dagegen vom Handelsgericht weiterbehandelt werden. Dem Antrag der Klägerin sei daher nicht zu entsprechen.
Wollte man dieser Auffassung folgen, so läge ein blosses Teilurteil vor, das die Behandlung eines von mehreren Klagebegehren vorbehält, aber nicht in ein besonderes neues Verfahren verweist; damit wären die Anforderungen an einen berufungsfähigen Endentscheid im Sinne von
Art. 48 OG
nicht erfüllt (
BGE 100 II 429
,
BGE 91 II 59
mit Zitaten).
Das ist indes nicht der Sinn des angefochtenen Urteils. Wie daraus erhellt, haben sich die Parteien in der Hauptverhandlung vom 16. November 1977 damit einverstanden erklärt, dass das Handelsgericht die Schadenersatzfrage separat behandelt und einstweilen nur prüft, ob eine widerrechtliche Handlung nach MMG oder UWG vorliege. Die Vorinstanz hat deshalb die Ermittlung des Schadens vom Beweisverfahren ausgenommen und sich in den Erwägungen mit der Wiedergabe der Parteierklärung begnügt. Durch den Urteilsspruch hat sie jedoch "sämtliche übrigen Rechtsbegehren der Klage und Widerklage", sinngemäss also auch das Schadenersatzbegehren der Klägerin abgewiesen, soweit darüber nach dem Abstand der Parteien noch zu entscheiden war. Das leuchtet auch ein, da das Handelsgericht die Schadenersatzfrage nur vorläufig zurückgestellt, dann aber sowohl eine Verletzung von Modellrechten wie einen unlauteren Wettbewerb verneint hat. Damit war dem Ersatzanspruch der Klägerin die Grundlage entzogen. Die Schadenersatzfrage stellt sich dagegen erneut, falls nach der Berufung eine widerrechtliche Handlung gemäss MMG oder UWG anzunehmen ist.
2.
Die Klage stützt sich auf die Modellhinterlegungen beim Internationalen Amt für gewerbliches Eigentum. Das Handelsgericht prüfte die Gültigkeit der Hinterlegungen und deren
BGE 104 II 322 S. 326
Rechtswirkungen gleichwohl nur nach schweizerischem Modellschutzrecht.
Das wird von den Parteien mit Recht nicht beanstandet.
Art. 23bis MMG
stellt auch zugunsten eines schweizerischen Hinterlegers die internationale Hinterlegung einer schweizerischen gleich. Dazu kommt, dass weder die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutze des gewerblichen Eigentums (AS 1970 S. 620) noch das Haager Abkommen betreffend die internationale Hinterlegung der gewerblichen Muster oder Modelle (BS 11 S. 1045) einen weitergehenden Schutz vorsehen als das MMG oder ihn von abweichenden Bedingungen abhängig machen (
BGE 80 II 357
ff.; TROLLER, Kurzlehrbuch des Immaterialgüterrechts, S. 173).
3.
Da die Beklagte geltend macht, die klägerischen Modellhinterlegungen seien nichtig, ist die Widerklage vorweg zu beurteilen. Diese stützt sich auf
Art. 12 Ziff. 1 und 4 MMG
. Nach diesen Bestimmungen ist eine Hinterlegung ungültig, wenn das Modell zur Zeit der Hinterlegung dem Publikum oder den beteiligten Verkehrskreisen bereits bekannt, also nicht mehr neu gewesen oder wenn der hinterlegte Gegenstand seiner Natur nach kein Modell im Sinne des Gesetzes ist. Gemäss
Art. 6 MMG
ist nach erfolgter Hinterlegung zu vermuten, dass deren Gegenstand neu ist. Das gilt auch für die internationale Hinterlegung (
BGE 80 II 361
).
a) Es ist unbestritten, dass einem hinterlegten Modell die Neuheit auch dann abzusprechen ist, wenn der Inhaber selbst es schon vor der Hinterlegung verwendet hat (
BGE 61 I 206
). Mit solchem Gebrauch hat die Beklagte ihre Einrede der Nichtigkeit bereits im kantonalen Verfahren begründet; sie hielt der Klägerin entgegen, aus den ESGE-Grossistenkatalogen der Jahre 1973/74 ergebe sich, dass sie die streitigen Modelle schon vor deren Hinterlegung hergestellt und vertrieben habe. Die Klägerin hat daraufhin die Einrede teilweise anerkannt, indem sie den beanspruchten Schutz auf die Hinterlegungen Nr. 61'723 vom 2. Oktober 1975, Nr. 62'663 vom 11. März 1976 und Nr. 63'397 vom 8. Juli 1976, d.h. auf die noch streitigen Modelle "Panda", "Luchs" und "Sheriff" beschränkte.
Das Handelsgericht fand, die formelle Neuheit dieser Modelle ergebe sich aus dem Vergleich mit jenen, für welche die Klägerin auf den Schutz verzichtet habe. Die Beklagte wendet dagegen mit Recht ein, dass nach ihren Vorbringen die noch streitigen
BGE 104 II 322 S. 327
Modelle mit den Stiefeln verglichen werden müssen, welche die Klägerin gemäss den Katalogen schon früher hergestellt und vertrieben hat. Dass die Vorinstanz diese selbstverständlich berücksichtigt habe, wie die Klägerin behauptet, ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Unterschiede zwischen Stiefeln der noch streitigen und der fallengelassenen Hinterlegungen besagen aber nichts über den Vergleich mit den früheren Katalogmodellen, zumal auch nicht festgestellt ist, dass diese identisch gewesen seien mit den Gegenständen der fallengelassenen Hinterlegungen. Auf eine Rückweisung gemäss
Art. 64 Abs. 1 OG
kann indes verzichtet werden, da der Einwand fehlender Neuheit schon aus rechtlichen Gründen nicht standhält.
Die Beklagte anerkennt, dass die noch streitigen Modelle durch früher hergestellte jedenfalls insoweit nicht vorweggenommen sind, als sie sich durch eine schmückende Ausstattung des Kragens oder der äussern Schaftseite deutlich von den früheren unterscheiden. Der Kragen des Panda-Modells ist mit Panda-Bildern versehen; derjenige des Luchs-Modells, das zudem ein markantes Luchs-Bild aufweist, ist einem Tierfell nachgebildet, während auf dem Sheriff-Modell nebst der Bezeichnung "Sheriff" und dem Sheriff-Stern eine besonders auffallende Verzierung angebracht ist.
Solche Ausstattungen sollen nach Auffassung der Beklagten modellrechtlich belanglos sein, weil sie sich in flächigen Darstellungen erschöpften und daher höchstens als Muster geschützt werden könnten. Das trifft schon in tatsächlicher Hinsicht nur beschränkt zu, handelt es sich zum Beispiel beim Luchs-Bild und beim Sheriff-Stern doch um plastische Elemente. Die Behauptung der Beklagten geht auch sonst fehl. Gewiss wird in der Praxis zwischen Muster und Modell unterschieden, da ersteres ein zweidimensionales, letzteres dagegen ein dreidimensionales Gebilde ist. Das Gesetz macht jedoch keinen Unterschied, weil es beide als äussere Formgebung definiert und sowohl die Voraussetzungen wie die Wirkungen ihres Schutzes einheitlich regelt. Dass
Art. 6 MMG
kombinierte Muster/Modell-Hinterlegungen ausschliesst, ändert daran nichts, da es sich dabei lediglich um eine Form- und Ordnungsvorschrift handelt. Die Originalität eines Modells kann daher nicht nur in seiner räumlichen Gestaltung, sondern auch im graphischen Schmuck bestehen, mit dem seine Oberflächen versehen
BGE 104 II 322 S. 328
sind. Diese Lösung ergibt sich aus der einheitlichen Regelung und trägt vor allem dem Umstand Rechnung, dass beide Elemente häufig eng miteinander verbunden oder aufeinander abgestimmt, im Einzelfall folglich kaum zu trennen sind (
BGE 87 II 50
; TROLLER, Immaterialgüterrecht I S. 536 ff.).
Im vorliegenden Fall ist die schmückende Ausstattung der Modelle nicht blosses Beiwerk, sondern bestimmt den für die Beurteilung massgebenden Gesamteindruck auf das kaufende Publikum (
BGE 84 II 661
). Die zugunsten der Klägerin bestehende Vermutung, die noch streitigen Modelle seien neu, ist daher nicht entkräftet, geschweige denn widerlegt.
b) Mit dem weiteren Einwand, die hinterlegten Stiefelformen seien ihrer Natur nach keine Modelle im Sinne des Gesetzes, versucht die Beklagte deren Schutzfähigkeit zu bestreiten.
Nach
Art. 3 MMG
erstreckt sich der Modellschutz nicht auf die Herstellungsweise, Nützlichkeitszwecke und technische Wirkungen des nach dem Modell hergestellten Gegenstandes. In diesem Sinne sind vorweg alle Merkmale auszuscheiden, die durch Rücksichten auf den Gebrauchszweck und die Herstellung des Gegenstandes bedingt sind (
BGE 95 II 473
/4). Das gilt hier insbesondere von der allgemein üblichen Form und Ausgestaltung, die durch die Morphologie des menschlichen Fusses und den Verwendungszweck des Stiefels weitgehend vorbestimmt sind. Streitig ist, ob solche Überlegungen es zum Beispiel auch rechtfertigen, den Schaft des Stiefels aus einem Stück herzustellen, ihn mittels eines gerillten Randes mit der Sohle zu verbinden, diese unten mit einer Gelenkstütze zu versehen und die Sohlenfläche in eine Rand- und Innenpartie aufzuteilen. Wie es sich damit verhält, ist dem angefochtenen Urteil, abgesehen von einer beiläufigen Bemerkung über die Flächenaufteilung nicht zu entnehmen, obschon es sich um Tatfragen handelt, die vom kantonalen Richter zu beantworten sind (
BGE 95 II 475
,
BGE 87 II 53
). Es besteht diesbezüglich auch keine gesetzliche Vermutung, wie das Handelsgericht anzunehmen scheint;
Art. 6 MMG
bezieht sich nicht auf die Gültigkeit der Hinterlegung schlechthin, sondern nur auf die Neuheit und die Urheberschaft.
Der Modellschutz setzt zudem eine äussere Formgebung voraus, die bei der gewerblichen Herstellung eines Gegenstandes als Vorbild dienen soll (
Art. 2 MMG
). Letzteres trifft hier unstreitig zu. Umstritten ist dagegen das dem Gesetz zugrunde
BGE 104 II 322 S. 329
liegende ästhetische Erfordernis, die sogenannte materielle Neuheit. Nach der Rechtsprechung braucht die Form nicht das Ergebnis einer schöpferischen Tätigkeit zu sein; sie darf aber auch nicht im Nächstliegenden haften bleiben, sondern muss eine gewisse Originalität und damit ein Mindestmass an geistigem Aufwand erkennen lassen. Die Form muss dem Gegenstand ferner gegeben werden, um den Geschmack, den Sinn für das Schöne anzusprechen (
BGE 95 II 472
,
BGE 92 II 204
mit Hinweisen). Auch die Vorinstanz geht davon aus, schliesst sich dann aber den kritischen Bemerkungen KUMMERS zu
BGE 87 II 49
an (ZBJV 99/1963 S. 24), wonach die schlichte Individualität der Formgebung genügt oder der Vergleich mit vorbekannten Formen ein "Anderssein" ergibt, das keinen besonderen qualitativen Schwellenwert mehr übersteigen müsse. TROLLER äussert sich ähnlich (Immaterialgüterrecht I S. 534, Kurzlehrbuch S. 84).
Auf das Merkmal einer gewissen Originalität völlig zu verzichten und sich auf die Prüfung der formellen Neuheit zu beschränken, wie die Vorinstanz das getan hat, geht jedenfalls dann nicht an, wenn dem Ansprecher zum vorneherein enge Grenzen gesetzt sind, einem Erzeugnis ein neuartiges Aussehen zu verleihen. Im vorliegenden Fall reicht bei den noch streitigen Modellen die schmückende Ausstattung indes noch aus, um die Originalität zu bejahen. Die Panda-Bilder, der Tierfellkragen, das mit Tiernamen eingerahmte Luchs-Bild, die Verzierung sowie Sheriff-Stern und -Marke geben den Modellen, die damit versehen sind, ein Mindestmass von originellem Charakter und prägen den für die Beurteilung massgebenden Eindruck auf das kaufende Publikum.
Die mit der Widerklage erhobene und in der Anschlussberufung wiederholte Einrede, die klägerischen Modellhinterlegungen "Panda", "Luchs" und "Sheriff" seien nichtig, erweist sich somit in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil als unbegründet. Die Berufung der Beklagten ist deshalb abzuweisen.
4.
Die Klägerin begründete ihre Rechtsbegehren bereits im kantonalen Verfahren vor allem mit einer Verletzung von Modellrechten gemäss
Art. 24 Ziff. 1 MMG
. Nach dieser Bestimmung ist die Nachahmung eines hinterlegten Modells widerrechtlich, wenn eine Verschiedenheit nur bei sorgfältiger Vergleichung wahrgenommen werden kann; blosse Farbänderungen
BGE 104 II 322 S. 330
sind dabei ausser acht zu lassen. Damit geht das Modellrecht, wie das Handelsgericht zu Recht annimmt, von einem engern Begriff der Nachahmung aus als das Marken- und Wettbewerbsrecht, da das hinterlegte und das widerrechtlich hergestellte Modell nebeneinander zu halten und gleichzeitig zu betrachten sind, man also nicht auf das blosse Erinnerungsbild abstellen darf. Beizupflichten ist der Vorinstanz auch darin, dass eine Nachahmung nicht schon durch geringfügige Unterschiede, die bei näherer Betrachtung ersichtlich sind, ausgeschlossen wird, weil es nicht auf die Abweichungen, sondern auf die Übereinstimmungen und damit wiederum auf den Gesamteindruck ankommt, den die miteinander zu vergleichenden Modelle insbesondere beim letzten Abnehmer hinterlassen (
BGE 83 II 480
E. 3; TROLLER, Immaterialgüterrecht II S. 771). Gestützt auf diese Kriterien gelangte die Vorinstanz zum Schluss, die streitigen Modelle der Parteien unterschieden sich namentlich durch die schmückende Ausstattung ihres Oberteiles, weshalb eine unzulässige Nachahmung zu verneinen sei.
Die Klägerin hält eine zergliedernde Betrachtungsweise, wie sie dem angefochtenen Urteil zugrunde liege, für verfehlt und verlangt eine Beurteilung ihrer Stiefel nach deren Gesamteindruck; diesfalls ergebe sich eine ganze Reihe von Nachahmungen, die zusammen als Verletzung ihrer Modellrechte zu werten seien. Dem ist vorweg entgegenzuhalten, dass alle von ihren Rechtsbegehren nicht oder nicht mehr erfassten Modelle vom Vergleich auszunehmen sind. Das gilt insbesondere für jene Modelle, bezüglich deren die Klägerin auf Widerklage hin den Abstand erklärt hat. Massgebend sind die von ihr eingeschränkten Feststellungsbegehren 1 lit. a-c.
Nach diesen Begehren ist das Sheriff-Modell der Klägerin mit dem Sheriff-bzw. späteren US-Marshall-Modell der Beklagten zu vergleichen. Beide weisen eine ähnliche graphische Verzierung von gleicher Grösse auf, lassen in den Aufschriften und in der Gestaltung des Sterns aber auffällige Unterschiede erkennen. Die Bezeichnung ist auf dem Modell der Klägerin markant in halbrundem Schriftzug und auf einem besonderen Läppchen, auf demjenigen der Beklagten dagegen kaum leserlich und im Stern angebracht. Dieser ist zudem sechszackig und eingeprägt, auf dem Modell der Klägerin dagegen fünfzackig und als Metallstück aufgesetzt. Die schmückende Ausstattung der Klägerin wirkt deshalb kräftiger und plastischer, die der Beklagten
BGE 104 II 322 S. 331
eher schwach und flächig. Dem Panda-Modell der Klägerin sind diejenigen gegenüberzustellen, deren Kragen die Beklagte mit der Marke "Robusto" sowie mit Tierabbildungen gekennzeichnet hat. Hiezu gehören stilisierte Bilder insbesondere von Fischen, Enten und Krokodilen, während die Klägerin auf dem Kragen ihres Modells einzig Panda-Bären wiedergibt, die dem Werbebild des World-Wildlife-Fund (WWF) entsprechen. Durch diese unterschiedliche Ausstattung des Kragens heben sich die streitigen Modelle deutlich voneinander ab. Das Luchs-Modell schliesslich ist mit den Stiefeln zu vergleichen, welche die Beklagte mit einem Löwen- oder Tiger-Bild versehen hat. Der einem Tierfell nachgebildete Kragen des Luchs-Modells ist mit einem Schnürverschluss ausgerüstet, während die Beklagte sich auch hier damit begnügt hat, die Kragen ihrer Stiefel mit der Marke "Robusto" und den stilisierten Tierbildern auszustatten. Die Bilder auf der Aussenseite des Schaftes sodann lassen sich nur insofern miteinander in Beziehung bringen, als sie alle Raubtiere darstellen. Gleichwohl lassen sich die Modelle auch nach diesen Kennzeichen klar auseinanderhalten, da dasjenige der Klägerin ein eingeprägtes und mit Tiernamen eingerahmtes Luchs-Bild zeigt, die Stiefel der Beklagten dagegen Löwe oder Tiger in einer blossen Kontrastfarbe wiedergeben.
Das Handelsgericht hat sich mit der schmückenden Ausstattung der Modelle eingehend auseinandergesetzt. Es fällt auf, dass die Klägerin sich damit überhaupt nicht, mit anderen Merkmalen, welche angeblich nicht technisch bedingt sind und ihre Modelle kennzeichnen sollen, dagegen ausführlich befasst. Der durch die schmückende Ausstattung geprägte Gesamteindruck wird von den übrigen Elementen jedoch kaum beeinflusst, gleichviel inwieweit diese durch die Herstellung oder den Gebrauch der Erzeugnisse bedingt sind oder das gefällige Aussehen der Modelle mitbestimmen sollen. Werden die zu vergleichenden Stiefel nebeneinander gestellt, so sind die Unterschiede in der äussern Aufmachung schon bei oberflächlicher Prüfung zu ersehen; einer näheren Betrachtung bedarf es einzig bei den Western-Stiefeln, weil sie alle in Lederfarben gehalten sind. Dass einzelne Modelle an den falschen Lieferanten zurückgesandt worden sind, ist modellrechtlich unerheblich. Gewiss ist die Verwechslungsgefahr beim kaufenden Publikum erst recht zu bejahen, wenn ihr schon das fachkundige Verkaufspersonal erliegt. Wenn ein Verkäufer Retourware falsch sortiert, beruht
BGE 104 II 322 S. 332
sein Irrtum indes bestenfalls auf einem Erinnerungsbild, nicht auf einer zuverlässigen Vergleichung nebeneinander stehender Modelle.
Die Auffassung des Handelsgerichtes, eine Verletzung von Modellrechten gemäss
Art. 24 Ziff. 1 MMG
sei zu verneinen, ist daher nicht zu beanstanden.
5.
Die Klägerin macht ferner geltend, dass die Beklagte durch den Vertrieb widerrechtlich hergestellter Modelle unlauteren Wettbewerb begangen habe. Zu diesen Modellen zählt sie nicht nur die Stiefel mit schmückender Ausstattung des Kragens oder der äussern Schaftseite (Ziff. 4 hiervor), sondern auch solche, bezüglich deren sie im kantonalen Verfahren auf Ansprüche aus Modellschutz verzichtet hat, weil sie weder mit Western-Zeichen noch mit Zierbildern versehen sind.
a) Mit dem Handelsgericht ist vom Grundsatz auszugehen, dass nicht auf dem Umweg über das UWG als widerrechtlich bezeichnet werden darf, was nach den Spezialgesetzen des gewerblichen Rechtsschutzes erlaubt ist. Zu Unrecht rügt daher die Klägerin, die Vorinstanz habe der Beurteilung der Verwechslungsgefahr im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 lit. d UWG
nicht den weiteren Begriff der Nachahmung zugrunde gelegt; denn damit würde der Richter sich über die vom Gesetz gewollte Beschränkung des Muster- und Modellschutzes hinwegsetzen. Wenn die Form einer Ware nicht oder nicht mehr unter diesem Schutz steht, darf sie grundsätzlich auch aus ästhetischen Gründen nachgeahmt werden. Jedermann darf seiner Ware jene Form geben, die sie am gefälligsten und damit am besten verkäuflich macht. Anders verhält es sich insbesondere, wenn eine Ware eine bestimmte Form oder Ausstattung nur deshalb erhalten hat, damit sie von gleichen oder ähnlichen Erzeugnissen anderen Ursprungs unterschieden werden könne. Unter dieser Voraussetzung ist die Form nicht ästhetisch bedingt, sondern bloss äussere Zutat zur Kennzeichnung der Ware und darf daher von andern Herstellern nicht nachgemacht werden (
BGE 103 II 215
E. 3,
BGE 95 II 477
,
BGE 92 II 206
E. 6 mit Hinweisen).
Nach dem angefochtenen Urteil lässt sich nicht sagen, die klägerischen Stiefel-Modelle hätten sich wegen ihrer besonderen Ausstattung im Verkehr durchgesetzt. Das Handelsgericht hält der Klägerin entgegen, sie behaupte selbst nicht, ihre Stiefel hätten eine solche Geltung erreicht, dass das kaufende Publikum aus ihrem Aussehen auf die richtige Herkunft schliesse. Ein
BGE 104 II 322 S. 333
Anzeichen für die Herkunft könnte zudem einzig im Panda-Bär erblickt werden, der aber nicht auf die Klägerin, sondern auf den WWF hinweise. Dagegen ist nicht aufzukommen mit der Behauptung, die Verkehrsgeltung sei durch die unbestrittenen Retoursendungen bewiesen. Dass im Fachhandel Verwechslungen vorgekommen sind, heisst nicht, auch Käuferkreise hätten Stiefel der streitigen Art ohne weiteres der Klägerin zugerechnet. Der Einwand sodann, die schmückende Ausstattung oder andere Formelemente ihrer Stiefel hätten von Anfang an eine die Herkunft kennzeichnende Funktion gehabt, ist kaum ernst gemeint und durch nichts belegt. Es fällt gegenteils auf, dass die Klägerin ihre Stiefel nicht mit der Firma oder Marke "BATA" versehen hat, um selber Verwechslungen vorzubeugen oder die angeblich beabsichtigte Unterscheidung der Ware im Verkehr zu sichern. Ob sie das Zeichen weggelassen hat, weil sie es nicht mit billigen Massenartikeln in Verbindung bringen wollte, kann offen bleiben. Festzuhalten ist dagegen, dass Käufer solcher Artikel sich erfahrungsgemäss um deren Herkunft überhaupt nicht kümmern (
BGE 92 II 209
,
BGE 87 II 56
).
Soweit die Klägerin die Verwechslungsgefahr bei Stiefeln ohne schmückende Ausstattung mit andern Elementen, insbesondere mit den reliefartigen Linien, dem Schnürverschluss, der Gelenkstütze, der Sohlenaufteilung oder der losen Innensohle begründen will, geht sie ebenfalls fehl. Solche Merkmale sagen über die Herkunft der Ware nichts aus, weil in dieser Hinsicht alle Erzeugnisse der betreffenden Art, woher sie auch kommen mögen, annähernd gleich aussehen. Deswegen lässt sich nicht sagen, die nachgemachte Ware könne mit der eines bestimmten Mitbewerbers verwechselt werden. Sie kann mit allen Waren dieser Art verwechselt werden, aber verletzt ist keiner der Mitbewerber, weil keiner einen Anspruch darauf hat, Waren dieser Ausgestaltung allein herzustellen.
b) Eine andere Frage ist, ob unlauterer Wettbewerb gemäss der in
Art. 1 Abs. 1 UWG
enthaltenen Generalklausel vorliege. Nach dieser Bestimmung gilt jeder Missbrauch des wirtschaftlichen Wettbewerbs durch täuschende oder andere Mittel, die gegen Treu und Glauben verstossen, als unlauter. Das Gesetz will damit dem Richter die Möglichkeit geben, von den Sonderbestimmungen des Abs. 2 nicht oder nur teilweise erfasste Sachverhalte im Lichte des Grundsatzes von Treu und Glauben allseitig zu würdigen (
BGE 102 II 294
). Dies rechtfertigt sich
BGE 104 II 322 S. 334
namentlich in Fällen der Ausbeutung fremder Leistung, wozu Mitbewerber nach der Erfahrung vor allem dann versucht sind, wenn wegen des grossen oder vielfältigen Angebotes allgemein ein harter Konkurrenzkampf besteht. Die Klägerin wirft der Beklagten denn auch vor, sie habe sich jeweilen prompt von ihren Modellen "inspirieren" lassen und diese systematisch nachgeahmt, um aus ihrem Goodwill Nutzen zu ziehen.
Die wettbewerbliche Leistung eines Konkurrenten gegen die missbräuchliche Ausnützung durch andere zu schützen, gehört zu den Grundgedanken des Wettbewerbsrechtes (
BGE 87 II 56
). Die Grenzen dieses Schutzes sind schwierig festzusetzen, weil schon das Spannungsverhältnis zwischen den Spezialgesetzen über den gewerblichen Rechtsschutz und dem Wettbewerbsrecht Unklarheiten schafft. Regel muss aber bleiben, dass spezialrechtlich nicht geschützte Arbeitsergebnisse als solche wettbewerbsrechtlich ebenfalls nicht schützbar sind, mögen sie auch mit Mühe und Kosten errungen worden sein. Die ästhetische Ausgestaltung einer Ware ist in Bereichen, die vom Muster- oder Modellschutz nicht erfasst werden, nicht das Monopol ihres geistigen Urhebers (
BGE 95 II 468
,
BGE 87 II 63
).
Besondere Umstände können indes selbst ein Verhalten, das nach Muster- oder Modellrecht nicht zu beanstanden ist, im Sinne von
Art. 1 Abs. 1 UWG
missbräuchlich machen und daher die Anwendung dieser Bestimmung rechtfertigen. Das ist in
BGE 90 II 56
E. 6 zum Beispiel aus den Begleitumständen einer Nachahmung gefolgert worden. Dagegen hat das Bundesgericht mangels tatsächlicher Voraussetzungen bisher offen gelassen, ob das planmässige Heranschleichen an eine fremde Ausstattung als unlauterer Wettbewerb zu werten sei (
BGE 95 II 199
und 469). Das ist an sich ebenfalls zu bejahen. Die systematische Häufung raffinierter Nachahmungen "bis an die Grenze des Unzulässigen" ist mit Treu und Glauben ebensowenig zu vereinbaren, wie eine einmalige genaue Nachahmung, wenn sie wie diese darauf angelegt ist, den guten Ruf des Konkurrenzerzeugnisses in schmarotzerischer Weise auszubeuten (KUMMER, ZBJV 107/1971, S. 228; DAVID, Schweiz. Wettbewerbsrecht, S. 392/393).
c) Solche Umstände erblickt die Klägerin darin, dass die Beklagte ihr Sortiment von Anfang an in Anlehnung an die hinterlegten Modelle aufgebaut und damit eine eigentliche Nachahmungspolitik betrieben habe. Dieser Vorwurf ist auf die
BGE 104 II 322 S. 335
Stiefel mit schmückender Ausstattung von Kragen oder Schaftaussenseite zu beschränken, für die der Modellschutz im Verfahren aufrechterhalten worden ist (Panda, Luchs, Sheriff); die andern Stiefel fallen dabei ausser Betracht, weil ihre Ausstattung wenig typisch ist und ihre Inverkehrsetzung und praktische Bedeutung ungenügend abgeklärt sind.
Aus den hievor angestellten Vergleichen ergeben sich allerdings auffallende Ähnlichkeiten zwischen den Stiefeln der Beklagten und den Panda-, Luchs- und Sheriff-Modellen der Klägerin, weshalb diesbezüglich von einer deutlichen "Annäherung", einem "Ablauschen" (KUMMER a.a.O.) gesprochen werden kann. Diese Ähnlichkeiten reichen indes nicht aus; erforderlich ist eine systematische Annäherung. Von einer solchen kann hier noch nicht die Rede sein, da es sich nur um drei Modelle handelt und beide Parteien zahlreiche andere Typen hergestellt und vertrieben haben, für die der Vorwurf nicht zutrifft. Es rechtfertigt sich in diesem Sinn Zurückhaltung, wenn auf Grund von
Art. 1 Abs. 1 UWG
ein Verhalten, das modellrechtlich nicht zu beanstanden ist und von den besonderen Tatbeständen des
Art. 1 Abs. 2 UWG
nicht erfasst wird, als systematische Annäherung geahndet werden soll.
6.
Liegt somit weder eine Verletzung von Modellrechten noch unlauterer Wettbewerb zum Nachteil der Klägerin vor, so ist deren weiteren Klagebegehren der Boden entzogen, die Berufung der Klägerin folglich in vollem Umfange abzuweisen. | de |
04e843a3-c5de-4192-a3ca-c96e8ae35ba2 | Sachverhalt
ab Seite 545
BGE 129 III 545 S. 545
A.-
Die Y. AG (Klägerin) bezweckt den Handel unter anderem mit Haushaltartikeln. Sie beabsichtigte, die Knoblauchpresse "Pelikan", die seit September 2001 in Deutschland verkauft wird, auch in der Schweiz auf den Markt zu bringen. Noch vor Auslieferung der Ware in der Schweiz wurde sie von der X. AG (Beklagte) verwarnt. Diese gehört zur schweizerisch-dänischen Z.-Gruppe und hat unter anderem Design und Entwicklung von Haushaltgegenständen
BGE 129 III 545 S. 546
und von sonstigen Produkten aller Art zum Zweck. Sie ist seit 25. März 1998 Inhaberin des Modells Nr. 1 für eine Knoblauchpresse, dessen Form wie folgt hinterlegt ist:
B.
B.a Am 12. November 2001 gelangte die Klägerin an das Obergericht des Kantons Luzern und beantragte, es sei festzustellen, dass sie die Rechte der Beklagten aus der schweizerischen Modellhinterlegung 1 durch Herstellung und Vertrieb einer Knoblauchpresse der folgenden Form nicht verletze:
Die Beklagte schloss auf Abweisung der Klage und erhob Widerklage mit dem Begehren, es sei der Klägerin mit sofortiger Wirkung zu verbieten, in der Schweiz die Knoblauchpresse "Pelikan", wie sie im Rechtsbegehren der Klägerin beschrieben ist, herzustellen, zu benutzen, anzupreisen, feilzuhalten, zu verkaufen oder sonst wie in Verkehr zu bringen und bei entsprechenden Handlungen Dritter in irgendeiner Weise mitzuwirken.
B.b Das Obergericht hiess das Rechtsbegehren der Klägerin mit Urteil vom 5. Februar 2003 gut und stellte fest, dass diese durch die Herstellung und den Vertrieb einer Knoblauchpresse in der folgenden Form
BGE 129 III 545 S. 547
die Rechte der Beklagten aus deren Hinterlegung des Designs 1 nicht verletze. Die Widerklage wies das Gericht ab. Es hielt unter anderem dafür, der Vergleich der angeblich das Designrecht der Beklagten verletzenden Produktegestaltung der Klägerin mit dem hinterlegten Design der Beklagten sei in Auslegung von Art. 8 des Bundesgesetzes über den Schutz von Design (DesG) nicht anhand des Erinnerungsbildes der Adressaten, sondern nach dem - aktuellen - Gesamteindruck der Formen vorzunehmen. Danach unterscheide sich die Knoblauchpresse "Pelikan" der Klägerin hinreichend von der eingetragenen "Allium Garlic Press" der Beklagten.
C.-
Die Beklagte stellt mit Berufung vom 25. April 2001 den Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben, die Klage vollumfänglich abzuweisen und in Gutheissung der Widerklage sei der Klägerin mit sofortiger Wirkung und unter Androhung der Bestrafung ihrer verantwortlichen Organe gemäss
Art. 292 StGB
zu verbieten, in der Schweiz ihre Knoblauchpresse "Pelikan", wie sie im Rechtsbegehren der Klage vom 12. November 2001 beschrieben ist, herzustellen, zu benutzen, anzupreisen, feilzuhalten, zu verkaufen oder sonst wie in Verkehr zu bringen oder bei entsprechenden Handlungen Dritter in irgendeiner Weise mitzuwirken. Sie rügt unter anderem, die Vorinstanz habe
Art. 8 DesG
verletzt, indem sie den Gesamteindruck anhand eines synoptischen Vergleichs statt des Erinnerungsbildes beurteilt habe und indem sie verneint habe, dass die Knoblauchpresse der Klägerin den gleichen Gesamteindruck erwecke wie ihr eingetragenes Design.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Am 1. Juli 2002 ist das Bundesgesetz vom 5. Oktober 2001 über den Schutz von Design (Designgesetz, DesG; SR 232.12) in Kraft getreten. Nach
Art. 52 Abs. 1 DesG
unterstehen eingetragene Muster und Modelle ab dem Inkrafttreten dieses Gesetzes dem neuen Recht. Das Modell Nr. 1 der Beklagten für eine Knoblauchpresse war im Zeitpunkt des Inkrafttretens des DesG im Register eingetragen. Die Vorinstanz hat die Streitsache zutreffend nach dem DesG beurteilt, was denn auch von keiner der Parteien beanstandet wird.
Gemäss
Art. 33 DesG
kann, wer ein rechtliches Interesse nachweist, gerichtlich feststellen lassen, dass ein Recht oder Rechtsverhältnis nach dem Gesetz besteht oder nicht besteht. Die Klägerin
BGE 129 III 545 S. 548
beantragt die Feststellung, dass ihre Knoblauchpresse "Pelikan" das Designrecht der Beklagten nicht verletzt. Nachdem sie von der Beklagten verwarnt worden ist, hat die Vorinstanz ihr Interesse an dieser Feststellung zutreffend bejaht (vgl.
BGE 123 III 49
E. 1a S. 51;
BGE 120 II 20
E. 3a S. 22, je mit Hinweisen).
Das Designrecht verleiht der Rechtsinhaberin das Recht, andern zu verbieten, das Design zu gewerblichen Zwecken zu gebrauchen (
Art. 9 DesG
). Wird sie in ihren Rechten verletzt oder gefährdet, kann sie vom Gericht insbesondere verlangen, die drohende Verletzung zu verbieten (
Art. 35 Abs. 1 lit. a DesG
). Auch die Widerklage, an der die Beklagte in der Berufung festhält, ist zulässig.
2.
Nach
Art. 8 DesG
erstreckt sich der Schutz des Designrechts auf Designs, welche die gleichen wesentlichen Merkmale aufweisen und dadurch den gleichen Gesamteindruck erwecken wie ein bereits eingetragenes Design. Mit dieser Umschreibung ist der Schutzbereich gegenüber dem früheren Art. 24 des Bundesgesetzes vom 30. März 1900 betreffend die gewerblichen Muster und Modelle (MMG [BS 2 S. 873]; aufgehoben durch Ziff. I des Anhangs zum DesG, AS 2002 S. 1469) erweitert worden. Denn nach dieser Bestimmung war die Nachahmung eines hinterlegten Modells widerrechtlich, wenn eine Verschiedenheit nur bei sorgfältiger Vergleichung wahrgenommen werden konnte (vgl.
BGE 104 II 322
E. 4 S. 329;
BGE 83 II 475
E. 3 S. 480).
Art. 24 MMG
wurde in der Rechtsprechung so ausgelegt, dass eine Nachahmung nicht schon durch geringfügige, bei näherer Betrachtung ersichtliche Unterschiede ausgeschlossen wurde, weil es nicht auf die Abweichungen, sondern auf die Übereinstimmungen und damit auf den Gesamteindruck ankomme, den die miteinander zu vergleichenden Muster oder Modelle insbesondere beim letzten Abnehmer hinterliessen. Da das MMG von einem engeren Begriff der Nachahmung ausging als das Marken- oder Wettbewerbsrecht, wurde für den Vergleich des angeblich widerrechtlich hergestellten mit dem hinterlegten Modell verlangt, dass sie nebeneinander zu halten und gleichzeitig zu betrachten waren; auf das blosse Erinnerungsbild durfte nicht abgestellt werden (
BGE 104 II 322
E. 3 S. 330). Die Vorinstanz hat nicht nach der Erinnerung des massgebenden Adressaten beurteilt, ob das Designrecht der Beklagten verletzt ist, sondern aufgrund eines direkten gleichzeitigen Vergleichs des hinterlegten Designs mit der angeblichen Verletzungsform. Insofern hat sie die Praxis zum altrechtlichen
Art. 24 MMG
weitergeführt. Die Beklagte hält dafür, die Vorinstanz habe
BGE 129 III 545 S. 549
damit den gesetzgeberischen Willen missachtet. Denn mit der Verabschiedung von
Art. 8 DesG
sei eine Abkehr vom Grundsatz der zwingenden Vornahme eines synoptischen Vergleichs beabsichtigt worden. Die Vorinstanz habe sodann eine Verletzung des Designrechts unzutreffend verneint.
2.1
Die geltende Formulierung von
Art. 8 DesG
entspricht dem Vorschlag des Bundesrates in seiner Botschaft zum Designgesetz vom 16. Februar 2000 (vgl. BBl 2000 S. 2729, 2785). Der Bundesrat führte dazu aus, ein wesentlicher Mangel des MMG liege darin, dass in der Praxis fast nur gegenüber sklavischen Nachahmungen Schutz gewährt werde. Diesem Mangel solle Abhilfe geschaffen werden, indem der Schutzbereich des Designs weiter gefasst und auf Designs erstreckt werde, welche die gleichen wesentlichen Merkmale aufwiesen und dadurch den gleichen Gesamteindruck erweckten wie bereits eingetragene Designs. Massgebend solle der Gesamteindruck sein und nicht, ob Unterschiede im Hinblick auf Einzelheiten nachgewiesen werden könnten. Ausgangspunkt dieser Prüfung bildeten daher die Übereinstimmungen, nicht die Abweichungen. Selbst wenn man im praktischen Vergleich die beiden Designs nebeneinander halte, solle es nicht darum gehen, übereinstimmende oder abweichende Details zu finden, sondern vielmehr darum, sich auf das Charakteristische, Wesentliche zu konzentrieren, das allein den Ausschlag für den gleichen oder anderen Gesamteindruck gebe. Als Beurteilungsmassstab solle das Empfinden derjenigen Personen gelten, die das Produkt zu erwerben beabsichtigten und dementsprechend bei der Betrachtung der zu vergleichenden Designs ein bestimmtes Mass an Aufmerksamkeit aufwendeten (a.a.O., S. 2743 f.). Im Parlament stellte der Sprecher der ständerätlichen Kommission ausdrücklich zuhanden der Materialien klar, dass unter neuem Recht zwei Designs nicht zwingend synoptisch miteinander verglichen werden müssten. Richtig sei vielmehr, dass die Richter zu prüfen hätten, ob die beiden Designs einen unterschiedlichen Gesamteindruck erweckten, wofür Einzelheiten eine gewisse Rolle spielten, aber für sich allein nicht entscheidend seien (AB 2001 S 269).
2.2
In der Lehre wird aus der Neuformulierung von
Art. 8 DesG
und aus den dargestellten Materialien teilweise abgeleitet, dass nun entsprechend dem kennzeichenrechtlichen Vorgehen zu beurteilen sei, ob die zu vergleichenden Designs nach ihrem Gesamteindruck in der Erinnerung der Verbraucher unterschiedlich haften bleiben (JÜRG MÜLLER, Zum Schutzbereich des Designs, sic! 1/2001 S. 13, 16 f.; JÜRG SIMON, Formmarke und Design, in: Baudenbacher/Simon
BGE 129 III 545 S. 550
[Hrsg.], Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Immaterialgüterrecht, Basel 2000, S. 145 ff., 162; PETER V. KUNZ, Grundsätze zum Immaterialgüterrecht - Illustration am Beispiel des neuen Designgesetzes, recht 20/2002 S. 85 ff., 90; ROBERT M. STUTZ, Individualität, Originalität oder Eigenart? Schutzvoraussetzungen des Design, Diss. Bern 2002, S. 239 f.). Zur Begründung wird insbesondere angeführt, nur durch dieses Vorgehen sei die vom Gesetzgeber angestrebte Erweiterung des Schutzumfangs zu erreichen. Ein anderer Teil der Lehre hält dagegen ausdrücklich daran fest, dass das Erinnerungsbild keine Rolle spielen und nur im direkten Vergleich ermittelt werden könne, ob der nach
Art. 8 DesG
massgebende Gesamteindruck durch die gleichen, wesentlichen Merkmale erweckt werde (VON BÜREN/MARBACH, Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 2. Aufl., Bern 2002, S. 95; PETER HEINRICH, DesG/HMA-Kommentar, Zürich 2002, N. 8.12 f. zu
Art. 8 DesG
). Diese Ansicht wird im Wesentlichen damit begründet, dass Design und Marke unterschiedliche Funktionen hätten, weshalb Formschutz nicht mit Kennzeichenschutz vermengt werden dürfe. Ferner stehe der Schutzumfang eines immaterialgüterrechtlichen Monopols stets in direkter Relation zur schöpferischen Leistung, die zur Erwirkung des Schutzrechts erforderlich sei, wobei schon relativ bescheidene Abweichungen vom vorbekannten Formenschatz zum Schutz als Design berechtigten. Ein weiterer Teil der Lehre schliesslich hält es für nebensächlich, ob die gleichzeitige Gegenüberstellung der umstrittenen Designs zum Ausgangspunkt des Vergleichs gemacht oder ob aus dem Erinnerungsbild des Betrachters argumentiert werde. Entscheidend sei, dass das Gericht beim Vergleichen der Objekte mit Blick auf den Gesetzeszweck und die geschützten praktischen Interessen des Rechtsinhabers die richtigen Überlegungen anstelle (STAUB, in: Staub/Celli [Hrsg.], Designrecht, Kommentar zum DesG, Zürich 2003, N. 50 zu
Art. 8 DesG
; ähnlich wohl MICHAEL A. MEER, Das neue Designgesetz - ein Überblick, AJP 2002 S. 935, 940 Ziff. 5.1.). Als wesentliche, in die Beurteilung einzubeziehende Gesichtspunkte genannt werden hier etwa das Zielpublikum (Empfinden der am Kauf interessierten Personen), die übereinstimmenden Merkmale der Vergleichsobjekte, die prägenden Hauptelemente und die Art der Erzeugnisse, sowie unter Umständen auch die Gestaltungsfreiheit des Designers, der Abstand der hinterlegten von vorbestehenden Formen, die Verwechslungsgefahr und der Kontext, in dem das Design gebraucht wird (STAUB, a.a.O., N. 53 ff. zu
Art. 8 DesG
).
BGE 129 III 545 S. 551
2.3
Nach
Art. 8 DesG
ist für die Definition des Schutzbereichs der Gesamteindruck massgebend, der namentlich durch die wesentlichen Merkmale bestimmt wird. Aus den Materialien ergibt sich und in der Lehre scheint unbestritten, dass sich dieser Gesamteindruck entsprechend der früheren Praxis zu
Art. 24 MMG
aus der Betrachtung eines am Kauf interessierten Verbrauchers bestimmt. Die am Kauf eines Gebrauchsgegenstands interessierte Person wird sich nicht in gleicher Art auf ihre Erinnerung stützen, wie ein Käufer sich an Kennzeichen orientiert, wenn er in der Masse des Angebots das einmal geschätzte Produkt wieder zu finden sucht (
BGE 122 III 382
E. 1 S. 383 f., 469 E. 5f S. 579; vgl. auch
BGE 126 III 315
E. 6b/aa S. 320). Die Kaufinteressenten werden das Angebot der in Betracht fallenden Gebrauchsgegenstände verhältnismässig kurzfristig prüfen und miteinander vergleichen. Dabei werden sie zwar die Konkurrenzprodukte regelmässig nicht direkt nebeneinander halten, aber sich doch bewusst die Merkmale einprägen, die ihnen subjektiv wichtig sind und die kurzfristig im Gedächtnis haften bleiben. Beim Vergleich der Gestaltungen sind dementsprechend die prägenden Hauptelemente ausschlaggebend. Stimmen sie überein, so wird ein Kaufinteressent die Vergleichsprodukte in Bezug auf das Design als ebenso gleichwertig erachten wie in Bezug auf die technisch notwendigen Elemente. Geringfügige Abweichungen wird ein Kaufinteressent nicht beachten, aber gestalterische Besonderheiten dürften ihm auffallen und allenfalls seinen Kaufentschluss bestimmen.
2.4
Zu vergleichen sind im vorliegenden Fall die im Register eingetragene Gestalt der Knoblauchpresse der Beklagten und die im Klagebegehren dargestellte Form der Knoblauchpresse der Klägerin. Massgebend sind für das geschützte Design der Beklagten dabei allein die Abbildungen, die Gegenstand der Eintragung bilden (vgl. STAUB, a.a.O., N. 29 zu
Art. 8 DesG
; HEINRICH, a.a.O., N. 34 zu
Art. 8 DesG
; vgl. entsprechend im Markenrecht
BGE 120 II 307
E. 3a S. 310). Soweit die Beklagte in der Berufung Merkmale als wesentlich aufzählt, die in den registrierten Abbildungen nicht zum Ausdruck kommen, ist sie daher nicht zu hören.
Nach der hinterlegten Abbildung der Seitenansicht der Knoblauchpresse der Beklagten wird die Gestaltung einerseits von der Form des unteren Hebelarms (Haltearm) geprägt, in den das dreieckige Pressgehäuse zur Aufnahme des Knoblauchs integriert ist. Prägend wirkt andererseits auch die Form des gleich langen oberen Hebelarms, der zur Ausführung der Pressbewegung durch ein Gelenk
BGE 129 III 545 S. 552
am vorderen Ende der Arme mit dem Haltearm verbunden ist und dessen Gestaltung im Bereich des Pressgehäuses von der Seite her nicht erkennbar ist, weil er darin verschwindet. Die im Klagebegehren dargestellte "Pelikan"-Presse der Klägerin stimmt in der Form des unteren Haltearms und insbesondere in der Gestaltung des Pressgehäuses von der Seite her betrachtet im Wesentlichen mit dem Design der Beklagten überein: Dass die Winkel des Pressgehäuses in der klägerischen Form etwas spitzer ausgestaltet sind und sich der Haltearm im Unterschied zur waagrechten Ausführung im hinterlegten Design etwas nach unten biegt, vermag den übereinstimmenden Gesamteindruck des Haltearmes der klägerischen Presse im Vergleich zu demjenigen im Design der Beklagten nicht zu beeinflussen. Wesentlich verschieden ausgestaltet sind die Knoblauchpressen indessen in der Form der oberen Hebelarme. Insbesondere wird der obere Hebelarm der klägerischen Presse im Bereich des Pressgehäuses durch einen auffallend gestalteten, erhöhten Plastikaufsatz betont. Dadurch erscheinen sowohl seine Form wie auch das Gesamtvolumen der Presse deutlich anders als im Design der Beklagten.
2.5
Die Vorinstanz hat zutreffend erkannt, dass die Knoblauchpresse der Klägerin insgesamt nicht denselben Eindruck erweckt wie das Design der Beklagten. Sie hat dabei der von der Seite her gesehen dreieckigen Form des Pressgehäuses im Design der Beklagten kein entscheidendes Gewicht verliehen, obwohl darin ein den Gesamteindruck durchaus prägendes Element gesehen werden kann. Dies ist durch den Umstand gerechtfertigt, dass sich auch die Presse der Beklagten nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil (
Art. 63 Abs. 2 OG
) nicht erheblich von damals bekannten Designs unterscheidet. Dass das Element der Drei-Ecks-Form der Presskammer neu gewesen wäre, behauptet denn auch die Beklagte nicht. Soweit im Übrigen die Form der Presskammer funktional bedingt ist, vermag das registrierte Design ohnehin nur einen eher geringeren Schutzbereich zu entfalten (vgl.
Art. 4 lit. c DesG
). Die Vorinstanz hat die prägenden Hauptelemente der zu vergleichenden Gestaltungen insgesamt zutreffend primär auf die Übereinstimmungen untersucht. Sodann hat sie aufgrund der unterschiedlichen Gestaltung der oberen Hebelarme richtig erkannt, dass sich die Presse der Klägerin und das Design der Beklagten im für die Kaufinteressenten massgebenden Gesamteindruck deutlich unterscheiden. Der obere Hebelarm ist bei der Presse der Klägerin im Bereich des Pressgehäuses deutlich ausgebildet, während er beim
BGE 129 III 545 S. 553
Design der Beklagten im Gehäuse verschwindet. Am hinteren Ende schwingt er sodann bei der Klägerin markant nach oben aus, während er bei der Beklagten, eine Symmetrie zum Haltearm bildend, nach unten gebogen ist.
2.6
Die Vorinstanz hat die Übereinstimmungen und Unterschiede in den prägenden Hauptelementen zur Ermittlung des massgebenden Gesamteindrucks im Sinne von
Art. 8 DesG
aufgrund der hinterlegten Abbildung des Gebrauchsgegenstands einerseits und aufgrund der dargestellten angeblichen Verletzungsform anderseits zutreffend ermittelt. Für die Beurteilung des Gesamteindrucks nach
Art. 8 DesG
ist zwar nicht davon auszugehen, dass der Kaufinteressent als Adressat der Gestaltungen die Gebrauchsgegenstände gleichzeitig nebeneinander hält, sondern dass er den Gesamteindruck in kurzfristiger Erinnerung behält. Am entsprechenden Erinnerungsbild ist der massgebende Eindruck zu messen. Den Gesamteindruck bildet sich der Kaufinteressent aus der Wahrnehmung der prägenden Elemente, deren Übereinstimmung und wesentliche Verschiedenheiten ihm im Gedächtnis haften bleiben. Diese sind anhand eines direkten Vergleichs der hinterlegten Abbildung des registrierten Designs mit der behaupteten Verletzungsform zu ermitteln. Dem Vorgehen der Vorinstanz kann insofern auch methodisch gefolgt werden. Die Rüge der Verletzung von
Art. 8 DesG
ist unbegründet. | de |
65df6686-ab96-448f-b972-147f82121c22 | Sachverhalt
ab Seite 274
BGE 132 V 273 S. 274
A.
Der 1973 geborene, unter elterlicher Sorge stehende S. bezieht seit 1993 Ergänzungsleistungen (EL) zur Invalidenrente. Unter der Woche hält er sich tagsüber in der Eingliederungsstätte Y. auf. Mit Verfügung vom 17. Dezember 2004 und Einspracheentscheid vom 18. Februar 2005 vergütete ihm die Ausgleichskasse des Kantons Bern für die Monate März bis August 2004 Kosten für Hilfe, Pflege und Betreuung in einer Tagesstruktur im Gesamtbetrag von Fr. 3090.-, lehnte aber gleichzeitig die Übernahme der in diesem Zeitraum seitens der Tagesstätte erhobenen sog. Reservationstaxen in Höhe von insgesamt Fr. 720.20 ab.
B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 25. Mai 2005 ab, soweit es darauf eintrat.
C.
S. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf Vergütung der ihm von der Eingliederungsstätte Y. für Tage krankheits- oder ferienbedingter Abwesenheit in Rechnung gestellten Reservationstaxen.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine Vernehmlasssung verzichtet.
D.
Am 7. Juni 2006 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Vergütung von Behinderungskosten verlangt wird, welche ausserhalb des mit dem streitigen Einspracheentscheid erfassten Zeitraums (März bis August 2004) anfielen, kann darauf im vorliegenden Verfahren nicht eingetreten werden.
2.
Bezügern einer jährlichen Ergänzungsleistung ist ein Anspruch einzuräumen auf die Vergütung von ausgewiesenen, im laufenden
BGE 132 V 273 S. 275
Jahr entstandenen Kosten für u.a. Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause sowie in Tagesstrukturen (
Art. 3d Abs. 1 lit. b ELG
). Gemäss
Art. 3d Abs. 4 Satz 1 ELG
bezeichnet der Bundesrat die Kosten, die nach Abs. 1 vergütet werden können. Diese Kompetenz hat er in
Art. 19 Abs. 1 lit. b ELV
an das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) übertragen, welches gestützt darauf die Verordnung vom 29. Dezember 1997 über die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten bei den Ergänzungsleistungen (ELKV) erlassen hat. Laut deren Art. 14 Abs. 1 werden Kosten für Hilfe, Pflege und Betreuung von Behinderten in Tagesheimen, Beschäftigungsstätten und ähnlichen Tagesstrukturen vergütet, wenn sich die behinderte Person mehr als fünf Stunden pro Tag dort aufhält (lit. a) und die Tagesstruktur von einem öffentlichen oder gemeinnützigen privaten Träger betrieben wird (lit. b). Angerechnet werden Kosten bis höchstens Fr. 45.- pro Tag, an dem sich die behinderte Person in der Tagesstruktur aufgehalten hat (
Art. 14 Abs. 2 ELKV
).
3.
Die bernischen Tagesstätten verrechneten (offenbar bis Ende 2004) externen behinderten Erwachsenen auch bei mit einem ärztlichen Zeugnis begründeten Abwesenheiten eine Reservationstaxe, welche der Grundtaxe abzüglich der Kosten für das Mittagessen entsprach (frühere Tarifregelung der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern). Für die von der Institution festgelegte Anzahl Ferientage pro Jahr wurde und wird auch nach geltender Tarifregelung keine Reservationstaxe erhoben. Verwaltung und Vorinstanz vertreten unter Hinweis auf Art. 14 Abs. 1 lit. a einerseits sowie
Art. 14 Abs. 2 ELKV
anderseits die Auffassung, dass diese Reservationsgebühr generell nicht als Behinderungskosten mit Ergänzungsleistungen vergütet werden kann. Demgegenüber stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, die Ergänzungsleistungen hätten diejenigen Reservationskosten zu übernehmen, welche (noch vor 2005) auf krankheits- bzw. unfallbedingte Absenzen entfielen oder vom "offiziell berechtigten Mindestferienanspruch von sechs Wochen" herrührten.
Art. 14 ELKV
erweise sich als gesetzwidrig.
4.
Nach der Rechtsprechung kann das Eidgenössische Versicherungsgericht Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich, von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei (unselbstständigen) Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation stützen, prüft es, ob sie sich in den Grenzen der dem Bundesrat eingeräumten Befugnisse
BGE 132 V 273 S. 276
halten. Besteht ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene, muss sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die umstrittenen Vorschriften offensichtlich aus diesem Rahmen herausfallen oder aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen. Die verordnete Regelung verstösst allerdings dann gegen das Willkürverbot oder das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (
Art. 9 und 8 Abs. 1 BV
), wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn- oder zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger Grund nicht finden lässt. Gleiches gilt, wenn die Verordnung es unterlässt, Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise hätten berücksichtigt werden sollen (
BGE 131 II 25
Erw. 6.1,
BGE 131 V 165
Erw. 2.3, 566 Erw. 3.2,
BGE 131 V 14
Erw. 3.4.1,
BGE 131 V 266
Erw. 5.1).
5.
Soweit Ausgleichskasse und kantonales Gericht ihre Ablehnung einer Vergütung von Reservationstaxen für Tage krankheits- oder ferienbedingter Abwesenheit einzig mit
Art. 14 Abs. 1 lit. a ELKV
begründen, wonach sich die behinderte Person
mehr als fünf Stunden pro Tag
in einem Tagesheim, einer Beschäftigungsstätte oder in einer ähnlichen Tagesstruktur aufhalten muss, kann ihnen nicht gefolgt werden. Sinn und Zweck dieses Erfordernisses liegen nämlich gemäss den seinerzeitigen Erläuterungen des BSV zur (am 1. Januar 1996 in Kraft getretenen) Neufassung des damaligen Art. 11a der Verordnung des EDI vom 20. Januar 1971 über den Abzug von Krankheits- und Behinderungskosten bei den Ergänzungsleistungen (aELKV) allein in der Klarstellung, dass Kosten für Mittagstische und Freizeitstätten grundsätzlich nicht vergütet werden können (AHI 1996 S. 72 unten).
Hingegen haben sich Verwaltung und Vorinstanz zur Ablehnung der Vergütung von Reservationskosten zu Recht auf
Art. 14 Abs. 2 ELKV
berufen, welcher bestimmt, dass Kosten bis höchstens Fr. 45.-
pro Tag
angerechnet werden,
an dem sich die behinderte Person in der Tagesstruktur aufgehalten hat
. Laut den erwähnten BSV-Erläuterungen wollte der Verordnungsgeber mit dieser Vorschrift (damals noch
Art. 11a Abs. 2 aELKV
) sicherstellen, dass nur die effektiven Aufenthaltstage in einer Tagesstruktur zulasten der Ergänzungsleistungen gehen; jegliches In-Rechnung-Stellen von Pauschalen sollte verhindert werden (AHI 1996 S. 73). Die
BGE 132 V 273 S. 277
Verordnungsbestimmung stützt sich auf
Art. 19 Abs. 1 lit. b ELV
und den ersten Satz von
Art. 3d Abs. 4 ELG
, welcher - wie bereits angeführt - dem Bundesrat die Kompetenz gibt, die ausgewiesenen Kosten u.a. für Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause sowie in Tagesstrukturen zu bezeichnen, die zusätzlich zur jährlichen Ergänzungsleistung vergütet werden können. Durch diese offene Formulierung wird dem Verordnungsgeber ein sehr weiter Spielraum der Gestaltungsfreiheit eingeräumt, ermächtigt doch die Delegationsnorm des
Art. 3d Abs. 4 ELG
den Bundesrat (bzw.
Art. 19 Abs. 1 ELV
das Departement) insbesondere zum Erlass materieller Vorschriften darüber, welche in einer Tagesstruktur im Zusammenhang mit Hilfe-, Pflege- und Betreuungsleistungen anfallenden Kosten vergütungsfähig sind (vgl.
BGE 131 V 267
Erw. 5.2.1). Angesichts dieses weiten Gestaltungsspielraums hält sich das vom EDI in
Art. 14 Abs. 2 ELKV
verankerte, die Übernahme pauschaler Kosten möglichst verhindernde Erfordernis des effektiven Aufenthaltes der behinderten Person in der Tagesstruktur offenkundig innerhalb der mit Art. 3d Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 ELG abgesteckten Grenzen. Kann nach dem Gesagten von einer Gesetzwidrigkeit der streitigen Verordnungsbestimmung keine Rede sein, erweist sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als unbegründet.
6.
Wie die Ausgleichskasse im Einspracheentscheid zutreffend festgestellt hat, ist es nicht Sache der EL-Organe (und auch nicht des Sozialversicherungsgerichts) zu beurteilen, inwieweit die Erhebung von Reservationsgebühren durch die Tagesstätten überhaupt zulässig ist. Anzumerken bleibt, dass seit anfangs 2005 bei Abwesenheiten wegen Krankheit oder Unfall keine Reservationstaxe mehr erhoben wird, "falls ab 1. Abwesenheitstag ein Arztzeugnis vorliegt" (neue Tarifregelung der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern für externe behinderte Erwachsene). | de |
2a028ac7-462b-4981-880d-4a36c410d548 | Sachverhalt
ab Seite 43
BGE 101 III 43 S. 43
A.-
Im Konkurs über Willi Oettli wählte die erste Gläubigerversammlung am 20. Juni 1972 die Neutra Treuhand AG als ausseramtliche Konkursverwaltung. Am 15. Mai 1974 stellte der Vertreter des Schuldners beim Bezirksgericht Horgen als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs das Begehren,
"es sei der Beschluss der 1. Gläubigerversammlung im Konkurs über Herrn Wilhelm (Willi) Oettli vom 20. Juni 1972, mit welchem die Neutra Treuhand AG als ausseramtliche Konkursverwaltung gewählt
BGE 101 III 43 S. 44
wurde, von Amtes wegen aufzuheben und es sei die Neutra Treuhand AG mit sofortiger Wirkung ihrer Funktionen als ausseramtliche Konkursverwaltung zu entheben."
Zur Begründung machte er geltend, eine juristische Person sei als ausseramtliche Konkursverwaltung schlechthin nicht wählbar, weshalb die Neutra Treuhand AG von Amtes wegen abzusetzen sei. Mit Beschluss vom 17. Mai 1974 wies das Bezirksgericht das Begehren ab. Das Obergericht des Kantons Zürich als obere kantonale Aufsichtsbehörde, an welches der Schuldner in der Folge rekurrierte, bestätigte diesen Entscheid mit Beschluss vom 11. September 1974.
B.-
Mit dem vorliegenden Rekurs an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts beantragt der Schuldner, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und die Neutra Treuhand AG ihrer Funktionen als ausseramtliche Konkursverwaltung zu entheben; ferner sei die Neutra Treuhand AG "im Sinne eines Suspensiveffektes" anzuweisen, im Konkurse des Gemeinschuldners Oettli unverzüglich jede weitere Tätigkeit zu unterlassen. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 237 Abs. 2 SchKG
hat die erste Gläubigerversammlung darüber zu entscheiden, ob sie das Konkursamt oder eine von ihr zu wählende Person als Konkursverwaltung einsetzen wolle. Gegen Beschlüsse der ersten Gläubigerversammlung kann gemäss
Art. 239 Abs. 1 SchKG
jeder Gläubiger binnen fünf Tagen bei der Aufsichtsbehörde Beschwerde führen, wobei diese die Gläubigerbeschlüsse auch auf deren Angemessenheit zu überprüfen hat (
BGE 97 III 126
,
BGE 86 III 123
,
BGE 59 III 134
/135). Nach der Rechtsprechung ist indessen auch der Schuldner legitimiert, Beschlüsse der Gläubigerversammlung, namentlich solche über die Verwertung von Aktiven sowie über die Erfassung und Sicherung des Konkursvermögens, mit Beschwerde anzufechten, wenn sie in seine gesetzlich geschützten Rechte und Interessen eingreifen. Dass der angefochtene Beschluss unangemessen sei, kann der Schuldner jedoch nicht geltend machen; die Aufsichtsbehörde hat bei einer Beschwerde des Schuldners lediglich die Gesetzmässigkeit des Gläubigerbeschlusses zu überprüfen (
BGE 95 III 28
/29,
BGE 94 III 88
/89,
BGE 88 III 34
/35, 77,
BGE 85 III 180
).
BGE 101 III 43 S. 45
Im vorliegenden Fall ist die fünftägige Beschwerdefrist des
Art. 239 Abs. 1 SchKG
längst abgelaufen. Zudem ist fraglich, ob der Rekurrent zur Anfechtung des Beschlusses, mit welchem die Gläubiger die Neutra Treuhand AG zur ausseramtlichen Konkursverwaltung bestimmten, legitimiert sei, beruft er sich zur Begründung seines Begehrens doch vor allem auf Interessen der Gläubiger und der Öffentlichkeit. Dass er ein eigenes, gesetzlich geschütztes Interesse an der Absetzung der Neutra Treuhand AG habe, geht jedenfalls aus der Rekursschrift nicht hervor.
Indessen sind die Aufsichtsbehörden berechtigt und verpflichtet, die Einsetzung einer ausseramtlichen Konkursverwaltung kraft ihres Aufsichtsrechts (
Art. 13 SchKG
) von Amtes wegen aufzuheben, wenn sich diese Massnahme als unangemessen erweist oder wenn die in die Konkursverwaltung gewählten Personen für ihr Amt nicht geeignet sind (
BGE 48 III 79
,
BGE 41 III 417
Erw. 2, 31 I 742/743; JAEGER, N. 7 zu
Art. 237 SchKG
; FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl., II, S. 129; FAVRE, Droit des poursuites, 3. Aufl., S. 317). Für das Eingreifen der Aufsichtsbehörde ist demnach nicht erforderlich, dass der Gläubigerbeschluss, mit dem die ausseramtliche Konkursverwaltung eingesetzt worden ist, geradezu nichtig sei, d.h. gegen eine Vorschrift verstosse, die im öffentlichen Interesse oder im Interesse eines unbestimmten Kreises Dritter aufgestellt und daher zwingend ist (vgl. dazu
BGE 98 III 39
,
BGE 97 III 20
, 96 III 77, 104,
BGE 94 III 68
,
BGE 93 III 87
; zur Unterscheidung von Betreibungshandlungen, die von Amtes wegen aufgehoben werden können, und solchen, die schlechthin nichtig sind, vgl. SCHWANDER, Nichtige Betreibungshandlungen, BlSchK 1954 S. 6).
Die Vorinstanz ist somit zu Recht auf das Begehren des Rekurrenten eingetreten. Sie hätte sich jedoch nicht auf die Prüfung der Nichtigkeit des Gläubigerbeschlusses beschränken dürfen. Am Ergebnis änderte diese Beschränkung der Kognition indessen nichts. Der Rekurrent begründete sein Begehren lediglich damit, dass eine juristische Person nicht als ausseramtliche Konkursverwaltung tätig sein dürfe. Dass die Neutra Treuhand AG aus einem andern Grund, etwa wegen Unfähigkeit oder mangelnder Unabhängigkeit, abgesetzt werden müsse, machte er nicht geltend. Entscheidend für das Schicksal des Gesuchs war somit einzig die Auslegung von
BGE 101 III 43 S. 46
Art. 237 Abs. 2 SchKG
. Dabei kam es nicht darauf an, ob der Beschluss der Gläubigerversammlung, mit dem die Neutra Treuhand AG eingesetzt worden war, frei oder nur auf Nichtigkeit hin überprüft wurde. Denn auch bei beschränkter Prüfung hätte die Neutra Treuhand AG abgesetzt werden müssen, wenn die Auslegung ergeben hätte, eine juristische Person könne nicht als ausseramtliche Konkursverwaltung gewählt werden, wäre doch ein dieser Deutung widersprechender Gläubigerbeschluss zweifellos als nichtig zu betrachten gewesen.
2.
In
BGE 24 I 732
/733 hatte das Bundesgericht die Frage zu entscheiden, ob eine Firma - es handelte sich um eine Kollektivgesellschaft - als ausseramtliche Konkursverwaltung bestellt werden könne. Es verneinte die Frage mit der Begründung, der Gesetzgeber habe beim Erlass von
Art. 237 Abs. 2 SchKG
"offenbar" eine oder mehrere Einzelpersonen im Auge gehabt, "nicht auch Firmen, die sehr oft nicht nur aus einer Person bestehen, sondern einen Personenverband mit oder ohne juristische Selbständigkeit repräsentieren". Sodann habe die Konkursverwaltung amtliche Aufgaben zu erfüllen; derartige Aufgaben gehörten aber nicht zu den Geschäften, die von Firmainhabern als solchen besorgt zu werden pflegten. Die besonderen Konkursverwaltungen seien denn auch hinsichtlich ihrer allgemeinen Pflichten, ihrer Verantwortlichkeit und der Beschwerdeführung den Konkursämtern gleichgestellt. Da diese nur mit Einzelpersonen besetzt werden könnten, müsse das auch für die besonderen Konkursverwaltungen zutreffen.
In Anlehnung an diesen Entscheid und ohne weitere Begründung vertritt auch die Lehre die Ansicht, eine juristische Person könne nicht als ausseramtliche Konkursverwaltung gewählt werden (JAEGER, N. 6 zu
Art. 237 SchKG
; FRITZSCHE, a.a.O. S. 129; FAVRE, a.a.O. S. 317; BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechts, S. 730 N. 36; WETTSTEIN, Die Konkursverwaltung, Diss. Bern 1935, S. 54; EGLI, Die Einwirkung des Gläubigerelementes auf die Organisation und Durchführung des Konkursverfahrens..., Diss. Zürich 1942 S. 72; MARTZ, SJK 1004, S. 4).
3.
Entgegen der Meinung des Rekurrenten ist der Wortlaut von
Art. 237 Abs. 2 SchKG
, nicht eindeutig; es lässt sich daraus nicht ableiten, es seien ausschliesslich natürliche Personen als ausseramtliche Konkursverwaltung wählbar. Wenn es in jener Bestimmung heisst, die erste Gläubigerversammlung
BGE 101 III 43 S. 47
könne "eine oder mehrere von ihr zu wählenden Personen" als Konkursverwaltung einsetzen, so können damit ohne weiteres auch juristische Personen gemeint sein. Der Begriff "Person" umfasst in der Rechtssprache nicht nur die natürlichen, sondern auch die juristischen Personen.
Sodann lässt sich nicht nachweisen, dass der Gesetzgeber beim Erlass von
Art. 237 Abs. 2 SchKG
tatsächlich nur natürliche Personen im Auge hatte, wie in
BGE 24 I 733
ohne nähere Begründung angenommen wird. Zwar hätten gemäss Art. 242 Abs. 1 des bundesrätlichen Entwurfes vom 23. Februar 1886 die Gläubiger darüber zu entscheiden gehabt, ob die Konkursverwaltung dem Betreibungsbeamten überlassen oder einem von ihnen zu wählenden besonderen "Verwalter" übertragen werden solle (BBl 1886 II 152). Ob darunter auch eine juristische Person hätte verstanden werden können, mag zweifelhaft erscheinen. Im definitiven Entwurf des Bundesrates vom 7. Dezember 1888 (BBl 1888 IV 1213) und in der von den eidgenössischen Räten angenommenen Referendumsvorlage vom 11. April 1889 (BBl 1889 II 507) ist jedoch nicht mehr von zu wählenden Konkursverwaltern die Rede, sondern es wird der ersten Gläubigerversammlung die Befugnis eingeräumt, eine oder mehrere Personen als Konkursverwaltung einzusetzen. Aus welchen Gründen diese Abweichung vom ursprünglichen Entwurf vorgenommen wurde, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Jedenfalls bietet die Entstehungsgeschichte des Gesetzes keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber juristische Personen bewusst vom Amt der besonderen Konkursverwaltung hat ausschliessen wollen.
Ein Anhaltspunkt für den Willen des Gesetzgebers ergibt sich auch nicht daraus, dass in Art. 30 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 35 Abs. 3 BankG
für den Bankenkonkurs ausdrücklich vorgesehen ist, eine juristische Person, insbesondere eine Bank oder eine Treuhandgesellschaft, könne die Funktion der Konkursverwaltung ausüben. Diese Bestimmung, die 1934 erlassen wurde (vgl. Sten.Bull. StR 1934 S. 248, NR 1934 S. 691/692), lässt keinen Rückschluss darauf zu, was der Gesetzgeber im Jahre 1889 gewollt hat. Es deutet auch nichts darauf hin, dass damit bewusst eine vom SchKG abweichende Lösung getroffen werden sollte.
Schliesslich ist auch aus Art. 43 KV nichts abzuleiten. Nach dieser Vorschrift hat das Konkursamt der Aufsichtsbehörde
BGE 101 III 43 S. 48
Namen, Beruf und Wohnort der Mitglieder der ausseramtlichen Konkursverwaltung mitzuteilen, was sich in der Tat nur auf natürliche Person beziehen kann. Es versteht sich aber von selbst, dass das Bundesgericht beim Erlass von Art. 43 KV nicht die Frage entscheiden wollte, wer als ausseramtliche Konkursverwaltung wählbar sei. Vielmehr bezweckt diese Bestimmung lediglich, der Aufsichtsbehörde die Ausübung ihres Aufsichtsrechts zu ermöglichen (JAEGER, N. 7 zu
Art. 237 SchKG
). Sind nach
Art. 237 Abs. 2 SchKG
juristische Personen zur Übernahme der ausseramtlichen Konkursverwaltung fähig, so muss Art. 43 KV einfach analog angewendet werden, in dem Sinne etwa, dass das Konkursamt der Aufsichtsbehörde Firma, Sitz und Zweck der gewählten Konkursverwaltung mitzuteilen hat.
4.
Das Bundesgericht hat seine Auslegung von
Art. 237 Abs. 2 SchKG
in
BGE 24 I 733
vor allem damit begründet, die besondere Konkursverwaltung erfülle amtliche Funktionen, die der Natur der Sache nach von juristischen Personen nicht wahrgenommen werden könnten. Auch der Rekurrent macht geltend ein öffentliches Amt könne schon begrifflich nicht von einer juristischen Person bekleidet werden.
a) Es ist richtig, dass die besondere Konkursverwaltung einen öffentlichen Auftrag ausführt, also ein öffentliches Amt versieht (
BGE 94 III 95
mit Hinweisen,
BGE 38 I 199
). Dass juristische Personen schlechthin unfähig wären, amtliche Funktionen wahrzunehmen, trifft indessen durchaus nicht zu. Es ist im modernen Verwaltungsrecht im Gegenteil eine häufige Erscheinung, dass juristische Personen des privaten Rechts mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben betraut werden (vgl. GRISEL, Droit administratif suisse, S. 156 ff.; IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl., II, Nr. 514). Ein Beispiel hiefür findet sich aber gerade auch im Zwangsvollstreckungsrecht. Wie bereits erwähnt, kann nämlich im Bankenkonkurs gemäss ausdrücklicher Gesetzesvorschrift eine Bank oder eine Treuhandgesellschaft die Funktion der Konkursverwaltung ausüben. Damit steht aber fest, dass die öffentliche Natur der zu erfüllenden Aufgaben die Bestellung einer juristischen Person als besondere Konkursverwaltung grundsätzlich nicht ausschliesst.
b) Der Rekurrent befürchtet, es bestehe keine hinreichende Kontrolle, wenn juristische Personen als Konkursverwaltung
BGE 101 III 43 S. 49
amten dürften. Die hinter der juristischen Person stehenden, wirtschaftlichen Eigentümer seien nicht bekannt, und zudem könnten sich die Eigentumsverhältnisse im Laufe des Verfahrens durch Übergang von Aktien ändern, ohne dass dies publik würde. Unbekannte Aktionäre könnten daher die Entscheidungen der Konkursverwaltung beeinflussen und dadurch einzelne Gläubiger begünstigen.
Nun unterliegt aber die ausseramtliche Konkursverwaltung so gut wie die ordentliche der Überwachung durch die Aufsichtsbehörde (Art. 13 in Verbindung mit
Art. 241 SchKG
; JAEGER, N. 3 zu
Art. 13 SchKG
). Somit können Gläubiger wie Schuldner gegen gesetzwidrige oder auch bloss unangemessene Verfügungen Beschwerde führen, sofern sie dadurch in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen sind. Kraft ihres Aufsichtsrechts können die Aufsichtsbehörden aber auch ohne Beschwerde eingreifen und der Konkursverwaltung Weisungen erteilen, wenn sich dies als erforderlich erweisen sollte (JAEGER, N. 1 lit. c zu Art. 241 und N. 1 zu
Art. 13 SchKG
). Insbesondere können sie, wie bereits in Erw. 1 ausgeführt, eine ausseramtliche Konkursverwaltung von Amtes wegen absetzen bzw. die Wahl annullieren, wenn sich Zweifel an deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ergeben. Dazu kommt die disziplinarische Kontrolle der Aufsichtsbehörde, der auch die ausseramtliche Konkursverwaltung untersteht (
BGE 94 III 59
, 39 I 501, 38 I 197 ff.; JAEGER, N. 1 S. 206 zu
Art. 241 SchKG
; FAVRE, a.a.O. S. 318; EGLI, a.a.O. S. 80 ff.). Entgegen der Ansicht des Rekurrenten kann diese Kontrolle auch die juristische Person erfassen. Dies gilt vor allem für die beiden schwersten Disziplinarmassnahmen, die zeitweilige Amtseinstellung und die Amtsentsetzung. Bei den restlichen zwei in
Art. 14 Abs. 2 SchKG
vorgesehenen Sanktionen kann man sich zwar die Frage stellen, ob sie nicht ausschliesslich natürliche Personen treffen können. Diesfalls wären sie jedoch einfach gegenüber den Organen der juristischen Person auszusprechen, was ihre Wirksamkeit nicht beeinträchtigen würde.
Die Kontrolle der Amtsführung ist damit auch dann, wenn eine juristische Person als Konkursverwaltung fungiert, durchaus gewährleistet. Die Bedenken, die wegen der Anonymität der juristischen Person bestehen, mögen der Aufsichtsbehörde im Einzelfall Anlass zum Einschreiten bieten oder gegen die Wahl einer bestimmten Treuhandgesellschaft sprechen; sie bilden
BGE 101 III 43 S. 50
jedoch keinen hinreichenden Grund, juristische Personen vom Amt der besonderen Konkursverwaltung schlechthin auszuschliessen.
c) Einen weiteren Grund, der gegen die Zulassung von juristischen Personen sprechen soll, sieht der Rekurrent in der Regelung der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit. Nach
Art. 5 SchKG
, der gemäss
Art. 241 SchKG
auch auf die besondere Konkursverwaltung Anwendung findet, haftet der Konkursbeamte für den Schaden, den er oder die von ihm ernannten Angestellten durch ihr Verschulden verursachen. Dieser Haftung kann ohne weiteres auch eine juristische Person unterliegen. Da der Konkursbeamte für das Verschulden seiner Angestellten schlechthin einzustehen hat und sich entgegen der Ansicht des Rekurrenten nicht auf die Entlastungsgründe des
Art. 55 Abs. 1 OR
berufen kann (
BGE 80 III 53
/54; JAEGER, N. 4 zu
Art. 5 SchKG
; vgl. auch
BGE 67 II 23
ff.), ist demzufolge auch die als ausseramtliche Konkursverwaltung eingesetzte juristische Person für alle Schäden haftbar, die ihre Organe und Hilfspersonen in Ausübung ihres Amtes schuldhaft angerichtet haben. Der Geschädigte ist daher nicht schlechter gestellt, wenn er eine juristische Person belangen muss, zumal deren finanzielle Leistungsfähigkeit oft grösser sein dürfte als die einer natürlichen Person.
d) Schliesslich bringt die Wahl einer juristischen Person zur ausseramtlichen Konkursverwaltung auch in Bezug auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit keine Nachteile mit sich. Wohl ist die juristische Person als solche nicht deliktsfähig. Für die von ihr begangenen Handlungen haben jedoch die zuständigen Organe strafrechtlich einzustehen (
BGE 100 IV 40
,
BGE 97 IV 202
ff., 90 IV 116,
BGE 82 IV 46
; vgl. auch
Art. 172 StGB
und
Art. 6 Abs. 1 VStrR
). Der strafrechtliche Schutz wird dadurch nicht vermindert. Dies wäre auch dann nicht der Fall, wenn man annehmen wollte, der ausseramtliche Konkursverwalter sei als Beamter im Sinne von
Art. 110 Ziff. 4 StGB
zu betrachten (so HAFTER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil, S. 824; gegenteilig EGLI, a.a.O. S. 82). Denn die Organe bzw. die Angestellten der juristischen Person, die mit der Konkursverwaltung betraut sind, würden bei dieser Annahme nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung den für Beamte geltenden besonderen Strafandrohungen unterstehen (
BGE 71 IV 146
,
BGE 70 IV 218
f.; vgl. auch
BGE 100 IV 41
).
BGE 101 III 43 S. 51
5.
Die Vorinstanz weist zu Recht auf die praktischen Gründe hin, welche es rechtfertigen, juristische Personen als Konkursverwalter zuzulassen. Ausseramtliche Konkursverwaltungen werden vor allem bei umfangreichen und komplizierten Konkursen eingesetzt. Die Abwicklung derartiger Konkursverfahren ist für einen Einzelnen kaum zu bewältigen. Wohl besteht für die Einzelperson die Möglichkeit, zur Erledigung von untergeordneten Arbeiten Hilfskräfte beizuziehen, oder es können zum vornherein mehrere Einzelpersonen als Konkursverwaltung eingesetzt werden. Gegenüber diesen beiden Lösungen weisen indessen juristische Personen - im Vordergrund stehen vor allem Treuhandgesellschaften - den gewichtigen Vorteil auf, dass sie über eine bereits bestehende, eingespielte Organisation verfügen, in welche die für die Durchführung solcher Verfahren erforderlichen Fachleute (Juristen, Revisoren usw.) eingegliedert sind. Dies ermöglicht es, auch unübersichtliche und weitläufige Konkurse speditiv abzuwickeln. Wohl deswegen ist denn auch im Bankennachlass und -konkurs, wo stets eine sehr grosse Zahl von Gläubigern beteiligt ist, die Bestellung von juristischen Personen zu Sachwaltern bzw. Konkursverwaltern die Regel (vgl. z.B.
BGE 97 III 128
ff.,
BGE 95 III 60
ff.,
BGE 93 III 23
ff.,
BGE 85 III 146
ff.).
Aus all diesen Gründen ist davon auszugehen,
Art. 237 Abs. 2 SchKG
schliesse die Wahl einer juristischen Person als ausseramtliche Konkursverwaltung nicht aus. Der Rekurs ist daher abzuweisen.
6.
Der Antrag des Rekurrenten, dem Rekurs sei in dem Sinne aufschiebende Wirkung zu verleihen, als die Neutra Treuhand AG anzuweisen sei, ihre Tätigkeit als ausseramtliche Konkursverwalterin unverzüglich einzustellen, wird mit dem Entscheid über den Rekurs gegenstandslos. Ein derartiges Begehren, mit dem nicht der Aufschub der Vollstreckbarkeit einer Verfügung, sondern die vorsorgliche Anordnung einer auf dem Beschwerdeweg verlangten Amtshandlung beantragt wird, wäre im übrigen gar nicht zulässig (
BGE 39 I 258
/259,
BGE 38 I 806
/807; JAEGER, N. 4 zu
Art. 36 SchKG
; FRITZSCHE, a.a.O., I, S. 47). | de |
5fdc1f93-4064-49d4-b6f9-d5c614083ebc | Sachverhalt
ab Seite 84
BGE 109 IV 84 S. 84
A.-
S. hat als Filialdirektor der D. AG bei der Firma K. unter zahlreichen Malen Geschäftsguthaben direkt einkassiert und die so
BGE 109 IV 84 S. 85
erhaltenen Beträge nicht abgeliefert, sondern für sich verbraucht. So hat er 1972 fünfmal, 1973 sechsmal, 1974 dreizehnmal, 1975 sechsmal, 1976 siebenmal, 1977 sechsmal, 1978 dreimal, 1979 fünfmal, 1980 siebenmal und 1981 einmal Geldbeträge zwischen Fr. 2'000.-- und Fr. 42'000.--, insgesamt Fr. 846'000.--, in die eigene Tasche gesteckt. Um sein Verhalten zu vertuschen, unterliess es S., die erhaltenen Gelder als Einnahmen verbuchen zu lassen.
B.-
Am 24. Mai 1983 verurteilte das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft S. in Bestätigung des Urteils des Strafgerichts Baselland wegen fortgesetzter Veruntreuung und fortgesetzter Urkundenfälschung zu zwei Jahren Gefängnis.
C.-
S. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D.-
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, die Figur des fortgesetzten Delikts, die im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen sei und eine blosse Konstruktion der Praxis darstelle, um das Verfahren zu vereinfachen und Unbilligkeiten, die sich bei Anwendung des
Art. 68 StGB
ergeben könnten, zu vermeiden, wirke sich in seinem Fall erheblich nachteilig aus und sei deshalb abzulehnen; Veruntreuungsdelikte verjährten nämlich nach Ablauf von fünf Jahren, was bedeute, dass die von ihm vor dem 6. April 1977 begangenen Veruntreuungen verjährt wären und die strafrechtlich relevante Deliktssumme lediglich Fr. 276'000.-- betrüge, wenn man nicht von einem Kollektivdelikt ausgehe. Bei Bejahung des Fortsetzungszusammenhangs dagegen beginne die Verjährung erst am 8. Dezember 1981 zu laufen mit der Folge, dass alle Veruntreuungen bis ins Jahr 1972 zurück bei einem Deliktsbetrag von Fr. 846'000.-- strafrechtlich verfolgt werden könnten. Im übrigen finde das fortgesetzte Delikt keine Grundlage im Gesetz und verstosse deshalb gegen den Grundsatz "nulla poena sine lege".
a) Mit dem letztgenannten Einwand verkennt der Beschwerdeführer, dass sich in
Art. 71 Abs. 3 StGB
ein gesetzlicher Anhalt für die Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts findet. Nach dieser Bestimmung beginnt die Verjährung, wenn der Täter die strafbare Tätigkeit zu verschiedenen Zeiten ausführt, mit dem Tag, an dem
BGE 109 IV 84 S. 86
er die letzte Handlung ausführt. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, wurde unter jener Tätigkeit vom Gesetzgeber eine Mehrheit von strafbaren Handlungen verstanden, die zu einem einzigen Delikt zusammengefasst werden sollten (s. die Darlegung der Entwicklungsgeschichte bei W. A. KNECHT, Das fortgesetzte Delikt im schweizerischen Strafrecht, Diss. BE 1969, S. 1-13). Dass dieser Gedanke im StGB begrifflich nicht genauer gefasst wurde, rechtfertigt nicht den Schluss, er entbehre jeder gesetzlichen Grundlage. Das StGB enthält zahlreiche Begriffe, die der eingehenderen Umschreibung durch den Richter bedürfen, ohne dass dies als Mangel an einer gesetzlichen Grundlage verstanden würde. Was unter dem Begriff der zu verschiedenen Zeiten ausgeführten strafbaren Tätigkeit im Sinne des
Art. 71 Abs. 3 StGB
zu verstehen sei, ist deshalb Auslegungsfrage. Ausgelegt werden kann aber das Strafgesetz auch zu Lasten des Angeklagten, sofern dies dem Sinn und Zweck der Norm entspricht (
BGE 95 IV 73
E. 3a).
b) Zuzugestehen ist dem Beschwerdeführer, dass die Rechtsfigur des in einer langjährigen Praxis ausgeformten fortgesetzten Delikts (statt vieler
BGE 107 IV 81
, 105 IV 13, 102 IV 77/78) sich hinsichtlich der Verfolgungsverjährung für den Täter ungünstig auswirken kann. Anderseits ist jedoch nicht zu übersehen, dass dieser bei Annahme eines fortgesetzten Delikts nicht der Strafschärfung des
Art. 68 Ziff. 1 StGB
unterliegt. Es kann deshalb nicht gesagt werden, die Anwendung der genannten Rechtsfigur wirke sich im Ergebnis durchwegs zum Nachteil des Angeklagten aus. Entsprechend hebt denn auch die im Schrifttum gegen das fortgesetzte Delikt vorgetragene Kritik nicht nur die nachteiligen Folgen im Rahmen der Verjährung hervor, sondern ebensosehr jene als ungerechtfertigt empfundene Privilegierung des Täters (SCHULTZ, Einführung in den Allg. Teil des Strafrechts, Bd. I, 4. Auflage, 1982, S. 131; STRATENWERTH, Schweiz. Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 1982, S. 436 N. 19). Die Nichtunterstellung unter
Art. 68 Ziff. 1 StGB
ist jedoch in casu dem Beschwerdeführer zugute gekommen, so dass keineswegs mit Sicherheit angenommen werden kann, der Sachrichter hätte den Beschwerdeführer wegen der nach dem 6. April 1977 verübten Veruntreuungen, die noch in bedeutender Zahl begangen wurden und einen Deliktsbetrag von mehr als Fr. 270'000.-- erreichen, zu einer unter zwei Jahren Gefängnis liegenden Strafe verurteilt; das Verschulden ist nämlich auch so noch ein schweres, und die Wiederholung der Tat hätte eine entsprechende Schärfung gerechtfertigt. Im übrigen hat das
BGE 109 IV 84 S. 87
Bundesgericht in Kenntnis der erwähnten Kritik seine Praxis zum fortgesetzten Delikt immer wieder bestätigt, und es besteht heute kein zwingender Grund, von ihr abzugehen, zumal sie gerade auch im vorliegenden Fall nicht zu einem stossenden Ergebnis führt, das ein Aufgeben der Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts gebieten würde. | de |
8d11662a-7dbc-4d4b-a306-a5747622afc2 | Sachverhalt
ab Seite 274
BGE 141 III 274 S. 274
A.
A.a
A. (Gesuchsgegner und Beschwerdeführer) und B. (Gesuchsteller und Beschwerdegegner) sind zu je 50 % an der C. AG und D. AG beteiligt.
A.b
Am 22. März 2005 schlossen die Parteien einen Aktionärsbindungsvertrag betreffend diese Gesellschaften. Darin vereinbarten sie unter anderem, dass die Parteien ab dem Jahr 2010 das Recht haben, den übrigen Aktionären ihre Aktien anzudienen. (...) In Ziffer 7 unter dem Titel "Andienungspflicht - Vorhand- oder Optionsrechte der Mitaktionäre" vereinbarten sie, dass eine Partei, die ihre Aktien ganz oder teilweise veräussern will, diese zunächst der anderen Partei anzubieten hat, die zur Übernahme der Aktien im Verhältnis zu ihrem bisherigen Aktienbesitz berechtigt ist (Ziffer 7.1).
Ziffer 7.2 lautet wie folgt:
"Die verkaufswillige und die kaufsberechtigte Partei verhandeln gemeinsam über den Verkaufspreis des angebotenen Aktienpaketes. Eine Einigung kommt nur zustande, wenn die Zustimmung aller Parteien dieses Vertrages vorliegt.
Können sich die verkaufswilligen und die anderen Parteien innert zweier Monate ab Mitteilung der Verkaufsabsicht im Sinne von Ziffer 7.1 nicht über den Übernahmepreis einigen, kann die verkaufswillige Partei innert
BGE 141 III 274 S. 275
eines weiteren Monats eine fachmännische Bewertung des inneren Wertes der Aktien durch eine unabhängige Treuhandstelle, welche Mitglied in einem anerkannten Berufsverband sein muss, verlangen. Können sich die Parteien über die Bestellung des Schiedsgutachters nicht einigen, erfolgt dessen Ernennung analog zu Art. 12 des Schweizerischen Konkordats über die Schiedsgerichtsbarkeit durch den Richter (...)."
A.c
Der Gesuchsteller diente dem Gesuchsgegner seine sämtlichen Aktien der beiden Gesellschaften an und legte ihm einen Bewertungsbericht der E. AG vor. Der Gesuchsgegner war mit der Übernahme der Aktien einverstanden, nicht aber mit deren Bewertung. (...) Die Parteien konnten sich darüber nicht einigen.
B.
Am 21. Oktober 2013 gelangte der Gesuchsteller an den Präsidenten des Obergerichts des Kantons Thurgau mit folgendem Begehren:
"1. Es sei im Sinne von Ziffer 7.2 i.V.m. Ziffer 10.1 des Aktionärsbindungsvertrages vom 22. März 2005 eine unabhängige Treuhandstelle zu bestimmen, welche den inneren Wert der Aktien der D. AG und der C. AG per 30. September 2013 fachmännisch bewertet.
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Gesuchsgegners."
Der Präsident des Obergerichts des Kantons Thurgau verfügte am 30. September 2014 was folgt:
"1. Das Gesuch wird geschützt.
2. a) Im Sinn von Ziff. 7.2 des Aktionärbindungsvertrags der Parteien vom 22. März 2005 wird die Gesellschaft F. als Schiedsgutachterin bestimmt, welche den inneren Wert der Aktien der D. AG und der C. AG per 31. Dezember 2013 fachmännisch zu bewerten hat. (...)"
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen und eventualiter mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde beantragt der Gesuchsgegner dem Bundesgericht, der angefochtene Entscheid sei in dem Sinne abzuändern, dass auf das Gesuch vom 21. Oktober 2013 nicht eingetreten werde, eventualiter sei dieses Gesuch abzuweisen, subeventualiter sei das Gesuch in dem Sinne teilweise gutzuheissen, dass die Bewertung unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Kündigungen durch die G. AG und H. AG sowie der Einbrüche an Transportaufträgen seitens der I. AG, der J. AG und der K. SA im Sinne einer zukunftsgerichteten Bewertungsmethode zu erfolgen habe, subsubeventualiter seien die Verfahrenskosten hälftig zu teilen und subsubsubeventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
BGE 141 III 274 S. 276
Der Beschwerdegegner beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde, soweit Eintreten. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Obergerichtspräsident hat das Gesuch des Beschwerdegegners um Einsetzung eines Schiedsgutachters gestützt auf
Art. 356 Abs. 2 ZPO
beurteilt bzw. seine Zuständigkeit aufgrund von Ziffer 7.2 des Aktionärsbindungsvertrages der Parteien bejaht. Der Beschwerdeführer bestreitet die sachliche Zuständigkeit des Obergerichtspräsidenten und beantragt primär sinngemäss die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Feststellung, dass die Vorinstanz sachlich unzuständig sei und deshalb auf das Gesuch nicht hätte eintreten dürfen.
2.1
Der Beschwerdegegner strebt mit seinem Gesuch die Durchsetzung seines vertraglichen Anspruchs gemäss Ziffer 7.2 des Aktionärsbindungsvertrages an, wonach er eine fachmännische Bewertung des inneren Werts der Aktien durch eine unabhängige Treuhandstelle verlangen kann und dessen "Ernennung analog zu Art. 12 des Schweizerischen Konkordats über die Schiedsgerichtsbarkeit durch den Richter" erfolgt, sofern sich die Parteien über die Bestellung des Schiedsgutachters nicht einigen. Die Vorinstanz ist im angefochtenen Entscheid zutreffend davon ausgegangen, dass die Parteien in Ziffer 7.2 des Aktionärsbindungsvertrags ein Schiedsgutachten im Sinne von
Art. 189 ZPO
für den Fall vereinbart haben, dass sie sich über den Preis der Aktien nicht einigen können. Denn als Schiedsgutachtervertrag wird eine Vereinbarung bezeichnet, mit der ein Dritter beauftragt wird, für die Parteien eines Rechtsverhältnisses verbindlich bestimmte tatsächliche Feststellungen zu treffen oder bestimmte Rechtsfragen zu beantworten (
BGE 129 III 535
E. 2 S. 537;
BGE 117 Ia 365
E. 5 und 6). Es wird im Übrigen von keiner Partei in Frage gestellt, dass die Form nach
Art. 189 Abs. 2 ZPO
eingehalten ist.
2.2
Die Parteien haben eine vertragliche Regelung für den Fall getroffen, dass sie sich über die Ernennung des Schiedsgutachters nicht einigen können. Sie haben vereinbart, dass "der Richter [...] analog zu Art. 12 des Schweizerischen Konkordats über die Schiedsgerichtsbarkeit" die Ernennung vornehmen solle.
Art. 12 des im Zeitpunkt des Abschlusses des Aktionärsbindungsvertrags geltenden Konkordats vom 27. März 1969 über die
BGE 141 III 274 S. 277
Schiedsgerichtsbarkeit (KSG; AS 1969 1093; mit Inkrafttreten der ZPO aufgehoben) bestimmte unter dem Marginale "Ernennung durch die richterliche Behörde":
"Können die Parteien sich über die Bestellung des Einzelschiedsrichters nicht einigen oder bestellt eine Partei den oder die von ihr zu bezeichnenden Schiedsrichter nicht, oder einigen die Schiedsrichter sich nicht über die Wahl des Obmanns, so nimmt auf Antrag einer Partei die in Artikel 3 vorgesehene richterliche Behörde die Ernennung vor, sofern nicht die Schiedsabrede eine andere Stelle hierfür vorsieht."
Art. 3 KSG
unter dem Marginale "Zuständige richterliche Behörde am Sitz des Schiedsgerichtes" sah namentlich in lit. a vor, dass das obere ordentliche Zivilgericht des Kantons, in dem sich der Sitz des Schiedsgerichts befindet, die zuständige richterliche Behörde sei, welche die Schiedsrichter ernennt, wenn diese nicht von den Parteien oder einer von ihnen beauftragten Stelle bezeichnet worden sind.
Die Vorinstanz hat diese vertragliche Vereinbarung im Ergebnis vertrauenstheoretisch zutreffend ausgelegt, wenn sie schloss, die Parteien hätten damit zur Bestellung des Schiedsgutachters das obere kantonale Gericht des Kantons Thurgau bestimmt. Denn die Behörde, die mit dem vertraglichen Verweis bezeichnet wird, ist nach Treu und Glauben ohne weiteres bestimmbar. Der Beschwerde ist keine Begründung zu entnehmen, weshalb die Parteien mit dem Verweis auf das für die Ernennung von Schiedsrichtern zuständige staatliche Gericht nicht sinngemäss das obere kantonale Gericht des Kantons zur Ernennung des Schiedsgutachters bestimmt haben sollten, dessen Gerichte sie in Ziffer 16.5 als Gerichtsstand bestimmten. Denn welche Bedeutung die Parteien dem Verweis auf
Art. 12 und 3 KSG
zugemessen haben sollten, wenn sie damit nicht die entsprechende Behörde für die Ernennung des Schiedsgutachters bezeichnen wollten, ist weder dargetan noch ersichtlich.
Die Vorinstanz ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Parteien in Ziffer 7.2 des Aktionärsbindungsvertrags das obere staatliche Gericht des Kantons Thurgau für die Ernennung eines Schiedsgutachters zuständig erklärt haben.
2.3
Der Beschwerdeführer bringt indessen zu Recht vor, dass die Parteien die sachliche Zuständigkeit der staatlichen Gerichte weder bestimmen noch abändern können, sofern das für die Gerichtsorganisation massgebende kantonale Recht (
Art. 3 und 4 ZPO
) diese Möglichkeit - im Rahmen der bundesrechtlich umschriebenen
BGE 141 III 274 S. 278
Grenzen - nicht ausdrücklich einräumt (
BGE 138 III 471
E. 3.1 S. 477; Urteil 4A_488/2014 vom 20. Februar 2015 E. 3.2). Den Erwägungen des angefochtenen Entscheids ist jedoch nicht zu entnehmen, dass das hier massgebende Recht des Kantons Thurgau den Parteien eine entsprechende Wahlmöglichkeit einräumen würde. Die Vorinstanz hat vielmehr ausschliesslich gestützt auf bundesrechtliche Normen ihre Zuständigkeit bejaht und in dieser Hinsicht namentlich angenommen, ihre Zuständigkeit lasse sich auf die - analog anwendbare - Norm von
Art. 356 Abs. 2 lit. a ZPO
bzw. die entsprechende Norm des KSG stützen. Es ist daher zu prüfen, ob diese bundesrechtliche Norm die sachliche Zuständigkeit zur Ernennung von Schiedsgutachtern begründet.
2.4
Das Schiedsgutachten gemäss
Art. 189 ZPO
ist gesetzessystematisch bei den Beweismitteln (
Art. 168 ff. ZPO
) aufgeführt. Von den Gutachten sachverständiger Personen (
Art. 183-188 ZPO
) unterscheidet sich das Schiedsgutachten dadurch, dass die vom Gutachter für das Bestehen oder Fehlen bestimmter Tatsachen gezogenen Schlüsse unter den Voraussetzungen von
Art. 189 Abs. 3 ZPO
für das Gericht verbindlich sind. Während die Beweiswürdigung im Allgemeinen dem Gericht obliegt und
Art. 157 ZPO
ausdrücklich vorschreibt, dass das Gericht sich seine Überzeugung nach freier Würdigung der Beweise zu bilden hat, ist das Gericht an die vom Schiedsgutachter getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, soweit die Parteien die Feststellung einer bestimmten streitigen Tatsache und damit auch die Würdigung der zur Feststellung dieser Tatsache erheblichen Tatsachen einem Schiedsgutachter übertragen haben (
Art. 189 Abs. 3 ZPO
).
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann daher die Einholung eines Schiedsgutachtens der vorsorglichen Beweisführung im Sinne von
Art. 158 ZPO
nicht gleichgestellt werden. Denn abgesehen davon, dass das staatliche Gericht - und nicht ein privater Schiedsgutachter - nach
Art. 158 ZPO
die beantragten Beweise abnimmt, umfasst die vorsorgliche Beweisführung im Unterschied zum Schiedsgutachten die Würdigung der abgenommenen Beweise gerade nicht (Urteil 4A_342/2014 von 17. Oktober 2014 E. 5.2). Verbindliche Tatsachenfeststellung nach
Art. 189 ZPO
setzt demgegenüber Beweiswürdigung durch den Schiedsgutachter voraus und entzieht diese insoweit dem staatlichen Gericht.
2.5
Die ZPO regelt im 3. Teil über die interne Schiedsgerichtsbarkeit die Verfahren vor Schiedsgerichten in der Schweiz, sofern nicht
BGE 141 III 274 S. 279
die Bestimmungen des zwölften Kapitels des IPRG anwendbar sind (
Art. 353 Abs. 1 ZPO
). Ein Schiedsgericht kann für die Entscheidung einer bestimmten Streitigkeit eingesetzt werden (vgl.
Art. 357 ZPO
); mit einem Schiedsurteil wird verbindlich über streitige Ansprüche der Parteien entschieden, während ein Schiedsgutachten nach dem klaren Wortlaut von
Art. 189 Abs. 1 ZPO
die Feststellung "streitiger Tatsachen" zum Gegenstand hat. Die systematische Einordnung im Rahmen der Beweismittel zeigt denn auch, dass es beim Schiedsgutachten vorab um Tatsachenfeststellung geht. Die Ernennung der Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, die gemäss
Art. 356 Abs. 2 ZPO
der vom kantonalen Recht bestimmten zuständigen Behörde übertragen ist, kann insofern der Ernennung eines Schiedsgutachters nicht gleichgestellt werden. Die Parteien können im Rahmen privatautonomer Vereinbarung gemäss
Art. 189 ZPO
eine Person bestimmen, die sie mit der Ernennung des Schiedsgutachters für den Fall betrauen wollen, dass sie sich darauf nicht zu einigen vermögen. Aber wenn sie diese Person aufgrund ihrer Funktion bestimmen (z.B. den jeweiligen kantonalen Obergerichtspräsidenten), so bestimmen sie damit nicht die staatliche Justizbehörde, sondern eine Privatperson, die als solche - sofern sie dazu in der Lage und damit einverstanden ist - im privaten Auftragsverhältnis handelt. Die Intervention des staatlichen Gerichts gemäss
Art. 356 ZPO
ist auf die Tätigkeit im Rahmen der Schiedsgerichtsbarkeit beschränkt und umfasst die Ernennung von Gutachtern zur Feststellung von Tatsachen auch dann nicht, wenn die Parteien eine Vereinbarung zur Einholung eines Schiedsgutachtens getroffen haben.
2.6
Die sachliche Zuständigkeit der Vorinstanz als staatliche Gerichtsbehörde lässt sich folglich nicht auf
Art. 356 ZPO
stützen (so auch ANNETTE DOLGE, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 37 zu
Art. 189 ZPO
["Art. 356 ist nicht anwendbar"]). Vielmehr gelten - wie der Beschwerdeführer zutreffend vorbringt - die allgemeinen Vorschriften zur sachlichen Zuständigkeit, wie sie im kantonalen Recht im Rahmen der
Art. 3 und 4 ZPO
festgelegt sind. Danach ist davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner einen streitigen Anspruch über die Ernennung eines Schiedsgutachters gegen den Beschwerdeführer durchzusetzen sucht, wobei er sich auf eine privatautonome Vereinbarung gestützt auf
Art. 189 ZPO
beruft (vgl. auch BERNHARD BERGER, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. II, 2012, N. 9 zu
Art. 189 ZPO
). Dafür sieht die ZPO weder eine einzige
BGE 141 III 274 S. 280
kantonale Instanz vor, noch schreibt sie ausdrücklich ein bestimmtes Verfahren vor (vgl. auch THOMAS WEIBEL, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2013, N. 8b zu
Art. 189 ZPO
; HEINRICH ANDREAS MÜLLER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner und andere [Hrsg.], 2011, N. 27 und 45 zu
Art. 189 ZPO
). Insbesondere ist die Ernennung eines Schiedsgutachters - im Unterschied etwa zur Bezeichnung einer sachverständigen Person zur Prüfung eines Werks (
Art. 250 lit. b Ziff. 4 ZPO
) - nicht ausdrücklich in das summarische Verfahren verwiesen. Immerhin gilt das summarische Verfahren für den Rechtsschutz in klaren Fällen (Art. 248 lit. b i.V.m.
Art. 257 ZPO
). Wie es sich damit verhält, kann letztlich offenbleiben. Der Obergerichtspräsident hat seine Zuständigkeit in sinngemässer Anwendung von
Art. 356 ZPO
jedenfalls zu Unrecht bejaht. | de |
d28f6708-1fe8-433b-9195-79210fa8b0d7 | Sachverhalt
ab Seite 153
BGE 83 IV 152 S. 153
Vogel traf am 13. Januar 1957 zwischen 15 und 16 Uhr einige Kinder, die am Schmelzirain im nördlichen Aussenquartier von Grenchen schlittelten. Nachdem ein 13-jähriges Mädchen es abgelehnt hatte, ihn zum abgelegenen Restaurant Kappeli zu begleiten, erklärte sich die acht Jahre alte Elisabeth Emch dazu bereit. Vogel nahm das Mädchen bei der Hand und führte es in nördlicher Richtung in den verschneiten Bergwald. Er gab sich als Doktor aus, versprach dem Kind eine Tasse Tee und später, als er dessen Wünsche erfahren hatte, ein Pony. Nach ungefähr 700 m setzte sich Vogel an den Rand eines durch dichtes Unterholz führenden Seitenpfades, nahm das Mädchen auf seine Knie und gab ihm in geschlechtlicher Erregung einen Kuss. Kurz darauf erschien der Vater des Kindes, der vom Weggang seiner Tochter Kenntnis erhalten hatte.
Das Obergericht des Kantons Solothurn verurteilte Vogel unter anderem wegen Entführung eines Kindes gemäss
Art. 185 Abs. 2 StGB
. Der Kassationshof hebt das Urteil in diesem Punkt auf und weist die Sache zur Freisprechung zurück. Erwägungen
Erwägungen:
Nach
Art. 185 StGB
macht sich strafbar, wer ein Kind unter 16 Jahren entführt, um aus dem Kind Gewinn zu ziehen oder um ein Lösegeld zu erlangen (Abs. 1) oder um es zur Unzucht zu missbrauchen oder missbrauchen zu lassen (Abs. 2).
Entgegen der Auffassung des Obergerichts setzt diese Bestimmung nicht wie
Art. 183 StGB
voraus, dass der Täter das Opfer mit Gewalt, List oder Drohung wegführt. Auf den Willen des Kindes kommt nichts an; das Gesetz schützt es unabhängig davon, ob es Widerstand leistet oder ob es in die Entführung einwilligt. Schon blosse Überredung genügt.
BGE 83 IV 152 S. 154
Die Entführungshandlung besteht darin, dass das Kind an einen Ort geführt wird, wo es sich in der Gewalt des Täters befindet. Nicht notwendig ist, dass der neue Aufenthaltsort vom alten weit entfernt sei; sie können innerhalb der gleichen Ortschaft liegen. Dagegen erfordert der Begriff der Entführung, dass die Ortsveränderung für eine gewisse Dauer vorgesehen und dass das Kind in seiner persönlichen Freiheit tatsächlich beschränkt ist, es insbesondere nicht die Möglichkeit hat, unabhängig vom Willen des Täters an seinen gewohnten Aufenthaltsort zurückzukehren. Dass eine Entziehung von nur kurzer Dauer oder eine unbedeutende Freiheitsbeschränkung der Bestimmung des
Art. 185 StGB
nicht untersteht, ergibt sich auch aus deren Strafandrohung, die auf Gefängnis nicht unter sechs Monaten bzw. auf Zuchthaus nicht unter drei Jahren lautet.
Der Beschwerdeführer hat Elisabeth Emch bloss zu einem kurzen Spaziergang veranlasst, aber keine Anstalten getroffen, damit das Mädchen den bisherigen Aufenthaltsort bei ihren Eltern aufgebe und sich an einem andern Ort aufhalte. Dass der Wille des Beschwerdeführers auf dieses Ziel gerichtet gewesen sei, ist nicht nachgewiesen. Es ist nicht festgestellt und auch nicht aus den Umständen zu schliessen, dass der Beschwerdeführer, wenn er nicht gestört worden wäre, den Spaziergang über den Nachmittag hinaus fortgesetzt und das Mädchen festgehalten hätte, um es an der Rückkehr nach Hause zu hindern. Es liegt weder eine vollendete noch versuchte Entführungshandlung im Sinne des
Art. 185 StGB
vor. | de |
80afca57-c4ee-4399-9633-9d36b677f08f | Sachverhalt
ab Seite 79
BGE 144 II 77 S. 79
A.
A., Journalist bei der SonntagsZeitung, ersuchte das Bundesamt für Verkehr (BAV) mit E-Mail vom 25. September 2013 gestützt auf das Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz, BGÖ; SR 152.3) um Einsicht in die vollständigen und nicht anonymisierten Einträge der 26 wichtigsten Transportunternehmen der Schweiz in der Neuen Ereignisdatenbank (NEDB) ab dem 1. Januar 2012. Das BAV teilte ihm am 18. Oktober 2013 mit, es entspreche seinem Zugangsgesuch teilweise, könne ihm aber ohne Einwilligung der betroffenen Transportunternehmen keine Einsicht in die in der NEDB erfassten Gefährdungen, Störungen und Sachschadenssummen gewähren. Daraufhin hörte das BAV die betroffenen Transportunternehmen an. Zwölf davon stimmten der Veröffentlichung der Schadenssummen zu oder liessen sich dazu nicht vernehmen. Ein Transportunternehmen willigte darüber hinaus in die Bekanntgabe der Gefährdungen und Störungen ein. Das BAV gab diese Informationen A. bekannt.
B.
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2013 reichte A. einen Schlichtungsantrag beim eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) ein. Anlässlich der Schlichtungsverhandlung konnte eine Einigung hinsichtlich der Schadenssummen erzielt werden. Bezüglich der Gefährdungen und Störungen regte der EDÖB mit Empfehlung vom 18. Juni 2015 an, den Zugang zu gewähren.
C.
Mit Verfügung vom 1. Juli 2015 wies das BAV das Einsichtsgesuch ab, soweit nicht bereits vor und im Rahmen des Schlichtungsverfahrens Zugang gewährt worden sei.
Dagegen erhob A. Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Nachdem dieses die Schweizerischen Bundesbahnen SBB, die SBB Cargo AG, die BLS AG, die BLS Cargo AG, die BLS Netz AG und die Genossenschaft Verband öffentlicher Verkehr (VöV) beigeladen hatte, hiess es das Rechtsmittel mit Urteil vom 10. August 2016 (A-4571/2015) gut und hob die Verfügung des BAV auf. A. sei in nicht anonymisierter Form Zugang zu den in der NEDB enthaltenen Gefährdungen und Störungen der 26 wichtigsten Schweizer Transportunternehmen zu gewähren.
BGE 144 II 77 S. 80
D.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 14. September 2016 gelangt das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), vertreten durch das BAV, an das Bundesgericht und beantragt neben der Aufhebung des bundesverwaltungsgerichtlichen Urteils, dass die Verfügung des BAV vom 1. Juli 2015 zu bestätigen sei. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
E.
Das Bundesgericht hat die Angelegenheit am 27. September 2017 öffentlich beraten. Es weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Der Beschwerdeführer macht mehrere im BGÖ verankerte Ausnahmegründe zum Transparenzgebot geltend. Dabei beruft er sich vorab auf einen in
Art. 7 Abs. 1 BGÖ
normierten Geheimhaltungstatbestand, nach dem der Zugang zu amtlichen Dokumenten eingeschränkt, aufgeschoben oder verweigert werden kann. Dafür muss nach der Rechtsprechung die aufgrund der Zugangsgewährung drohende Verletzung der jeweiligen öffentlichen oder privaten Interessen zwar nicht mit Sicherheit eintreten, jedoch darf eine Gefährdung auch nicht lediglich denkbar oder (entfernt) möglich erscheinen; zudem muss diese ernsthaft sein, weshalb eine bloss geringfügige oder unangenehme Konsequenz nicht als Beeinträchtigung gelten kann (
BGE 142 II 324
E. 3.4 S. 335,
BGE 142 II 340
E. 2.2 S. 344 f.). Eine eigentliche Interessenabwägung ist danach nicht vorzunehmen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber diese bereits vorweggenommen hat, indem er in
Art. 7 Abs. 1 BGÖ
in abschliessender Weise die Gründe aufzählt, aus denen das Geheimhaltungs- das Transparenzinteresse überwiegen kann (vgl. URS STEIMEN, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl. 2014, N. 3 zu
Art. 7 BGÖ
; BERTIL COTTIER, in: Öffentlichkeitsgesetz, 2008, N. 5 zu
Art. 7 BGÖ
; ALEXANDRE FLÜCKIGER, Le projet de loi fédérale sur la transparence: transparence de l'administration ou des citoyens?, in: L'administration transparente, Tanquerel/Bellanger [Hrsg.], 2002, S. 146). Bezieht sich ein Zugangsgesuch jedoch auf ein amtliches Dokument, das Personendaten enthält, die sich nicht anonymisieren lassen, ist eine umfassende Güterabwägung vorzunehmen zwischen dem öffentlichen Interesse an der Offenlegung der nachgesuchten Informationen und diesem entgegenstehenden
BGE 144 II 77 S. 81
Interessen, insbesondere dasjenige am Schutz der Privatsphäre bzw. der Daten derjenigen Personen, deren Angaben im Dokument enthalten sind und zugänglich gemacht werden sollen (
Art. 9 Abs. 2 BGÖ
i.V.m. Art. 19 Abs. 1
bis
des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz [DSG; SR 235.1] bzw.
Art. 7 Abs. 2 BGÖ
; vgl. BGE
BGE 142 II 340
E. 4.2 f. S. 346 f.; Urteil 1C_74/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 4.1 f.).
4.
4.1
Der Beschwerdeführer beruft sich zunächst auf die Ausnahmebestimmung von
Art. 7 Abs. 1 lit. b BGÖ
. Danach wird der Zugang zu amtlichen Dokumenten eingeschränkt, aufgeschoben oder verweigert, wenn durch seine Gewährung die zielkonforme Durchführung konkreter behördlicher Massnahmen beeinträchtigt würde. Seiner Ansicht nach hat das Bundesverwaltungsgericht diese Vorschrift rechtsfehlerhaft ausgelegt. Blieben nämlich Meldungen der Transportunternehmen über Störungen oder Gefährdungen aufgrund deren Bekanntgabe an die Öffentlichkeit aus, würde das Treffen von konkreten behördlichen Massnahmen nicht nur beeinträchtigt, sondern sogar verunmöglicht.
4.2
Das Bundesverwaltungsgericht erwog dazu im Wesentlichen,
Art. 7 Abs. 1 lit. b BGÖ
sei auf einzelne, konkrete behördliche Massnahmen zugeschnitten; die Aufgabenerfüllung und Aufsichtstätigkeit des BAV insgesamt falle nicht unter diese Bestimmung. Zu verlangen sei, dass durch die Zugangsgewährung die Durchführung von einzelnen, klar definierten behördlichen Massnahmen beeinträchtigt zu werden drohe. Eine solche Massnahme werde vom BAV nicht genannt und sei auch nicht ersichtlich. Eine bloss theoretisch denkbare Massnahme, die auf eine Gefährdungs- oder Störungsmeldung hin anzuordnen wäre, jedoch nicht ergriffen werden könnte, falls das auslösende Ereignis wegen seiner möglichen Veröffentlichung nicht gemeldet würde, sei zu abstrakt und könne nicht genügen (vgl. E. 6.1 des angefochtenen Entscheids).
4.3
Diesen Erwägungen ist im Grundsatz zuzustimmen. Gemäss der Botschaft zum BGÖ stellt der Ausnahmegrund von
Art. 7 Abs. 1 lit. b BGÖ
sicher, dass Informationen geheim gehalten werden können, die der Vorbereitung konkreter behördlicher Massnahmen dienen (z.B. Aufsichtsmassnahmen oder Inspektionen); er kann dann angerufen werden, wenn durch die Zugänglichmachung bestimmter Informationen über die Vorbereitung einer Massnahme deren Ziel mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr - bzw. nicht
BGE 144 II 77 S. 82
vollumfänglich - erreicht würde (Botschaft vom 12. Februar 2003 zum Bundesgesetz über die Öffentlichkeit der Verwaltung [BGÖ], BBl 2003 1963, 2009 Ziff. 2.2.2.1.2). In Anlehnung an die allgemeinen Grundsätze für Ausnahmen vom Transparenzgebot (vgl. E. 3 hiervor) ist dabei ergänzend festzuhalten, dass die aufgrund der Zugangsgewährung drohende Verletzung der mit der behördlichen Massnahme verfolgten Ziele von einem gewissen Gewicht sein muss.
Vorliegend ist nicht ersichtlich, inwiefern die Offenlegung der in der NEDB erfassten Gefährdungen und Störungen die vom BAV angestrebte konstruktive Fehlerkultur beeinträchtigen oder den Erfolg einer aufsichtsrechtlichen Massnahme, mit der die Sicherheit im öffentlichen Verkehr sichergestellt werden soll, ernsthaft gefährden könnte. Der Erfolg bliebe vor allem insoweit nicht aus, als die Bekanntgabe bereits gemeldeter Zwischenfälle in Frage steht: Diesfalls ist es dem BAV als Aufsichtsbehörde (vgl. Art. 10 Abs. 2 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 [EBG; SR 742.101] bzw.
Art. 52 des Bundesgesetzes vom 20. März 2009 über die Personenbeförderung [PBG; SR 745.1]
) unbenommen, mit geeigneten Massnahmen darauf zu reagieren. Aber auch das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Sicherheitsrisiko, das bei einer Zugangsgewährung durch das Unterbleiben von künftigen Meldungen entstehen könnte, liegt nicht auf der Hand, insbesondere wenn man bedenkt, dass hinsichtlich wesentlicher, und somit sicherheitsrelevanter Vorfälle eine gesetzliche Meldepflicht besteht (vgl. insb.
Art. 14a Abs. 1 EBG
, Art. 16 i.V.m.
Art. 4 der Verordnung vom 17. Dezember 2014 über die Sicherheitsuntersuchung von Zwischenfällen im Verkehrswesen [VSZV; SR 742.161]
; im Allgemeinen: Bundesamt für Justiz, Schnellübersicht über die dem BAV zu meldenden Ereignisse vom 1. Februar 2015). Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die beaufsichtigten Transportunternehmen ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen. Sollten sie dennoch sicherheitsrelevante Zwischenfälle nicht melden, vereitelt bereits dieses rechtswidrige Verhalten die Möglichkeit, geeignete aufsichtsrechtliche Massnahmen zu treffen, und nicht erst - wie durch
Art. 7 Abs. 1 lit. b BGÖ
vorgesehen - die Bekanntgabe von bei der Aufsichtsbehörde vorhandenen Informationen. Mithin ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz die Voraussetzungen von
Art. 7 Abs. 1 lit. b BGÖ
nicht als erfüllt erachtete. Anders verhielte es sich beispielsweise dann, wenn um Zugang zu Informationen ersucht würde, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Durchführung
BGE 144 II 77 S. 83
von aufsichtsrechtlichen Kontrollen stünden. Diesfalls bestünde unter Umständen durchaus eine ernsthafte Gefahr, dass die Durchführung bzw. der Erfolg der behördlichen Massnahme durch entsprechende Vorkehrungen seitens der Beaufsichtigten vereitelt werden könnte.
5.
5.1
Sodann ist hier unstreitig, dass es sich bei den in der NEDB enthaltenen Meldungen über Zwischenfälle um Personendaten (bzw. "Daten" im Sinne des DSG) handelt, zumal sich diese Angaben auf bestimmte juristische Personen beziehen (
Art. 3 Abs. 1 lit. a DSG
;
BGE 142 II 268
E. 6.1 S. 279 f.; Urteil 1C_74/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 3.2). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann durch deren anonymisierte Bekanntgabe dem Informationsbedürfnis des Beschwerdegegners nicht im gewünschten Umfang nachgekommen werden. Wie dieser in seiner Beschwerdeantwort zu Recht vorbringt, ist eine wirksame Kontrolle der staatlichen Behörde und deren (Aufsichts-)Tätigkeit, die das Öffentlichkeitsprinzip durch die Schaffung von Transparenz zu ermöglichen bezweckt (vgl.
Art. 1 BGÖ
;
BGE 142 II 313
E. 3.1 S. 315 f.;
BGE 136 II 399
E. 2.1 S. 401;
BGE 133 II 209
E. 2.3.1 S. 213), erst dann in geeigneter Weise möglich, wenn offengelegt wird, bei welchen der wichtigsten Transportunternehmen der Schweiz es zu wie vielen und zu welchen Zwischenfällen auf welchen Strecken gekommen ist. Eine Unkenntlichmachung der Namen der Transportunternehmen käme in materieller Hinsicht einer Verweigerung bzw. zumindest einer wesentlichen Einschränkung des Zugangsgesuchs gleich (vgl.
BGE 142 II 340
E. 4.1 S. 346; Urteil 1C_74/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 3).
5.2
Ist eine Anonymisierung nicht möglich, muss das Zugangsgesuch nach
Art. 19 DSG
beurteilt werden (
Art. 9 Abs. 2 Satz 1 BGÖ
).
Der Beschwerdeführer beruft sich dabei auf
Art. 19 Abs. 1
bis
DSG
. Nach dieser Bestimmung darf die Behörde gestützt auf das BGÖ Personendaten bekannt geben, wenn die betreffenden Personendaten im Zusammenhang mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben stehen (lit. a) und an deren Bekanntgabe ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht (lit. b). Erstere Voraussetzung ergibt sich für das Öffentlichkeitsgesetz bereits aus der Definition des Begriffs "amtliches Dokument" gemäss
Art. 5 Abs. 1 lit. c BGÖ
(
BGE 142 II 340
E. 4.2 S. 346). Bei den in der NEDB enthaltenen Gefährdungen und Störungen handelt es sich um Informationen, welche die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe betreffen, zumal sie als Grundlage für die
BGE 144 II 77 S. 84
Anordnung von aufsichtsrechtlichen Massnahmen des BAV dienen können.
Die zweite Voraussetzung verlangt nach einer Güterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Zugang zu den amtlichen Dokumenten und den - in erster Linie - privaten Interessen am Schutz der darin enthaltenen Personendaten (vgl. Botschaft zum BGÖ, BBl 2003 1963, 2033 Ziff. 2.5.2.1; JENNIFER EHRENSPERGER, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl. 2014, N. 44 zu
Art. 19 DSG
; AMMANN/LANG, Öffentlichkeitsgesetz und Datenschutz, in: Datenschutzrecht, Passadelis/Rosenthal/Thür [Hrsg.], 2015, S. 924; MARKUS SCHEFER, Öffentlichkeit und Geheimhaltung in der Verwaltung, in: Die Revision des Datenschutzgesetzes, Epiney/Hobi [Hrsg.], 2009, S. 88). Dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Schutz der Privatsphäre im Rahmen von
Art. 19 Abs. 1
bis
lit. b DSG
zu berücksichtigen sind, lässt sich bereits aus dem Zweckartikel des DSG (vgl.
Art. 1 DSG
) sowie aus
Art. 13 BV
herleiten. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gewährleistet
Art. 13 BV
allgemein das Recht auf eine Privat- und Geheimsphäre, wobei Abs. 2 im Besonderen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt. Dieser Anspruch impliziert, dass jede Person gegenüber fremder, staatlicher oder privater Bearbeitung von sie betreffenden Informationen bestimmen können muss, ob und zu welchem Zweck diese Informationen über sie bearbeitet werden (
BGE 140 I 2
E. 9.1 S. 22 f.,
BGE 140 I 381
E. 4.1 S. 384;
BGE 138 II 346
E. 8.2 S. 359 f.;
BGE 129 I 232
E. 4.3.1 S. 245; je mit Hinweisen). Der Begriff des Bearbeitens umfasst aus datenschutzrechtlicher Sicht auch die Bekanntgabe, d.h. das Einsichtgewähren, Weitergeben oder Veröffentlichen von Personendaten (
Art. 3 lit. e und f DSG
; zum Ganzen:
BGE 142 II 340
E. 4.2 S. 346 f.; Urteil 1C_74/2016 vom 2. Dezember 2015 E. 4.1).
5.3
Die Vorschriften des DSG gelten somit für die Bearbeitung von persönlichen Daten, die den grundrechtlichen Anspruch auf Schutz der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung verletzen können (vgl.
BGE 142 II 268
E. 6.1 S. 280; Urteil 1C_230/2011 vom 31. Mai 2012 E. 3.2; je mit Hinweisen). Unter den Schutzbereich dieses Gesetzes fallen sowohl natürliche als auch juristische Personen (vgl. Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 3 lit. b DSG
), worunter die überwiegende Lehrmeinung in Übereinstimmung mit der Botschaft zum DSG nicht nur diejenigen des privaten, sondern auch solche des öffentlichen Rechts zählt, sofern ihnen
BGE 144 II 77 S. 85
Zivilrechtsfähigkeit zukommt (vgl. Botschaft vom 23. März 1988 zum Bundesgesetz über den Datenschutz [DSG], BBl 1988 II 413, 438 ff. und 445 Ziff. 221.1; MAURER-LAMBROU/KUNZ, in: Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, Öffentlichkeitsgesetz, 3. Aufl. 2014, N. 7 zu
Art. 2 DSG
; ROSENTHAL/JÖHRI, in: Handkommentar zum Datenschutzgesetz, 2008, N. 6 zu
Art. 2 Abs. 1 DSG
; BELSER/EPINEY/WALDMANN, Datenschutzrecht, 2011, S. 425; PHILIPPE MEIER, Protection des données, 2011, S. 212). Im hier zu beurteilenden Fall befinden sich unter den Transportunternehmen, deren Daten über Gefährdungen und Störungen in der NEDB enthalten sind und zugänglich gemacht werden sollen, namentlich öffentlich-rechtliche Anstalten, spezialgesetzliche Aktiengesellschaften und gemischtwirtschaftliche Unternehmen (vgl. TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2014, S. 74 ff.; PHILIPP HÄSLER, Geltung der Grundrechte für öffentliche Unternehmen, 2005, S. 35 f.). Diese bedürfen zudem sowohl für den Bau und den Betrieb einer Eisenbahninfrastruktur als auch für die regelmässige und gewerbsmässige Personenbeförderung grundsätzlich einer entsprechenden Infrastruktur- bzw. Personenbeförderungskonzession (Art. 5 f. EBG i.V.m. Art. 8 ff. der Verordnung vom 14. Oktober 2015 über die Konzessionierung, Planung und Finanzierung der Bahninfrastruktur [KPFV; SR 742.120] und
Art. 6 PBG
i.V.m. Art. 6 der Verordnung vom 4. November 2009 über die Personenbeförderung [VPB; SR 745.11]). Dabei handelt es sich um Monopolkonzessionen, welche die Inhaber zur Ausübung einer grundsätzlich dem Staat vorbehaltenen Tätigkeit berechtigen und verpflichten (vgl.
Art. 5 Abs. 2 EBG
und Art. 4 i.V.m.
Art. 6 Abs. 2 PBG
).
5.4
Der Botschaft zum DSG ist zu entnehmen, dass insbesondere Überlegungen der Gleichbehandlung dafür sprechen sollen, juristischen Personen, einschliesslich solchen des öffentlichen Rechts, den Anspruch auf Datenschutz gegenüber behördlicher Datenbearbeitung zuzugestehen und sie insofern mit Privaten gleichzustellen, als sie in diesem Bereich ähnliche Schutzbedürfnisse aufweisen (vgl. Botschaft zum DSG, BBl 1988 II 413, 439 f. Ziff. 221.1). Die Literatur zum Datenschutzrecht folgt dieser Auffassung grossmehrheitlich, ohne sich aber mit der Ausweitung des Schutzbereichs kritisch auseinanderzusetzen und auf die Besonderheiten, die sich aus der speziellen Nähe juristischer Personen des öffentlichen Rechts und öffentlicher Unternehmen zum Staat ergeben, einzugehen (vgl. die Literaturhinweise in E. 5.3 hiervor). Mit Blick auf die nach
BGE 144 II 77 S. 86
Art. 19 Abs. 1
bis
DSG
(bzw.
Art. 7 Abs. 2 BGÖ
) vorzunehmende Güterabwägung bedeutet dies, dass der Zugang zu Informationen in einem amtlichen Dokument, die sich solchen Personen zuordnen lassen, aus Datenschutzgründen eingeschränkt oder verweigert werden kann, sofern die Interessen dieser Personen überwiegen.
5.5
Dies steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der vom Bundesgericht entwickelten Praxis zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts. In der Rechtsprechung und der Lehre ist unbestritten, dass juristische Personen des Privatrechts Träger von Grundrechten sein können, soweit deren Schutzziele nicht auf natürliche Personen zugeschnitten sind, sondern sich ihrer Natur nach auch für juristische Personen eignen (so schon BGE 4 S. 533 E. 4 S. 537; vgl. mit Blick auf die Religionsfreiheit:
BGE 142 I 195
E. 5.2 S. 207 f.; THOMAS GÄCHTER, Allgemeine Grundrechtslehren, in: Staatsrecht, 2. Aufl. 2015, S. 453; KIENER/KÄLIN, Grundrechte, 2. Aufl. 2013, S. 63; HÄFELIN/HALLER/KELLER/THURNHERR, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 9. Aufl. 2016, S. 86; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 4. Aufl. 2016, S. 109). Anders verhält es sich bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Sie können sich als Inhaber hoheitlicher Gewalt grundsätzlich nicht auf verfassungsmässige Rechte berufen; diese stehen im Prinzip nur Privaten zu (
BGE 142 II 259
E. 4.2 S. 262;
BGE 140 I 285
E. 1.2 S. 290;
BGE 132 I 140
E. 1.3.1 S. 143;
BGE 129 I 313
E. 4.1 S. 318;
BGE 125 I 173
E. 1b S. 175). Dieser Grundsatz erfährt indes eine gewisse Relativierung. So können öffentlich-rechtliche Korporationen namentlich dann den Schutz der Grundrechte in Anspruch nehmen, wenn sie nicht hoheitlich handeln, sondern sich auf dem Boden des Privatrechts bewegen oder sonst wie als dem Bürger gleichgeordnete Rechtssubjekte auftreten und durch den angefochtenen staatlichen Akt wie eine Privatperson betroffen werden (
BGE 142 II 259
E. 4.2 S. 262;
BGE 140 I 285
E. 1.2 S. 290;
BGE 132 I 140
E. 1.3.1 S. 143;
BGE 129 I 313
E. 4.1 S. 318 f.;
BGE 125 I 173
E. 1b S. 175;
BGE 120 Ia 95
E. 1a S. 96 f.;
BGE 119 Ia 214
E. 1a S. 216;
BGE 112 Ia 356
E. 5a S. 363 f.). Ebenso sind juristische Personen des öffentlichen Rechts nach der EMRK grundrechtsberechtigt, soweit sie ein bestimmtes Mass an Staatsnähe nicht überschreiten (vgl. GRABENWARTER/PABEL, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, S. 62 und 129; MÜLLER/BALDEGGER, Grundrechte juristischer Personen, in: Norm und Wirkung, Festschrift für Wolfgang Wiegand zum 65. Geburtstag, 2005, S. 560 f.).
BGE 144 II 77 S. 87
5.6
Die Frage, ob sich öffentliche Unternehmen auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung berufen können und der Schutzbereich des DSG somit zu Recht auf solche juristische Personen erstreckt wird, braucht hier jedoch nicht näher erörtert zu werden. Immerhin ist anzumerken, dass die in der NEDB enthaltenen Gefährdungen und Störungen grösstenteils in Zusammenhang mit der Wahrnehmung konzessionierter öffentlicher Aufgaben stehen, weshalb den betroffenen Transportunternehmen als juristische Personen des öffentlichen Rechts bzw. als öffentliche Unternehmen nach der vorerwähnten Rechtsprechung eine Grundrechtsberechtigung in diesem Bereich eher abzusprechen wäre. Denn ihren Interessen am Schutz personenbezogener Daten kommt umso weniger Gewicht zu, je staatsnaher ihre Tätigkeit ist. Hinsichtlich
Art. 19 Abs. 1
bis
DSG
bedeutete dies, dass dem Interesse am Zugang zu Informationen, die sich auf öffentliche Aufgaben dieser Personen beziehen, deren eigenes Interesse am Schutz ihrer Daten nicht entgegengehalten werden könnte. Demnach entfiele die Vornahme einer Güterabwägung. Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann hier letztlich jedoch dahingestellt bleiben, da selbst bei der Vornahme einer Interessenabwägung im Sinne dieser Bestimmungen - wie aus nachfolgenden Erwägungen erhellt - im Ergebnis das Zugangsinteresse überwiegt.
5.7
Im Rahmen von
Art. 19 Abs. 1
bis
DSG
(oder
Art. 7 Abs. 2 BGÖ
) ist dem Interesse am Schutz der Privatsphäre resp. dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung jener Personen, deren Daten zugänglich gemacht werden sollen, Rechnung zu tragen (vgl.
BGE 142 II 340
E. 4.4 S. 347). Der Beschwerdeführer stellt sich dabei auf den Standpunkt, daneben seien auch öffentliche Interessen, die der Zugangsgewährung entgegenstehen können, zu berücksichtigen, andernfalls der Entscheid über die Bekanntgabe der umstrittenen Daten auf einer unvollständigen Interessenabwägung beruhe. Demgegenüber erwog der EDÖB in seiner Empfehlung vom 18. Juni 2015 (vgl. E. 29), der Gesetzgeber habe die Fälle, in denen ein öffentliches Interesse eine Zugangsbeschränkung zu rechtfertigen vermöge, abschliessend in
Art. 7 Abs. 1 lit. a-f BGÖ
normiert. Diese Ansicht wird von der Lehre geteilt (vgl. COTTIER, a.a.O., N. 3 zu
Art. 7 BGÖ
; STEIMEN, a.a.O., N. 1 zu
Art. 7 BGÖ
) und auch in den Materialien vertreten (vgl. Botschaft zum BGÖ, BBl 2003 1963, 2006 Ziff. 2.2.2.1). Gleichermassen hielt das Bundesverwaltungsgericht dafür, dass dem öffentlichen Interesse am Zugang einzig private Interessen gegenübergestellt werden könnten. Dies ergebe sich ohne Weiteres aus dem
BGE 144 II 77 S. 88
Wortlaut und dem Zweck der einschlägigen Bestimmungen. Insofern seien dem Zugang widersprechende öffentliche Interessen bei der Beurteilung des Zugangsgesuchs einzig bei der Prüfung der Tatbestände von Art. 7 Abs. 1 lit. a-f und
Art. 8 BGÖ
zu berücksichtigen (vgl. E. 7.2.2.4 f. des angefochtenen Entscheids).
Für den Ansatz der Vorinstanz spricht, dass bei der im Rahmen von
Art. 19 Abs. 1
bis
DSG
(bzw.
Art. 7 Abs. 2 BGÖ
) vorzunehmenden Güterabwägung praktische Konkordanz zwischen der Informations- und Medienfreiheit (
Art. 16 und
Art. 17 BV
), auf die sich der Beschwerdegegner für die Zugangsgewährung berufen kann und zu deren Verwirklichung das Transparenzgebot beiträgt (Urteil 1C_50/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 2.2), und dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Achtung der Privatsphäre resp. dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung herzustellen ist (Urteil 1C_74/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 4.1.2). Letztere gewährleisten im Allgemeinen, dass die Privatsphäre jener Personen geachtet wird, über die Daten bearbeitet werden, und diese selbst darüber bestimmen können, wer welche Informationen über sie erhebt, verwendet oder bekannt gibt (vgl. E. 5.2 hiervor). Insoweit können in erster Linie Interessen privater Natur dem Interesse an der Zugangsgewährung gegenübergestellt werden; öffentliche Interessen, die eine Geheimhaltung zu rechtfertigen vermöchten, sind demnach grundsätzlich im Rahmen der einschlägigen Ausnahmebestimmungen von Art. 7 f. BGÖ zu berücksichtigen. Werden sie aber von keiner dieser Kategorien erfasst, obschon sie einen vergleichbaren Schutzgehalt aufweisen und bei einer Offenlegung der Eintritt eines gewichtigen Schadens droht, ist nicht nachvollziehbar, weshalb sie beim Entscheid über die Zugangsgewährung gänzlich ausser Acht gelassen werden sollten. Insofern befand das Bundesgericht denn auch im zit. Urteil 1C_74/2015, dass es sich bei solchen Anliegen durchaus um bedeutende, den privaten Schutzbedürfnissen gleichzustellende Interessen handeln kann und diese deshalb beachtet werden müssen (E. 4.2.2). Demnach treten solche, der Bekanntgabe zuwiderlaufende öffentliche Interessen zwar nicht zu den Ausnahmebestimmungen in Art. 7 f. BGÖ hinzu, dessen
Art. 7 Abs. 1 BGÖ
in lit. a-f eine abschliessende Aufzählung der Gründe enthält, die eine Geheimhaltung aus überwiegenden öffentlichen Interessen bereits dann zu rechtfertigen vermögen, wenn die aufgrund der Zugangsgewährung drohende Verletzung gewichtig ist und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintritt (vgl. E. 3 hiervor). Vielmehr sind die einer Offenlegung
BGE 144 II 77 S. 89
entgegenstehenden öffentlichen Interessen in die Güterabwägung nach
Art. 19 Abs. 1
bis
DSG
(bzw.
Art. 7 Abs. 2 BGÖ
) miteinzubeziehen, soweit ihnen eine gewisse Erheblichkeit zukommt.
5.8
Dem Beschwerdeführer ist zwar darin beizupflichten, dass an einem sicheren öffentlichen Verkehr ein allgemeines und gewichtiges Interesse besteht. Ihm kann jedoch nicht gefolgt werden, soweit er vorbringt, die Namen der in der NEDB erfassten Transportunternehmen müssten geheim gehalten werden, ansonsten mit einem Rückgang bei den künftig zu meldenden Gefährdungs- und Störungsfällen zu rechnen sei, zumal sich die Meldepflichtigen nicht unnötig in ein schlechtes Licht rücken wollten. Angesichts der bereits erwähnten gesetzlichen Pflicht zur Meldung schwerer Vorfälle und wesentlicher Störungen (vgl. E. 4.3 hiervor) liefe diese Argumentation im Ergebnis darauf hinaus, die Zugangsbeschränkung damit zu rechtfertigen, dass ein potenzielles, rechtswidriges Verhalten der meldepflichtigen Unternehmen, das der Sicherheit im öffentlichen Verkehr abträglich sein könnte, verhindert werden muss. Abgesehen davon, dass ein solches Gebaren der betroffenen Transportunternehmen nicht zu erwarten ist, würde es keinen Schutz verdienen und kann daher auch nicht in die Güterabwägung miteinfliessen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die gesetzliche Meldepflicht befolgt wird und die Vorfälle, welche den entsprechenden Schwellenwert erreichen, auch tatsächlich dem BAV zur Kenntnis gebracht werden. Bei einer Offenlegung von Zwischenfällen, die dem BAV von den Transportunternehmen freiwillig mitgeteilt werden, ist zwar ein Melderückgang nicht gänzlich auszuschliessen. Da aber anzunehmen ist, dass es sich dabei um Vorfälle handelt, welche die für die Meldepflicht erforderliche Schwere nicht erreichen, sind sie im Hinblick auf die Anordnung von aufsichtsrechtlichen Sicherheitsmassnahmen ohnehin von geringerer Bedeutung. Für Ereignisse, die sich in einem - aufgrund der relativ präzisen Begriffsumschreibung der zu meldenden Ereignisse (vgl. Bundesamt für Justiz, Schnellübersicht über die dem BAV zu meldenden Ereignisse vom 1. Februar 2015) wohl ohnehin eher engen - Graubereich bewegen, obliegt es dem BAV, im Rahmen seiner Aufsichtstätigkeit durch Kontrollen oder andere geeignete Massnahmen zu überprüfen, ob die gesetzliche Meldepflicht eingehalten wird. Die Transportunternehmen müssen ihm denn auch jederzeit Auskunft erteilen und sämtliche Dokumente herausgeben (vgl.
Art. 14a Abs. 2 EBG
). Würden wider Erwarten Verstösse gegen die Meldepflicht festgestellt, könnten
BGE 144 II 77 S. 90
diese entsprechend sanktioniert werden (vgl. E. 7.3.2 des angefochtenen Entscheids). Insofern stehen dem BAV entgegen seiner Ansicht alternative Informationsquellen zur Verfügung, weshalb es sich nicht auf ein überwiegendes Interesse an der Geheimhaltung sicherheitsrelevanter Zwischenfälle berufen kann.
5.9
Im Weiteren befürchten die Verfahrensbeteiligten, eine Offenlegung der in der NEDB enthaltenen Gefährdungen und Störungen könnte sich negativ auf ihren Geschäftserfolg auswirken. Dies vermag nicht zu überzeugen. Abgesehen davon, dass Bahnpassagiere einen Anbieter wohl überhaupt erst bei einer aussergewöhnlichen und damit unwahrscheinlichen Häufung von mehreren schwerwiegenden Vorfällen zu meiden begännen, besteht auf den meisten Strecken im öffentlichen Verkehr ohnehin kein wirkliches Alternativangebot. Auch ist entgegen der Auffassung der Verfahrensbeteiligten nicht ersichtlich, inwiefern dem Informationsbedürfnis des Beschwerdegegners durch die Veröffentlichungen der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) bereits entsprochen sein soll. Da die SUST ihrem Auftrag zufolge lediglich Unfälle und gefährliche Ereignisse untersucht (vgl. Art. 20 Abs. 1 i.V.m.
Art. 15 VSZV
; zur genaueren Umschreibung der meldepflichtigen Vorfälle siehe www. sust.admin.ch/de/themen/meldung-eines-ereignisses, besucht am 27. September 2017) und darüber Bericht erstattet (vgl.
Art. 53 Abs. 1 VSZV
), weitere in der NEDB vermerkte Zwischenfälle aber ausklammert, bleibt der Informationsgehalt ihrer Tätigkeit hinter dem zurück, mit dem bei einer Zugangsgewährung gerechnet werden kann.
5.10
Zusammenfassend ergibt sich, dass die geltend gemachten Interessen an einer Zugangsverweigerung zu den in der NEDB enthaltenen Gefährdungen und Störungen der 26 wichtigsten Schweizer Transportunternehmen das durch das Öffentlichkeitsprinzip statuierte Transparenzinteresse nicht zu überwiegen vermögen. Dieses erweist sich denn auch als besonders gewichtig, zumal an der Offenlegung von Zwischenfällen im öffentlichen Verkehr ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Dabei ist nicht auszuschliessen, dass die durch die Bekanntgabe gewährleistete Kontrolle durch die Öffentlichkeit die betroffenen Transportunternehmen inskünftig dazu veranlassen könnte, meldepflichtige Ereignisse durch verstärkte Schutzvorkehrungen zu verringern, was der Sicherheit im öffentlichen Verkehr wiederum zuträglich wäre. Ausserdem ist auch insoweit von einem gesteigerten öffentlichen Informationsinteresse auszugehen, als die Transportunternehmen grundsätzlich in einem Konzessionsverhältnis zum Gemeinwesen stehen, aus dem ihnen erhebliche Vorteile
BGE 144 II 77 S. 91
erwachsen (vgl.
Art. 6 Abs. 2 lit. c der Verordnung vom 24. Mai 2006 über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung [VBGÖ; SR 152.31]
). Hinzu kommt, dass diese Betriebe staatlich beherrscht sind oder die öffentliche Hand zumindest anteilsmässig an ihnen beteiligt ist, sie mithin eine gewisse Staatsnähe aufweisen und durch Steuergelder (mit-)finanziert werden, was ebenfalls ein erhöhtes Interesse der Öffentlichkeit an der Offenlegung der umstrittenen Informationen zu begründen vermag. Da die betroffenen Transportunternehmen unbestrittenermassen vom BAV bereits im Sinne von
Art. 11 Abs. 1 BGÖ
angehört worden sind, lässt die Zugangsgewährung zu den nachgesuchten Personendaten keine Bundesrechtswidrigkeit erkennen. | de |
8896c3b9-0e25-46f5-910f-dd6fa25439b1 | Sachverhalt
ab Seite 239
BGE 101 IV 238 S. 239
A.-
Am 5. Februar 1974, um 13.45 Uhr lenkte Jucker einen VW-Lieferwagen mit 30-40 km/Std. in Wallisellen vom Kreuzplatz her durch die Rosenbergstrasse. Unmittelbar nach der rechtsseitigen Einmündung der Kirchstrasse zweigt von der Rosenbergstrasse nach links in spitzem Winkel die Säntisstrasse ab. Die Spitze des durch diese Strassen gebildeten Winkels besteht in einer 2,30 m langen und 0,60 m breiten, über das Strassenniveau erhöhten kleinen Plattform ("Bödeli"). (Skizze nicht wiedergegeben)
Als Jucker sich der Verzweigung näherte, um nach links in die Säntisstrasse abzubiegen, überquerte die 79jährige Emma Fetz mit nach rechts abgewandtem Blick ausserhalb des Fussgängerstreifens von rechts nach links die Rosenbergstrasse bis zum "Bödeli". Danach betrat sie die Säntisstrasse, um auch diese zu überqueren. In diesem Augenblick wurde sie von Jucker angefahren. Sie erlitt dabei schwere Verletzungen, denen sie einige Stunden nach dem Unfall erlag.
BGE 101 IV 238 S. 240
B.-
Das Bezirksgericht Bülach verurteilte Jucker am 26. September 1974 wegen fahrlässiger Tötung und Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges (
Art. 93 Ziff. 2 SVG
in Verbindung mit
Art. 34 Abs. 1 BAV
) zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 500.--.
Am 17. Dezember 1974 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich den erstinstanzlichen Entscheid.
C.-
Jucker führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt Freisprechung vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Verurteilung wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges (defekte Hupe) wird vom Beschwerdeführer nicht angefochten. Zur Beurteilung steht somit nur die Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung.
2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe keine Verkehrsregeln verletzt. Frau Fetz habe für ihn überraschend und in unverständlicher Weise die Säntisstrasse in einem Zeitpunkt betreten, als der Unfall unvermeidbar gewesen sei. Sie habe die Rosenbergstrasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens überquert und auch die Säntisstrasse an einem Ort betreten, wo sich kein solcher befunden habe. Der nächste Streifen sei 14 m entfernt gewesen. Auch wenn Rosenberg- und Säntisstrasse häufig an der betreffenden Stelle überschritten würden, wozu das "Bödeli" geradezu einlade, habe Frau Fetz ihm doch gemäss
Art. 47 Abs. 5 VRV
den Vortritt lassen müssen. Das Vortrittsrecht gelte zwar nicht absolut. Vielmehr habe auch der Vortrittsberechtigte alles zu tun, um einen Unfall zu vermeiden, wenn Anzeichen für ein Fehlverhalten eines andern Strassenbenützers beständen. Solche Anzeichen müssten jedoch derart erheblich sein, dass die Gefahr eines Unfalls als "imminent" erscheine. Aus der Tatsache allein, dass ein Fussgänger trotz der Nähe eines Streifens ausserhalb eines solchen die Strasse überquere, könne und müsse noch nicht geschlossen werden, er werde einem sich nähernden Motorfahrzeug den Vortritt nicht lassen.
Im vorliegenden Fall habe die Vorinstanz zu Unrecht solche Anzeichen für ein Fehlverhalten der Frau Fetz bejaht. Diese habe die beiden Strassen nicht in einem Zuge überquert. Zuerst habe sie die Rosenbergstrasse überschritten und diese Phase mit dem Erreichen des "Bödelis" abgeschlossen. Dieses sei
BGE 101 IV 238 S. 241
eine Anlage, welche dem Fussgänger das gefahrlose Überqueren der beiden Strassen ermöglichen solle. Indessen müsse er auf dem Bödeli stehen bleiben und sich vor dem Betreten der zweiten Strasse neu orientieren. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach er als Fahrzeugführer dem entgegen nicht mit einem Sicherheitshalt habe rechnen dürfen, weil das Bödeli keine Fussgängerinsel sei, treffe daher nicht zu. Wenn schon nach
BGE 94 IV 142
der Motorfahrzeugführer nicht verpflichtet sei, bei einem von links kommenden Fussgänger seine Geschwindigkeit herabzusetzen, weil er davon ausgehen dürfe, dieser werde in der Strassenmitte anhalten, so habe der Beschwerdeführer umso mehr damit rechnen dürfen, Frau Fetz werde auf der kleinen Plattform anhalten und sich vergewissern, ob ein Überqueren der Säntisstrasse möglich sei.
Mit einem andern Verhalten habe er auch nicht deswegen rechnen müssen, weil die Fussgängerin nur nach rechts geblickt habe. Dass sie dies auf der zweiten Hälfte der Rosenbergstrasse getan habe, sei durchaus vernünftig gewesen, da sie einen allfälligen Verkehr aus jener Richtung habe erwarten müssen. Auf dem Bödeli habe sich dann auch die zuvor verdeckte Sicht nach rechts in die Säntisstrasse geöffnet, sodass ihr Verhalten auch in diesem Zeitpunkt natürlich gewesen sei. Die Dauer, während welcher sie unverwandt nach rechts geblickt habe, sei von der Vorinstanz selber mit 2,7 Sekunden angegeben worden, was nicht aussergewöhnlich lange gewesen sei.
Sodann könne auch aus dem Umstand, dass er Bremsbereitschaft erstellt habe, nichts für ihn Nachteiliges gefolgert werden. Schliesslich habe die Vorinstanz nicht geprüft, ob er hätte erkennen können, dass es sich bei der Fussgängerin um eine alte Frau gehandelt habe. Er hätte dies tatsächlich nicht tun können, weil die Fussgängerin während der Zeit, da er sie beobachtet habe, nicht nach seiner Seite hin geblickt habe. Ihr Gang aber sei normal gewesen und habe nicht auf ihr hohes Alter schliessen lassen. Auch Zeugen hätten sie nicht als alte Frau erkannt. Er habe deshalb keinen Grund gehabt, seine an sich geringe Geschwindigkeit noch zu mässigen oder ein Warnsignal zu geben.
3.
Der Beschwerdeführer war gegenüber der Fussgängerin, welche die beiden Strassen ausserhalb eines Fussgängerstreifens zu überqueren beabsichtigte, unzweifelhaft vortrittsberechtigt
BGE 101 IV 238 S. 242
(
Art. 47 Abs. 5 VRV
;
BGE 97 IV 127
). Er musste deshalb die Geschwindigkeit von 30 km/Std., welche auch von der Vorinstanz als an sich angemessen bezeichnet wird, nicht wegen der die Rosenbergstrasse in Richtung auf das "Bödeli" überquerenden Fussgängerin zum vorneherein herabsetzen. Dazu bestand auch nicht deswegen Anlass, weil Frau Fetz auf der zweiten Hälfte der Rosenbergstrasse nach rechts blickte. Wie der Beschwerdeführer mit Fug geltend macht, war dieses Verhalten durchaus vernünftig, weil jener Raum dem für die Fussgängerin von rechts kommenden Verkehr zustand. In dieser Phase des Geschehens lag deshalb im Verhalten der Fussgängerin noch kein Indiz dafür, dass sie in der Folge in die Bahn des Beschwerdeführers hineinlaufen würde.
4.
Dagegen stellt sich die Frage, ob in deren Benehmen nach Erreichen der kleinen Plattform ein solches Anzeichen zu erblicken war.
Die Auffassung der Vorinstanz, wonach es sich bei dem "Bödeli" nicht um eine der in verkehrsreichen Strassen üblicherweise zum Schutz der Fussgänger angelegte Schutzinsel handle und sich der Beschwerdeführer deshalb nicht darauf habe verlassen dürfen, dass die Geschädigte auf jener Plattform vor dem Betreten der Säntisstrasse einen Sicherheitshalt machen und sich vergewissern werde, ob aus der Anfahrtsrichtung des Beschwerdeführers nicht Fahrzeuge herannahen würden, vermag nicht zu überzeugen. Wohl trifft es zu, dass das besagte "Bödeli" nicht durch Fussgängerstreifen mit den gegenüberliegenden Strassenrändern verbunden ist und damit nicht dem entspricht, was üblicherweise als Fussgängerschutzinsel gilt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die den Winkel zwischen den beiden Strassen ausfüllende Rabatte von den Behörden selber so ausgestaltet worden ist, dass deren Spitze nicht wie der übrige Teil bepflanzt, sondern geteert ist. Damit aber - und insoweit ist dem Beschwerdeführer beizupflichten - wurde faktisch eine Anlage geschaffen, die derjenigen einer üblichen Schutzinsel entspricht (BUSSY/RUSCONI, N. 3 zu
Art. 7 VRV
), bzw. von den Strassenbenützern als solche verstanden werden konnte, zumal das Gesetz den Begriff der Verkehrsinsel (
Art. 7 Abs. 3 VRV
) nicht näher umschreibt. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden, der Automobilist dürfe (immer unter Vorbehalt anderer Gefahrenzeichen) sich nicht darauf verlassen, dass ein Fussgänger, der
BGE 101 IV 238 S. 243
sich von der einen Seite auf eine solche Plattform hinbewegt, auf dieser einen Sicherheitshalt einschalte, bevor er die Insel nach der andern Seite hin verlässt, um die andere Fahrbahn zu überqueren. Eine solche Betrachtungsweise liesse ausser acht, dass es in erster Linie Pflicht des wartepflichtigen Fussgängers ist, in solcher Lage besondere Vorsicht an den Tag zu legen, und dass deshalb der Motorfahrzeugführer - mit Ausnahme der in
Art. 26 Abs. 2 SVG
genannten Fälle - als selbstverständlich voraussetzen darf, der Fussgänger werde erst recht auf der Plattform anhalten und sich nach dem Verkehr auf der vor ihm durchgehenden Fahrbahn umsehen, da er die Strasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens überquert (s.
BGE 94 IV 142
,
BGE 97 IV 127
). Der Beschwerdeführer musste somit nicht schon deswegen, weil das "Bödeli" nicht den üblichen Anlagen einer Schutzinsel entsprach, mit der nahen Möglichkeit rechnen, dass Frau Fetz, die zuvor keine besondere Eile gezeigt hatte, ihren Weg nach Erreichen der Plattform praktisch in einem Zuge fortsetze, wie das die Vorinstanz annahm (
BGE 96 IV 132
,
BGE 97 IV 127
).
Unter diesen Umständen genügte der Beschwerdeführer seiner Vorsichtspflicht, wenn er in diesem Moment, d.h. als sich die Fussgängerin noch auf dem "Bödeli" befand, bloss Bremsbereitschaft erstellte. In dieser Phase des Geschehens war er demnach nicht verpflichtet, sein Fahrzeug bereits abzubremsen, da er damit rechnen durfte, Frau Fetz werde vor dem Betreten der Säntisstrasse noch nach links blicken. Das Bremsmanöver musste er erst dann beginnen, als die Fussgängerin das "Bödeli" verliess und auf die Säntisstrasse hinaustrat.
5.
Da die fahrlässige Tötung ein Erfolgsdelikt ist, stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer zeitlich überhaupt in der Lage war, sein Fahrzeug vor der Fussgängerin anzuhalten. Die Vorinstanz hat das bejaht, jedoch aufgrund einer zeitlichen Berechnung, die von dem Augenblick ausging, in welchem der Beschwerdeführer Frau Fetz zum ersten Mal erblickte, m.a.W., als diese noch auf der Rosenbergstrasse 1,50 m vom "Bödeli" entfernt war. Wie bereits ausgeführt, hat jedoch der Beschwerdeführer in diesem Zeitpunkt allein deswegen, weil Frau Fetz stets nach rechts blickte, noch keine Veranlassung gehabt, mit einem Fehlverhalten der Fussgängerin zu rechnen (Erw. 3 oben). Anders wäre es nur dann, wenn
BGE 101 IV 238 S. 244
anzunehmen wäre, der Beschwerdeführer habe schon in jenem Zeitpunkt erkennen können, dass es sich um eine betagte Frau gehandelt hat, die sich infolge ihres Alters nicht mehr verkehrsgerecht verhalten werde. Wie es sich damit verhielt, hat das Obergericht offen gelassen. Die Frage ist indessen zu entscheiden.
Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie zu diesem Punkt Stellung nehme. Sollte sie nach Anhörung des Beschwerdeführers (
BGE 74 I 10
, 98 IV 59) zu einer positiven Beantwortung der Frage gelangen, dann hätte dieser schon als er sah, dass Frau Fetz ausserhalb eines Fussgängerstreifens die Rosenbergstrasse überquerte, alles zur Vermeidung des Unfalls vorkehren müssen, denn "alten" Leuten gegenüber kann sich der Führer nicht auf das Vertrauensprinzip berufen (
Art. 26 Abs. 2 SVG
; v. WERRA, ZWR 1970, S. 200 Ziff. 2 und S. 203). Diesfalls müsste es auch bei der von der Vorinstanz auf den Seiten 11/12 des angefochtenen Urteils angestellten Berechnung sein Bewenden haben und der Beschwerdeführer wäre erneut der fahrlässigen Tötung schuldig zu erklären.
Im Falle einer negativen Antwort wird die Vorinstanz abzuklären haben, ob der Beschwerdeführer zeitlich in der Lage war, sein Fahrzeug rechtzeitig anzuhalten, als die Fussgängerin die Säntisstrasse betrat. Insbesondere wird zu prüfen sein, in welcher Entfernung sich das Fahrzeug des Beschwerdeführers von Frau Fetz befand, als diese vom "Bödeli" auf die Strasse hinaustrat und in welchem Zeitpunkt der Beschwerdeführer zu bremsen begann. Zeigt es sich anhand der erneut anzustellenden Berechnungen, dass dieser vom Moment an, wo die Fussgängerin das "Bödeli" verliess, auch bei Vollbremsung einen Zusammenstoss nicht mehr vermeiden konnte, so wird er vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freizusprechen sein, zumal ihm keine Anzeichen den Eindruck vermittelten, die Fussgängerin werde sich unkorrekt verhalten und ihm den Vortritt nicht lassen. | de |
55b8ec93-23da-47d7-a3c7-cb7ce5cc2302 | Sachverhalt
ab Seite 275
BGE 112 V 275 S. 275
A.-
Der 1953 geborene französische Staatsangehörige Claude Weiss arbeitete seit Juli 1978 als Grenzgänger in einer der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unterstellten Schiffahrts- und Speditionsunternehmung in Basel. Am 13. September 1982 erlitt er bei einem Arbeitsunfall ein schweres Schädel-Hirntrauma mit Schädelbasisfraktur und Hirnödem. Die SUVA kam für die Heilbehandlung sowie für die Nachbehandlung (in der Rehabilitationsklinik Bellikon) auf und gewährt dem Versicherten ab 1. August 1985 aufgrund einer 100%igen Invalidität eine Rente.
Am 21. Juli 1983 meldete sich Claude Weiss bei der Invalidenversicherung an und beantragte die Gewährung von Berufsberatung, Umschulung und einer Rente. Die Invalidenversicherungs-Kommission stellte fest, dass die 360tägige Wartezeit gemäss Art. 29 Abs. 1 Variante 2 IVG am 7. September 1983 endete und dass der Invaliditätsgrad 100% betrug. Demgemäss sprach die
BGE 112 V 275 S. 276
Schweizerische Ausgleichskasse dem Versicherten ab 1. September 1983 eine ganze Invalidenrente (nebst Zusatzrente für die Ehefrau) zu (rechtskräftige Verfügung vom 11. Mai 1984).
Mit Verfügung vom 10. Januar 1984 wies die Ausgleichskasse das Gesuch um berufliche Eingliederungsmassnahmen ab, weil bei Eintritt des Versicherungsfalles der Umschulung die versicherungsmässigen Voraussetzungen gemäss Art. 11 des schweizerisch-französischen Abkommens über Soziale Sicherheit (vom 3. Juli 1975) nicht erfüllt gewesen seien.
B.-
Claude Weiss beschwerte sich gegen die Verfügung vom 10. Januar 1984 und beantragte, es seien ihm die zu seiner Wiedereingliederung erforderlichen Massnahmen beruflicher Art zu gewähren. Mit Entscheid vom 21. Februar 1985 hiess die Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen die Beschwerde gut.
C.-
Das Bundesamt für Sozialversicherung erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid vom 21. Februar 1985 und beantragt dessen Aufhebung. Claude Weiss lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Die Ausgleichskasse sieht von einer Stellungnahme ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen der Invalidenversicherung ist, dass der Ansprecher im Zeitpunkt des Versicherungsfalles versichert ist (
Art. 6 Abs. 1 IVG
). Über den Status als Versicherter enthält Art. 11 des (hier unbestrittenermassen anwendbaren) schweizerisch-französischen Sozialversicherungsabkommens (vom 3. Juli 1975) folgende Bestimmungen für französische Grenzgänger:
"Für den Erwerb des Anspruches auf eine Leistung der schweizerischen Invalidenversicherung gelten in der Schweiz wohnhafte französische Staatsangehörige und Grenzgänger, die ihre Erwerbstätigkeit in der Schweiz infolge Krankheit oder Unfalls aufgeben müssen, deren Invalidität aber in diesem Land festgestellt wird, für die Dauer eines Jahres, gerechnet vom Zeitpunkt der zur Invalidität führenden Arbeitsunterbrechung als Versicherte im Sinne der schweizerischen Gesetzgebung und haben Beiträge an die schweizerische Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung zu entrichten, als hätten sie Wohnsitz in der Schweiz."
Es ist demnach entscheidend, in welchem Zeitpunkt der Versicherungsfall eingetreten ist: ob vor oder nach Ablauf des Jahres
BGE 112 V 275 S. 277
seit dem "Zeitpunkt der zur Invalidität führenden Arbeitsunterbrechung", konkret vor oder nach dem 13. September 1983.
b) Gemäss
Art. 4 Abs. 2 IVG
gilt die Invalidität als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat. Nach der Gerichtspraxis ist dieser Zeitpunkt objektiv aufgrund des Gesundheitszustandes des Versicherten festzustellen; zufällige externe Faktoren (wie z.B. eine noch ungenügend entwickelte Operationstechnik: EVGE 1969 S. 221) sind unerheblich (
BGE 111 V 121
Erw. 1d mit Hinweisen).
Vor der Einfügung des Abs. 2 in
Art. 4 IVG
(auf 1. Januar 1968) bestand eine gewisse Unsicherheit darüber, ob ein und derselbe Gesundheitsschaden mehrere (sukzessive) Versicherungsfälle bewirken könne (vgl. EVGE 1966 S. 178, wo das Eidg. Versicherungsgericht eine solche Möglichkeit bezweifelte, die Frage aber offenlassen konnte). Mit Erlass des Abs. 2 von Art. 4 erfolgte die Klarstellung: da diese Bestimmung von der "jeweiligen Leistung" spricht, ist es grundsätzlich möglich, dass ein und derselbe Gesundheitsschaden mehrere Versicherungsfälle bewirkt; "ein solcher Schaden kann nämlich unter Umständen - zur gleichen Zeit oder zeitlich gestaffelt - die Voraussetzungen für sehr verschiedene Leistungsarten (eine oder mehrere Eingliederungsmassnahmen, Rentenleistungen, Hilflosenentschädigungen) erfüllen" (
BGE 105 V 61
Erw. 2c).
2.
a) Gestützt auf Art. 11 des Sozialversicherungsabkommens war der Beschwerdegegner bis zum 13. September 1983 (ein Jahr nach dem Unfall vom 13. September 1982) in der schweizerischen Invalidenversicherung versichert. Unbestrittenermassen trat hinsichtlich des Rentenanspruchs der Versicherungsfall vor jenem Datum ein, nämlich am 7. September 1983 gemäss Art. 29 Abs. 1 Variante 2 IVG. Dementsprechend wurde ihm die Invalidenrente zugesprochen. Streitig ist dagegen, in welchem Zeitpunkt der Versicherungsfall bezüglich beruflicher Eingliederungsmassnahmen eingetreten war.
b) In tatbeständlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass mit der Berufsberatung bereits während des ersten Aufenthalts des Beschwerdegegners in der Rehabilitationsklinik Bellikon (8. November 1982 - 24. Juni 1983) begonnen wurde. Offensichtlich wurde die Berufsberatung von den zuständigen Instanzen der SUVA zu jener Zeit als indiziert erachtet. Für den Anspruch gegenüber der Invalidenversicherung ist es irrelevant, dass die
BGE 112 V 275 S. 278
Massnahme bereits vor der Anmeldung (21. Juli 1983) im Sinne von
Art. 4 Abs. 2 IVG
indiziert war (
BGE 103 V 131
oben). Bezüglich der Berufsberatung erfüllte somit der Beschwerdegegner die versicherungsmässigen Voraussetzungen des Sozialversicherungsabkommens. Indes ist der Anspruch nicht mehr aktuell, weil die Berufsberatung in Bellikon faktisch - wenn auch ohne Erfolg - durchgeführt worden ist.
c) Effektiver Streitpunkt ist der Anspruch auf Umschulung gemäss
Art. 17 IVG
. Aus den Berichten der Rehabilitationsklinik Bellikon vom 28. Juni und 7. Juli 1983 ergibt sich, dass in der Zeit bis 13. September 1983 von der Möglichkeit einer Umschulung keine Rede sein konnte. Im Sommer 1983 war der psychische Zustand des Beschwerdegegners so schlecht, dass ein dreimonatiger Behandlungsunterbruch (bis zum Wiedereintritt am 29. September 1983) eingeschaltet werden musste. Art und Schwere des damaligen Gesundheitszustandes erlaubten keine Umschulungsmassnahmen. Betrachtet man den Umschulungsanspruch für sich allein genommen, so war der Versicherungsfall bis zum 13. September 1983 nicht eingetreten.
Unbehelflich ist der Einwand, es habe schon vor dem 13. September 1983 festgestanden, dass der Beschwerdegegner die frühere Arbeit niemals wieder werde verrichten können und dass deshalb eine Umschulung unumgänglich sein werde. Das ist wohl richtig, aber nicht entscheidend. Die Notwendigkeit späterer Eingliederungsmassnahmen (z.B. einer Umschulung) ist oft schon kurz nach dem invalidisierenden Ereignis erkennbar. Diese Erkenntnis bedeutet aber nicht den Eintritt des für diese Versicherungsleistung massgebenden Versicherungsfalles. Hierfür massgebend ist vielmehr der Zeitpunkt, in dem die Invalidität nach ihrer aktuellen Art und Schwere die Eingliederungsmassnahme einerseits erheischt und anderseits ermöglicht. Daher wird z.B. bei den medizinischen Eingliederungsmassnahmen verlangt, dass keine Gegenindikation besteht (
BGE 105 V 60
Erw. 2a). Im vorliegenden Fall ist es offensichtlich und durch die Berichte der Rehabilitationsklinik Bellikon belegt, dass Umschulungsmassnahmen vor dem 13. September 1983 gänzlich ausgeschlossen waren.
3.
a) Die Vorinstanz hat die Beschwerde im wesentlichen mit der Begründung gutgeheissen, der Eintritt des Versicherungsfalles bezüglich der Berufsberatung müsse für alle "Massnahmen beruflicher Art generell" gelten. Insbesondere würden Berufsberatung und Umschulung eng zusammenhängen, indem die Berufsberatung
BGE 112 V 275 S. 279
"der erste Schritt im Hinblick auf die berufliche Wiedereingliederung [gewesen sei], welcher zur Abklärung der offensichtlich als notwendig erkannten Umschulungsmassnahmen unternommen wurde".
In gleicher Richtung argumentiert der Beschwerdegegner, der es als nicht angängig erachtet, "den zeitlichen Eintritt des Versicherungsfalles für einen Teil der Massnahmen beruflicher Art, nämlich die Berufsberatung, vom zeitlichen Eintritt des Versicherungsfalles für die übrigen Massnahmen beruflicher Art abzuspalten. Hinsichtlich sämtlicher Massnahmen beruflicher Art tritt der Versicherungsfall zeitlich einheitlich ein."
b) In
BGE 105 V 58
, wo es um zwei sukzessiv notwendig gewordene Eingliederungsmassnahmen ging - zunächst um Sonderschulung auf der Kindergartenstufe (
Art. 19 Abs. 3 IVG
,
Art. 12 Abs. 1 lit. b IVV
) und ein paar Jahre später um Sonderschulung während der obligatorischen Schulpflicht (
Art. 19 Abs. 1 IVG
,
Art. 8 IVV
) -, fand das Gericht, es handle sich nicht um unterschiedliche Leistungskategorien; ohne Rücksicht auf die Altersstufe stellten alle von Gesetz und Verordnung vorgesehenen Sonderschulmassnahmen zusammen "ein einheitliches, sich ergänzendes Massnahmenbündel mit im wesentlichen gleicher Zielsetzung dar. Tritt die Invalidität in bezug auf die Sonderschulung deshalb ... bereits im Vorschulalter ein, so löst der Übertritt in die Sonderschule bei Erreichen des entsprechenden Alters keinen neuen Versicherungsfall aus" (S. 62).
Diese Praxis betreffend die Sonderschule kann nicht auf die beruflichen Massnahmen übertragen werden. Zwar ist richtig, dass zwischen Berufsberatung und Umschulung sachlich ein enger Zusammenhang besteht, und des öftern wird - was in casu allerdings nicht der Fall war - die letztere unmittelbar an die erstere anschliessen. Dies ändert aber nichts daran, dass es zwei verschiedene Leistungen sind, sowohl inhaltlich wie gemäss der gesetzlichen Normierung. Sodann ist die Zielsetzung nicht dieselbe. Dabei ist unter dem (in
BGE 105 V 62
verwendeten) Begriff "Zielsetzung" selbstredend nicht das allgemeine Ziel, den Versicherten wieder ins Erwerbsleben einzugliedern, verstanden (andernfalls für sämtliche Eingliederungsmassnahmen, von den medizinischen bis zur Kapitalhilfe, nur ein einziger Versicherungsfall gelten würde); vielmehr geht es um das Ziel jeder einzelnen Massnahme. Mit der Berufsberatung wird klarerweise nicht dasselbe Ziel anvisiert wie mit der Umschulung. Jede der im Gesetz vorgesehenen Massnahmen
BGE 112 V 275 S. 280
beruflicher Art (
Art. 8 Abs. 3 lit. b IVG
) bewirkt daher einen eigenen Versicherungsfall.
Art. 4 Abs. 2 IVG
, der von der "jeweiligen Leistung" der Versicherung spricht, kann nicht anders verstanden und ausgelegt werden (vgl. auch MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 119).
c) Aus diesen Gründen kann der Auffassung von Beschwerdegegner und Vorinstanz nicht gefolgt werden. Der Versicherungsfall der Berufsberatung gilt nicht auch für die Umschulung. Für die letztere ist der Versicherungsfall - wie oben dargelegt - bis zum 13. September 1983 nicht eingetreten. Falls er später eingetreten sein sollte, wäre der Beschwerdegegner nicht mehr versichert gewesen. | de |
0e701bf5-6483-41db-bc5a-e1fca533fcfe | Sachverhalt
ab Seite 287
BGE 109 II 286 S. 287
E. S., geboren 1939, und U. B., geboren 1951, lernten sich im Frühjahr 1968 kennen und heirateten am 28. März 1969. In den Jahren 1969 und 1970 wurden ihnen zwei Söhne und am 22. November 1977 eine Tochter geboren.
Am 15. Oktober 1979 machte der Ehemann die Scheidungsklage anhängig. Die Beklagte erhob Widerklage auf Scheidung. Das Amtsgericht sprach am 18. September 1981 die Scheidung der Ehe auf Begehren beider Parteien gestützt auf
Art. 142 ZGB
aus. Die drei Kinder stellte es unter die elterliche Gewalt der Mutter, und es regelte das Besuchsrecht des Klägers. Diesen verpflichtete es, für die Kinder monatlich je Fr. 440.-- nebst Kinderzulagen und der Beklagten eine Rente von Fr. 200.-- gemäss
Art. 152 ZGB
, begrenzt
BGE 109 II 286 S. 288
auf die Dauer von sechs Jahren, zu bezahlen. Sämtliche Beiträge wurden indexiert.
Die Beklagte zog dieses Urteil an den Appellationshof des Kantons Bern weiter, worauf der Kläger Anschlussappellation erhob. Der Appellationshof hiess beide Appellationen am 10. Juni 1982 teilweise gut. Er erhöhte die Beiträge des Klägers für die Kinder auf je Fr. 480.-- zuzüglich Kinderzulagen und sprach der Beklagten gestützt auf
Art. 151 Abs. 1 ZGB
eine monatliche Rente von Fr. 300.-- für die Dauer von sechs Jahren zu.
Mit Berufung an das Bundesgericht verlangt die Beklagte u.a. für die drei Kinder monatliche Unterhaltsbeiträge von je Fr. 517.-- zuzüglich Kinderzulagen und für sich selber eine Dauerrente gemäss
Art. 151 ZGB
von Fr. 705.-- im Monat.
Der Kläger erhebt Anschlussberufung und beantragt u.a., er sei zu verurteilen, für jedes Kind einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 480.-- nebst Kinderzulagen und für die Beklagte einen solchen von Fr. 200.-- für die Dauer von sechs Jahren gestützt auf
Art. 152 ZGB
zu leisten.
Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut und verpflichtet den Kläger, der Beklagten gemäss
Art. 151 Abs. 1 ZGB
eine monatliche indexierte Rente von Fr. 500.-- bis zum 30. November 1993 zu bezahlen. Die Anschlussberufung weist es ab und bestätigt im übrigen das angefochtene Urteil. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
a) Die Vorinstanz hat der Beklagten gestützt auf
Art. 151 Abs. 1 ZGB
eine Unterhaltsersatz- und Entschädigungsrente von Fr. 300.--, begrenzt auf sechs Jahre, zuerkannt. In seiner Anschlussberufung bestreitet der Kläger einen solchen Anspruch. Er möchte seiner Ehefrau lediglich eine Bedürftigkeitsrente von Fr. 200.--, ebenfalls begrenzt auf die Dauer von sechs Jahren, zugestehen. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Wie der Appellationshof zutreffend festgehalten hat, ist das Verschulden der ansprechenden Ehefrau, falls überhaupt von einem solchen gesprochen werden kann, angesichts der gesamten Umstände des vorliegenden Falles als leicht zu bewerten, das für die Zerrüttung zudem nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Das wird vom Kläger nicht ernsthaft bestritten. Auf der andern Seite aber muss das Verschulden des Klägers selbst als durchaus gewichtig betrachtet werden, wie dies in Erwägung 3 dargelegt wurde. Dass
BGE 109 II 286 S. 289
daneben erhebliche objektive Faktoren mit zur Ehezerrüttung beigetragen haben, vermag den Kläger unter dem Gesichtspunkt des
Art. 151 ZGB
nicht zu entlasten.
b) Der Appellationshof hat daher zu Recht einen Unterhaltsersatz- und Entschädigungsanspruch der Beklagten gestützt auf
Art. 151 Abs. 1 ZGB
bejaht. Fraglich ist demnach nur, ob eine entsprechende Rente unter den hier gegebenen Verhältnissen auf Dauer hätte zugesprochen werden müssen, wie es die Beklagte verlangt. Sie verweist zur Begründung ihres Anspruchs auf die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach immer dann, wenn Kinder aus der Ehe hervorgegangen und der Mutter zugeteilt worden sind, eine zeitliche Begrenzung der Rente grundsätzlich auszuschliessen war (
BGE 98 II 166
und
BGE 97 II 10
E. 4). In einem neuen Entscheid hat das Bundesgericht indessen an dieser Praxis nicht mehr festgehalten (
BGE 109 II 185
E. 5). Es hat darauf hingewiesen, dass die bisherige Betrachtungsweise der wirklichen Lage nicht immer gerecht werde; denn es könne nicht gesagt werden, dass jede Frau, die Kinder geboren und auferzogen hat und deren Lebensbedingungen sich dadurch zugegebenermassen grundlegend und dauernd verändert haben, infolge der Scheidung auch stets einen dauernden finanziellen Schaden erleide. Vielmehr sei in jedem konkreten Fall abzuklären, ob eine geschiedene Frau trotz Kinderbetreuung sich auf längere Sicht eine wirtschaftliche Situation werde schaffen können, in der sie nicht schlechter gestellt sein werde, als wenn sie die Ehe nicht eingegangen wäre. Treffe dies zu, rechtfertige sich eine lebenslange Bindung finanzieller Art an den früheren Ehegatten im Sinne einer Dauerrente nicht. Gemäss dieser neuen Rechtsprechung sind bei der Abklärung der Dauer der Leistungspflicht folgende Faktoren zu berücksichtigen: die Dauer der Ehe, die Schwere des Verschuldens des pflichtigen Ehegatten, das Alter und der Gesundheitszustand des anspruchsberechtigten Gatten, seine Ausbildung, seine finanzielle Situation und die allgemeine Wirtschaftslage sowie die dem Gatten wieder offenstehende Möglichkeit, ganz oder teilweise einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Eine Rente ist aber mindestens für so lange zuzusprechen, als die der Ehefrau zugeteilten Kinder eine umfassende Fürsorge und Pflege benötigen, was bis zum 16. Altersjahr des jüngsten Kindes zutreffen dürfte, sowie für die mutmassliche Dauer einer allfälligen beruflichen Wiedereingliederung der Ehefrau.
BGE 109 II 286 S. 290
Der Appellationshof hat im vorliegenden Fall alle diese Kriterien ausser acht gelassen. Er hat lediglich festgehalten, bezüglich der Dauer der Leistungspflicht des Klägers sei in Übereinstimmung mit der Vorinstanz und üblicher Praxis folgend etwa auf die halbe Ehedauer abzustellen. Ein Unterhaltsbeitrag für die Dauer von sechs Jahren sei daher angemessen. Er fügte noch bei, eine Dauerrente sei im übrigen schon deswegen nicht zuzusprechen, weil es der noch jungen Beklagten im Zeitpunkt, wo ihre Kinder dies altersmässig erlaubten, durchaus zumutbar sei, einer zusätzlichen Arbeit ausser Hauses nachzugehen. Soweit sich der Appellationshof auf die im Kanton Bern übliche Praxis, den Rentenanspruch auf die halbe Ehedauer zu beschränken, beruft, kann ihm nicht gefolgt werden. Eine solche Lösung ist zu schematisch und widerspricht dem den Art. 151/52 ZGB zugrundeliegenden Grundsatz, die Rentenansprüche nach Recht und Billigkeit, d.h. unter Beachtung aller massgebenden Gesichtspunkte und konkreten Umstände, zu bemessen. Sie ist daher mit dem Bundesrecht nicht vereinbar.
Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass die Beklagte sehr jung, im 18. Altersjahr, geheiratet hat und heute erst 32 Jahre alt ist. Ihre Kinder sind 14-, 13- und 6jährig. Die Beklagte hat keinen Beruf erlernt, was allerdings auf die Einstellung ihrer Eltern und nicht auf ihre frühe Eheschliessung zurückzuführen ist. Sie hat aber stets auf dem elterlichen Bauernhof gearbeitet und könnte daher im Zeitpunkt, in welchem ihr jüngstes Kind ins Lehrlingsalter treten wird, d.h. in zehn Jahren, diese Arbeit entweder noch ausdehnen oder eine Stelle annehmen, an der sie ähnliche Arbeit verrichten kann. Für sie hat sich in dieser Hinsicht durch die Eheschliessung nicht viel geändert. Die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Dauerrente sind daher nicht gegeben. Allerdings wäre die Beklagte angesichts der guten wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers bei Fortsetzung der Ehe wohl kaum je gezwungen gewesen, durch Erwerbsarbeit für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Das hindert aber nicht, ihr dies zuzumuten, wenn ihr jüngstes Kind 16 Jahre alt sein wird. Bis dahin hätte sie auch Zeit, sich allenfalls um eine geeignete Ausbildung zu bemühen.
Dem Begehren der Beklagten ist daher in dem Sinne teilweise zu entsprechen, als die ihr gemäss
Art. 151 Abs. 1 ZGB
zustehende Rente während zehn Jahren, d.h. bis zum 30. November 1993 (am 22. November 1977 wurde ihr jüngstes Kind geboren), auszurichten ist. | de |
44f96cc6-14f1-4265-b66d-18670dfe56ce | Sachverhalt
ab Seite 397
BGE 112 V 397 S. 397
A.-
Der 1954 geborene Versicherte war seit 1. Oktober 1983 arbeitslos. Am 18. Mai 1984 stellte er bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau ein Gesuch um Bewilligung eines viermonatigen Spanischkurses in Malaga, was das Industrie-, Gewerbe- und Arbeitsamt des Kantons Aargau (KIGA) ablehnte.
B.-
Der Versicherte beschwerte sich beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit dem Antrag, es seien ihm 62 Taggelder (total Fr. 8'525.--) auszurichten. Auf die Bezahlung der eigentlichen Kurskosten verzichte er.
Das kantonale Gericht wies die Beschwerde am 7. Mai 1985 ab mit der Begründung, dass der Sprachkurs höchstens eine allgemeine berufliche Weiterbildung und nicht eine Weiterbildung im
BGE 112 V 397 S. 398
arbeitslosenversicherungsrechtlichen Sinne darstelle. Die Vermittlungsfähigkeit sei durch den Sprachkurs nicht spezifisch verbessert worden.
C.-
Der Versicherte führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und wiederholt den vorinstanzlich gestellten Antrag.
Das KIGA und das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss
Art. 1 Abs. 2 AVIG
gehört zu den Zielen des Gesetzes, drohende Arbeitslosigkeit zu verhüten und bestehende zu bekämpfen. Diesem Zwecke dienen die sog. Präventivmassnahmen (Art. 59 bis 75 AVIG). Die Arbeitslosenversicherung fördert durch finanzielle Leistungen die Umschulung, Weiterbildung oder Eingliederung von Versicherten, deren Vermittlung aus Gründen des Arbeitsmarktes unmöglich oder stark erschwert ist (
Art. 59 Abs. 1 AVIG
). Die Umschulung, Weiterbildung oder Eingliederung muss die Vermittlungsfähigkeit verbessern (
Art. 59 Abs. 3 AVIG
). Die Grundausbildung und die allgemeine Förderung der beruflichen Weiterbildung sind dagegen nicht Sache der Arbeitslosenversicherung (
BGE 111 V 274
und 400 f. mit Hinweisen; ARV 1986 Nr. 17 S. 65 Erw. 2).
Die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen zur Ausrichtung von Leistungen gegeben sind, hat prospektiv zu erfolgen, und zwar im Zeitpunkt, da das Gesuch eingereicht wird.
Anspruchsberechtigte Kursteilnehmer können Taggelder erhalten. Die Kasse ersetzt die nachgewiesenen notwendigen Auslagen für Kursbeiträge und Lehrmittel sowie für Reisekosten. Ferner gewährt sie einen angemessenen Beitrag an die Auslagen für Unterkunft und Verpflegung am Kursort (
Art. 61 AVIG
).
b) Öffentliches Recht gilt grundsätzlich nur in dem Staate, der es erlässt. Es untersteht somit dem Territorialprinzip. Ausserhalb seiner Grenzen kann es im Sinne von Ausnahmen gelten. Diese Überlegungen treffen auch auf das Sozialversicherungsrecht zu; denn es ist als Verwaltungsrecht dem öffentlichen Recht zugeordnet (vgl. MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 202).
Im unveröffentlichten Urteil Parzani vom 19. März 1986 nahm das Eidg. Versicherungsgericht eine solche Ausnahme bezüglich
BGE 112 V 397 S. 399
der Ausrichtung von Leistungen gemäss
Art. 61 AVIG
bei Besuch von Kursen im Ausland an. Jedoch müssen für die ausnahmsweise Gewährung solcher Leistungen triftige Gründe gegeben sein. Eine zurückhaltende Praxis ist nach dem erwähnten Urteil Parzani schon deshalb angebracht, weil die erforderlichen Kontrollmöglichkeiten im Ausland erschwert sind, sowohl bezüglich Qualität und Geeignetheit des in Frage stehenden Weiterbildungsinstituts als auch bezüglich des effektiven Besuchs des Kurses durch den Versicherten. Sodann bringt ein im Ausland besuchter Kurs mit sich, dass die Stellensuche in der Regel insofern erschwert wird, als der Versicherte vom heimischen Arbeitsmarkt fern ist. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Versicherte nur Anspruch auf die dem jeweiligen Umschulungs-, Weiterbildungs- und Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen hat, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren. Denn nach einem bei Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung geltenden und auch hier anwendbaren Grundsatz sind die Massnahmen lediglich insoweit zu gewähren, als dies im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (vgl.
BGE 110 V 102
,
BGE 103 V 16
Erw. 1b mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 107 V 88
). Es ist auch nicht Sache der Arbeitslosenversicherung, kulturelle Bedürfnisse abzudecken. Ferner muss der voraussichtliche Erfolg einer Massnahme in einem vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten stehen (vgl. oben zitierte Urteile; erwähntes Urteil Parzani).
Nach dem Gesagten muss demnach ein Anspruch auf Leistungen bei Besuch eines Sprachkurses im Ausland verneint werden, wenn Zweifel an der Zweckmässigkeit des Kurses bzw. Eignung des Schulbetriebes bestehen, die Überprüfbarkeit nicht bejaht werden kann oder wenn zwischen Ziel und aufzuwendenden Mitteln ein vernünftiges Verhältnis verneint werden muss. Sprachkurse im Ausland sind nur dann zu Lasten der Arbeitslosenversicherung zu bewilligen, wenn in der Schweiz keine Möglichkeit besteht, auf geeignete und zweckmässige Weise das angestrebte Ziel zu erreichen, was angesichts der auf diesem Gebiet heute vorhandenen neuen didaktischen und technischen Methoden eher die Ausnahme darstellen dürfte. Ist jedoch ein solcher Ausnahmefall zu bejahen, muss zusätzlich die Wahrscheinlichkeit dargetan sein, dass die Vermittlungsfähigkeit durch eine im Hinblick auf ein konkretes berufliches Ziel absolvierte Weiterbildung im konkreten Fall tatsächlich und in erheblichem Masse gefördert wird (ARV 1986
BGE 112 V 397 S. 400
Nr. 17 S. 66 Erw. 2b, 1985 Nr. 23 S. 176 Erw. 4b und S. 179 Erw. 2b)...
2.
Es ist allgemein bekannt, dass man in der Schweiz an zahlreichen Instituten Spanisch lernen kann. Eine Notwendigkeit, dass der Beschwerdeführer den Kurs in Malaga besuchte, bestand nicht. Zwar hatte er dort die Möglichkeit, sich täglich auch ausserhalb der Schule in der spanischen Sprache zu üben, doch bestand im vorliegenden Fall kein triftiger Grund, im entsprechenden Sprachraum zu studieren. Wie bereits ausgeführt, gewährt die Sozialversicherung nicht das Bestmögliche, sondern das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche und Notwendige. Aus diesen Gründen besitzt der Beschwerdeführer keinen Anspruch aus
Art. 59 ff. AVIG
für den Spanischkurs in Malaga, ohne dass geprüft werden müsste, ob die Leistungsvoraussetzungen von Abs. 1 und 3 des
Art. 59 AVIG
erfüllt sind. | de |
c352a60e-3285-4bce-a8e4-adbfd270a5b0 | Sachverhalt
ab Seite 325
BGE 111 V 324 S. 325
A.-
Die 1909 geborene Elsa Schrotberger war vom 29. Dezember 1982 bis 1. Februar 1983 im Spital A hospitalisiert. In der Folge wurde sie zu Hause gepflegt. Am 5. Mai 1983 musste sie ins Spital B eingewiesen werden, wo sie am 8. Mai 1983 verstarb. Am 3. August 1983 reichte Max Schrotberger, Ehemann der Versicherten, der Krankenkasse Helvetia verschiedene Rechnungen im Gesamtbetrage von Fr. 6078.55 ein. Die Kasse bezahlte die Rechnung des Spitals B von Fr. 1749.15 sowie eine Rechnung von Fr. 90.-- für den Krankentransport und nach Abzug einer Franchise von Fr. 50.-- einen Betrag von Fr. 396.75 an die Rechnung des Hausarztes Dr. P. von Fr. 446.75. An die Rechnungen der Gemeindekrankenpflege von total Fr. 2952.65 leistete die Kasse Fr. 1509.75. Dagegen lehnte sie jeglichen Beitrag an die Kosten von Fr. 840.-- für die Miete des für die Hauskrankenpflege benötigten Spitalbetts ab. Das Total der von der Kasse zugesprochenen Vergütungen belief sich auf Fr. 3745.65. Am 14. Oktober 1983 erliess die Kasse eine entsprechende Verfügung.
B.-
Hiegegen erhob Max Schrotberger Beschwerde und beantragte, die Kasse sei zu verpflichten, ihm den Betrag von Fr. 2332.90 (Fr. 6078.55 abzüglich Fr. 3745.65) zu vergüten. Zur Begründung machte er geltend, der Chefarzt im Spital A habe es ihm freigestellt, die bettlägerige und todkranke Ehefrau weiterhin im Spital zu belassen oder sie nach Hause zu nehmen, wo sie durch den Hausarzt und die Gemeindekrankenschwester betreut werden könnte. Im Einvernehmen mit seiner Ehefrau habe er sich für die Heimpflege entschieden, und zwar weil die Betreuung zu Hause bis zu ihrem bereits voraussehbaren Ableben erträglicher gewesen sei und zudem die Krankenkasse weniger belastet würde. Der Verzicht auf eine Spitalbehandlung in der Zeit vom 1. Februar bis 5. Mai 1983 habe der Kasse Spitalkosten von mindestens Fr. 15'000.-- bis Fr. 20'000.-- erspart. Mit Entscheid vom 20. März 1984 wies das Versicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.
BGE 111 V 324 S. 326
C.-
Max Schrotberger führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und verlangt die Übernahme der Kosten für die Gemeindekrankenschwester im Betrage von Fr. 1442.90 und für die Spitalbettmiete von Fr. 840.--. Die Krankenkasse beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung enthält sich eines Antrags. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die Gemeindekrankenschwester war im vorliegenden Fall nicht selbständig und auf eigene Rechnung tätig und mithin nicht medizinische Hilfskraft im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. b KUVG und Art. 1 Vo VI (SR 832.156.1). Sie war auch nicht ärztliche Angestellte, deren Tätigkeit praxisgemäss der ärztlichen Behandlung gemäss Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a KUVG zuzurechnen wäre (
BGE 110 V 191
,
BGE 107 V 48
Erw. 2,
BGE 100 V 4
Erw. 2). Ihre Tätigkeit stellt deshalb keine Leistung dar, welche die Kasse aufgrund des Krankenversicherungsgesetzes oder seiner Nebenerlasse zu übernehmen hätte.
Die Berufung der Kasse auf diese rechtliche Ordnung ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keineswegs rechtsmissbräuchlich. Die Einschränkung der Zulassung auf medizinische Hilfspersonen, die selbständig und auf eigene Rechnung tätig sind (Art. 1 Vo VI), ist geltendes Recht und gesetzeskonform, so dass die Kasse - statutarische Sonderregelungen vorbehalten - zur Verweigerung von Leistungen für die streitige Hauspflege und -behandlung berechtigt und verpflichtet war. Dass der Kasse dank der Hauspflege hohe Spitalkostenvergütungen erspart blieben, begründet keinen Anspruch des Beschwerdeführers auf eine von der gesetzlichen Ordnung abweichende Behandlung. Es gibt keine Austauschbefugnis zwischen Pflichtleistungen und Nichtpflichtleistungen in der sozialen Krankenversicherung (MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 95). Wählt ein Versicherter aus welchen Gründen auch immer eine nicht zu den gesetzlichen Pflichtleistungen gehörende Pflege und Behandlung, so hat er keinen Anspruch auf Anrechnung der dadurch eingesparten Pflichtleistungskosten.
Auch aus
Art. 23 KUVG
ergibt sich nichts anderes. Mit dieser Bestimmung soll verhindert werden, dass die Krankenkassen zu den Pflichtleistungen zählende Verrichtungen entschädigen müssen, die unwirtschaftlich sind. Sie verleiht keine Ansprüche auf
BGE 111 V 324 S. 327
Versicherungsleistungen und bedeutet insbesondere nicht, dass die Krankenkassen Nichtpflichtleistungen zu übernehmen hätten, wenn diese billiger sind als die an deren Stelle in Frage kommenden Pflichtleistungen. Dergleichen lässt sich auch nicht aus der Pflicht der Krankenkassen zu sparsamer Haushaltführung ableiten.
Wohl befriedigt es in manchen Fällen nicht ganz, dass Krankenschwestern und Krankenpfleger, die im Dienste einer Gemeinde oder gemeinnützigen Institution die Hauspflege und -behandlung ausüben, zur Tätigkeit für die Krankenkassen nicht zugelassen sind und daher keine Pflichtleistungen zu begründen vermögen. Das gleiche gilt für die Tatsache, dass nach dem gesetzgeberischen Willen - in Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 lit. b KUVG und in der bundesrätlichen Botschaft vom 5. Juni 1961 zur Revision des KUVG (BBl 1961 I 1425f.) werden nur die Heilanwendungen erwähnt - für die spitalexterne Krankenpflege überhaupt keine Leistungen vorgesehen sind. Für eine richterliche Normenkorrektur im Sinne der Füllung einer unechten Gesetzeslücke bleibt jedoch kein Raum, da eine solche praxisgemäss nur in Frage käme, wenn der Gesetzgeber sich offenkundig über gewisse Tatsachen geirrt hat oder wo sich die Verhältnisse seit Erlass des Gesetzes in einem solchen Masse gewandelt haben, dass die Vorschrift unter gewissen Gesichtspunkten nicht bzw. nicht mehr befriedigt und ihre Anwendung rechtsmissbräuchlich wird (
BGE 108 V 72
Erw. 2c,
BGE 106 V 70
,
BGE 105 V 213
Erw. 2c; MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 230 mit Hinweisen). Der Hauspflege mag heute als Instrument zur Verminderung der Kosten im Gesundheitswesen besondere Aktualität zukommen. Von einem wesentlichen Wandel der Verhältnisse kann indessen nicht gesprochen werden. Eine allfällige Änderung der geltenden Ordnung wird mithin Sache des Gesetzgebers sein. In den bisherigen Bestrebungen zur Revision des Krankenversicherungsgesetzes sind die Hauspflege und die Stellung der im Dienste einer Gemeinde oder gemeinnützigen Institution stehenden Krankenschwestern und Krankenpfleger denn auch eingehend behandelt worden (siehe Bericht der Eidgenössischen Expertenkommission für die Neuordnung der Krankenversicherung vom 11. Februar 1972, S. 124-127; Bericht der Expertenkommission für die Teilrevision der Krankenversicherung vom 5. Juli 1977, S. 85-89, 151 und 162; Botschaft über die Teilrevision der Krankenversicherung vom 19. August 1981, BBl 1981 II 1143ff. und 1162 ff.).
BGE 111 V 324 S. 328
Aus dem Gesagten folgt, dass nach dem KUVG kein Anspruch auf Kassenleistungen für die streitige Hauspflege besteht. Zu prüfen ist noch, ob und gegebenenfalls in welchem Masse die Statuten einen Anspruch einräumen.
b) In der Grundversicherung (Abteilung A) sehen die Statuten der Krankenkasse Helvetia keine Leistungen vor für die Hauspflege, die durch Krankenpflegepersonal von Gemeinden oder gemeinnützigen Institutionen gewährt wird. Dagegen werden unter näher umschriebenen Voraussetzungen für die durch den Beizug einer Hauskrankenpflegerin entstandenen Kosten aus der Versicherungsabteilung H das halbe Spitalgeld und aus den Abteilungen HB und HU die halbe Tagespauschale vergütet, zusammen jedoch maximal Fr. 45.-- im Tag bzw. je 6 Stunden Pflege (Art. 11 Abs. 1 des Reglements für die Spitalzusatzversicherungen).
Die Kasse hat hier die maximal möglichen Leistungen ausgerichtet, nämlich Fr. 1350.--. Der Beschwerdeführer macht zu Recht nicht geltend, dass ihm die Statuten und Reglemente einen höheren Anspruch einräumten. Zu weiteren Leistungen kann die Kasse nicht verpflichtet werden. Aufgrund der mit
Art. 1 Abs. 2 KUVG
gewährleisteten Autonomie können die Krankenkassen grundsätzlich frei darüber bestimmen, wie hoch die Leistungen aus den von ihnen betriebenen Zusatzversicherungen sein sollen. Auch hier kann von Rechtsmissbrauch oder von der Verletzung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit nicht die Rede sein, wenn die Kasse keine höhere Tagespauschale als Fr. 45.-- ausrichtete.
Nicht zu beanstanden ist schliesslich, dass die Kasse gestützt auf allgemeine Empfehlungen des Kantonalverbandes Bernischer Krankenkassen vom 14. Oktober 1982 für einzelne medizinische Verrichtungen der Krankenschwester Entschädigungen von insgesamt Fr. 159.75 zusprach. Auch hiebei besteht kein Anspruch auf höhere Leistungen.
3.
Die Kasse ist von Gesetzes wegen nicht verpflichtet, für die Kosten der Spitalbett-Miete aufzukommen, da diese Leistung in
Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 KUVG
nicht vorgesehen ist. Die Statuten schliessen einen Anspruch ausdrücklich aus (Art. 69 Ziff. 1 lit. a), womit sich die Kasse im Rahmen der ihr zustehenden Gestaltungsrechte gemäss
Art. 1 Abs. 2 KUVG
hält. | de |
0d2cd2aa-1a2e-4047-82de-2ecdcbe8af1d | Sachverhalt
ab Seite 268
BGE 113 V 267 S. 268
A.-
Die 1959 geborene Jeannette N. leidet zufolge eines im Jahre 1970 erlittenen Verkehrsunfalles u.a. an einer vorwiegend rechtsseitigen spastischen Tetraparese, die ihr das Gehen verunmöglicht. Sie ist in einer geschützten Werkstätte erwerbstätig. Am 6. Oktober 1980 teilte die basellandschaftliche Beratungsstelle für Behinderte der Invalidenversicherungs-Kommission mit, sie habe bei einer Abklärung betreffend Hilflosigkeit festgestellt, "dass Jeannette mit einem Elektrofahrstuhl den Arbeitsweg vom Elternhaus in die Eingliederungswerkstätte (...) alleine machen könnte"; da das IV-Hilfsmitteldepot "ein gebrauchtes Vehikel" nicht habe liefern können, werde Antrag gestellt, "an die Kosten des Elektrofahrstuhls (mit Velonummer) den Beitrag von Fr. 5'500.-- zu gewähren". Mit Verfügung vom 14. Januar 1980 sprach die Ausgleichskasse des Kantons Basel-Landschaft der Versicherten den beantragten Kostenbeitrag für die Anschaffung eines Elektrofahrstuhls mit Ladegerät (Anschaffungspreis Fr. 6'455.--) zu. In der Folge vergütete die Invalidenversicherung anfallende Reparaturkosten in der Höhe von rund Fr. 950.--.
Am 11. September 1985 ersuchte Jeannette N. erneut um Übernahme von Reparaturkosten. Daraufhin teilte ihr die Ausgleichskasse mit, bei der Gewährung eines Kostenbeitrages an einen Elektrofahrstuhl könne ein einmaliger Reparaturkostenbeitrag von 20% der Entschädigung, d.h. vorliegend Fr. 1'100.-- (20% von Fr. 5'500.--), ausgerichtet werden; mit diesem Beitrag seien sämtliche Reparaturkosten abgegolten (Verfügung vom 27. September 1985).
B.-
Hiegegen liess Jeannette N. beim Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Beschwerde führen mit dem sinngemässen Antrag, die Ausgleichskasse sei zur vollen Übernahme der Reparaturkosten zu verpflichten, da sie aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sei, diese Kosten selber zu übernehmen.
Das Versicherungsgericht erwog, beim Anspruch auf Reparaturkosten dürfe es keine Rolle spielen, ob ein Versicherter das Hilfsmittel selber angeschafft oder von der Invalidenversicherung in natura erhalten habe. Die nach der Rechtsprechung erforderliche "Gleichstellung aller Kategorien von Versicherten" lasse sich nur erreichen, wenn - analog zur steuerrechtlichen Pauschalierung - gegebenenfalls "der Nachweis offen bleib(e), dass im Einzelfall höhere Reparaturkosten entstanden" seien. Die Invalidenversicherung habe die zusätzlichen, durch die Pauschale nicht gedeckten Kosten zu übernehmen, sofern die Voraussetzungen zur
BGE 113 V 267 S. 269
Übernahme von Reparaturkosten bei in natura abgegebenen Hilfsmitteln erfüllt seien und wenn sich die Reparatur auf Teile beziehe, die zur einfachen und zweckmässigen Ausrüstung des Hilfsmittels gehörten. Das kantonale Gericht hiess deshalb die Beschwerde gut und wies die Sache an die Verwaltung zur Ermittlung der effektiven Reparaturkosten und deren verfügungsweisen Übernahme zurück (Entscheid vom 9. Oktober 1986).
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.
Während sich Jeannette N. nicht vernehmen lässt, verzichtet die Ausgleichskasse auf eine Vernehmlassung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
a) Das Eidg. Versicherungsgericht ist bereits zu jener Zeit, als es noch keine positivrechtlichen Grundlagen für die Zusprechung von Ersatzleistungen gab, von der grundsätzlichen Gleichstellung der Abgabe- bzw. Leistungsformen ausgegangen. Es hat damals eine volle Leistungspflicht der Invalidenversicherung angenommen, soweit es sich nicht um ganz geringfügige Reparaturkosten und im weiteren nicht um Betriebsaufwand handelte (EVGE 1963 S. 272 ff.). Das Gericht hielt es damals in ständiger Praxis für ohne Belang, ob die Invalidenversicherung für Reparaturkosten im Rahmen des Art. 16 Abs. 2 alt IVV aufzukommen habe oder ob das Motorfahrzeug nicht von der Invalidenversicherung abgegeben worden sei; massgebend sei einzig, dass ein solches Fahrzeug gewährt werden müsste, wenn der Versicherte noch keines besässe (EVGE 1965 S. 129 Erw. 3b mit Hinweis).
Sodann besteht nach der Rechtsprechung bei Amortisationsbeiträgen an ein Auto Anspruch auf volle Übernahme der invaliditätsbedingten Umbaumehrkosten (
BGE 104 V 186
,
BGE 108 V 5
und 8), soweit es sich um eine einfache und zweckmässige Ausführung handelt (
BGE 106 V 217
Erw. 4 in fine; vgl. auch ZAK 1980 S. 498). Auch unter dem Gesichtspunkt der Übernahme von Kosten für invaliditätsbedingte Änderungen geht die Rechtsprechung somit von einer Gleichstellung der Abgabeformen aus.
b) Nichts anderes ergibt sich aus
Art. 21bis Abs. 3 IVG
, der dem Bundesrat die Befugnis gibt, nähere Vorschriften zu erlassen und die Höhe der Beiträge festzusetzen. Diese Delegationsnorm bezieht sich nur auf die Amortisationsbeiträge (Abs. 1) und auf die
BGE 113 V 267 S. 270
Beiträge an die Kosten von Dienstleistungen Dritter (Abs. 2), nicht aber auf die Reparaturkosten. Das wird durch die Materialien bestätigt, indem sich die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 27. Februar 1967 (BBl 1967 I 653) ausschliesslich zu den Amortisationsbeiträgen ausspricht und unter Hinweis auf die frühere Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts, der Expertenkommission folgend, vorschlägt, "diese besondere Art der Abgeltung des Anspruchs auf Hilfsmittel im Gesetz ausdrücklich niederzulegen" (BBl 1967 I 677). Demgemäss spricht das Gesetz in
Art. 21bis Abs. 1 IVG
nur von den Amortisationsbeiträgen, wogegen die Übernahme von Reparaturkosten nicht als "besondere Art der Abgeltung des Anspruchs auf Hilfsmittel" zu betrachten ist; vielmehr handelt es sich bei der Vergütung der Reparaturkosten um eine Leistungsart, die in gleicher Weise bei den in natura abgegebenen wie bei den subventionierten Hilfsmitteln in Betracht fällt. Es ist daher nicht anzunehmen, dass der Verordnungsgeber durch
Art. 21bis Abs. 3 IVG
die Befugnis erhalten hätte, auch eine spezielle Regelung für die Reparaturkosten zu treffen, besteht doch hiezu von der Natur der Sache her gar kein Anlass.
Das gleiche ergibt sich auch im Lichte des
Art. 21 IVG
. Wohl steht dem Bundesrat bzw. dem Departement bei der Ausgestaltung der Hilfsmittelliste praxisgemäss ein weiter Spielraum der Gestaltungsfreiheit zu (
BGE 105 V 27
Erw. 3b und 258 Erw. 2; vgl. auch
BGE 111 V 211
/2). Das Eidg. Versicherungsgericht hat denn auch im unveröffentlichten Urteil T. vom 5. Oktober 1984 ausgeführt, wenn der Verordnungsgeber von einer Aufnahme in die Liste absehen könne, sei er erst recht befugt, für einzelne in der Liste verzeichnete Hilfsmittel oder Gruppen davon einschränkende Abgabevoraussetzungen aufzustellen sowie Bestimmungen darüber zu erlassen, wer allfällige Folgekosten zu tragen habe, die je nach der Art des Hilfsmittels über die blosse Abgabe hinaus anfallen (etwa Kosten für Gebrauchstraining, Reparatur und Betrieb). Dies ist indessen kein Grund, eine von mehreren gesetzlich vorgesehenen Abgabeformen hinsichtlich des Anspruches auf Übernahme der Reparaturkosten generell schlechterzustellen. Es ist daher nicht angängig, einen Anspruch auf volle Übernahme der effektiven Reparaturkosten nur im Rahmen des
Art. 7 HVI
, nicht aber auf der Grundlage des
Art. 8 HVI
anerkennen zu wollen. Das BSV verweist darauf, der Versicherte habe die Möglichkeit, das
BGE 113 V 267 S. 271
Hilfsmittel von der Invalidenversicherung in natura zu beziehen. Dem ist entgegenzuhalten, dass oft eine solche Wahlfreiheit bezüglich der Abgabeformen effektiv gar nicht besteht. Erfahrungsgemäss vermag die Abgabe eines Elektrofahrstuhles aus einem IV-Hilfsmitteldepot in vielen Fällen den Bedürfnissen des Leistungsansprechers nicht zu genügen. Gerade bei schweren körperlichen Behinderungen kann eine invaliditätsbedingte Notwendigkeit bestehen, einen angepassten, individuellen Fahrstuhl zu kaufen, weshalb der Versicherte in diesen Fällen auf Ersatzleistungen angewiesen ist. In
BGE 111 V 214
Erw. 3 hat das Eidg. Versicherungsgericht zwar in Anbetracht der Eindeutigkeit der Delegationsnorm des
Art. 21bis Abs. 3 IVG
und der Beschränkung des Hilfsmittelanspruches auf das Einfache und Zweckmässige (
Art. 2 Abs. 4 HVI
) die Pauschalisierung der Amortisationsbeiträge bzw. die Zusprechung eines pauschalen Einmalbeitrages nicht beanstandet. Diese Rechtsprechung kann jedoch nicht auf den Reparaturkostenerstattungsanspruch übertragen werden.
c) Unter Berufung auf das zu
BGE 96 V 81
ergangene unveröffentlichte Urteil B. vom 21. Juli 1976 macht das BSV sodann geltend, das Eidg. Versicherungsgericht habe bestätigt, dass Reparaturkosten mit der Zusprechung eines Amortisations- und Reparaturkostenbeitrages abgegolten seien. Das Bundesamt übersieht indessen, dass es in jenem Fall um ein Motorfahrzeug ging, bei welchem Hilfsmittel kraft Art. 16bis Abs. 2 Satz 2 alt IVV kein Anspruch auf Übernahme sämtlicher Reparaturkosten bestand. Daran hat sich auch unter der Herrschaft des
Art. 7 Abs. 2 Satz 2 HVI
in Verbindung mit
Art. 6 Abs. 1 HVI
nichts geändert. Denn wie das Eidg. Versicherungsgericht im erwähnten Urteil T. vom 5. Oktober 1984 ausgeführt hat, besteht im Hinblick auf den Eingliederungszweck von Motorfahrzeugen gemäss
Art. 7 Abs. 2 Satz 2 HVI
(in der bis Ende 1982 gültig gewesenen Fassung) ein Anspruch auf Übernahme der Reparaturkosten von der Versicherung nur insoweit, als diese auf Fahrten an den Arbeitsort zurückzuführen sind; da eine Ausscheidung und Zuordnung der einzelnen Reparaturkosten je nach Verwendungszweck aus praktischen Gründen nicht möglich sei, könne eine sachgerechte Lösung, sowohl der privaten Verwendungsmöglichkeit als auch dem Bedürfnis der Versicherung nach einem möglichst geringen Verwaltungsaufwand Rechnung tragende Lösung nur darin bestehen, dass der Versicherte mit einer Pauschale an den Reparaturkosten beteiligt werde. Diese Rechtsprechung kann indessen nicht auf Hilfsmittel
BGE 113 V 267 S. 272
übertragen werden, welche - wie die Elektrofahrstühle - ausschliesslich der Eingliederung dienen. Denn bei solchen Hilfsmitteln besteht kein Zwang zur Pauschalisierung, da eine Ausscheidung von eingliederungsbedingten und anderen Verwendungsarten entfällt. Von dieser Betrachtungsweise ist das Eidg. Versicherungsgericht im grundlegenden Urteil
BGE 109 V 18
ausgegangen, wo es die Rechtmässigkeit eines Selbstbehaltes auf Reparaturkosten bei Hörmitteln im Rahmen von
Art. 7 Abs. 2 und 3 HVI
verneint hat. Ausschlaggebend dafür war die Überlegung, dass aufgrund von
Art. 21 Abs. 3 IVG
eine Kostenbeteiligung des Versicherten dann zulässig sei, wenn ein Hilfsmittel Gegenstände ersetze, die auch ohne Invalidität angeschafft werden müssten; dies gelte auch für Reparaturkosten, in welchem Falle die Kostenbeteiligung für nicht invaliditätsbedingte, mithin auch nicht der Invalidenversicherung anzulastende Abnützungen des Hilfsmittels erfolge. Solche Verhältnisse träfen bei Hörapparaten nicht zu, weshalb eine Überwälzung von Unterhalts- und Betriebskosten in Form eines Selbstbehaltes bei Reparaturkosten verordnungswidrig sei; damit würden in unzulässiger Weise
Art. 7 Abs. 2 und
Art. 7 Abs. 3 HVI
miteinander vermischt (
BGE 109 V 21
Erw. 4b).
Es drängt sich auf, diese zu
Art. 7 Abs. 2 HVI
ergangene Rechtsprechung auch auf Art. 8 Abs. 1 bzw. Abs. 2 HVI anzuwenden. Im einen wie im andern Fall ist es unzulässig, den Versicherten - mehr als geringfügige - Reparaturkosten eines einfachen und zweckmässigen (
Art. 21 Abs. 3 IVG
,
Art. 2 Abs. 4 HVI
) Hilfsmittels tragen zu lassen, das er ausschliesslich für die Eingliederung benötigt. Nicht zu übernehmen hat die Invalidenversicherung hingegen Reparaturkosten, welche darauf zurückzuführen sind, dass ein Versicherter zum Beispiel eine besonders störanfällige oder teure Ausführung gewählt hat (vgl.
Art. 21 Abs. 3 Satz 2 IVG
und
Art. 2 Abs. 4 Satz 2 HVI
) oder wo das Hilfsmittel amortisiert ist und sich eine Reparatur nicht mehr lohnen würde.
d) Nach dem Gesagten ist festzuhalten, dass die in
Art. 8 Abs. 1 und 2 HVI
verwendeten Begriffe des pauschalen Reparaturkostenanteils - im Sinne einer gesetzeskonformen Auslegung (
BGE 113 V 130
Erw. 2b mit Hinweisen) und der Gleichbehandlung der Abgabeformen - dahingehend zu verstehen sind, dass die Zusprechung einer Reparaturkostenpauschale zwar zulässig ist. Der Versicherte kann jedoch die Vergütung der effektiven, die Pauschale übertreffenden nachgewiesenen Reparaturkosten, die trotz sorgfältigen Gebrauches entstanden sind und für die kein Dritter
BGE 113 V 267 S. 273
ersatzpflichtig ist, insoweit verlangen, als die Differenz zwischen der Summe aller in Rechnung gestellter Reparaturkosten für ein Hilfsmittel in einfacher und zweckmässiger Ausführung und der vorgängig bezogenen Pauschale den massgeblichen Geringfügigkeitsbeitrag übersteigt (
Art. 7 Abs. 2 HVI
analog; Anhang 2 Ziff. 5 zur Wegleitung des BSV über die Abgabe von Hilfsmitteln, gültig ab 1. Januar 1984). Dieser Rechtslage trägt der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid zutreffend Rechnung. | de |
7b8e7284-d9df-48d9-a31a-b99b98e0afc0 | de |
|
b22af035-0164-45ce-b28a-6a2f2ddd8cbd | Sachverhalt
ab Seite 349
BGE 129 V 349 S. 349
A.-
Mit Verfügung vom 17. August 2000 lehnte die Ausgleichskasse Schaffhausen das Gesuch der 1938 geborenen L. um Anrechnung von Betreuungsgutschriften ab, weil die Gesuchstellerin das gesetzliche Erfordernis des gemeinsamen Haushaltes mit der von ihr betreuten Mutter X. nicht erfüllt habe.
B.-
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen wies die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 5. Januar 2001 ab.
C.-
L. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es seien ihr halbe Betreuungsgutschriften anzurechnen (die andere Hälfte sei jeweils ihrer Schwägerin T. gutzuschreiben, mit welcher zusammen sie X. bis zu deren Tod am 13. Januar 2003 gepflegt habe).
Während die Ausgleichskasse auf Abweisung schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach dem mit der 10. AHV-Revision am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen
Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG
haben Versicherte,
BGE 129 V 349 S. 350
welche im gemeinsamen Haushalt Verwandte in auf- oder absteigender Linie oder Geschwister mit einem Anspruch auf Hilflosenentschädigung der AHV oder der IV für mindestens mittlere Hilflosigkeit betreuen, Anspruch auf Anrechnung einer Betreuungsgutschrift. Laut dem ersten Satz von Abs. 3 der genannten Gesetzesbestimmung kann der Bundesrat das Erfordernis des gemeinsamen Haushaltes näher umschreiben. Von dieser Befugnis hat er Gebrauch gemacht und in
Art. 52g AHVV
bestimmt, dass das Erfordernis des gemeinsamen Haushaltes mit der betreuten Person erfüllt ist bei gleicher Wohnung (lit. a), einer anderen Wohnung im gleichen Gebäude (lit. b) oder einer Wohnung in einem anderen Gebäude auf demselben oder einem benachbarten Grundstück (lit. c).
Im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch, wonach unter gemeinsamem Haushalt (le ménage commun; la comunione domestica) das Zusammenleben von Personen unter demselben Dach und bei gemeinsamer Verköstigung zu verstehen ist (vgl. EGGER, Zürcher Kommentar, N. 10 zur
Art. 331 ZGB
), genügt also nach der angeführten - gesetzmässigen - Verordnungsbestimmung, dass die betreuende und die betreute Person praktisch an gleicher Adresse wohnen (Urteil A. vom 1. Juni 2001, H 25/01). Mit dieser Regelung hat der Bundesrat die Intentionen des Gesetzgebers vollständig umgesetzt. Aus den Materialien zu den parlamentarischen Beratungen der Delegationsbestimmung von
Art. 29septies Abs. 3 Satz 1 AHVG
ergibt sich nämlich einerseits, dass das Kriterium des gemeinsamen Haushaltes für bestimmten Fälle als zu eng betrachtet wurde, beispielsweise für das "Stöckli" in ländlichen Gebieten, aber auch bei einer eigenen Wohnung der pflegebedürftigen Person in der Liegenschaft, in welcher die Pflegenden wohnen. Auf der anderen Seite wurde aber bei der Gesetzesberatung festgestellt, dass der Bundesrat das Erfordernis des gemeinsamen Haushaltes nicht aushöhlen dürfe. Bei zwei Wohnungen in der gleichen Gemeinde könne selbst bei gemeinsamem Mittagstisch kaum von einem gemeinsamen Haushalt gesprochen werden (Amtl. Bull. 1994 S 550, N 1356).
2.
Die am 13. Januar 2003 verstorbene Mutter der Beschwerdeführerin war in den letzten vier Jahren ihres Lebens in schwerem Grade hilfsbedürftig und bezog ab März 1997 eine entsprechende Hilflosenentschädigung. Sie lebte im Hause ihres Sohnes und seiner Ehefrau, wo ihr ein Wohnrecht zustand. Während des gesamten in Frage stehenden Zeitraums wurde sie von ihrer Schwiegertochter und der Beschwerdeführerin gepflegt. Letztere wohnt rund 800
BGE 129 V 349 S. 351
Meter vom Haus ihres Bruders und ihrer Schwägerin entfernt etwas erhöht ausserhalb des Dorfes B. Vier bis fünf Mal im Tag fuhr sie mit dem Auto zu ihrer Mutter, um dieser - allein oder zusammen mit ihrer Schwägerin - die benötigte Pflege und Betreuung angedeihen zu lassen, womit sie während insgesamt etwa vier Stunden im Tag voll ausgelastet war.
3.
Ohne dass hier abschliessend darüber zu befinden wäre, in welchem Umkreis allgemein noch von einer Wohnung der betreuten Person auf einem "benachbarten Grundstück" im Sinne von
Art. 52g lit. c AHVV
gesprochen werden kann, ist dieses Kriterium im vorliegenden Fall bei einer Entfernung von rund 800 Metern zwischen dem Haus der Beschwerdeführerin und der Wohnung ihrer pflegebedürftigen Mutter offenkundig nicht gegeben. Die Mutter wohnte keineswegs praktisch an gleicher Adresse wie ihre Tochter. Überdies gestalteten sich die erwähnten Autofahrten nach den Ausführungen der Beschwerdeführerin vor dem kantonalen Gericht besonders im Winter wegen einer starken Steigung der vielfach vereisten oder verschneiten Zufahrtsstrasse als recht beschwerlich. Schon aus diesem Grunde hätte die Pflege und Betreuung durch die Beschwerdeführerin allein nicht jederzeit gewährleistet werden können, was der Verordnungsgeber als Massstab für die Bestimmung der noch möglichen räumlichen Distanz herangezogen hat (AHI 1996 S. 36). Die Bejahung eines gemeinsamen Haushaltes in Fällen wie dem hier zu beurteilenden würde dieses gesetzlich verankerte Erfordernis in der Tat aushöhlen.
Nach dem Gesagten lässt sich die von der Ausgleichskasse verfügte, vorinstanzlich bestätigte Ablehnung einer Anrechnung von Betreuungsgutschriften zu Gunsten der Beschwerdeführerin nicht beanstanden. | de |
dca5648f-25ae-4315-ab91-480af892c879 | Sachverhalt
ab Seite 153
BGE 126 V 153 S. 153
A.-
Die 1946 geborene G. ersuchte die Ausgleichskasse Schwyz am 22. und 27. Februar 1999 um die Anrechnung einer Betreuungsgutschrift, da sie den in ihrer Hausgemeinschaft lebenden Onkel ihres Ehemannes pflege. Mit Verfügung vom 12. März 1999 lehnte die Ausgleichskasse das Gesuch ab mit der Begründung, die Voraussetzung der nahen Verwandtschaft sei nicht erfüllt.
B.-
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz ab (Entscheid vom 19. Mai 1999).
BGE 126 V 153 S. 154
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt G., es sei ihr eine Betreuungsgutschrift anzurechnen.
Das kantonale Gericht und die Ausgleichskasse schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung lässt sich nicht vernehmen. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss dem mit der 10. AHV-Revision am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen
Art. 29septies Abs. 1 AHVG
haben Versicherte, welche im gemeinsamen Haushalt Verwandte in auf- oder absteigender Linie oder Geschwister mit einem Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV oder der IV für mindestens mittlere Hilflosigkeit betreuen, Anspruch auf Anrechnung einer Betreuungsgutschrift (Satz 1). Sie müssen diesen Anspruch jährlich schriftlich anmelden (Satz 2). Verwandten sind Ehegatten, Schwiegereltern und Stiefkinder gleichgestellt (Satz 3).
2.
Streitig ist, ob Betreuungsgutschriften - über den Wortlaut der Bestimmung von
Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 und 3 AHVG
hinausgehend - auch anzurechnen sind, wenn die versicherte Person einen Onkel ihres Ehepartners betreut.
Während Vorinstanz und Verwaltung dies verneinen, vertritt die Beschwerdeführerin die Auffassung, die Nichtanrechnung von Betreuungsgutschriften führe unter den vorliegenden Umständen zu einer Verletzung des Rechtsgleichheitsgebotes.
3.
(Auslegung des Gesetzes; vgl.
BGE 125 II 196
Erw. 3a, 244 Erw. 5a,
BGE 125 V 130
Erw. 5, 180 Erw. 2a, je mit Hinweisen).
4.
In der bundesrätlichen Botschaft über die zehnte Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 5. März 1990 (BBl 1990 II 1) war das Institut der Betreuungsgutschriften noch nicht vorgesehen. Erst im Verlaufe der parlamentarischen Beratung wurde es gestützt auf die Vorarbeiten der Kommission des Nationalrates als Bestandteil des neuen, grundsätzlich zivilstands- und geschlechtsunabhängigen Individual-Rentensystems mit Beitragssplitting aufgenommen (Amtl.Bull. 1993 N 207 ff.). Zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten und aufwändigen Abklärungen legte man Wert auf die Schaffung präziser Anspruchsvoraussetzungen und fand diese in der "Begrenzung des Personenkreises auf enge Verwandte und den zusätzlichen Anspruchsvoraussetzungen Hilflosenentschädigung mittleren Grades und Hausgemeinschaft" (Amtl.Bull. 1993 N 215, vgl. auch 233; Amtl.Bull. 1994 S 560).
BGE 126 V 153 S. 155
Sinn und Zweck von
Art. 29septies AHVG
besteht darin, die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger, die regelmässig zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten führt, als fiktives Einkommen bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen und damit zu verhindern, dass die unentgeltliche Verrichtung von Betreuungsarbeit für nahe Angehörige den individuellen Rentenanspruch schmälert (Amtl.Bull. 1993 N 209; THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997,
§ 36 N 34
f.).
Aus dem Wortlaut, den Materialien sowie dem Sinn und Zweck der Bestimmung ergibt sich somit, dass die Anrechnung von Betreuungsgutschriften lediglich für die Betreuung naher Angehöriger vorgesehen wurde. Dies wird gestützt durch die Regelung des Kreises der Unterstützungspflichtigen in
Art. 328 Abs. 1 und 2 ZGB
in der bis 31. Dezember 1999 geltenden Fassung, wonach Verwandte in auf- und absteigender Linie (und Geschwister, wenn sie sich in günstigen Verhältnissen befinden) verpflichtet sind, einander zu unterstützen, sobald sie ohne diesen Beistand in Not geraten würden. Auch
Art. 328 Abs. 1 ZGB
in der seit 1. Januar 2000 in Kraft stehenden Fassung statuiert für in günstigen Verhältnissen lebende Personen die Pflicht, Verwandte in auf- und absteigender Linie zu unterstützen, die ohne diesen Beistand in Not geraten würden (vgl. zur Bedeutung des Privatrechts bei der Auslegung des Sozialversicherungsrechts:
BGE 121 V 127
f. Erw. 2c/bb und 2c/cc mit weiteren Hinweisen).
5.
Es steht fest und ist im Übrigen auch nicht bestritten, dass der rechtliche Wortsinn vom Rechtssinn der vorliegend relevanten gesetzlichen Regelung nicht abweicht.
a) Zu prüfen bleibt, ob das Gesetz eine Lücke aufweist, welche das Gericht zu schliessen hätte. Das Fehlen einer Regelung, welche der versicherten Person ein Recht auf Anrechnung von Betreuungsgutschriften für die Pflege eines Onkels des Ehepartners einräumte, ist Ausdruck der vom Gesetzgeber gewollten abschliessenden Normierung der Anspruchsvoraussetzungen durch das formelle Gesetz. Damit liegt von vornherein keine vom Gericht auszufüllende echte Gesetzeslücke vor (
BGE 125 V 11
f. Erw. 3,
BGE 124 V 307
Erw. 4c,
BGE 119 V 255
Erw. 3b, je mit Hinweisen).
b) Des Weiteren stellt sich die Frage, ob eine unechte oder Wertungslücke, ein rechtspolitischer Mangel, vorliegt, den das rechtsanwendende Organ im Allgemeinen hinzunehmen hat. Eine solche Lücke regelbildend zu schliessen steht dem Gericht nur dort
BGE 126 V 153 S. 156
zu, wo der Gesetzgeber sich offenkundig über gewisse Tatsachen geirrt hat oder wo sich die Verhältnisse seit Erlass des Gesetzes in einem Masse gewandelt haben, dass die Vorschrift unter gewissen Gesichtspunkten nicht oder nicht mehr befriedigt und ihre Anwendung rechtsmissbräuchlich wird (
BGE 99 V 23
Erw. 4; vgl. auch
BGE 125 V 11
f. Erw. 3,
BGE 124 V 164
f. Erw. 4c und 275 Erw. 2a, 122 V 98 Erw. 5c und 329 Erw. 4 in fine,
BGE 121 V 176
Erw. 4d, je mit Hinweisen).
Die Verweigerung der Anrechnung von Betreuungsgutschriften bei versicherten Personen in der Lage der Beschwerdeführerin entspricht der ratio legis, wonach lediglich die Betreuung naher Angehöriger als fiktives Einkommen bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen ist. Es liegt weder ein offensichtlicher Irrtum des Gesetzgebers vor, noch widerspricht die Ablehnung der Anrechnung von Betreuungsgutschriften einer Rechtsauffassung, derzufolge im Vergleich zu den vom Gesetz als anspruchsbegründend anerkannten Fällen von einer Diskriminierung gesprochen werden müsste. Selbst wenn der Einwand der Versicherten, die Nichtanrechnung von Betreuungsgutschriften führe im konkreten Fall zu einem rechtsungleichen und damit verfassungswidrigen Ergebnis, begründet wäre, dürfte das Gericht mit Blick auf das in Art. 191 der neuen, auf den 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Bundesverfassung vom 18. April 1999 für Bundesgesetze und Völkerrecht statuierte Anwendungsgebot nicht von der Regelung des
Art. 29septies Abs. 1 AHVG
abweichen (zur Massgeblichkeit der neuen Bundesverfassung in anhängigen Verfahren, in welchen der angefochtene Entscheid - wie im vorliegenden Fall - vor dem 1. Januar 2000 ergangen ist:
BGE 126 V 53
Erw. 3b). | de |
7360f276-cc6d-4df0-80c8-ae80536d3663 | Erwägungen
ab Seite 90
BGE 129 V 90 S. 90
Aus den Erwägungen:
2.
Nach
Art. 163 Abs. 1 ZGB
sorgen die Ehegatten gemeinsam, ein jeder nach seinen Kräften, für den gebührenden Unterhalt der Familie. Gemäss
Art. 166 Abs. 1 ZGB
vertritt jeder Ehegatte während des Zusammenlebens die eheliche Gemeinschaft für die laufenden Bedürfnisse der Familie. Abs. 3 bestimmt, dass sich jeder Ehegatte durch seine Handlungen persönlich verpflichtet und, soweit diese nicht für Dritte erkennbar über die Vertretungsbefugnis hinausgehen, solidarisch auch den anderen Ehegatten.
Nach der geltenden Rechtsprechung gehören der Abschluss der Krankenpflegeversicherung und der Wechsel des Versicherers zu
BGE 129 V 90 S. 91
den laufenden Bedürfnissen der Familie im Sinne von
Art. 166 Abs. 1 ZGB
(
BGE 110 V 312
Erw. 3; RKUV 1993 Nr. K 914 S. 86 Erw. 2b/aa). Die Ehegatten haften daher für die Prämien unabhängig vom Güterstand solidarisch (GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 337), wobei die solidarische Haftung nur eintreten kann, sofern das der Beitragsforderung zugrunde liegende Versicherungsverhältnis während des ehelichen Zusammenlebens oder im Hinblick auf familiäre Bedürfnisse begründet worden ist (
BGE 119 V 21
Erw. 4 und 5).
3.
Das Verwaltungsgericht erkannte, dass die Beschwerdeführerin solidarisch mit ihrem Ehemann für seine ausstehenden Krankenkassenprämien hafte. Dabei ging es davon aus, jede eheliche Gemeinschaft müsse heute mit Kosten für die medizinische Versorgung der Familienmitglieder rechnen. Darunter würden auch die Prämien für die seit dem 1. Januar 1996 obligatorische Krankenversicherung fallen (
Art. 3 KVG
). Nachdem jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz versicherungspflichtig sei, habe sie bei Heirat nach dem 1. Januar 1996 ohnehin eine obligatorische Versicherung abgeschlossen. Daher würden die Prämien für die obligatorische Krankenversicherung ungeachtet dessen, ob das der Beitragsforderung zugrunde liegende Versicherungsverhältnis während des ehelichen Zusammenlebens oder im Hinblick auf familiäre Bedürfnisse begründet worden ist, voraussehbare monatliche Auslagen darstellen, die im Budget eines Haushaltes berücksichtigt werden.
3.1
Nach herrschender Lehre erfasst der Unterhalt nach
Art. 163 Abs. 1 ZGB
als Haushaltskosten alle grundlegenden Bedürfnisse, insbesondere auch die Versicherungen (Kranken-, Unfall-, Lebens-, Haftpflichtversicherungen) (HAUSHERR/REUSSER/GEISER, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht [Berner Kommentar], Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Das Familienrecht:
Art. 159-180 ZGB
, 2. Aufl., Bern 1999, N 9 zu Art. 163). Zu diesem Unterhaltsbedarf gehören somit die Versicherungen und die Beiträge von Ehefrau und Ehemann an Sozialversicherungen im weitesten Sinn, namentlich die Prämien für Krankenkassen (FRANZ HASENBÖHLER, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht [Basler Kommentar], Zivilgesetzbuch I,
Art. 1-359 ZGB
, Basel 1996, N 8 und 11 zu Art. 163; BRÄM/HASENBÖHLER, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch [Zürcher Kommentar], Das Familienrecht, Die Wirkungen der Ehe im allgemeinen, Art. 159,
Art. 163-168 ZGB
, 3. Aufl., Zürich 1993, N 34 zu Art. 163; DESCHENAUX/STEINAUER/BADDELEY, Les
BGE 129 V 90 S. 92
effets du mariage, Bern 2000, S. 219 N 473). Stellen könnte sich lediglich die - vorliegend unerhebliche - Frage, ob die obligatorische soziale Krankenversicherung (Grundversicherung) als ausreichend anzusehen ist, oder ob - angesichts der Prämienhöhe - Zusatzversicherungen in den Unterhaltskosten eingeschlossen sind (HAUSHERR/REUSSER/GEISER, a.a.O., N 16 ff. zu
Art. 163 und N 54
zu Art. 166; DESCHENAUX/STEINAUER/BADDELEY, a.a.O, S. 193 N 400 und S. 220 N 473; HAUSHEER/GEISER/KOBEL, Das Eherecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, Bern 2000, S. 60 N 08.06).
Auch die Frage, ob der Abschluss einer Krankenversicherung den laufenden Bedürfnissen der Familie im Sinne von
Art. 166 Abs. 1 ZGB
zuzuordnen ist, wird nach herrschender Lehre bejaht (HASENBÖHLER, Basler Kommentar, a.a.O., N 7 zu Art. 166; HEGNAUER/BREITSCHMID, Grundriss des Eherechts, 4. Aufl., Bern 2000, S. 191 N 18.07). Der Radius des laufenden Familienbedarfs erstreckt sich namentlich auf die Versicherung der Familienmitglieder bei einer Krankenkasse (BRÄM/HASENBÖHLER, a.a.O., N 39 zu Art. 166). Die Bedürfnisse der Familie nach
Art. 166 Abs. 1 ZGB
betreffen zwar den Unterhalt gemäss
Art. 163 ZGB
. Diesem kommt aber eine umfassendere Bedeutung zu (
BGE 119 V 24
f. Erw. 6). So bedeutet der Unterhalt nach
Art. 163 ZGB
auf alle Fälle die obere Begrenzung für die Bedürfnisse der Familie. Der Abschluss von Versicherungen für die Familienmitglieder (insbesondere Krankenversicherung) und die entsprechenden Prämien gehören daher zu den Bedürfnissen der Familie gemäss
Art. 166 ZGB
im Sinne der Gewährleistung einer ausreichenden Grundversorgung (HAUSHERR/REUSSER/GEISER, a.a.O, N 38, 39a und 40 zu Art. 166). Diesbezüglich wollte der Reformgesetzgeber von
Art. 166 Abs. 3 ZGB
die Haftung spiegelbildlich zur Vertretungsbefugnis regeln und in beiden Bereichen die Gleichstellung der Ehegatten verwirklichen. Er hat deshalb neu eine primäre und gleichrangige Haftung der Ehegatten eingeführt. Jeder von ihnen verpflichtet durch sein rechtsgeschäftliches Handeln sowohl sich persönlich als auch den anderen. Diese Solidarhaftung wird bereits bei Vorhandensein der objektiven Voraussetzungen gemäss Art. 166 Abs. 1 oder 2 ZGB ausgelöst, unabhängig davon, in wessen Namen der handelnde Ehegatte tätig wurde, und ohne Rücksicht darauf, ob der Dritte vom Verheiratetsein seines Vertragspartners wusste oder nicht (HASENBÖHLER, Basler Kommentar, a.a.O., N 19 zu Art. 166).
3.2
Gemäss Vorinstanz würde die Anwendung der in
BGE 119 V 16
publizierten Rechtsprechung nach Einführung des Obligatoriums unter Umständen zu einer ungleichen Behandlung der Versicherten
BGE 129 V 90 S. 93
führen. Wenn eine versicherte Person nach dem 1. Januar 1996 heirate und nach der Eheschliessung bei der gleichen Krankenkasse bleibe, hafte der Ehepartner nicht für Prämien des anderen Ehegatten, die nach der Heirat fällig wurden. Dagegen sei der Ehegatte solidarisch haftbar, wenn der andere Ehegatte nach der Heirat den Krankenversicherer wechsle. Dass die Prämien für die obligatorische Krankenpflegeversicherung das gesamte Familieneinkommen tangieren - und damit beide Ehegatten für die Prämien der obligatorischen Versicherung solidarisch haften -, könne auch aus der Regelung betreffend Prämienverbilligung geschlossen werden. Das Krankenversicherungsgesetz sehe eine Prämienverbilligung für Versicherte in bescheidenen Verhältnissen vor (
Art. 65 KVG
). Davon sollen der Versicherte und seine Familienangehörigen profitieren. Für die Auszahlung von Prämienverbilligung sei nicht relevant, ob die Kassenmitgliedschaft während des Zusammenlebens oder im Hinblick auf die Heirat erlangt wurde. Massgebend seien vielmehr die finanziellen Verhältnisse, insbesondere das steuerbare Einkommen einer Familie. Werde die ganze Familie mit Prämienverbilligungen begünstigt, unabhängig vom Zeitpunkt, in dem das Versicherungsverhältnis begründet wurde, seien ebenfalls die Prämien für die obligatorische Krankenpflegeversicherung als Auslage für die laufenden Bedürfnisse der Familie, unbeachtlich des Zeitpunktes des Abschlusses des Versicherungsverhältnisses, zu betrachten. Schliesslich sei zu beachten, dass die Beiträge von Ehefrau und Ehemann an Sozialversicherungen zum Unterhaltsbedarf nach
Art. 163 ZGB
gehören.
3.3
Auf Grund dieser Ausführungen und nachdem auf den 1. Januar 1996 das Obligatorium der Krankenpflegeversicherung eingeführt wurde, kann an der bisherigen Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht festgehalten werden. In der Tat ist zu beachten, dass nach neuem Recht jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz versicherungspflichtig ist, weshalb sie bei der Heirat nach dem 1. Januar 1996 ohnehin eine obligatorische Versicherung abgeschlossen hat. Die daraus anfallenden Prämien stellen daher voraussehbare Auslagen dar, die im Budget eines Haushaltes zu berücksichtigen sind. Diese Lösung rechtfertigt sich sodann auch unter Beachtung des Gleichbehandlungsgebots und der Regelung betreffend Prämienverbilligung sowie in Anbetracht der Tatsache, dass die Beiträge von Ehefrau und Ehemann an Sozialversicherungen zum Unterhaltsbedarf nach
Art. 163 ZGB
gehören.
BGE 129 V 90 S. 94
Daraus folgt, dass die solidarische Haftung des für Beitragsschulden belangten Ehegatten im Sinne von
Art. 166 Abs. 1 und 3 ZGB
nach Einführung der obligatorischen Krankenversicherung ungeachtet dessen eintritt, ob das der Beitragsforderung zugrunde liegende Versicherungsverhältnis während des ehelichen Zusammenlebens oder im Hinblick auf familiäre Bedürfnisse begründet worden ist. | de |
3cb2da47-c172-4665-a81d-d21d7f94b54c | Sachverhalt
ab Seite 116
BGE 112 III 115 S. 116
Am 14. Februar 1986 und 6. März 1986 erwirkte die X. & Co. zwei Arrestbefehle des Bezirksgerichtspräsidenten von A. gegen den in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaften Y. Als Arrestgegenstände wurden in beiden Fällen bezeichnet:
"Grundschuldbrief...
eingetragene Patentrechte gemäss beiliegender Fotokopie (5.10.84), welche integrierender Bestandteil dieses Arrestbefehls bildet."
Auf den Arrestbefehlen wurde ausserdem vermerkt, dass sich die Arrestgegenstände im Besitz der Z. AG in A. befänden.
BGE 112 III 115 S. 117
Das Betreibungsamt A. vollzog die Arrestbefehle am 25. Februar bzw. am 11. März 1986. Die beiden Arresturkunden wurden Y. mit eingeschriebener Post zugestellt.
Mit Eingaben vom 17. bzw. 27. März 1986 an die kantonale Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen erhob Y. sowohl gegen die Arrestbefehle als auch gegen deren Vollzug Beschwerde. Er bestritt einerseits die örtliche Zuständigkeit der Instanzen von A. und machte andererseits geltend, die Zustellung der Arresturkunden sei nichtig, weil sie nicht auf dem Rechtshilfeweg durchgeführt worden sei.
In zwei getrennten Entscheiden vom 10. April 1986 hiess die kantonale Aufsichtsbehörde die beiden Beschwerden gut; sie stellte fest, dass die beiden Arrestbefehle nichtig seien, und hob den jeweiligen Vollzug der Arreste auf.
Gegen diese beiden Entscheide hat die X. & Co. an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts rekurriert. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Gemäss
Art. 275 SchKG
wird der Arrest nach den in den Artikeln 91-109 für die Pfändung geltenden Vorschriften vollzogen. Dies hat unter anderem zur Folge, dass einzig das Betreibungsamt des Ortes, wo die Arrestgegenstände liegen, befugt ist, diese mit Beschlag zu belegen (vgl.
Art. 89 SchKG
). Es steht dem Betreibungsamt zwar nicht zu, die Grundlagen eines Arrestbefehls nachzuprüfen. Indessen bedeutet dies nicht, dass es jeden ihm von der Arrestbehörde erteilten Arrestbefehl ohne weiteres zu vollziehen hätte. Das Betreibungsamt hat den Vollzug vielmehr abzulehnen, wenn dadurch gegen Vorschriften des Pfändungsrechts verstossen würde. Letzteres trifft unter anderem dann zu, wenn Vermögenswerte mit Arrest belegt werden sollten, die nicht im Amtskreis des mit dem Vollzug beauftragten Betreibungsamtes liegen (vgl.
BGE 109 III 126
;
BGE 80 III 126
E. 3 mit Hinweisen). Wird dem Arrestbefehl in einem solchen Fall dennoch stattgegeben, kann der Arrestvollzug jederzeit von Amtes wegen aufgehoben werden (vgl.
BGE 90 II 162
E. a mit Hinweisen;
BGE 55 III 165
f.). Was die Rekurrentin vorbringt, ist nicht geeignet, diese Rechtsprechung in Frage zu stellen.
3.
Die Arrestbefehle bezogen sich hier auf einen Grundschuldbrief ... sowie auf verschiedene in- und ausländische Patent- und Gebrauchsmusterrechte, die der Rekursgegner mit
BGE 112 III 115 S. 118
Verpfändungserklärung vom 5. Oktober 1984 zur Sicherung eines ihm gewährten Darlehens an die Z. AG in A. abgetreten hatte.
a) Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der kantonalen Aufsichtsbehörde übt die Z. AG in A., wo sie lediglich ein Briefkastendomizil habe, keinerlei Geschäftstätigkeit aus. Bei dieser Sachlage steht fest, dass sich der - von der Vorinstanz unwidersprochen als Wertpapier qualifizierte - deutsche Schuldbrief nicht dort befindet, was von der Rekurrentin im übrigen ebenfalls nicht bestritten wird. Die vom Betreibungsamt A. vollzogenen Arreste erfassten demnach einen nicht in seinem Amtsbezirk gelegenen Vermögenswert. Wie die Vorinstanz unter Hinweis auf
BGE 90 II 162
E. a zutreffend ausgeführt hat, vermag der Umstand, dass sich der Sitz der Z. AG, die den Besitz der zu arrestierenden Vermögenswerte innehat, im Arrestkreis befindet, keine Arrestzuständigkeit zu begründen. Der gegenteiligen Auffassung der Rekurrentin kann nicht beigepflichtet werden. Deren Einwand, der Gläubiger könne beispielsweise bei einer Bank mit verschiedenen Filialen oft gar nicht wissen, wo genau sich die zu arrestierenden Vermögenswerte befänden, ist unbehelflich. Der vorliegende Sachverhalt lässt sich nicht etwa mit demjenigen vergleichen, der in
BGE 107 III 147
ff. zu beurteilen war. In jenem Fall war es darum gegangen, ob die gewöhnliche - d.h. nicht in einem Wertpapier verkörperte - Forderung, die dem im Ausland wohnenden Arrestschuldner gegenüber einer Bank zusteht, an deren Hauptsitz oder bei einer der Zweigniederlassungen zu arrestieren sei. Abgesehen davon, war entschieden worden, dass der Arrest dort zu vollziehen sei, wo der Geschäftsverkehr sich abgewickelt habe, auf dem der Anspruch beruhe. Es ist mit andern Worten nicht so, dass ohne weiteres am Hauptsitz der Bank ein Arrest gelegt werden könnte auf Guthaben, die dem Arrestschuldner unzweifelhaft aus Verbindungen mit einer ihrer Zweigniederlassungen zustehen.
b) Bei der Arrestierung eines Patentrechtes wird nicht etwa die Patenturkunde, die eine blosse Beweisurkunde darstellt, mit Beschlag belegt, sondern das Recht als solches (vgl.
BGE 41 III 133
E. 3; BLUM/PEDRAZZINI, Anmerkung 11 zu
Art. 33 PatG
, Seiten 304 und 305). Arrestobjekt ist hier mithin ein unkörperliches Recht, wie es bei einer gewöhnlichen Forderung der Fall ist. Von einem "Ort, wo sich der Arrestgegenstand befindet" (vgl.
Art. 272 SchKG
), kann bei einem Vermögenswert der erwähnten Art naturgemäss nur im Sinne einer Fiktion gesprochen
BGE 112 III 115 S. 119
werden (vgl.
BGE 107 III 149
f. E. 4a mit Hinweis). Bei der Arrestierung einer Forderung ist derjenige Ort massgebend, an dem sich der ihr zugrunde liegende Geschäftsverkehr abgewickelt hat (vgl.
BGE 107 III 149
f.). Dieses Anknüpfungskriterium taugt indessen nur für zweiseitige Rechtsverhältnisse und lässt sich demnach nicht auf das Patentrecht übertragen, bei dem es sich um ein absolutes, jedermann gegenüber wirkendes Recht handelt, das nicht auf die Erbringung von Leistungen gerichtet ist (vgl.
BGE 60 III 117
; TROLLER, Immaterialgüterrecht, 3. Auflage, I. Band, Seite 69).
Schon in einem Entscheid aus dem Jahre 1912 (
BGE 38 I 704
f. E. 2) hat das Bundesgericht entschieden, dass der Arrest an einem in der Schweiz angemeldeten Patent, dessen Inhaber im Ausland wohnt, am Sitz des Eidgenössischen Patentamtes (heute Bundesamt für geistiges Eigentum), d.h. in Bern, zu vollziehen sei (so auch
BGE 64 II 91
und
BGE 62 III 59
f.). In der Tat ist allein das erwähnte Amt in der Lage, die im Zusammenhang mit dem Arrest erforderlichen Verfügungsbeschränkungen durch entsprechende Einträge im Patentregister wirksam anzuordnen (vgl. LANDERER, Fragen des Schutzes des guten Glaubens im Schweizerischen Patentrecht, Diss. Zürich 1955, Seite 64). Das Gesagte gilt sinngemäss auch für hinterlegte Gebrauchsmuster (vgl. TROLLER, a.a.O., Seiten 69 und 518 f.). Soweit sich die hier in Frage stehenden Arrestbefehle auf ausländische Patent- und Gebrauchsmusterrechte bezogen hatten, war eine Arrestierung im übrigen von vornherein ausgeschlossen (vgl.
BGE 41 III 134
; BLUM/PEDRAZZINI, Anmerkung 11 zu
Art. 33 PatG
, Seite 305 oben).
Dass die strittigen Immaterialgüterrechte vom Rekursgegner an die Z. AG, d.h. an eine in der Schweiz domizilierte Gesellschaft, verpfändet worden waren, vermag am Gesagten nichts zu ändern. Einziges Erfordernis der Verpfändung eines Immaterialgüterrechts ist der schriftliche Pfandvertrag; weder der Eintrag in das entsprechende Register noch die Übergabe der Patenturkunde sind Gültigkeitserfordernis (vgl.
Art. 33 Abs. 2bis und 3 PatG
; OFTINGER/ BÄR, N. 102 zu
Art. 900 ZGB
; TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 9. Auflage, Seite 707). Anders als beim Fahrnispfand verschafft die Verpfändung eines Immaterialgüterrechts dem Pfandgläubiger nicht eine mit dem Besitz vergleichbare Herrschaft über das Pfandobjekt, und die Publizitätswirkung wird erst mit dem Eintrag des Pfandrechts in das Register geschaffen (vgl. TUOR/SCHNYDER, a.a.O.;
BGE 60 III 117
f.). Daraus folgt, dass
BGE 112 III 115 S. 120
verpfändete Immaterialgüterrechte nicht etwa am Wohnort oder am Sitz des Pfandgläubigers zu arrestieren sind. | de |
baae27f5-34b4-409a-89dc-e2adcc0ae94d | Sachverhalt
ab Seite 92
BGE 128 III 92 S. 92
D. war seit dem 25. September 1984 einziger Verwaltungsrat der F. AG. Diese erwarb am 24. November 1988 sämtliche Aktien der E. Holding AG, welche ihrerseits alle Aktien der E. AG hielt. Am 24. Februar 1989 wurde D. auch in den Verwaltungsrat der E. AG gewählt.
Am 12. Dezember 1988 schlossen die F. AG, die E. AG und die Bank C. eine Vereinbarung zur Sanierung der E. AG. Darin verpflichtete sich die F. AG unter anderem, die Software der E. AG zum Preis von Fr. 3'000'000.- zu kaufen. Der Kaufpreis war zur Hälfte bis Ende 1988 zu bezahlen, für die übrigen Fr. 1'500'000.- sollte die E. AG der F. AG ein langfristiges Darlehen gewähren. Das Darlehen sollte in jährlichen Raten von Fr. 300'000.- amortisiert werden, erstmals per 30. November 1989.
Am 5. Juli 1990 wurde über die E. AG und die E. Holding AG der Konkurs eröffnet. Die Bank A., B. und die Bank C. (Klägerinnen) sind Gläubigerinnen der E. AG. Sie liessen sich von der Konkursmasse die Verantwortlichkeitsansprüche gegen die Organe der konkursiten E. AG abtreten. Am 2. September 1993 reichten die Gläubigerinnen Klage beim Amtsgericht Luzern-Stadt ein. Sie verlangten im Wesentlichen die Verurteilung von vier Beklagten, darunter D., zur Bezahlung von Fr. 3'000'000.- nebst Zins gestützt auf aktienrechtliche Verantwortlichkeitsansprüche. Das Amtsgericht Luzern-Stadt hiess die Klage am 21. Dezember 1998 gut und
BGE 128 III 92 S. 93
verpflichtete D. zur Bezahlung von Fr. 3'000'000.- nebst Zins. Das Gericht kam zum Schluss, D. habe faktisch die E. AG seit deren Übernahme durch die F. AG geleitet bzw. deren Geschäfte geführt. In dieser Eigenschaft habe er pflichtwidrig die Bezahlung des Software-Kaufpreises von Fr. 3'000'000.- nicht überwacht bzw. für die kreditierte Kaufpreishälfte keine hinreichenden Sicherheiten vereinbart. Dadurch sei der E. AG ein Schaden in dieser Höhe entstanden, welchen der Beklagte in adäquat kausaler Weise durch die Pflichtverletzung verursacht habe, wofür ihn ein nicht leichtes Verschulden treffe. Mit Urteil vom 18. April 2001 bestätigte das Obergericht des Kantons Luzern auf Appellation des Beklagten hin das erstinstanzliche Urteil.
Der Beklagte hat gegen das Urteil des Obergerichts Berufung eingereicht. Er beantragt damit die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz. Eventualiter sei die Klage abzuweisen. Die Klägerinnen schliessen auf die Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Der Beklagte stellt zu Recht nicht in Frage, dass er seit dem 24. Februar 1989 als Verwaltungsrat der E. AG im Sinne von Art. 754 aOR haftet. Er bestreitet indes, dass er in der Zeit vom 24. November 1988 bis zum 24. Februar 1989 faktisches Organ der E. AG gewesen sei.
a) Die Organhaftung nach Art. 754 aOR erfasst nicht nur die Mitglieder des Verwaltungsrates, sondern alle mit der Geschäftsführung betrauten Personen. Als mit der Verwaltung oder Geschäftsführung betraut im Sinne dieser Bestimmung gelten nicht nur Entscheidungsorgane, die ausdrücklich als solche ernannt worden sind, sondern auch Personen, die tatsächlich Organen vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft massgebend mitbestimmen (
BGE 124 III 418
E. 1b;
BGE 122 III 225
E. 4b;
BGE 117 II 432
E. 2b;
BGE 107 II 349
E. 5a; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996, S. 442; BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht, 2. Aufl., Zürich 1996, S. 1072; FORSTMOSER, Der Organbegriff im aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsrecht, in: Freiheit und Verantwortung im Recht, Festschrift für Arthur Meier-Hayoz, Bern 1982, S. 125, S. 129 ff.; MAYA R. PFRUNDER-SCHIESS, Zur Differenzierung
BGE 128 III 92 S. 94
zwischen dem Organbegriff nach ZGB 55 und dem verantwortlichkeitsrechtlichen Organbegriff in: SZW 1993 S. 126 ff.; URS BERTSCHINGER, Arbeitsteilung und aktienrechtliche Verantwortlichkeit, Zürich 1999, S. 58 f.). Personen, die aufgrund ihrer Stellung leitende Aufgaben wahrnehmen können und in bestimmten Bereichen tatsächlich tätig werden, sind auch für pflichtwidrige Unterlassungen verantwortlich, wenn im Rahmen des an sich wahrgenommenen Aufgabenbereichs ein Tätigwerden erforderlich gewesen wäre (DRUEY, Organ und Organisation - Zur Verantwortlichkeit aus aktienrechtlicher Organschaft, in: Schweizerische Aktiengesellschaft, 1981, S. 78; BERTSCHINGER, a.a.O., S. 147 ff.; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., S. 442; FORSTMOSER, a.a.O., S. 137). Während insbesondere eine blosse Einflussnahme von Organen einer Muttergesellschaft auf diejenigen der Tochtergesellschaft regelmässig keine Organverantwortung gegenüber der Tochtergesellschaft begründet, entsteht eine faktische Organschaft in der Tochtergesellschaft jedenfalls dann, wenn sich (übertragene oder usurpierte) Zuständigkeiten bilden (DRUEY, Leitungsrecht und -pflicht im Konzern, in: Charlotte M. Baer (Hrsg.), Vom Gesellschafts- zum Konzernrecht, Bern 2000, S. 20 f.; FORSTMOSER, ebenda, Haftung im Konzern, S. 121; VON BÜREN, Der Konzern im neuen Aktienrecht, in: Grundfragen des neuen Aktienrechts, Bern 1993, S. 60 f.; PETER V. KUNZ, Rechtsnatur und Einredeordnung der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit, Diss. Bern 1993, S. 182 ff.; ALEXANDER VOGEL, Die Haftung der Muttergesellschaft als materielles, faktisches oder kundgegebenes Organ der Tochtergesellschaft, Diss. St. Gallen 1997, S. 205 ff.).
b) Dem Beklagten ist zunächst beizupflichten, wenn er vorbringt, die Einflussnahme auf die Geschäftsleitung einer Gesellschaft müsse aus einer organtypischen Stellung heraus erfolgen, damit einer Person tatsächliche Organstellung zugesprochen werden kann. Der Beklagte war einziger Verwaltungsrat der F. AG, welche am 24. November 1988 die Aktien der E. Holding AG und damit deren 100%-iger Tochter E. AG übernahm. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz war schon gemäss Aktienkaufvertrag vom 24. November 1988 beabsichtigt, die E.- und die F.-Gruppen zusammenzufassen. Nach den Erwägungen der Vorinstanz wurde im Aktienkaufvertrag vereinbart, dass die E.-Software während mindestens fünf Jahren weiterentwickelt und in der Schweiz durch die F. AG, in Deutschland durch die G. GmbH vertrieben werden sollte. Letztere sollte den Vertrieb der F.-Produkte in Deutschland
BGE 128 III 92 S. 95
übernehmen. Die Koordination der Geschäftsführung der beiden Gesellschaften wurde nach den Feststellungen der Vorinstanz durch die F. AG wahrgenommen, namentlich durch deren Exekutivausschuss. In den Sitzungen dieses Exekutivausschusses waren insbesondere auch die Sanierung und die Liquiditätssituation der finanziell angeschlagenen E.-Gesellschaften traktandiert. Der Ausschuss unterstand statutarisch dem Verwaltungsrat der F. AG, deren einziges Mitglied der Beklagte war, der seinerseits stets an den Sitzungen des Ausschusses mit beratender Stimme teilnahm.
c) Die Vorinstanz hat die organtypische Stellung zutreffend aus einer länger dauernden Zuständigkeitsregelung erschlossen. Um das Bestehen einer derartigen Zuständigkeit zu beurteilen, durfte die Vorinstanz ohne Bundesrechtsverletzung bei organisatorisch grundsätzlich unveränderten Gegebenheiten Entscheide mitberücksichtigen, die nach der hier in Frage stehenden kurzen Zeit getroffen wurden. Danach hat der Exekutivausschuss der F. AG tatsächlich die Geschäfte der E. AG weitgehend geleitet und zwar seit der Übernahme der E. Holding AG am 24. November 1988. Der Exekutivausschuss koordinierte die Geschäftstätigkeiten der F. AG mit denjenigen der E.-Unternehmen und behandelte auch deren Sanierung und die Liquiditätssituation der finanziell angeschlagenen Gesellschaften. Da der Beklagte diesem Ausschuss als beratendes Mitglied angehörte, an dessen Sitzungen stets teilnahm und diesem Ausschuss als einziger Verwaltungsrat der F. AG überdies formell vorgesetzt war, ist der Schluss der Vorinstanz bundesrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Beklagte tatsächlich eine organtypische Stellung in der E. AG wahrnahm und sich dabei insbesondere auch mit deren Sanierung befasste. (vgl. auch
BGE 128 III 29
ff.) | de |
ba77c1a4-3381-43df-a12f-1c20759d61b7 | Sachverhalt
ab Seite 105
BGE 133 II 104 S. 105
Die Aare-Tessin AG für Elektrizität (Atel), die BKW FMB Energie AG, die Centralschweizerische Kraftwerke AG, die Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG, das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ), die Energie Ouest Suisse (EOS) SA und die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK) sind alle als Unternehmungen im Elektrizitätsbereich tätig. Unter anderem betreiben sie jeweils in ihrem Gebiet das bisher lediglich tatsächlich, nicht aber rechtlich zusammengeschlossene schweizerische Netz für die Übertragung von Höchstspannungsstrom. Im Jahre 2004 einigten sich die sieben
BGE 133 II 104 S. 106
Unternehmungen, die Aktiengesellschaft Swissgrid AG zu gründen, deren Zweck der Betrieb des schweizerischen Übertragungsnetzes und die Erbringung damit zusammenhängender Dienstleistungen ist. Mit diesem zentralen schweizerischen Netzbetreiber sollen das schweizerische Übertragungsnetz der Stromordnung der Europäischen Union angepasst und die in der politischen Diskussion des schweizerischen Gesetzgebers geplante nationale Netzgesellschaft vorgespurt werden (vgl. dazu die Botschaft des Bundesrates vom 3. Dezember 2004 zur Änderung des Elektrizitätsgesetzes und zum Stromversorgungsgesetz, BBl 2004 S. 1611 ff.).
Am 29. November 2004 meldeten die sieben Unternehmungen das Zusammenschlussvorhaben bei der Wettbewerbskommission (Weko) an. Mit Verfügung vom 7. März 2005 stellte die Wettbewerbskommission in Anwendung von
Art. 10 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG; SR 251) | de |
a8a577f5-c257-46fc-aee0-99667ac662b8 | SR 843.1 1 Verordnung zum Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz (VWEG)1 vom 30. November 1981 (Stand am 1. Januar 2013) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf Artikel 67 des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes vom 4. Oktober 19742 (im folgenden Gesetz genannt), verordnet: 1. Titel: Förderung des Wohnungsbaus im allgemeinen 1. Kapitel:3 Erschliessung Art. 14 Erschliessungsbeiträge der Grundeigentümer 1 Die Gesamtheit der Grundeigentümer muss wenigstens tragen: a. von den Kosten für Anlagen der Groberschliessung: 30 Prozent; b. von den Kosten für Anlagen der Feinerschliessung: 70 Prozent. 2 Dienen Anlagen gleichzeitig der Grob- und der Feinerschliessung, so sind die Kos- tenanteile nach dem Verhältnis der Erschliessungsfunktionen zu berechnen. 3 Die Kantone können Gebühren für den Anschluss an Anlagen der Groberschlies- sung Erschliessungsbeiträgen gleichstellen, wenn die Anschlussgebühren innerhalb von drei Jahren nach der Fertigstellung der einzelnen Erschliessungsanlagen bezahlt werden. 4 Die Kantone können bei Anlagen der Energie- und Wasserversorgung ganz oder teilweise auf die Erschliessungsbeiträge verzichten, wenn nachgewiesen ist, dass der Betrieb sowohl die Betriebs- als auch die Erschliessungskosten deckt. Art. 1a5 Härtefälle Stellt die rechtzeitige Bezahlung eines Beitrages für den Beitragspflichtigen eine unzumutbare wirtschaftliche Härte dar, so kann der Erschliessungsträger die Bezah- lung des Beitrages auf Gesuch hin stunden. AS 1981 2088 1 Abkürzung eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, in Kraft seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 2924). 2 SR 843 3 Eingefügt durch Ziff. 1 der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 4 Eingefügt durch Ziff. 1 der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 5 Eingefügt durch Ziff. 1 der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 843.1 Wohnverhältnisse 2 843.1 Art. 1b6 Landwirtschaftliche Grundstücke Die Kantone können die Fälligkeit von Beiträgen für nicht überbaute Grundstücke, die zu einem landwirtschaftlichen Heimwesen gehören und landwirtschaftlich be- wirtschaftet werden, für eine bestimmte Zeit aufschieben. 2. Kapitel:7 Erschliessungshilfe Art. 28 Art und Zweck der Hilfe Zur Förderung des Wohnungsbaus vermittelt und verbürgt der Bund Darlehen zur Erschliessung von Land für den Wohnungsbau und gewährt Zinszuschüsse. Art. 39 Empfänger der Hilfe 1 Empfänger der Hilfe sind Gemeinden und andere öffentlich-rechtliche Körper- schaften sowie rechtlich selbständige Unternehmen, die aufgrund öffentlichrecht- licher Verpflichtungen Land für den Wohnungsbau erschliessen. 2 Die Hilfe kann Trägern und Organisationen des Wohnungsbaus gewährt werden, wenn sie aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften oder mit Zustimmung der zu- ständigen Behörden vertraglich Erschliessungspflichten übernommen haben. Art. 410 In Betracht fallende Anlagen 1 Die Bundeshilfe wird gewährt für Anlagen, die eine Erschliessungsvoraussetzung für die Erstellung der Bauten und die Erteilung der Baubewilligung bilden. 2 Solche Anlagen sind insbesondere: a. Strassen, Wege und Nebenanlagen; b. Versorgungsanlagen, insbesondere Leitungen und dazugehörige Nebenanla- gen für Energie- (Elektrizität, Gas usw.) und Wasserversorgung sowie Ab- wasserbeseitigung. Art. 4a11 Zinszuschüsse und Tilgung der verbürgten Darlehen 1 Nach Genehmigung der Schlussabrechnung leistet der Bund einen einmaligen Zinszuschuss. Dieser beträgt bei einer Verzinsung des Darlehens mit 5 Prozent 12,5 Prozent der Schlussabrechnungssumme über die beitragsberechtigten Erschlies- sungsanlagen. Bei Veränderung des Zinssatzes um je 0,5 Prozent wird der Zuschuss prozentual angepasst. 6 Eingefügt durch Ziff. 1 der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 7 Ursprünglich 1. Kap. 8 Ursprünglich Art. 1 9 Ursprünglich Art. 2 10 Ursprünglich Art. 3 11 Ursprünglich Art. 4 Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 3 843.1 2 Die Laufzeit der verbürgten Darlehen beträgt in der Regel 20 Jahre und beginnt nach vollständiger Auszahlung. Aus wichtigen Gründen kann das Bundesamt für Wohnungswesen (Bundesamt) die Laufzeit der Bürgschaft um fünf Jahre verlängern. 3 Beiträge des Bundes, der Kantone und Dritter (Grundeigentümerbeiträge) sind zur Teilrückzahlung der Darlehen zu verwenden. 4 Der Restbetrag des verbürgten Darlehens ist in den ersten fünf Jahren tilgungsfrei. Danach muss er bis zum Ende der Laufzeit in gleich hohen Raten zurückbezahlt werden. 3. Kapitel:12 Vorsorglicher Landerwerb Art. 5 Voraussetzungen 1 Hilfe wird an die Erwerbskosten von Grundstücken gewährt, die als Bauland für Wohnungszwecke eingezont sind. Ausnahmsweise kann Hilfe an die Erwerbskosten noch nicht eingezonter Grundstücke gewährt werden, wenn von den zuständigen Behörden zugesichert wird, dass die Grundstücke innerhalb nützlicher Frist einge- zont werden. 2 Es wird in der Regel nur Hilfe gewährt, wenn in der betreffenden Gegend für die nächsten zehn Jahre ein Bedarf an Neuwohnungen besteht. Art. 6 Tilgung und Verzinsung 1 Die Tilgung kann bis zum Baubeginn aufgeschoben werden. 2 Die Verzinsung erfolgt zu den marktüblichen Zinsen. Art. 7 Zwecksicherung 1 Das Bundesamt überwacht die Einhaltung der in Artikel 24 des Gesetzes vorgese- henen Sicherungsmassnahmen. Insbesondere verfügt es die Ausübung des gesetzlich vorgesehenen Kaufs- und Vorkaufsrechtes sowie die Abtretung dieser Rechte. 2 Bei Vorliegen wichtiger Gründe kann das Bundesamt nach Anhören des Kantons auf die Ausübung des Kaufsrechtes verzichten. 4. Kapitel:13 Wohnungsmarktforschung, Baumarktforschung, Bauforschung und Baurationalisierung Art. 8 Koordination 1 Die Forschungsbedürfnisse anderer Bundesstellen, der Kantone, der Gemeinden, der Universitäten, Hochschulen und höheren technischen Lehranstalten sowie der 12 Ursprünglich 2. Kap. 13 Ursprünglich 3. Kap. Wohnverhältnisse 4 843.1 Bauwirtschaft sind, soweit sie die Wohnungsmarkt-, Baumarkt- und Bauforschung betreffen, durch das Bundesamt zu koordinieren. 2 Das Bundesamt kann die Koordination und Zentralisierung einer öffentlich zu- gänglichen Dokumentation auf den Gebieten der Wohnungsmarkt-, der Baumarkt- und der Bauforschung fördern. Art. 9 Forschungsprogramm 1 Für die Wohnungsmarkt-, die Baumarkt- und die Bauforschung sind im Rahmen eines auf die schweizerische Forschungspolitik abgestimmten Forschungsplanes systematische Forschungsprogramme aufzustellen. Ihr Inhalt ist auf die Dauer von jeweils drei bis fünf Jahren festzulegen und soweit zu präzisieren, dass ihr Beitrag zur Erreichung der Ziele des Gesetzes abgeschätzt werden kann. 2 Für die Durchführung der Forschungsprogramme ist eine Dringlichkeitsordnung festzulegen. Forschungsvorhaben, die innerhalb der Gültigkeitsdauer eines For- schungsprogrammes den grössten Beitrag zur Erreichung der Ziele des Gesetzes ver- sprechen, haben Priorität. 3 Die Forschungsprogramme sind dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF)14 zur Genehmigung zu unterbreiten.15 4 …16 Art. 10 Zusicherungen 1 Das Bundesamt entscheidet über die Aufträge und Gesuche, wenn die Auftrags- oder Beitragssumme 300 000 Franken nicht übersteigt; in den übrigen Fällen leitet das Bundesamt sie mit seinem Antrag an das WBF zum Entscheid weiter. 2 Den Gesuchen sind alle nötigen Unterlagen beizulegen, insbesondere plan, Zeit- plan, Kostenvoranschlag und eine Darstellung der Methodik, nach der die Arbeit durchgeführt werden soll. Ferner ist nachzuweisen, dass die Arbeiten von qualifi- zierten Fachleuten zu üblichen Bedingungen ausgeführt werden. Art. 11 Kontrolle und Auskunftspflicht 1 Dem Bundesamt ist jederzeit Einsicht in die Bücher der Auftrags- und Beitrags- empfänger zu gewähren, soweit die Buchführung mit den Forschungsaufträgen oder -beiträgen im Zusammenhang steht. Es kann Zwischenberichte über den Stand der Arbeiten verlangen. 14 Die Bezeichnung der Verwaltungseinheit wurde in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 der Publikationsverordnung vom 17. Nov. 2004 (AS 2004 4937) auf den 1. Jan. 2013 ange- passt. Die Anpassung wurde im ganzen Text vorgenommen. 15 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, in Kraft seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 2924). 16 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, mit Wirkung seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 2924). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 5 843.1 2 Dem Bundesamt sind die für die Wohnungsmarkt-, Baumarkt- und Bauforschung erforderlichen Angaben zur Verfügung zu stellen. Die Vertraulichkeit der Angaben ist im Einzelnen zu wahren. Art. 12 Veröffentlichung der Forschungsergebnisse 1 Der Auftraggeber oder der Träger der Forschungsarbeiten hat dafür zu sorgen, dass die Forschungsergebnisse allgemein und entschädigungslos zugänglich sind. 2 Über die Veröffentlichung der Ergebnisse von Forschungsaufträgen befindet das Bundesamt.17 3 Der Bund trägt in der Regel die Kosten für eine geeignete Veröffentlichung der Ergebnisse von Forschungsaufträgen. 4 Der Bund kann bis zu 40 Prozent der Publikationskosten für besonders wichtige Forschungsarbeiten Dritter übernehmen. 2. Titel: Förderung des Wohnungsbaus im besonderen 1. Kapitel: Massnahmen zur Verbilligung der Mietzinse 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 13 Grundsatz 1 Die Finanzierungshilfe nach Artikel 36 des Gesetzes und die Vorschüsse nach Artikel 37 des Gesetzes bilden die Grundverbilligung, die Zuschüsse nach Artikel 42 des Gesetzes die Zusatzverbilligungen. 2 Finanzierungshilfe, Vorschüsse und Zuschüsse können bei der Erneuerung von Altbauten einzeln oder kombiniert gewährt werden. Die Mietzinsbelastung darf nach der Erneuerung nicht tiefer als vorher sein.18 Art. 14 Empfänger der Hilfe Empfänger der Hilfe sind die Eigentümer oder Bauberechtigten der betreffenden Mietobjekte. Art. 15 Umschreibung der Zweckentfremdung 1 Eine Zweckentfremdung nach Artikel 46 des Gesetzes liegt vor, wenn eine Woh- nung zu andern als zu Wohnzwecken oder als Zweitwohnung benützt wird. 2 Wohnungsinhaber oder mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebende Personen dürfen ausnahmsweise Teile der Wohnung zur Berufsausübung benützen, wenn diese Räumlichkeiten nicht mehr als ein Drittel der Nettowohnfläche ausmachen. 17 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, in Kraft seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 2924). 18 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). Wohnverhältnisse 6 843.1 Art. 16 Geltendmachung des gesetzlichen Kaufs- und Vorkaufsrechts 1 Bei Zweckentfremdung kann das Bundesamt die Ausübung oder Abtretung des gesetzlichen Kaufs- oder Vorkaufsrechts verfügen. 2 Bei Vorliegen wichtiger Gründe kann das Bundesamt nach Anhören des Kantons auf die Ausübung des Kaufsrechts verzichten. Art. 17 Durchführung der Mietzinsüberwachung 1 Das Bundesamt überwacht im Sinne von Artikel 45 des Gesetzes die Mietzinse der verbilligten Wohnungen, nach Möglichkeit unter Mithilfe der Kantone. 2 Der Eigentümer hat dem jeweiligen Mieter die vom Bundesamt nach Massgabe des Finanzierungsplanes genehmigten Mietzinse schriftlich mitzuteilen. 3 Bei Überschreitung der genehmigten Mietzinse oder bei Zweckentfremdung ist dem Eigentümer eine Frist von drei Monaten zur Rückzahlung der zuviel bezogenen Leistungen an die Mieter zu setzen. Das Bundesamt fordert die zuviel bezogenen Beträge samt Zins zum Satz der zweiten Hypotheken zuhanden der Mieter zurück. Art. 17a19 Rechtsschutz der Mieterschaft Der Mieter kann den Mietzins sowie die Mietzinsanpassungen beim Bundesamt auf ihre Rechtmässigkeit überprüfen lassen. Die Prüfung erfolgt in einem einfachen und kostenlosen Verfahren. Art. 1820 Handänderung 1 Die Handänderung einer mit Bundeshilfe finanzierten Wohnung ist nur mit Ge- nehmigung des Bundesamtes zulässig. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn sich der neue Eigentümer vertraglich verpflichtet, in den öffentlich-rechtlichen Vertrag nach dem Gesetz einzutreten, die Schuldverpflichtung für die aufgelaufenen Grund- verbilligungsvorschüsse zu übernehmen sowie den Mietzins- und Finanzierungsplan einzuhalten. Die Genehmigungspflicht sowie die Übernahme der Schuldverpflich- tung können im Grundbuch angemerkt werden. 2 Als Handänderung gilt jede Form von Eigentümerwechsel, namentlich Kauf, Ersteigerung, Tausch, Schenkung, Erbteilung, richterliche Zuweisung. 3 Bei einer richterlichen Zuweisung gilt Absatz 1 sinngemäss. 4 Für Personen mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland muss die Finanzierung ohne Bundesbürgschaft sichergestellt sein. 19 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 20 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 7 843.1 Art. 18a21 Zwangsverwertung 1 Bei Zwangsverwertung eines Grundstückes muss in die Steigerungsbedingungen die Klausel aufgenommen werden, dass mit dem Erwerb Rechte und Pflichten nach dem Gesetz übernommen werden und dass die erwerbende Person unmittelbar nach dem Zuschlag der Steigerungsbehörde die schriftliche Erklärung abzugeben hat, dass sie in das öffentlich-rechtliche Vertragsverhältnis nach dem Gesetz eintritt. 2 In begründeten Fällen kann das Bundesamt die Genehmigung nach Artikel 18 innerhalb von 30 Tagen verweigern und die Steigerungsbehörde anhalten, eine neue Versteigerung anzuordnen. 3 Bei einem freihändigen Verkauf im Rahmen einer Zwangsverwertung finden die Absätze 1 und 2 sinngemäss Anwendung. Art. 19 Teilweise Beanspruchung der Bundeshilfe Die Verbürgung der Darlehen und die Vorschüsse zur Senkung der Anfangsmieten können durch Banken, Bürgschaftsgenossenschaften, Gemeinwesen oder andere Dritte übernommen werden. Auch in diesen Fällen können die Zusatzverbilligungen beansprucht werden. Art. 19a22 Teilweise Beanspruchung bei Erneuerung von Altbauten 1 Bei der Erneuerung von Altbauten kann nach Ablauf von zehn Jahren auf die Bun- deshilfe verzichtet werden. 2 Der Verzicht wird bewilligt, wenn der Eigentümer die Bürgschaft abgelöst und all- fällige Vorschüsse des Bundes einschliesslich Zinsen zurückbezahlt hat. Art. 19b23 Erneuerung ohne Beanspruchung der Grundverbilligung Das Bundesamt kann für die Festsetzung der Mietzinse nach erfolgter Erneuerung Artikel 14 der Verordnung vom 9. Mai 199024 über die Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen sowie für die nachfolgenden Mietzinsanpassungen die Krite- rien nach Artikel 269a Buchstaben b, d, e und f des Obligationenrechts25 als an- wendbar erklären. 21 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 22 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). 23 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 24 SR 221.213.11 25 SR 220 Wohnverhältnisse 8 843.1 Art. 19c26 Kostengrenzen bei Erneuerung Belaufen sich die Erneuerungskosten auf weniger als 50 000 Franken pro Wohnung, wird keine Bundeshilfe ausgerichtet. Mindestens die Hälfte der Kosten muss auf wertvermehrende Verbesserungen entfallen. 2. Abschnitt: Grundverbilligung Art. 20 Baukredite Als Darlehen nach Artikel 36 des Gesetzes gelten auch die während der Bauzeit erforderlichen Baukredite. Art. 21 Mietzins- und Finanzierungsplan 1 Der Mietzins- und Finanzierungsplan wird für 25 Jahre erstellt; er ist so abzustim- men, dass während dieser Zeit alle Lasten des Eigentümers gedeckt, die Vorschüsse samt Zins zurückerstattet und höchstens 30 Prozent der Anlagekosten getilgt werden können. 2 Der verbilligte Anfangsmietzins ist so anzusetzen, dass bei einer jährlichen Erhö- hung der jeweiligen Mietzinse die Bedingungen nach Absatz 1 in der Regel nach 25 Jahren erfüllt werden können. 3 Die im Rahmen des Mietzins- und Finanzierungsplanes vorgesehenen Erhöhungen können durch das Bundesamt aufgrund der Marktverhältnisse geändert werden.27 4 Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann der Mietzins- und Finanzierungsplan in der Regel um fünf Jahre verlängert werden. Danach noch geschuldete Vorschüsse und Zinsen sind vom Eigentümer oder nötigenfalls vom Bund zu übernehmen. Dabei sind die Marktgegebenheiten sowie die besonderen Verhältnisse des Eigentümers angemessen zu berücksichtigen.28 4bis Der Bund kann geschuldete Vorschüsse und Zinsbetreffnisse vor Ablauf von 30 Jahren in folgenden Fällen ganz oder teilweise erlassen: a. wenn der Empfänger von Bundeshilfe aufgrund der Marktverhältnisse vo- raussichtlich nicht in der Lage ist, die finanziellen Verpflichtungen innert 30 Jahren zu erfüllen und ein Verzicht für den Bund insgesamt in finanziel- ler Hinsicht von Vorteil ist. Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen: 1. der Mietertrag im Vergleich zum Mietzinsplan, 2. die verbleibende Laufzeit der Grundverbilligungsschuld, 3. die Leerwohnungsziffer der Gemeinde, in der das Objekt liegt, 26 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 27 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990 (AS 1990 1851). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 28 Ursprünglich Abs. 3. Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 9 843.1 4. der Erneuerungsbedarf, 5. die Vergleichsmiete, 6. allfällige Verzichtsleistungen von Finanzierungspartnern im Rahmen von Sanierungsvereinbarungen; b. im Rahmen einer Zwangsverwertung, sofern weitere beteiligte Gläubiger zu Verlust mindernden Massnahmen Hand bieten.29 5 Leistungen der Kantone, Gemeinden und anderer Dritter können zu einer weiteren Verbilligung beitragen, ohne dass dadurch die Bundeshilfe gekürzt wird.30 Art. 21a31 Senkung der Mietzinse Erfordern es die Marktverhältnisse oder liegen bei einem Objekt ernsthafte Vermie- tungsschwierigkeiten vor, können die Mietzinse mit Genehmigung des Bundesamtes vorübergehend gesenkt werden. In begründeten Fällen können die Mietzinssenkun- gen mit zusätzlichen Vorschüssen aufgefangen werden. Art. 22 Mietzinsausfälle 1 Mietzinsausfälle, die sechs Monatsbeträge nicht übersteigen, trägt in der Regel der Eigentümer. 2 Bei nachweisbar unverschuldetem Leerstand kann der Bund in der Regel vom siebten Monat an die Mietzinsausfälle durch Vorschüsse decken. Diese sind wie die ordentlichen Grundverbilligungsvorschüsse zu verzinsen und spätestens nach Ablauf des Mietzins- und Finanzierungsplanes zurückzuzahlen. Bei der Festsetzung von Höhe und Dauer der Vorschüsse sind besondere Verhältnisse der Vermieterschaft angemessen zu berücksichtigen.32 Art. 23 Verzinsung 1 Bei der Verzinsung des Fremdkapitals dürfen die Zinssätze die marktüblichen Ansätze nicht übersteigen. 2 Das investierte Eigenkapital darf höchstens zum Zinssatz der ersten Hypotheken verzinst werden.33 Art. 24 Unterhalts- und Verwaltungskosten 1 Im Mietzins- und Finanzierungsplan wird ein Prozentsatz der Anlagekosten für die Deckung der Unterhalts- und Verwaltungskosten vorbehalten. 29 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). 30 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 31 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 32 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 33 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). Wohnverhältnisse 10 843.1 2 Soweit für den Unterhalt bestimmte Mittel nicht dem Erneuerungsfonds oder freien Reserven zugeführt werden, sind sie für zusätzliche Amortisationszahlungen zu ver- wenden.34 Art. 25 Nebenkosten 1 Die Nebenkosten werden dem Mieter gesondert nach Aufwand berechnet. Es sind dies alle Kosten, die mit dem Gebrauch der Mietsache im Zusammenhang stehen, einschliesslich der dadurch bedingten öffentlichen Abgaben. 2 Als Nebenkosten gelten neben den in Artikel 38 des Gesetzes genannten insbeson- dere die Kosten für a. Treppenhausreinigung; b. Anschlüsse an Radio und Fernsehen; c. Prämien von Bürgschaftsgenossenschaften; sowie die Betriebskosten von d. Heizungs- und Warmwasseraufbereitung; e. Gemeinschaftsanlagen und f. Aufzügen. 3 Das Bundesamt kann die Pauschalierung einzelner Positionen sowie den monat- lichen Vorausbezug für Nebenkosten bewilligen. Art. 26 Bewohner Die grundverbilligten Wohnungen können vom Eigentümer an jedermann vermietet werden. 3. Abschnitt: Zusatzverbilligungen Art. 27 Umfang der Zusatzverbilligungen I und II 1 Der nicht zurückzahlbare Zuschuss beträgt 0,6 Prozent der Anlagekosten pro Jahr bei der Zusatzverbilligung I und 1,2 Prozent der Anlagekosten pro Jahr bei der Zusatzverbilligung II. 2 Die Zusatzverbilligung I wird in der Regel während 15 Jahren ab Beginn der Bundeshilfe ausgerichtet. Die Dauer der Ausrichtung der Zusatzverbilligung I kann um maximal sechs Jahre verlängert werden.35 34 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 35 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986 (AS 1987 88). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 11 843.1 3 Die Zusatzverbilligung II wird in der Regel während der ganzen Laufzeit der Bun- deshilfe von 25 Jahren ausgerichtet.36 4 Die Zusatzverbilligung I kann während elf Jahren und die Zusatzverbilligung II während 25 Jahren bis höchstens um 0,6 Prozent der Anlagekosten pro Jahr erhöht werden, sofern der Kanton oder die Gemeinde einen mindestens gleich hohen Zu- schuss ausrichtet oder einen gleichwertigen Beitrag leistet.37 5 Anstelle des Kantons oder der Gemeinde können auch andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, Stiftungen und gemeinnützige Organisationen Zuschüsse ausrichten oder Beiträge leisten.38 Art. 27a39 Empfänger der Zusatzverbilligungen I und II 1 Die Zusatzverbilligung I erhalten Alleinstehende, Familien und Wohngemein- schaften, welche nicht unter Absatz 2 fallen. 2 Die Zusatzverbilligung II erhalten Betagte, Invalide, Pflegebedürftige, Pflegeper- sonal und Personen in Ausbildung. Art. 27b40 Belegung der Wohnungen 1 Die Zusatzverbilligung I wird für Wohnungen gewährt, die höchstens zwei Zim- mer mehr als Bewohner aufweisen. 2 Die Zusatzverbilligung II wird für Wohnungen gewährt, die höchstens ein Zimmer mehr als Bewohner aufweisen. Bei Haushalten mit einem minderjährigen Kind darf die Wohnung höchstens zwei Zimmer mehr als Bewohner aufweisen. 3 Bei Wohnungen, die höchstens drei Zimmer aufweisen, bestehen keine Belegungs- vorschriften. Art. 2841 Einkommensgrenzen 1 Die Zusatzverbilligungen werden für Wohnungen gewährt, deren Bewohner insge- samt ein steuerbares Einkommen nach dem Bundesgesetz vom 14. Dezember 199042 über die direkte Bundessteuer haben, das 50 000 Franken nicht übersteigt.43 36 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 37 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990 (AS 1990 1851). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 38 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). 39 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986 (AS 1987 88). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 40 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998 (AS 1998 1420). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, in Kraft seit 1. Jan. 2001 (AS 2000 2924). 41 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). 42 SR 642.11 43 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Wohnverhältnisse 12 843.1 2 Der massgebende Betrag wird aufgrund einer Bescheinigung der Steuerbehörde festgestellt, die der Empfänger der Zusatzverbilligung beibringen muss. Hat sich das Einkommen seit der letzten Steuerveranlagung erheblich verändert, so muss dies der Empfänger nachweisen. 3 Für jedes Kind, das minderjährig ist oder sich noch in Ausbildung befindet und für dessen Unterhalt die Familie oder eine alleinstehende Person aufkommt, erhöht sich die Grenze um 2500 Franken.44 3bis Bei Mietern in bestehenden Mietverhältnissen erhöht sich die massgebende Einkommensgrenze um 10 Prozent.45 3ter Das steuerbare Einkommen von in gleichem Haushalt lebenden Personen in Ausbildung bis 25 Jahre wird nicht angerechnet.46 4 Das WBF kann die Einkommensgrenze und den Zuschlag für Kinder periodisch anpassen. Es berücksichtigt dabei die Entwicklung des Wohnungsmarktes, der Hypothekarzinssätze, des Mietpreisindexes sowie des Baukostenindexes. Ände- rungen des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer kann das Bundesamt durch Anpassung der Bemessungsgrundlagen Rechnung tragen.47 5 Liegt das steuerbare Einkommen nach direkter Bundessteuer über der Grenze nach den Absätzen 1, 3 und 3bis, so können die Zusatzverbilligungen aufgrund der Ein- kommensvorschriften des Kantons oder der Gemeinde gewährt werden, wenn diese vergleichbare Beiträge leisten.48 Art. 2949 Vermögensgrenzen 1 Die Zusatzverbilligungen werden für Wohnungen gewährt, deren Bewohner insge- samt ein Vermögen haben, das abzüglich ausgewiesener Schulden 144 000 Franken nicht übersteigt.50 2 Für jedes minderjährige oder sich in Ausbildung befindende Kind, für dessen Unterhalt die Familie oder eine alleinstehende Person aufkommt, erhöht sich die Grenze um 16 900 Franken.51 44 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 45 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000 (AS 2000 2924). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). 46 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). 47 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 48 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). 49 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). 50 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 51 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 13 843.1 2bis Bei Mietern in bestehenden Mietverhältnissen erhöht sich die massgebende Vermögensgrenze um 10 Prozent.52 3 Betagten, Invaliden und Pflegebedürftigen wird 1/10 des die Grenze übersteigenden Vermögens als Einkommen angerechnet.53 4 Das WBF passt die Vermögensgrenze und den Zuschlag für Kinder in gleichem Verhältnis wie die Einkommensgrenze an. 5 Liegt das Vermögen über der Grenze nach den Absätzen 1, 2 und 2bis, so können die Zusatzverbilligungen aufgrund der Vermögensvorschriften des Kantons oder der Gemeinde gewährt werden, wenn diese vergleichbare Beiträge leisten.54 Art. 30 Persönliche Verhältnisse 1 Als Betagte gelten Personen, die nach dem Bundesgesetz vom 20. Dezember 194655 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung einen Anspruch auf eine Altersrente haben. 2 Als invalid gelten Personen, die nach dem Bundesgesetz vom 19. Juni 195956 über die Invalidenversicherung, dem Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallver- sicherung57 oder dem Bundesgesetz vom 20. September 194958 über die Militärver- sicherung Anspruch auf eine Invalidenrente von mindestens 50 Prozent haben. 3 Als pflegebedürftig gelten Personen, die für Ihre Pflege dauernd auf die Hilfe Dritter und auf baulich geeignete Wohnungen angewiesen sind. 4 Als Pflegepersonal gelten Personen, die zur dauernden Hauspflege mit den Betag- ten, Invaliden oder Pflegebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt oder in einer von diesen zur Verfügung gestellten Wohnung leben. 5 Personen stehen in Ausbildung, wenn sie nachweisbar eine Berufslehre absolvie- ren, eine Fortbildungsschule, höhere Schule, Universität oder Hochschule besuchen und wenn sie oder ihre Eltern die Ausbildungskosten nicht allein aufbringen können. 52 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). 53 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Siehe auch die SchlB dieser Änd. am Ende des vorliegenden Textes. 54 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). 55 SR 831.10 56 SR 831.20 57 [BS 8 281; AS 1959 858, 1964 965, 1968 64, 1971 1465 II Art. 6 Ziff. 2, 1977 2249 Ziff. I 611, 1978 1836 Anhang Ziff. 4, 1982 196 1676 Anhang Ziff. 1 2184 Art. 114, 1990 1091, 1991 362 Ziff. II 412, 1992 288 Anhang Ziff. 37 2350, 1995 511. AS 1995 1328 Anhang Ziff. 1]. Siehe heute das BG vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (SR 832.10) und für die Unfallversicherung das BG vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (SR 832.20). 58 [AS 1949 1671, 1956 759, 1959 303, 1964 253, 1968 563, 1972 897 Art. 15 Ziff., 1982 1676 Anhang Ziff. 5 2184 Art. 116, 1990 1882 Anhang Ziff. 9, 1991 362 Ziff. II 414. AS 1993 3043 Anhang Ziff. 1]. Siehe heute das BG vom 19. Juni 1992 (SR 833.1). Wohnverhältnisse 14 843.1 6 Den Kindern gleichgestellt ist, mit Ausnahme des Ehegatten, jede andere Person, für deren Unterhalt die Familie oder der Alleinstehende aufkommt.59 Art. 3160 Überprüfung 1 Die Empfänger einer Zusatzverbilligung müssen nach jeder neuen Veranlagung für die direkte Bundessteuer dafür sorgen, dass die Steuerverwaltung die neuen Ein- kommens- und Vermögensverhältnisse der zuständigen kantonalen Amtsstelle mit- teilt. 2 Das Bundesamt überprüft unter Mithilfe der Kantone und Gemeinden die An- spruchsberechtigung. …61.62 Art. 31a63 Auszahlung der Zusatzverbilligungen 1 Die Zusatzverbilligung wird in der Regel ab Einzugstermin, frühestens aber mit Beginn des Semesters, in welchem sie beantragt wird, ausgerichtet. 2 Die erstmalige Auszahlung von Zusatzverbilligung nach Einreichen der Bau- abrechnung erfolgt in der Regel auf maximal zwei Jahre rückwirkend. Art. 32 Wegfall der Zusatzverbilligung 1 Die Zusatzverbilligung fällt so lange weg, als: a. der Empfänger seiner Pflicht, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse periodisch zu melden, ohne wichtigen Grund nicht nachkommt; b. eine Wohnung von Personen benützt wird, welche die persönlichen Voraus- setzungen nicht oder nicht mehr erfüllen.64 2 Wenn die Zusatzverbilligung wegfällt, bleibt die Grundverbilligung bestehen. Art. 3365 Anwendung auf Wohngemeinschaften Wohngemeinschaften von Betagten, Invaliden, Pflegebedürftigen, Pflegepersonal oder Auszubildenden mit mindestens drei Personen erhalten die Zusatzverbilligung, wenn das durchschnittliche Einkommen und Vermögen der Bewohner die zulässigen Grenzen nach den Artikeln 28 Absätze 1, 3 und 3bis sowie 29 Absätze 1, 2 und 2bis nicht übersteigt. 59 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 60 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 61 Zweiter Satz aufgehoben durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, mit Wirkung seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 62 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). 63 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 64 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 65 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 15 843.1 2. Kapitel: Förderung des Erwerbs von Wohnungs- und Hauseigentum 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 34 Art der Hilfe Finanzierungshilfe, Vorschüsse und Zuschüsse können im Rahmen der nachfolgen- den Bestimmungen einzeln oder kombiniert in Anspruch genommen werden. Art. 35 Anwendungsbereich 1 Die Hilfe wird für die Erstellung einer Wohnung oder für den Erwerb einer Woh- nung gewährt, die sich im Bau befindet oder bereits erstellt ist. 2 In Härtefällen kann die Bundeshilfe auch gewährt oder ergänzt werden, wenn dem Eigentümer der Verlust der Wohnung droht. Art. 36 Formen der Hilfe 1 Die Verbürgung von Darlehen kann als direkte Hilfe an den Erwerber oder als indirekte Hilfe an den Bauträger erfolgen. 2 Die indirekte Hilfe ist abzulösen, wenn die Wohnung an einen Erwerber übergeht, der die Bundeshilfe nicht beansprucht. Die indirekte Hilfe ist durch die direkte Hilfe zu ersetzen, wenn die Wohnung von einem Erwerber übernommen wird, der Bun- deshilfe in Anspruch nimmt. Art. 3766 Subjektive Voraussetzungen 1 Die direkte Bundeshilfe wird nur volljährigen Personen mit schweizerischem Bür- gerrecht, mit dem Bürgerrecht eines Staates der Europäischen Union oder mit Nie- derlassungsbewilligung gewährt.67 2 Die direkte Bundeshilfe wird auch Personen mit Aufenthaltsbewilligung gewährt, deren Heimatstaat Personen mit schweizerischem Bürgerrecht ähnliche Rechte zuge- steht. Der Nachweis ist durch die gesuchstellende Person zu erbringen. Art. 38 Bewilligung der freihändigen Veräusserung bzw. der Zweckentfremdung Die Veräusserung oder die Verwendung zu andern als zu Wohnzwecken ist zu be- willigen, wenn der Eigentümer die Bundesbürgschaft abgelöst oder das verbürgte Darlehen und allfällige Vorschüsse des Bundes samt Zinsen zurückbezahlt hat. All- 66 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 67 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Nov. 2000, in Kraft seit 1. Juni 2002 (AS 2000 2924). Diese Bestimmung ist gleichzeitig mit dem Abk. vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, in Kraft getreten (SR 0.142.112.681). Wohnverhältnisse 16 843.1 fällige Zuschüsse des Bundes sind nur so weit zurückzuzahlen, als der Veräusse- rungspreis nach Abzug von Gebühren, Handänderungskosten und geschuldeten Bundesvorschüssen über dem ursprünglichen Kaufpreis liegt oder die um den Mehrwert des Eigenkapitals nach Artikel 67 erhöhten Anlagekosten übersteigt. Art. 39 Vermietung 1 Als wichtige Gründe im Sinne von Artikel 49 Absatz 2 des Gesetzes gelten insbe- sondere die Vermietung an Verwandte in auf- und absteigender Linie sowie an Geschwister, der vorübergehende Nichtgebrauch und der vorsorgliche Erwerb einer Alterswohnung. 2 Eine Vermietung kann auch bewilligt werden, wenn das Wohnobjekt aufgrund von finanziellen, beruflichen oder persönlichen Veränderungen nicht mehr selber be- wohnt werden kann, eine Veräusserung jedoch nicht oder nur mit erheblichem Ver- lust für den Eigentümer möglich ist.68 Art. 40 Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen Das Bundesamt kann die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen bewilli- gen, wenn die Zustimmung des Eigentümers vorliegt. Art. 41 Anwendbarkeit der Bestimmungen über die Mietzinsverbilligung Soweit dieses Kapitel keine abweichende Regelung enthält, gelten die Bestimmun- gen über die Verbilligung der Mietzinse sinngemäss. 2. Abschnitt: Grundverbilligung Art. 4269 Zulässige Belastung Die Eigentümerlasten müssen ohne Verzinsung des Eigenkapitals in einem ange- messenen Verhältnis zum Einkommen stehen. Art. 43 Vermögensgrenzen Das Vermögen darf in der Regel nach Abzug der ausgewiesenen Schulden 50 Pro- zent der Anlagekosten nicht überschreiten. Für die Bestimmung des massgebenden Vermögens gelten die Grundsätze von Artikel 29 Absätze 2–4. 68 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 69 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 17 843.1 Art. 43a70 Erlass von Vorschüssen und Zinsbetreffnissen Der Bund kann geschuldete Vorschüsse und Zinsbetreffnisse ganz oder teilweise erlassen. Artikel 21 Absatz 4bis ist sinngemäss anwendbar. 3. Abschnitt: Zusatzverbilligungen Art. 4471 Anwendbare Bestimmungen Für die Zusatzverbilligungen gelten die Artikel 27–33. Art. 44a72 Personen in Ausbildung Personen in Ausbildung können die Zusatzverbilligung II für den Erwerb von Woh- nungs- und Hauseigentum nicht beanspruchen. 3. Kapitel: Anforderungen an die Wohnbauvorhaben 1. Abschnitt: Bauliche Anforderungen Art. 4573 Grundsatz 1 Bauvorhaben sollen dem Anliegen der Raumplanung, des Natur- und Heimat- schutzes, der sparsamen und rationellen Energieverwendung sowie des Umwelt- schutzes Rechnung tragen.74 Sie haben eine haushälterische Nutzung des Bodens zu gewährleisten. 2 Gefördert werden: a. preisgünstige und wirtschaftliche Objekte, die gute bauliche Qualität und hohen Wohnwert aufweisen; b. Bauvorhaben, die für die Entwicklung zukunftsorientierter Wohn- und Sied- lungsformen wegleitend sind. Art. 46 Besondere Wohnkategorien Bei grösseren Überbauungen kann ein Mindestanteil an Wohnungen für Betagte, Invalide, kinderreiche Familien sowie Personen mit beschränkten Erwerbsmöglich- keiten verlangt werden. 70 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 12. März 2004, in Kraft seit 1. April 2004 (AS 2004 1597). 71 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 72 Ursprünglich Art. 44. 73 Ursprünglich vor Kap. 3. Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 74 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). Wohnverhältnisse 18 843.1 Art. 47 Baupolizei 1 Die baupolizeilichen Anforderungen der Kantone und Gemeinden sind zu erfüllen, soweit nicht in dieser Verordnung strengere Anforderungen an die Wohnbauten gestellt werden oder rechtliche Vorschriften für die Baurationalisierung erlassen worden sind. 2 Die Anforderungen für den baulichen Zivilschutz müssen erfüllt sein. 3 Die Weisungen des Bundesrates vom 15. Oktober 197575 über bauliche Vorkehren für Gehbehinderte sind wegleitend. Art. 48 Nettowohnfläche und Raumprogramm Das WBF erlässt Vorschriften über die minimalen Nettowohnflächen, das minimale Raumprogramm nach Haushaltgrössen sowie über die minimale Ausstattung von Küche und Hygienebereich. Art. 49 Alters- und Invalidenwohnungen 1 Als Alterswohnungen gelten Kleinwohnungen mit bis zu drei Zimmern. Neu zu erstellende Kleinwohnungen müssen den Bedürfnissen der Betagten Rechnung tragen. Das WBF erlässt entsprechende Mindestanforderungen und Empfehlungen.76 2 Als Invalidenwohnungen gelten Wohnungen aller Grössen, die den besonderen Anforderungen der Invaliden genügen. Art. 50 Schall- und Wärmeschutz, Immissionen 1 Alle Wohnungen sind gegen Lärm und andere Immissionen genügend zu isolieren; insbesondere sind Decken und Trennwände zwischen den Wohnungen sowie die Sanitäranlagen so zu konstruieren, dass der Schall möglichst nicht von einer Woh- nung auf die andere übertragen wird. 2 Das WBF erlässt Vorschriften über die minimalen Dämmwerte für Schall- und Wärmeschutz. 3 Für Bauvorhaben, die übermässigen Immissionen, insbesondere Lärm und Abga- sen von Motorfahrzeugen ausgesetzt sind, kann die Bundeshilfe verweigert werden. 2. Abschnitt: Kosten Art. 51 Erstellungskosten 1 Die für die Bundeshilfe massgebenden Erstellungskosten setzen sich zusammen aus den Kosten für Vorbereitungsarbeiten, Gebäude, Umgebungs- und Erschlies- sungsarbeiten sowie den Auslagen für die Baunebenkosten. 75 BBl 1975 II 1972 76 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 19 843.1 2 Das WBF legt die zulässigen oberen Kostengrenzen fest. Dabei werden die beson- deren Anforderungen an Alters- und Invalidenwohnungen sowie an Wohnungs- und Hauseigentum berücksichtigt. 3 Die Kostengrenzen können im Einzelfall durch das Bundesamt, für ganze Landes- gegenden durch das WBF herab- oder heraufgesetzt werden, wenn besondere Ver- hältnisse dies rechtfertigen. Dies gilt namentlich in städtischen Agglomerationen, sofern die Kosten unter Berücksichtigung aller Umstände angemessen sind und bei normaler Lastenrechnung noch tragbare Mietzinse bzw. Kaufpreise ergeben. Art. 52 Angemessenheit 1 Bundeshilfe wird nur gewährt, wenn die Erstellungskosten angemessen sind. 2 Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Erstellungskosten sind neben der baulichen Qualität des Gebäudes die Wohnwerte, namentlich in Bezug auf den gebo- tenen Raum, die Innenausstattung, die Wohnanlage sowie der Wohnungsstandort zu berücksichtigen. 3 Zur Ermittlung der Wohnwerte stellt das Bundesamt Richtlinien auf. Art. 53 Grundstückskosten 1 Die Grundstückskosten setzen sich zusammen aus den Kosten und den Neben- kosten für den Grundstückserwerb, aus den Aufwendungen für Abfindungen, für Planungsarbeiten und die Finanzierung vor Baubeginn sowie aus den Kosten für Groberschliessung inklusive Erschliessungsbeiträge an Gemeinden und Korporatio- nen. 2 Die Grundstückskosten müssen in einem angemessenen Verhältnis zu den Erstel- lungskosten stehen. Bei der Beurteilung der Angemessenheit sind der Verkehrswert, der Erschliessungsgrad, die Beschaffenheit des Baugrundes, allfällige Immissionen und die Nutzungsmöglichkeit zu würdigen. 3 Für die Beurteilung der Angemessenheit des Baurechtszinses gilt Absatz 2 sinn- gemäss. Zudem sind die Dauer des Baurechts, die mit dem Heimfall verbundene Entschädigung des Baurechtsinhabers (Heimfallsentschädigung) und die Entschädi- gung für das Baurecht (Baurechtszins) zu berücksichtigen.77 4 Die Heimfallsentschädigung und der Baurechtszins können bestimmten wirtschaft- lichen Gegebenheiten angepasst werden. Für den Baurechtszins ist dies insbesondere die Entwicklung der Zinssätze für Althypotheken, für den Landwert sind es der Lan- desindex der Konsumentenpreise sowie die Erstellungskosten und die Kosten wert- vermehrender Investitionen.78 77 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 78 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990 (AS 1990 1851). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Wohnverhältnisse 20 843.1 5 Sind indexgebundene Baurechtszinse vereinbart, darf die jährliche Anpassung in der Regel nicht mehr als die Hälfte des Anstiegs des Landesindexes der Konsumen- tenpreise betragen.79 3. Titel: Förderung von Trägern und Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus Art. 54 Art der Hilfe 1 Der Bund unterstützt die Tätigkeit von Trägern und Organisationen des gemein- nützigen Wohnungsbaus durch Kapitalbeteiligungen, Darlehen, Bürgschaften und nicht rückzahlbare Zuschüsse.80 2 Er fördert die Aus- und Weiterbildung, den Erfahrungsaustausch und die Koordi- nation unter den Trägern und Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Art. 55 Gemeinnützigkeit 1 Als gemeinnützig gilt eine Tätigkeit, die den Anforderungen von Artikel 6 Ab- satz 1 Buchstabe a des Bundesgesetzes vom 27. Juni 197381 über die Stempelabga- ben entspricht, und den Bedarf an Wohnungen decken soll, die preisgünstig sind und den Wohnbedürfnissen Rechnung tragen. 2 Der Grundsatz der Gemeinnützigkeit ist in den Statuten der Träger und Organisa- tionen zu verankern. 3 Öffentlich-rechtliche Körperschaften, die Wohnungen gemäss Absatz 1 bereitstel- len, gelten als gemeinnützig.82 Art. 56 Empfänger der Hilfe Die Bundeshilfe wird juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts ausgerichtet, welche auf gemeinnütziger Grundlage den überwiegenden Teil ihrer Tätigkeit dauernd der Förderung des Wohnungsbaus und des Erwerbs von Woh- nungs- und Hauseigentum widmen. Art. 57 Kapitalbeteiligung 1 Der Bund kann sich am Kapital von Dachorganisationen sowie von Trägern und Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus mit überregionaler Bedeutung beteiligen. 79 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 80 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). 81 SR 641.10 82 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, in Kraft seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 21 843.1 2 Das Bundesamt setzt die Höhe der Kapitalbeteiligung im Einzelfall fest. Die Betei- ligung der öffentlichen Hand soll in der Regel 50 Prozent des Gesellschafts- bzw. Genossenschaftskapitals nicht übersteigen. Art. 5883 Darlehen an Dachorganisationen und gemeinnützige Wohnbauträger Der Bund kann zinsgünstige oder zinslose Darlehen gewähren an: a. Dachorganisationen gemeinnütziger Wohnbauträger oder Wohnbauorganisa- tionen; b. gemeinnützige Wohnbauträger zur Erfüllung besonderer Aufgaben. Art. 58a84 Zusammenarbeit mit Dachorganisationen Der Bund kann für den Vollzug des Gesetzes Dachorganisationen des gemeinnützi- gen Wohnungsbaus beiziehen. Art. 59 Objektgebundene Darlehen und Bürgschaften 1 Der Bund kann Trägern und Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus Darlehen oder Bürgschaften bis zu 95 Prozent der Anlagekosten der einzelnen Wohnungen gewähren. 2 Während der Bauzeit dürfen die Bürgschaften den Baukredit vollständig abdecken. 3 Die Darlehen sind längstens innerhalb von 30 Jahren zurückzuzahlen und zum Satz der zweiten Hypotheken zu verzinsen. Art. 59a85 Revisionspflicht 1 Die Revisionspflicht richtet sich nach dem Obligationenrecht (OR)86. 2 Die Dachorganisationen und die Emissionszentralen müssen in jedem Fall eine ordentliche Revision nach Artikel 727 OR vornehmen lassen. 3 Das Bundesamt verlangt eine eingeschränkte Revision von Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus, die im Rahmen von Artikel 727a OR auf eine Revision verzichtet haben. Die Revision ist durch eine unabhängige Person mit einer Zulassung durch die Eidgenössische Revisionsaufsichtsbehörde durchzuführen. 4 Verfügt eine Organisation nach Absatz 3 über höchstens 30 mit Bundeshilfe geför- derte Wohnungen, so kann das Bundesamt eine prüferische Durchsicht der Jahres- rechnung nach den Vorgaben des Bundesamtes gestatten, wenn die prüfende Person die nötige Sachkunde hat. 83 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 84 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 85 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 28. Nov. 2007, in Kraft seit 1. Jan. 2008 (AS 2007 7129). 86 SR 220 Wohnverhältnisse 22 843.1 Art. 60 Zwecksicherung 1 Geschäftsbericht, Jahresrechnung und Revisionsbericht der Dachorganisationen oder Träger und Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus mit überregio- naler Bedeutung sind dem Bundesamt vorzulegen. 2 Bei Bundeshilfe an Dachorganisationen oder Träger und Organisationen des ge- meinnützigen Wohnungsbaus mit überregionaler Bedeutung haben diese dafür zu sorgen, dass die Statuten der ihnen angeschlossenen Träger und Organisationen den Vorschriften dieser Verordnung entsprechen. 3 Der Bund kann an die Gewährung von Darlehen und Bürgschaft zur Zwecksiche- rung im Einzelfall besondere Bedingungen und Auflagen knüpfen. Art. 60a87 Mietzinsausgleich bei Erwerb oder Erneuerung Wird der Erwerb oder die Erneuerung eines Mehrfamilienhauses unter Ausrichtung von Grundverbilligung mit Bundeshilfe unterstützt, kann das Bundesamt dem Ver- mieter auf Gesuch hin bewilligen, die Mietzinse der einzelnen Wohnungen nach Erwerb oder Erneuerung untereinander auszugleichen. Dadurch darf auf die ganze Liegenschaft bezogen kein Mehrertrag resultieren. 4. Titel: Gemeinsame Bestimmungen Art. 61 Bedarf 1 Voraussetzung der Bundeshilfe ist, dass an den vorgesehenen Wohnobjekten und Mietzinskategorien ein Bedarf besteht und eine Baubewilligung erteilt wird. Voraus- setzung zum Erwerb von Wohnungs- und Hauseigentum ist nachgewiesener Eigen- bedarf. 2 Das Bundesamt überprüft den Bedarf zusammen mit Kantonen und Gemeinden. Es kann vom Gesuchsteller entsprechende Nachweise verlangen. 3 In Bergregionen sind die Entwicklungskonzepte im Sinne des Bundesgesetzes vom 28. Juni 197488 über Investitionshilfe für Berggebiete zu berücksichtigen. Art. 6289 Prioritäten 1 Reichen die finanziellen Mittel nicht aus, so werden zunächst und unter sich gleichrangig gefördert: a. Träger und Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus; b. der Erwerb von Wohnungs- und Hauseigentum; 87 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 88 [AS 1975 392, 1980 1798, 1985 387, 1991 857 Anhang Ziff. 24, 1992 288 Anhang Ziff. 43. AS 1997 2995 Art. 25]. 89 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 23 843.1 c. die Erstellung und die Erneuerung von Wohnhäusern, die mehrheitlich Woh- nungen für Betagte und Invalide aufweisen; d. die Erneuerung bestehender Wohnungen; e. Bauvorhaben, für die der Bund im Rahmen des Gesetzes Vorleistungen er- bracht hat. 2 Das Bundesamt kann zur besseren regionalen Verteilung der finanziellen Mittel kantonale Kontingente festlegen. Art. 63 Art der Bundesbürgschaft 1 Die Bürgschaft des Bundes erfolgt in der Form der einfachen Bürgschaft nach Artikel 495 des Obligationenrechts90. 2 Die Bundesbürgschaft kann als Rückbürgschaft ausgestaltet werden. Art. 64 Kreditgeber Kreditgeber sind die dem Bankengesetz vom 8. November 193491 unterstellten Institute sowie allfällige weitere geeignete Geldgeber wie Versicherungsgesellschaf- ten und Pensionskassen. Art. 65 Berechnung der Kosten 1 Berechnungsgrundlage für die von Fachleuten zu erstellenden Kostenvoranschläge sind in der Regel die Preise, die zur Zeit der Einreichung der Gesuche gelten. 2 Die ausgewiesene Teuerung zwischen dem Preisstand des Kostenvoranschlages und der Bauausführung ist zu berücksichtigen. 3 Mehrkosten während der Bauzeit infolge zwingender Projektänderungen oder unvorhergesehener Arbeiten sind zu berücksichtigen. Art. 66 Vergebung der Arbeiten 1 Abmachungen über die Ausführung in Regie oder zu Pauschalpreisen bedürfen der Genehmigung des Bundesamtes. Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn nach Prüfung der Unterlagen Gewähr dafür besteht, dass die Bauausführung dadurch nicht verteuert wird. 2 Bundeshilfe wird nur gewährt, wenn der Wettbewerb mit freien Preiseingaben gesichert ist und der Bauherr weder direkt noch indirekt verpflichtet ist, die Verge- bung von Arbeiten und Lieferungen auf orts- oder kantonsansässige Architekten, Handwerker, Unternehmer und Lieferanten zu beschränken. 90 SR 220 91 SR 952.0 Wohnverhältnisse 24 843.1 Art. 67 Mehrwert des Eigenkapitals Der Mehrwert des Eigenkapitals nach den Artikeln 24 Absatz 3, 41 und 50 Absatz 2 des Gesetzes setzt sich zusammen aus den indexierten Werten des investierten Eigenkapitals und den wertvermehrenden Aufwendungen. Massgebend ist der Lan- desindex der Konsumentenpreise. Art. 68 Kontrolle Das Bundesamt lässt Projekte, Kostenvoranschläge und Abrechnungen sowie die erstellten Bauten und Anlagen durch Fachleute überprüfen; nach Möglichkeit unter Mithilfe der Kantone. 5. Titel: Zusätzliche Mittel bei früher verbilligten Wohnungen Art. 69 Die zusätzlichen Mittel nach Artikel 64 Absatz 2 des Gesetzes sind auf ein Sperr- konto einzuzahlen, über das nur mit Zustimmung des Bundesamtes verfügt werden kann. 6. Titel: Verfahren Art. 7092 Vorabklärung bei Erschliessungs- und Wohnbauvorhaben Vor der Verwirklichung von Erschliessungs- und Wohnbauvorhaben kann das Bun- desamt auf Gesuch hin abklären, ob grundsätzlich Bundeshilfe in Betracht kommt. Art. 71 Zusicherung und Ablehnung93 1 Das Bundesamt sichert die Bundeshilfe dem Gesuchsteller schriftlich zu. 2 Binnen eines Monats seit der Eröffnung hat der Gesuchsteller mitzuteilen, ob er die an die Zusicherung geknüpften Bedingungen annimmt. Im übrigen finden die Arti- kel 56 und 57 des Gesetzes Anwendung. 3 Die zuständigen kantonalen Amtsstellen sind über die Zusicherungen zu orientie- ren. 4 Das Bundesamt weist Gesuche um Bundeshilfe, die es aufgrund der Prioritäten- ordnung nicht innert einer angemessenen Frist berücksichtigen kann, mit einer Ver- fügung ab.94 Art. 72 Beginn und Weiterführung der Arbeiten 1 An bereits in Ausführung begriffene Arbeiten wird in der Regel keine Bundeshilfe zugesichert, sofern nicht eine schriftliche Zustimmung zum vorzeitigen Beginn 92 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 93 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). 94 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 22. Dez. 1986, in Kraft seit 1. Jan. 1987 (AS 1987 88). Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz. V 25 843.1 erteilt wurde. Vorbehalten bleibt der Erwerb einer Wohnung, die sich im Bau befin- det (Art. 35). 2 Bei Forschungsgesuchen gelten vorbereitende Arbeiten, die zur Präzisierung des Auftrages oder des Arbeitsprogramms notwendig sind, nicht als vorzeitiger Beginn der Arbeiten. 3 Bundeshilfe wird in der Regel nur gewährt, wenn die Arbeiten innerhalb von sechs Monaten seit der Zusicherung begonnen und möglichst ohne Unterbrechung weiter- geführt werden. 4 Die Zusicherung von Bundeshilfe fällt dahin, wenn die Bedingungen über den Beginn und die ununterbrochene Weiterführung der Arbeiten nicht eingehalten wer- den. Fristverlängerungen sind nur ausnahmsweise zu bewilligen. Art. 72a95 Grundbucheintrag Wird die Bundeshilfe für den Erwerb einer Wohnung beantragt, so darf der Eintrag ins Grundbuch erst erfolgen, wenn das Bundesamt die Bundeshilfe zugesichert oder schriftlich eine Bewilligung zum vorzeitigen Grundbucheintrag erteilt hat. Art. 73 Änderung der Projekte und ausgeführten Bauten Die nachträgliche Änderung der Projekte und ausgeführten Bauten, bei denen Bun- deshilfe zugesichert wurde, bedarf der schriftlichen Zustimmung des Bundesamtes. Die Zustimmung darf nur erteilt werden, wenn die Voraussetzungen und Bedingun- gen für die Gewährung der Bundeshilfe erfüllt bleiben. Art. 74 Abrechnung 1 Nach Abschluss der Arbeiten bzw. nach erfolgtem Landkauf ist dem Bundesamt eine fachgerecht erstellte, detaillierte und vom Gesuchsteller unterzeichnete Abrech- nung mit den Originalbelegen einzureichen. 2 Das Bundesamt prüft die Abrechnung auf ihre Richtigkeit und setzt gestützt darauf die endgültige Höhe der Bundeshilfe fest, nach Möglichkeit unter Mithilfe der Kantone. Art. 75 Abrechnung bei mehreren selbständigen Bauten Bezieht sich die Bundeshilfe auf mehrere selbständige Bauten, so kann über jeden Wohnbau getrennt abgerechnet werden, auch wenn er im Grundbuch nicht als selb- ständige Liegenschaft eingetragen ist. Wird gesamthaft abgerechnet, ist der Abrech- nung eine Liste beizufügen, in der die Abrechnungsergebnisse für jeden einzelnen Wohnbau getrennt angegeben sind. 95 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). Wohnverhältnisse 26 843.1 Art. 75a96 Rechtsschutz Der Rechtsschutz bei Streitigkeiten über öffentlichrechtliche Verträge im Sinne der Artikel 56 Absatz 2 und 57 Absatz 3 des Gesetzes richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege. Art. 75b97 Datenschutz 1 Die im Rahmen des Vollzuges des Gesetzes erhobenen Daten sind vertraulich. 2 Das Bundesamt kann in begründeten Fällen Auskunft an Dritte erteilen, sofern sie für den Vollzug des Gesetzes notwendig ist oder statistischen Erhebungen dient. Persönliche Daten dürfen nicht weitergegeben werden. 7. Titel: Schlussbestimmungen Art. 76 Aufhebung bisherigen Rechts Die Verordnung vom 20. August 197598 zum Wohnbau- und Eigentumsförderungs- gesetz wird aufgehoben. Art. 7799 Art. 78 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 1982 in Kraft. Schlussbestimmung der Änderung vom 25. März 1998100 Die neuen Artikel 27b und 29 Absatz 3 gelten für Zusicherungen von Bundeshilfe, welche nach Inkrafttreten dieser Änderung verfügt werden. 96 Eingefügt durch Anhang Ziff. 22 der V vom 3. Febr. 1993 über Vorinstanzen des Bundes- gerichts und des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [AS 1993 901]. Fassung gemäss Ziff. II 101 der V vom 8. Nov. 2006 über die Anpassung von Bundesratsverordnungen an die Totalrevision der Bundesrechtspflege, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 4705). 97 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 25. März 1998, in Kraft seit 1. Juli 1998 (AS 1998 1420). 98 [AS 1975 1507, 1978 181] 99 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 21. Nov. 1990, mit Wirkung seit 1. Dez. 1990 (AS 1990 1851). 100 AS 1998 1420 | de |
2eccd65e-abea-4262-9c7d-affe676a9077 | Sachverhalt
ab Seite 300
BGE 103 IV 299 S. 300
A.-
Am Abend des 27. August 1976 missachtete M. in Horgen/Käpfnach mit seinem Personenwagen eine auf Rot stehende Signalanlage und überholte mehrere davor vorschriftsgemäss haltende Fahrzeuge. Deswegen sprach ihn der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Horgen wegen Verletzung von Verkehrsregeln schuldig. Gleichzeitig verurteilte er ihn gestützt auf das Ergebnis der Blutprobe von mindestens 3,34%o wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand zu zwei Monaten Gefängnis unbedingt.
B.-
Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 17. März 1977 eine Berufung M.'s ab.
C.-
Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt M., das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben, soweit es ihn des Fahrens in angetrunkenem Zustande schuldig befunden und unbedingt zu einer 2monatigen Gefängnisstrafe verurteilt hat, und die Sache sei zur Ergänzung der Beweise und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Obergericht und Staatsanwaltschaft verzichten auf Gegenbemerkungen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer stellte im vorinstanzlichen Verfahren verschiedene Beweisanträge. So verlangte er die Einvernahme der Serviertochter und der Wirtsleute des Restaurants, in welchem er sich am Abend des 27. August 1976 aufgehalten hatte. Sie sollten bezeugen, dass er ausser einem Campari nichts Alkoholisches getrunken und keinerlei Anzeichen von Angetrunkenheit hatte erkennen lassen. Sein Sohn sollte bezeugen, dass er zu Hause praktisch keinen Alkohol trinke und zur fraglichen Zeit kein Bier besass. Ferner verlangte er die Einvernahme und die Einholung von Berichten von den Personen, die sich mit der Blutentnahme und deren Begutachtung befassten.
Diese Beweisanträge hat das Obergericht abgewiesen. Darin sieht der Beschwerdeführer eine Verletzung des
Art. 249 BStP
.
a) Die entscheidende Behörde hat die Beweise gemäss
Art. 249 BStP
frei zu würdigen und ist an keine gesetzlichen Beweisregeln gebunden. Sie hat daher die Beweiskraft der erhobenen und der angerufenen Beweise in jedem einzelnen Falle anhand der konkreten Umstände zu prüfen und darf nicht zum voraus und ohne Rücksicht auf die Verhältnisse des Einzelfalles
BGE 103 IV 299 S. 301
einem Beweismittel gegenüber einem andern den Vorzug geben (
BGE 84 IV 174
f. E. 2). Das führt aber nicht dazu, dass der Richter schematisch alle Beweismittel einander gleichstellt. Sprechen nicht besondere Gründe dagegen, kann er sehr wohl einem Beweis, der nach allgemeiner Erfahrung grössere Sicherheit bietet, gegenüber einem andern den Vorzug geben. Er kann auch gestützt auf die besonderen Umstände des Falles die Abnahme beantragter Beweise ablehnen, wenn er zur Überzeugung gelangt, sie würde zu keinem andern zuverlässigen Ergebnis führen. Eine solche vorweggenommene, freie Würdigung der Überzeugungskraft des Beweismittels anhand der konkreten Umstände ist zwar vorsichtig zu handhaben, ist aber immer noch freie Beweiswürdigung, an die der Kassationshof gebunden ist (Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277bis Abs. 1 BStP;
BGE 84 IV 176
f. E. 4). Anders verhält es sich nur, wo das Gesetz, wie in Art. 13, 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB oder
Art. 138 ff. VZV
, den Richter anhält, bei Feststellung einer Tatsache sich gewisser Beweismittel zu bedienen. Dann darf er die Feststellung nicht treffen, ohne den gesetzlich verlangten Beweis zu erheben und seine Beweiskraft zu prüfen, selbst wenn er zum vorneherein diesen Beweis für überflüssig hält. Unterlässt er es, verletzt er die Vorschrift, die ihn zur Erhebung des Beweises verpflichtet. In der Würdigung dieses Beweises aber bleibt der Richter frei (es sei denn, das Bundesrecht enthalte selber eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung).
b) Die Vorinstanz hat in Abwägung der konkreten Umstände (keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Blutentnahme oder mögliche Verfälschung des klinischen Befundes durch Ernüchterungsschock und Beherrschung, keine hinreichende Beweiskraft der angerufenen Zeugen usw.) auf die Blutanalyse von Prof. B. und deren Bestätigung durch Dr. G. abgestellt. Sie gab diesem wissenschaftlichen Beweis den Vorzug vor dem klinischen Befund von Dr. K. und hat damit eine vom Kassationshof gemäss
Art. 273 und
Art. 277bis BStP
nicht überprüfbare tatsächliche Feststellung getroffen.
2.
Der Beschwerdeführer rügt ausserdem eine Verletzung von Art. 4 Abs. 3 und 4 des Bundesratsbeschlusses vom 14. Februar 1968 über die Feststellung der Angetrunkenheit von Strassenbenützern. Diese Bestimmungen wurden am 1. Januar 1977 abgelöst durch die gleichlautenden Vorschriften von
BGE 103 IV 299 S. 302
Art. 141 Abs. 3 und 4 VZV
(Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr vom 27. Oktober 1976, SR 741.51), so dass der Rechtszustand zur Zeit der Beurteilung durch das Obergericht nicht geändert hat.
a) Nach diesen Vorschriften ist zum Ergebnis der Blutanalyse auf Verlangen des Verdächtigten und in Zweifelsfällen das Gutachten eines gerichtlich-medizinischen Sachverständigen einzuholen (Abs. 3). Der Sachverständige hat den ärztlichen Untersuchungsbefund und den Bericht der Polizei mitzuberücksichtigen und seine Schlussfolgerungen zu begründen. Nötigenfalls sind die Zuverlässigkeit der Blutanalyse und die Möglichkeit von Fehlerquellen durch einen Fachmann (Chemiker) zu begutachten (Abs. 4).
b) Im vorliegenden Fall wurde die Blutanalyse des Gerichtschemikers Prof. B. vom Oberarzt Dr. med. G. vom Gerichtlich-medizinischen Institut der Universität Zürich bestätigt. Zur Begründung verweist Dr. G. auf die vorgedruckten Bemerkungen Nr. 2, 3 und 6 auf der Rückseite des Formulars.
c) Die Blutanalyse wurde also von einem gerichtlich-medizinischen Sachverständigen, Oberarzt Dr. med. G., bestätigt. Das allein genügt indessen nicht. Der Sachverständige hat "seine Schlussfolgerungen zu begründen". Er muss angeben, gestützt auf welche Überlegungen er zu seinen Schlüssen gelangt ist (
BGE 102 IV 123
E. c). Inhalt und Umfang der Begründung richten sich nach dem Einzelfall. Oft kann eine Verweisung auf vorgedruckte Begründungen genügen. Doch trifft dies nicht immer zu. Vorab darf der Gerichtsmediziner nicht stillschweigend über offensichtliche Widersprüche oder Auffälligkeiten hinweggehen. Mindestens muss er darauf hinweisen und nötigenfalls anregen, die Zuverlässigkeit der Blutanalyse und mögliche Fehlerquellen durch einen Chemiker begutachten zu lassen. Doch kann es nicht seine Aufgabe sein, Erhebungen anzustellen, anzuregen oder zu veranlassen, die den Rahmen der Gerichtsmedizin und der gerichtlichen Chemie sprengen.
d) Der Beschwerdeführer beanstandet, einerseits werde festgestellt, die geltend gemachten Medikamente (Valium) könnten die Alkoholwirkung wesentlich verstärken und es könne der Blutgehalt wegen des kurz vor dem kritischen Ereignis genossenen Alkohols möglicherweise zur rechtlich relevanten Zeit nicht wesentlich höher gewesen sein als der Analysenwert, da
BGE 103 IV 299 S. 303
Alkoholabbau und Nachresorption sich kompensiert haben könnten. Entgegen letzterer Feststellung sei aber für die rechtlich relevante Zeit von einem im Vergleich zu den gefundenen Analysenwerten geringeren Blutalkoholgehalt ausgegangen worden.
Es ist dem Beschwerdeführer zuzugeben, dass der zusammenhanglose Verweis auf verschiedene vorgedruckte Bemerkungen Unklarheiten schafft. Doch ist nicht einzusehen, inwiefern diese Unklarheiten für die Beurteilung erheblich sein könnten. Der durch die Analyse ausgewiesene Blutalkoholgehalt von ca. 3,4%o ist so hoch, dass eine kleine Differenz nach unten oder oben für die Beurteilung unerheblich ist. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer sich nicht beklagen kann, wenn - entgegen dem, was die Begründung erwarten lässt - der für die massgebliche Zeit angenommene Alkoholgehalt unter und nicht über dem gemessenen Alkoholgehalt angegeben wird.
e) Nach dem klinischen Befund von Dr. K. über die medizinisch feststellbaren Anzeichen von Angetrunkenheit (Art. 3 BRB bzw.
Art. 140 VZV
) stand der Beschwerdeführer nicht merkbar unter Alkoholwirkung. Sein Verhalten war ruhig; der Test Romberg über Gleichgewicht, Gehversuch und Fingerprobe verlief negativ; die Sprache war unauffällig, die Stimmung normal; es bestand keine Amnesie.
Der Beschwerdeführer rügt, dass Oberarzt Dr. G. zu diesem Befund nicht Stellung genommen hat. Tatsächlich ist dieser Befund mit der Blutanalyse nur schwer zu vereinbaren und hätte daher einer näheren Erörterung durch Oberarzt Dr. G. gerufen. Denn nach Art. 4 Abs. 4 des BRB vom 14. Februar 1968 bzw.
Art. 141 Abs. 4 VZV
hat der gerichtlich-medizinische Sachverständige den ärztlichen Untersuchungsbefund mitzuberücksichtigen und darf ihn folglich, wenn er wesentlich von der Blutanalyse abweicht, nicht stillschweigend übergehen. Das Gutachten war daher in einem wesentlichen Punkte unvollständig.
Das Obergericht ist unter Berufung auf zwei Gutachten der Gerichtsmedizinischen Institute in Zürich und Bern aus dem Jahre 1975 über die Diskrepanz zwischen Blutanalyse und klinischem Befund hinweggegangen. In diesen Gutachten wird festgestellt, dass das klinische Bild und der Blutalkoholgehalt oft nicht übereinstimmen. Auch wenn diese Feststellung als Erfahrungstatsache
BGE 103 IV 299 S. 304
betrachtet werden kann (
BGE 103 IV 113
E. 3;
BGE 103 IV 273
E. 3), genügt sie im vorliegenden Falle nicht, um die Diskrepanz zwischen klinischem Befund und Blutanalyse zu erklären, zumal auch die Verordnung gestützt auf
Art. 55 Abs. 3 SVG
eine individuelle Begutachtung in Zweifelsfällen vorsieht (
Art. 141 Abs. 3 VZV
;
BGE 101 IV 233
).
Da der vom Gesetzgeber dem Beschuldigten gewährte Anspruch auf gutachtliche Überprüfung des Ergebnisses der Blutanalyse sich seiner Natur nach in den Rahmen des rechtlichen Gehörs im weitern Sinn einfügt, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Einholung einer ergänzenden Expertise und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen unbekümmert darum, ob Aussicht besteht, dass die Behebung des Mangels zu einer sachlichen Änderung des angefochtenen Urteils führen wird (
BGE 102 IV 124
).
3.
Die Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand ist daher aufzuheben. Je nach der neuen Beurteilung dieses Anklagepunktes wird auch die Strafe neu zuzumessen und über den bedingten Strafvollzug neu zu befinden sein. | de |
b9669f25-d4df-431c-9243-3cde877acd59 | Sachverhalt
ab Seite 490
BGE 136 III 490 S. 490
A.
Y. (Beschwerdegegner) ist einziger Aktionär der A. AG in Liquidation. Über die A. AG war am 17. Oktober 2005 der Konkurs eröffnet und das Konkursamt B. mit der Durchführung des Verfahrens betraut worden.
In der gegen Y. geführten Betreibung Nr. 1 vollzog das Betreibungsamt Z. am 14. und 17. November 2008 auf Verlangen von X. (Beschwerdeführer) die Nachpfändung Nr. 2. Das Betreibungsamt pfändete dabei sämtliche Aktien und Ansprüche resultierend aus den Aktien der A. AG in Liquidation (Einteilung: 200 Namenaktien zu Fr. 100.- und 90 Namenaktien zu Fr. 10'000.-) und schätzte ihren Wert nach Rücksprache mit dem Konkursamt B. auf Fr. 500'000.- entsprechend dem damals erwarteten Konkursüberschuss.
BGE 136 III 490 S. 491
B.
Y. erhob am 6. Januar 2009 Beschwerde an das Bezirksgericht Dietikon als untere Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen und rügte sinngemäss eine Überpfändung.
Das Konkursamt B. führte am 16. März 2009 in einer Stellungnahme an das Bezirksgericht aus, dass seine ursprüngliche Schätzung auf der Annahme basierte, der Erlös der in der Konkursmasse befindlichen Liegenschaft C. werde nur Fr. 5'000'000.- betragen. Gestützt auf die neue Annahme, dass die Liegenschaft C. gemäss einer Offerte einen Erlös von Fr. 6'250'000.- einbringen werde, die Zinsansprüche der Gläubiger aber höher als erwartet ausfallen würden, sei von einem Konkursüberschuss zugunsten der Aktionäre von Fr. 800'000.- bis Fr. 1'200'000.- auszugehen. Am 13. Mai 2009 wurde die Liegenschaft C. zum Preis von Fr. 6'800'000.- der D. GmbH zu Eigentum übertragen.
Am 2. Juli 2009 wies das Bezirksgericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
C.
Am 14. Juli 2009 erhob Y. Rekurs an das Obergericht des Kantons Zürich als obere kantonale Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen. Am 3. November 2009 setzte das Obergericht die Pfändung herab auf 70 Namenaktien zu Fr. 100.- und 35 Namenaktien zu Fr. 10'000.- der A. AG in Liquidation und sämtliche daraus resultierende Ansprüche.
D.
Gegen diesen Beschluss hat X. am 20. November 2009 Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und dass von der Herabsetzung der Pfändung Nr. 2 vom 14. und 17. November 2008 in der Betreibung Nr. 1 des Betreibungsamtes Z. abzusehen sei.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
4.1
Bei der Beurteilung, ob eine Überpfändung vorliegt, ist das Obergericht gestützt auf die Bewertung des Konkursamtes vom 16. März 2009 und den inzwischen erfolgten Verkauf der Liegenschaft C. (vgl. oben lit. B) von einem zu erwartenden Konkursüberschuss (und damit einem Aktienwert) von mindestens Fr. 1'350'000.- ausgegangen. Für die Bewertung der Aktien sei unabhängig davon, ob die Gesellschaft liquidiert werde oder ein Konkurswiderruf erfolge, vom
BGE 136 III 490 S. 492
Liquidationswert auszugehen, da die Gesellschaft einzig Barvermögen halte. Weil die Forderung des Beschwerdeführers sich per 14. November 2008 mit Zins und Kosten auf Fr. 415'000.- belaufen habe bzw. der Beschwerdegegner von einer Forderung von Fr. 430'666.30 ausgehe, liege angesichts des Aktienwerts von mindestens Fr. 1'350'000.- eine Überpfändung vor. Auf die Kritik des Beschwerdeführers an dieser Bewertungsmethode bzw. ihrem Ergebnis braucht nicht näher eingegangen zu werden, da seine Beschwerde bereits aus einem anderen Grund gutzuheissen ist.
4.2
Gemäss
Art. 97 Abs. 2 SchKG
wird nicht mehr gepfändet als nötig ist, um die pfändenden Gläubiger für ihre Forderungen samt Zinsen und Kosten zu befriedigen. Die Schätzung der gepfändeten Gegenstände obliegt dem Betreibungsbeamten, welcher nötigenfalls Sachverständige beiziehen kann (
Art. 97 Abs. 1 SchKG
). Vorliegend haben zwei seit der Pfändung eingetretene Umstände das Obergericht veranlasst, die Pfändung herabzusetzen: Einerseits die neue Schätzung des im Konkurs der A. AG in Liquidation erwarteten Überschusses, welche durch das Konkursamt B. im Rahmen der Vernehmlassung zum Beschwerdeverfahren im Schreiben vom 16. März 2009 abgegeben worden ist, andererseits der effektiv vollzogene Verkauf der Liegenschaft C. zum Preis von Fr. 6'800'000.-. Es geht also nicht darum, ob die Pfändung sämtlicher Aktien der A. AG in Liquidation gemessen an der ursprünglichen Bewertung übermässig erscheint. Dies wäre angesichts des damaligen Schätzwertes von Fr. 500'000.-, welcher einer Forderung von - je nach Angaben - Fr. 415'000.- bzw. Fr. 430'666.30 gegenüberstand, und unter Berücksichtigung der bestehenden Bewertungsunsicherheiten nicht anzunehmen. Dass diese erste Schätzung aus damaliger Warte unzutreffend gewesen wäre, hat die Vorinstanz denn auch weder festgestellt noch ergibt sich solches aus dem genannten Schreiben vom 16. März 2009. Hingegen wirft die zu beurteilende Konstellation die Frage auf, ob nach der Pfändung eingetretene Umstände überhaupt Anlass bilden können, die Pfändung herabzusetzen.
4.3
Gegebenenfalls könnte einer Wertänderung mit einer neuen Schätzung durch Sachverständige Rechnung getragen werden, und zwar in analoger Anwendung von
Art. 9 Abs. 2 der Verordnung des Bundesgerichts vom 23. April 1920 über die Zwangsverwertung von Grundstücken (VZG; SR 281.42)
auch bei Fahrnis, wenn anerkannte Schätzungskriterien bestehen (
BGE 114 III 29
E. 3c S. 30 mit Hinweisen). Solche Kriterien fehlen allerdings bei nicht kotierten Aktien
BGE 136 III 490 S. 493
(
BGE 101 III 32
E. 2b und c S. 34 f.), weshalb eine Neuschätzung vorliegend nicht in Betracht kommt. Zudem mangelte es gemäss Feststellung des Obergerichts bereits an einem entsprechenden, rechtzeitig erhobenen Antrag.
4.4
Es bleibt die Frage, ob die ausserhalb einer formellen Neuschätzung festgestellten veränderten Umstände eine Herabsetzung der Pfändung rechtfertigen können.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vermögen Abzahlungen an die Betreibungsforderung keine verhältnismässige Freigabe eines Teils der gepfändeten Gegenstände herbeizuführen (
BGE 68 III 69
S. 71 f.;
25 I 141
E. 3 S. 145). In allgemeiner Weise hat das Bundesgericht in
BGE 48 III 198
E. 3 S. 199 f. festgehalten, dass nach der Pfändung bzw. dem Arrestvollzug eingetretene Umstände wie die Schuldminderung, die Verringerung einer hypothekarischen Belastung oder der Wertanstieg der arrestierten oder gepfändeten Vermögenswerte nicht zu berücksichtigen seien. Stellt sich die Pfändung hingegen als übersetzt heraus, weil geltend gemachte Drittansprüche im Widerspruchsverfahren erfolgreich bestritten wurden, so berechtigt dies zu einer Herabsetzung der Pfändung (
BGE 68 III 69
S. 71).
An der Rechtsprechung, dass nachträgliche Wertänderungen der gepfändeten Gegenstände keine Entlassung aus der Pfändung zu begründen vermögen, ist aus mehreren Gründen festzuhalten. Die blosse Wertänderung ist zunächst nicht mit dem zulasten des Ansprechers verlaufenen Widerspruchsverfahren vergleichbar. Im Letzteren wird der Umfang des Pfändungsgutes festgelegt. Zu einer Überpfändung kann es dann kommen, wenn mehrere Drittansprüche im Raum stehen und sich der Pfändungsbeamte veranlasst sieht, so viel zu pfänden, dass die Betreibungsforderungen auch bei Erfolg der einen oder andern Drittansprache gedeckt sind. Stellt sich nach Durchlaufen der Widerspruchsverfahren eine Überpfändung heraus, rechtfertigt sich umgekehrt eine entsprechende Reduktion der Pfändung. Allerdings sollte diese Lage gar nicht erst eintreten, hat doch das Bundesgericht im Rahmen des Arrests entschieden, dass das Bestehen von Drittansprachen nicht rechtfertigt, zusätzliche Gegenstände zu verarrestieren, sondern nur, allenfalls andere Objekte zu blockieren (
BGE 120 III 49
E. 2a S. 51). Im Unterschied zu dieser Situation geht es im zu beurteilenden Fall aber nicht um die Festlegung des Pfändungsguts, sondern darum, dass diesem durch veränderte Umstände ein höherer Wert zukommt.
BGE 136 III 490 S. 494
Dafür, dass Wertsteigerungen im Laufe des Verfahrens nicht zu einer Herabsetzung der Pfändung berechtigen, sprechen Rechtssicherheits- und Praktikabilitätserwägungen (zu Letzteren vgl.
BGE 136 II 113
E. 3.3.4 S. 119 mit Hinweisen). Das Pfändungs- und Verwertungsverfahren soll innerhalb bestimmter Fristen abgewickelt werden (
Art. 116 Abs. 1 und
Art. 122 Abs. 1 SchKG
). Gäbe eine Wertsteigerung grundsätzlich Anspruch auf entsprechende Herabsetzung der Pfändung, bestünde die Gefahr, die Verwertung durch solche Nebenverfahren auf Anpassung der Pfändung über Gebühr zu verzögern. Dieser Nachteil würde nicht automatisch durch ein materiell gerechteres Ergebnis der Pfändung aufgewogen. Zum einen ist die Bewertung je nach Objekt von vornherein mit mehr oder weniger grosser Unsicherheit behaftet, so dass die Behauptung einer eingetretenen Werterhöhung diesen allenfalls bereits anlässlich der Pfändung aufgeworfenen Punkt erneut zum Prozessthema machen würde, ohne Gewähr für eine höhere Genauigkeit in der Bewertung zu bieten. Zum andern sind allfällige Schwankungen - selbst wenn sie mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden könnten - je nach Marktlage und Objekt mehr oder weniger häufig und fallen mehr oder weniger heftig aus. Insbesondere könnte nach einer vorübergehenden Wertsteigerung auch ein Wertverlust eintreten. Hätte in einer solchen Situation bereits eine Herabsetzung der Pfändung stattgefunden, müsste das Betreibungsamt dies durch eine Nachpfändung wiederum korrigieren. Der Rechtssicherheit und dem schnellen Ablauf des Verfahrens ist somit besser gedient, wenn Wertsteigerungen - und zwar unabhängig vom in Frage stehenden Objekt - unberücksichtigt bleiben und keinen Anlass zur Anpassung der Pfändung bilden. Dabei kann es grundsätzlich keinen Unterschied ausmachen, ob die nachträgliche Wertsteigerung ausserhalb eines Beschwerdeverfahrens bekannt wird, oder - wie hier - zufällig während eines hängigen Verfahrens. Eine Entlassung aus dem Pfändungsbeschlag bei Zustimmung der pfändenden Gläubiger ist dadurch nicht ausgeschlossen (vgl. JAEGER UND ANDERE, Das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs [SchKG], 5. Aufl. 2006, N. 16 zu
Art. 97 SchKG
).
4.5
Die Vorinstanz hat zur Begründung der Pfändungsherabsetzung ausgeführt, dass der Beschwerdegegner bei einer übermässigen Pfändung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil erleiden könnte. Der Beschwerdeführer habe nämlich im April 2009 das Verwertungsbegehren zur Versteigerung der Aktien ohne Aufschub gestellt. Es
BGE 136 III 490 S. 495
liege auf der Hand, dass die Versteigerung von Aktien einer nicht kotierten Einpersonengesellschaft in Liquidation wohl kaum auf Publikumsinteresse stossen würde. Die Befürchtung des Beschwerdegegners sei deshalb berechtigt, dass der Beschwerdeführer in der Verwertung die Aktien der A. AG in Liquidation billig zu erwerben gedenke und damit nach Abschluss des Konkursverfahrens über die A. AG in Liquidation den ganzen Konkursüberschuss einheimsen könnte.
4.6
Diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen. Allfällige Pläne des Betreibungsgläubigers hinsichtlich seines Vorgehens während der Versteigerung spielen für die Beurteilung, ob eine Überpfändung vorliegt bzw. ob nachträgliche Wertsteigerungen zu einer Herabsetzung der Pfändung führen können, keine Rolle. Das Mass der Pfändung wird durch den Betreibungsbeamten festgelegt (
Art. 97 Abs. 1 SchKG
) und ist nicht von allfälligen Absichten des Gläubigers abhängig. Dem Beschwerdeführer kann auch nicht etwa Rechtsmissbrauch vorgeworfen werden, weil er rund sechs Monate nach der Pfändung ein Verwertungsbegehren gestellt hat, ohne dieses unter den Vorbehalt zu stellen, zunächst den Abschluss des Konkursverfahrens über die A. AG in Liquidation abzuwarten. Dem Gläubiger steht es frei, zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb der Einjahresfrist von
Art. 116 Abs. 1 SchKG
das Verwertungsbegehren zu stellen; eine Bedingung anzubringen, ist dabei unzulässig (
BGE 94 III 78
E. 2 S. 79 f.). Ein Verwertungsbegehren, in welchem um Aufschub der Verwertung ersucht wird, gilt deshalb als nicht gestellt (FREY, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 1998, N. 20 zu
Art. 116 SchKG
; vgl. auch
BGE 95 III 16
E. 1 S. 18). Im Übrigen ist völlig ungewiss, ob die Versteigerung tatsächlich auf kein Interesse stossen wird. Bei der Verwertung von Aktien einer Gesellschaft, deren Liquidation einen erheblichen Überschuss erwarten lässt, kann jedenfalls nicht unbesehen unterstellt werden, dass sich keine anderen Bieter als der Gläubiger selber finden werden. Das Betreibungsamt hat die Verwertung so zu organisieren, dass ein möglichst hoher Erlös erzielt wird und so auch eine allfällige, seit der Pfändung eingetretene Wertsteigerung im Verwertungsergebnis ihren Niederschlag findet. Auf diese Weise sollte der Schuldner durch die Nichtherabsetzung keinen bleibenden Nachteil erleiden. Ein allfälliger Überschuss aus der Verwertung kommt ihm zugute; bei Pfändung mehrerer Objekte kann gegebenenfalls bereits die Verwertung nach Deckung der Betreibungsforderungen eingestellt werden (
Art. 119 Abs. 2 SchKG
).
BGE 136 III 490 S. 496
4.7
Folglich erweist sich die Beschwerde als begründet. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und von einer Herabsetzung der Nachpfändung Nr. 2 in der Betreibung Nr. 1 des Betreibungsamtes Z. ist abzusehen. | de |
c0c4b104-df78-43a3-abeb-96cd56908e21 | Sachverhalt
ab Seite 363
BGE 146 III 362 S. 363
Am 24. Dezember 2009 ereignete sich im 1. Untergeschoss der Liegenschaft an der U.strasse in V. ein schwerer Arbeitsunfall. Arbeitgeberin und zugleich Mieterin dieser Liegenschaft war die B.A. AG. Zwei Mitarbeitende der B.A. AG, der Lagerleiter D. und die Aushilfe E., hatten direkt vor dem Warenlift eines von sechs Boden-Metallgittern aus der Verankerung gelöst, um Schmutz zu entfernen. Unter den Metallgittern befanden sich nicht tragfähige Styroporplatten, die dazu dienten, den Luftzug aus dem 2. Untergeschoss zu verhindern. Der Lagermitarbeiter und Chauffeur F. (der Verunfallte) wollte die Stelle mit dem fehlenden Metallgitter, eine Bodenöffnung von 82 x 106 cm, passieren, durchbrach dabei die Styroporplatten und stürzte rund 4 m tief auf den darunterliegenden Boden. Dabei zog er sich schwere Verletzungen zu. Die Eidgenössische Invalidenversicherung (IV, Klägerin 1, Beschwerdeführerin 1) richtete ihm in der Folge die gesetzlichen Leistungen aus, die voraussichtlich nach Eintritt ins ordentliche Rentenalter durch die Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV, Klägerin 2, Beschwerdeführerin 2) zu übernehmen sind.
Die beiden Sozialversicherer klagten beim Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt gegen A.A., den Eigentümer der Liegenschaft (Werkeigentümer, Beklagter, Beschwerdegegner) und beantragten, dieser sei zu verpflichten, der IV Fr. 745'285.- und der AHV Fr. 92'721.- nebst Zins zu zahlen. Das Zivilgericht sowie auf Berufung der Klägerinnen auch das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt wiesen die Klage mit Blick auf das Regressprivileg der Arbeitgeberin gegenüber den Sozialversicherern nach
Art. 75 Abs. 2 ATSG
(SR 830.1) ab. Die kantonalen Instanzen stützten sich auf
BGE 143 III 79
E. 6 S. 92 ff.,
BGE 146 III 362 S. 364
wonach sich auf das Privileg auch ein nicht privilegierter Schuldner berufen kann, soweit die Schuld ohne Regressprivileg intern von der Arbeitgeberin zu übernehmen gewesen wäre. Sie kamen zum Schluss, intern hätte die Arbeitgeberin nach
Art. 51 Abs. 2 OR
den gesamten Schaden übernehmen müssen. Daher verneinten sie einen Regressanspruch der Klägerinnen.
Das Bundesgericht weist die von den Klägerinnen erhobene Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Das Bundesgericht hat mit
BGE 143 III 79
eine bis anhin offene Rechtsfrage entschieden, nämlich dass der nicht privilegierte Haftpflichtige den regressierenden Sozialversicherern nur insoweit erstattungspflichtig ist, als er im Innenverhältnis mit dem privilegierten Haftpflichtigen (Arbeitgeber) den Schaden tragen müsste, wenn kein Regressprivileg (
Art. 75 Abs. 2 ATSG
) bestünde (E. 6.1.3.3 S. 96 f.). Die Beschwerdeführerinnen rügen, mit
BGE 143 III 79
habe das Bundesgericht
Art. 75 Abs. 2 ATSG
falsch ausgelegt, und sie beantragen eine Praxisänderung.
3.1
Eine Änderung der Praxis lässt sich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelter Rechtsanschauung entspricht; andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten. Eine Praxisänderung muss sich deshalb auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Interesse der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erachtete Rechtsanwendung gehandhabt worden ist (
BGE 145 III 365
E. 3.3 S. 369;
BGE 144 III 209
E. 2.3 S. 213; je mit Hinweisen).
3.2
In
BGE 143 III 79
wurde erwogen, mit dem ATSG sei das früher bestehende Haftungsprivileg des Arbeitgebers nach aArt. 44 UVG zugunsten des Geschädigten abgeschafft und durch das Regressprivileg gegenüber den Sozialversicherern ersetzt worden.
BGE 113 II 323
, der einen Anwendungsfall des früheren Haftungsprivilegs des Arbeitgebers betraf und wo es das Bundesgericht abgelehnt hatte, dem nicht privilegierten Haftpflichtigen eine Reduktion seiner Haftung gegenüber dem Geschädigten unter Berufung auf das Haftungsprivileg des Arbeitgebers zuzugestehen, sei daher nicht anwendbar. Denn dort sei es darum gegangen, dass andernfalls der Geschädigte
BGE 146 III 362 S. 365
selber den Ausfall hätte tragen müssen. Das Regressprivileg der Suva lasse sich gemäss Materialien (Bericht vom 26. März 1999 der Kommission des Nationalrats für soziale Sicherheit und Gesundheit zur Parlamentarischen Initiative Sozialversicherungsrecht, BBl 1999 4659 f. zu Art. 82 E-ATSG; nachfolgend: Bericht der Kommission des Nationalrats) damit rechtfertigen, dass der Arbeitgeber die Prämien für die Berufsunfallversicherung bezahle. Das Regressprivileg für die AHV/IV werde in den Materialien nicht weiter begründet, sondern einfach darauf verwiesen, es löse das durch die Gerichtspraxis (
BGE 112 II 167
) gestützt auf aArt. 48
ter
AHVG anerkannte Regressprivileg ab. In der Folge sei es im Gesetzgebungsprozess zu keinen massgeblichen Äusserungen mehr gekommen. Gehe man von dieser Begründung des Regressprivilegs (durch den Gesetzgeber) aus, fehle es an einer inneren Rechtfertigung dafür, dass sich die Sozialversicherer voll am nicht privilegierten Haftpflichtigen schadlos halten (
BGE 143 III 79
E. 6.1.2 S. 93 f. und E. 6.1.3.3 S. 96 f.).
Im Folgeentscheid
BGE 144 III 319
(Urteil 4A_453/2017 vom 12. Juli 2018 nicht publ. E. 1.2), in welchem die beschwerdeführenden Sozialversicherer erneut die Auslegung von
Art. 75 Abs. 2 ATSG
durch
BGE 143 III 79
rügten und geltend machten, diese verkenne die Rechtsnatur der Subrogation, erwog das Bundesgericht, die Rechtsposition des Haftpflichtigen bleibe durch die Subrogation grundsätzlich unberührt. Die Auffassung der Beschwerdeführerinnen hätte zur Folge, dass die Stellung des Dritten, der neben dem Privilegierten haftet, durch die Subrogation des Sozialversicherers nicht mehr unberührt bliebe. Denn er könne, wenn die übrigen Voraussetzungen gegeben seien und soweit keine Subrogation erfolgt sei, intern auf den Privilegierten zurückgreifen, was ihm (damit das Regressprivileg nicht faktisch ausgehöhlt werde) verwehrt bleibe, soweit eine Subrogation erfolgt sei. Die Beschwerdeführerinnen müssten demnach darlegen, woraus sich ergeben solle, dass nach dem Willen des Gesetzgebers nicht der Sozialversicherer, dessen Rückgriffsrecht mit
Art. 75 Abs. 2 ATSG
eingeschränkt wurde, wirtschaftlich für den Ausfall aufkommen soll, sondern in erster Linie ein allenfalls Mithaftender in Abweichung vom Grundsatz, dass die Rechtsposition des Haftpflichtigen durch die Subrogation unberührt bleiben soll.
3.3
In der Lehre hat
BGE 143 III 79
unterschiedliche Reaktionen ausgelöst.
3.3.1
Verschiedene Autoren lehnen den Entscheid aus dogmatischen und wertungsmässigen Gründen ab (BITTEL/STUDHALTER, Stört das
BGE 146 III 362 S. 366
Regressprivileg die Koordination, in: Aktuelle Probleme des Koordinationsrechts II, Weber/Beck [Hrsg.], 2017, S. 91 ff., 111 ff.; GHISLAINE FRÉSARD, Le privilège de recours de l'art. 75 LPGA et le recours subrogatoire de l'assureur social contre un tiers responsable non privilégié, HAVE 2017 S. 186 ff., 190 ff.; SYLVIA LÄUBLI ZIEGLER, Ein Ende der Gewissheiten, HAVE 2018 S. 30 ff., 34 ff.; HARDEGGER/ BRUN, Die jüngste bundesgerichtliche Rechtsprechung zu
Art. 75 Abs. 2 ATSG
- eine kritische Würdigung der Klägerin, HAVE 2018 S. 408 ff.; wohl auch PETER BECK, Mehrzahl von Regressgläubigern: Gesamt-, Solidar- oder Teilgläubigerschaft?, HAVE 2017 S. 316). Die Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es wird geltend gemacht, richtigerweise hätte das Bundesgericht von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzgebers ausgehen müssen. Dem Gesetzgeber sei nämlich bei Schaffung des ATSG die vom Bundesgericht nun entschiedene Frage nicht unbekannt gewesen, habe er doch spätestens nach der Rechtsprechung gemäss
BGE 113 II 323
ff. den in diesem Zusammenhang bestehenden Regelungsbedarf erkennen müssen. Er habe die Frage aber nicht geregelt. Vielmehr gehe aus den Gesetzesmaterialien hervor, dass es die Intention des Gesetzgebers gewesen sei, die Stellung des Sozialversicherers zu stärken, indem er mit
Art. 72 Abs. 2 ATSG
die Solidarhaftung mehrerer Haftplichtiger für die Rückgriffsansprüche vorgesehen habe. Der bundesgerichtliche Entscheid verstosse gegen die vom Gesetzgeber gewollte Solidarität, denn diese bedeute, dass im Aussenverhältnis jeder Haftplichtige für den gesamten Schaden hafte. Der Entscheid verletze auch den Grundsatz der integralen Subrogation; eine Reduktion des Ersatzanspruchs der Sozialversicherer liesse sich nämlich nur rechtfertigen, wenn die Sozialversicherung als Teil einer Koordinationsgemeinschaft betrachtet würde. Die Sozialversicherer unterstünden aber gemäss der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (Urteil 4C.208/2002 vom 19. November 2002) nicht der Rangordnung gemäss
Art. 51 OR
; sie hätten nicht lediglich ein anteilsmässiges Regressrecht. Auch die Berufung in
BGE 143 III 79
auf
Art. 44 OR
überzeuge nicht, denn Herabsetzungsfaktoren gemäss dieser Bestimmung seien nur solche in der Person des Geschädigten, nicht aber das Regressprivileg eines Mithaftenden (BITTEL/STUDHALTER, a.a.O., S. 119 f.; HARDEGGER/BRUN, a.a.O., S. 415). Das Prämienargument des Bundesgerichts berücksichtige schliesslich nur die Situation des Unfallversicherers, nicht jedoch diejenige der AHV/IV (LÄUBLI ZIEGLER, a.a.O., S. 36 f.; BITTEL/STUDHALTER, a.a.O., S. 120 f.; HARDEGGER/BRUN, a.a.O., S. 414).
BGE 146 III 362 S. 367
3.3.2
Ein anderer Teil der Lehre begrüsst den Entscheid, da er zu einer ausgewogenen Berücksichtigung der verschiedenen Interessen führe, auch wenn er in einzelnen Punkten - etwa im Abstützen auf
Art. 44 OR
- dogmatisch nicht zu befriedigen vermöge (ALEXIS OVERNEY, Privilège de recours en concours de responsabilité: une solution équitable à un problème complexe; analyse des arrêts du Tribunal fédéral 4A_301/2016 et 4A_311/2016, SZS 2017 S. 337 ff.;
derselbe
, Le recours subrogatoire de l'assureur social: questions posées par la jurisprudence récente du Tribunal fédéral [nachfolgend: OVERNEY, Le recours subrogatoire], in: L'indemnisation du préjudice corporel, Dupont/Müller [Hrsg.], 2019, S. 109 ff., 137 f., WERRO/ PERRITAZ, La pluralité de responsables: nouvelles conceptions et changements de jurisprudence, in: Mélanges à la mémoire de Bernard Corboz, Grégory Bovey und andere [Hrsg.], 2019, S. 279 ff., 293 ff.; VINCENT PERRITAZ, La réduction de la créance récursoire de l'assureur social contre le responsable non privilégié [Art. 44 al. 1 CO] - une analyse à partir de l' ATF 143 III 79, HAVE 2018 S. 145 ff., 148 ff.; BATISTA/GOMES, Pluralité de responsables dans le cadre du recours subrogatoire de l'assureur social, SZS 2018 S. 250 ff., 261 ff.).
3.4
Die Beschwerdeführerinnen begründen ihre Rüge mit einer besseren Erkenntnis der ratio legis, gestützt vorerst auf die Gesetzgebungsgeschichte. Sie machen wie einzelne der oben (E. 3.3.1) erwähnten Lehrmeinungen geltend, richtigerweise hätte das Bundesgericht von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzgebers ausgehen müssen. Es sei die Intention des Gesetzgebers gewesen, mit der Solidarhaftung gemäss
Art. 72 Abs. 2 ATSG
die Stellung der Sozialversicherer zu stärken. Es hätte deshalb für die Lösung gemäss
BGE 143 III 79
einer expliziten gesetzlichen Grundlage bedurft, zumal die Rechtfertigung von Privilegien als solche und insbesondere des Arbeitgeberprivilegs zunehmend in Frage gestellt werde.
3.4.1
Eine Lücke im Gesetz besteht, wenn sich eine Regelung als unvollständig erweist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung. Eine echte Gesetzeslücke, die vom Gericht zu füllen ist, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dann vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine
BGE 146 III 362 S. 368
Vorschrift entnommen werden kann. Echte Lücken zu füllen, ist dem Gericht aufgegeben (
BGE 140 III 636
E. 2.1 S. 637 mit Hinweisen).
3.4.2
Es gibt keine Anhaltspunkte für ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers. Auch die Beschwerdeführerinnen können keine solchen nennen. Sie leiten ab, dass im Gefolge von
BGE 113 II 323
der Regelungsbedarf "erkannt worden sein ... musste"
,
vermögen aber nicht aufzuzeigen, dass er tatsächlich erkannt worden
ist
. Dafür gibt es in den Materialien, wie bereits in
BGE 143 III 79
dargelegt worden ist, auch keine Grundlage.
BGE 113 II 323
wird in den Materialien nicht erwähnt, was allenfalls mit der besonderen Gesetzgebungsgeschichte zusammenhängen mag, wurde der Entwurf doch nicht mit einer Botschaft des Bundesrates eingeleitet, sondern durch eine parlamentarische Kommission erarbeitet; der Bundesrat äusserte sich lediglich später im Rahmen einer vertieften Stellungnahme (Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht, Vertiefte Stellungnahme des Bundesrates vom 17. August 1994, BBl 1994 V 921 [nachfolgend: Vertiefte Stellungnahme Bundesrat]; vgl. zur Entstehung auch: UELI KIESER, Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts ATSG, 4. Aufl. 2020, Vorbemerkungen N. 33 ff.).
Die Einführung der Solidarhaftung für Rückgriffsansprüche der Sozialversicherer ging auf einen Antrag des Bundesrates zurück. Zur Begründung wurde angeführt, damit werde erreicht, dass gegenüber dem Versicherungsträger gleich wie gegenüber dem Geschädigten je nach Gesetzesbestimmung "echte" Solidarität (gemäss
Art. 50 OR
und weiteren) oder "unechte" Solidarität (gemäss
Art. 51 OR
) gelte (vgl. Vertiefte Stellungnahme Bundesrat, BBl 1994 V 957 f. Ziff. 6.1 zu Art. 79 E-ATSG). Die Kommission des Nationalrats übernahm diesen Antrag und äusserte in diesem - und nur in diesem - Zusammenhang, mit der Solidarität werde die Stellung des Sozialversicherers gestärkt. Die Kommission nehme damit in Kauf, dass bei privatrechtlichen Rückgriffsansprüchen mehrere Haftpflichtige anteilsmässig haften, bei sozialversicherungsrechtlichen Rückgriffsansprüchen aber solidarisch (Bericht der Kommission des Nationalrats, BBl 1999 4653 zu Art. 79 E-ATSG). Daraus ergibt sich, dass durch die Einführung der Solidarität die Sozialversicherer gestärkt werden sollen. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, der Gesetzgeber habe im Sinn eines qualifizierten Schweigens entschieden, auch bei der weitergehenden Fragestellung - beim Rückgriff auf den nicht privilegierten Haftpflichtigen,
BGE 146 III 362 S. 369
der seinerseits wegen des Regressprivilegs nicht auf den privilegierten Schadenverursacher Rückgriff nehmen kann - sei immer jene Lösung zu favorisieren, welche den Sozialversicherer bevorzuge. Einen generellen Wertungsentscheid beinhaltet diese Aussage des Gesetzgebers nicht.
Nichts Entscheidendes ergibt sich in diesem Zusammenhang auch entgegen dem Hinweis der Beschwerdeführerinnen aus dem seit dem 1. Januar 2008 in Kraft stehenden
Art. 75 Abs. 3 ATSG
, wonach die Einschränkung des Rückgriffsrechts gemäss
Art. 75 ATSG
entfällt, wenn und soweit die Person, gegen welche Rückgriff genommen wird, obligatorisch haftpflichtversichert ist. Dies betrifft angesichts des Versicherungsobligatoriums von
Art. 63 SVG
massgeblich die in der Praxis wichtigen Strassenverkehrsunfälle (MARC M. HÜRZELER, Extrasystemische Koordination: Regress der Sozialversicherer auf Haftpflichtige, in: Recht der Sozialen Sicherheit, Steiger-Sackmann/ Mosimann [Hrsg.], 2014, S. 1323 ff., 1341 f. Rz. 36.35). Diese Bestimmung geht auf die parlamentarischen Beratungen zurück und wurde im Ständerat von der Kommissionssprecherin begründet mit dem Hinweis, die IV-Stellen würden geltend machen, dass insbesondere gegenüber den Haftpflichtversicherungen zu wenig Rückgriff genommen werden könne. Richtigerweise müsse aber die Sozialversicherung nicht hinter die Haftpflichtversicherung zurücktreten (AB 2006 S 611). Zwar trifft zu, dass der Gesetzgeber damit einen Wertungsentscheid getroffen hat, wonach der Sozialversicherer die Risiken dort im Ergebnis nicht tragen soll, wo ein obligatorischer Versicherungsschutz mit entsprechenden Prämieneinnahmen vorliegt (HÜRZELER, a.a.O., S. 1342 Rz. 36.35; KIESER, a.a.O., N. 24 zu
Art. 75 ATSG
). Jedoch handelt es sich auch hier um einen "limitierten" Wertungsentscheid, wie der erstgenannte Autor ebenfalls einräumt (MARC M. HÜRZELER, Entwicklungen zum Sozialversicherungsregress: Sozialversicherungsträger, Gesamtgläubigerschaft, Rentenschaden, Regressprivileg und Substanziierung gesetzlicher Leistungen - Eine Nachlese zu BGer 4A_301/2016 und 4A_311/2016 vom 15. Dezember 2016, SZS 2017 S. 343 ff., 348). Dieser Wertungsentscheid berührt einen weiteren Haftpflichtigen nicht. Vielmehr wird durch diese teilweise Aufhebung des Regressprivilegs die in
BGE 143 III 79
beurteilte Problematik gerade entschärft.
Es besteht kein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers.
BGE 143 III 79
bedeutet nicht, dass das Privileg der Arbeitgeberin ohne gesetzliche Grundlage auf die übrigen Haftpflichtigen ausgedehnt
BGE 146 III 362 S. 370
wird und diese ungerechtfertigt davon profitieren. Die übrigen Haftpflichtigen werden wirtschaftlich vielmehr so gestellt, wie wenn keine Subrogation erfolgt wäre oder kein Privileg bestünde. Dies entspricht dem Grundprinzip, dass die Rechtsposition des Haftpflichtigen durch die Subrogation unberührt bleibt und dieser durch die Aufteilung zwischen Geschädigtem und regressierendem Sozialversicherer weder besser noch schlechter gestellt werden soll (
BGE 134 III 489
E. 4.4 S. 493 mit Hinweis). Dieses Prinzip ist kein rein dogmatisches Konstrukt, sondern von praktischer Bedeutung, liegt darin doch die Rechtfertigung, dass dem Schädiger der Einwand, die Sozialversicherer hätten zu hohe Leistungen erbracht, grundsätzlich verwehrt bleibt (Urteil 4A_275/2013 vom 30. Oktober 2013 E. 9.2; vgl. auch Urteil 4A_588/2014 vom 6. Juli 2015 E. 2.2.1). Die Annahme, der Gesetzgeber hätte, ohne darauf einzugehen, im Rahmen eines qualifizierten Schweigens von diesem Prinzip abweichen wollen, vermag grundsätzlich nicht zu überzeugen.
3.5
Die Beschwerdeführerinnen erachten
BGE 143 III 79
auch aus dogmatischen Gründen als falsch.
3.5.1
Eine Kritik an
BGE 143 III 79
, die auch von den Beschwerdeführerinnen aufgegriffen wird, geht wie erwähnt (E. 3.3.1 hiervor) dahin, der Entscheid verletze den Grundsatz der integralen Subrogation. Eine Reduktion des Ersatzanspruchs der Sozialversicherer liesse sich nur rechtfertigen, wenn der Sozialversicherer als Teil einer Koordinationsgemeinschaft betrachtet würde, zu welcher sowohl schadenverursachende als auch neutrale Ersatzpflichtige gehören, die untereinander solidarisch haften. Die Sozialversicherer unterstünden aber gemäss der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (zit. Urteil 4C.208/2002) nicht der Rangordnung gemäss
Art. 51 OR
; sie seien nicht "in die Kaskadenordnung von
Art. 51 OR
eingebunden". Indem
BGE 143 III 79
den vollen Sozialversicherungsregress gegenüber dem nicht privilegierten Haftpflichtigen (Aussenverhältnis) deshalb nicht zulasse, weil dieser seinerseits nicht gegen den privilegierten Haftpflichtigen Rückgriff nehmen könne (Innenverhältnis), werde eine unzulässige Rückkoppelung vom Innen- auf das Aussenverhältnis vorgenommen (LÄUBLI ZIEGLER, a.a.O., S. 34 f.; BITTEL/ STUDHALTER, a.a.O., S. 117 f.; HARDEGGER/BRUN, a.a.O., S. 415).
Das Bundesgericht hat sich wie erwähnt (E. 3.2 hiervor) bereits in
BGE 144 III 319
(zit. Urteil 4A_453/2017 nicht publ. E. 1.2.2) mit dem Vorwurf einer Verletzung des Grundsatzes der integralen Subrogation auseinandergesetzt und dargelegt, zur Debatte stehe nicht
BGE 146 III 362 S. 371
der Grundsatz der Subrogation, sondern der
Umfang und die Folgen einer im Gesetz vorgesehenen Einschränkung
(des Regressanspruchs). Es kann darauf verwiesen werden. Der Hinweis auf das zit. Urteil 4C.208/2002 ist deshalb nicht stichhaltig. Vielmehr hält auch dieses Urteil in E. 2.1.1 ausdrücklich fest, die Rechtsposition des Haftpflichtigen bleibe durch die Subrogation grundsätzlich unberührt und er habe lediglich einen Teil seiner Schuld dem Sozialversicherer statt dem Geschädigten zu begleichen. Denn dabei solle er weder besser noch schlechter gestellt werden. Dies wird mit
BGE 143 III 79
gewährleistet.
3.5.2
Mit dem obigen Einwand im Zusammenhang steht die weitere Kritik der Beschwerdeführerinnen, es entspreche dem Wesen der Solidarität, dass sich der Gläubiger nicht um das interne Verhältnis unter mehreren Mithaftenden zu kümmern brauche, sondern von jedem der solidarisch Haftbaren den vollen Schadenbetrag verlangen könne. Das gelte auch dann, wenn im Zeitpunkt der Anspruchserhebung bereits feststehe, dass der in Anspruch genommene Haftpflichtige sein Rückgriffsrecht gegen Mithaftende (beispielsweise wegen deren Zahlungsunfähigkeit) nicht erfolgreich werde ausüben können. Sofern sie mit diesem kurzen Hinweis die zum Teil in der Lehre geäusserte Kritik, der Entscheid verstosse gegen die vom Gesetzgeber gewollte Solidarität (LÄUBLI ZIEGLER, a.a.O., S. 35 f.; BITTEL/STUDHALTER, a.a.O., S. 118) aufnehmen wollen, wäre dem nicht zu folgen.
An anderer Stelle wird zutreffend darauf hingewiesen,
Art. 75 Abs. 1 und 2 ATSG
werde von einem Teil der Lehre (KIESER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 75 ATSG
; ebenso die in
BGE 143 III 79
E. 6.1.3.2 S. 96 erwähnte GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, Le recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre le tiers responsable ou son assureur, 2007, S. 275 Rz. 837 und FRÉSARD, a.a.O., S. 190) so verstanden, dass ausser bei Absicht oder Grobfahrlässigkeit gar
keine Forderung
des Sozialversicherers gegen den Arbeitgeber bestehe, mithin keine
multiple
Haftung (BITTEL/STUDHALTER, a.a.O., S. 115 f.). Diese Interpretation ist zutreffend, wie sich aus den Ausführungen in Erwägung 6.1.3.2 von
BGE 143 III 79
deutlich ergibt. Es ist nicht ersichtlich, weshalb damit gegen die Prinzipien der Solidarität verstossen worden sein soll (vgl. OVERNEY, Le recours subrogatoire, a.a.O., S. 136 f. Rz. 73). Der Vergleich mit der Situation, wo ein in Anspruch genommener Haftpflichtiger infolge Insolvenz eines Mithaftpflichtigen im Innenverhältnis nicht Rückgriff nehmen kann, ist nicht stichhaltig, bestehen in diesem Fall doch zwei Solidarhaftpflichtige.
BGE 146 III 362 S. 372
3.5.3
Die Beschwerdeführerinnen rügen schliesslich als dogmatisch falsch, die Reduktion der Haftung des nicht privilegierten Haftpflichtigen auf
Art. 44 OR
abzustützen. Diese Bestimmung befasse sich mit Herabsetzungsgründen, für die der Geschädigte verantwortlich sei, nicht aber der Sozialversicherer (als Zessionar). Das bestehende Regressprivileg könne dem Geschädigten aber gerade nicht entgegengehalten werden, womit es sich nicht um eine Einrede des Geschädigten handle. Der Geschädigte sei nicht verantwortlich für das zugunsten seines Arbeitgebers bestehende Regressprivileg. Diese Kritik wird zum Teil auch in der Lehre erhoben (BITTEL/STUDHALTER, a.a.O., S. 119 f.; FRÉSARD, a.a.O., S. 190).
Es trifft zu, dass
Art. 44 Abs. 1 OR
sich auf Umstände bezieht, für die der Geschädigte einstehen muss, und dass das Arbeitgeberprivileg ein solches des Arbeitgebers ist. Jedoch wurde dieses Privileg geschaffen, weil der Geschädigte, in dessen Stellung der Sozialversicherer subrogiert ist, ein Arbeitnehmer des Haftpflichtigen ist. Es gäbe kein Privileg, wenn der Geschädigte nicht Arbeitnehmer wäre. Das Privileg ergibt sich daher aus einer besonderen Eigenschaft des Geschädigten, weshalb
Art. 44 Abs. 1 OR
- jedenfalls analog - anwendbar ist (ebenso: WERRO/PERRITAZ, a.a.O., S. 294 Rz. 40; OVERNEY, Le recours subrogatoire, a.a.O., S. 137 Rz. 74 am Ende).
3.6
Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber auch in der im Jahr 2018 und damit
nach
BGE 143 III 79
(Urteil vom 15. Dezember 2016) eingeleiteten Revision des ATSG keinen Handlungsbedarf erkannte und keine Änderung von Art. 72 bzw. 75 ATSG vorschlug (Botschaft vom 2. März 2018 zur Änderung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, BBl 2018 1639 ff. Ziff. 2.1 zu Art. 72 ff. E-ATSG), wobei es in den Räten auch blieb. Umso weniger besteht Anlass, die mit
BGE 143 III 79
begründete Rechtsprechung wieder in Frage zu stellen.
4.
Die Beschwerdeführerinnen rügen, selbst wenn grundsätzlich im Sinn von
BGE 143 III 79
das Regressprivileg des Arbeitgebers beim Rückgriff auf einen andern Haftpflichtigen zu berücksichtigen wäre, liesse sich dies jedenfalls lediglich im Ausmass der erfolgten Prämienzahlung rechtfertigen.
4.1
Sie machen geltend, das Bundesgericht habe in
BGE 143 III 79
E. 6.1.3.3 S. 97 die Aufrechterhaltung des Regressprivilegs des Arbeitgebers für Berufsunfälle ausschliesslich mit der sich aus den Materialien ergebenden Tatsache begründet, dass der Arbeitgeber für die
BGE 146 III 362 S. 373
Berufsunfallversicherung die Prämien bezahlt habe. Die Verhältnisse zwischen der obligatorischen Unfallversicherung einerseits und der AHV/IV würden sich aber hinsichtlich der Prämienzahlung unterscheiden, was in
BGE 143 III 79
nicht berücksichtigt worden sei. Bei AHV/IV trage der Arbeitgeber nicht die alleinige Prämienschuld; vielmehr würden Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätische Beiträge entrichten. Im Recht der AHV/IV würden sodann die Prämien nicht davon abhängen, ob es um einen Berufsunfall oder einen Nichtberufsunfall gehe. Diese unterschiedliche Ausgangslage sei dem Gesetzgeber bei der Schaffung von
Art. 75 Abs. 2 ATSG
entgangen, habe er doch ausschliesslich die Situation in der Berufsunfallversicherung vor Augen gehabt. Der Bundesrat habe explizit darauf hingewiesen, der Arbeitgeber sei insoweit zu entlasten, als er Prämien für die Berufsunfallversicherung an den Sozialversicherer bezahlt habe (Vertiefte Stellungnahme Bundesrat, BBl 1994 V 959 f. Ziff. 6.1 zu Art. 82 E-ATSG). Dieser bundesrätlichen Erwägung sei der Nationalrat anschliessend nicht entgegengetreten. Daher könne, wenn man von dem vom Bundesgericht als massgeblich bezeichneten Grundgedanken ausgehe, das Regressprivileg für die erbrachten Sozialversicherungsleistungen im Bereich der AHV/IV auch bloss im Rahmen der hier vom Arbeitgeber zu tragenden Prämien von 50 % bestehen.
4.2
Das Bundesgericht hat in
BGE 143 III 79
nicht zwischen dem Regress der Suva einerseits und der AHV/IV anderseits unterschieden. Der Hinweis auf die Prämienzahlung seitens des Arbeitgebers erfolgte, weil der Gesetzgeber diese Tatsache als Rechtfertigung für das Privileg angeführt hatte. Gleichzeitig wurde erwähnt, dass der
Gesetzgeber
für das auch zulasten der AHV/IV geltende Privileg keine weitere Begründung anführe, sondern einfach darauf verweise, diesbezüglich löse die neue Bestimmung das durch die Gerichtspraxis (
BGE 112 II 167
) anerkannte Regressprivileg ab. In diesem Entscheid hatte das Bundesgericht aus einer Haftungsbeschränkung gegenüber Familienangehörigen ein entsprechendes Regressprivileg gegenüber der AHV abgeleitet. Dies war strittig, da die Geschädigte nicht bei der Suva versichert war. Das Bundesgericht verwies in
BGE 112 II 167
auf die Gesetzgebungsgeschichte, wonach zwar zuerst zur Rechtfertigung mit der Prämienzahlungspflicht argumentiert worden war, in der Folge aber nach dem klaren Willen des Gesetzgebers die Beschränkung auch gegenüber den Sozialversicherern greifen sollte. Wenn im Bericht der nationalrätlichen Kommission (BBl 1999 4659 f.
BGE 146 III 362 S. 374
zu Art. 82 E-ATSG) also einfach auf
BGE 112 II 169
verwiesen wurde, kann dies nicht anders verstanden werden, als dass der Gesetzgeber unabhängig von dem ihm bewussten Unterschied in der Prämienordnung zwischen Suva einerseits und den Sozialversicherern andererseits das Regressprivileg ohne Differenzierung bestätigte.
(...)
7.
Für die Beurteilung der Haftungsquote im internen Verhältnis ist von einer vertraglichen Haftung der Arbeitgeberin auszugehen. Die Beschwerdeführerinnen berufen sich auf
BGE 144 III 319
und machen geltend, wie dort sei die in
Art. 51 Abs. 2 OR
vorgesehene Kaskadenordnung nicht anwendbar. In
BGE 144 III 319
hatte das Bundesgericht im Sinne einer Ausnahme von der Stufenfolge nach
Art. 51 Abs. 2 OR
angenommen, das Zusammenspiel zwischen der typischen Betriebsgefahr von Rohrleitungen (Leckgefahr) und einem nicht grobfahrlässigen Verschulden der Arbeitgeberin habe zu den Unfallfolgen geführt und deshalb sei im Innenverhältnis zwischen diesen beiden Haftpflichtigen eine hälftige Aufteilung des Schadens gerechtfertigt.
(...)
7.4
Selbst wenn man zu Gunsten der Beschwerdeführerinnen annimmt, der Geschädigte habe infolge der Verschmutzung nicht erkennen können, dass die Styroporplatten nicht tragfähig waren, hilft ihnen der Hinweis auf
BGE 144 III 319
nicht weiter. Denn die darin genannten Voraussetzungen für ein Abweichen von der in
Art. 51 Abs. 2 OR
vorgesehenen Stufenfolge, nämlich dass eine starre Anwendung den besonderen Umständen des Einzelfalls nicht gerecht würde, wären auch unter dieser Annahme nicht gegeben. Nicht jedes Zusammenspiel verschiedener Ursachen rechtfertigt ein Abweichen von der Stufenfolge. Der in
BGE 144 III 319
zu beurteilende Fall zeichnete sich dadurch aus, dass sich die typische Betriebsgefahr eines Lecks in der Rohrleitung, die sich schliesslich realisiert hat, auch ohne Zutun eines Dritten bereits verwirklicht hatte und von der Anlage durch das austretende Gas bereits ohne Fremdeinwirkung ein erhöhtes Risiko ausging. Der zu beurteilende Fall liegt anders:
7.4.1
Solange das Gitter nicht entfernt wurde, ging von der Baute unabhängig von der Verschmutzung, dem Vorhandensein und der Tragfähigkeit der Styroporplatten keine Gefahr aus, weil das Gitter die Tragfähigkeit gewährleistete. Auch von dem zwischen den beiden Ebenen des 1. und 2. UG bestehenden Zwischenraum von vier
BGE 146 III 362 S. 375
Metern ging, solange das Gitter vor Ort war, keine konkrete Gefahr aus, weil keine Absturzgefahr bestand. Dies änderte sich erst mit der Wegnahme des Gitters, allerdings nur deswegen, weil die Wegnahme erfolgte, ohne dass die mit Blick auf die dadurch geschaffene Gefahr von der Arbeitgeberin für ihre Arbeitnehmer zu beobachtenden Sicherheitsmassnahmen ergriffen worden wären. Es handelt sich um einen klassischen Fall, in dem von der Baute keine wesentliche Gefahr ausgegangen wäre, wenn sich die Dritten korrekt oder vertragsgemäss verhalten und die notwendigen Schutzmassnahmen ergriffen hätten (
BGE 144 III 319
E. 5.4.2 S. 324). Als Beispiel für einen Schaden zu dem es gekommen ist, weil erst durch eine Vertragsverletzung die Gefahr, die sich realisiert hat, heraufbeschworen wurde, wird vom Bundesgericht explizit der Fall erwähnt, wenn von Dritten Arbeiten an Rohrleitungen vorgenommen werden, ohne die dabei notwendigen Sicherheitsmassnahmen zu ergreifen (
BGE 144 III 319
E. 5.5.2 S. 326). Es handelt sich um einen Fall, in dem die Dritten (hier die Mieterin beziehungsweise die Personen, welche das Gitter abmontiert haben) näher am Schaden stehen als der Werkeigentümer (vgl.
BGE 144 III 319
E. 5.4.2 S. 324).
7.4.2
Aus
BGE 144 III 319
kann nicht, wie dies in der Literatur zum Teil vertreten wird (WERRO/PERRITAZ, La remise en cause de l'ordre des recours de l'art. 51 al. 2 CO, AJP 2018 S. 1179 ff., 1184; GROB/ VON DER CRONE, Relativierung der Regressordnung nach
Art. 51 Abs. 2 OR
, SZW 2019 S. 83 ff., 90), abgeleitet werden, die in
Art. 51 Abs. 2 OR
vorgesehene Stufenregelung finde generell nur bei Absicht oder grober Fahrlässigkeit beziehungsweise einem schweren Verschulden Anwendung. Der Gesetzgeber hat keine derart schematische Regel aufgestellt. Das Bundesgericht hat vielmehr im Einklang mit dem Wortlaut der Bestimmung und der bisherigen Rechtsprechung (z.B.
BGE 137 III 353
E. 4.1 S. 355 mit Hinweisen) daran festgehalten, es handle sich um eine Regelbestimmung, von welcher der Richter im
Einzelfall
nur abweichen kann, wenn eine starre Anwendung den besonderen Umständen des Einzelfalls nicht gerecht würde (vgl.
BGE 144 III 319
E. 5.3 S. 322). Solches ist vorliegend mit den Vorinstanzen klar zu verneinen. Indem das Gitter ohne die notwendigen Schutzmassnahmen entfernt wurde, schufen die handelnden Personen genau die Gefahr, die sich danach realisiert hat und gegen die sie bei korrektem Verhalten Schutzmassnahmen hätten ergreifen müssen. Dass der Lagerleiter mit den örtlichen Verhältnissen nicht vertraut gewesen wäre, machen die Beschwerdeführerinnen nicht geltend. Es
BGE 146 III 362 S. 376
kam mithin nicht zu einem besonders grossen Schaden, weil die Baute besonders gefährlich gewesen wäre. Vielmehr hätten die der Gefahr entsprechenden Sicherungsmassnahmen ergriffen werden müssen, weil die an sich ungefährliche Baute durch die Wegnahme des Gitters gefährlich wurde. Ob der Verunfallte die Styroporplatten für einen tragfähigen Untergrund gehalten hat und halten durfte, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Diesfalls wäre die Wahrscheinlichkeit, dass die geschaffene Gefahr zu einem Unfall führt, zwar insoweit höher, als auch Personen gefährdet wären, die ohne Verschmutzung der Styroporplatten (oder ohne Styroporplatten) die Gefahr eines Absturzes erkannt und vermieden hätten. Dies ändert aber nichts daran, dass genau diese Gefahr durch die Wegnahme des Gitters geschaffen wurde und die angesichts der geschaffenen Gefahr notwendigen Schutzmassnahmen hätten ergriffen werden müssen. Dies liegt primär im Verantwortungsbereich der Personen, welche die Gefahr geschaffen haben, beziehungsweise der Arbeitgeberin, die für die Sicherheit ihrer Angestellten zu sorgen hat. | de |