id
int64 58.9k
347k
| slug
stringlengths 19
56
| court
dict | file_number
stringlengths 4
100
| date
timestamp[s] | created_date
timestamp[s] | updated_date
timestamp[s] | type
stringclasses 54
values | ecli
stringlengths 0
46
| content
stringlengths 0
4.66M
|
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
346,021 | ovgnrw-2022-07-27-7-b-77422 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 B 774/22 | 2022-07-27T00:00:00 | 2022-08-02T10:00:54 | 2022-10-17T17:55:32 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0727.7B774.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Wert des Streitgegenstands wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 € festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den sinngemäß gestellten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Verfügung vom 8.4.2022/ 11.12.2021 abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Die Untersagung sei voraussichtlich rechtmäßig. Die Nutzung der baulichen Anlage auf dem Grundstück mit der Lagebezeichnung N.-straße 10 bzw. 42 in L. als Gastronomiebetrieb mit Außengastronomie erweise sich insgesamt als formell illegal; ein auf diese genehmigungsbedürftige Nutzung bezogener Bauantrag sei mit bestandskräftigem Bescheid vom 29.9.2015 abgelehnt worden. Das Beschwerdevorbringen führt nicht zur Änderung dieser Entscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Aus den vom Verwaltungsgericht aufgezeigten Gründen genügt die Anordnung der sofortigen Vollziehung - entgegen der Meinung der Antragstellerin - den maßgeblichen Begründungsanforderungen (vgl. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin fehlende Ermittlungen zur Standsicherheit bzw. zum Brandschutz und das Fehlen einer Gefahrenlage geltend macht, geht dies an den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur formellen Illegalität der von der Verfügung erfassten Nutzungen vorbei. Die Verfügung der Antragsgegnerin ist allein auf die formelle Illegalität der in Rede stehenden Nutzungen bzw. Bautätigkeit gestützt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
|
346,020 | ovgnrw-2022-07-27-19-b-76622 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 19 B 766/22 | 2022-07-27T00:00:00 | 2022-08-02T10:00:53 | 2022-10-17T17:55:32 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0727.19B766.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO nur die fristgerecht dargelegten Gründe. Diese rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss zu ändern und dem Aussetzungsantrag der Antragsteller nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage 8 K 1207/22 VG Minden gegen die Zwangsgeldfestsetzung der Bezirksregierung E. vom 31. März 2022 stattzugeben. Das Verwaltungsgericht hat den Aussetzungsantrag der Antragsteller mit zutreffender Begründung abgelehnt. Die Bezirksregierung sei berechtigt gewesen, das in der Ordnungsverfügung vom 11. Oktober 2021 angedrohte Zwangsgeld festzusetzen, nachdem die Antragsteller ihrer Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter N. regelmäßig am Präsenzunterricht und an den sonstigen verbindlichen Veranstaltungen des Gymnasiums C. teilnehme, und dies durch eine entsprechende Bescheinigung der Schule nachzuweisen, bis heute nicht nachgekommen seien. Dass die Schule die Fehlstunden der Tochter im Halbjahreszeugnis zum Schuljahr 2021/2022 nicht als „unentschuldigt“ bezeichnet habe, ändere nichts an der rechtlichen Bewertung der fortgesetzten Schulpflichtverletzung. Auf die Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung, deren Vollziehbarkeit in dem dagegen geführten Eilverfahren bestätigt worden sei (8 L 726/21 VG Minden, 19 B 1776/21 OVG NRW), komme es im vorliegenden Verfahren nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit ihrer Beschwerdebegründung machen die Antragsteller ohne Erfolg geltend, es bestünden erhebliche Bedenken an der Wirksamkeit der angefochtenen Grundverfügung, die in dem dagegen geführten Eilverfahren keine Berücksichtigung gefunden hätten. Soweit Fehlstunden entschuldigt seien, bedeute das zunächst einmal ganz grundsätzlich, dass aufgrund solcher Fehlstunden keine Zwangsgeldfestsetzung erfolgen könne. Ihrer Tochter sei eine fortdauernde Erkrankung attestiert worden, die ihr eine Teilnahme am Präsenzunterricht unmöglich gemacht habe. Völlig unberücksichtigt lasse der Eilbeschluss, dass längst ein erneuter Antrag auf Präsenzpflichtbefreiung gestellt worden sei. Der Antrag sei abgelehnt worden, aber das dagegen gerichtete Widerspruchsverfahren dauere noch an.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der sinngemäße Einwand der Antragsteller, sie hätten ihre Verpflichtung aus der Ordnungsverfügung der Bezirksregierung E. vom 11. Oktober 2021 nicht verletzt, weil ihrer Tochter eine Teilnahme am Präsenzunterricht aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich gewesen sei, stellt die gegenteilige Feststellung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage. Ihre pauschale Behauptung, sämtliche Fehlstunden ihrer Tochter seien entschuldigt, weil ihr eine fortdauernde Erkrankung attestiert worden sei, haben die Antragsteller weder substantiiert erläutert noch belegt. Dass die der Schule vorgelegten ärztlichen Atteste vom 21. August 2020, 26. Oktober 2020 und 11. März 2021 und die amtsärztliche Stellungnahme vom 3. Dezember 2020 keinen Beleg für eine den Schulbesuch hindernde Erkrankung der Tochter der Antragsteller bieten, hat das Verwaltungsgericht bereits in seinem Beschluss vom 10. November 2021 in dem gegen die Ordnungsverfügung vom 11. Oktober 2021 geführten Eilverfahren (8 L 726/21 VG Minden) eingehend dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen stellen die Einwendungen der Antragsteller weder die Wirksamkeit noch die sofortige Vollziehbarkeit der Grundverfügung vom 11. Oktober 2021 in Frage, sondern betreffen allenfalls deren Rechtmäßigkeit, die - wie das Verwaltungsgericht bereits zutreffend ausgeführt hat - im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen ist.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. zuletzt auch OVG NRW, Beschluss vom 31. Mai 2022 - 19 B 459/22 -, juris, Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
|
346,726 | vg-stuttgart-2022-07-26-4-k-83621 | {
"id": 160,
"name": "Verwaltungsgericht Stuttgart",
"slug": "vg-stuttgart",
"city": 90,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 K 836/21 | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-09-27T10:01:45 | 2022-10-17T11:10:35 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>Die Klage wird abgewiesen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Berichtigung einer Einbürgerungsurkunde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger wurde am 28.07.2005 vom Beklagten eingebürgert. Die Einbürgerungsurkunde lautet auf den Namen S. K., geb. am xx.xx.1967 in Khost/Afghanistan.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Mit Schreiben vom 04.11.2020 wendete sich der Kläger an den Beklagten und trug vor, er habe bei der Einbürgerung falsche Angaben zu seiner Identität gemacht. Er habe seit 1995 in Deutschland mit falschen Personalien aus Afghanistan gelebt. Mit diesen Personalien sei er eingebürgert worden. Er sei jedoch pakistanischer Staatsbürger mit dem Namen S. R., geboren am xx.xx.1966. Der Kläger legte eine pakistanische Identitätskarte, eine pakistanische Geburtsurkunde und ein Familienregistrierungszertifikat mit Angaben zu seiner Ehefrau und seinen Kindern vor. Er beantrage, die Einbürgerungsurkunde vom 28.07.2005 auf die Personalien S.R., geboren am xx.xx.1966 in N./Pakistan zu ändern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Schreiben vom 24.11.2020 teilte der Beklagte mit, dass dem Antrag auf Änderung der Personalien des Klägers nicht entsprochen werden könne. Der Kläger sei unter den angegebenen und nachgewiesenen Personalien S. K. eingebürgert worden. Die Einbürgerungsurkunde sei trotz des Identitätsirrtums und der darauf beruhenden fehlerhaften Personenbezeichnungen in der Urkunde wirksam geworden. Die Einbürgerungsurkunde werde nicht auf den neuen Namen des Klägers geändert. Mit Schreiben vom 02.02.2021 ergänzte der Beklagte die Begründung für die Ablehnung des Antrags und trug vor, der Kläger habe die Ursache für die Unrichtigkeit der Urkunde gesetzt, weil er falsche Personalien angegeben habe. Die Einbürgerung sei damit nicht nichtig, sondern nur mit Mängeln behaftet, die aber nach Ablauf der Frist des § 35 StAG aus Gründen der Rechtssicherheit hingenommen würden. Es gebe viele Fälle, dass die Einbürgerungsurkunde einen anderen Namen beinhalte als der Eingebürgerte ihn aktuell führe, etwa bei einer Namensangleichung im Zuge der Einbürgerung oder nach einer Eheschließung. Hier werde weder die Einbürgerungsurkunde berichtigt, noch eine neue Urkunde ausgestellt. Vielmehr werde dem Inhaber der Urkunde zugemutet, bei den entsprechenden Stellen nachzuweisen, dass er derjenige sei, dessen Name auf der Urkunde stehe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Am 23.02.2021 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Der Kläger führt in der Klageschrift aus, die Rechtsauffassung des Beklagten, wonach die Einbürgerung des Klägers nur mit Mängeln behaftet sei, die aber nach Ablauf der Frist des § 35 StAG aus Gründen der Rechtssicherheit hingenommen werden müsse, finde im Gesetzestext keine Grundlage. § 35 StAG äußere sich nur zu den Voraussetzungen für die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung. Er sage nichts darüber aus, dass unter falschen Personalien vorgenommene Einbürgerungen nicht korrigiert werden könnten und müssten. Da der Beklagte ungeachtet der angedrohten Untätigkeitsklage keinen rechtsmittelfähigen Bescheid erlassen habe, dürfte die vorliegende Klage ebenso zulässig wie begründet sein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Der Kläger beantragt:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="8"/>den Beklagten zu verpflichten, die Personalien des Klägers in der Einbürgerungsurkunde vom 28.07.2005, ausgehändigt am 02.09.2005, auf die Personalien S. R., geboren xx.xx.1966 in N./Pakistan zu ändern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>die Klage abzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Der Beklagte trägt vor, zum Nachweis der afghanischen Staatsangehörigkeit des Klägers im Einbürgerungsverfahren sei ein afghanischer Reisepass, sowie eine am 11.08.2003 ausgestellte Geburtsurkunde durch das Generalkonsulat von Afghanistan in Bonn vorgelegt worden. Nach Überprüfung der geforderten Einbürgerungsvoraussetzungen sei die Einbürgerung durch Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wirksam geworden. Die Einbürgerung sei unter Hinnahme der afghanischen Staatsangehörigkeit erfolgt. Der Kläger sei unter den im Einbürgerungsverfahren angegebenen und nachgewiesenen Personalien eingebürgert worden. Die Einbürgerung sei trotz des Identitätsirrtums und der darauf beruhenden fehlerhaften Personenbezeichnung in der Urkunde wirksam geworden und weiterhin wirksam. Der Verwaltungsakt sei auch nicht nichtig. Eine Rücknahme der Einbürgerung sei nicht mehr möglich, da dies nur bis zum Ablauf von zehn Jahren nach der Bekanntgabe der Einbürgerung erfolgen könne, § 35 Abs. 3 StAG. Nach § 42 VwVfG könne die Behörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in einem Verwaltungsakt jederzeit berichtigen. Im konkreten Fall handele es sich nicht um eine offensichtliche Unrichtigkeit auf dem Niveau eines Schreib-oder Rechenfehlers. Vielmehr habe der Kläger die Ursache für die Unrichtigkeit gesetzt, weil er falsche Personalien angegeben habe. Die Einbürgerung sei damit zwar nicht nichtig, sondern nur mit Mängeln behaftet, die aber nach Ablauf der Frist des §§ 35 StAG aus Gründen der Rechtssicherheit hingenommen würden. Die Einbürgerungsurkunde sei keine Personenstandsurkunde. Sie sei lediglich ein Nachweis, dass die in der Urkunde genannte Person zum Zeitpunkt der Aushändigung der Urkunde die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Es gebe viele Fälle, in denen die Einbürgerungsurkunde einen anderen Namen beinhalte als der Eingebürgerte ihn aktuell führe. In solch einem Fall werde weder die Einbürgerungsurkunde berichtigt, noch eine neue Urkunde ausgestellt. Vielmehr werde dem Inhaber der Urkunde zugemutet, bei den entsprechenden Stellen nachzuweisen, dass er derjenige sei, dessen Name auf der Urkunde stehe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Mit Beschluss vom 14.04.2022 wurde der Rechtsstreit auf den Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die zur Sache gehörenden Behördenakten des Beklagten, die dem Gericht vorliegen, verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Klage, über die der Berichterstatter nach Übertragung durch die Kammer als Einzelrichter nach § 76 Abs. 1 AsylG entscheidet (§ 87 Abs. 2, 3 VwGO), ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters des Klägers verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table><table><tr><td>1.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage zulässig. Die in § 75 VwGO normierten Anforderungen für die Erhebung einer Untätigkeitsklage sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erfüllt. Der Kläger hat am 04.11.2020 beim Landratsamt O. die Berichtigung seiner Einbürgerungsurkunde beantragt. Ein Bescheid ist nicht ergangen. Einen zureichenden Grund für eine Untätigkeit hat der Beklagte nicht geltend gemacht, sondern sich lediglich darauf berufen, dass dem Kläger kein entsprechender Anspruch zustehe. Auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist ein zureichender Grund im Sinne von § 75 Satz 1 und Satz 3 VwGO für die fehlende Entscheidung über den Antrag des Klägers nicht ersichtlich.</td></tr></table><table><tr><td>2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Der Kläger hat keinen Anspruch auf Berichtigung seiner Einbürgerungsurkunde. Für den geltend gemachten Anspruch ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>a. § 42 VwVfG, wonach die Behörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in einem Verwaltungsakt jederzeit berichtigen kann, scheidet als Anspruchsgrundlage aus. Das Begehren des Klägers ist nicht auf eine Berichtigung i.S. des § 42 VwVfG gerichtet, sondern auf eine Änderung des ursprünglichen Beurkundungsinhalts. Eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne der Vorschrift liegt nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>b. Ein Anspruch auf Abänderung einer Einbürgerungsurkunde nach Wechsel der Identität des Eingebürgerten ergibt sich nicht aus dem Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG). Das Gesetz sieht einen solchen Anspruch auch in seiner aktuellen Fassung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 12. August 2021 (BGBl. I S. 3538) nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>c. Der Kläger hat auf die gerichtliche Aufforderung zur Darlegung, auf welcher Rechtsgrundlage ein Anspruch auf Änderung der Urkunde bestehen soll, auf § 49 Abs. 2 AufenthG abgestellt. Diese Vorschrift regelt im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Überprüfung, Feststellung und Sicherung der Identität von Ausländern, dass jeder Ausländer verpflichtet ist, gegenüber den mit dem Vollzug des Ausländerrechts betrauten Behörden auf Verlangen die erforderlichen Angaben zu seinem Alter, seiner Identität und Staatsangehörigkeit zu machen und die von der Vertretung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder vermutlich besitzt, geforderten und mit dem deutschen Recht in Einklang stehenden Erklärungen im Rahmen der Beschaffung von Heimreisedokumenten abzugeben. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ist ersichtlich, dass hier nur eine Verpflichtung des Ausländers geregelt wird, nicht aber eine Verpflichtung der Behörde zu einem bestimmten Verhalten, auch nicht zu einer Berichtigung von Dokumenten, die im Zusammenhang mit der Klärung der Identität von Ausländern stehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>d. Auch ein Anspruch aus Art. 16 Satz 1 DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung – VO (EU) 2016/679) scheidet aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Nach dieser Vorschrift hat die betroffene Person das Recht, von dem Verantwortlichen unverzüglich die Berichtigung sie betreffender unrichtiger personenbezogener Daten zu verlangen. Die Vorschrift ist als Rechtsgrundlage etwa für einen Anspruch auf Berichtigung des Melderegisters anerkannt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.03.2020 – 1 S 397/19 – juris.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Um aus Art. 16 DSGVO einen entsprechenden Anspruch ableiten zu können, müsste die DSGVO indes auf den vorliegenden Sachverhalt überhaupt anwendbar sein. Dies ist nach Auffassung des Gerichts zu verneinen. Art. 2 DSGVO regelt den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung und bestimmt deren Geltung “für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Im vorliegenden Fall geht es allein um ein einziges Dokument, es werden auch keine Daten automatisiert verarbeitet. Es erfolgt keine Speicherung von Daten in einem Dateisystem. Ein Anspruch nach Art. 16 DSGVO besteht nicht, wenn Daten zwar gespeichert sind, die Speicherung aber nicht automatisiert erfolgt oder in strukturierten Karteien (vgl. Schaffland/Wiltfang, DSGVO/BDSG, Stand September 2021, Art. 16 DSGVO, Rn 2). Vorliegend geht es um Daten des Klägers, die auf einer Einbürgerungsurkunde aufgeführt sind. Es liegt kein Dateisystem vor und keine automatisierte Speicherung.</td></tr></table><table><tr><td>3.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Dahinstehen kann, ob einer Abänderung der Einbürgerungsurkunde darüber hinaus bereits entgegensteht, dass der Kläger weiterhin melderechtlich und im Rechtsverkehr unter seiner früheren Identität auftritt. Es besteht ein erhebliches staatliches Interesse daran zu verhindern, dass ein und dieselbe Person im Rechtsverkehr mit mehreren unterschiedlichen Identitäten und amtlichen Ausweispapieren auftreten kann (BVerwG Urt. v. 01.09.11 – 5 C 27/10 - juris). Hätte die vorliegende Klage Erfolg, würde der Kläger Inhaber einer Einbürgerungsurkunde, die auf Personalien lautet, die nicht mit seiner melderechtlichen Identität übereinstimmen. Daher müsste das primäre Anliegen des Klägers zunächst darin liegen, bei der Meldebehörde seine Identität berichtigen zu lassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Dahinstehen kann des Weiteren, ob im vorliegenden Fall eine Unrichtigkeit der Einbürgerungsurkunde gegeben ist. Denn zum Zeitpunkt der Ausstellung der Urkunde entsprach die Beurkundung der Identität, unter welcher der Kläger im Rechtsverkehr allgemein aufgetreten ist. Es erscheint nicht von Vornherein ausgeschlossen, den Wechsel einer Identität zur Beseitigung einer vorangegangenen - unter Führung eines unrichtigen Namens und einer unrichtigen Staatsangehörigkeit begangenen - Täuschung so zu behandeln wie eine Namensänderung etwa nach Heirat, bei welcher – nach der vom Beklagten geschilderten Verwaltungspraxis – keine Berichtigung der auf den früheren Namen ausgestellten Urkunden erfolgt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss vom 26.07.2022</span></strong><br/>Der Streitwert wird auf<br/><strong>10.000,00 EUR</strong><br/>festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG, vgl. Ziffer 42.1 des Streitwertkatalogs 2013).</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Klage, über die der Berichterstatter nach Übertragung durch die Kammer als Einzelrichter nach § 76 Abs. 1 AsylG entscheidet (§ 87 Abs. 2, 3 VwGO), ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters des Klägers verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table><table><tr><td>1.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage zulässig. Die in § 75 VwGO normierten Anforderungen für die Erhebung einer Untätigkeitsklage sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erfüllt. Der Kläger hat am 04.11.2020 beim Landratsamt O. die Berichtigung seiner Einbürgerungsurkunde beantragt. Ein Bescheid ist nicht ergangen. Einen zureichenden Grund für eine Untätigkeit hat der Beklagte nicht geltend gemacht, sondern sich lediglich darauf berufen, dass dem Kläger kein entsprechender Anspruch zustehe. Auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist ein zureichender Grund im Sinne von § 75 Satz 1 und Satz 3 VwGO für die fehlende Entscheidung über den Antrag des Klägers nicht ersichtlich.</td></tr></table><table><tr><td>2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Der Kläger hat keinen Anspruch auf Berichtigung seiner Einbürgerungsurkunde. Für den geltend gemachten Anspruch ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>a. § 42 VwVfG, wonach die Behörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in einem Verwaltungsakt jederzeit berichtigen kann, scheidet als Anspruchsgrundlage aus. Das Begehren des Klägers ist nicht auf eine Berichtigung i.S. des § 42 VwVfG gerichtet, sondern auf eine Änderung des ursprünglichen Beurkundungsinhalts. Eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne der Vorschrift liegt nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>b. Ein Anspruch auf Abänderung einer Einbürgerungsurkunde nach Wechsel der Identität des Eingebürgerten ergibt sich nicht aus dem Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG). Das Gesetz sieht einen solchen Anspruch auch in seiner aktuellen Fassung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 12. August 2021 (BGBl. I S. 3538) nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>c. Der Kläger hat auf die gerichtliche Aufforderung zur Darlegung, auf welcher Rechtsgrundlage ein Anspruch auf Änderung der Urkunde bestehen soll, auf § 49 Abs. 2 AufenthG abgestellt. Diese Vorschrift regelt im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Überprüfung, Feststellung und Sicherung der Identität von Ausländern, dass jeder Ausländer verpflichtet ist, gegenüber den mit dem Vollzug des Ausländerrechts betrauten Behörden auf Verlangen die erforderlichen Angaben zu seinem Alter, seiner Identität und Staatsangehörigkeit zu machen und die von der Vertretung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder vermutlich besitzt, geforderten und mit dem deutschen Recht in Einklang stehenden Erklärungen im Rahmen der Beschaffung von Heimreisedokumenten abzugeben. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ist ersichtlich, dass hier nur eine Verpflichtung des Ausländers geregelt wird, nicht aber eine Verpflichtung der Behörde zu einem bestimmten Verhalten, auch nicht zu einer Berichtigung von Dokumenten, die im Zusammenhang mit der Klärung der Identität von Ausländern stehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>d. Auch ein Anspruch aus Art. 16 Satz 1 DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung – VO (EU) 2016/679) scheidet aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Nach dieser Vorschrift hat die betroffene Person das Recht, von dem Verantwortlichen unverzüglich die Berichtigung sie betreffender unrichtiger personenbezogener Daten zu verlangen. Die Vorschrift ist als Rechtsgrundlage etwa für einen Anspruch auf Berichtigung des Melderegisters anerkannt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.03.2020 – 1 S 397/19 – juris.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Um aus Art. 16 DSGVO einen entsprechenden Anspruch ableiten zu können, müsste die DSGVO indes auf den vorliegenden Sachverhalt überhaupt anwendbar sein. Dies ist nach Auffassung des Gerichts zu verneinen. Art. 2 DSGVO regelt den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung und bestimmt deren Geltung “für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Im vorliegenden Fall geht es allein um ein einziges Dokument, es werden auch keine Daten automatisiert verarbeitet. Es erfolgt keine Speicherung von Daten in einem Dateisystem. Ein Anspruch nach Art. 16 DSGVO besteht nicht, wenn Daten zwar gespeichert sind, die Speicherung aber nicht automatisiert erfolgt oder in strukturierten Karteien (vgl. Schaffland/Wiltfang, DSGVO/BDSG, Stand September 2021, Art. 16 DSGVO, Rn 2). Vorliegend geht es um Daten des Klägers, die auf einer Einbürgerungsurkunde aufgeführt sind. Es liegt kein Dateisystem vor und keine automatisierte Speicherung.</td></tr></table><table><tr><td>3.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Dahinstehen kann, ob einer Abänderung der Einbürgerungsurkunde darüber hinaus bereits entgegensteht, dass der Kläger weiterhin melderechtlich und im Rechtsverkehr unter seiner früheren Identität auftritt. Es besteht ein erhebliches staatliches Interesse daran zu verhindern, dass ein und dieselbe Person im Rechtsverkehr mit mehreren unterschiedlichen Identitäten und amtlichen Ausweispapieren auftreten kann (BVerwG Urt. v. 01.09.11 – 5 C 27/10 - juris). Hätte die vorliegende Klage Erfolg, würde der Kläger Inhaber einer Einbürgerungsurkunde, die auf Personalien lautet, die nicht mit seiner melderechtlichen Identität übereinstimmen. Daher müsste das primäre Anliegen des Klägers zunächst darin liegen, bei der Meldebehörde seine Identität berichtigen zu lassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Dahinstehen kann des Weiteren, ob im vorliegenden Fall eine Unrichtigkeit der Einbürgerungsurkunde gegeben ist. Denn zum Zeitpunkt der Ausstellung der Urkunde entsprach die Beurkundung der Identität, unter welcher der Kläger im Rechtsverkehr allgemein aufgetreten ist. Es erscheint nicht von Vornherein ausgeschlossen, den Wechsel einer Identität zur Beseitigung einer vorangegangenen - unter Führung eines unrichtigen Namens und einer unrichtigen Staatsangehörigkeit begangenen - Täuschung so zu behandeln wie eine Namensänderung etwa nach Heirat, bei welcher – nach der vom Beklagten geschilderten Verwaltungspraxis – keine Berichtigung der auf den früheren Namen ausgestellten Urkunden erfolgt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss vom 26.07.2022</span></strong><br/>Der Streitwert wird auf<br/><strong>10.000,00 EUR</strong><br/>festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG, vgl. Ziffer 42.1 des Streitwertkatalogs 2013).</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,463 | olgstut-2022-07-26-v-4-ws-36521 | {
"id": 147,
"name": "Oberlandesgericht Stuttgart",
"slug": "olgstut",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | V 4 Ws 365/21 | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-09-07T10:01:39 | 2022-10-17T11:09:52 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>Auf die Rechtsbeschwerde des Ministeriums der Justiz und für Migration Baden-Württemberg wird der Beschluss des Landgerichts Tübingen vom 23. November 2021 mit Ausnahme der Festsetzung des Gegenstandswertes</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><p><strong>aufgehoben.</strong></p></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Antrag des Antragstellers vom 2. Mai 2021 auf gerichtliche Entscheidung wird als unbegründet</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><p><strong>zurückgewiesen</strong>.</p></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Die Anträge des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Rechtsbeschwerdeverfahren werden</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><p><strong>abgelehnt.</strong></p></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf bis 500 Euro festgesetzt.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Das Ministerium der Justiz und für Migration legt als Aufsichtsbehörde über die Justizvollzugsanstalt Rottenburg Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 13. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen vom 23. November 2021 ein, in dem die Kammer festgestellt hat, dass der Antragsteller durch die JVA Rottenburg rechtswidrig in seinem Wahlrecht bei der Landtagswahl am 14. März 2021 beschränkt wurde.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="2"/>1. Der Antragsteller verbüßt derzeit eine Freiheitsstrafe, und zwar nach Erledigung eines Maßregelvollzugs vom 18. Juni 2018 bis 28. März 2022 in der Justizvollzugsanstalt Rottenburg, und seit 29. März 2022 in der Justizvollzugsanstalt Freiburg. Das Strafende ist für den 9. November 2023 vorgemerkt.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="3"/>2. Mit Schreiben vom 2. Mai 2021, bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen am 3. Mai 2021, beantragte der Antragsteller eine gerichtliche Entscheidung mit dem Antrag festzustellen, dass es ihm in rechtswidriger Weise nicht ermöglicht worden sei, an den Landtagswahlen am 14. März 2021 teilzunehmen. Er habe keinerlei Wahlunterlagen erhalten, obwohl ihm von der Anstaltsleitung zugesichert worden war, dass er solche unabhängig von einer „Anmeldung“ erhalten würde. Auf einen Antrag seinerseits sei nicht rechtzeitig reagiert worden. Im Hinblick auf die nächsten Wahlen beantrage er die Rechtswidrigkeit festzustellen. Später ergänzte der Antragsteller sein Vorbringen dahingehend, dass er rechtzeitig einen Antrag gestellt hätte und seine Grundrechte schwerwiegend verletzt worden seien.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="4"/>3. Der angefochtenen Entscheidung liegt folgender festgestellter Sachverhalt zugrunde:</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="5"/>Die Anstaltsleitung der JVA Rottenburg war ursprünglich davon ausgegangen, dass der Antragsteller bei seiner (Wieder-)Aufnahme in die JVA Rottenburg am 18. Juni 2018 bei der Stadt Rottenburg angemeldet worden war und dieser deshalb automatisch postalisch seine Unterlagen zur Landtagswahl am 14. März 2021 erhalten würde. Nachdem der Antragsteller selbst bis kurz vor der Wahl noch keine Wahlunterlagen erhalten hatte, hatte er sich am 9. März 2021 beim diensthabenden Beamten gemeldet und diesen gebeten, ein Schreiben an die Stadt weiterzuleiten, um dort um die Übersendung der Wahlunterlagen zu bitten. Das Schreiben wurde von diesem Mitarbeiter der JVA, der die Dringlichkeit der Angelegenheit erkannte, nach Rücksprache mit der Anstaltsleitung am Abend des 9. März 2021 direkt beim Rathaus der Stadt eingeworfen. Am 10. März 2021 bat die Stadt Rottenburg die JVA, nachdem sie feststellte, dass der Antragsteller in Rottenburg tatsächlich nicht gemeldet war, dass diese den Antragsteller bei der Stadt anmelden solle, und zwar rückwirkend auf den Tag des Zugangs in der JVA am 18. Juni 2018, was die JVA sofort veranlasste. Dem Antragsteller wurden daraufhin die Wahlunterlagen am 13. März 2021 von einem Mitarbeiter der JVA übergeben. Bei dieser Übergabe erklärte der Antragsteller dem Mitarbeiter der JVA, dass es nun sowieso zu spät wäre. Einen Wahlbrief hat der Antragsteller in der Folge nicht mehr abgegeben. Die Antragsgegnerin trägt vor, dass sie – wie schon zuvor in dieser Angelegenheit – eine Lösung für eine schnelle Beförderung des Wahlbriefes gefunden hätte, wenn sich der Antragsteller m 13. März 2021 oder auch selbst noch am 14. März 2021, dem Wahltag, mit dem Anliegen um Beförderung seines Wahlbriefes gemeldet hätte. Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, es sei von einem Bürger, der an der Wahl teilnehmen möchte, zu erwarten, dass er sich selbst und baldmöglichst darum bemüht, die notwendigen Wahlunterlagen zu erhalten, etwa auch bei der zuständigen Behörde nachzufragen. Ab dem Zeitpunkt, ab dem es der JVA bekannt geworden war, dass der Antragsteller keine Wahlunterlagen erhalten habe, habe die JVA alles ihr nur Mögliche unternommen, um ihm zur Teilnahme an der Wahl zu verhelfen.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="6"/>Aus dem von der Antragsgegnerin ab 1. Februar 2021 veranlassten Aushang in der JVA zur Landtagswahl am 14. März 2021 ergab sich unter anderem, dass wahlberechtigte Inhaftierte, die am 31. Januar 2021 mit Hauptwohnsitz in der JVA Rottenburg gemeldet seien, von Amts wegen in das Wählerverzeichnis der Stadt eingetragen worden seien und automatisch eine Wahlbenachrichtigung zugesandt erhielten. Gleiches gelte für wahlberechtigte Inhaftierte, die am Stichtag nicht für eine Wohnung außerhalb der JVA Rottenburg gemeldet seien; hier entfalle die bisher erforderliche Antragstellung auf Eintragung in das Wählerverzeichnis. Diese Wahlbenachrichtigung würden die wahlberechtigten Personen spätestens drei Wochen vor der Wahl am 21. Februar 2021 erhalten. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass aufgrund der Corona-bedingten Aussetzung der vollzugsöffnenden Maßnahmen alle Gefangenen derzeit ausschließlich per Briefwahl wählen könnten. Für die Briefwahl werde ein Wahlschein mit Briefwahlunterlagen benötigt. Diese könnten die Gefangenen nach Eingang der Wahlbenachrichtigungskarte beantragen. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass die Antragstellung unter Berücksichtigung des hierfür notwendigen Postversands möglichst frühzeitig erfolgen solle und darum gebeten, dass der Wahlbriefumschlag rechtzeitig in den Postweg gegeben wird, damit die Unterlagen spätestens am 14. März 2021 um 18 Uhr beim zuständigen Wahlamt eingehen, mögliche Verzögerungen auf dem Postweg seien zu berücksichtigen.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="7"/>4. Mit Beschluss vom 23. November 2021 hat die 13. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen dem genannten Antrag stattgegeben und festgestellt, dass der Antragsteller rechtswidrig in seinem Wahlrecht beschränkt worden sei. Nach Auslegung des Begehrens wolle der Antragsteller nicht die Wahl als solche anfechten, sondern wende sich ausdrücklich gegen das Handeln der Antragsgegnerin.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="8"/>Die Strafvollstreckungskammer hat ihre Entscheidung damit begründet, dass es die Antragsgegnerin entgegen ihrer sonst üblichen Praxis unterlassen habe, den Antragsteller bei der Stadt Rottenburg mit Wohnsitz in der JVA anzumelden, wodurch dieser nicht in das Wählerverzeichnis nach dem Landeswahlgesetz eingetragen worden sei. Dies stelle eine Unterlassung auf dem Gebiet des Strafvollzugs im Sinne des § 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG dar. Da sich die Unterlassung durch Zeitablauf erledigt habe, könne bei einem berechtigten Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit ein Feststellungsantrag nach § 115 Abs. 3 StVollzG gestellt werden. Das Feststellungsinteresse des Antragstellers hat die Kammer in dem gewichtigen Grundrechtseingriff betreffend die (mögliche) Verletzung seines Wahlrechts aus Art. 26 der Landesverfassung gesehen. Auch das Rechtsschutzbedürfnis hat die Kammer trotz der Nichtabgabe seiner Wahlunterlagen bejaht: Die Antragsgegnerin habe in ihrem Aushang selbst festgelegt, dass die Wahlunterlagen so rechtzeitig in den Postweg zu geben seien, dass diese am Sonntag beim zuständigen Wahlamt eingehen könnten. Dies sei im Falle des Antragstellers nicht mehr möglich gewesen, auch wenn er – so die Kammer – „sicherlich noch aktiver daran hätte mitwirken können“. Der Antragsteller sei deshalb – von Seiten der JVA versehentlich – in seinem Wahlrecht aus Art. 26 Abs. 1, 3 und Abs. 4 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg verletzt worden. Die Ursache für die „zeitliche Knappheit“ habe die Antragsgegnerin gesetzt, so dass der Antragsteller keine weiteren Anregungen oder Anträge betreffend eine schnellere Briefbeförderung hätte stellen müssen. Der Beschluss wurde der Antragsgegnerin am 29. November 2021 zugestellt.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>5. Gegen diese Entscheidung wendet sich das Ministerium der Justiz und für Migration als Aufsichtsbehörde nach § 111 Abs. 2 StVollzG mit seiner Rechtsbeschwerdeschrift vom 21. Dezember 2021, eingegangen beim Landgericht Tübingen am 23. Dezember 2021. Das Ministerium erhebt die Sachrüge und beantragt, die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer aufzuheben sowie den Antrag des Antragstellers zurückzuweisen, hilfsweise den Antrag des Antragstellers nach Aufhebung zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>6. Der Antragsteller trägt hierauf mit seinem Schreiben vom 29. Januar 2022 im Wesentlichen den bekannten Sachverhalt vor. Tatsächlich habe es nach seinen Recherchen viele andere Gefangene gegeben, die keine Wahlbenachrichtigungen erhalten hätten. Der Antragsteller erklärt, er möchte nun auch Prozesskostenhilfe sowie die Beiordnung seines Anwalts beantragen.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>II.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="12"/>1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft und rechtzeitig innerhalb der Monatsfrist eingelegt und begründet, § 93 JVollzGB III i.V.m. § 118 Abs. 1 StVollzG. Das Ministerium der Justiz und für Migration Baden-Württemberg ist als Aufsichtsbehörde über die Antragsgegnerin zur Einlegung der Rechtsbeschwerde befugt (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. März 2003 – 1 Ws 230/02).</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="13"/>Die Rechtsbeschwerde ist auch zulässig. Der angefochtene Beschluss enthält zwar alle entscheidungserheblichen Tatsachen und rechtlichen Gesichtspunkte und entspricht somit den Anforderungen des § 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 267 StPO, so dass die Rechtsbeschwerde nicht schon allein mangels ausreichender Feststellungen der Strafvollstreckungskammer zulässig ist (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 21. Ed. 1.2.2022, StVollzG § 116 Rn. 3). Nach § 93 JVollzGB III i.V.m. § 116 Abs. 1 StVollzG ist die Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer aber dann zulässig, wenn dies zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="14"/>Eine Fortbildung des Rechts liegt vor, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen und des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (BGH NJW 1971, 389). Hierdurch soll dem Rechtsbeschwerdegericht die Möglichkeit gegeben werden, seine Rechtsauffassung in einer für die nachgeordneten Gerichte richtunggebenden Weise zum Ausdruck zu bringen. Die in Rede stehende Rechtsfrage muss von praktischer Bedeutung, entscheidungserheblich und klärungsbedürftig sein, also offen, zweifelhaft oder bestritten (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 21. Ed. 1.2.2022, StVollzG § 116 Rn. 4).</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="15"/>Die besonderen Zulassungsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG sind hier im Hinblick auf die Fortbildung des Rechts erfüllt: Zur Frage des Umfangs der Unterstützung der Gefangenen durch die Justizvollzugsanstalten bei der Teilnahme an Landtagswahlen hat weder der Senat jemals entschieden noch liegt hierzu obergerichtliche Rechtsprechung vor.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="16"/>2. Die Rechtsbeschwerde hat mit der Sachrüge Erfolg.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="17"/>a) Der Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="18"/>Der Senat hat – da Verfahrensvoraussetzung – von Amts wegen zu prüfen, ob der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zulässig war, andernfalls wäre die Rechtsbeschwerde und der Antrag des Gefangenen als unzulässig zurückzuweisen (KG, Beschluss vom 25. September 2007 – 2/5 Ws 189/05, juris Rn. 11).</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="19"/>Nach der Auslegung des Begehrens des Antragstellers, er wolle festgestellt haben, dass ihn die Antragsgegnerin in rechtswidriger Weise in seinem Wahlrecht beschränkt habe, hat der Antragsteller auch ein Feststellungsinteresse. Bei der Überprüfung der Rechtswidrigkeit einer Maßnahme oder Unterlassung einer JVA besteht ein Feststellungsinteresse unter anderem bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 21. Ed. 1.2.2022, StVollzG § 115 Rn. 16), wobei die Anforderungen an die Grundrechtseingriffe nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 18. Mai 2017 – 2 BvR 249/17). Diese Grundsätze gelten auch für einen Eingriff in das durch die Landesverfassung garantierte Recht auf Teilnahme an Landtagswahlen nach Art. 28 Abs. 1 und 4 LV, das auch grundgesetzlich über Art. 28 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 GG gewährleistet ist. Nach dem Vortrag des Antragstellers ist ein Feststellungsinteresse daher gegeben.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="20"/>b) Die Erwägungen, mit denen die Strafvollstreckungskammer eine Rechtsverletzung des Antragstellers angenommen hat, halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>Richtigerweise hat die Strafvollstreckungskammer zwar eine Unterlassung auf dem Gebiet des Strafvollzugs i.S.d. § 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG durch die fehlende Anmeldung des Gefangenen bei der Meldebehörde der Stadt Rottenburg angenommen. Diese ergibt sich rechtlich indessen nicht wie von der Strafvollstreckungskammer angenommen aus der Abweichung von einer dauernden Übung der JVA, sondern aus deren – versehentlichen – Verletzung ihrer gesetzlichen Pflicht aus § 27 Abs. 4 Satz 2 Bundesmeldegesetz, wonach sie der Meldebehörde die Aufnahme eines Strafgefangenen, dessen Freiheitsentziehung drei bzw. zwölf Monate überschreitet, innerhalb von zwei Wochen mitteilen muss.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>Die Strafvollstreckungskammer hat aber in dieser Unterlassung zu Unrecht eine Verletzung des Wahlrechtes des Antragstellers gesehen.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="23"/>Aufgrund des Aushangs der JVA zur Landtagswahl war der Antragsteller zunächst nicht gehalten, sich selbst um seine Wahlunterlagen zu kümmern, denn er durfte entsprechend der Information der JVA im Aushang davon ausgehen, dass er automatisch eine Wahlbenachrichtigung erhalten würde. Dem Antragsteller ist es auch nicht anzulasten, dass er nicht bemerkte oder monierte, dass er bei seiner Aufnahme in der JVA im Juni 2018 keine Nachricht über seine Anmeldung bei der Meldebehörde der Stadt Rottenburg erhalten hatte, wie dies nach § 27 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz Bundesmeldegesetz hätte erfolgen müssen. Aufgrund des Aushangs in der JVA, bei dem ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass wahlberechtigte Personen spätestens drei Wochen vor der Wahl, also am 21. Februar 2021, eine Wahlbenachrichtigung erhalten, hätte der Antragsteller jedoch spätestens nach Verstreichen dieses Zeitpunktes seine fehlende Wahlbenachrichtigung anmahnen müssen. Der Antragsteller hat sich dagegen erst am Dienstag, 9. März 2021, und damit nur fünf Tage vor der Landtagswahl und mehr als zwei Wochen nach dem im Aushang genannten Zeitpunkt gemeldet. Zwar hatte die JVA mit dem versehentlich rechtswidrigen Unterlassen der Nichtanmeldung die Ursache dafür gesetzt, dass dem Antragsteller keine Wahlbenachrichtigung zugesandt wurde. Weil der Antragsteller aber den angekündigten spätesten Zeitpunkt für die Übersendung der Wahlbenachrichtigung ohne ersichtlichen Grund um einen beträchtlichen Zeitraum verstreichen ließ, ohne seine Wahlbenachrichtigung zu monieren – und zwar trotz des ausdrücklichen Hinweises auf die Postlaufzeiten im Aushang –, hat er die Ursache dafür gesetzt, dass die JVA seine Anmeldung und die Briefwahl innerhalb von nur fünf Tagen bis zur Landtagswahl organisieren musste. Soweit die Strafvollstreckungskammer daher bei dem gegebenen Sachverhalt den Schluss zieht, <em>allein</em> die Antragsgegnerin sei für die „zeitliche Knappheit“ verantwortlich, ist dieser nicht haltbar. Denn selbst wenn der Antragsteller die drei-Wochen-Frist für den Zugang der Wahlbenachrichtigung auf dem Aushang nicht gelesen hätte, musste ihm klar sein, dass seine erstmalige Anforderung von Briefwahlunterlagen nur fünf Tage vor der Wahl unter üblichen Postlaufzeiten bereits keine Teilnahme an der Wahl mehr zugelassen hätte.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>Im Hinblick auf den Stellenwert einer Landtagswahl in einer repräsentativen Demokratie und des Rechtes der Strafgefangenen, daran auch unter den erschwerten Bedingungen eines Freiheitsentzugs teilzunehmen, sind die Justizvollzugsanstalten gehalten, den Wahlvorgang für ihre Gefangengen schon im Vorfeld einer Wahl organisatorisch in einer Weise vorzubereiten und zu begleiten, dass jeder Strafgefangene, der dies will, von seinem Wahlrecht ohne weitere Erschwernisse Gebrauch machen kann. Mit ihrem Aushang vom 1. Februar 2021 hat die JVA die Gefangenen sehr ausführlich und verständlich über die Landtagswahl allgemein und deren Ablauf für die in der JVA inhaftierten Gefangenen informiert und ist in diesem Punkt ihrer organisatorischen Verpflichtung uneingeschränkt gerecht geworden. Da die Anmeldung der Gefangenen bei der Meldebehörde nach § 27 Abs. 4 Satz 2 Bundesmeldegesetz aber regelmäßig Voraussetzung für die Teilnahme an Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen ist, sind die Justizvollzugsanstalten darüber hinaus besonders gehalten, ihren gesetzlichen Meldepflichten mit der erforderlichen Sorgfalt nachzukommen.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>Auch im Fall des Antragstellers hat sie diesen ab dem Zeitpunkt ihrer Kenntnis in besonderer Weise unterstützt, nämlich durch taggleiche Briefbeförderung und sofortige Anmeldung bei der Stadt Rottenburg. Die JVA hat also ab dem 9. März 2021 besondere Maßnahmen in diesem Einzelfall ergriffen, um dem Antragsteller eine Teilnahme an der Landtagswahl noch zu ermöglichen. Dass sich der Antragsteller am Tag vor der Landtagswahl entschieden hat, keinen Wahlbrief mehr abzugeben, war dagegen seine autonome Entscheidung. Anders als die Strafvollstreckungskammer meint, ändert hieran auch die Tatsache nichts, dass die JVA dem Antragsteller nicht ausdrücklich nochmals eine besonders schnelle Beförderung seines Wahlbriefes angeboten hatte, nachdem der Antragsteller gegenüber dem diensthabenden Mitarbeiter der JVA äußerte, nun sei es sowieso zu spät. So ein ausdrückliches Angebot seitens der JVA stellt zwar, anders als die Aufsichtsbehörde meint, nicht bereits eine unzulässige Beeinflussung einer Entscheidung über die Teilnahme an der Wahl dar. Aber der Antragsteller hätte dem Mitarbeiter gegenüber zumindest in irgendeiner Weise erkennen lassen müssen, dass er trotz seines Zweifels an einer rechtzeitigen Briefbeförderung wählen möchte.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="26"/>Im Ergebnis führte daher die rechtswidrig unterbliebene Anmeldung bei der Stadt Rottenburg nicht zu einer Verletzung des Rechts des Antragstellers auf Teilnahme an der Landtagswahl 2021.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="27"/>3. Da die Sache spruchreif ist, kann der Senat anstelle der Strafvollstreckungskammer entscheiden, § 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG.</td></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="28"/>4. Der Antrag des Antragstellers auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Rechtsbeschwerdeverfahren gemäß § 120 Abs. 2 StVollzG, § 114 Abs. 1 ZPO ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung auch unter Berücksichtigung des im Prozesskostenhilfeverfahren geltenden großzügigeren Maßstabs keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>III.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="29"/>Die Entscheidungen über die Kosten beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 1 StVollzG, da der Antragsteller mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung unterliegt. Hierzu gehören auch die Kosten eines erfolgreichen Rechtsmittels auf Seiten der Vollzugsbehörde, das zu Ungunsten des Verurteilten eingelegt wurde (§ 121 Abs. 4 iVm § 465 StPO, vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt StPO § 473 Rn. 15; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 21. Ed. 1.2.2022, StVollzG § 121 Rn. 2).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="30"/>Die Festsetzung des Gegenstandswertes folgt aus § 60 Halbsatz 1, § 52 Abs. 2 GKG.</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
|
346,457 | vghbw-2022-07-26-3-s-377921 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 S 3779/21 | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-09-07T10:01:32 | 2022-10-17T11:09:51 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Bebauungsplan „24/4 Rainstraße Ost“ der Stadt Bad Friedrichshall vom 23. November 2021 wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.</p><p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p><p>Der Streitwert wird auf 20.000,-- EUR festgesetzt.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragsteller wenden sich gegen den Bebauungsplan „24/4 Rainstraße Ost“ der Antragsgegnerin, mit dem im Stadtteil Kochendorf der Bereich zwischen der Bach-, der Rain- und der N... Straße sowie der ... überplant wird. Im vorliegenden Verfahren begehren sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Der von der Bachstraße im Norden, der Rainstraße und der N... Straße im Westen sowie der ... im Süden gebildete Bereich ist jeweils an den Straßenrändern mit Wohnhäusern bebaut. Im Inneren des Bereichs liegt eine im Wesentlichen unbebaute, von Nord nach Süd teilweise bis über 80 m breite Fläche, die sich nach Osten hin in die freie Landschaft öffnet. Das Gelände fällt dort von Süd nach Nord stark ab. Die N. W. GmbH & Co KG (Vorhabenträger), die jedenfalls Eigentümerin der im Inneren des Bereichs gelegenen und bislang unbebauten Grundstücke Flst.Nrn. ..., ..., ... und ... ist, plant dort einen Wohnkomplex mit ca. 70 Wohnungen in sechs Baukörpern zu errichten. Die Antragsgegnerin war der Auffassung, dass der fragliche Bereich zwar im Innenbereich liege, das vom Vorhabenträger geplante Projekt dort jedoch wegen seiner Größe nicht nach § 34 BauGB genehmigt werden könne. Da die Antragsgegnerin das Projekt aber befürwortete, weil es der Innenentwicklung dienen und zur Deckung des Wohnraumbedarfs beitragen soll, beschloss sie am 23.11.2021 den im beschleunigten Verfahren gemäß § 13 a BauGB aufgestellten Bebauungsplan „24/4 Rainstraße Ost“ mit örtlichen Bauvorschriften. Dessen Geltungsbereich wird im Westen von der Rainstraße begrenzt. Er erstreckt sich von dort in seinem nördlichen Teil ca. 50 bis 60 m und weiter südlich bis zu ungefähr 100 m nach Osten. Im Norden bilden die Wohnbebauung an der Bachstraße und im Süden die Wohnhäuser an der ... die Grenze seines Geltungsbereichs.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Der Bebauungsplan setzt als Art der baulichen Nutzung ein allgemeines Wohngebiet fest und weist insgesamt 10 Baufenster aus. Drei Baufenster im nördlichen Teil umfassen die dort bereits vorhandene Bebauung und ermöglichen zukünftig eine intensivere bauliche Nutzung. Im Südwesten wurde auf dem Grundstück Flst.Nr. ... ebenfalls ein Baufenster ausgewiesen, weil dessen Eigentümer den Abbruch des dortigen kleinen Hauses und einen größeren Neubau plant. Die sechs anderen, an der Rainstraße und im Inneren des Bebauungsplangebiets gelegenen Baufenster sind wohl zur Bebauung durch den Vorhabenträger vorgesehen. Zur Bestimmung der Höhe der baulichen Anlagen setzt der Bebauungsplan für jedes Baufenster eine Bezugshöhe als unteren Bezugspunkt fest. Je nachdem, ob für das Baufenster in den örtlichen Bauvorschriften als Dachform ein Flachdach oder ein Satteldach festgesetzt wird, werden die maximale Gebäudehöhe bzw. die maximale Trauf- und Firsthöhe festgelegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Der Antragsteller zu 1 ist Eigentümer des Grundstücks Flst.Nr. ..., ...-... .... Es erstreckt sich von der ... im Süden bis zum Wegegrundstück Flst.Nr. ... im Norden. Im südlichen Teil ist es mit einem Wohnhaus bebaut. Die im Westen bis zur N... Straße folgenden Wohnhäuser bilden eine Häuserreihe unmittelbar südlich des Bebauungsplangebiets. Der nördliche Teil des Grundstücks ist unbebaut und wird als Grünfläche genutzt, die im Westen an den bislang ebenfalls unbebauten inneren Bereich des Bebauungsplangebiets grenzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>Das Grundstück Flst.Nr. ..., N... Straße ..., steht im Eigentum des Antragstellers zu 2. Es ist mit einem Wohnhaus bebaut und grenzt auf seiner Nordseite unmittelbar an das im Bebauungsplangebiet gelegene Grundstück Flst.Nr. ... an.</td></tr></table>
<table style="margin-left:14pt"><tr><td>II.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Der Senat entscheidet über die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in der Besetzung von drei Richtern (§ 9 Abs. 3 Satz 1 erster Hs. VwGO); § 4 AGVwGO ist auf Entscheidungen nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht anwendbar (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.12.2008 - GRS 1/08 - ESVGH 59, 154, juris Rn. 12).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="7"/>1. Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO sind zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>a) Die Antragsteller zu 1 und zu 2 sind antragsbefugt. Sie können im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO geltend machen, durch den Bebauungsplan in ihren Rechten verletzt zu werden (vgl. dazu, dass auch die Zulässigkeit eines Antrags gemäß § 47 Abs. 6 VwGO grundsätzlich die Antragsbefugnis gemäß § 47 Abs. 2 VwGO voraussetzt, Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Großkommentar, 5. Aufl., 2018, RdNr. 387 zu § 47). Die Antragsteller sind Eigentümer außerhalb des Bebauungsplangebiets gelegener Grundstücke. Zur Begründung der Antragsbefugnis können sie sich darauf berufen, ihre eigenen Belange seien in der Abwägung nicht richtig berücksichtigt worden. Dazu genügt es, wenn sie einen eigenen Belang als verletzt bezeichnen, der für die Abwägung beachtlich ist; ob dieser zutreffend abgewogen worden ist, bleibt dann - von Evidenzfällen abgesehen - der Prüfung der Begründetheit vorbehalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.06.2011 - 4 CN 1.10 - BVerwGE 140, 41; Beschluss vom 01.07.2020 - 4 BN 49.19 - juris Rn. 7; Beschluss vom 10.02.2016 - 4 BN 37.15 - ZfBR 2016, 376; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.10.2020 - 3 S 1117/20 - juris Rn. 21).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>aa) Die Antragsteller tragen u. a. vor, die Antragsgegnerin sei ausweislich der Begründung zum Bebauungsplan (dort Nr. 6.2) davon ausgegangen, dass die Tiefgarage mit 88 Stellplätzen über drei örtlich getrennt voneinander angeordnete Zufahrten erschlossen werde und so eine gleichmäßige Verteilung des zusätzlich verursachten Verkehrs erreicht werden könne. Tatsächlich sei nach dem Bebauungsplan jedoch nicht planungsrechtlich gesichert, dass die Zufahrten entsprechend eingerichtet würden. Möglich sei auch, die Zufahrt an einer Stelle zu konzentrieren mit einer höheren Verkehrs-(Lärm-)belastung an dieser Stelle in der Folge.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="10"/>bb) Die Antragsteller rügen weiter, dass der Bebauungsplan in unmittelbarer Nähe ihrer Grundstücke in einem Bereich, der bislang als Außenbereich gemäß § 35 BauGB nur in sehr eingeschränktem Umfang einer Bebauung zugänglich gewesen sei, jetzt eine nach dem Maß der baulichen Nutzung besonders intensive Wohnbebauung ermögliche. In der Sache berufen sie sich damit auf ihren eigenen Belang an der (möglichst weitgehenden) Aufrechterhaltung des bisherigen planungsrechtlichen Zustands.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>cc) Aus beiden geltend gemachten Gesichtspunkten ergibt sich die Antragsbefugnis der Antragsteller.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="12"/>(1) Das Interesse des Planbetroffenen, von einer planbedingten Zunahme des Verkehrslärms verschont zu werden, ist ein abwägungserheblicher Belang, wenn es über die Bagatellgrenze hinaus betroffen wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.07.2017 - 4 BN 10.17 - juris Rn. 9 m.w.N.). Ist ein mit vermehrten Lärmimmissionen verbundenes erhöhtes Verkehrsaufkommen in der Umgebung des Plangebiets nicht das Ergebnis einer allgemeinen Veränderung der Verkehrslage, sondern - entfernungsunabhängig - eine planbedingte Folge, so ist das Lärmschutzinteresse der Betroffenen, sofern es in abwägungserheblicher Weise zu Buche schlägt, als Teil des Abwägungsmaterials bei der Planungsentscheidung zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.06.2004 - 4 BN 19.04 - juris Rn. 6). Nach dieser Rechtslage können die Antragsteller die Antragsbefugnis daraus ableiten, dass nach dem Bebauungsplan die Zufahrt zur Tiefgarage konzentriert an einer für sie ungünstigen Stelle angebracht werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>(2) Zwar gibt es, wie aus § 1 Abs. 3 Satz 2 BauGB folgt, grundsätzlich keinen Anspruch auf Fortbestand einer bisherigen Planung oder auf Unterlassung einer Planung (vgl. Schrödter/Wahlhäuser, in: Schrödter, BauGB, 9. Aufl., 2019, Rn. 56 zu § 1). Führt eine Planung aber dazu, dass Nachbargrundstücke in anderer Weise als bisher genutzt werden dürfen, so gehören die Interessen der Nachbarn an der Beibehaltung des bisherigen Zustandes grundsätzlich zum notwendigen Abwägungsmaterial. Ob der Nachbar mit einer solchen Entwicklung rechnen musste, ist für die Antragsbefugnis in diesen Fällen grundsätzlich ebenso unerheblich wie die Frage, ob der Nachbar ein subjektives öffentliches Recht oder einen Anspruch auf die Beibehaltung des bisherigen Zustandes hat. Es reicht vielmehr grundsätzlich aus, wenn die bisherige Situation den Nachbarn tatsächlich begünstigt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.02.1995 - 4 NB 17.94 - BauR 1995, 499). Das ist hier der Fall. Denn das Bebauungsplangebiet war bislang - auch wenn man der Auffassung der Antragsgegnerin folgen wollte, es sei als unbeplanter Innenbereich i.S. des § 34 BauGB einzustufen - nur in deutlich geringerem Maße baulich nutzbar. Das ergibt sich aus der Begründung des Bebauungsplans. Danach geht die Antragsgegnerin zwar davon aus, dass das Bebauungsplangebiet bereits bisher als Innenbereich nach § 34 BauGB habe bebaut werden können. Den Bebauungsplan hat sie aber aufgestellt, um die ins Auge gefasste intensivere Bebauung zu ermöglichen. Ob die Antragsgegnerin diesen Belang mit dem nötigen Gewicht in der Abwägung berücksichtigt hat, ist eine Frage der Begründetheit. Vorliegend lässt sich jedenfalls nicht sagen, dass dem Interesse an der Aufrechterhaltung des bisherigen Zustands nur so geringes Gewicht zukommt, dass der entsprechende Belang als geringfügig nicht in die Abwägung eingestellt werden muss (eine solche Konstellation ist nach der o.g. Entscheidung des BVerwG etwa gegeben, wenn durch den Plan Gewerbebauten in 300 m Entfernung errichtet werden sollen).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>b) Die Antragsteller haben bislang in der Hauptsache noch kein Normenkontrollverfahren anhängig gemacht. Das steht der Zulässigkeit der Anträge indessen nicht entgegen. Nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann die einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO auch bereits vor der Stellung des Normenkontrollantrags beantragt werden (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.02.1990 - 10a ND 14/89 - BauR 1991, 47). Die Frist dafür ist noch offen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>2. Die Anträge sind auch begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab sind danach jedenfalls bei Bebauungsplänen zunächst die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags. Ist dieser voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne des § 47 Abs. 6 VwGO geboten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.02.2015 - 4 VR 5.14 - BauR 2015, 968). Erweist sich dagegen, dass der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der angegriffenen Vorschrift bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. Der sogenannte Anordnungsanspruch ist dann jedenfalls gegeben. Eine einstweilige Anordnung kann ergehen, wenn und soweit der (weitere) Vollzug des Bebauungsplans vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar und damit auch ein Anordnungsgrund gegeben ist (vgl. dazu ausführlich Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Komm., Rn. 164 ff. zu § 47, Stand: Februar 2022).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>a) Der erforderliche Anordnungsanspruch ist gegeben. Ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache wird voraussichtlich Erfolg haben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>aa) Ein solcher Normenkontrollantrag ist - gegenwärtig - wohl zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>Der Satzungsbeschluss wurde am 16.12.2021 öffentlich bekanntgemacht. Die mit der öffentlichen Bekanntmachung zu laufen beginnende Jahresfrist aus § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist damit noch offen. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, sind die Antragsteller auch antragsbefugt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>bb) Er ist voraussichtlich auch begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>Der Bebauungsplan dürfte unwirksam sein. Dabei bedarf keiner Entscheidung, ob alle von den Antragstellern gerügten Fehler tatsächlich vorliegen. Jedenfalls weist der Bebauungsplan einen beachtlichen Fehler im Abwägungsvorgang auf, der zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans führen dürfte (§ 2 Abs. 3 BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="22"/>(1) Wie oben bereits ausgeführt, hat die Antragsgegnerin ausweislich der Begründung zum Bebauungsplan (dort Nr. 6.2) ihrer Abwägungsentscheidung die Annahme zu Grunde gelegt, die Tiefgarage mit 88 Stellplätzen werde über drei örtlich getrennt voneinander angeordnete Zufahrten erschlossen, um so eine gleichmäßige Verteilung des zusätzlich verursachten Verkehrs und - so dürfte zu ergänzen sein - eine deutliche Zunahme der Verkehrs- und Lärmbelastung für die jeweils Betroffenen zu vermeiden. Die Antragsgegnerin hat ihrer Abwägungsentscheidung dabei ersichtlich das vom Vorhabenträger ins Auge gefasste Projekt zu Grunde gelegt, das - auch die Antragsteller ziehen das nicht in Zweifel - wohl die Einrichtung der Stellplätze in einer Tiefgarage und deren Erschließung über drei getrennt voneinander angebrachte Zufahrten vorsieht. Indessen ist planungsrechtlich nicht gesichert, dass die Zufahrt über drei getrennt voneinander und jeweils an den im zeichnerischen Teil des Bebauungsplans durch eine schwarze Pfeilspitze dafür vorgesehenen Stellen erfolgt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="23"/>(2) Zweifelhaft erscheint bereits, ob es sich bei der Ausweisung der Tiefgaragenzufahrten durch die schwarze Pfeilspitze um eine verbindliche Festsetzung handelt. Sie wird im zeichnerischen Teil des Bebauungsplans unter Punkt „10. Sonstige Planzeichen und Darstellungen“ und dort unter Nr. 10.6 als „geplante Tiefgaragenzufahrt“ erklärt. Bereits das Wort „geplant“ deutet daraufhin, dass es sich eben nicht um eine verbindliche Festsetzung handelt. Unter Punkt 10 sind auch im Übrigen mehrere Zeichen und Darstellungen aufgenommen, die keine verbindliche planerische Regelung beinhalten. Für eine verbindliche planerische Regelung dürfte es auch an einer Rechtsgrundlage fehlen. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 11 BauGB kann im Bebauungsplan zwar der Anschluss anderer Flächen an die Verkehrsflächen im Bebauungsplan festgesetzt werden. Allenfalls die Pfeilspitzen an der Rainstraße und der N... Straße könnten indessen als entsprechende Regelung verstanden werden, weil sie unmittelbar von der Straße die Einfahrt zur Tiefgarage weisen. Anders ist dies mit der Pfeilspitze im nordöstlichen Bereich des Bebauungsplangebiets. Diese ist deutlich entfernt von der nächstgelegenen Verkehrsfläche im Bebauungsplan eingezeichnet und weist daher allenfalls eine Tiefgaragenzufahrt aus, aber nicht deren Anschluss an eine Verkehrsfläche. Auch die Antragsgegnerin nimmt konsequent dazu in der Antragserwiderung an, die Festsetzung der Tiefgaragenzufahrt sei nicht verbindlich. Die Zufahrten zur Tiefgarage können mithin auch an jeder beliebigen anderen Stelle eingerichtet werden. Eine Verteilung auf drei Zufahrten ist ebenfalls nicht vorgeschrieben, sondern auch eine Konzentration auf eine Zufahrt ist möglich. Es liegt auf der Hand, dass die Verkehrs- und deshalb auch die Lärmbelastung für die Anwohner dann entsprechend höher ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>(3) Die Antragsgegnerin ist deshalb bei der Abwägung in einem wesentlichen Punkt, der ihr hätte bekannt sein müssen, von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen und hat das Abwägungsmaterial nicht i.S. des § 2 Abs. 3 BauGB zutreffend ermittelt (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 18.01.2017 - 15 N 14.2033 - juris). Dieser Fehler ist nach § 214 Abs. 1 Nr. 1 BauGB relevant. Denn auch die sonstigen dort genannten Voraussetzungen liegen vor. Der Fehler ist offensichtlich, denn er ergibt sich aus den Akten; der Erforschung des inneren Willens der Gemeinderäte bedarf es nicht. Er ist auch auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen. Es besteht die konkrete Möglichkeit, dass ohne den Mangel die Planung anders ausgefallen wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2010 - 4 C 7.09 - BVerwGE 137, 74).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="25"/>Wie ausgeführt, ist das Interesse der Planbetroffenen von einer planbedingten Zunahme des Verkehrslärms verschont zu bleiben, ein abwägungsrelevanter Belang, sofern sie über die Bagatellgrenze hinaus betroffen werden. Jedenfalls wenn der Zugang zur Tiefgarage auf eine Zufahrt konzentriert wird, dürfte eine solche Betroffenheit wahrscheinlich sein, sich ohne gutachterliche Grobabschätzung jedenfalls nicht ausschließen lassen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 28.05.2020 - 2 K 49/18 - juris Rn. 71; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18.04.2018 - 1 C 11559/16 - juris Rn. 33). Vor diesem Hintergrund ist es nicht fernliegend, dass die Antragsgegnerin anders geplant hätte, wenn sie den Sachverhalt richtig ermittelt hätte. Die Antragsteller berufen sich insoweit auch auf einen eigenen Belang, denn bei der gegebenen planungsrechtlichen Situation ist es im Bereich des Möglichen, dass die Zufahrt(en) zur Tiefgarage so eingerichtet wird/werden, dass sie für sie mit abwägungsrelevanten Beeinträchtigungen verbunden sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="26"/>(4) Die Antragsgegnerin hält dem entgegen, angesichts der Hanglage könnten die Stellplätze für alle in den einzelnen Baufenstern vorgesehenen Bauwerke allein in der Tiefgarage eingerichtet werden. Eine andere Form der Erschließung sei unrealistisch und daher nicht abwägungsrelevant. Dieser Sachvortrag mag zutreffen. Zu einer Entscheidung zu Gunsten der Antragsgegnerin führt er nicht. Denn wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, geht es nicht um die Frage, ob die Stellplätze in einer Tiefgarage oder oberirdisch eingerichtet werden sollen. Maßgeblich ist, wie die Zufahrt zur Tiefgarage geregelt werden soll und welche Belastungen damit u.a. für die Antragsteller verbunden sein können. Auch mag es sein, dass die Tiefgarage wegen der Hanglage zwangsläufig mehrere Ebenen aufweisen muss. Daraus folgt jedoch gleichfalls nicht, dass jede Ebene mit einer gesonderten Zufahrt (und noch dazu an der im Bebauungsplan dafür eingezeichneten Stelle) ausgestattet sein muss.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="27"/>b) Der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund ist gleichfalls gegeben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="28"/>aa) Die Antragsteller argumentieren, ein Anordnungsgrund ergebe sich im vorliegenden Fall schon daraus, dass der Bebauungsplan die Verwirklichung eines konkreten Projekts ermöglichen solle und daher zeitnah mit der Erteilung der dafür erforderlichen Baugenehmigungen zu rechnen sei. Sie hätten einen Anspruch, dass die Abwägung im Rahmen eines solchen Bebauungsplans korrekt erfolge. Dieser Anspruch laufe weitgehend leer, wenn der Anordnungsgrund verneint werde. Denn der Rechtsschutz im Normenkontrollverfahren komme regelmäßig zu spät. Das ins Auge gefasste Projekt sei dann in der Regel bereits verwirklicht, und der subjektive Rechtsschutz gegen die Baugenehmigung(en) bleibe hinsichtlich des Prüfungsumfangs deutlich hinter dem im objektiven Normenkontrollverfahren zurück.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="29"/>bb) Dieser sehr weitgehenden Auffassung dürfte nicht zu folgen sein. Die Antragsteller berufen sich dafür auf eine Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 23.03.2021 - 1 B 406/20 - juris). Dieser ist eine entsprechende Aussage indessen nicht zu entnehmen. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht prüft zunächst, ob eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist. Es verneint diese Frage, weil die abwägungserheblichen Belange der Antragsteller fehlerfrei ermittelt, bewertet und berücksichtigt worden sind. Dieser Ansatz deckt sich mit der Rechtsprechung des Senats. Nicht die fehlerhafte Berücksichtigung jedes (beliebigen) abwägungserheblichen Belangs führt zu einem Anordnungsgrund. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile setzt als notwendige Bedingung voraus, dass es sich um einen eigenen Belang der Antragsteller handelt (vgl. Senatsbeschluss vom 11.04.2022 - 3 S 470/22 - juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="30"/>In der Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts heißt es weiter:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="31"/>Die einstweilige Anordnung ist auch nicht aus anderen wichtigen Gründen i. S. d. § 47 Abs. 6 VwGO zu erlassen. Bei den anderen wichtigen Gründen nach § 47 Abs. 6 VwGO handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der es dem Normenkontrollgericht ermöglicht, eine beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen, wann immer es dies, insbesondere im öffentlichen oder im Interesse der Allgemeinheit für dringend geboten erachtet. Dieser Anordnungsgrund dient, anders als der der Abwehr „schwerer Nachteile“, nicht in erster Linie dem Individualrechtsschutz, sondern vor allem dem öffentlichen Interesse an der Wirksamkeit der Normenkontrolle, die nicht durch die zwischenzeitliche Schaffung vollendeter Tatsachen ihrer rechtsstaatlichen Funktion beraubt werden soll (Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 604; a. A.: OVG NRW, Beschl. v 14. Juli 2014 - 2 B 581/14.NE -, juris Rn. 29).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="32"/>Auch diese Ausführungen sind nicht so zu verstehen, dass sich aus jedem beliebigen Fehler der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund „aus anderen wichtigen Gründen“ ergeben kann. Dies gilt insbesondere für Fehler im Rahmen der Abwägung, denn sonst liefe die Beschränkung auf eigene Belange der Antragsteller bei dem Prüfungspunkt „zur Abwehr schwerer Nachteile“ in der Sache leer.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="33"/>cc) Wo hier die Grenzen zu ziehen sind, bedarf im konkreten Fall keiner abschließenden Entscheidung. Der Anordnungsgrund ergibt sich vorliegend daraus, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile für die Antragsteller dringend geboten ist. Denn wie sich aus den obigen Ausführungen zum Anordnungsanspruch ergibt, hat die Antragsgegnerin bei der Abwägung eigene Belange der Antragsteller nicht ausreichend ermittelt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="34"/>dd) Der Senat hat allerdings bereits entschieden, dass auch Fehler im Abwägungsvorgang den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht rechtfertigen, wenn diese in einem ergänzenden Verfahren gemäß § 214 Abs. 4 BauGB geheilt werden können (Beschluss vom 13.05.2020 - 3 S 3137/19 - VBlBW 2021, 29). Diese Rechtsprechung ist auf Kritik gestoßen. Bei der vom Senat zu Grunde gelegten Fallgestaltung sei eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Anderenfalls könne die Baugenehmigung mit irreversiblen Folgen erteilt werden, während das Gelingen des Heilungsakts ungewiss sei. Sei der Fehler in einem ergänzenden Verfahren geheilt worden, könne dem mit einer Änderung der Eilentscheidung gemäß § 80 Abs. 7 VwGO Rechnung getragen werden (Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Komm., Rn. 168 a zu § 47, Stand: Februar 2022). Es mag offenbleiben, ob der o.g. Beschluss des Senats so verstanden werden konnte, dass die - bei Fehlern im Abwägungsvorgang - im Grunde immer mögliche Fehlerheilung gemäß § 214 Abs. 4 BauGB den Erlass einer einstweiligen Anordnung ausschließt. In diesem Falle wäre sie dahin zu konkretisieren, dass dies nur der Fall ist, wenn die Fehlerheilung im ergänzenden Verfahren offensichtlich möglich ist, ohne den Inhalt des Bebauungsplans zu ändern (in vergleichbarem Sinne auch OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.02.2014 - 1 MN 245/13 - NVwZ-RR 2014, 463). Trägt die Antragsgegnerin im konkreten Fall dem o.g. Fehler bei der Ermittlung des Abwägungsmaterials in einem ergänzenden Verfahren Rechnung, so ist jedoch mit einer Änderung des Inhalts des Bebauungsplans - auch zum Nachteil der Antragsteller - konkret zu rechnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="35"/>c) Die Antragsteller haben mehrere weitere Fehler geltend gemacht. Inwieweit der entsprechende Vortrag auf Rechtsfehler des Bebauungsplans führt, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigen können, bedarf nach dem Vorstehenden keiner Entscheidung mehr. Der Senat weist jedoch - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - darauf hin, dass der Bebauungsplan auch noch aus anderen Gründen unwirksam sein könnte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="36"/>So erscheint es angesichts der doch recht großen unbebauten Fläche und deren Öffnung nach Osten zur freien Landschaft hin gut möglich, dass das Bebauungsplangebiet als Außenbereich im Innenbereich und nicht als unbeplanter Innenbereich einzustufen ist. Zur Klärung der Frage, ob ein Außenbereich im Innenbereich im beschleunigten Verfahren gemäß § 13 a BauGB überplant werden kann, hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 14.06.2021 im Verfahren 4 BN 63.20 die Revision gegen das von der Antragsgegnerin zum Beleg ihrer Auffassung herangezogene Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17.08.2020 - 2 D 27/19.NE - zugelassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="37"/>Zweifelhaft erscheint auch, ob durch die als Konditionalsatz formulierte Regelung in Nr. 1.3. der örtlichen Bauvorschriften gewährleistet ist, dass das oberste Geschoss nicht als Vollgeschoss ausgebildet werden darf und gegenüber den Antragstellern als Staffelgeschoss mit zurückversetzter Außenwand in Erscheinung tritt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="38"/>Die Antragsteller machen auch geltend, dass auf dem Grundstück Flst.Nr. ... tatsächlich eine Bebauung mit vier Vollgeschossen möglich sei und nicht nur mit zwei, wie die Antragsgegnerin dies in der Abwägung angenommen hat. Auch diese Argumentation ist angesichts der Dachhöhe von 4,5 m, der uneingeschränkten Zulässigkeit von Dachgauben und der Möglichkeit, durch Abgrabungen in dem nach Norden abfallenden Gelände auch das Geschoss unterhalb der Bezugshöhe als Vollgeschoss auszugestalten, durchaus plausibel. In diesem Fall würde der Bebauungsplan in dem allgemeinen Wohngebiet eine Geschossflächenzahl von 1,6 ermöglichen, was nicht zulässig ist (§ 25 e BauNVO, § 17 BauNVO a.F., § 20 Abs. 1 und 2 BauNVO, § 2 Abs. 6 LBO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="39"/>Abschließend geklärt werden müssen diese Frage aber nicht, ebenso kann offen bleiben, ob es für die Regelungen in Nr. 2.1 Satz 2 und Nr. 4.2 der textlichen Festsetzungen zum Bebauungsplan eine Rechtsgrundlage gibt und diese damit zulässig sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="40"/>3. Der Senat sieht davon ab, den Antragstellern eine Frist zur Einleitung des Normenkontrollverfahrens in der Hauptsache zu stellen. Sollten die Antragsteller die Jahresfrist dafür aus § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht einhalten, kann die Antragsgegnerin ohnehin die Aufhebung der vorliegenden einstweiligen Anordnung erreichen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="41"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Den Streitwert hat der Senat gemäß §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 39 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG in Höhe von 20.000 EUR festgesetzt. Er ist dabei von der Hälfte des in der Hauptsache in Ansatz zu bringenden Streitwerts ausgegangen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="42"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,404 | vg-freiburg-2022-07-26-a-1-k-180522 | {
"id": 157,
"name": "Verwaltungsgericht Freiburg",
"slug": "vg-freiburg",
"city": 109,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | A 1 K 1805/22 | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-09-02T10:01:32 | 2022-10-17T11:09:42 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die unter Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2022 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.</p><p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Entscheidung ergeht durch die Kammer, nachdem ihr der Einzelrichter den Rechtsstreit mit Beschluss vom 25.07.2022 gemäß § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG wegen grundsätzlicher Bedeutung übertragen hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der am 06.07.2022 gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am selben Tag erhobenen Klage (A 1 K 1804/22) ist, soweit die Klage gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2022 enthaltene Abschiebungsanordnung gerichtet ist, gemäß §§ 75, 34a Abs. 2 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Antrag ist auch begründet. Die vom Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der kraft Gesetzes (vgl. § 75 Abs. 1 AsylG) bestehenden sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Abschiebungsanordnung überwiegt im vorliegenden Fall nicht das gegenläufige Interesse des Antragstellers, bis zu einer Entscheidung über seine Klage von einer Rückführung nach Kroatien verschont zu bleiben; im Gegenteil. Dies folgt daraus, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG aller Voraussicht nach nicht vorliegen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die Zuständigkeit eines anderen Staats nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG kann sich aus der Verordnung (EU) Nr.604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin-III-VO), ergeben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Das öffentliche Interesse an der Wahrung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, wie sie die Dublin-III-VO regelt, ist von hohem Gewicht. Die Regelungen der Verordnung sind Ausdruck einer gemeinsamen Asylpolitik der Mitgliedstaaten, die ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union ist, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offensteht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen (vgl. Nr. 2 der der Verordnung vorangestellten Erwägungen). Zu diesen Regeln gehören klare, auch Grundrechte und humanitäre Erwägungen berücksichtigende Kriterien dazu, welcher Mitgliedstaat für die Entscheidung über einen Asylantrag zuständig ist (Art. 7 ff. Dublin-III-VO). Die Begründung einer ausschließlichen Zuständigkeit eines Mitgliedsstaats (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO) lässt es nicht zu, dass Asylantragsteller sich den Staat selbst aussuchen, in dem sie ihr Asylverfahren betreiben. Die Regelungen der Dublin-III-VO schließen aus naheliegenden Gründen auch aus, dass sich ein Asylantragsteller nach Ablehnung seines Asylantrags in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort ein weiteres Asylverfahren zu betreiben (Art. 18 Dublin-III-VO). Es liegt auf der Hand, dass die Nichtbeachtung der unionsrechtlich begründeten Zuständigkeitskriterien die Prüfung von Asylanträgen in den jeweils hiervon betroffenen Mitgliedstaaten zusätzlich erschwert.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Abwägung dieses öffentlichen Interesses mit dem Interesse eines Antragstellers, der Abschiebungsanordnung vorerst nicht nachkommen zu müssen, orientiert sich in erster Linie an deren voraussichtlicher Rechtmäßigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.01.2017 - 2 BvR 2013/16 -, juris, Rn. 17).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Die Abschiebungsanordnung erweist sich hier bei summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung voraussichtlich als rechtswidrig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Dabei kann offenbleiben, ob Kroatien, das der Übernahme des Antragstellers zugestimmt hat, tatsächlich für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers (eigentlich) zuständig wäre, oder ob dieser – wie er vorträgt – das Unionsgebiet nach einer Rücküberstellung für einen längeren Zeitraum verlassen und sich aus seinem Herkunftsland aus erneut auf den Weg gemacht hat. Denn aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO folgt, dass ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden darf, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta mit sich bringen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Systemische Schwachstellen sind solche, die entweder bereits im Asyl- und Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird. Dabei ist der Begriff der systemischen Schwachstelle nicht in einer engen Weise derart zu verstehen, dass er geeignet sein muss, sich auf eine unüberschaubare Vielzahl von Antragstellern auszuwirken. Vielmehr kann ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein lediglich eine geringe Zahl von Asylbewerbern betreffen kann, sofern er sich nur vorhersehbar und regelhaft realisieren wird und nicht gewissermaßen dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen von in das Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -, juris, Rn. 33 ff.; OVG NRW, Urteil vom 07.03.2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 87 ff. m.w.N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hat Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) sowie mit der Genfer Flüchtlingskommission (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, mithin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung dieser Vermutung setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht; (erst) dann scheidet eine Überstellung aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Der Non-Refoulement-Grundsatz ist nicht nur in Art. 33 Abs. 1 GFK, Art. 19 GR-Charta (vgl. EGMR, Urteil vom 23.02.2012, H. J. u.a. gg. Italien - 27765.09 -, NVwZ 2012, 809, Rn. 135) und Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU – Qualifikationsrichtlinie) verankert. Er folgt auch aus dem Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Art. 4 GR-Charta. Diese Bestimmung, der gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GR-Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK zukommt, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Ausweisung, Auslieferung oder jeder anderen Maßnahme der Entfernung eines Ausländers durch einen Staat, in dem die EMRK gilt, zu beachten. Sie verbietet die Abschiebung einer Person, soweit sie tatsächlich Gefahr läuft, in dem Aufnahmeland einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, Urteil vom 23.02.2012, H. J. u.a. gg. Italien - 27765.09 -, NVwZ 2012, 809, Rn. 114 f.). Die Abschiebung in einen Drittstaat ist nur zulässig, wenn sich der abschiebende Staat vergewissert hat, dass der Drittstaat weder direkt noch indirekt eine willkürliche Abschiebung in das Herkunftsland vornimmt, obwohl der Abzuschiebende vertretbar behaupten kann, dass die Abschiebung in das Herkunftsland Art. 3 EMRK verletzen würde (EGMR, Urteil vom 23.02.2012, H. J. u.a. gg. Italien - 27765.09 -, NVwZ 2012, 809, Rn. 146 f.; Urteil vom 21.01.2011, M. S. S. gg. Belgien und Griechenland - 30696.09 -, juris, Rn. 298). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union stützt sich das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der GFK und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er der Verfolgung ausgesetzt ist (EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 u. a. -, juris, Rn. 75). Als „sicherer Drittstaat“ darf daher gemäß Art. 39 Abs. 2 lit. a) und c) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (RL 2013/32/EU - Verfahrensrichtlinie) nur der Drittstaat bezeichnet werden, der die GFK und die EMRK nicht nur ratifiziert hat, sondern ihre Bestimmungen auch tatsächlich einhält (EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 u. a. -, juris, Rn. 102 zur gleichlautenden Vorgängerregelung). Zudem muss es im Drittstaat ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren geben, Art. 39 Abs. 2 lit. b) RL 2013/32/EU (vgl. zum Vorstehenden: VG Berlin, Urteil vom 25.04.2016 - 23 K 26.16 A. -, juris, Rn. 18; zur Beachtlichkeit einer Verletzung des Non-Refoulement-Grundsatzes im Rahmen des Dublin-Regimes auch VG Aachen, Beschluss vom 22.02.2022 - 5 L 46/22.A -, juris, Rn. 53).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Nach diesen Grundsätzen und der derzeit vorhandenen Erkenntnislage ist es geboten, wegen eines drohenden Verstoßes gegen den Non-Refoulement-Grundsatz von einer Überstellung nach Kroatien abzusehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Nach Lage der Akten ist ernsthaft zu befürchten, dass der Antragsteller von Kroatien aus ohne Durchführung eines Asylverfahrens nach Bosnien-Herzegowina und von dort aus weiter nach Serbien abgeschoben wird. Dies ist umso bedenklicher, als Zweifel daran bestehen, dass Serbien die aus der GFK folgenden Verpflichtungen einhält (vgl. hierzu nur VG Berlin, Urteil vom 25.04.2016 - 23 K 26/16 -, juris, Rn. 19 m.w.N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Kammer schließt sich nunmehr der Beurteilung des Verwaltungsgerichts Braunschweig an, das in seinem Urteil vom 24.05.2022 – 2 A 26/22 – (juris, Rn. 34) unter Auswertung aktueller Erkenntnismittel festgestellt hat, dass es in Kroatien nicht nur an der EU-Außengrenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen „Push-backs“, dem Abdrängen von Asylbewerbern nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, kommt. Vielmehr sind auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien hinreichend belegt. Folglich ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens von Deutschland an Kroatien rücküberstellte Asylsuchende nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde (vgl. zuvor bereits VG Saarland, Beschluss vom 29.10.2020 - 5 L 762/20 -, juris, Rn. 53, das unter Abrücken von seiner vormaligen Rechtsprechung die Überstellung nach Kroatien nur bei Vorliegen einer Zusicherung für zulässig erachtet, in der die Achtung des Non-Refoulement-Grundsatzes versichert wird).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Zu dieser Schlussfolgerung ist das Verwaltungsgericht Braunschweig aufgrund folgender Feststellungen gelangt (a.a.O., Rn. 36 ff.):</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="16"/>„Eine Delegation des Europäischen Komitees des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe erfuhr bei seinen Ermittlungen in Kroatien im Sommer 2020 von zahlreichen Fällen körperlicher Misshandlungen ausländischer Staatsangehöriger durch kroatische Polizeibeamte. Der Bericht konnte erst mit einem Jahr Verspätung veröffentlicht werden, weil die kroatische Regierung und das Innenministerium lange versucht hatten, seine Veröffentlichung zu verhindern (04.12.2021, Inicijativa Dobrodošli!/ Welcome! Initiative, https://welcome.cms.hr/index.php/2021/12/04/objavljeno-izvjesce-odbora-vijeca-europe-za-sprjecavanje-mucenja-o-situaciji-u-hrvatskoj-koje-je-godinu-dana-stopirala-hrvatska-vlada-i-mup/#). Die Delegation berichtet darin von gewaltsamen Übergriffen, die die Beamten in Form von Ohrfeigen, Tritten, Schlägen mit Knüppeln und anderen harten Gegenständen (z.B. Läufen von automatischen Waffen, Holzstöcken oder Ästen) auf verschiedene Körperteile der Geflüchteten ausübten. Die von den befragten Migranten beschriebenen Misshandlungen erfolgten dabei sowohl zum Zeitpunkt des „Abfangens“ und der faktischen Festnahme auf kroatischem Hoheitsgebiet, d. h. mehrere, bis zu 50 km oder mehr von der Grenze entfernt, wie auch zum Zeitpunkt der „Umleitung“, d. h. des Zurückdrängens über die Grenze zu Bosnien-Herzegowina. In einer beträchtlichen Anzahl von Fällen wiesen die befragten Personen körperliche Verletzungen auf, die mit ihren Behauptungen, von kroatischen Polizeibeamten misshandelt worden zu sein, übereinstimmten. Schutzbedürftigen Personen wie Familien mit Kindern und Frauen habe die Polizei keine medizinische Nothilfe geleistet, sondern sie gewaltsam zur Grenze zurück transportiert. Zudem berichteten Migranten, sie seien auch anderen Formen schwerer und demütigender Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Polizeibeamte hätten aus nächster Nähe Kugeln in ihre Richtung gefeuert, während sie am Boden lagen, oder hätten sie mit gefesselten Händen in den Fluss Korana geworfen. Schließlich seien sie ohne Schuhe und nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, in einigen Fällen sogar völlig nackt, nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben worden. Der Bericht erwähnte zudem, von Slowenien rückübernommene Migranten seien ebenfalls von diesen Maßnahmen betroffen (Europarat, CPT Report to the Croatian Government on the visit to Croatia from 10 to 14 August 2020, 03.12.2021, S. 9-10, 14-15).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="17"/>Das Border Violence Monitoring Network berichtete im September 2020 ebenfalls von „Überstellungsketten“ von Italien über Slowenien und Kroatien bis nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina (Border Violence Monitoring Network, Illegal push-backs and border violence reports Balkan region, September 2020, S. 15). Österreichische Medien informierten über die Beteiligung österreichischer Behörden an Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina (Der Standard, https://www.derstandard.at/story/2000121752241/berichte-ueber-illegale-pushbacks-von-migranten-an-oesterreichischer-grenze, 16.11.2020). Auch die Asylum Information Database veröffentlichte Berichte der Initiative Are You Syrious (AYS), denen zufolge es sich bei fast 30 % der gewaltsamen „Push-backs“ im Jahr 2020 um Kettenabschiebungen von Italien oder Österreich über Slowenien und dann von Kroatien aus nach Bosnien-Herzegowina gehandelt habe. Dabei hätten 58 % der Betroffenen angegeben, dass sie erfolglos versucht hätten, in Kroatien Asyl zu beantragen, woraufhin man ihnen gesagt habe, dass es in Kroatien kein Asyl gebe (aida, Country Report: Croatia, 2020 update, S. 23). Dementsprechend äußerte sich auch der Menschenrechtskommissar des Europarates bereits in seiner Stellungnahme vom 22.12.2020 gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besorgt darüber, dass auch für diejenigen Migranten, die aus anderen EU-Staaten nach Kroatien zurückgeführt würden, erhebliche Hindernisse für den Zugang zu einem fairen Asylverfahren bestünden (Council of Europe Commissioner for Human Rights, Third party intervention, EGMR No. 18810/19 u. a., 22.12.2020, Rn. 16).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="18"/>Zwangsrückführungen ohne ordnungsgemäße Prüfung des Asylantrages stellen dabei keine Einzelfälle oder Exzesse bestimmter Polizeibeamter dar, sondern entsprechen politischen Entscheidungen und spezifischen Anweisungen der übergeordneten Behörden an die Einheiten der kroatischen Grenzpolizei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="19"/>Schon im März 2019 beschrieben Polizisten des Grenzschutzes in einem anonymen Beschwerdebrief an die kroatische Ombudsfrau die Anordnungen an die Einsatzkräfte: „Es gibt kein Asyl, nur in Ausnahmesituationen, wenn Medien vor Ort sind. Die Befehle des Chefs, der Exekutive und der Verwaltung lauten, alle [Flüchtlinge] ohne Papiere zurückzuschicken, keine Spuren zu hinterlassen, Geld zu nehmen, Handys zu zerbrechen, sie in [einen Fluss] zu werfen, oder für sich selbst zu nehmen, und Flüchtlinge gewaltsam nach Bosnien zurückzuschicken. [...] Wenn sie von den anderen Polizeistationen hierhergefahren werden, sind die Leute erschöpft, manchmal werden sie verprügelt, und dann sind wir es, die sie in der Nacht fahren und mit Gewalt nach Bosnien zurückschieben.“ (Border Violence Monitoring Network, https://www.borderviolence.eu/complaint-by-croatian-police-officers-who-are-being-urged-to-act-unlawfully/, 17.07.2019). Die ehemalige Staatspräsidentin Kroatiens Kolinda Grabar-Kitarović antwortete im Juli 2019 auf die Frage nach gewaltsamem Vorgehen gegen Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze: „Natürlich ist ein wenig Gewalt nötig, wenn wir Push-backs durchführen.“ (The Guardian, https://www.theguardian.com/world/2019/jul/16/croatian-police-use-violence-to-push-back-migrants-says-president, 16.07.2019).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="20"/>Nachdem die ARD im Oktober 2021 gemeinsam mit weiteren Recherchepartnern ein heimlich aufgenommenes Video veröffentlichte, welches zeigt, wie maskierte, kroatische Interventionspolizisten auf Asylsuchende einschlagen, wurde im Februar 2022 eine E-Mail vom 15.10.2021 publik, in der latko Čačić, der stellvertretende Leiter der Grenzwache in Bajakovo, einer kroatischen Stadt an der Grenze zu Serbien, seine Kollegen anwies, wenn eine Gruppe Migranten außer Landes geschafft werde, sollten die Beamten sie künftig an mehreren verschiedenen Orten abschieben. Vorher sei die Umgebung „gründlich zu inspizieren“, um sicherzustellen, dass niemand filme. Falls Kollegen Migranten „unnötig“ schikanieren und körperlich misshandeln würden, heißt es in der E-Mail weiter, sollten die betreffenden Beamten ermahnt und ihre Vorgesetzten informiert werden (Srdjan Govedarica, Tagesschau, Eine E-Mail als Anleitung zu Pushbacks?, 11.02.2022, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/kroatien-pushbacks-103.html).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>Auch in jüngster Vergangenheit setzt sich die rechtswidrige Praxis der „Push-backs“ in Kroatien fort.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>Das European Council on Refugees and Exiles registrierte die Durchführung von mehr als 30.000 „Push-backs“ aus Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zwischen Juni 2019 und September 2021, bei denen Zeugen von exzessiver Gewaltanwendung und einem Muster von „invasiver Durchsuchung“ und sexueller Gewalt durch die Polizei berichteten. In etwa 45 % der aus Kroatien gemeldeten Fälle seien die Betroffenen gezwungen worden, sich zu entkleiden, oft gefolgt vom Betasten der Genitalien durch Polizeibeamte, dem Verbrennen der Kleidung oder dem Stoßen der halbnackten Personen in Flüsse. Allein etwa 7.200 Zurückschiebungen sollen zwischen Januar und September 2021 stattgefunden haben, dabei soll es in 25 % der Fälle zu exzessiven Gewaltanwendungen gekommen sein (ECRE, Balkan Route: Tens of Thousands Pushed Back from Croatia, 22.10.2021, https://ecre.org/balkan-route-tens-of-thousands-pushed-back-from-croatia-evidence-of-pushbacks-and-border-violence-in-romania-presented-to-un-rights-body-stonewalling-of-asylum-seekers-in-serbia-a). Das Danish Refugee Council registrierte 4.905 Push-backs an der kroatisch-bosnischen Grenze zwischen Juli und November 2021. In 18 % aller Fälle seien Familien mit Kindern betroffen gewesen. Die Mehrheit der befragten afghanischen Migranten beklagte den Diebstahl oder die Zerstörung ihres Eigentums sowie missbräuchliche oder erniedrigende Behandlung durch die Polizeibeamten. Darüber hinaus berichtet die Organisation auch von Fällen, in denen illegale Migranten noch nach mehrtägigem Aufenthalt in Kroatien aufgegriffen und zurück an die Grenze verbracht wurden. Auch in diesem Bericht wurden Fälle von Kettenabschiebungen aus Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina dokumentiert (DRC, Human dignity lost at the EU’s borders, Dezember 2021, S. 5, 12). Die aktuellsten Betroffenenberichte des Border Violence Monitoring Network über brutale Zwangsrückführungen der kroatischen Polizei stammen vom 15.05.2022 (https://www.borderviolence.eu/violence-reports/).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="23"/>Wesentliche Verbesserungen sind auch nicht feststellbar durch die Implementierung des kroatischen Grenzüberwachungsmechanismus im August 2021. Diesen „Unabhängigen Mechanismus zur Überwachung des Verhaltens von Polizeibeamten des Innenministeriums im Bereich der illegalen Migration und des internationalen Schutzes“ setzte die kroatische Regierung erst nach jahrelanger Weigerung ein, obwohl der Mechanismus eine Bedingung für die bereits seit 2018 zur Grenzsicherung an Kroatien gezahlten 6,8 Mio. Euro an EU-Geldern war (Europäische Kommission, 20.12.2018, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_18_6884; European Council on Refugees and Exiles (ECRE), Balkan Route: Years of Pushbacks Condemned, Ombudsman Slams Commission Failure on Croatian Funding, 11.03.2022). Der Mechanismus wird von der EU-Kommission im Rahmen der EMAS 2021-Finanzhilfe unterstützt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>Die Arbeitsversion des ersten Berichts des Grenzüberwachungsmechanismus bestätigte die Durchführung illegaler „Push-backs“ durch Polizeibeamte und kritisierte sie als Verletzung des Rechts auf Asylantragstellung sowie des Non-Refoulement-Prinzips (1st half-year report of the independent mechanism for monitoring the conduct of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/763/Working_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 13-14). In der finalen Version des Berichts ist hingegen nur noch von unerlaubten Abschreckungsmaßnahmen „in minenverdächtigen Gebieten in Einzelfällen“ die Rede, während alle übrigen Maßnahmen regelmäßig zulässig und insbesondere mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar seien. Der Mechanismus beschränkt sich sodann im Wesentlichen darauf, den zuständigen Behörden zu empfehlen, eine interne Anweisung an Polizeibeamte zu erlassen, künftig nur noch schriftlichen Weisungen Folge zu leisten, und eine Sammlung von „good practices“ sowie ein Handbuchs zu erstellen (First semi-annual report of the independent oversight mechanism monitoring the actions of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/764/Final_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 15-16, 20-21).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, u. a. Human Rights Watch und Amnesty International, zogen in einer gemeinsamen Erklärung in Zweifel, dass der Grenzüberwachungsmechanismus den Standards entspreche, die für seine Wirksamkeit und seinen Erfolg erforderlich seien (DRC, Human dignity lost at the EU’s borders, Dezember 2021, S. 17; Croatia/EU: Strengthen Border Monitoring System, 02.08.2021, https://www.hrw.org/news/2021/08/02/croatia/eu-strengthen-border-monitoring-system). Eine aktuelle Untersuchung der Europäischen Bürgerbeauftragten deckte erhebliche Mängel auf in der Art und Weise, wie die Europäische Kommission die Einhaltung der Grundrechte durch die kroatischen Behörden bei mit EU-Geldern unterstützten Grenzschutzmaßnahmen überwacht (Delay in setting up monitoring mechanism for Croatian border management regrettable, says Ombudsman, 24.02.2022, https://www.ombudsman.europa.eu/en/news-document/en/152823). Sie kritisierte, die Kommission müsse eine aktive Rolle im Zusammenhang mit dem Überwachungsmechanismus übernehmen und von den kroatischen Behörden konkrete und überprüfbare Informationen über Schritte zur Untersuchung von Berichten über kollektive Ausweisungen und Misshandlungen von Migranten und Asylbewerbern verlangen (How the European Commission ensures that the Croatian authorities respect fundamental rights in the context of border management operations financed by EU funds, 22.02.2022, https://www.ombudsman.europa.eu/en/case/en/57811).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="26"/>Die in Kroatien praktizierten „Push-backs“, Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. [...]</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="27"/>Dementsprechend entschieden in den vergangenen Jahren bereits mehrere europäische Gerichte über „Push-backs“ an der kroatischen EU-Außengrenze sowie Kettenabschiebungen aus verschiedenen europäischen Ländern über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="28"/>Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte am 18.11.2021 (M. H. and others v. Croatia, Az. 15670/18 und 43115/18) über den Tod der sechsjährigen Afghanin Madina Hussiny, die nahe der kroatisch-serbischen Grenze von einem Zug erfasst worden war. Der Gerichtshof stellte fest, die kroatischen Behörden hätten es versäumt, eine wirksame Untersuchung der Umstände durchzuführen, die zum Tod des Mädchens geführt hätten, insbesondere des Vorwurfs ihrer Familienmitglieder, sie hätten zuvor die Grenze überquert, seien von kroatischen Polizisten aufgegriffen, zurücktransportiert und aufgefordert worden, über die Bahngleise nach Serbien zurückzulaufen, wo es sodann zu dem tödlichen Unfall gekommen sei. Darin liege eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben). Der EGMR verurteilte den kroatischen Staat dazu, den Angehörigen des Kindes eine Entschädigung zu zahlen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="29"/>Mit Urteil vom 01.07.2021 erklärte das Landesverwaltungsgericht Steiermark „Push-backs“ an der österreichischen Grenze, die in Kettenabschiebungen über Slowenien und Kroatien nach Bosnien-Herzegowina mündeten, für rechtswidrig (Az. LVwG 20.3-2725/2020). Entsprechend entschied bereits das ordentliche Gericht Roms am 18.01.2021 über „informelle Rückübernahmen“ von Italien nach Slowenien, die zu Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina führten (Az. 56420/2020, https://www.questionegiustizia.it/data/doc/2794/2021-700-senza-dati-sensibili.pdf). Am 17.07.2020 verurteilte auch der slowenische Verwaltungsgerichtshof Kettenabschiebungen von Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina als Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot (Border Violence Monitoring Network, https://www.borderviolence.eu/wp-content/uploads/Press-Release_Slovenian-Court-Ruling.pdf, 20.07.2020).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="30"/>Darüber hinaus kam es auch bereits zu Gerichtsentscheidungen, in denen Dublin-Überstellungen nach Kroatien ausgesetzt wurden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="31"/>Das Bundesverwaltungsgericht der Schweiz verwies mit Urteil vom 12.07.2019 ein Verfahren über die Dublin-Überstellung eines Asylbewerbers nach Kroatien an die Vorinstanz zurück mit der Begründung, aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers über Misshandlungen durch die kroatischen Polizeibehörden und der Ländersituation in Kroatien sei umfassend zu prüfen, ob die Überstellung nach Kroatien in einer Kettenabschiebung resultieren könnte (Az. E-3078/2019, https://jurispub.admin.ch/publiws/download?decisionId=a7c0bc27-5103-4ac6-9a45-9dd1b0f272fa, bestätigt in Urteilen vom 12.02.2021, Az. D-43/2021, und vom 08.01.2021, Az. F-48/2021) Ähnlich urteilte die 9. Zivilkammer des Gerichts von Genua (Italien) mit Beschluss vom 19.03.2019 (N. 13280/2018, https://www.meltingpot.org/app/uploads/2019/05/annullamento_decreto_dublino.pdf). Mit Urteil vom 06.01.2022 (Az. F-5675/2021) bestätigte das schweizerische Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung erneut, und verwies die Entscheidung über die Rückführung eines afghanischen Asylbewerbers zurück an das Staatssekretariat für Migration. Das Gericht führte aus, die Behörde habe es versäumt, aktuelle Beobachterberichte zu beachten, in denen ernsthafte Probleme für Asylsuchende in Kroatien beim Zugang zum Asylverfahren angeprangert würden. Das Verwaltungsgericht der Niederlande urteilte am 13.04.2022 (Az. 202104072/1/V3), es beständen ernstzunehmende Hinweise darauf, dass „Push-Backs“ auch bei Ausländern stattfänden, die aus anderen EU-Mitgliedstaaten nach Kroatien rücküberstellt würden – unabhängig davon, ob ihr Asylantrag zuvor zurückgenommen worden sei oder nicht – und bei Ausländern, die sich im kroatischen Hoheitsgebiet in größerer Entfernung von der Grenze befänden. In Anbetracht dessen und weil sich Dublin-überstellte Antragsteller in der Regel als Asylbewerber frei im Hoheitsgebiet Kroatiens bewegen könnten, müsse das Risiko, dass Dublin-überstellte Antragsteller von Kroatien ohne Bearbeitung oder während der Bearbeitung ihres Asylantrags abgeschoben würden, näher untersucht werden. In Anbetracht der Art, des Umfangs und der Dauer des grundlegenden Systemfehlers im kroatischen Asylsystem, der eine besonders hohe Schwelle der Schwere erreiche, könne das Fehlen von Informationen über die Situation der Dublin-Kläger nach ihrer Überstellung nach Kroatien nicht zu Lasten des ausländischen Staatsangehörigen gehen (https://uitspraken.rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:RVS:2022:1042).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="32"/>[...]</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="33"/>[Z]u den zahllosen dokumentierten gewaltsamen und entwürdigenden Übergriffen und der Verweigerung des Rechts auf Asylantragstellung kam es nicht nur unmittelbar nach illegalen Grenzübertritten von Serbien oder Bosnien-Herzegowina aus, sondern auch in Fällen, in denen sich die Migranten bereits mehrere Tage im Landesinneren aufhielten, sogar dann, wenn sie bereits weit in andere EU-Länder wie Slowenien, Italien oder Österreich vorgedrungen waren und von dort aus zurückgeschoben wurden. Zwar liegen keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland vor, doch ist davon auszugehen, dass diese insbesondere angesichts der niedrigen Zahlen von den im Grenzgebiet tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht separat erfasst werden. So wurde im ersten Halbjahr 2021 noch kein einziger Asylbewerber im Rahmen der Dublin-III-Verordnung an Kroatien rücküberstellt (BT-Drs. 19/32290, S. 10). Im Jahr 2020 kam es zu 16.425 „Push-backs“ durch die kroatischen Behörden (Danish Refugee Council, Bosnia and Herzegowina Border Monitoring Monthly Snapshot, Dezember 2020, S. 7) bei lediglich 28 Dublin-Rücküberstellungen aus Deutschland im selben Zeitraum (BT-Drs. 19/27007, S. 10). Ferner gibt es aktuelle Berichte darüber, dass Journalisten, die kritisch über „Push-backs“ an der kroatischen Grenze berichten, diskriminiert und eingeschüchtert werden (Gordan Duhaček, MDR, Zensur im Urlaubsparadies, 04.05.2022, https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/kroatien-urlaub-ferien-pressefreiheit-100.html).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="34"/>Fraglich ist die Aufnahmebereitschaft Kroatiens auch deshalb, weil landesweit nur zwei Aufnahmeeinrichtungen (Hotel Porin und Kutina) mit insgesamt 700 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stehen (Asylum Information Database, Types of Accomodation Croatia, 27.05.2021), von denen noch im Dezember 2020 lediglich 328 Plätze belegt waren (UNHCR, Croatia 2020 Annual Statistical Snapshot, 05.02.2021). Aus den genannten Erkenntnismitteln wird zudem ersichtlich, dass es sich bei den gewaltsamen Rückschiebungen nicht um eigenmächtige Übergriffe einzelner Polizeibeamter handelt, sondern dass das Abdrängen der Migranten nach Bosnien-Herzegowina entweder tatsächlich einer internen Weisungslage entspricht oder jedenfalls von den vorgesetzten Stellen nicht effektiv verhindert bzw. sanktioniert wird.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="35"/>Während durch die vorliegenden Erkenntnismittel hinreichend belegt ist, dass Kroatien in systematischer Art und Weise menschenrechtswidrig gegen Migranten vorgeht, bestehen zugleich keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass Dublin-Rückkehrern aus Deutschland gegenüber anderen Asylbewerbern eine Vorzugsbehandlung zuteilwird. Dementsprechend bietet den Klägern auch die Rückführung nach Kroatien auf dem „regulären Weg“ keine Sicherheit, nicht zum Gegenstand von „Push-backs“ gemacht und nach Bosnien-Herzegowina rückgeführt zu werden, ohne dass sie vorher angehört würden oder dass ihnen ein wirksamer Rechtsschutz gegen die Entscheidung zur Verfügung stünde. [...]</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="36"/>Die ausgeführten Bedenken konnte die Beklagte auch nicht ausräumen durch den Verweis auf das Schreiben der kroatischen Behörden vom 11.04.2022. Dieses erfüllt schon nicht die Kriterien einer individuellen Garantieerklärung zugunsten der Kläger, da es ausschließlich allgemeine Ausführungen enthält und insbesondere weder darauf eingeht, dass es sich bei den Klägern um Dublin-Rückkehrer handelt, noch darauf, dass die Klägerin zu 1) angibt, bereits einmal Opfer von Polizeigewalt in Kroatien geworden zu sein, und dass der Kläger zu 2) höchst vulnerabel ist und eine besonders geschützte Unterbringung und medizinische Versorgung benötigt. Stattdessen bestreiten die kroatischen Behörden vollumfänglich die Durchführung von „Push-backs“ und verweisen auf das gesetzlich verankerte Non-Refoulement-Prinzip. Angesichts der zahlreichen und übereinstimmenden Berichte sowohl von Nichtregierungsorganisationen als auch von der Delegation des Europäischen Komitees des Europarats kann jedoch keinesfalls angenommen werden, dass es sich bei den Schilderungen von „Push-backs“ über die kroatisch-bosnische Grenze lediglich um fälschliche Schutzbehauptungen von Asylsuchenden handelt. Da die kroatischen Behörden nicht einmal bereit sind, vergangene Versäumnisse bei der Gewährung internationalen Schutzes einzuräumen, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie entsprechende Versäumnisse für die Zukunft effektiv verhindern. [...]“</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Die Kammer ist bisher im Hinblick auf die für die EU-Außengrenze schon länger im Raum stehende Praxis illegaler „Push-backs“ davon ausgegangen, dass im Rahmen des Dublin-Systems nach Kroatien Zurückkehrende von dieser nicht betroffen sein können. Nach eigener Prüfung der vom Verwaltungsgericht Braunschweig und von den anderen europäischen Gerichten ausgewerteten jüngeren Erkenntnisquellen vermag die Kammer hieran nicht mehr festzuhalten. Sie geht nun vielmehr davon aus, dass auch dieser Personenkreis mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr eines „Push-backs“ ausgesetzt ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Dass es sich hierbei nicht um eine rein theoretische Gefahr handelt, sondern es tatsächlich zu Kettenabschiebungen aus dem Gebiet der Mitgliedstaaten hinaus gekommen ist, wird durch Entscheidungen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark (Erkenntnis vom 01.07.2021 - LVwG 20.3-2725/202) und des slowenischen Verwaltungsgerichts (vgl. Council of Europe Commissioner for Human Rights, Third party intervention, EGMR No. 18810/19 u. a., 22.12.2020, Rn. 16 mit Fn. 13) belegt, die feststellen mussten, dass die von den slowenischen Behörden nach Kroatien überstellten Betroffenen von dort weiter bis nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben worden sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Der angefochtene Bescheid setzt sich mit der Problematik von „Push-Backs“ und den vorstehend angeführten Erkenntnismitteln und Entscheidungen nicht auseinander, obwohl hierzu spätestens nach den Entscheidungen des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2019 Anlass bestanden hätte. Vielmehr verwertet er vornehmlich Erkenntnismittel aus den Jahren 2014 bis 2016, die sich überdies primär zu den Lebensumständen von Asylbewerbern und den Regelungen des Asylverfahrens verhalten. Das Hauptsacheverfahren wird der Beklagten Gelegenheit zu weiterem Vortrag geben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Kommt eine Überstellung nach Kroatien nach dem Vorstehenden nicht in Betracht und lässt sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats – wie hier – nicht feststellen, ist gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,304 | vg-minden-2022-07-26-6-k-186520 | {
"id": 845,
"name": "Verwaltungsgericht Minden",
"slug": "vg-minden",
"city": 465,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 K 1865/20 | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-08-25T10:01:15 | 2022-10-17T11:09:27 | Beschluss | ECLI:DE:VGMI:2022:0726.6K1865.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1. Der Termin zur mündlichen Verhandlung am 27. Juli 2022 wird aufgehoben.</p>
<p>2. Das Verfahren wird eingestellt.</p>
<p>3. Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>4. Der Streitwert wird auf 1.750.000, - € festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Gründe:</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren wird eingestellt und der Termin zur mündlichen Verhandlung war aufzuheben. Der Einstellungsbeschluss beruht zum einen auf den von den Beteiligten übereinstimmend abgegebenen Erledigungserklärungen für Soforthilfe in Höhe von 200.000,- EUR für vier Beatmungsgeräte mit Änderungsbescheid vom 7. August 2020. Zum anderen erfolgt die Einstellung nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO, weil die Klägerin die weitergehende Klage mit Schriftsatz vom 25. Juli 2022 zurückgenommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt hinsichtlich des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils des Rechtsstreits der Kostenübernahmeerklärung des beklagten Landes und beruht im Übrigen auf § 155 Abs. 4 VwGO. Die Einzelrichterin macht von ihrer in ihrem Ermessen stehenden Befugnis Gebrauch, die Kosten des Verfahrens in Abweichung von § 155 Abs. 2 VwGO, wonach derjenige, der eine Klage zurücknimmt, die Kosten zu tragen hat, zu verteilen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 155 Abs. 4 VwGO, können Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden. § 155 Abs. 4 VwGO stellt dabei keine Rechtsgrundlage für allgemeine Billigkeitserwägungen dar, die das Gericht ermächtigte, die Kosten zu verteilen. Voraussetzung ist vielmehr, stets ein vorprozessuales oder prozessuales Verschulden eines Beteiligten, wobei ausreichend ist, dass dieser die Kosten im Ergebnis zu vertreten hat. Der Verschuldensbegriff entspricht dem des § 60 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bader, in: Bader/Funke-Kaier/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Auflage 2021, § 155 Rn. 9, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Bei Anwendung dieser Maßstäbe legt das Gericht dem Beklagten die Kosten des Verfahrens insgesamt auf. Vorliegend handelte der Beklagte schuldhaft im Sinne von § 155 Abs. 4 VwGO, indem er den streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid vom 18. Juni 2020 nicht ausreichend begründete. Aus der Begründung des Bescheides sowie aus den beigefügten Unterlagen ließ sich nicht entnehmen, auf welcher Grundlage der Beklagte annahm, „die maximale Anzahl an Beatmungskapazitäten“ sei „ausgeschöpft“. Auch die Schreiben des beklagten Landes vom 25. März 2020 bzw. 13. März 2020 geben keinen Aufschluss über eine etwaige Berechnungsgrundlage. Erst im laufenden Klageverfahren wurde mit Stellungnahme des Prozessbevollmächtigen des Beklagten vom 2. September 2021 unter Vorlage einer internen Bearbeitungsgrundlage (Anlage B3) deutlich, wie der Beklagte eine Obergrenze und ein Aufbaupotenzial für Beatmungsgeräte berechnete. Da der Beklagte darüber hinaus vor Ablauf der Klagefrist trotz zweimaliger schriftlicher Aufforderung zur Klarstellung und Erläuterung durch die Klägerin (zuerst durch Email von deren Geschäftsführer vom 2. Juli 2020 und nachfolgend unter Fristsetzung bis zum 16. Juli 2020 durch ihren Verfahrensbevollmächtigten) nicht reagierte, hat der Beklagte die Verfahrenskosten schuldhaft verursacht, indem er Anlass zur Klage bot.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 GKG. Dieser liegt die Berechnung von je 50.000 EUR beantragter Soforthilfe pro Beatmungsgerät zugrunde. (200.000,- EUR für vier im Klageverfahren bewilligte Zuschüsse und 1.550.000,- EUR für die im Übrigen beantragten weiteren 31 Beatmungsgeräte).</p>
|
346,291 | vg-dusseldorf-2022-07-26-2-k-849921 | {
"id": 842,
"name": "Verwaltungsgericht Düsseldorf",
"slug": "vg-dusseldorf",
"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 2 K 8499/21 | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-08-24T10:01:12 | 2022-10-17T11:09:25 | Urteil | ECLI:DE:VGD:2022:0726.2K8499.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Soweit die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.</strong></p>
<p><strong>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</strong></p>
<p><strong>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten über die Entlassung des Klägers aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.1993 geborene Kläger wurde am 00.00.2019 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zum Kommissaranwärter ernannt. Seitdem versah er seinen Dienst beim Polizeipräsidium E. (im Folgenden: Polizeipräsidium) und absolvierte den Bachelorstudiengang Polizeivollzugsdienst an Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Während der im Rahmen des Studiums zu absolvierenden fachpraktischen Ausbildungsblöcke in T. bewohnte der Kläger dort unter anderem mit den Zeugen U. und T1. , die ebenfalls als Kommissaranwärter dem Ausbildungsjahrgang 2019 angehörten, eine Wohngemeinschaft.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 3. März 2021 wendete sich der Zeuge U. an einen seiner Ausbilder des M. in T. und berichtete, dass der Kläger u.a. die Aussage „Transen sind keine Menschen; die müssten abgeschossen werden.“ getätigt habe. Wegen des angenommenen Verdachts der Volksverhetzung wurde daraufhin eine Strafanzeige gefertigt und ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger eingeleitet. Im Rahmen der Ermittlungen erfolgte u.a. die polizeiliche Vernehmung der Zeugen U. und T1. . Sie erklärten übereinstimmend, dass der Kläger die oben genannte Aussage am Abend des 18. Februar 2021 getätigt habe, während sie gemeinsam in ihrer Wohngemeinschaft die Sendung „Germany’s Next Topmodel“ verfolgt hätten. Wegen der Einzelheiten der Vernehmungen wird auf Bl. 22 ff. der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft E. verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Unter dem 5. März 2021 hörte das Polizeipräsidium den Kläger zu dem beabsichtigten Erlass eines Verbots der Führung der Dienstgeschäfte an und ordnete u.a. seine sofortige Freistellung vom Dienst an. Das dagegen gerichtete Klageverfahren stellte die Kammer mit Beschluss vom 30. Dezember 2020 ein, nachdem das Polizeipräsidium die Verfügung aufgehoben hatte.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 9. März 2021 leitete das Polizeipräsidium ein Disziplinarverfahren gegen den Kläger ein und enthob den Kläger mit Verfügung vom 7. Mai 2021 vorläufig des Dienstes. Auch diese Verfügung hob das Polizeipräsidium in dem dagegen eingeleiteten Klageverfahren vor dem erkennenden Gericht (35 L 1305/21) auf.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 18. Juni 2021 stellte die Staatsanwaltschaft E. das Strafverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Am 11. August 2021 hörte das Polizeipräsidium den Kläger zu seiner beabsichtigten Entlassung aus Beamtenverhältnis auf Widerruf an. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen, dass die von dem Kläger gemäß der Aussagen der Zeugen U. und T1. getätigte Aussage „Transen sind keine Menschen; die müssten abgeschossen werden.“ nicht mit dem Beruf eines Polizeivollzugsbeamten in Einklang zu bringen sei.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 7. Oktober 2021 trat der Kläger diesen Vorwürfen entgegen. Er bestritt, diese Aussage getätigt zu haben. Vielmehr habe sich der Abend des 18. Februar 2021 derart zugetragen, dass der Zeuge T1. das WG-Wohnzimmer nach etwa einer Stunde mit den Worten „Die ekelhafte Scheiße gebe ich mir nicht länger.“ verlassen habe und damit auf die Transsexuelle Teilnehmerin Bezug genommen habe. Er und der Zeuge U. hätten sich ob dieser Situation erstaunt und entgeistert angeguckt, die Situation aber nicht kommentiert. Unter Bezugnahme auf 11 schriftliche Stellungnahmen von Freunden und Bekannten, die den Kläger u.a. als loyal, hilfsbereit, offen und direkt, auch mal aneckend, aber nie trans- oder ausländerfeindlich beschreiben, trug er vor, dass eine solche Äußerung nicht mit seiner Persönlichkeit übereinstimme. Er reichte ferner die undatierte Stellungnahme einer Frau B. H. zur Akte, die angibt, selbst transsexuell zu sein und den Kläger seit 2018 zu kennen. Im Wesentlichen heißt es in der Stellungnahme, sie könne sich nicht vorstellen, dass der Kläger, der bis dato immer ein sehr korrekter Mensch gewesen sei, die ihm vorgeworfene Aussage getätigt habe.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 7. Dezember 2021 verfügte das Polizeipräsidium die Entlassung des Klägers aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf mit Ablauf des 31. Dezember 2021, stellte ihn mit sofortiger Wirkung unter Fortzahlung seiner Bezüge vom Dienst frei (Ziffer 1) und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Maßnahmen an (Ziffer 2). Zur Begründung heißt es im Wesentlichen, dass aufgrund der vorbezeichneten Äußerung des Klägers ernstliche Zweifel an seiner charakterlichen Eignung für den Polizeivollzugsdienst bestünden. Sie zeige eine verachtende Grundhaltung gegenüber transsexuellen Menschen auf und verdeutliche zugleich, dass die für den Beruf des Polizeivollzugsbeamten immanent wichtige und erforderliche Wertschätzung gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern bei dem Kläger nicht vorliege. Da Polizeivollzugsbeamte für Recht und Gesetz einstünden und auf die Einhaltung der Gesetze achteten, sei ein tadelloses Verhalten zur Aufrechterhaltung der Institution Polizei unerlässlich. Durch die getätigte Aussage habe der Kläger gegen die Verpflichtung verstoßen, sich auch außerhalb des Dienstes so zu verhalten, dass die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordere, nicht ernsthaft beeinträchtigt werde. Dies gelte umso mehr, da die Äußerung einen Bezug zur Dienstausübung, nämlich der Waffengewalt, beinhalte. Mit der Tötung eines Menschen mittels Waffengewalt billige der Kläger ein mit der Würde des Menschen unvereinbares und grob rechtsstaatswidriges Verhalten. Die damit verbundene Bagatellisierung extralegaler Gewalt stelle das Vertrauen in ihn als Polizeivollzugsbeamten und dass er mit den ihm anvertrauten Waffen besonnen umgehe ernsthaft in Frage. Ferner begründe das Verhalten des Klägers ernsthafte Zweifel hinsichtlich seines Eintritts zum Erhalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Die von ihm vorgetragene Bekanntschaft mit einer Transfrau ändere an der Bewertung des Vorfalls als solchen nichts.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Gegen die Entlassungsverfügung hat der Kläger am 15. Dezember 2021 Klage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung wiederholt und vertieft er seine Einwände aus dem Verwaltungsverfahren. Ergänzend trägt er vor, der Bescheid sei rechtswidrig, weil der Beklagte den Untersuchungsgrundsatz missachtet habe. Die beiden Zeugen seien unglaubwürdig, da deren Aussagen auch in anderen Teilen relativiert worden seien und sie menschenverachtende Äußerungen in einer WhatsApp Gruppe getätigt hätten. Außerdem widersprächen ihre Aussagen im Strafverfahren jenen in den im gerichtlichen Verfahren vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen. Eine weitere Aufklärung - insbesondere die Einholung von Stellungnahmen weiterer Beamter - sei pflichtwidrig unterlassen worden. Der Entlassungsverfügung sei im Kern ein falscher Sachverhalt zugrunde gelegt und die zahlreichen Stellungnahmen aus dem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis, die ein gänzlich anderes Persönlichkeitsbild des Klägers zeichneten, nicht hinreichend berücksichtigt worden. Der Beklagte lasse zudem unter den Tisch fallen, dass das Ermittlungsverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt und im Übrigen ohne die Kenntnis des Klägers geführt worden sei. Für die sofortige Freistellung vom Dienst fehle es bereits an der erforderlichen Ermächtigungsgrundlage. Der Kläger reichte außerdem eine eidesstattliche Versicherung über den von ihm geschilderten Geschehensablauf am 18. Februar 2021 zur Gerichtsakte. Wegen der weiteren Einzelheiten der Klagebegründung wird auf die Antrags- und Klagebegründungsschriftsätze verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten den Rechtsstreit insofern in der Hauptsache für erledigt erklärt, als in dem Bescheid vom 7. Dezember 2021 die sofortige Freistellung vom Dienst unter Fortzahlung der Bezüge bis zum 31. Dezember 2021 angeordnet worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>den Bescheid des Polizeipräsidiums vom 7. Dezember 2021 aufzuheben.</strong></p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen.</strong></p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt und vertieft er die im angegriffenen Bescheid angeführten Gründe. Er trägt ergänzend vor, dass insbesondere auch der Untersuchungsgrundsatz eingehalten worden sei. Der Entlassungsverfügung liege ausschließlich der Vorfall vom 18. Februar 2021 zugrunde. Weitere Ermittlungen seien nicht erforderlich gewesen, da die in Streit stehende Aussage anhand zweier Zeugenaussagen belegt sei. Die Einstellung des Strafverfahrens habe keine Auswirkungen auf das Entlassungsverfahren, da andere Maßstäbe anzulegen seien. Insbesondere obliege einem Polizeivollzugsbeamten im Interesse der Akzeptanz und der Legitimation staatlichen Handelns die Pflicht, bereits den Schein der Identifikation mit einem dem freiheitlichen Rechtsstaat diametral entgegengesetzten Gedankengut zu vermeiden. Schon das zurechenbare Setzen eines solchen Scheins stelle eine Dienstpflichtverletzung dar. Pflichtwidrig handele auch der, der zwar kein Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sei, durch konkretes Verhalten aber diesen Rechtsschein hervorrufe. Dies gelte in besonderem Maße für Polizeivollzugsbeamte. Der Beklagte reichte ferner jeweils eine eidesstattliche Versicherung der Zeugen U. und T1. zur Gerichtsakte.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 19. Mai 2022 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">In der mündlichen Verhandlung sind die Zeugen T2. U. und M1. T1. vernommen worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Akteninhalt des zugehörigen Eilverfahrens mit dem Aktenzeichen 2 L 2677/21 Bezug genommen. Ergänzend wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgangänge sowie der beigezogenen Strafakte der Staatsanwaltschaft E. (Az. 000 Xx 00/00) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Einzelrichterin war zur Entscheidung berufen, weil ihr der Rechtsstreit mit Beschluss vom 19. Mai 2022 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 6 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren war in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO (deklaratorisch) einzustellen, soweit die Beteiligen das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Klage im Übrigen hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die angegriffene Entlassungsverfügung vom 7. Dezember 2021 hält einer rechtlichen Überprüfung stand. Sie erweist sich als rechtmäßig und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzend, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die formell rechtmäßig erlassene Entlassungsverfügung findet ihre Rechtsgrundlage in § 23 Abs. 4 BeamtStG und begegnet auch in materiell-rechtlicher Hinsicht keinen durchgreifenden Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 23 Abs. 4 BeamtStG können Beamtinnen und Beamte auf Widerruf jederzeit entlassen werden. Die Gelegenheit zur Beendigung des Vorbereitungsdienstes und zum Ablegen der Prüfung soll gegeben werden. Für die danach im Ermessen des Dienstherrn stehende Entlassung einer Widerrufsbeamtin bzw. eines Widerrufsbeamten genügt jeder sachliche, d.h. nicht willkürliche Grund, auch die Annahme mangelnder charakterlicher Eignung. Hierfür ist die Einschätzung entscheidend, inwieweit die Beamtin bzw. der Beamte der von ihr bzw. ihm zu fordernden Loyalität, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Dienstauffassung gerecht werden wird. Dies erfordert eine wertende Würdigung aller Aspekte des Verhaltens der Beamtin bzw. des Beamten, die einen Rückschluss auf die für die charakterliche Eignung relevanten persönlichen Merkmale zulassen. Die Einschätzung der charakterlichen Eignung ist dem Dienstherrn vorbehalten.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Juli 2016 - 2 B 17.16 -, juris, Rn. 26; OVG NRW, Beschlüsse vom 19. Oktober 2020 – 6 B 1062/20 –, juris, Rn. 7 und vom 18. Februar 2019 - 6 B 1551/18 -, juris, Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Insoweit können bereits berechtigte Zweifel der Entlassungsbehörde genügen, ob die Beamtin bzw. der Beamte auf Widerruf die persönliche Eignung für ihr bzw. sein Amt besitzt. Die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf ist aus diesem Grund nicht von dem Nachweis eines konkreten Dienstvergehens abhängig. Eignungszweifel können sich dabei sowohl aus dem dienstlichen als auch dem außerdienstlichen Verhalten ergeben.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Oktober 2020 – 6 B 1062/20 –, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Dabei ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolle darauf beschränkt, ob der Dienstherr seine Annahme, es lägen Eignungszweifel vor, auf einen zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt gestützt, er den Rechtsbegriff der Eignung nicht verkannt und bei der von ihm zu treffenden Prognoseentscheidung allgemeingültige Wertmaßstäbe beachtet und auch sonst keine sachwidrigen Erwägungen angestellt hat.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2015 - 6 B 326/15 -, juris, Rn. 8, mit weiteren Nachweisen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Maßgabe unterliegt die von dem Beklagten wegen Zweifeln an der charakterlichen Eignung des Klägers für den Polizeivollzugsdienst erlassene Entlassungsverfügung vom 7. Dezember 2021 keinen rechtlichen Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der von dem Kläger getätigten Äußerung „Transen sind keine Menschen; die müssten abgeschossen werden.“ hat der Beklagte unter Berücksichtigung des ihm insoweit zukommenden Beurteilungsspielraums rechtsfehlerfrei Zweifel an der persönlichen Eignung des Klägers für das Amt eines Polizeivollzugsbeamten angenommen. Der Beklagte ist insbesondere weder von einem unrichtigen oder unvollständig festgestellten Sachverhalt ausgegangen (dazu I.), noch hat er allgemeingültige Wertmaßstäbe verletzt oder sachfremde Erwägungen angestellt. Er ist vielmehr in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu der Einschätzung gelangt, im Fall des Klägers bestünden Zweifel an der charakterlichen Eignung, die seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf vor Abschluss des Vorbereitungsdienstes rechtfertigen (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">I. Der Beklagte hat der Entlassungsverfügung einen zutreffenden und hinreichend ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt. Nach Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass der Kläger die in Streit stehende Äußerung „Transen sind keine Menschen; die müssten abgeschossen werden.“ getätigt hat.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Diese Überzeugung wird insbesondere gestützt durch die Aussagen der Zeugen U. und T1. in der mündlichen Verhandlung. Sie gaben übereinstimmend an, dass der Kläger am Abend des 18. Februar 2021 während der Sendung „Germany’s Next Topmodel“ seinen Unmut über die Teilnahme einer transsexuellen Person geäußert habe, darüber in eine Diskussion mit dem Zeugen U. geraten sei und in dessen Verlauf sinngemäß die in Rede stehende Äußerung getätigt habe.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Zeugen sind glaubwürdig (1.) und ihre Aussagen glaubhaft (2.).</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">1. Die Auffassung des Klägers, die Zeugen seien unglaubwürdig, da sie - wie anhand der zur Gerichtsakte gereichten Screenshots von Gruppenchatverläufen zu erkennen sei - „ein fragwürdiges Menschenbild hätten“, teilt das Gericht nicht. Ein solcher Erfahrungssatz existiert weder in abstrakter Form noch besteht im Streitfalle Anlass dazu, den Zeugen aufgrund der von ihnen in der fraglichen WhatsApp-Chatgruppe geposteten Inhalte per se ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen. Dem Kläger kann ferner nicht gefolgt werden, soweit er einwendet, die Zeugen hätten ihre eigenen Aussagen im Ermittlungsverfahren relativiert und damit ihrer Glaubwürdigkeit „massiv geschadet“. Es ist bereits nicht nachvollziehbar, auf welches konkrete Aussageverhalten der Kläger mit dieser lediglich pauschal von dem Beklagten übernommenen Feststellung Bezug nehmen will. Soweit ersichtlich spielt er damit darauf an, dass der Zeuge U. ausweislich der Niederschrift des Ausbilders POK C. (vgl. Bl. 21 der Beiakte Heft 2) diesem gegenüber von weiteren Äußerungen des Klägers berichtet habe, zu denen er bei seiner späteren polizeilichen Vernehmung erklärte, diese nicht selbst bzw. nur vom Hörensagen vernommen zu haben. Ein den Schluss der Unglaubwürdigkeit des Zeugen tragender Widerspruch ist darin nicht zu erkennen, zumal dem Zeugen U. nicht unterstellt werden kann, er habe gegenüber POK C. behauptet, er hätte die Äußerungen selbst wahrgenommen. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Zeugen T1. sei angemerkt, dass dieser zwar möglicherweise ein Eigeninteresse daran haben könnte, von ihm möglicherweise selbst getätigte entgleisende Äußerungen zu verdecken, um sich beamtenrechtlichen Konsequenzen zu entziehen. Jedoch führt dies nicht auf den Schluss seiner Unglaubwürdigkeit in Bezug auf seine Aussage über die streitgegenständliche Äußerung des Klägers, zumal die in Rede stehenden Äußerungen nicht in einem Alternativverhältnis stehen. Ferner lässt sich weder den Aussagen der Zeugen noch den Bekundungen des Klägers ein plausibles Belastungsmotiv entnehmen. Die bloße zwischen den Zeugen und dem Kläger bestehende Antipathie genügt hierfür gerade nicht.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">2. Die Aussage des Zeugen U. ist glaubhaft. Er hat offen und ohne Anzeichen von Unsicherheit ausgesagt. Erinnerungslücken, hat er freimütig eingeräumt. Desgleichen hat er kein pauschales und undifferenziertes Bild von „Gut und Böse“ gezeichnet. So hat er nicht gezögert einzuräumen, dass er „das“ (Anmerkung des Gerichts: gemeint ist die transsexuelle Person) „auch nicht so gut finde“ und Reue bekannt, indem er zugestand, dass ihm damals vielleicht auch die entsprechende Reife gefehlt hätte und er den Kläger heute auf jeden Fall vorher auf seine Äußerung angesprochen hätte. Er hat die Vorgänge lebensnah und plausibel beschrieben und lässt keinerlei Belastungseifer erkennen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Auch die Aussage des Zeugen T1. ist glaubhaft. Seine Schilderungen zu dem Verhalten des Klägers decken sich im Wesentlichen mit jenen des Zeugen U. . Sie wirken nicht überzogen und enthalten insbesondere authentisch wirkende Angaben zum Randgeschehen, die nahelegen, dass er tatsächlich während der Sendung eher abgelenkt mit seinem Handy beschäftigt und deshalb nicht an der Diskussion beteiligt war. Zugleich war auch er nicht bemüht, herunterzuspielen, dass sein Verhältnis zu dem Kläger angespannt gewesen ist. Entgegen des Einwandes des Klägers ist die Aussage des Zeugen T1. auch nicht etwa unglaubhaft, weil diese im Widerspruch zu seiner Äußerung bei seiner Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren stünde. Soweit der Kläger einen Widerspruch zwischen der Aussage im Ermittlungsverfahren „Daraufhin hat der Pascal den o.g. Ausspruch getätigt. […] Er hat sich darüber geärgert, dass es so einen Typen gibt. Wir haben aber nicht weiter darüber gesprochen. Auch später nicht.“ (vgl. Bl. 27 der Strafakte) und der späteren Schilderung einer Diskussion zwischen dem Kläger und dem Zeugen U. erblickt, folgt die Einzelrichterin dem nicht. Der Zeuge blieb auch bei seiner Vernehmung in der mündlichen Verhandlung bei beiden Aussagen und löste den augenscheinlichen Widerspruch dahingehend auf, dass es zu dem Thema kein Gespräch mehr gegeben habe, an dem er beteiligt gewesen sei. Dies schließt gerade nicht aus, dass zwischen dem Kläger und dem Zeugen U. ein Gespräch stattgefunden hat.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Als nicht glaubhaft erweist sich hingegen die von dem Kläger bei seiner informatorischen Anhörung geschilderte Version des Ablaufs des Abends des 18. Februar 2021. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts insbesondere aus dem Gesamteindruck des Aussageverhaltens des Klägers. Zum einen weicht er bei der Schilderung des Ablaufs des Abends in der mündlichen Verhandlung in zweierlei Hinsicht von der von ihm schriftsätzlich vorgetragenen Version ab. Erstens ließ er bei seiner zusammenhängenden freien Erzählung in der mündlichen Verhandlung die von ihm schriftsätzlich in diesem Zusammenhang einzig benannte Äußerung des Zeugen T1. („Die ekelhafte Scheiße gebe ich mir nicht länger.“) weg und fügte sie erst nach dem Diktat hinzu. Zweitens fügte er stattdessen bei seiner freien Erzählung hinzu, dass der Zeuge T1. sich „ein bis zwei Mal über die transsexuelle Person echauffiert“ habe. Auf Nachfrage erklärte er, der Zeuge habe gesagt „Bah ist das ekelhaft!“ und „Wieso spielt da jemand mit, der so ist?“. Von diesen Verlautbarungen war in seinem schriftlichen Vortrag keine Rede, obwohl es sich aufgedrängt hätte, diese zu schildern. Diese Variabilität des Vortrags lässt Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vortrags insgesamt aufkommen. Zum anderen erscheint es nicht nachvollziehbar, dass die Erzählung des Klägers von dem in Rede stehenden Abend auf den Satz hinausläuft „Wir haben ein bis zwei Bierchen getrunken und dann kam es zu dieser angeblichen Äußerung.“ (vgl. Seite 3 der Sitzungsniederschrift). Hätte diese Äußerung nicht stattgefunden, wäre zu erwarten gewesen, dass der Kläger dieser bei der chronologischen Wiedergabe seiner Erinnerungen auch keinen Platz eingeräumt hätte. Dies gilt erst recht für die von ihm gewählte Formulierung „dann kam es zu“.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Ferner ist seine Antwort auf die Frage des Gerichts, warum die beiden Zeugen wahrheitswidrig behaupten sollten, dass er diese Aussage getätigt habe auffällig ausweichend (vgl. Seite 5 oben der Sitzungsniederschrift). Seine Erklärung, er habe über drei Ecken erfahren, dass die Zeugen ihm bei den Ausbildern „einen reindrücken wollten“, kann er auf genauere Nachfrage nicht plausibilisieren und wirkt daher konstruiert. Er konnte keine Aussage schildern, aus der er diesen Gehalt hätte entnehmen können. Eine eigene plausible Vermutung oder Erklärung dafür, aus welchen Gründen die Zeugen ihm „einen reindrücken“ wollten liefert er nicht.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Einer weiteren Sachaufklärung bedurfte es nach alledem nicht. Insbesondere hätten die von dem Kläger benannten Zeugen keine Aussage zu den hier in Streit stehenden Geschehnissen treffen können, da sie an besagtem Abend nicht anwesend waren.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">II. Ausgehend von alledem ist der Beklagte berechtigterweise von Zweifeln an der charakterlichen Eignung des Klägers für den Polizeivollzugsdienst ausgegangen. Mit seiner Würdigung hat er die Grenzen des ihm insoweit zukommenden Beurteilungsspielraumes nicht überschritten. Seine Zweifel an der charakterlichen Eignung des Klägers für das Amt des Polizeivollzugsbeamten können – soweit gerichtlich überprüfbar – mit Blick auf das dargestellte Verhalten vielmehr als berechtigt angesehen werden. Es ist – wie eingangs dargestellt – Sache des Dienstherrn, die Maßstäbe für die Anforderungen an die persönliche Eignung eines Polizeivollzugsbeamten bzw. einer Polizeivollzugsbeamtin festzulegen und dementsprechend zu entscheiden, ob das Verhalten einer Beamtin bzw. eines Beamten die Anforderungen im Einzelfall erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Generell muss nach § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG das Verhalten von Beamtinnen und Beamten innerhalb und außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordern. Bei Beamtinnen und Beamten im Polizeivollzugsdienst darf der Dienstherr die Fähigkeit und innere Bereitschaft voraussetzen, die dienstlichen Aufgaben nach den Grundsätzen der Verfassung wahrzunehmen, insbesondere die Freiheitsrechte der Bürger zu wahren und rechtsstaatliche Regeln einzuhalten.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 1995 - 1 BvR 1397/93 -, juris, Rn. 44; OVG NRW, Beschluss vom 19. Oktober 2020 – 6 B 1062/20 –, juris, Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Mit diesen Anforderungen ist das Verhalten des Klägers nicht zu vereinbaren. Dass seine Verlautbarung nicht nur den oben dargestellten verfassungsrechtlichen Grundsätzen zuwiderläuft, sondern darüber hinaus auf tiefster Stufe steht, bedarf keiner Erläuterung; sprach sie zum einen einer ganzen Bevölkerungsgruppe die Menschlichkeit ab und sich obendrein für deren Exekution aus. Der dem Kläger von dem Beklagten gemachte Vorwurf wiegt umso schwerer, da er als Polizeivollzugsbeamter zum einen in besonderem Maße zu Neutralität und Gleichbehandlung aller Bevölkerungsgruppen und insbesondere auch zum Schutz von Minderheiten verpflichtet ist und zum anderen über eine Dienstwaffe verfügt.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Dabei ist es unerheblich, ob die in Rede stehende Entgleisung tatsächlich Ausdruck einer transphoben Gesinnung des Klägers ist oder dies - wie er beteuert - nicht der Fall ist. Der Kläger muss sich zunächst an der Aussage so festhalten und messen lassen, wie er sie getätigt hat, nämlich als menschenverachtend und mit einem eindeutigen transfeindlichen Inhalt. Aber auch dann, wenn hinter der Aussage keine transfeindliche Gesinnungslage stehen sollte, rechtfertigt sie die Annahme einer fehlenden charakterlichen Eignung. Denn in diesem Fall kommt zum Ausdruck, dass der Kläger sozial übliche Grenzen verkennt, es ihm an der nötigen emotionalen Festigkeit und Selbstkontrolle fehlt, er zwischen Spaß und Realität nicht zu unterscheiden vermag und in naiver Weise die Wirkung und Konsequenzen seines Verhaltens nicht überschaut. Dabei handelt es sich indes um persönliche Defizite, die den von dem Beklagten gezogenen Schluss auf eine fehlende charakterliche Eignung des Klägers für den Polizeivollzugsdienst zulassen. Ferner sind Beamte und Beamtinnen im Interesse der Akzeptanz und der Legitimation staatlichen Handelns verpflichtet, bereits den Schein der Identifikation mit einem dem freiheitlichen Rechtsstaat diametral entgegengesetzten Gedankengut zu vermeiden. Schon das zurechenbare Setzen eines solchen Scheins stellt eine Dienstpflichtverletzung dar. Pflichtwidrig handelt also auch der, der zwar kein Gegner der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, durch konkretes Handeln aber - wie hier - diesen Rechtsschein hervorruft.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2001 – 1 DB 15.01 –, juris, Rn. 36.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Diese Bewertung hat - ausweislich der Gründe der Entlassungsverfügung, die ersichtlich auf die Wirkung der Aussage abstellen und seiner Erläuterungen im gerichtlichen Verfahren - der Beklagte seiner Einschätzung über die charakterliche Eignung des Klägers beanstandungsfrei zugrunde gelegt. Nicht zuletzt auch aus diesen Gründen war den von dem Kläger gestellten Beweisanträgen, die sämtlich darauf abzielen, seine wirkliche Einstellung zu ergründen, nicht nachzugehen.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg beruft sich der Kläger auf die gemäß § 170 Abs. 2 StPO erfolgte Einstellung des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens. Der Beklagte hat dem mit Recht entgegengehalten, dass es für die beamtenrechtliche Bewertung des in Frage stehenden Verhaltens nicht auf eine strafrechtliche Relevanz ankomme.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Es ist weiter nicht zu beanstanden, dass auch der Umstand, dass er in seiner bisherigen Ausbildung keinen Anlass zu Beanstandungen gegeben hat, aus Sicht des Beklagten nichts daran ändert, dass das Vertrauen in seine persönliche charakterliche Eignung aufgrund der von ihm getätigten Äußerung als endgültig erschüttert anzusehen ist. Treten nämlich - wie hier - charakterlichen Mängel des Betreffenden hinreichend deutlich zu Tage können bereits aus einem einmaligen Fehlverhalten des Betreffenden begründete Zweifel an der charakterlichen Eignung abgeleitet werden.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 20. Juli 2016 - 2 B 17.16 -, juris, Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Entlassungsverfügung erweist sich auch nicht als ermessensfehlerhaft. Sie erweist sich insbesondere nicht deshalb als unverhältnismäßig, weil die darin ausgesprochene Entlassung aus dem Polizeivollzugsdienst dem Kläger die Gelegenheit zur Beendigung des Vorbereitungsdienstes und Ablegung der Prüfung nimmt. Zwar bestimmt § 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG, dass Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst in der Regel die Möglichkeit erhalten sollen, den Vorbereitungsdienst zu beenden und die Prüfung abzulegen. Die genannte Vorschrift schränkt die Möglichkeit der Entlassung nicht nur dort ein, wo der Vorbereitungsdienst als allgemeine Ausbildungsstätte im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu qualifizieren ist, sondern auch dort, wo - wie hier - ein Vorbereitungsdienst für eine Beamtenlaufbahn abgeleistet wird, dessen Abschluss nicht den Zugang zu einer Beschäftigung außerhalb des Beamtenverhältnisses ermöglicht.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Näher OVG NRW, Beschluss vom 16. August 2016 - 6 B 656/16 -, juris, Rn. 4 ff. m w. N., sowie OVG Bremen, Beschluss vom 13. Juli 2018 - 2 B 174/18 -, juris, Rn. 9, und OVG SH, Beschluss vom 5. Januar 2018 - 14 MB 2/17 -, juris, Rn. 5; a. A. etwa BayVGH, Beschluss vom 12. Dezember 2011 – 3 CS 11.2397 -, juris Rn. 34.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">§ 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG steht jedoch im Streitfall der Entlassung des Klägers vor Ende des Vorbereitungsdienstes nicht entgegen. Eine Entlassung kann danach gerechtfertigt sein, wenn der Beamte das Ziel des Vorbereitungsdienstes, nämlich den Erwerb der Befähigung für die angestrebte Laufbahn, aufgrund nachhaltig unzureichender Leistungen auch bei wohlwollender Betrachtung aller Voraussicht nach nicht erreichen wird und die Fortsetzung der Ausbildung damit sinnlos ist, oder wenn begründete Zweifel an seiner gesundheitlichen oder persönlichen Eignung gegeben sind.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2010 - 2 B 47.09 -, juris, Rn. 6, und Urteil vom 9. Juni 1981 - 2 C 48.78 -, juris, Rn. 21; OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2012 - 6 B 776/12 -, juris, Rn. 13, und Urteil vom 3. September 2009 - 6 A 3083/06 -, juris, Rn. 117.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Bei einem Vorbereitungsdienst, der - wie hier, s.o. - keine allgemeine Ausbildungsstätte im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG darstellt, sondern mit dem der Staat für seinen eigenen Bedarf ausbildet, darf der Dienstherr dabei die persönliche Eignung an den Maßstäben messen, die er für die Übertragung eines Amtes auf Lebenszeit zugrunde legt.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2019 - 6 B 1551/18 -, juris, Rn. 22, und Urteil vom 3. September 2009 - 6 A 3083/06 -, juris, Rn. 121; OVG Bremen, Beschluss vom 13. Juli 2018 – 2 B 174/18 -, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend ist im Streitfall die Entscheidung des Beklagten, den Kläger bereits vor Ende des Vorbereitungsdienstes zu entlassen, nicht zu beanstanden. Der Beklagte hegt – wie dargelegt – berechtigterweise erhebliche Zweifel an der charakterlichen Eignung des Klägers, die seiner Übernahme in ein Beamtenverhältnis auf Probe bzw. auf Lebenszeit entgegenstehen würden. Dann ist es gerechtfertigt, dem Beamten die Möglichkeit der Ableistung des Vorbereitungsdienstes im Sinne des § 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG zu verwehren. Dies eröffnet ihm zugleich die Möglichkeit einer beruflichen Neuorientierung.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu einem vergleichbaren Fall OVG NRW, Beschluss vom 30. Dezember 2020 – 6 B 827/20 –, juris, Rn. 54.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Angesichts der erheblichen Zweifel an der charakterlichen Eignung des Klägers ist sein Verbleib in der Ausbildung im Übrigen auch deshalb auszuschließen, weil diese in ihren praktischen Übungen Elemente enthält, bei denen er den Bürgern in der Öffentlichkeit in Uniform und bewaffnet gegenüber treten müsste.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu dieser Wertung hinsichtlich des Polizeivollzugsdienstes OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2015 – 6 B 326/15 –, juris, Rn. 25.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte ist deshalb mit Recht unter Verweis auf das Interesse an der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Funktion und Integrität des Dienstbetriebes und der polizeilichen Arbeit zu der Einschätzung gelangt, dass eine Fortsetzung der Ausbildung durch den Kläger und ein Abwarten bis zur Entscheidung über die Verbeamtung auf Probe nicht tragbar wäre.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des streitigen Teils auf § 154 Abs. 1 VwGO und hinsichtlich des erledigten Teils auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Es entspricht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes der Billigkeit, die Kosten auch hinsichtlich des erledigten Teils dem Kläger aufzuerlegen. Zum einen, weil nach oben Gesagtem alles dafür spricht, dass auch eine sofortige Freistellung vom Dienst unter Fortzahlung der Bezüge (dabei handelt es sich um die Rechtsfolge des § 39 Satz 1 BeamtStG, dessen Voraussetzungen hier vorliegen) rechtlich nicht zu beanstanden war. Zum anderen würde aber (entsprechend dem Rechtsgedanken des § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO) ein Obsiegen in dieser Hinsicht auch einen lediglich geringfügigen Teil des Klageinteresses des Klägers ausmachen. Ferner wirkt sich die sofortige Freistellung vom Dienst unter Fortzahlung der Bezüge auch nicht streitwerterhöhend aus, da ihr ein einheitliches Interesse des Klägers zugrunde liegt.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen,</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss:</strong></p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 GKG auf die Wertstufe bis 9.000,- Euro festgesetzt.</strong></p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
|
346,178 | fg-dusseldorf-2022-07-26-10-k-269221-kg | {
"id": 790,
"name": "Finanzgericht Düsseldorf",
"slug": "fg-dusseldorf",
"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Finanzgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 10 K 2692/21 Kg | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-08-13T10:01:58 | 2022-10-17T17:55:56 | Urteil | ECLI:DE:FGD:2022:0726.10K2692.21KG.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Der Ablehnungsbescheid vom 01.07.2021 sowie die Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 werden aufgehoben.</strong></p>
<p><strong>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.</strong></p>
<p><strong>Die Revision wird nicht zugelassen.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Streitig ist, ob die Beklagte für eine Entscheidung über den Kindergeldanspruch des Klägers für seinen Bruder <em>Z</em> (geboren am <em>...</em>) zuständig ist.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><em>Z</em> leidet mit einem Grad der Behinderung von 100 unter Trisomie 21. Er lebt im Wohnheim ... in <em>A-Stadt</em> und arbeitet entsprechend seinen Möglichkeiten ...in <em>B-Stadt</em> – Kreis <em>C-Stadt</em> in <em>A-Stadt</em>.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Bis zu ihrem Versterben am 01.05.2021 bezog die Mutter <em>(M)</em> von <em>Z</em> und dem Kläger, für <em>Z</em> laufend Kindergeld (letzte Festsetzung mit Bescheid vom 04.05.2015). Frau <em>M</em> erhielt nach dem Versterben ihres Ehemanns und Vaters von <em>Z</em> und dem Kläger eine Pension, die sich aufgrund der aktiven Dienstzeit des Ehemanns bei der Stadt <em>B</em> ergab. Ihre Kindergeldangelegenheit wurde seit Januar 2020 von der Beklagten bearbeitet. Diese hielt bei der Erst-Speicherung der Kindergeldsache den Vermerk „Maschinelle Übernahme des Kindergeldfalls von der Familienkasse ...-Stadt <em>B</em>“ fest und speicherte das Schutzkennzeichen „T - Behindertes Kind“.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 09.06.2021 beantragte der Kläger, der als <em>Manager</em> in der freien Wirtschaft tätig ist, gegenüber der Bundesagentur für Arbeit – Familienkasse <em>B</em> (nachfolgend Familienkasse <em>B</em>) in eigenem Namen für <em>Z</em> ab Juni 2021 Kindergeld. Da die Familienkasse <em>B</em> die Beklagte <em>(Familienkasse A)</em> für die Bearbeitung des Kindergeldantrags zuständig hielt, wurde dieser an die Beklagte weitergleitet und von ihr mit Bescheid vom 01.07.2021 abgelehnt. Sie verwies darauf, dass der Kläger seinen Bruder niemals in seinen Haushalt aufgenommen habe.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dagegen legte der Kläger bei der Beklagten Einspruch ein und monierte, dass die Beklagte ausschließlich auf eine Haushaltszugehörigkeit abgestellt habe. Sie habe, ohne weitere Auskünfte und Nachweise von ihm eingeholt zu haben, eine Prüfung eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch das Vorliegen einer Verbundenheit aufgrund eines familienähnlichen und auf Dauer berechneten Bandes unterlassen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, eine räumliche Trennung stehe einer Haushaltsaufnahme zwar nicht entgegen. Die auswärtige Unterbringung dürfe jedoch nur von vorübergehender Natur sein. Davon könne im Allgemeinen ausgegangen werden, wenn das Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten regelmäßig in den Haushalt der Pflegeperson zurückkehre. <em>Z</em> sei jedoch nicht im Haushalt des Klägers. Er lebe durchgehend in einem Wohnheim. Das Wort durchgehend sei an dieser Stelle maßgeblich.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dagegen hat der Kläger am 06.12.2021 Klage erhoben. Zur Begründung weist er auf die von ihm – auch schon vor dem Versterben der Mutter – übernommene tatsächliche Betreuung seines Bruders, insbesondere an den Wochenenden, hin. Zudem sei er bereits seit dem Jahr 1995 der gesetzliche Betreuer von <em>Z</em>. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Klagebegründung Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Aus welchem Grund die Familienkasse <em>B</em> davon ausgegangen sei, für seinen Kindergeldantrag unzuständig zu sein und diesen an die Beklagte übermittelt habe, entziehe sich seiner Kenntnis.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">den Ablehnungsbescheid vom 01.07.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"> die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Sie ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen zur Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG nicht vorlägen bzw. nicht hinreichend dargetan und belegt worden seien. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Klageerwiderung Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich ihrer Zuständigkeit trägt sie vor, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA) mit Beschluss Nr. 23/2018 vom 20.09.2018 (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit – ANBA –, Monatsheft Oktober 2018, veröffentlicht im Internet unter www.Statistik.Arbeitsagentur.de >Statistiken >Statistiken aktuell >Monatsbericht) gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Familienkassen ab dem 01.06.2019 neu geregelt habe. Für Personen mit besonderem Schutzbedürfnis sei sie seitdem zuständig. Das gelte grundsätzlich für alle Fälle, die mit einem Schutzkennzeichen versehen seien. So fielen hierunter auch Fälle, in denen das von einer Klärung betroffene Kind kein Kind mit Behinderung sei (der gesamte Fall mit Geschwisterkindern sei vom Schutz umfasst), sowie Mitarbeiter*innen-Fälle, die ebenfalls ein besonderes Schutzkennzeichen hätten. Hintergrund sei, dass solche Fälle eines personell eingeschränkten Bearbeitungsumfangs bedürften. Außerdem führten die Schutzkennzeichen dazu, eine unberechtigte telefonische Auskunft durch die Servicecenter zu verhindern. Mit der Konzentration der betroffenen Fälle bei ihr und der Zusammenfassung von Auskunftserteilung und Sachbearbeitung könne eine besondere Sensibilisierung der Bearbeiter erfolgen. Durch die Verringerung der Anzahl zugriffsberechtigter Bearbeiter werde dem Schutzbedürfnis der betroffenen Kindergeldberechtigen bzw. der Kinder Rechnung getragen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Zudem seien nach einer Weisung vom 20.03.2021 Kindergeldfälle mit Kindern mit Behinderungen und Bezug zum öffentlichen Dienst aufgrund der in der Akte enthaltenen Gesundheitsdaten nach Art. 9 der Datenschutz-Grundverordnung besonders schützenswert.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus werde durch die Zentralisierung bei ihr dem Erfordernis eines zentralen Ansprechpartners gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 5 FVG vollständig entsprochen. Zweck der Konzentrierung sei die Gewährleistung einer serviceorientierten Ansprechpartnerfunktion für die kindergeldberechtigten Personen. Dabei sei der Bezug zum öffentlichen Dienst lediglich exemplarisch aufgeführt und keinesfalls abschließend. Dies ergebe sich bereits aus der Formulierung, die stets offen und keinesfalls abschließend auf Fälle mit Bezug zum öffentlichen Dienst Bezug nehme.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen obliege ihr die Steuerung und Führung der regionalen Familienkassen. Dies beinhalte vor allem die fachliche Sicherstellung einer einheitlichen und richtigen Rechtsanwendung. Somit obliege ihr die Gesamtverantwortung für die zugewiesene Aufgabe des Familienleistungsausgleiches in Form des Kindergeldes. Bereits aus dieser Gesamtverantwortung lasse sich ableiten, dass sie zumindest auch fachlich zuständig sei und anstelle der regionalen Familienkasse entscheiden könne. Insoweit handele es sich bei der Zuordnung zu ihr nicht um eine Zuordnung zu einer anderen (regionalen) Familienkasse, der die Zuständigkeit aufgrund eines Vorstandsbeschlusses zuzuweisen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Des Weiteren weist die Beklagte auf den Vorstandsbeschluss der BA Nr. 12/2022 vom 27.01.2022 (ANBA, Monatsheft Mai 2020) hin. In diesem Beschluss werde der Zentrale Kindergeldservice (ZKGS) zum 01.02.2022 formal gegründet und die Beklagte zu einer 15. Familienkasse bestimmt. Die derzeit als ZKGS bestehende operative Organisationseinheit der Familienkasse Direktion gehe künftig hierin auf. Der ZKGS sei unabhängig vom Wohnortprinzip für diejenigen Kindergeldfälle zuständig, deren Daten besonderen Schutzbedarfen unterlägen. Die vorliegende Kindergeldsache falle nach Ziff. 2.1.5 der Anlage 1 zum Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 in ihren sachlichen Zuständigkeitsbereich. Das Beschäftigungsverhältnis des Klägers sei dabei nicht relevant.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist zudem der Ansicht, dass durch den Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 jedenfalls eine Heilung eingetreten sei, weshalb ohne weitere zeitliche Verzögerung eine Entscheidung in der Sache über den Kindergeldanspruch des Klägers getroffen werden könne. Darüber hinaus vertritt sie die Auffassung, dass der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung schlicht mit neuem Datum erlassen werden müssten, wenn es bei der Aufhebung durch das Gericht bliebe.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat die Kindergeldakte zum Verfahren beigezogen. Auf den übersandten Verwaltungsvorgang und auf die Schriftsätze der Beteiligten wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">I. Der ablehnende Bescheid vom 01.07.2021 und die Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 waren aufzuheben, weil sie rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Denn der ablehnende Bescheid und die Einspruchsentscheidung wurden von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen und sind deshalb verfahrensfehlerhaft und rechtswidrig (vgl. dazu auch § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b der Abgabenordnung – AO –).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG wird das Kindergeld von den Familienkassen durch Bescheid festgesetzt (und ausgezahlt). Die sich daraus ergebende Zuständigkeit umfasst zugleich die Befugnis, die Kindergeldfestsetzung abzulehnen, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">1. Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich gemäß § 16 AO, soweit nichts anderes bestimmt ist, nach den einschlägigen Regelungen des FVG. Insoweit sieht § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG in der im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 01.07.2021 geltenden Fassung vor, dass dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) die Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG obliegt. Die BA stellt dem BZSt zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG). Entsprechend bestimmt § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO, dass auch die Familienkassen Finanzbehörden im Sinne der AO sind.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Vorstand der BA kann darüber hinaus innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG in der beim Erlass des Ablehnungsbescheides vom 01.07.2021 gültigen Fassung benennt die BA für die besonderen Belange der Personen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst-, Amts- oder Ausbildungsverhältnis zum Bund stehen oder Versorgungsbezüge nach bundesbeamten- oder soldatenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen erhalten oder Arbeitnehmer des Bundes oder einer sonstigen Körperschaft, einer Anstalt oder einer Stiftung des öffentlichen Rechts im Bereich des Bundes sind, als Familienkasse zentrale Ansprechpartner.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2. Die sachliche Zuständigkeit beschreibt gegenständlich den Tätigkeitsbereich einer Behörde, also die Zuordnung einer bestimmten Aufgabe des materiellen Sachrechts an eine Verwaltungseinheit. Sie bestimmt Gegenstand, Inhalt und Umfang der zugewiesenen Aufgaben; dabei kann es sich um die Zuordnung einer bestimmten Aufgabe oder eines beschränkten oder umfassenden Aufgabenbereichs an eine Behördenart oder an eine einzelne Behörde handeln. Aus der sachlichen Zuständigkeit folgen das Recht und die Pflicht einer Behörde, innerhalb des ihr zugewiesenen Aufgabenbereichs tätig zu werden. Eine Behörde ist nur für den ihr zugewiesenen Aufgabenkreis zuständig und darf nur im Rahmen ihrer sachlichen Zuständigkeit tätig werden (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 25.02.2021 – III R 36/19, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2021, 712 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die sachliche Zuständigkeit muss wegen des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes – GG –) und als wesentliche Regelung des Verwaltungsverfahrens in einem grundrechtlich geschützten Bereich – wie er im Fall des Familienleistungsausgleichs vorliegt – durch Gesetz i.S. des § 4 AO geregelt werden (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber ergibt sich aus den Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche von mehreren sachlich zuständigen Behörden der gleichen hierarchischen Stufe eines Verwaltungsträgers die Verwaltungstätigkeit durchzuführen hat. Die örtliche Zuständigkeit ist die Kompetenz, in einem räumlich begrenzten Wirkungsbereich (Bezirk) tätig werden zu dürfen und zu müssen, wobei sich die konkret örtlich zuständige Finanzbehörde erst anhand der Regelungen über den Sitz und den Bezirk der jeweiligen Finanzbehörde feststellen lässt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">3. Es ist bereits zweifelhaft, ob es sich bei der Beklagten in organisationsrechtlicher Hinsicht um eine Familienkasse handelt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Zwar sieht § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG vor, dass die BA dem BZSt zur Durchführung der diesem obliegenden Aufgaben des Familienleistungsausgleichs ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung stellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit zugleich eine Familienkasse darstellt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vielmehr hat die BA mit Beschluss des Vorstands vom 18.04.2013 (21/2013, ANBA, Monatsheft Mai 2013) im Rahmen der Neuorganisation der Familienkassen 14 Familienkassen am Sitz bestimmter Agenturen für Arbeit bestimmt. In diesem Beschluss wurde der Beklagten dagegen keine Funktion als Familienkasse zugewiesen. Sie wurde dort nicht einmal benannt. Nach der Neuorganisation wurde sie als besondere Dienststelle i.S. des § 367 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch (SGB III) fortgeführt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Auch in dem Vorstandsbeschluss vom 20.09.2018, in dem die Beklagte erstmals als zuständige Behörde überhaupt aufgeführt wurde, oder in dem diesen teilweise ändernden Vorstandsbeschluss vom 24.10.2019 (33/2019, ANBA, Monatsheft April 2020), der wiederum inzwischen durch den Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 weitestgehend aufgehoben wurde, wird der Beklagten nicht die Funktion einer Familienkasse zugewiesen, sondern diese lediglich gleichsam vorausgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass mit den vorgenannten Beschlüssen vom 20.09.2018 oder vom 24.10.2019 eine Benennung der Beklagten als Familienkasse i.S. des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG einhergegangen ist. Denn die Beklagte wird schlicht als zuständige Behörde aufgeführt. Ein Verweis auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG oder auf eine Stellung als Ansprechpartner nennen die Vorstandsbeschlüsse nicht.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Daran ändert auch der Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 nichts. Durch diesen mag eine 15. Familienkasse geründet worden sein. Dies ist aber nicht die Beklagte; denn nach Ziff. 1 des Anhangs zum Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 wurde zum 01.02.2022 der „Zentrale Kindergeldservice (ZKGS) mit Hauptstandort in <em>D-Stadt</em> (Agentur für Arbeit <em>E-Stadt</em>)“ gegründet. Eine Verknüpfung mit der Beklagten findet nicht statt. Dass bei der Beklagten (auch) eine Abteilung, Referat, Dezernat o.ä. mit dem Namen „Zentraler Kindergeldservice“ eingerichtet ist, macht weder die Beklagte als gesamte Behörde noch die bei ihr eingerichtete Abteilung „Zentraler Kindergeldservice“ durch den Beschluss vom 27.01.2022 zu einer Familienkasse.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">4. Ungeachtet einer zweifelhaften Eigenschaft als Familienkasse mangelt es aber jedenfalls an einer Regelung, die der Beklagten die sachliche Zuständigkeit für die streitgegenständliche Kindergeldsache zuweist.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Nach der Neuorganisationsentscheidung der BA bestanden im Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 14 Familienkassen. Diese waren deshalb sachlich zuständig (vgl. BFH-Urteil vom 19.01.2017 – III R 31/15, BStBl II 2017, 642). Die Beklagte stellt keine dieser 14 Behörden dar.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Eine sachliche Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich auch nicht infolge der Ermächtigung zur Benennung zentraler Ansprechpartner nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG. Es kann dahinstehen, ob durch Ziff. 2.1.3 des Beschlusses vom 24.10.2019 die Beklagte i.S. des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG (wirksam) als zentraler Ansprechpartner benannt wurde und ob dies bejahendenfalls zur Begründung einer sachlichen Zuständigkeit führte. Denn die Regelung der Ziff. 2.1.3 des Beschlusses vom 24.10.2019 findet auf den streitigen Kindergeldanspruch jedenfalls deshalb keine Anwendung, weil der Kläger als potenzieller Kindergeldberechtigter bereits nicht im öffentlichen Dienst, sondern als <em>Manager</em> in der freien Wirtschaft beschäftigt ist. Der Bezug zum öffentlichen Dienst ergab sich seinerzeit, weil der Vater des Klägers bei der <em>B-Stadt</em> beschäftigt war und aufgrund dieser Tätigkeit die Mutter nach dem Versterben ihres Ehemanns bis zu ihrem Tod Altersbezüge erhielt (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 1 EStG). Mit dem Versterben der Mutter entfiel ihre Kindergeldberechtigung und konnte als Anknüpfung für eine etwaige sachliche Zuständigkeit der Beklagten nicht (länger) dienen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Auch ergibt sich durch den Beschluss vom 27.01.2022 keine sachliche Zuständigkeit der Beklagten. Die Kindergeldsache des Klägers mag möglichweise unter Ziff. 2.1.5 des Anhangs 1 zum Beschluss vom 27.01.2022 zu subsumieren sein. Als zuständige Familienkasse ist dort aber nicht die Beklagte aufgeführt, sondern der Zentrale Kindergeldservice in <em>E-Stadt</em>. Selbst wenn eine Identität der Beklagten mit dem Zentralen Kindergeldservice in <em>E-Stadt</em> oder eine Rechtsnachfolge anzunehmen wäre, wäre die Zuständigkeit frühestens zum 01.02.2022 begründet worden (vgl. Ziff. 1 des Anhangs 1 zum Beschluss vom 27.01.2022), also nach Erlass des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 und der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Es kann darüber hinaus dahinstehen, ob § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG der BA abschließend die Ermächtigung einräumt, für diejenigen Kindergeldangelegenheiten, in denen besondere Belange von Personen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst-, Amts- oder Ausbildungsverhältnis zum Bund stehen oder Versorgungsbezüge nach bundesbeamten- oder soldatenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen erhalten oder Arbeitnehmer des Bundes oder einer sonstigen Körperschaft, einer Anstalt oder einer Stiftung des öffentlichen Rechts im Bereich des Bundes sind, als Familienkasse einen zentralen Ansprechpartner zu benennen oder ob § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG – wie die Beklagte vertritt – auch eine Ermächtigung zur Benennung eines zentralen Ansprechpartners für weitere Kindergeldfälle, wie dem vorliegenden, in dem der Kindergeldanspruch für ein Kind mit Behinderung streitig ist, enthält. Denn die BA hat für den Fall eines Kindergeldanspruchs für ein Kind mit Behinderung von einer etwaigen Ermächtigung durch § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG jedenfalls im Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 sowie der Einspruchsentscheidung keinen Gebrauch gemacht. Weder mit Vorstandsbeschluss vom 20.09.2018 noch dem diesen teilweise ändernden Beschluss vom 24.10.2019 wird der Beklagten die Zuständigkeit für Fälle, die Kindergeldansprüche für ein Kind mit Behinderung betreffen, zugewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids und der Einspruchsentscheidung sind keine anderen förmlichen Regelungen ersichtlich und wurden von der Beklagten auch nicht angeführt, durch die die BA von der Ermächtigung zur Benennung eines zentralen Ansprechpartners für Fälle, die Kindergeldansprüche für ein Kind mit Behinderung betreffen, Gebrauch gemacht haben könnte. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass interne Weisungen der BA (z.B. die interne Weisung vom 20.03.2021 „202103022 – Änderung der Zuständigkeit für Kindergeldfälle mit Kindern mit Behinderung und Bezug zum öffentlichen Dienst“, die im Klageverfahren von der Beklagten nicht vorgelegt wurde, dem Gericht aber aus anderen Kindergeldverfahren bekannt ist) zur wirksamen Benennung eines zentralen Ansprechpartners ausreichend wären, so können solche Weisungen jedenfalls nur zu einer internen Organisation und Aufgabenverteilung führen. Für die Ausübung hoheitlicher Befugnisse – wie vorliegend der Kindergeldfestsetzung bzw. deren Ablehnung – bedarf es im Bereich der Eingriffsverwaltung einer förmlichen, also insbesondere nach außen bekannt gemachten Zuständigkeitsregelung (so auch Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 28.09.2021 – 9 K 273/21 Kg, juris).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Andere Umstände, die eine sachliche Zuständigkeit der Beklagten begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere der Verzicht der <em>B-Stadt</em> gemäß § 72 Abs. 1 Satz 3 EStG zum 01.01.2020 (vgl. Bekanntmachung des BZSt vom 13.10.2020 St II 2 - S 2479-PB/19/00002) begründet keine Zuständigkeit der Beklagten. Die Zuständigkeit für die Festsetzung und Auszahlung des Kindergeldes geht durch den Verzicht auf die Familienkassen der BA über, zu denen die Beklagte wie dargestellt nicht zählt.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Eine sachliche Zuständigkeit kann auch nicht – wie die Beklagte meint – aus einer fachlichen Gesamtverantwortung infolge der Steuerung und Führung der regionalen Familienkassen abgeleitet werden. Eine derartige Rechts- oder Fachaufsicht führt nicht per se zu einem sog. Selbsteintrittsrecht, also dem Recht, die Befugnisse der nachgeordneten Behörden selbst auszuüben. Unter Beachtung des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) muss das eine außerordentliche sachliche Zuständigkeit begründende Selbsteintrittsrecht gesetzlich geregelt sein. Einer solchen Regelung entbehrt es jedoch vorliegend.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Der Beklagten mag zuzustimmen sein, dass für Kindergeldfälle mit besonderem Schutzbedürfnis das Bedürfnis nach einer zentralen Bearbeitung (bei ihr) besteht. Dieses Bedürfnis vermag aber eine fehlende Regelung der sachlichen Zuständigkeit nicht überwinden.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">5. Da somit für Kindergeldangelegenheiten im Allgemeinen mehrere sachlich zuständige Behörden gleicher hierarchischer Stufe vorhanden waren, bestimmen die Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche die für den Kläger im Speziellen zuständige Familienkasse ist. Örtlich zuständig ist grundsätzlich die Familienkasse, in deren Bezirk der Kindergeldberechtigte seinen Wohnsitz hat (§ 19 Abs. 1 Satz 1 AO; BFH-Urteil vom 25.09.2014 – III R 25/13, BStBl II 2015, 847). Im Streitfall ist dies wegen des klägerischen Wohnsitzes in <em>A-Stadt</em>, also im Bezirk der Agentur für Arbeit <em>F-Stadt</em>, die Familienkasse <em>B</em> (vgl. Vorstandsbeschluss vom 18.04.2013, 21/2013, ANBA, Monatsheft Mai 2013).</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus dem auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gestützten und im Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 und der Einspruchsentscheidung maßgeblichen Beschluss des Vorstands der BA vom 24.10.2019. In Ziff. 2.1.3 des Beschlusses vom 24.10.2019 ist die Beklagte zwar – wie bereits dargestellt – als zuständige Behörde aufgezählt, die dort genannten Voraussetzungen liegen aber wegen der Beschäftigung des Klägers in der freien Wirtschaft bereits nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">6. Der Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit führt nicht zur Nichtigkeit der betreffenden Verwaltungsakte nach § 125 Abs. 1 AO. Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b AO können Verwaltungsakte aufgehoben oder geändert werden, wenn sie von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden sind. Da die Aufhebbarkeit einen wirksamen Verwaltungsakt voraussetzt, folgt aus den Vorschriften, dass sachlich unzuständiges Handeln grundsätzlich nicht zur Nichtigkeit führt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712). Auch sind im Streitfall keine Umstände ersichtlich, die für einen besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehler sprechen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">7. Auch ist durch den Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 (12/2022, ANBA, Monatsheft Mai 2020) keine (nachträgliche) Heilung eingetreten. Selbst wenn – wie bereits erwähnt – die Kindergeldsache des Klägers unter Ziff. 2.1.5 des Anhangs 1 zum Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 zu subsumieren wäre und unter der Annahme der Identität der Beklagten mit dem Zentrale Kindergeldservice in <em>E-Stadt</em> oder zumindest einer Rechtsnachfolge, konnte keine Heilung eintreten.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Eine Heilung von Fehlern sieht das Gesetz in § 126 AO vor. Die Norm enthält einen Katalog von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – z.T. sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände; er ist angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift abschließend. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Fälle sind damit von einer Heilungswirkung ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 126 AO Rn. 16; von Wedelstädt in Gosch, AO/FGO, § 126 AO Rn. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 126 AO Rn. 3).</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vorliegend ist zum einen zu beachten, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit in § 126 AO nicht aufgeführt ist. Zum anderen ist die für eine Heilung in Betracht kommende Handlung – hier ein konstituierender Vorstandsbeschluss – in § 126 AO nicht aufgeführt. Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO sieht vielmehr Handlungen einer Behörde (oder eines Ausschusses) oder des Steuerpflichtigen vor, die zu einer Heilung führen können. Konstituierende Handlungen z.B. eines Normgebers sind nicht benannt.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Für eine Extension im Wege der Analogie ist darüber hinaus grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">8. Der Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte steht auch § 127 AO nicht entgegen. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Die Vorschrift erwähnt nur die Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit, nicht dagegen den Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit. Die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit fallen auch nicht unter die in § 127 AO genannten Verfahrensvorschriften (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 21.03.2022 klarstellend zum Ausdruck gebracht, dass es ihm entgegen der möglichweise anders auszulegenden Formulierung in der Klageschrift entscheidend allein um die Aufhebung des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung ging, womit er obsiegt hat.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">III. Die Revision war nicht zuzulassen. Die Frage, ob die Beklagte in gesetzmäßiger Weise zur Familienkasse bestimmt und ihre Zuständigkeit klar und eindeutig geregelt wurde und – falls dies zu bejahen sein sollte – die streitgegenständliche Entscheidung rechtfertigt, ist zwar höchstrichterlich nicht geklärt. Aufgrund des Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 ist jedoch davon auszugehen, dass derartige Fälle künftig vom Zentrale Kindergeldservice in <em>E-Stadt</em> bearbeitet werden, mit der Folge, dass die dargestellte Fragestellung keine Breitenwirkung entfaltet.</p>
|
346,040 | olgkarl-2022-07-26-2-rv-21-ss-26222 | {
"id": 146,
"name": "Oberlandesgericht Karlsruhe",
"slug": "olgkarl",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 2 Rv 21 Ss 262/22 | 2022-07-26T00:00:00 | 2022-08-03T10:01:13 | 2022-10-17T17:55:35 | Entscheidung | <h2>Tenor</h2>
<p>Dem Bundesgerichtshof wird gemäß § 121 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 Nr. 1 lit. b GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:</p>
<blockquote>
<blockquote>
<p>Entfalten die §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung eine Sperrwirkung (privilegierende Spezialität), die bei Vorlage eines Impfausweises mit gefälschten Eintragungen über den Erhalt von Covid-19 Schutzimpfungen in einer Apotheke zur Erlangung eines digitalen Covid-19-Impfzertifikats einen Rückgriff auf § 267 Abs. 1 StGB ausschließt und einer Verurteilung nach dieser Vorschrift entgegensteht?</p>
</blockquote>
</blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td>I.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Das Amtsgericht L. hat den Angeklagten mit Urteil vom 08.02.2022 wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 150,00 EUR verurteilt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Zur Tat hat der Strafrichter folgende Feststellungen getroffen:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="3"/>„Am 03.11.2021 gegen 16.30 Uhr legte der Angeklagte in der Apotheke, H., der dortigen Mitarbeiterin B. einen auf ihn ausgestellten Impfpass vor, in dem zwei Schutzimpfungen gegen COVID-19 vom 10.06.2021 und 15.07.2021 durch das Zentrale Impfzentrum F. mit Stempel und Unterschrift vermerkt sind, um eine digitale Impfbestätigung zu erhalten. Diese Eintragungen stammten, wie er wusste, nicht vom Zentralen Impfzentrum F.. Die Zeugin B. erkannte die Fälschung und verständigte die Polizei. Durch die Vorlage des Dokuments wollte der Angeklagte gegenüber der Apotheke einen tatsächlich nicht bestehenden vollständigen COVID-19 Impfschutz vortäuschen, um mit Hilfe des digitalen Impfzertifikats weiter am öffentlichen Leben (Restaurants, öffentliche Veranstaltungen, Einkaufen etc.) teilhaben zu können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="4"/>Die Impfpassfälschung erhielt der Angeklagte von einer ihm nicht näher bekannten Person in einem Club in B.. Er bezahlte dafür 250 SFr. Er nahm das entsprechende Angebot an, weil er es ablehnt, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen, sich dadurch aber vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen fühlte.“</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Im Rahmen der Beweiswürdigung ist folgendes ausgeführt:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="6"/>„...der vom zentralen Impfzentrum F. verwendete Stempel [enthalte] stets auch eine Namensangabe, was beim Impfausweis des Angeklagten nicht der Fall gewesen sei“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Revision, die er mit der Sachrüge begründet und hierzu ausgeführt hat, dass das Amtsgericht die Sperrwirkung der §§ 277 ff. StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) gegenüber dem Tatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 StGB verkannt habe. Der Angeklagte sei daher aus Rechtsgründen freizusprechen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat mit Schrift vom 20.04.2022 beantragt, die Revision des Angeklagten durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen. Das Urteil lasse keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen. Der Angeklagte hatte über seinen Verteidiger Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, hat sich aber nicht geäußert.</td></tr></table>
<table><tr><td>II.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der Senat kann über die Revision des Angeklagten nicht entscheiden, ohne entweder von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle vom 31.05.2022 (OLG Celle, Urteil vom 31. Mai 2022 – 1 Ss 6/22 –, juris) oder von der Entscheidung des Bayrischen Obersten Landgerichts vom 03.06.2022 (BayObLG, Beschluss vom 03.06.2022 - 207 StRR 155/22 - BeckRS 2022, 13743) abzuweichen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 1976 – 5 StR 240/76 –, BGHSt 26, 384-387).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Die vorgelegte Rechtsfrage ist auch entscheidungserheblich, weil über das Rechtsmittel des Angeklagten nicht unabhängig von der Beantwortung der Vorlagefrage entschieden werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen tragen den wegen einer Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB getroffenen Schuldspruch und beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung, die von dem Amtsgericht ausgehend von der geständigen Einlassung des Angeklagten gewissenhaft und lückenlos, widerspruchsfrei und ohne Verstoß gegen Denkgesetze oder gegen allgemeine Erfahrungssätze vorgenommen wurde, wobei die Angaben des Angeklagten von den Aussagen des Ermittlungsbeamten bestätigt und ergänzt wurden.</td></tr></table>
<table><tr><td>III.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Der Senat sieht sich an der Verwerfung der Revision durch die Entscheidung des Bayrischen Obersten Landgerichts vom 03.06.2022 gehindert, weil dort die tragende Rechtsauffassung vertreten wird, dass die §§ 277 StGB a.F. eine Sperrwirkung (privilegierende Spezialität) gegenüber dem Tatbestand des § 267 StGB entfalten und einen Rückgriff auf diese Vorschrift ausschließen:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>So sei bei Vorlage eines Impfpasses, der gefälschte Eintragungen über Covid-19 Schutzimpfungen enthält, der Tatbestand des § 267 Abs. 1 StGB zwar grundsätzlich erfüllt, diese Vorschrift werde jedoch durch die §§ 277 ff. StGB a.F. verdrängt und sei daher nicht anwendbar. Es handle sich bei den §§ 277 ff. StGB a.F. gegenüber § 267 StGB um einen Fall privilegierender Spezialität, so dass ein Rückgriff auf die allgemeinere Norm auch dann ausgeschlossen sei, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der spezielleren Norm nicht erfüllt sind (BayObLG, a.a.O., Rn. 10, 11, 18). Der systematischen Stellung der Vorschriften und der Gesetzgebungsgeschichte der §§ 277 StGB a.F. sei die Absicht des Gesetzgebers zu entnehmen, mit diesen ein allgemeines Sonderstrafrecht für bestimmte Umgangsformen mit unrichtigen Gesundheitszeugnissen zu schaffen (BayObLG, a.a.O., Rn. 13).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Der Senat kann der Revision aber auch nicht stattgeben und den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freisprechen, weil er dann von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle vom 31.05.2022 (a.a.O.) abweichen müsste, in der die tragende Rechtsauffassung vertreten wird, dass bei Vorlage eines Impfpasses mit gefälschten Eintragungen über den Erhalt von Covid-19 Schutzimpfungen in einer Apotheke zur Erlangung eines digitalen Impfpasszertifikats der Tatbestand des § 267 Abs. 1 StGB erfüllt sei und auch nicht durch § 279 StGB a.F. verdrängt werde. Es bestehe keine Sperrwirkung des privilegierenden Tatbestands (OLG Celle, a.a.O., Rn. 16).</td></tr></table>
<table><tr><td>IV.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Der Senat hält die Auffassung des Oberlandesgerichts Celle für zutreffend und beabsichtigt daher die Revision des Angeklagten zu verwerfen:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>1. Bei dem hier nach den getroffenen Feststellungen verwandten „Impfpass“, dessen äußere Form und sein grundsätzlicher Inhalt sich anhand allgemein zugänglicher Quellen feststellen lässt, handelt es sich um verkörperte Gedankenerklärungen, die zum Beweis geeignet und bestimmt sind, und ihren (ärztlichen) Aussteller erkennen lassen (vgl. zum Begriff der Urkunde: Fischer, StGB, 69. Aufl., § 267 Rn. 3 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Dem vollständig ausgefüllten Impfbuch ist die zum Beweis geeignete und bestimmte Gedankenerklärung zu entnehmen, dass der Angeklagte als die im Impfbuch bezeichnete Person zu den genannten Zeitpunkten jeweils mit einem (zugelassenen) Impfstoff einer bestimmten Charge geimpft worden ist. Scheinbarer Aussteller der im Impfbuch dokumentierten Impfungen war hier angeblich eine für das Impfzentrum F. handelnde (zur Impfung berechtigte) Person, der tatsächliche Aussteller ist hingegen unbekannt, jedenfalls war es nicht das Impfzentrum F. Da mithin tatsächlicher Aussteller und der aus der Urkunde ersichtliche Aussteller nicht identisch sind, ist die Urkunde unecht. Von dieser unechten Urkunde hat der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen im Wissen um die dargelegten Umstände und in der Absicht im Rechtsverkehr Gebrauch gemacht, durch ihre Vorlage in der Apotheke einen - inhaltlich unzutreffenden - digitalen Impfnachweis zu erlangen (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21 –, juris Rn. 9 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. März 2022 – 1 Ws 33/22 –, juris Rn. 10; OLG Celle, Urteil vom 31. Mai 2022 – 1 Ss 6/22 –, juris Rn. 15).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>2. Der Tatbestand des § 279 StGB a. F. ist vorliegend nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht erfüllt. Nach § 279 StGB a.F. wird wegen Gebrauchs unrichtiger Gesundheitszeugnisse bestraft, wer zur Täuschung einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft von einem (unrichtigen) Gesundheitszeugnis im Sinne der §§ 277, 278 StGB Gebrauch macht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>a) Bei dem vom Angeklagten vorgelegten „Impfpass“ (Impfbuch) handelt es sich zwar um ein objektiv unrichtiges Gesundheitszeugnis gemäß den §§ 277 ff. StGB a.F. Denn die im Impfausweis enthaltene Impfdokumentation nach § 22 Abs. 1 und 2 IfSG, die dem Angeklagten - vorliegend inhaltlich unrichtig - zwei ärztliche Schutzimpfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV- 2 bescheinigt, impliziert, dass dessen Körper und damit seine Gesundheit aufgrund seiner durch die Impfungen voraussichtlich gesteigerten Immunabwehrkraft mit hoher Wahrscheinlichkeit besser gegen das Virus geschützt ist als ungeimpft (vgl. RGSt 24, 284; OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16; OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 14; OLG Celle, a.a.O., Rn. 18; OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 Ws 732/21, juris, Rn. 14; Fischer, StGB, 68. Auflage 2021, § 277 Rn. 3; MüKoStGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277, Rn. 2; Gaede/Krüger, NJW 2021, 2159, 2163).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, dass ein Impfpass nicht umfänglich als Gesundheitszeugnis anzusehen sei und die Angabe der Chargennummer des vorgeblich eingesetzten Impfstoffes die eigenständige Erklärung über den jeweils verwendeten Impfstoff und dessen Chargenzugehörigkeit enthalte (OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 17; LG Heidelberg, Beschluss vom 31. März 2022 – 1 Qs 5/22 –, juris, Rn.15) überzeugt dies nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Gegen die Aufspaltung des Impfausweises – also einer bereits gegenständlichen einheitlichen Urkunde – in zwei voneinander unabhängige Urkunden und damit auch Gedankenerklärungen (zur verkörperten Gedankenerklärung als Voraussetzung einer Urkunde i.S.d. § 267 ff. StGB: vgl. nur Fischer, a.a.O., § 267 Rn. 2) spricht, dass zwischen dem Aspekt der Impfung und dem der Chargennummer ein untrennbarer inhaltlicher Zusammenhang vorliegt und damit eine einheitliche Gedankenerklärung besteht. So muss nach § 22 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 IfSG jede Impfdokumentation die Chargenbezeichnung des Impfstoffs angeben. Die Chargennummer stellt somit einen verpflichtenden und untrennbaren Bestandteil der Impfdokumentation im Impfausweis dar, deren zentraler Erklärungsinhalt das „Ob“ der jeweils dokumentierten Impfung und ggf. noch die Art des Impfstoffes ist. Auf diese beiden Punkte kommt es insofern auch dem jeweiligen Erklärungsempfänger und damit dem Rechtsverkehr an. Dagegen ist die Angabe der Chargennummer – auch wenn dadurch etwa im Falle einer Verunreinigung des Impfstoffes eine Rückverfolgung oder etwaige Entschädigungsansprüche ermöglicht werden (BT-Drs. 14/2530, S. 72,73, BeckOK-IfSG/Aligbe, 11. Edition, § 22 Rn. 12) - von lediglich untergeordneter Bedeutung und im Rechtsverkehr letztlich nicht von Belang (vgl. LG Hamburg, Urteil vom 1. März 2022 – 634 KLs 8/21 –, juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>b) Darüber hinaus setzt eine Strafbarkeit nach § 279 StGB a.F. jedoch das Gebrauchen des unrichtigen Gesundheitszeugnisses zur Täuschung einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft voraus. Da eine Behörde ein ständiges, von der Person des Inhabers unabhängiges, in das Gefüge der öffentlichen Verwaltung eingeordnetes Organ der Staatsgewalt mit der Aufgabe, unter öffentlicher Autorität nach eigener Entschließung für Staatszwecke tätig zu sein, ist (Fischer, StGB, a.a.O., § 11, Rn. 29 m.w.N), handelt es sich bei einer Apotheke nicht um eine Behörde in diesem Sinne, sondern um ein privates Unternehmen (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 47 ff.; OLG Stuttgart a.a.O. Rn. 16; OLG Celle, a.a.O., Rn. 19; LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 3 Qs 38/21 -, juris, Rn. 9, 11). Zwar haben die Apotheken nach § 22 Abs. 5 Infektionsschutzgesetz die Durchführung einer Schutzimpfung in einem digitalen Impfzertifikat zu bescheinigen, jedoch begründet allein die bloße Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben noch nicht die Eigenschaft als Behörde, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Auch ein „Gebrauchen“ des verfälschten Impfnachweises gegenüber dem Robert-Koch-Institut als Bundesbehörde ist durch die Vorlage bei der Apotheke nicht gegeben (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O. Rn. 17). Denn der Gebrauch eines Gesundheitszeugnisses i.S.d. § 279 StGB a.F. verlangt, dass das Gesundheitszeugnis in den Machtbereich der Behörde verbracht wird und diese somit als Adressatin der Täuschung zumindest die Möglichkeit zur (sinnlichen) Wahrnehmung hat (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 25. September 2013 - 2 Ss 519/13-, juris, Rn. 21; OLG Hamburg, a.a.O. Rn. 48, OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 17, OLG Celle, a.a.O., Rn. 20; BeckOK StGB/Weidemann, StGB, 52. Ed. 2022, § 279 Rn. 3). Daran fehlt es vorliegend jedoch, da gemäß § 22 Abs. 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) lediglich personenbezogene Daten aus dem Impfpass elektronisch an das RKI übermittelt werden, nicht jedoch das der Apotheke vorgelegte Impfbuch an sich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Mithin wurde das Impfbuch mit der Impfdokumentation über den Erhalt zweier Schutzimpfungen gegen das Virus SARS CoV-2 im vorliegenden Fall nach den vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen nicht gebraucht, um eine Behörde bzw. Versicherungsgesellschaft zu täuschen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>3. Da somit jedoch die Tatbestandsvoraussetzungen des 279 StGB a.F. nicht erfüllt sind, vermögen diese gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB auch keine Sperrwirkung zu entfalten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Zwar handelt es sich bei den §§ 277 bis 279 StGB a.F. im Verhältnis zur Urkundenfälschung (§ 267 StGB) um speziellere Vorschriften, die für das Fälschen und Ausstellen von unrichtigen (ärztlichen) Gesundheitszeugnissen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft sowie das Gebrauchmachen von falschen Gesundheitszeugnissen gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft einen im Vergleich zu § 267 StGB milderen und damit privilegierten Strafrahmen vorsehen. Durch diese Privilegierung wird die Anwendung des § 267 StGB jedoch nach den Grundsätzen der Spezialität nur in solchen Fällen gesperrt, in denen von einem falschen Gesundheitszeugnis Gebrauch gemacht wird bzw. (im Fall von § 278 StGB a. F.) eine solche zu diesem Zweck ausgestellt wird, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft zu täuschen, also die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 277 ff. StGB a.F. erfüllt sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Ist dies jedoch - wie hier - nicht der Fall, entfalten die §§ 277 bis 279 StGB a. F. bei einem gleichzeitigen Verstoß gegen § 267 StGB keine über ihren eigenen Anwendungsbereich hinausgehende Sperrwirkung (OLG Hamburg, a.a.O.; OLG Stuttgart, a.a.O.; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 31. März 2022 – 1 Ws 19/22 –, juris; OLG Celle, a.a.O.; LG Heilbronn, Beschluss vom 11. Januar 2022 – 1 Qs 95/21 –, juris; LG Heidelberg, Beschluss vom 31. März 2022 – 1 Qs 5/22 –, juris; LG Ingolstadt, Beschluss vom 07. April 2022 - 2 Qs 40/22 -, BeckRS 2022, 8784; Puppe/Schumann in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Auflage 2017, § 277 Rn. 13; Fischer, StGB, 2022, § 277 Rn. 1; vgl. BGH, Urteil vom 02.11.2010 – 1 StR 579/09 - juris: zur Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 StGB bei Vorlage eines gefälschten Rezepts zur Erlangung eines Medikaments von einer Apotheke). Zumal die Sperrwirkung einer nicht in allen Tatbestandsmerkmalen erfüllten Privilegierung dem deutschen Strafrecht grundsätzlich fremd ist (OLG Schleswig, a.a.O. Rn. 10). So entfaltet etwa § 216 StGB eine solche nur dann, wenn auch dessen Voraussetzungen umfänglich vorliegen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Soweit die überwiegende Auffassung in der Literatur und Teile der Rechtsprechung die §§ 277 ff. StGB a.F. gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB als umfassende Privilegierung im Fall des Umgangs mit gefälschten bzw. unrichtigen Gesundheitszeugnissen ansehen (vgl. BayObLG, a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 Ws 732/21 -, juris; LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 3 Qs 38/21 -, juris; LG Karlsruhe, Beschluss vom 26. November 2021 - 19 Qs 90/21 -, juris; LG Paderborn, Beschluss vom 1. Dezember 2021 – 5 Qs 33/21 –, juris; LG Hechingen, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – 3 Qs 77/21 -, juris; LG Landau, Beschluss vom 13. Dezember 2021 - 5 Qs 93/21 -, juris; LG Lüneburg, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 111 Qs 76/21 - und vom 28. Januar 2022 – 111 Qs 5/22 -, juris; LG Kaiserslautern, Beschluss vom 23. Dezember 2021 - 5 Qs 107/21 -, juris; LG Würzburg, Beschluss vom 24. Januar 2022 – 1 Qs 18/22 -, juris; LG Offenburg, Beschluss vom 11. Mai 2022 – 3 Qs 9/22 –, juris; LG München I Beschluss vom 29.3.2022 – 12 Qs 7/22 -, BeckRS 2022, 6175; MK-Erb, StGB, 3. Auf., § 277, Rn. 11; SK-Hoyer, StGB, 9. Aufl. § 277 Rn. 5; Zieschang in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Auf., § 277, Rn. 16; ohne Ausführungen zur Reichweite der Sperrwirkung hingegen: BeckOK, StGB, 51. Edition, § 277 Rn. 13; Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 277 Rn. 30; Lackner/Kühl, StGB, 2018, § 277 Rn. 5) überzeugt dies nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Eine umfassende Sperrwirkung mit der Folge einer weitgehenden Straflosigkeit des Umgangs mit unrichtigen (unwahren und unechten) Gesundheitszeugnissen ergibt sich weder aus dem Gesetzeswortlaut, dem Zweck der Norm noch aus der Gesetzessystematik. Sie lässt sich überdies auch nicht aus dem Willen des historischen Gesetzgebers oder der Gesetzgebungsgeschichte begründen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Im Einzelnen:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>a) Nach dem in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgebot ist für Strafnormen erforderlich, dass jedermann vorhersehen können soll, welches Verhalten verboten und mit welcher Strafe es bedroht ist (vgl nur: BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08 – juris Rn. 70, BVerfGE 126, 170-233; BVerfGE 75, 329 (341) m.w.N.). Maßstab für die Klarheit der Norm ist dabei der Verständnishorizont des Bürgers als Normadressat (vgl. BVerfG Beschluss vom 21. September 2016 - 2 BvL 1/15, NJW 2016, 3648 (3649). Der Bürger muss dem Gesetzestext entnehmen können, was ihm noch erlaubt ist und wodurch er sich gegebenenfalls schon strafbar macht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Nach diesem Maßstab genügt das Normgefüge aus § 267 Abs. 1 StGB einerseits und den §§ 277 ff. StGB a.F. andererseits dem Bestimmtheitsgebot. Der Wortlaut des § 267 StGB erfasst die Vorlage unrichtiger Gesundheitszeugnisse gegenüber Apotheken ohne weiteres. Ausdrückliche Hinweise auf einen Anwendungsvorrang der § 277 ff. StGB a.F. oder eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 267 StGB enthalten weder die §§ 277 ff. StGB a.F. noch § 267 StGB (OLG Hamburg, a.a.O. Rn. 38; OLG Stuttgart, a.a.O. Rn. 22; OLG Celle, a.a.O., Rn. 24; LG Heilbronn, a.a.O., Rn. 11).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Die kontroverse Diskussion in Literatur, Rechtsprechung und Politik kann insofern unter dem Aspekt der „unklaren Rechtslage“ allenfalls einen Verbotsirrtum nach § 17 StGB - wofür es vorliegend auf Grundlage der Urteilsgründe sowie der Revisionsbegründung jedoch keine Anhaltspunkte gibt - nicht aber einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG begründen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Ein solcher Verstoß ist auch nicht deswegen zu bejahen, weil der Gesetzgeber in Kenntnis der Problematik und konkreter Vorschläge zur Bereinigung der Problematik jahrelang untätig blieb, sich schließlich aber doch - wie hier im Zuge der im Zusammenhang mit gefälschten „Covid 19 - Impfbüchern“ aufgekommenen Diskussion über mögliche Strafbarkeitslücken - zu einer Reform der Normen entschloss und damit quasi selbst zur unklaren Rechtslage beigetragen hat (so wohl: LG Offenburg, a.a.O. Rn. 20 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>So war zwar bereits im Entwurf eines Strafgesetzbuchs 1962 (E 1962 - Drucksache IV/650) der damaligen Bundesregierung mit § 309 Abs. 4 (E)StGB ein Vorschlag zur Reform der §§ 277 ff. StGB a.F. enthalten, der wie folgt lautete:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="36"/><em>Abs. 1: „Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr als Arzt [...] wider besseres Wissen ein unwahres Zeugnis über den Körper- oder Gesundheitszustand [...] ausstellt, wird [...] bestraft“.</em></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="37"/><em>Abs. 4 „Wer ein wider besseres Wissen unwahr ausgestelltes Zeugnis der in den Absätzen 1 bis 3 bezeichneten Art zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht, wird [...] bestraft.“.</em></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Zur Begründung des Vorschlags ist ausgeführt, dass es</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="39"/><em>„an ausreichenden Gründen [fehlt], den Strafschutz, wie es in §§ 277 bis 279 StGB geschieht, nur auf solche Gesundheitszeugnisse zu beschränken, die zum Gebrauch bei einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft bestimmt sind. Gefälschte oder unwahre Gesundheitszeugnisse können auch auf anderen Lebensgebieten schwere Folgen nach sich ziehen“ (vgl. Bundestags-Drucksache IV/650, S. 486).</em></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Dadurch, dass der Gesetzgeber in den Folgejahren trotz dieses konkreten Vorschlags zur Bereinigung der Problematik untätig blieb und den Reformvorschlag letztlich erst wieder mit der zum 24.11.2021 in Kraft getretenen Neuregelung der §§ 277 ff. StGB aufgegriffen hat, ist das Bestimmtheitsgebot jedoch nicht verletzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>So ist zunächst zu sehen, dass es sich um einen Vorschlag der Bundesregierung handelte, der mithin gerade nicht aus der Mitte des Bundestags als parlamentarischem Gesetzgeber heraus erfolgte und somit auch nicht geeignet war den „gesetzgeberischen Willen“ oder zumindest die „Auffassung des damaligen Gesetzgebers“ zu dokumentieren (a.A. wohl: LG Offenburg, a.a.O.). Überdies lässt sich die jahrelange „Untätigkeit“ des Gesetzgebers trotz Vorliegens eines konkreten Reformvorschlags auch dahingehend verstehen, dass er gerade keine Reformnotwendigkeit sah, weil er im Hinblick auf die Verwendung von unrichtigen Gesundheitszeugnissen nicht von einer Strafbarkeitslücke ausging und daher den damaligen Vorschlag der Bundesregierung in den Folgejahren nicht umsetzte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Insofern wurde vom (aktuellen) Gesetzgeber auch unmissverständlich in der Begründung zum Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 08.11.2021 (BT-Drucksache 20/15) zum Ausdruck gebracht, dass die §§ 277 bis 279 StGB a. F. gerade keine speziellen Sondervorschriften mit allgemeiner Sperrwirkung gegenüber der Urkundenfälschung nach § 267 StGB darstellen. So wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt, dass die §§ 277 bis 279 StGB keine allgemeine Sperrwirkung für die §§ 267 ff. StGB entfalten, sondern lediglich darüber hinausgehende Strafbarkeiten für spezielle Konstellationen (BT-Drucksache 20/15, S. 33 unter Bezugnahme auf Fischer, StGB, 68. Auflage 2021, § 277 Rn. 1) regeln sollten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>b) Auch aus einer Gesamtbetrachtung der Gesetzessystematik lässt sich nicht entnehmen, dass nach dem objektiven Willen des Gesetzgebers Gesundheitszeugnisse grundsätzlich anders behandelt werden sollen als sonstige Urkunden (OLG Hamburg, a.a.O. Rn. 27 ff.; OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 23; OLG Celle, a.a.O., Rn. 27; LG Heidelberg a.a.O. Rn. 22 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>So haben die §§ 267 ff. StGB grundsätzlich einen weitreichenden Regelungsgehalt und schützen den Rechtsverkehr umfassend vor der Herstellung und dem Gebrauch unechter oder gefälschter Urkunden. Eine Differenzierung zwischen Urkunden aus unterschiedlichen Bereichen und eine Beschränkung auf Lebensbereiche, die als besonders schützenswert angesehen werden, findet sich insofern in der Gesetzessystematik der §§ 267 ff. StGB gerade nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die generelle Herausnahme von Gesundheitszeugnissen aus dem Anwendungsbereich der Urkundendelikte wäre vor diesem Hintergrund kaum erklärlich und verständlich, zumal im Übrigen alle Arten von Urkunden aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen dem Strafrechtsschutz der §§ 267 ff. StGB unterfielen, auch wenn deren Bedeutung für den Rechtsverkehr offensichtlich geringer ist als die von Gesundheitszeugnissen (vgl. OLG Hamburg, a.a.O. Rn. 27; OLG Stuttgart, a.a.O. Rn. 23; OLG Celle, a.a.O. Rn. 27), die regelmäßig besonders sensible, aber zugleich wichtige Informationen - etwa im Hinblick auf die Notwendigkeit etwaiger Schutzmaßnahmen eines Arbeitgebers gegenüber seinen Beschäftigten oder Kunden - enthalten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Darüber hinaus ist auch zu sehen, dass die erste Handlungsalternative des § 277 StGB a.F., welche eine - nach den allgemeinen Urkundendelikten nicht strafbare - schriftliche Lüge enthält (NK-StGB/ Puppe/Schumann, a.a.O., Rn. 7) sogar eine Erweiterung im Vergleich zu den sonstigen Urkundendelikten darstellt. Die Manipulation von Gesundheitszeugnissen wurde nach der (früheren) Gesetzessystematik mithin nicht grundsätzlich als weniger strafwürdig eingestuft (vgl. OLG Hamburg, a.a.O. Rn. 28; OLG Stuttgart, a.a.O. Rn. 23; OLG Celle, a.a.O. Rn. 28).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Schließlich spricht gegen den Zweck einer umfassenden Privilegierung durch die §§ 277 ff. StGB a.F. auch, dass im Fall einer umfassenden Sperrwirkung nur Behörden und Versicherungsgesellschaften nicht aber der Rechtsverkehr allgemein vor gefälschten Gesundheitszeugnissen geschützt wäre, Gesundheitszeugnisse aber gleichwohl ebenso wie alle anderen Urkunden vom Anwendungsbereich der Urkundenunterdrückung des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfasst waren, da die §§ 277 ff. StGB a.F. diesbezüglich keine Regelungen enthielten (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022, a.a.O. Rn. 29; OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 23; OLG Celle, a.a.O., Rn. 29; LG Heidelberg, a.a.O. Rn. 24).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>c) Schließlich lässt sich auch aus dem Willen des historischen Gesetzgebers - dem angesichts des Alters der fraglichen Normen ohnehin nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommt - keine Sperrwirkung der §§ 277 ff. StGB a.F. begründen (OLG Hamburg, a.a.O. Rn. 22). Vielmehr spricht die Gesetzgebungsgeschichte der §§ 277 bis 279 StGB a.F. - wie vom OLG Hamburg in der genannten Entscheidung detailliert und überzeugend dargestellt - eher gegen eine umfassende Privilegierung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Die §§ 277 bis 279 StGB a.F. sind seit Inkrafttreten des RStGB am 01.01.1872 (vgl. RGBl. 1871, 127 (180) im Kern unverändert geblieben, wobei § 277 StGB a.F. auf § 256 pStGB (preußisches Strafgesetzbuch) basiert und vieles dafür spricht, dass dessen Funktion zumindest auch darin bestand, den Anwendungsbereich des Straftatbestands der Urkundenfälschung (247 pStGB) zu erweitern. So war dessen Tatbestand im Vergleich zum heutigen § 267 StGB durch seinen verengten Urkundenbegriff und die verlangte Gewinn- oder Schädigungsabsicht deutlich eingeschränkt, wohingegen § 256 pStGB auf die Gewinn- und Schädigungsabsicht verzichtete und normierte, dass auch derjenige sich strafbar machte,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="50"/><em>„[der] unter dem Namen eines Arztes, Wundarztes oder einer anderen Medizinalperson ein Zeugniß über seinen oder eines Anderen Gesundheitszustand ausstellt, und davon zur Täuschung von Behörden oder Versicherungsgesellschaften Gebrauch macht.“</em></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Somit waren damals ärztliche Atteste von den allgemeinen Urkundendelikten nicht erfasst und Fälschungen von Gesundheitszeugnissen wurden überhaupt erst über die Regelung des § 256 pStGB strafrechtlich erfasst.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Der Umstand, dass der Tatbestand der Urkundenfälschung mit Einführung des RGStGB durch § 267 StGB im Vergleich zu § 247 pStGB sodann insgesamt deutlich erweitert wurde, spricht jedoch vor diesem Hintergrund eher dagegen, dass der historische Gesetzgeber mit der Übernahme der §§ 277 ff. StGB a.F. als Nachfolgeregelungen des § 256 pStGB in das Normgefüge des RGStGB eine Privilegierung für Fälschungen von Gesundheitszeugnissen bezweckte. Hinzu kommt, dass in diesem Fall - vor dem Hintergrund der Gesetzgebungsgeschichte und der ursprünglichen - strafbarkeitserweiternden - Funktion des § 256 pStGB - die ausdrückliche Anordnung eines Anwendungsvorrangs naheliegend gewesen wäre.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Insofern erscheint es zwar durchaus möglich, dass der Gesetzgeber zur damaligen Zeit vor dem Hintergrund der eingeschränkten Diagnosemöglichkeiten dem Inhalt eines Gesundheitszeugnisses nur eingeschränkte Aussagekraft zumessen und diesem daher nicht die gleiche Bedeutung beimessen wollte wie einer sonstigen Urkunde (so OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 19) - was jedoch voraussetzen würde, dass sich der historische Gesetzgeber der damaligen (im Vergleich zu heute) beschränkten Diagnosemöglichkeiten und der somit verminderten Aussagekraft eines Gesundheitszeugnisses überhaupt bewusst war - wofür keine Anhaltspunkte bestehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Zumindest ebenso möglich erscheint es daher, dass der historische Gesetzgeber bei den Privilegierungstatbeständen der §§ 277 ff. StGB a.F. davon ausging, dass Versicherungen und Behörden die Fälschungen - etwa mit Hilfe von Sachverständigen - leichter erkennen können als Privatpersonen (vgl. LG Heilbronn, a.a.O., Rn. 12) und deswegen weniger schützenswert sind oder die Privilegierung deswegen erfolgte, weil gegenüber Versicherungen und Behörden häufig ein zumindest faktischer Zwang zur Einreichung von gesundheitlichen Zeugnissen besteht (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 34; OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 21).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Eindeutige Anhaltspunkte für einen umfassenden Privilegierungswillen des historischen Gesetzgebers der §§ 277 bis 279 StGB a. F. gegenüber dem § 267 StGB lassen sich demnach weder aus der Gesetzgebungsgeschichte noch aus sonstigen Umständen gewinnen. Es ist letztlich nicht mehr zu klären, ob der historische Gesetzgeber mit dem Nebeneinander der §§ 277 bis 279 StGB a.F. einerseits und des § 267 StGB andererseits einen konkreten Zweck verfolgte oder ob dem historischen Gesetzgeber bei Einführung des § 267 RStGB die ursprüngliche Funktion des § 256 pStGB aus dem Blick geraten ist und er daher die §§ 277 ff. StGB a.F. unreflektiert als dessen Nachfolgeregelungen eingeführt hat und jedenfalls keine umfassende Sperrwirkung der Privilegierung aus den §§ 277 ff. StGB a.F. bezweckte (vgl. OLG Hamburg, a.a.O. Rn. 22; OLG Celle a.a.O. Rn. 26).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>d) Auch ohne die Annahme einer umfassenden Sperrwirkung der §§ 277 ff. StGB a.F. wird überdies die Privilegierung des § 277 StGB a.F. nicht unterlaufen. Zwar ist nach § 267 Abs. 1 StGB bereits die Herstellung eines gefälschten Gesundheitszeugnisses strafbar, wohingegen § 277 StGB a.F. erst bei der anschließenden Vorlage gegenüber einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft im Sinne des § 277 StGB (so OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 20) erfüllt ist und in § 277 StGB a.F. auch keine Versuchsstrafbarkeit normiert ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Dem darin liegenden Wertungswiderspruch kann jedoch dadurch begegnet werden, dass Gesundheitszeugnisse, die (ausschließlich) die Täuschung von Behörden und Versicherungen bezweckten, allein dem Anwendungsbereich des § 277 StGB a.F. unterfallen, also die Herstellung solcher falscher Gesundheitszeugnisse von § 267 StGB nicht erfasst war, mithin die bloße Herstellung eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses zur Vorlage bei Behörden und Versicherungen nach alter Rechtslage straflos war (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 37; OLG Stuttgart, a.a.O. Rn. 26; OLG Celle, a.a.O., Rn. 30).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Nach alldem ist somit davon auszugehen, dass die §§ 277 ff. StGB a.F. keine umfassende Privilegierung und Sperrwirkung gegenüber der Anwendung von § 267 StGB begründen, so dass nach dem vom Amtsgericht festgestellten Sachverhalt eine Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 StGB gegeben ist und die Verurteilung zu Recht erfolgte.</td></tr></table>
<table><tr><td>IV.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Die Vorlegungsfrage wurde vom Bundesgerichtshof noch nicht entschieden und ist - wie ausgeführt - entscheidungserheblich. Daher ist die Sache - nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten - gemäß § 121 Absatz 2 Nummer 1 Alternative 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung der in der Beschlussformel formulierten Frage vorzulegen.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,388 | vg-dusseldorf-2022-07-25-3-l-146622 | {
"id": 842,
"name": "Verwaltungsgericht Düsseldorf",
"slug": "vg-dusseldorf",
"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 L 1466/22 | 2022-07-25T00:00:00 | 2022-09-01T10:01:43 | 2022-10-17T11:09:39 | Beschluss | ECLI:DE:VGD:2022:0725.3L1466.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt. Der Bescheid des Oberbürgermeisters der Antragsgegnerin vom 23. Juni 2022 (Zwangsgeldfestsetzung und Androhung unmittelbaren Zwangs) ist nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides offensichtlich rechtmäßig, so dass eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 3 K 4883/22 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 1, § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht in Betracht kommt. Zur Begründung kann auf den Bescheid und den Schriftsatz der Antragsgegnerin 20. Juli 2022 verwiesen werden. Die Antragstellerin hat unter Missachtung der bestandskräftigen Gewerbeuntersagung vom 7. Dezember 2018 (vgl. Urteil der erkennenden Kammer vom 23. Mai 2019 - 3 K 10184/18 - und anschließenden Beschluss des OVG NRW vom 20. September 2021 - 4 A 2327/19 -) ihren Spielhallenbetrieb mit Wissen und Wollen (durchgängig) fortgesetzt und gegenüber der Antragsgegnerin zudem angegeben, die Spielhalle auch zukünftig betreiben zu wollen. Rechtlich unerheblich ist es in diesem Zusammenhang, dass die Antragstellerin zwischenzeitlich am 24. Juli 2021 einen neuen Erlaubnisantrag gestellt hat und dass seit dem 1. Juli 2021 neue glücksspielrechtliche Vorschriften bestehen.</strong></p>
<p><strong>Die Kosten trägt die Antragstellerin gemäß § 154 Ab. 1 VwGO.</strong></p>
<p><strong>Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 1, 3 GKG vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des OVG NRW (vgl. Beschluss vom 1. Oktober 2010 - 4 B 1637/04 -, GewArch 2005, 77) und des Streitwertkatalogs für die Verwaltungs-gerichtsbarkeit 2013 (Ziffern 1.7.1 und 1.5) auf die Hälfte des Wertes im Hauptsacheverfahren auf 3.437,50 Euro festgesetzt.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>beschlossen:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt. Der Bescheid des Oberbürgermeisters der Antragsgegnerin vom 23. Juni 2022 (Zwangsgeldfestsetzung und Androhung unmittelbaren Zwangs) ist nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides offensichtlich rechtmäßig, so dass eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 3 K 4883/22 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 1, § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht in Betracht kommt. Zur Begründung kann auf den Bescheid und den Schriftsatz der Antragsgegnerin 20. Juli 2022 verwiesen werden. Die Antragstellerin hat unter Missachtung der bestandskräftigen Gewerbeuntersagung vom 7. Dezember 2018 (vgl. Urteil der erkennenden Kammer vom 23. Mai 2019 - 3 K 10184/18 - und anschließenden Beschluss des OVG NRW vom 20. September 2021 - 4 A 2327/19 -) ihren Spielhallenbetrieb mit Wissen und Wollen (durchgängig) fortgesetzt und gegenüber der Antragsgegnerin zudem angegeben, die Spielhalle auch zukünftig betreiben zu wollen. Rechtlich unerheblich ist es in diesem Zusammenhang, dass die Antragstellerin zwischenzeitlich am 24. Juli 2021 einen neuen Erlaubnisantrag gestellt hat und dass seit dem 1. Juli 2021 neue glücksspielrechtliche Vorschriften bestehen.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>Die Kosten trägt die Antragstellerin gemäß § 154 Ab. 1 VwGO.</strong></p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 1, 3 GKG vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des OVG NRW (vgl. Beschluss vom 1. Oktober 2010 - 4 B 1637/04 -, GewArch 2005, 77) und des Streitwertkatalogs für die Verwaltungs-gerichtsbarkeit 2013 (Ziffern 1.7.1 und 1.5) auf die Hälfte des Wertes im Hauptsacheverfahren auf 3.437,50 Euro festgesetzt.</strong></p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">(1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">(2) Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
|
346,314 | lg-bochum-2022-07-25-11-s-4222 | {
"id": 803,
"name": "Landgericht Bochum",
"slug": "lg-bochum",
"city": 393,
"state": 12,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 11 S 42/22 | 2022-07-25T00:00:00 | 2022-08-26T10:01:27 | 2022-10-17T11:09:29 | Beschluss | ECLI:DE:LGBO:2022:0725.11S42.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Kammer weist die Parteien darauf hin, dass beabsichtigt ist, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil sie nach dem Vorbringen in der Berufungsbegründung aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung nach einstimmiger Überzeugung der Kammer offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Die Sache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung und eine Entscheidung ist zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich. Ferner ist auch eine mündliche Verhandlung nicht geboten.</p>
<p>Die Ausführungen in der Berufungsbegründung führen nicht zu einer anderen Beurteilung.</p>
<p>Es ist nicht ersichtlich, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen (§ 513 Abs. 1 ZPO).</p>
<p>Dem Berufungskläger wird Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses, zu den vorstehenden Hinweisen Stellung zu nehmen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Nach Auffassung der Kammer hat die Berufung keine Aussicht auf Erfolg. Rechtsfehlerfrei und mit vollumfänglich zutreffender, im Grunde nicht ergänzungsbedürftiger Begründung hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die mit der Berufung erhobenen Einwendungen des Klägers führen zu keiner abweichenden rechtlichen Bewertung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zurecht ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass der Wortlaut des § 1006 BGB – nach einhelliger Auffassung, der auch die Kammer folgt – einer Präzisierung bedarf und dass – entgegen des Wortlauts – nicht schlechthin vermutet wird, der Eigenbesitzer sei Eigentümer einer Sache.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat, geht die Vermutung vielmehr dahin, der Eigenbesitzer habe das (unbedingte) Eigentum zugleich mit dem Besitz erworben (vgl. MüKoBGB/Raff, 8. Aufl. 2020, BGB § 1006 Rn. 44 m. w. N.).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Eigentumsvermutung wird dabei schon durch den Nachweis widerlegt, dass der Besitzerwerb nicht mit dem Eigentumserwerb verbunden war. Wenn der Besitzer das Eigentum bei anderer Gelegenheit erworben haben will, muss er das beweisen. Trägt der Besitzer – wie hier der Kläger – selbst vor, dass der Erwerb des Besitzes nicht zum Eigentumserwerb geführt hat, ist der Tatbestand des § 1006 BGB nicht erfüllt (vgl. a. a. O., Rn. 48).</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier. Der Kläger ist nach seinem eigenen Vortrag bei Besitzerwerb nicht Eigentümer geworden. Bei dem Fahrzeug handelte es sich um ein Leasingfahrzeug. Der Kläger ist in den zwischen der Leasinggeberin und einem Dritten geschlossenen Leasingvertrag eingetreten.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Ablauf des Leasingvertrages führt nicht automatisch dazu, dass der Kläger mit Zahlung der Schlussrate Eigentümer des Fahrzeugs wird. Auch der Abschluss eines Kaufvertrages – der weder vorgelegt noch dessen Inhalt näher konkretisiert wurde – führt nicht zur Eigentumsübertragung. Es muss vielmehr eine Übereignung in Form von Einigung und Übergabe stattgefunden haben, im Zuge derer dem Kläger das Eigentum an dem Fahrzeug von der Leasinggeberin übertragen worden ist. Hierzu verhält sich der Vortrag des Klägers nicht, worauf sowohl das Amtsgericht als auch der Beklagte zutreffend hingewiesen haben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Grund verfängt auch der Einwand des Klägers nicht, das Amtsgericht habe den nachgewiesenen Erwerb nicht berücksichtigt. Der Vortrag des Klägers verhält sich gerade nicht zur Eigentumsübertragung, sondern – auch hier nur rudimentär – zum Eintritt in den Leasingvertrag und zur Zahlung des Kaufpreises, wobei die Rechnung über den Kaufpreis erst mit Schriftsatz vom 11.03.2022 und damit nach der Urteilsverkündung vom 10.03.2022 zu den Akten gereicht wurde. An Vortrag zur Eigentumsübertragung fehlt es bis heute.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die vorgelegte Abtretungserklärung verhilft der Klage ebensowenig zum Erfolg. Es fehlt auch hinsichtlich des Dritten – wie der Beklagte zutreffend ausführt – an Vortrag zu dessen Eigentümerstellung.</p>
|
346,162 | vghbw-2022-07-25-a-9-s-69622 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | A 9 S 696/22 | 2022-07-25T00:00:00 | 2022-08-11T10:00:59 | 2022-10-17T17:55:54 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Auf den Antrag der Kläger wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. Januar 2022 - A 1 K 1547/20 - zugelassen.</p><p>Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung ist zulässig, insbesondere fristgerecht (§ 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG) gestellt und begründet (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Er hat auch in der Sache Erfolg. Die Berufung ist wegen des Vorliegens eines von den Klägern geltend gemachten und der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden, in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmangels zuzulassen. Durch den Gang des gerichtlichen Verfahrens ist der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>1. Der in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verbürgt, dass ein Beteiligter vor einer Gerichtsentscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen und als Subjekt Einfluss auf das Verfahren nehmen kann. Der gerichtlichen Entscheidung dürfen nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war. Ein Anspruch darauf, dass das in einer mündlichen Verhandlung geschehen muss, besteht aber grundsätzlich nicht. Dementsprechend wurden die Beteiligten in der Ladung vom 15.11.2021 zu dem auf den 28.01.2022, 9:30 Uhr, anberaumten Termin darauf hingewiesen, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>a) Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kommt wegen der Ablehnung oder Nichtbescheidung eines Antrags auf Aufhebung oder Verlegung eines Termins nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 ZPO danach nur in Betracht, wenn ein erheblicher Grund im Sinne des § 227 Abs. 1 ZPO tatsächlich vorgelegen hat, rechtzeitig geltend und glaubhaft gemacht worden ist und sich das Ermessen des Gerichts unter Berücksichtigung von Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf die Nichtdurchführung der beabsichtigten mündlichen Verhandlung verdichtet hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29.04.2004 - 3 B 119.03 -, DÖV 2004, 800, und vom 30.08.1982 - 9 C 1.81 -, DÖV 1983, 247; Senatsbeschluss vom 06.08.2018 - A 9 S 2420/17 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 08.05.2013 - 1 S 466/13 -; OVG Bln-Bbg., Beschluss vom 28.10.2003 - 2 A 369/02.AZ -, AuAS 2004, 58).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>b) Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hat ein erheblicher Grund für die Aufhebung des Termins vorgelegen, der von den Klägern auch glaubhaft gemacht worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>aa) Ein erheblicher Grund ist mit der vom Gesundheitsamt des Landkreises Konstanz angeordneten Quarantäne gegeben. Diese Anordnung beruhte in tatsächlicher Hinsicht auf dem positiven Ergebnis eines SARS-CoV-2 Antigen-Schnelltests vom 26.01.2022, der bei der Klägerin zu 5 in der Sonnenhalde-Grundschule durchgeführt worden war. Ihre rechtliche Grundlage fand die Anordnung in der Verordnung des Sozialministeriums zur Absonderung von mit dem Virus SARS-CoV-2 infizierten oder krankheitsverdächtigen Personen und deren haushaltsangehörigen Personen vom 14.12.2021 in der Fassung vom 11.01.2022 (gültig bis 02.05.2022; im Folgenden CoronaVO Absonderung a.F.). Die Klägerin zu 5 unterlag demnach gemäß § 3 CoronaVO Absonderung a.F. der Absonderung, die erst nach Maßgabe des § 3 Abs. 3 CoronaVO Absonderung a.F. nach dem Termin zur mündlichen Verhandlung endete. Nach § 4 Abs. 1 unterlagen die Kläger zu 1 bis 4 als haushaltsangehörige Personen einer Absonderungspflicht nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4. Allen Klägern war es damit - ungeachtet der Schwere der Erkrankung der Klägerin zu 5 - jedenfalls bereits aufgrund der §§ 3, 4 CoronaVO Absonderung a.F. rechtlich unmöglich, ihre Wohnung als Ort der Absonderung zu verlassen und den Gerichtstermin vom 28.01.2022 wahrzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>bb) Die Kläger haben diesen erheblichen Grund auch gegenüber dem Verwaltungsgericht glaubhaft gemacht. Nach vorheriger telefonischer Ankündigung hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schreiben vom 27.01.2022, beim Verwaltungsgericht eingegangen um 13:15 Uhr, mitgeteilt, dass sich die Familie wegen einer Corona-Erkrankung einer ihrer Töchter in Quarantäne befinde und die Verlegung des Termins beantragt. Nach Ablehnung des Antrags hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schreiben vom 27.01.2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht am selben Tage um 19:00 Uhr, eine Kopie der amtlichen Bescheinigung des positiven SARS-CoV-2 Antigen-Schnelltests der Klägerin zu 5 vorgelegt und erneut die Verlegung des Termins beantragt. Jedenfalls mit Schreiben vom 28.01.2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht am selben Tage um 09:11 Uhr, hat der Prozessbevollmächtigte eine Kopie der Bescheinigung über den Quarantäneaufenthalt des Klägers zu 1, ausgestellt vom Landkreis Konstanz (Bl. 111, 113 der VG-Akten), vorgelegt, die nach Auffassung des Senats auch hinreichend lesbar ist. Dies ist zur Glaubhaftmachung der rechtlichen Unmöglichkeit, den Termin vom 28.01.2022 wahrzunehmen, ausreichend. Im Übrigen hätte das Verwaltungsgericht bei Zweifeln aufgrund des Vorbringens auch kurzfristig - ggf. unter der vom Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 27.01.2022 mitgeteilten Rufnummer - mit der für die Bestätigung der Quarantäne zuständigen Stelle Rücksprache halten können. Dies ist nach Lage der Akten nicht geschehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Der vom Verwaltungsgericht angelegte strenge Maßstab für die kurzfristige Geltendmachung eines erheblichen Grundes wegen einer Erkrankung (BVerwG, Beschluss vom 09.12.1994 - 6 B 32.94 -, NJW 1995, 799; OVG NRW, Beschluss vom 01.12.2018 - 4 A 10/18.A -, juris; Bay. LSG, Urteil 21.07.2016 - L 15 SB 97/15 -, juris; Senatsbeschluss vom 24.10.2019 - A 9 S 741/19 -) ist auf den Fall einer rechtlichen Unmöglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wegen einer infektionsschutzrechtlichen Pflicht zur Absonderung nicht anwendbar. Das Erfordernis der näheren Bezeichnung der Art und Schwere der Erkrankung sowie der konkreten Gründe, weshalb diese Erkrankung eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte in der mündlichen Verhandlung ausschließt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.12.1994, a.a.O.), hat für das Bestehen eines rechtlichen Hindernisses in Gestalt einer infektionsschutzrechtlichen Pflicht zur Absonderung erkennbar keine Bedeutung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>c) Das Ermessen des Verwaltungsgerichts ist aufgrund des vorliegenden und glaubhaft gemachten erheblichen Grundes darauf reduziert gewesen, den Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben. Ausweislich des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsandrohung ergangenen Beschlusses vom 17.06.2020 - A 1 K1548/20 - ist das Verwaltungsgericht dort davon ausgegangen, es sei offen und bedürfe weiterer Aufklärung, „ob der fünfköpfigen Familie mit dem Einkommen des Antragstellers zu 1 in einem anderen Landesteil ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh wahrendes Existenzminimum gesichert wäre. Die zusätzliche Mietbelastung, der bisher mietfrei wohnenden Familie könnte dazu führen, dass der Familie bei einer Rückkehr nicht ausreichend finanzielle Mittel für Lebensmittel zur Verfügung stünden.“ Dies gelte es im Rahmen des Hauptsacheverfahrens weiter aufzuklären. Demnach dürfte sich eine persönliche Anhörung insbesondere der Kläger zu 1 und 2 aufgedrängt haben; jedenfalls konnte diesen ein berechtigtes Interesse an einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nicht abgesprochen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>d) Der Annahme eines Gehörsverstoßes steht nicht entgegen, dass die diesbezügliche Rüge grundsätzlich die substantiierte Darlegung dessen erfordert, was die Prozesspartei bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.1997 - 7 B 261.97 -, NJW 1997, 3328). Denn diese Darlegungspflicht gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn sich die behauptete Versagung rechtlichen Gehörs - wie hier - nicht auf einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte bezieht, sondern darauf, dass ein Verfahrensbeteiligter sich zum gesamten Prozessstoff nicht äußern konnte, etwa weil er unverschuldet an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verhindert war (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.09.1994 - 3 C 28.92 -, BVerwGE 96, 368 sowie OVG NRW, Beschluss vom 19.04.2004 - 8 A 590/04.A -, juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>2. Führt bereits der unter 1. dargestellte Verfahrensmangel zur Zulassung der Berufung, so kann der Senat offenlassen, ob das rechtliche Gehör der Kläger ferner dadurch verletzt worden ist, dass - wie die Kläger weiter geltend machen - das Verwaltungsgericht das vom Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schreiben vom 18.01.2022 - beim Verwaltungsgericht eingegangen am 19.01.2022 - vorgelegte Schreiben der Universität Konstanz vom 14.01.2022 über die Erkrankung der Klägerin zu 3 und die Gefahr der Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr in das Herkunftsland (Bl. 61-67 der VG-Akte) in den Gründen der angefochtenen Entscheidung unbeachtet gelassen habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,064 | ovgnrw-2022-07-25-4-a-145820 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 A 1458/20 | 2022-07-25T00:00:00 | 2022-08-05T10:01:14 | 2022-10-17T17:55:38 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0725.4A1458.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 15.4.2020 wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 4.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Ihr Vorbringen weckt keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.10.2020 – 2 BvR 2426/17 –, juris, Rn. 34, m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 – 7 AV 4.03 –, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Widerrufsverfügung der Beklagten vom 12.7.2019 mit der Begründung abgewiesen, der nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG NRW erfolgte Widerruf der gemäß § 33c Abs. 3 GewO erteilten Geeignetheitsbestätigung vom 8.11.2011 sei rechtmäßig. Die Beklagte wäre berechtigt, die Geeignetheitsbestätigung, gegen deren ursprüngliche Rechtmäßigkeit keine Bedenken bestanden hätten, nicht zu erlassen, weil die Voraussetzungen des § 33c Abs. 3 Satz 1 GewO nicht (mehr) vorlägen. Bei der von der Klägerin als Aufstellort der Geldspielgeräte genutzten Betriebsstätte, Shishabar „B. “, N.------straße 66 in E. , handele es sich nicht um Räume einer Schank- oder Speisewirtschaft im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 SpielV. Sowohl nach dem optischen Erscheinungsbild als auch nach dem von den verschiedenen Betreibern seit 2017 bis heute verfolgten Betriebskonzept liege der Schwerpunkt auf dem Angebot von Wasserpfeifen zum Rauchen an Ort und Stelle, die Abgabe von Speisen und Getränken bilde nicht den Hauptzweck. Ohne den Widerruf der Geeignetheitsbestätigung werde das öffentliche Interesse im Sinne von § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG NRW gefährdet. Die Widerrufsfrist der §§ 49 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG NRW sei eingehalten. Die Beklagte habe ihr Ermessen fehlerfrei zugunsten eines Widerrufs der Geeignetheitsbestätigung ausgeübt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die gegen diese Wertung erhobenen Einwände der Klägerin führen nicht zur Zulassung der Berufung.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hält die Wertung des Verwaltungsgerichts bereits deshalb für unzutreffend, weil sich das Gericht durch einen Ortstermin in den späten Mittagsstunden einen Eindruck von der Örtlichkeit verschafft habe. Diese Rüge greift nicht durch. Der Zeitpunkt der Inaugenscheinnahme vermag weder das sich aus der entsprechenden Benennung, Leuchtreklame und optischen Dominanz der Wasserpfeifen ergebende Erscheinungsbild der Shishabar noch das Betriebskonzept ihrer jeweiligen Betreiber zu beeinflussen, gegen die sich die Klägerin in ihrem Zulassungsvorbringen nicht gewandt hat. Hieran ändert auch die von der Klägerin angeführte größere Anzahl der Gäste nach Ende der üblichen Arbeitszeiten nichts. Das Verwaltungsgericht hat insoweit auf die Feststellungen der Beklagten und der Polizei bei Kontrollen in den Abendstunden zur überwiegenden Inanspruchnahme der Wasserpfeifen durch die Gäste verwiesen, ohne dass die Klägerin dem schlüssig entgegengetreten wäre. Dessen ungeachtet ergibt sich aus der Anzahl der Gäste weder ein anderer Eindruck vom Erscheinungsbild des Betriebs noch ein anderweitiges Betriebskonzept.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt für das von der Klägerin bemängelte Abstellen des Verwaltungsgerichts auf eine spärliche Anzahl von Gläsern und Geschirr, das jeder Gastronom bei Bedarf ausreichend aufstocken werde, deren es jedoch durch das bevorzugte Trinken der vielfach auf das untere Preisniveau angewiesenen Gäste aus Flaschen oder Dosen nicht bedürfe.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig greift der Einwand durch, es handele sich bei der Shishabar um einen Gaststättenbetrieb der südländischen Art, den man nicht mit einem gastronomischen Betrieb vergleichen dürfe, der den hiesigen Gewohnheiten entspreche. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Klarstellung in § 1 Abs. 2 Nr. 2 SpielV darauf abgestellt, dass Räumlichkeiten einer Schank- und Speisewirtschaft nur dann geeignete Aufstellorte für Geldspielgeräte sind, wenn sie durch den Schank- und Speisebetrieb geprägt sind und nicht überwiegend einem anderen Zweck dienen; das Spielen darf nur Annex der im Vordergrund stehenden Bewirtungs- und Beherbergungsleistung sein und die Räume dürfen nicht in erster Linie zur Befriedigung des Unterhaltungsbedürfnisses aufgesucht werden. Daraus ergibt sich ohne Weiteres, dass eine etwaige landestypische Prägung des Betriebs, bei der diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, rechtlich unerheblich ist. Entscheidend ist die im Vordergrund stehende konkrete Nutzung des Betriebs, die die Klägerin selbst bei einem „arabischen Café“ mit der Kommunikation und dem im großen Umfang erfolgenden Rauchen von Shisha als traditionell gegeben ansieht. Der in diesem Zusammenhang erhobene Einwand, das Rauchen von Wasserpfeifen sei für einen gastronomischen Betrieb ebenso unwirtschaftlich wie der Betrieb von Geldspielgeräten, so dass es auf den Getränkekonsum ankomme, bleibt angesichts der nach den aktenkundigen Preisblättern (Bl. 96 f. der Gerichtsakten) im Vergleich zu den Getränken deutlich höheren Kosten des Rauchens von Wasserpfeifen, das unstreitig in durchaus erheblichem Umfang erfolgt, eine gänzlich unschlüssige und unbelegte Behauptung.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Schließlich legt die Klägerin nicht dar, inwieweit eine etwaige Unauffälligkeit der Geldspielgeräte und die Einhaltung der Jugendschutzanforderungen die erforderliche ‒ hier fehlende ‒ überwiegende Prägung des Betriebs durch die Abgabe von Speisen und Getränken beeinflussen könnte. Soweit die Klägerin mit diesen Argumenten eine anderweitige Sicherstellung des Jugendschutzes darlegen möchte, steht dem entgegen, dass Gegenstand der Geeignetheitsbestätigung nach § 33c Abs. 3 GewO allein die Geeignetheit des Aufstellorts bildet, an der es hier (gerade) fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.11.2016 ‒ 4 A 466/14 ‒, juris, Rn. 50.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten liegen dann vor, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.12.2020 ‒ 4 A 74/19 ‒, juris, Rn. 20 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Das ist hier nicht der Fall. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass sich die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen bereits im Zulassungsverfahren klären lassen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.</p>
|
345,979 | vg-osnabruck-2022-07-25-3-b-10422 | {
"id": 618,
"name": "Verwaltungsgericht Osnabrück",
"slug": "vg-osnabruck",
"city": 376,
"state": 11,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 B 104/22 | 2022-07-25T00:00:00 | 2022-07-29T10:00:46 | 2022-10-17T17:55:25 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag, mit dem der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner am 14. Juli 2022 erhobenen Klage (3 A 144/22) gegen das mit Bescheid vom 9. Juni 2022 ihm gegenüber angeordnete Tätigkeitsverbot begehrt, hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gerichtete Antrag ist statthaft, weil die Klage des Antragstellers hier kraft Gesetzes (§ 20a Abs. 5 Satz 4 Infektionsschutzgesetz - IfSG -) keine aufschiebende Wirkung hat (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Antrag hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Zunächst sei darauf hingewiesen, dass eine den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügende Begründung seitens des Antragsgegners aufgrund der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheides entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht erforderlich war. Die angegriffene Verfügung ist formell rechtmäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Auch in materieller Hinsicht hat der Antrag keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht in den Fällen, in denen - wie hier - eine Klage kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat, selbige anordnen, wenn das Interesse des Adressaten, von der Vollziehung einer Maßnahme vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Die gerichtliche Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO setzt eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten des Antragstellers aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren bei summarischer Prüfung zu erkennen ist, dass sein Rechtsbehelf offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Mai 2004 - 2 BvR 821/04 -, juris Rn. 20; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 970 ff. m.w.N.). Dagegen überwiegt das Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Oktober 1995 - BVerwG 1 VR 1.95 -, juris Rn. 3). Bleibt der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache bei der in dem Aussetzungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 11. September 1998 - BVerwG 11 VR 6.98 -, juris Rn. 4) jedoch offen, kommt es auf eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen an (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 2019 - BVerwG 1 VR 1.19 -, juris Rn. 6; Nds. OVG, Beschluss vom 10. März 2020 - 13 ME 30/20 -, juris Rn. 7).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Vorliegend ist das auf Grundlage des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG angeordnete Tätigkeitsverbot nach summarischer Prüfung rechtmäßig. Das Vollziehungsinteresse des Antragsgegners überwiegt somit das Aussetzungsinteresse des Antragstellers.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Nach der Vorschrift des § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 IfSG müssen die in bestimmten Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens und der Pflege tätigen Personen ab dem 15. März 2022 geimpft oder genesen sein. Bis zum Ablauf des 15. März 2022 haben Sie daher der Leitung der Einrichtung oder des Unternehmens einen Impf- oder Genesenennachweis nach § 22a Abs. 1 oder 2 IfSG oder aber ein ärztliches Zeugnis über das Bestehen einer medizinischen Kontraindikation vorzulegen (vgl. § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG). Wird bis zum 15. März 2022 kein Nachweis vorgelegt oder bestehen Zweifel an seiner Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit, hat die Leitung der jeweiligen Einrichtung oder des jeweiligen Unternehmens unverzüglich das Gesundheitsamt zu benachrichtigen (vgl. § 20a Abs. 2 Satz 2 IfSG). Dieses kann gegenüber Personen, die trotz Anforderung keinen Nachweis innerhalb angemessener Frist vorlegen, ein Betretungsverbot oder auch ein Tätigkeitsverbot verfügen (vgl. § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG). Zudem sind verschiedene Regelungen des § 20a IfSG bußgeldbewehrt (vgl. 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h IfSG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Vorausgeschickt sei, dass die Kammer eine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 20a Abs. 1 IfSG nicht zu erkennen vermag (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, juris; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 17. Mai 2022 - 2 B 62/22 -, juris unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2022 - 1 BvR 2649/21).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Bedenken bestehen darüber hinaus auch nicht gegen die Regelung des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG. Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 27. April 2022, a.a.O.) hat dazu ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p><em>„a) § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG dient einem legitimen Zweck. Betretungs- und Tätigkeitsverbote sollen vulnerable Personen auch dann schützen, wenn sich die von der Nachweispflicht Betroffenen gegen eine Impfung entscheiden und gleichwohl ihre Tätigkeit fortsetzen. Mit dem erstrebten Schutz von Gesundheit und Leben der besonders gefährdeten, vulnerablen Personen dient § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG überragend wichtigen Rechtsgütern (vgl. dazu auch BVerfGE 121, 317 <356>; 126, 122 <140>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 176 m.w.N.; vgl. dazu auch Conseil Constitutionnel, Décision n°2021-824 DC vom 5. August 2021, Rn. 123).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p><em>b) Die angegriffene Regelung in § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ist im verfassungsrechtlichen Sinn auch geeignet, ihren Zweck zu erreichen. Der Gesetzgeber durfte annehmen, dass Betretungs- oder Tätigkeitsverbote für diejenigen Personen, die weder geimpft noch genesen sind, Leben und Gesundheit vulnerabler Menschen schützen. Betretungs- oder Tätigkeitsverbote tragen dazu bei, dass die von § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Personen nicht mit den zu schützenden vulnerablen Menschen in direkten oder indirekten Kontakt kommen und sie infizieren können. Die angegriffenen Regelungen sind auch erforderlich. Ein milderes Mittel, das angestrebte Ziel gleich wirksam zu fördern, ist nicht ersichtlich</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p><em>c) Die Regelung ist bei einer Abwägung zwischen ihrem Zweck und der Schwere des Eingriffs angemessen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p><em>aa) Die Belastungswirkungen, die von § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ausgehen, unterscheiden sich je nach Art der ausgeübten Tätigkeit. Die Anordnung eines Betretungs- oder Tätigkeitsverbots hindert selbständig Tätige im Gesundheits- und Pflegebereich während der Geltungsdauer des angegriffenen Gesetzes regelmäßig an der weiteren Ausübung ihres Berufs und/oder ihrer Tätigkeit. Doch auch im Angestelltenverhältnis Tätige trifft eine entsprechende Anordnung nicht unerheblich. Zwar bleibt ein der ausgeübten Tätigkeit zugrundeliegendes Arbeits- oder Dienstverhältnis davon zunächst unberührt. Gleichwohl geht mit einem Tätigkeitsverbot regelmäßig zumindest der Verlust des Vergütungsanspruchs einher (vgl. Harländer/Otte, NZA 2022, 160 <163>). Wenn nicht ausnahmsweise eine Freistellung von der Arbeits- oder Dienstleistungsverpflichtung für die Gültigkeitsdauer des Gesetzes vereinbart werden kann, muss auch mit einer Kündigung des Arbeits- oder Dienstvertrags gerechnet werden. Insoweit geht der Gesetzgeber selbst davon aus, dass bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Vergütungspflicht des Arbeitgebers entfällt und weitere arbeitsrechtliche Konsequenzen, insbesondere eine Kündigung, in Betracht kommen (vgl. BTDrucks 20/188, S. 42). Auch soweit als Folge eines Tätigkeitsverbots eine bloße Umsetzung, Versetzung oder Betrauung mit anderen Tätigkeiten in der Einrichtung oder dem Unternehmen möglich sind, hat dies nicht unerhebliche berufsbeschränkende Wirkungen. Gleiches gilt für die Anordnung eines Betretungsverbots, was einen Wechsel jedenfalls des Orts der Tätigkeit zur Folge haben kann (zum Beispiel ein Wechsel ins Home-Office).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p><em>Die gesetzliche Regelung belastet dabei insbesondere diejenigen Personen, die auch im Falle eines Arbeitsplatzwechsels stets vom Erfordernis einer Impfung oder Genesung betroffen wären und sich diesem folglich nur durch Ausübung einer berufsfremden Tätigkeit entziehen können, wie etwa Pflegefachkräfte, Ärzte, Psychotherapeuten oder medizinische Fachangestellte. Ihnen wird durch den fehlenden Nachweis einer Impfung oder Genesung nicht nur der gegenwärtige, sondern ganz weitgehend jeder Arbeitsplatz in ihrem erlernten Berufsfeld bis zum 31. Dezember 2022 deutschlandweit unzugänglich und damit die freie Wahl über die Fortsetzung ihres Berufs ganz weitgehend unmöglich gemacht.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p><em>Demgegenüber kann etwa Verwaltungs-, Reinigungs- und Küchenpersonal zwar an seinem gegenwärtigen Arbeitsplatz vom Erfordernis einer Impfung oder Genesung erfasst sein. Diese Personen können jedoch bei einem Arbeitsplatzwechsel ihre gewählte berufliche Tätigkeit als solche weiter ausüben, solange sie nur nicht mehr in von § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Einrichtungen oder Unternehmen tätig werden. Sie sind daher nicht zu einer vollständigen beruflichen Neuorientierung gezwungen, sondern nur zu einem Arbeitsplatzwechsel. Entsprechendes gilt für Dienstleister, die nicht allein für von § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG erfasste Einrichtungen und Unternehmen tätig sind.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p><em>bb) Die Belastungswirkungen erfahren teilweise Milderungen, denn der Gesetzgeber lässt auch die Interessen der betroffenen Berufsgruppen nicht unberücksichtigt. Zum einen stehen die Anordnung von Betretungs- oder Tätigkeitsverboten im Ermessen der Behörde, die bei ihrer Entscheidung das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG insbesondere bei Bemessung der Dauer der Anordnung zu berücksichtigen hat (vgl. auch BTDrucks 20/188, S. 42). Zum anderen hat der Gesetzgeber den betroffenen Berufsgruppen eine Übergangsfrist von rund drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes bis zum 15. März 2022 gewährt, um sich auch bei fehlender Bereitschaft zur Impfung auf die beruflichen Folgen einzustellen. Zudem ist ein Betretungs- oder Tätigkeitsverbot aufzuheben, sobald ein gültiger Nachweis im Sinne des § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG vorgelegt wird.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p><em>cc) § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ist letztlich auch angemessen. Der Zweck, vulnerable Personen vor einer schwerwiegenden oder sogar tödlich verlaufenden COVID-19-Erkrankung zu schützen, rechtfertigt als besonders gewichtiger Belang (dazu Rn. 155) auch die Anordnung eines Betretungs- oder Tätigkeitsverbots. Selbst unter Berücksichtigung, dass § 20a IfSG vielen Betroffenen für einen bestimmten Zeitraum sogar den Zugang zu ihrem Beruf versperrt, erscheint die Regelung nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p><em>Insoweit spiegelt die unterschiedliche Belastungswirkung auch die Bedeutung der Impfung oder Genesung der jeweils Tätigen für die Zweckerreichung wider. Das durch § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG besonders betroffene Personal in Heil- und Pflegeberufen steht aufgrund der Natur seiner beruflichen Tätigkeit regelmäßig in intensivem und engem Kontakt zu vulnerablen Personen, wodurch das durch die fehlende Impfung oder Genesung erhöhte Transmissionsrisiko akut wird und die Schutzbedürftigkeit vulnerabler Personen ungleich steigt. Das betroffene Verwaltungs-, Reinigungs- oder Küchenpersonal hat hingegen regelmäßig keinen oder nur einen kurzen unmittelbaren Kontakt zu vulnerablen Menschen und damit im Regelfall nur mittelbare, durch die gemeinsame Nutzung von Räumlichkeiten oder durch das medizinische und sonstige Pflege- und Betreuungspersonal vermittelte Kontakte mit den zu schützenden Personen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p><em>Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass Beschäftigte nicht nur allgemein verpflichtet sind, für ihre eigene sowie die Sicherheit und Gesundheit derjenigen Personen zu sorgen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit (etwa als Kollegin oder Kollege) betroffen sind (vgl. § 15 Abs. 1 ArbSchG), sondern dass das durch § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG besonders betroffene Personal in Heil- und Pflegeberufen auch eine besondere Verantwortung gegenüber den von ihm behandelten und betreuten Personen hat. Gerade Ärztinnen und Ärzten vertrauen Patienten ihre Gesundheit und nicht selten auch ihr Leben an. Jedenfalls Ersteres gilt in gleichem Maße für alle Heil- und Pflegeberufe. Dieser besonderen Verantwortung, an die auch das Gesetz anknüpft (vgl. BTDrucks 20/188, S. 2), müssen sich Angehörige dieser Berufsgruppen schon bei ihrer Berufswahl bewusst sein.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Diesen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Der Vortrag des Antragstellers, mit dem er zum einen das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG infrage zu stellen (dazu unter 1.) und zum anderen die Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Verfügung darzulegen versucht (dazu unter 2.), verfängt nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist er selbstverständlich vom Anwendungsbereich des § 20a Abs. 1 IfSG umfasst. Zu den Personen, die ab dem 15. März 2022 über einen Impf- oder Genesenennachweis verfügen müssen, zählen gemäß § 20a Abs. 1 Nr. 1 h) auch Personen, die in Zahnarztpraxen tätig sind. Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Regelung bestehen bei der Kammer nicht; vielmehr ist es geradezu auf der Hand liegend, dass Personen, die in Zahnarztpraxen beschäftigt sind, aufgrund ihres Betätigungsfeldes regelmäßig in unmittelbarer Nähe zu den Gesichtern der jeweiligen Patienten agieren. Weshalb Zahnarztpraxen daher anders als beispielsweise allgemeinärztliche Praxen oder auch orthopädische Praxen von der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nicht umfasst sein sollten, erschließt sich der Kammer nicht. Auf den tatsächlichen Kontakt zu besonders vulnerablen Personengruppen kommt es nicht an; § 20a Abs. 1 IfSG differenziert insoweit nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang auch darauf hinweist, dass es sich seiner Ansicht nach bei den bisher vorliegenden Impfstoffen nicht um eine Impfung im zulässigen Sinne, insbesondere des Arzneimittelgesetzes, handle, hält die Kammer diesen durch keinerlei wissenschaftliche Nachweise belegten Vortrag für abwegig. Die aktuell vorliegenden Impfstoffe wurden jeweils von der WHO und auch der Europäischen Arzneimittelagentur EMA anerkannt. Gegenläufige Ansichten bezüglich deren Zulässigkeit als Impfstoff werden im wissenschaftlichen Diskurs als Einzelmeinungen eingeordnet; die Zulässigkeit der Impfstoffe ist wissenschaftlich anerkannt. Darüber hinaus geht der Antragsteller fehl, wenn er darauf hinweist, dass bislang kein Totimpfstoff zugelassen sei. Mit dem Vakzin „Nuvaxovid“ von Novavax steht seit geraumer Zeit ein proteinbasierter Impfstoff, der im weiteren Sinne ein Totimpfstoff ist (vgl. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/130246/Novavax-EMA-macht-Weg-frei-EU-Kommission-erteilt-Zulassung, zuletzt abgerufen am 22. Juli 2022), zur Verfügung, mit dem sich der Antragsteller immunisieren lassen könnte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>c)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Eine Kontraindikation des Antragstellers im Sinne des § 20a Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 IfSG liegt nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Das entsprechende „Attest zur kritischen Impfbewertung“ des Dr. E. vom 15. Juni 2022 zählt zwar die Vorerkrankungen des Antragstellers auf, kommt jedoch lediglich zu dem Schluss, dass eine Impfung kritisch zu bewerten sei. Der Arzt führt ausdrücklich aus, dass eine Impfkontraindikation nicht ausgestellt werden dürfe und könne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung, die der Antragsgegner mit einem Widerrufsvorbehalt für den Fall, dass der Antragsteller einen Impf- oder Genesenennachweis vorlegt, versehen hat, bestehen im Rahmen der hier gebotenen summarischen Prüfung ebenfalls nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Die Verfügung weist insbesondere keine Ermessensfehler auf. Gemäß § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG kommt der Behörde bei der Frage der Verhängung der in dieser Vorschrift vorgesehenen Maßnahmen ein Ermessensspielraum zu. Von diesem Ermessen hat der Antragsgegner aller Voraussicht nach sachgerecht Gebrauch gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner hat zur Begründung ausgeführt, dass die Anordnung des Tätigkeitsverbots geeignet sei, den Schutz vulnerabler Personen zu gewährleisten. Die Aussprache des Tätigkeitsverbots sei auch erforderlich, da ein milderes Mittel in Form eines Betretungsverbots nicht gleich wirksam sei. Die Anordnung sei auch angemessen. Der damit verbundene massive Eingriff in das Grundrecht des Antragstellers auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) werde durch die staatliche Verpflichtung zur Aufrechterhaltung und Gewährleistung des öffentlichen Gesundheitsschutzes und das Recht auf körperliche Unversehrtheit dritter - vulnerabler - Personen gerechtfertigt. Der Schutzzweck sei besonders gewichtig und ein überwiegender Belang. Aufgrund der Natur der beruflichen Tätigkeit des Antragstellers stehe dieser regelmäßig in intensivem und engem Kontakt zu vulnerablen Personen. Das durch die fehlende Impfung oder Genesung erhöhte Transmissionsrisiko werde dadurch akut.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Ansicht des Antragstellers hat der Antragsgegner weder die massiven Folgen der streitgegenständlichen Verfügung für diesen ignoriert noch das Risiko für betroffene Dritte unverhältnismäßig überhöht. Wie bereits ausgeführt, hat gerade der Antragsteller als Zahnarzt unmittelbaren und engen Kontakt zu den Gesichtern seiner Patienten, insbesondere zu deren Mund- und Nasenöffnungen. Trotz aller vom Antragsteller ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen ist in dieser Konstellation das Risiko für eine Übertragung des Virus durch den Antragsteller auf seine Patienten oder auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am Stuhl erheblich erhöht. Dies gälte bereits für den Fall, dass der Antragsteller geimpft wäre; das Risiko, dass sich der Antragsteller mit dem Corona-Virus infiziert und es insoweit auf Patienten oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen überträgt, ist durch seine fehlende Impfung jedoch wesentlich erhöht. Dabei kommt es nicht allein auf eine etwaig erhöhte Übertragungswahrscheinlichkeit, sondern vielmehr auf die unbestritten erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit des Antragstellers an.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Da zu den besonders vulnerablen Personen nicht nur alte oder schwerstkranke Menschen, sondern Personen mit vielfältigen Vorerkrankungen oder aber auch chronisch kranke Menschen zählen, ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller in seiner beruflichen Tätigkeit Kontakt mit solchen Personen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass Beschäftigte im Heil- und Pflegesektor nicht nur allgemein verpflichtet sind, für ihre eigene sowie die Sicherheit und Gesundheit derjenigen Personen zu sorgen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit (etwa als Kollegin oder Kollege) betroffen sind (vgl. § 15 Abs. 1 ArbSchG), sondern dass das durch § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG besonders betroffene Personal in Heil- und Pflegeberufen auch eine besondere Verantwortung gegenüber den von ihm behandelten und betreuten Personen hat. Gerade Ärztinnen und Ärzten vertrauen Patienten ihre Gesundheit und nicht selten auch ihr Leben an. Dieser besonderen Verantwortung, an die auch das Gesetz anknüpft (vgl. BTDrucks 20/188, S. 2), müssen sich Angehörige dieser Berufsgruppen schon bei ihrer Berufswahl bewusst sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022, a.a.O.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antragsteller auf organisatorische Schwierigkeiten, die mit dem angeordneten Verbot einhergehen, verweist, kann ihm darin nicht gefolgt werden. Zum einen hat der Gesetzgeber nach Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht großzügige Übergangsfristen eingeräumt, die der Antragsteller offenbar weder für eine Impfung noch für das Treffen von Vorkehrungen für den Fall der Anordnung eines Tätigkeitsverbots genutzt hat. Zum anderen ist das Tätigkeitsverbot aktuell aufgrund der Gültigkeitsdauer des § 20a IfSG bis zum 31. Dezember 2022 befristet. Betroffen ist also lediglich ein überschaubarer Zeitraum. Begonnene Behandlungen können selbstverständlich von anderen Zahnärzten fortgesetzt werden. Dem stehen auch Haftungsfragen nicht entgegen. Zahnärzte können auch aus anderen Gründen plötzlich ausfallen und eine Fortsetzung der Behandlung durch einen anderen Arzt erforderlich sein. Mit dem Wissen um seinen Impfstatus und die gesetzlichen Regelungen hätte der Antragsteller überdies auch davon absehen können, langfristige Behandlungen zu beginnen, um seinen Patienten die nun eintretende Situation zu ersparen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG. Da das Eilrechtsschutzbegehren inhaltlich auf die Vorwegnahme der Hauptsache zielt, ist eine Reduzierung des Streitwerts für das Eilverfahren in Anlehnung an Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht angezeigt. Als Streitwert hat die Kammer den vom Antragsteller vorgetragenen wirtschaftlichen Verlust durch das streitgegenständliche Tätigkeitsverbot in Ansatz gebracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006627&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,315 | lg-munster-2022-07-22-5-t-157021 | {
"id": 815,
"name": "Landgericht Münster",
"slug": "lg-munster",
"city": 471,
"state": 12,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 5 T 1570/21 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-26T10:01:28 | 2022-10-17T11:09:29 | Beschluss | ECLI:DE:LGMS:2022:0722.5T1570.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die sofortige Beschwerde vom 30.09.2011 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 15.09.2021 wird auf Kosten des Beschwerdeführers zurückgewiesen.</p>
<p>Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 6.911,86 € festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Beschwerdeführer streitet um eine höhere Vergütung für seine Tätigkeit als Insolvenzverwalter der Insolvenzschuldnerin.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss des Amtsgerichts – Insolvenzgericht – vom 20.08.2012 wurde der Beschwerdeführer zunächst zum vorläufigen Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin bestellt. Gegenstand des Unternehmens der Schuldnerin war die Errichtung von Hoch- und Tiefbaumaßnamen aller Art, die schlüsselfertige Errichtung von Baumaßnahmen, der Handel mit Baumaterialien sowie die Fertigung und Errichtung von Fertighäusern aller Art. Eigene Bautätigkeiten wurden im Rahmen des Maurer- sowie Beton- und Stahlbetonbauer-Handwerks ausgeübt. Mit Beschluss vom 01.10.2012 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beschwerdeführer zum Insolvenzverwalter bestellt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Seine Vergütung und Auslagen als vorläufiger Insolvenzverwalter wurden mit Beschluss vom 25.02.2014, welcher nach Zurückweisung der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 21.03.2014 rechtskräftig geworden ist, auf 12.849,45 € festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Antrag vom 09.03.2021 begehrte der Beschwerdeführer für seine Tätigkeit als Insolvenzverwalter die Festsetzung seiner Vergütung und Auslagen in Höhe von insgesamt 21.091,55 € brutto, wobei er ausgehend von einer Berechnungsgrundlage von 465.728,13 € und einer Regelvergütung von 34.659,38 € netto Zuschläge zur Regelvergütung in Höhe von 12.130,79 € netto (15 % Zuschlag Betriebsfortführung und 20 % Zuschlag Bauinsolvenz) und Auslagen i.H.v. 11.233,82 € netto abzüglich eines bereits gezahlten Vergütungsvorschusses i.H.v. 40,300 € netto geltend machte.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht setzte Vergütung und Auslagen mit Beschluss vom 16.11.2021 auf insgesamt 9.023,30 € brutto fest, wobei ausgehend von einer Berechnungsgrundlage von 465.728,13 € eine Regelvergütung von 36.287,28 € netto (1,05-facher Regelsatz wegen Betriebsfortführung), Auslagen i.H.v. 11.203,79 € netto abzüglich bereits entnommener Vorschüsse i.H.v. 47.352, 50 € brutto anerkannt wurden.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 27.09.2021 hat der Beschwerdeführer gegen den Vergütungsfestsetzungsbeschluss Beschwerde eingelegt mit der Begründung ein 1,05-facher Regelsatz sei bei einer Bauinsolvenz unangemessen niedrig. Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 14.10.2021 der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache der Beschwerdekammer zur Entscheidung vorgelegt.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die nach § 64 Abs. 3 S. 1 InsO statthafte und nach §§ 4 InsO, 567, 569 ZPO zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich hat ein Insolvenzverwalter gemäß § 63 Absatz 1 Satz 2 InsO einen Anspruch auf die nach § 2 Absatz 1 InsVV zu berechnende Regelvergütung. Dem Umfang und der Schwierigkeit der Geschäftsführung des Verwalters wird nach § 63 Absatz 1 Satz 3 InsO durch Abweichungen vom Regelsatz Rechnung getragen. § 3 InsVV konkretisiert diese gesetzliche Vorgabe durch das Benennen von Faktoren, die einen Zuschlag oder Abschlag vom Regelsatz rechtfertigen. Die Bestimmung liefert damit Maßstäbe für die Festsetzung einer gerechten Vergütung im Einzelfall, wobei die einzelnen Zuschlags- und Abschlagstatbestände nur beispielhaften Charakter haben und nicht abschließend sind. Von bindenden Vorgaben für die Bemessung von Zu- und Abschlägen hat der Verordnungsgeber bewusst abgesehen, weil für die Festsetzung der Vergütung die umfassende Berücksichtigung aller im Einzelfall in Betracht kommenden Faktoren ganz im Vordergrund stehen soll. Daher ist eine Prüfung aller möglichen Zuschlags- und Abschlagstatbestände im Einzelnen darauf, ob und in welcher Höhe sie für sich genommen eine Abweichung vom Regelsatz rechtfertigen, nicht geboten. Es kommt vielmehr auf eine im Ergebnis angemessene Gesamtwürdigung an (BGH Beschluss vom 24.07.2003, Az. IX ZB 607/02; BGH Beschluss vom 11.05.2006, Az. IX ZB 249/04). In Rechtsprechung und Literatur haben sich die Fallgruppen herausgebildet, für die allgemein anerkannt ist, dass die Vergütung bei bestimmten Konstellationen entsprechend zu erhöhen ist (vgl. hierzu Haarmeyer/Mock, InsVV, 6. Auflage 2019, § 3 Rn. 39), wobei auch in diesen Fällen die Bestimmung einzelner Zu- und Abschläge nicht verpflichtend ist sondern es letztlich auf eine Gesamtwürdigung aller Faktoren ankommt (BGH Beschluss vom 11.05.2006, Az. IX ZB 249/04, s. auch amtliche Begründung zu § 3 InsVV, abgedruckt in HWF InsVerw-HdB 54). Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung ist auch zu bedenken, dass eine hohe Vergütung des Verwalters die Befriedigungsaussichten der Gläubiger schmälert, aber andererseits der Verwalter eine Tätigkeit ausübt, die allen Gläubigern zugutekommt. Insoweit ist ein angemessener Ausgleich zu schaffen (Haarmeyer/Mock, InsVV, 6. Auflage 2019, § 3 Rn. 8). Ferner muss die Abweichung vom Normalfall so signifikant sein, dass, für jede sachkundige Person erkennbar, ein Missverhältnis entstünde, wenn nicht die besonders schwierige oder vom Umfang her erhebliche Tätigkeit des Verwalters auch in einer vom Normalfall abweichenden Festsetzung der Vergütung ihren Niederschlag fände (BGH, Beschluss vom 26.09.2013, Az. IX ZB 246/11).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Kriterien hält die Kammer die vom Insolvenzgericht festgesetzte Vergütung für angemessen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Regelvergütung wird mit der Beschwerde nicht angefochten. Die Beschwerde richtet sich allein dagegen, dass das Insolvenzgericht den vom Beschwerdeführer beantragten Zuschlag von 0,2 wegen des Vorliegens einer Bauinsolvenz gestrichen hat.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Diesbezüglich ist es zwar anerkannt, dass bei der Abwicklung von Bauinsolvenzen Insolvenzverwalter regelmäßig besondere Schwierigkeiten zu bewältigen, die deutlich von den Aufgaben in einem klassischen Normalverfahren und der darin gegebenen gesetzlichen Aufgabenerfüllung abweichen können (vgl. Haarmeyer/Mock, 6 Aufl. 2019, InVV § 3 Rn. 93). Dabei ist aber immer eine „besonders intensive Inanspruchnahme <em>im Einzelfall“</em> erforderlich (Haarmeyer/Mock, aaO, Hervorhebung diess.), die der Insolvenzverwalter konkret darlegen und begründen muss (Haarmeyer/Mock, InVV, 6. Aufl. 2019, § 3 Rn. 1b, 10). Diesen Anforderungen ist der Beschwerdeführer hier nicht nachgekommen. Insofern ist es nicht ausreichend, dass der Beschwerdeführer vorgetragen hat, dass sich der Mehraufwand daraus ergebe, dass die Schlussrechnungen an/von die Firma V GmbH zum Projekt Z habe geprüft werden müssen sowie bis in das Jahr 2016 hinein Mängel- und Folgeschädenanzeigen von fünf Firmen auf ihre sachliche Richtigkeit und Begründetheit geprüft worden seien sowie hinsichtlich zurückbehaltener Gewährleistungseinbehalte und ausgereichter Mängelgewährleistungsbürgschaften mehrfach die Auszahlung bzw. Rückgabe der Sicherheiten nach Ablauf der Gewährleistungsfrist habe angefordert und teilweise durch Mahnbescheid durchgesetzt worden sei. Denn der Beschwerdeführer hat – auch nach entsprechendem Hinweis des Gerichts – insofern weder dargelegt, in welchem zeitlichen Umfang die angeführten Tätigkeiten durchgeführt wurden, insbesondere auch unter Berücksichtigung, dass im Hinblick auf Mängelanzeigen teilweise auch eine rechtsanwaltliche Bearbeitung erfolgte noch inwieweit dies konkret einen Mehraufwand erforderte gegenüber der Bearbeitung von vergleichbaren Verfahren, in denen ebenfalls etwa eine Forderungsprüfung durchzuführen ist (Haarmeyer/Mock, InsVV, 6. Aufl. 2019, § 3 Rn. 76).</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Sofern das Amtsgericht abweichend vom Antrag des Beschwerdeführers den Zuschlag für die Betriebsfortführung auf 5% festgesetzt hat, hat der Beschwerdeführer dies mit seiner Beschwerde nicht angegriffen. Diese Festsetzung begegnet zudem auch keinen Bedenken. Das Amtsgericht hat insofern zutreffend berücksichtigt, dass im eröffneten Insolvenzverfahren lediglich ein Auftrag, das Bauprojekt Z, fertiggestellt worden sei, ohne dass dabei nennenswerte Schwierigkeiten aufgetreten seien.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 4 InsO, 97 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung ist unanfechtbar.</p>
|
346,246 | vg-hannover-2022-07-22-12-b-548621 | {
"id": 615,
"name": "Verwaltungsgericht Hannover",
"slug": "vg-hannover",
"city": 325,
"state": 11,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 12 B 5486/21 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-20T10:00:44 | 2022-10-17T11:09:19 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Baugenehmigung, die der Antragsgegner der Beigeladenen erteilt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks mit der postalischen Anschrift F. in G. (Flurstück H., Flur I. der Gemarkung G.), das mit einem von ihr bewohnten Einfamilienhaus bebaut ist. Die Beigeladene ist Eigentümerin des südwestlich angrenzenden Nachbargrundstücks mit der postalischen Anschrift J. (Flurstück K., Flur I. der Gemarkung G.). Beide Grundstücke liegen an der Westseite der L. und grenzen mit den straßenabgewandten Seiten an den Außenbereich an. Sie befinden sich im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. M. der Gemeinde G., der das Gebiet als allgemeines Wohngebiet ausweist. Die Beigeladene betrieb auf ihrem Grundstück zunächst ein Alten- und Pflegeheim mit 55 Wohnheimplätzen. Am 03.05.2018 beantragte sie die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung zu einem sozialtherapeutischen Zentrum. Dafür waren kleinere bauliche Veränderungen in und an den Bestandsgebäuden (Ein- und Umbau einiger Bäder, Errichtung von Außentreppen an den rückwärtigen Gebäudeseiten), die Umzäunung eines rückwärtig an die Gebäude angrenzenden Bereichs mit einem 3 m hohen Zaun und daran anschließend die Aufstellung von zwei Containern geplant. In der mit dem Bauantrag eingereichten, grüngestempelten Betriebsbeschreibung heißt es unter anderem:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„Das sozialtherapeutische Zentrum N. besteht aus 2 Bereichen mit insgesamt 41 Wohnheimplätzen. Davon sind 17 Wohnheimplätze dem beschützenden Bereich und 24 Wohnheimplätze dem allgemeinen Betreuungsbereich zugeordnet. Die Heimplätze für den beschützenden Bereich befinden sich im 2. OG. Die Heimplätze für den allgemeinen Bereich im EG und 1. OG. Die Bewohner werden 24 h täglich betreut. (…)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Bei den Bewohnern der Einrichtung handelt es sich meist um Menschen, die aufgrund ihrer krankheitsbedingten Einschränkungen einen Anspruch auf Betreuungsleistungen im Sinne des § 53 SGB XII haben. Bei den Bewohnern des beschützenden Bereichs bestehen regelmäßig psychiatrische Störungen, verbunden mit krankheitsbedingten Verhaltensauffälligkeiten und Desorientierung. Die Bewohner des beschützenden Bereichs weisen ein ausgeprägtes Krankheitsbild auf, das zu einer Eigengefährdung führen kann. Diese Gefahr der Eigengefährdung führt zu einem besonderen Bedarf an Betreuung und Kontrolle. Die Aufnahme in den beschützenden Bereich bedingt regelmäßig einen gerichtlichen Beschluss gem. § 1906 BGB. (…)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Im beschützenden Bereich im 2. OG, sowie im zugehörigen Außenbereich in Containern, stehen ausreichend Räume zu Therapiezwecken zur Verfügung, hier finden kreative und therapeutische Tätigkeiten, sowie Gruppenbeschäftigungen statt. Im beschützenden Außenbereich werden die Bewohner an der Gartenarbeit und der Grundstückspflege beteiligt, weiterhin steht hier eine Fläche zum Gemüseanbau zur Verfügung. Die Versorgung mit warmen Speisen (Mittagessen) erfolgt über einen externen Zulieferer. Die kalten Speisen (Frühstück oder Abendbrot) werden von den Bewohnern selbst zubereitet.“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Mit Bescheid vom 02.05.2019 erteilte der Antragsgegner der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Bei einer Baukontrolle im Februar 2021 stellte der Antragsgegner fest, dass die Umbauten im Erdgeschoss fertiggestellt worden waren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 24.08.2021 legte die Antragstellerin Widerspruch gegen die Baugenehmigung vom 02.05.2019 ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Über beides hat der Antragsgegner bislang nicht entschieden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Am 24.09.2021 hat die Antragstellerin um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht. Sie hält den Eilantrag für zulässig, da die Baugenehmigung ihr gegenüber noch nicht bestandskräftig geworden sei. Sie habe erst im Spätsommer 2021 nach einer Akteneinsicht durch ihren Verfahrensbevollmächtigten davon erfahren, dass die Beigeladene eine „geschlossene psychiatrische Einrichtung“ errichten wolle. Nunmehr habe die Beigeladene auch mit Baumfällungen und Umbaumaßnahmen begonnen. Selbst wenn die Baugenehmigung bestandskräftig geworden wäre, sei sie zurückzunehmen, weil sie hinsichtlich der Genehmigung einer „geschlossenen psychiatrischen Einrichtung“ rechtswidrig sei. Die Baugenehmigung sei formell rechtswidrig, weil weder eine Nachbarbeteiligung durchgeführt worden sei noch die erforderlichen Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans beantragt oder erteilt worden seien. Materiell verletze die Baugenehmigung ihren Gebietserhaltungsanspruch und verstoße gegen das Rücksichtnahmegebot. Bei dem „beschützenden Bereich“ der genehmigten Einrichtung handele es sich nicht um eine Wohnnutzung, da es an der dafür erforderlichen Freiwilligkeit fehle. Unter § 1906 Abs. 1 Satz 1 BGB würden nur freiheitsentziehende Unterbringungen gegen den Willen des Betroffenen fallen. Daher sei jede Einrichtung, in der Unterbringungen nach § 1906 BGB erfolgten, bauplanungsrechtlich einer Klinik oder einem Krankenhaus gleichzustellen und in einem allgemeinen Wohngebiet weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig. Hierfür hätte ein Sondergebiet ausgewiesen werden müssen, weil nur so die Abwägungsbelange der Nachbarn ausreichend hätten berücksichtigt werden können. Die Behauptung des Antragsgegners, dass eine Unterbringung oder Verwahrung der betroffenen Personen gegen ihren Willen nicht stattfinde, sei entweder contra legem oder unrichtig, was im Hauptsacheverfahren aufgeklärt werden müsse. Aus der geplanten Nutzung würden sich sehr viel stärkere Belastungen als durch eine reine Wohnnutzung ergeben. Mit dem Charakter eines allgemeinen Wohngebietes sei es unvereinbar, ein Freigelände einer geschlossenen Einrichtung mit hohem Sicherheitszaun zu installieren, in dem sich Menschen, denen die Freiheit entzogen worden sei, zwangsweise aufhielten. Zudem würden sich die Container im Freigelände nicht in die Umgebung einfügen, zu massiven optischen Beeinträchtigungen führen und mangels Lärmschutzes unzumutbare Lärmbelästigungen verursachen. Es hätte zumindest ein Sachverständigengutachten zum Lärmschutz eingeholt werden müssen. Das Vorhaben sei in keiner Weise mit den Grundzügen der Planung vereinbar. Das Plangebiet sei durch eine Villenstruktur geprägt, die überwiegend unter Denkmalschutz stehe, da G. in den 20er Jahren des vorherigen Jahrhunderts ein weltbekannter Kurort gewesen sei, in dem sich Staatsoberhäupter und berühmte Schriftsteller aufgehalten hätten. Kur- und Wanderwege würden direkt an den betroffenen Grundstücken vorbeiführen, der Englische Garten liege in unmittelbarer Nähe. Der Bebauungsplan schließe ausdrücklich störende Einwirkungen von Gewerbebetrieben und diesen gleichstehenden Einrichtungen auf das Wohnumfeld aus. Städteplanerisch strebe die Gemeinde eine Stärkung der Kurortqualität an und habe einen kostenintensiven Erholungsbereich mit gepflegtesten Gartenanlagen und Naturschutz- und Landschaftsschutzgebiet im historischen Kern geschaffen, der mit einer käfigartigen Verwahrsituation (Container, hoher Sicherheitszaun) nicht vereinbar sei. Zwischen den erholungssuchenden Kurgästen und den zwangsweise untergebrachten Personen komme es zwangsläufig zu Spannungen. Erstere würden sich optisch und hochwahrscheinlich auch akustisch bedrängt und eingeschüchtert fühlen, letztere würden mit ebenfalls kranken Personen konfrontiert, die ihre Freiheit genießen dürften, und müssten die Schönheit des Naturschutzgebietes ohne die Möglichkeit, es zu betreten, ertragen. Die bodenrechtlichen Spannungen seien im konkreten Fall sogar noch höher als bei einer herkömmlichen Klinik oder einem Krankenhaus, weil die Betriebsbeschreibung keine hinreichende Betreuung sicherstelle. Ungeachtet dessen, dass keine Behandlung der Erkrankungen durch geschultes Personal stattfinde, fehle es an hinreichend qualifiziertem Personal. Eine 24-stündige Betreuung von Personen mit psychiatrischen Störungen und Desorientierung könne durch einen Sozialpädagogen und fünf Heilerziehungspfleger nicht geleistet werden. Der Antragsgegner hätte sich mit der Heimaufsicht abstimmen müssen, ob das Nutzungskonzept überhaupt genehmigungsfähig sei. Es werde bestritten, dass die notwendigen Räumlichkeiten zur Verfügungen stünden und dass die pflegerischen Leistungen sachgerecht in Containern erbracht werden könnten. Sollte es zutreffen, dass die Untergebrachten - wie vom Antragsgegner und der Beigeladenen behauptet - die Station jederzeit verlassen könnten, würde dies angesichts der massiven psychischen Störungen mit Verhaltensauffälligkeiten und Desorientierung der Personen zu nachbarlichen Spannungen und Gefährdungen führen, deren Umfang im Rahmen des Hauptsacheverfahrens durch ein Sachverständigengutachten zu klären sei. Beim Verlassen des Geländes bestehe eine unzumutbare Gefahr von unkalkulierbarem und damit fremdgefährdendem Verhalten. Die Betroffenen seien nicht in der Lage, sich im offenen Bereich kontrolliert sozialadäquat zu verhalten. Im Plangebiet gebe es typischerweise keine Gartenzäune und -tore und in unmittelbarer Nachbarschaft befänden sich ein Reitstall und eine Kindertagespflegeeinrichtung. Wenn Reiter, insbesondere ausreitende Kinder, an der Einrichtung vorbeiritten, könnten durch unbedachte laute Geräusche, Bewegungen und Reaktionen gefährliche Schrecksituationen entstehen. Für die Untergebrachten stelle der Reitstall mit seinen Sport- und Turnierpferden ein erhebliches Reizgefährdungspotential dar. Es drohten Verunfallungen von Reitern, Pferden, Untergebrachten und Anwohnern. Für die orientierungslosen Personen bedeute auch die direkte Nähe zum O. eine Gefährdung. An anderer Stelle in der Samtgemeinde sei ein neues Krankenhaus in einem Sondergebiet errichtet worden, in dem eine entsprechende Abteilung ohne bodenrechtliche Spannungen hätte integriert werden können. Es fehle an Feststellungen, weshalb das Vorhaben gerade am beabsichtigten Standort verwirklicht werden solle und warum die Therapieräume nicht im Hauptgebäude unterbracht würden. Das Gebot der Rücksichtnahme sei verletzt, da von der geschlossenen Einrichtung und insbesondere von dem vorgesehenen Freigelände mit zwei Containern erhebliche Lärmbelästigungen und erhebliche beeinträchtigende Lichteinwirkungen etwa durch die Grundstückssicherung durch Scheinwerfer ausgingen, Einsichtsmöglichkeiten entstünden und der vorgesehene Zaun erdrückende Wirkung habe. Angesichts der Gefahrensituation für die Nachbarn und die Untergebrachten wäre selbst bei offenen Erfolgsaussichten die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs anzuordnen. Da die Beigeladene die psychiatrischen Störungen mit krankheitsbedingten Auffälligkeiten nicht weiter konkretisiert habe, könne nicht verlangt werden, dass sie, die Antragstellerin, bestimmte Verhaltensweisen benenne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Baugenehmigung vom 02.05.2019 anzuordnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Er nimmt Bezug auf den angegriffenen Bescheid und die Verwaltungsvorgänge und führt ergänzend aus: Der Antrag sei bereits unzulässig, weil die Baugenehmigung gegenüber der Antragstellerin bestandskräftig geworden sei. Die Widerspruchsfrist laufe ab dem Zeitpunkt, an dem der Nachbar Kenntnis von der Baugenehmigung habe erlangen müssen. Hinsichtlich einer möglichen Rechtsverletzung reiche ebenfalls die Erkennbarkeit. Hier sei zwar noch nicht mit dem Umbau des beschützenden Bereichs im 2. Obergeschoss begonnen worden, der übrige Bereich im Erdgeschoss sei aber schon genutzt worden. Daher sei es der Antragstellerin zumutbar gewesen, Informationen über den Umfang der Genehmigung einzuholen. Daneben sei der Antrag auch unbegründet, da die erteilte Baugenehmigung weder in formeller noch in materieller Hinsicht zu beanstanden sei. Dass keine Nachbarbeteiligung durchgeführt worden sei, sei nach § 46 VwVfG unbeachtlich, weil der Bauherr unabhängig von der Nachbarbeteiligung einen gebundenen Anspruch auf die Erteilung der Baugenehmigung habe. Zudem hätten die Nachbarn zwischenzeitlich umfassend Gelegenheit gehabt, die Bauvorlagen einzusehen. Ihre Beteiligung könne während des Widerspruchs- und sogar während eines Klageverfahrens noch nachgeholt werden. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin handele es sich vorliegend um eine Wohnnutzung, nämlich um eine besondere Form des betreuten Wohnens. Das Nutzungskonzept einer sozialtherapeutischen Einrichtung mit einem beschützenden Bereich sei nicht mit einer klassischen Psychiatrie und einer damit verbundenen krankenhausähnlichen Struktur zu vergleichen. Zwar litten die betroffenen Personen an ähnlichen Krankheitsbildern, in einer sozialtherapeutischen Einrichtung finde aber keine Behandlung der Erkrankungen durch Fachpersonal statt. Anders als in einer psychiatrischen Einrichtung würden keine Zwangsmaßnahmen wie Einsperren, Festhalten oder Zwangsmedikation angewandt, es sei denn, diese seien angeordnet und beschränkten sich beispielsweise auf die Nutzung von Bettgittern. Eine Unterbringung gemäß dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten zur Krisenintervention oder zur Medikamenteneinstellung wie in einer Psychiatrie finde nicht statt. Eine Unterbringung oder Verwahrung der betroffenen Person gegen ihren Willen werde ebenfalls nicht praktiziert. Die Bewohner seien freiwillig in dem Wohnheim. Ein Beschluss nach § 1906 BGB werde nur erwirkt, um die Voraussetzungen für eine Freiheitseinschränkung zu gewährleisten. Hierbei sei jedoch stets eine Mitwirkung des Betreuten erforderlich. Der Beschluss sei insbesondere notwendig, da die Bewohner das Gebäude nicht verlassen könnten, ohne dass es den Mitarbeitern auffalle. Es werde ein üblicher Heimvertrag geschlossen. Ziel des Aufenthalts sei eine Wiedereingliederung und die Rückführung in eine selbstständige Lebensführung. Je nach Ausprägung der seelischen Erkrankung sei es teils notwendig, durch den beschützenden Bereich eine Reduzierung von Umweltreizen herbeizuführen, um Überforderungssituationen zu vermeiden, die in einem klassischen offenen Wohnumfeld nicht vermeidbar wären. Um die Bewohner von äußeren Einflüssen abzuschirmen, sei der geschlossene Bereich gegen das Betreten von außen mit einem Schloss gesichert. Das Verlassen des geschützten Bereichs von innen sei hingegen grundsätzlich jederzeit möglich. Daneben finde im beschützenden Bereich wegen der möglichen Eigengefährdung der Bewohner ein erhöhtes Maß an Betreuung statt. Im Rahmen der Möglichkeiten und mit gewisser Unterstützung durch das Personal würden die Bewohner aber auch dort ihren Alltag mit lebenspraktischen Tätigkeiten wie Verpflegung, Raum- und Wäschepflege und Gartenarbeit selbstständig organisieren. Im Rahmen der sozialtherapeutischen Betreuung fänden regelmäßige Gespräche und Beobachtungen statt. Daraufhin würden gegebenenfalls vorhandene Maßnahmen abgeändert oder die Durchführung begleiteter oder unbegleiteter Ausgänge vereinbart. Sollte der Bewohner gegen Vorgaben des beschützenden Bereichs verstoßen oder fremdgefährdendes Verhalten festgestellt werden, würde der Aufenthalt in der Einrichtung unmittelbar beendet werden. Da die Plätze nur zur Unterbringung von Personen auf der Grundlage des Betreuungsrechts genutzt werden dürften, sei eine Unterbringung von Personen mit Fremdgefährdungspotential ausgeschlossen. Selbst wenn die genehmigte Nutzung nicht als Wohnnutzung einzustufen wäre, sei sie als Einrichtung für soziale oder gesundheitliche Zwecke gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 BauNVO im allgemeinen Wohngebiet regelmäßig zulässig. Die rechtliche Einordnung dürfte ähnlich sein wie bei Pflegeinrichtungen für Demenzkranke. An dem Angebot entsprechender Hilfsleistungen für die betroffenen Personengruppen bestehe ein nicht gering zu bewertendes öffentliches und gesellschaftliches Interesse. Das Vorhaben könne keinen nennenswerten negativen Einfluss auf die Kurortqualität der Gemeinde G. haben, da es nicht groß sei und das Grundstück sich in einer Ortsrandlage befinde und zu großen Teilen von Bäumen umgeben sei. Der Zaun diene den Bewohnern – die sich auch außerhalb davon aufhalten dürften – lediglich dazu, in einem klar abgegrenzten und geschützten Bereich an der frischen Luft sein zu können. Das Gebot der Rücksichtnahme werde nicht verletzt. Da es allein auf die städtebaulichen Wirkungen des Vorhabens ankomme, spiele die Art der Gestaltung des umzäunten Freigeländes keine Rolle. Es sei nicht ersichtlich, dass die beiden Bereiche der Einrichtung in dem weitläufigen Gebiet mit dem Erholungsbereich des Kurortes zu bewältigungsbedürftigen Spannungen führen könnten. Der Aufenthalt von psychisch kranken Menschen ohne Fremdgefährdungspotential könne nicht als städtebauliche Spannungslage begriffen werden. Lautäußerungen der Bewohner auf dem Freigelände seien von der Antragstellerin hinzunehmen. Ein kostenintensives Gutachten zum Lärmschutz habe nicht eingeholt werden müssen, da sich die immissionsschutzrechtlich zu bewertende Situation durch die Nutzungsänderung nicht maßgeblich geändert habe. Die Anzahl der Bewohner habe sich von 57 auf 41 Personen vermindert und hinsichtlich des Personalstandes und des Zu- und Abgangsverkehrs würden sich die Nutzungen nicht nennenswert unterscheiden. In den geplanten Therapiecontainern würden nichtstörende Therapiesitzungen insbesondere in Form von Ergotherapie durchgeführt. Sollte die Antragstellerin auf das konkrete Verhalten der Bewohner abstellen, sei dies möglicherweise aufgrund der diskriminierenden Wirkung einer solchen Annahme gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unzulässig. Die Installation von Suchscheinwerfern sei nicht Teil des genehmigten Bauantrags. Eine erdrückende Wirkung des Zaunes oder der beiden Container könne sicher ausgeschlossen werden, da diese jeweils im Abstand von ca. 37,5 m von der Grundstücksgrenze der Antragstellerin errichtet würden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie bestätigt die Darstellung des Beklagten und präzisiert: Die Baugenehmigung sei nicht für eine geschlossene psychiatrische Einrichtung erteilt worden, sondern für ein offenes Wohnheim mit einem beschützenden Wohnbereich. Der Gebietscharakter des Wohngebiets werde dadurch nicht verändert. Der beschützende Bereich verfüge über erweiterte bauliche Maßnahmen wie gesicherte Türen und Fenster. Die Bewohner könnten den beschützenden Bereich nicht verlassen, ohne dass es ihren Mitarbeitern auffiele. Sie könnten den Bereich jedoch jederzeit und ohne Hilfsmittel verlassen, während ein Zugang von außen nur mit einem Schlüssel möglich sei. Der Beschluss nach § 1906 BGB werde nur wegen der geschilderten erweiterten baulichen Maßnahmen benötigt. Es handele sich nicht um eine Freiheitsentziehung, sondern lediglich um eine Freiheitseinschränkung, weil die Bewohner den beschützenden Bereich nicht heimlich verlassen könnten. Durch den eingeschränkten Zugang zum beschützenden Bereich werde eine Überforderung der Bewohner vermieden, ihnen die Orientierung erleichtert und dem Personal ein maximaler Überblick über den Gesundheitszustand der Bewohner ermöglicht. Die Bewohner seien zur Mitwirkung verpflichtet, indem sie die Besonderheiten und Regeln des beschützenden Bereichs akzeptieren und die lebenspraktischen Tätigkeiten nach Möglichkeit selbst verrichten müssten. Bei fehlender Akzeptanz der Bedingungen oder fremdgefährdendem Verhalten werde der Aufenthalt im beschützenden Bereich sofort beendet. Die Aufnahme in den beschützenden Bereich erfolge befristet und mit dem Ziel, sie möglichst zeitnah wieder zu beenden. Der Wohnheimbetrieb sei nicht störend und es gebe keine besonderen Geräuschimmissionen. Das Grundstück liege auch weder im „historischen Teil“ noch sei das Plangebiet durch eine Villenstruktur geprägt. Vielmehr sei die Bebauung im gesamten Quartier neuzeitlich. Die Antragstellerin zeichne ein Bild von den Bewohnern des beschützenden Bereichs, das diese diffamiere und unwürdig stigmatisiere. Tatsächlich handele es sich um erkrankte Menschen, die freiwillig Hilfe in Anspruch nähmen, um ihren Krankheitszustand zu verbessern oder zu heilen. Von ihnen gingen keine Gefahren oder Störungen aus. Die Antragstellerin möge substantiiert darlegen, zu welchen Spannungen und Gefährdungslagen es kommen solle. Da es für die Bewohner des beschützenden Bereiches ausgeschlossen sei, diesen unbemerkt zu verlassen, werde sich bei Bedarf ein Mitarbeiter etwa um einen desorientierten Bewohner kümmern. Es sei nicht nachvollziehbar, warum Schrecksituationen und Ähnliches entstehen sollten und dadurch Reiter und Kinder durch die Bewohner gefährdet würden und umgekehrt. Im Übrigen müssten Reiter ihre Pferde kontrollieren können, denn es könne auch durch den Verkehr und andere Personen immer wieder zu Schrecksituationen kommen. Die Bewohner dürften genauso in einem allgemeinen Wohngebiet wohnen wie die Antragstellerin auch. Die Antragstellerin versuche mit Mutmaßungen und Spekulationen, ganz normale Menschen mit einer Erkrankung auszugrenzen. Schließlich werde auch genügend qualifiziertes Personal vor Ort sein. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin durch das Gericht würde das Vorhaben erheblich verzögern. Da es für den vorhandenen Hilfebedarf zu wenig Einrichtungen gebe, würde sich der Gesundheitszustand potentieller Bewohner verschlechtern. Daneben würde ihr, der Beigeladenen, ein erheblicher finanzieller Schaden entstehen. Sie benötige die Einnahmen, um Personal, insbesondere Pflegekräfte, zu bezahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Antragsgegners Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Der Eilantrag hat keinen Erfolg. Er ist möglicherweise bereits unzulässig (A.), jedenfalls aber unbegründet (B.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>A.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>1. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Antragstellerin nicht zunächst gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO eine ablehnende Entscheidung des Antragsgegners über ihren Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgewartet hat. Aufgrund der begonnenen Bauarbeiten drohte hier im Sinne von § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO die Vollstreckung (vgl. zu dieser Ausnahme Nds. OVG, Beschl. v. 04.09.2018 – 1 ME 65/18 -, juris Rn. 6). Denn die Antragstellerin hatte mit der befürchteten erdrückenden Wirkung der geplanten Außenanlagen auch Belange geltend gemacht, die bereits mit der Errichtung und nicht erst mit der Inbetriebnahme der genehmigten Einrichtung eintreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>2. Es kann dahinstehen, ob der Widerspruch und damit auch der daran anknüpfende Eilantrag unzulässig ist, weil die Baugenehmigung vom 02.05.2019 gegenüber der Antragstellerin bestandskräftig geworden ist. Zur Frage, ab wann die einjährige Frist zur Erhebung eines Widerspruchs für einen Nachbarn zu laufen beginnt, hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht Folgendes ausgeführt (Beschl. v. 14.04.2021 - 1 ME 140/20 -, juris Rn. 16 f.):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„Ist dem Nachbarn die Baugenehmigung, durch die er sich beschwert fühlt, - wie hier - nicht amtlich bekanntgegeben worden, so läuft für ihn weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO eine Widerspruchsfrist. Hat er jedoch gleichwohl sichere Kenntnis von der Baugenehmigung erlangt oder hätte er sie erlangen müssen, so kann ihm nach Treu und Glauben die Berufung darauf versagt sein, dass sie ihm nicht amtlich mitgeteilt wurde. Dann läuft für ihn die Widerspruchsfrist nach den vorgenannten Vorschriften so, als sei ihm die Baugenehmigung in dem Zeitpunkt amtlich bekannt gegeben, in dem er von ihr sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können. Der Zeitpunkt, zu dem der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis nehmen konnte, tritt ein, wenn sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste - beispielsweise aufgrund eines sichtbaren Beginns der Bauausführung - und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber - etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde - Gewissheit zu verschaffen. Daraus folgt: Ab dem Zeitpunkt, zu dem der Nachbar davon ausgehen muss, dass der Bauherr eine Baugenehmigung erhalten hat, hat er sich regelmäßig innerhalb eines Jahres über die Genehmigungslage zu informieren (BVerwG, Beschl. v. 11.9.2018 - 4 B 34.18 -, BRS 86 Nr. 184 = juris Rn. 9, 11; bestätigt Beschl. v. 21.1.2021 - 4 B 15.20 -, juris Rn. 6; Urt. v. 25.1.1974 - IV C 2.72 -, BVerwGE 44, 294 = juris Leitsatz 2 und Rn. 25; Senatsurt. v. 17.1.1997 - 1 L 6347/95 -, BRS 59 Nr. 195 = juris Rn. 9 f.). Maßgebend für den Verlust des Widerspruchsrechts gegen eine dem Nachbarn erteilte Baugenehmigung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls (BVerwG, Beschl. v. 28.8.1987 - 4 N 3.86 -, BVerwGE 78, 85 = juris Rn. 16; Beschl. v. 17.2.1989 - 4 B 28.89 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 87 = juris Rn. 4; Senatsurt. v. 27.11.2019 - 1 KN 20/17 -, juris Rn. 33).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Anders als die Antragstellerin meint, können auch (verfahrensfreie) Abbrucharbeiten ein Aspekt sein, aufgrund dessen sich in der Zusammenschau mit anderen Umständen im konkreten Einzelfall das Vorliegen einer Baugenehmigung aufdrängt. Der „sichtbare Beginn der Bauausführung“ bzw. „deutlich wahrnehmbare Bauarbeiten“ sind ein häufiger (vgl. z.B. VGH BW, Urt. v. 14.05.2012 - 10 S 2693/09 -, BRS 79 Nr. 183 = juris Rn. 40 m.w.N.; VG Hamburg, Beschl. v. 4.9.2015 - 9 E 3623/15 -, juris Rn. 31, 37), aber dennoch nur der späteste (vgl. OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 20.12.2005 - OVG 10 B 10.05 -, juris Rn. 23) unter den möglichen Anknüpfungspunkten dafür, dass sich die Erteilung einer Baugenehmigung aufdrängen muss. Es existiert kein Rechtssatz, wonach aus verfahrens- bzw. genehmigungsfreien Baumaßnahmen oder Abbruch- und Beseitigungsmaßnahmen generell nicht auf das Vorliegen einer Baugenehmigung für andere Baumaßnahmen geschlossen werden muss. Dahingehend ist weder das Urteil des Senats vom 17. Januar 1997 (- 1 L 6347/95 -, BRS 59 Nr. 195 = juris Rn. 11) noch die vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts (Beschl. v. 20.12.2004 - 1 EO 1077/04 -, BRS 67 Nr. 196 = juris Rn. 29) zu verstehen. Maßgebend ist, ob die Einzelfallumstände das Vorliegen einer Baugenehmigung für ein genehmigungsbedürftiges Vorhaben nahelegen und nicht lediglich einen verfahrens- oder genehmigungsfreien Abbruch oder eine verfahrens- oder genehmigungsfreie Errichtung oder Änderung einer baulichen Anlage.“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Hier muss im Hauptsacheverfahren aufgeklärt werden, ob und gegebenenfalls wann nach außen erkennbar mit Umbauarbeiten auf dem Grundstück der Beigeladenen oder der neuen Nutzung begonnen wurde. Spätestens mit der offiziellen Eröffnung des sozialtherapeutischen Zentrums und dem Anbringen entsprechender Schilder - deren Zeitpunkt die Kammer nicht kennt - war für die Antragstellerin erkennbar, dass hier eine Nutzungsänderung vom Alten- und Pflegeheim zu einem sozialtherapeutischen Zentrum genehmigt worden war. Das hätte ihr Veranlassung geben müssen, sich über Art und Umfang der genehmigten Umnutzung und der gegebenenfalls damit verbundenen baulichen Veränderungen zu informieren. Auch wenn man annimmt, dass die Kenntnis bzw. Möglichkeit der Kenntnisnahme sich nicht lediglich auf die Erteilung einer Baugenehmigung beziehen muss, sondern es auf die Erkennbarkeit der spezifischen Risiken und Beeinträchtigungen für den Nachbarn ankommt (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 14.052012 - 10 S 2693/09 -, juris Rn. 37; VG Hannover, Beschl. v. 15.06.2022 - 4 B 258/22 -, V.n.b., S. 7), war damit ersichtlich, dass hier eine Umnutzung stattfinden sollte, die zur Aufnahme eines Personenkreises mit sozialtherapeutischem Bedarf und daher auch mit möglichen Auffälligkeiten im Sozialverhalten führen würde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>B.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist unbegründet. In Verfahren nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO ist „ausgewogener“ Rechtsschutz zu gewähren. Nicht nur auf Seiten des Nachbarn drohen vollendete, weil unumkehrbare Tatsachen einzutreten, wenn das Vorhaben verwirklicht wird. Auch auf Seiten des Bauherrn können solche nicht oder nur schwer wiedergutzumachenden Folgen eintreten. Diese bestehen im Falle einer Antragsstattgabe in jedem Fall darin, die durch den Aufschub verlorene Zeit nicht nachholen und damit die in dieser Zeit erzielbaren Gewinne nicht mehr realisieren zu können. Da der Antragsteller von den Folgen des § 945 ZPO im verwaltungsgerichtlichen Nachbarstreit verschont bleibt, kommt in Verfahren des vorläufigen Nachbarrechtsschutzes den Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs ausschlaggebende Bedeutung zu. Der Sachverhalt ist dabei in aller Regel nur summarisch zu überprüfen. Das Ergebnis dieser Prüfung gibt dem Vollzugsinteresse des Bauherrn nicht erst dann Vorrang, wenn die Baugenehmigung danach mehr oder minder zweifelsfrei Nachbarrechte dieses Antragstellers nicht verletzt. Ein derartiger Rechtsschutz wäre nicht ausgewogen, weil er das Risiko, die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung bei nur summarischer Prüfung nicht vollständig und zweifelsfrei ermitteln zu können, einseitig dem Bauherrn auferlegte, obwohl dessen Bauabsicht nach der gesetzlichen Wertung (§ 212a BauGB) grundsätzlich Vorrang genießen soll. Eine Stattgabe des vorläufigen Rechtsschutzantrags kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn Überwiegendes für die Annahme spricht, der Rechtsbehelf des Nachbarn in der Hauptsache sei jedenfalls derzeit begründet (Nds. OVG, Beschl. v. 25.01.2007 - 1 ME 177/06 -, juris Rn. 11, und Beschl. v. 14.06.2017 - 1 ME 64/17 -, juris Rn. 13).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Eine danach vorgenommene Überprüfung ergibt, dass der Widerspruch der Antragstellerin gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung voraussichtlich keinen Erfolg haben wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer erteilten Baugenehmigung, die nach § 70 Abs. 1 Satz 1 NBauO nur dann versagt werden darf, wenn das Vorhaben öffentlich-rechtlichen Vorschriften widerspricht, hat ein Nachbar nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung der Baugenehmigung weiter voraus, dass der Nachbar durch die Genehmigung zugleich in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies ist nur dann der Fall, wenn die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat. Eine Verletzung solcher drittschützender, dem Schutz der Antragstellerin dienender Normen durch die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung ist voraussichtlich nicht gegeben. Diese verstößt weder gegen nachbarschützende formelle Vorschriften (1.) noch gegen den Gebietserhaltungsanspruch der Antragstellerin (2.) oder gegen das Rücksichtnahmegebot (3.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>1. Eine Nachbarbeteiligung nach § 68 Abs. 2 Satz 1 NBauO musste nicht durchgeführt werden. Danach soll die Bauaufsichtsbehörde den betroffenen Nachbarn, soweit sie erreichbar sind, Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer angemessenen Frist von längstens vier Wochen geben, wenn eine Abweichung oder Ausnahme von Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die auch dem Schutz von Nachbarn dienen, zugelassen oder eine Befreiung von solchen Vorschriften erteilt werden soll. Da hier keine Abweichung oder Ausnahme von nachbarschützenden Bauvorschriften beantragt worden war, musste der Antragsgegner die Nachbarn nicht beteiligen.Ob für die beantragte Nutzungsänderung eine Befreiung nach § 31 BauGB hätte beantragt werden müssen, ist keine Frage des Verfahrensrechts, sondern der materiellen Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung. Sofern die Festsetzungen des Bebauungsplans dem beabsichtigten Vorhaben entgegenstehen und keine Befreiung beantragt und erteilt wird, ist das Vorhaben nicht genehmigungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>2. Die Genehmigung der Nutzungsänderung zum sozialtherapeutischen Zentrum mit einem beschützenden Bereich verletzt nicht den Gebietserhaltungsanspruch der Antragstellerin.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Nach ständiger Rechtsprechung hat die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan grundsätzlich nachbarschützende Funktion zugunsten der Planbetroffenen. Das bedeutet, dass sich ein Nachbar im Plangebiet auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Im Rahmen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll nämlich jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.02.2000 - 4 B 87/99 -, Rn. 9 m.w.N.). Die genehmigte geänderte Nutzung ist jedoch nicht gebietsfremd. Die angegriffene Genehmigung bezieht sich auf ein Wohnheim mit therapeutischem Angebot und beschützendem Bereich und nicht auf eine geschlossene psychiatrische Einrichtung (nachfolgend unter a)). Bei dieser Nutzung handelt es sich um eine Regelnutzung in einem allgemeinen Wohngebiet (nachfolgend unter b)), die nicht im Einzelfall unzulässig ist (nachfolgend unter c)). Auf ein unzureichendes Sich-Einfügen kann die Antragstellerin sich im Rahmen des Gebietserhaltungsanspruchs nicht berufen (nachfolgend unter d)).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>a) Entgegen der Deutung der Antragstellerin umfasst die angegriffene Genehmigung nicht den Betrieb einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Von einem geschlossenen Bereich ist in der Genehmigung einschließlich der grüngestempelten Unterlagen nicht die Rede, sondern die Bereiche im 2. Obergeschoss und im Garten werden jeweils als „beschützend“ bezeichnet. Dies ist kein Synonym für „geschlossen“. Im gerichtlichen Verfahren haben der Antragsgegner und die Beigelade erläutert, dass die Bewohner den beschützenden Bereich jederzeit verlassen können und dass sie dort lediglich vor von außen kommenden Reizen abgeschirmt und besonders intensiv betreut und beobachtet werden. Sofern die Antragstellerin aus der Erwähnung von gerichtlichen Beschlüssen gemäß § 1906 BGB ableitet, es müsse sich um eine geschlossene Einrichtung handeln, ist diese Schlussfolgerung nicht zwingend. Sie übersieht, dass Beschlüsse nach § 1906 BGB nicht nur Beschlüsse nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB sind, mit denen eine freiheitsentziehende Unterbringung angeordnet wird. Vielmehr können auch gemäß § 1906 Abs. 4 BGB freiheitsentziehende Maßnahmen angeordnet werden. Hierunter fällt beispielsweise die vom Antragsgegner erwähnte Nutzung von Bettgittern. Teile von Rechtsprechung und Literatur ordnen auch Überwachungsmaßnahmen wie das Anbringen einer Ortungsanlage an dem Betroffenen, die Installation von Überwachungskameras oder die Einrichtung einer Sitzwache als freiheitsentziehende Maßnahmen in diesem Sinne ein (vgl. Müller-Engels in BeckOK BGB, 62. Ed. 01.02.2022, § 1906 Rn. 25; a.A. Schneider in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 1906 Rn. 47, jeweils m.w.N.). In diesem Sinne haben der Antragsgegner und die Beigeladene klargestellt, dass die Bewohner bei der Aufnahme in den beschützenden Bereich einen Beschluss gemäß § 1906 BGB benötigen, weil der Bereich mit alarmgesicherten Türen und Fenstern ausgestattet ist, die ein unbemerktes Verlassen verhindern. So kann auch die Formulierung in der Betriebsbeschreibung „Die Aufnahme in den beschützenden Bereich bedingt regelmäßig einen Beschluss gem. § 1906“ verstanden werden. Danach ist nicht der Beschluss nach § 1906 BGB ursächlich für die Aufnahme in den Bereich, sondern die Aufnahme führt zur Notwendigkeit, einen Beschluss nach § 1906 BGB herbeizuführen. Schließlich führt auch die Erwähnung verschlossener Türen im beschützenden Bereich in Ziffer 3.8 der Baugenehmigung vom 02.05.2019 und auf Seite 6 des grüngestempelten Brandschutzkonzepts nicht zur Annahme eines geschlossenen Bereichs. Nach den Ausführungen des Antragsgegners und der Beigeladenen sind diese Türen gegen einen Zutritt von außen in den beschützenden Bereich gesichert, nicht aber gegen das Verlassen des beschützenden Bereichs von innen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Daneben handelt sich bei der genehmigten Nutzung auch nicht um eine psychiatrische Einrichtung im Sinne einer Klinik. Krankenhäuser und Kliniken dienen der Erkennung und Behandlung von Krankheiten einschließlich der Nachsorge und stehen unter ärztlicher Leitung (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 21.08.2002 - 1 LB 140/02 -, juris Rn. 21). Diese Voraussetzungen sind hier ersichtlich nicht erfüllt. Zwar werden Personen mit psychiatrischen Krankheitsbildern aufgenommen, aber nicht zur medizinischen Behandlung ihrer Erkrankungen, sondern um sozialtherapeutisch begleitet in der Einrichtung zu wohnen. Die Leitung ist daher auch nicht ärztlich besetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>b) Die geänderte Nutzung ist in dem betroffenen Gebiet als Regelnutzung allgemein zulässig. Die Art der baulichen Nutzung ist dort durch den Bebauungsplan Nr. M. als allgemeines Wohngebiet festgesetzt. Demnach sind gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2, § 4 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 BauNVO Wohngebäude und Anlagen für soziale und gesundheitliche Zwecke zulässig. Ob die Nutzung als sozialtherapeutisches Zentrum mit beschützendem Bereich als Wohnnutzung zu qualifizieren ist (nachfolgend unter aa)), kann offenbleiben, weil die Nutzung jedenfalls als Anlage für soziale oder gesundheitliche Zwecke zulässig ist (nachfolgend unter bb)).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>aa) Nach summarischer Prüfung bestehen Zweifel, ob es sich bei der genehmigten Nutzung um eine Nutzung als Wohngebäude handelt. Der Begriff des Wohnens ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.12.2016 - 4 B 49/16 -, juris Rn. 7).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Hier ist zum einen fraglich, ob die Nutzung der Wohnheimplätze im beschützenden Bereich auf Dauer angelegt ist. Zwar soll das Kriterium der Dauerhaftigkeit „durchaus flexibel“ zu handhaben sein (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.03.1996 - 4 B 302/95 -, juris Rn. 12; Beschl. v. 20.12.2016 - 4 B 49/16 -, juris Rn. 10). Jedoch erfolgt die Aufnahme in den beschützenden Bereich nach Auskunft der Beigeladenen mit dem Ziel, sie möglichst zeitnah wieder zu beenden, was wohl selbst einem flexibel verstandenen Begriff von Dauerhaftigkeit entgegensteht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Zum anderen wäre noch genauer aufzuklären, in welchem Umfang die Haushaltsführung eigenständig gestaltet wird. § 3 Abs. 4 BauNVO in der ab dem 27.01.1990 geltenden Fassung, wonach zu den nach § 4 zulässigen Wohngebäuden auch solche gehören, die ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege ihrer Bewohner dienen, ist nicht anwendbar. Zwar ist der Bebauungsplan Nr. M. erst am 30.10.1991 in Kraft getreten, er wurde aber mit einem Stempel versehen, wonach die BauNVO vom „19. Dez. 1986“ anzuwenden ist. Daher wäre ein Mindestmaß an eigenständiger Haushaltsführung zu verlangen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>bb) Ein Wohnheim mit therapeutischem Angebot und beschützendem Bereich stellt aber jedenfalls eine Anlage für soziale und für gesundheitliche Zwecke dar. Anlagen für soziale Zwecke dienen in einem weiten Sinne der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt. Es handelt sich um selbstständige Hauptanlagen, die auf Hilfe, Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen ausgerichtet sind. Anlagen für gesundheitliche Zwecke dienen im weitesten Sinne dem Schutz, der Pflege, der Erhaltung und der Wiederherstellung der Gesundheit (vgl. Stock in Ernst/Zinkhahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 144. EL Oktober 2021, § 4 BauNVO Rn. 92 u. Rn. 99 jeweils m.w.N.). Die Nutzung als sozialtherapeutisches Zentrum dient sowohl der sozialen Fürsorge als auch der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit, was auch die Antragstellerin nicht in Frage stellt. Sofern sie allerdings meint, Kliniken und Krankenhäuser seien ausschließlich in Sondergebieten zulässig, ist dies unzutreffend. § 11 Abs. 2 Satz 12 BauNVO eröffnet lediglich die Möglichkeit, für derartige Einrichtungen Klinikgebiete als sonstige Sondergebiete festzusetzen. Eine ausschließende Regelung, wie sie § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BauNVO für bestimmte Vorhaben trifft, die nur in Kerngebieten und Sondergebieten zulässig sind, besteht für Kliniken nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Die geplante Nutzung ist auch gebietsverträglich. Die Gebietsverträglichkeit ist ungeschriebenes Erfordernis jeder nach dem Wortlaut der Absätze 2 und 3 der §§ 2 ff. BauNVO zulässigen Nutzung. Die Nutzung muss mit dem Charakter zu vereinbaren sein, welchen der Gesetzgeber im jeweiligen Absatz 1 der genannten Vorschriften einem Baugebiet mit dem Ziel vorgegeben hat, dort ein verträgliches Nebeneinander der - wie es beim ersten Eindruck scheinen mag - zufällig nebeneinander statthaften Nutzungen zu ermöglichen. Der dort beschriebenen typischen Funktion des jeweiligen Baugebiets muss sich jede Regelnutzung, erst recht jede Ausnahmenutzung zu- und unterordnen. Ihre Zulassung hängt dementsprechend in besonderem Maße von deren Immissionsverträglichkeit ab. Zu würdigen ist mithin in jedem Fall, ob die typischerweise mit dem in Rede stehenden Vorhaben verbundenen Auswirkungen nach dessen räumlichem Umfang, der Größe seines (betrieblichen) Einzugsbereichs, der Art und Weise der Betriebsvorgänge, dem damit verbundenen Zu- und Abgangsverkehr sowie der Dauer all dieser Auswirkungen einschließlich ihrer Verteilung auf die Tages- und Nachtzeiten mit dem in Absatz 1 definierten Gebietscharakter zu vereinbaren sind (vgl. zum Vorstehenden Nds. OVG, Beschl. v. 03.11.2021 - 1 ME 42/21 -, juris Rn. 7 m.w.N.). Zu fragen ist, ob ein Vorhaben dieser Art generell geeignet ist, das Wohnen in einem allgemeinen Wohngebiet zu stören. Das Korrektiv des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, für das die örtlichen Verhältnisse in der näheren Umgebung des beabsichtigten Vorhabens maßgeblich sind, greift auf dieser Ebene der Zulässigkeitsprüfung noch nicht ein (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.02.2008 - 4 B 60/07 -, juris Rn. 11 f.). Nach diesen Maßgaben ist ein Wohnheim mit sozialtherapeutischem Angebot mit 41 Wohnheimplätzen und einem beschützenden Bereich in einem allgemeinen Wohngebiet nicht gebietsunverträglich. Seine typische Nutzung wirkt nicht störend auf die Wohnnutzung im allgemeinen Wohngebiet. Sie ist vielmehr ebenfalls zumindest wohnähnlich und wird ergänzt durch die sozialtherapeutische Betreuung, die für die Personen im beschützenden Bereich besonders engmaschig ist. Der Zu- und Abgangsverkehr durch Bewohner, Mitarbeiter und Besucher verteilt sich über den Tag und ist bei einer Einrichtung dieser Größenordnung nicht besonders umfangreich. Weshalb sich aus der Nutzung für und durch psychisch kranke Personen mit Verhaltensauffälligkeiten und Desorientierung typischerweise unzumutbare Lärmbelästigungen für die umliegenden Wohngebäude ergeben sollen, erschließt sich der Kammer nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>c) Der Zulässigkeit des Vorhabens steht auch nicht § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO entgegen. Danach sind die in den §§ 2 bis 14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Dafür ist hier ebenfalls nichts ersichtlich. Der Hinweis der Antragstellerin, dass der Bebauungsplan ausdrücklich störende Einwirkungen von Gewerbebetrieben und diesen gleichstehenden Einrichtungen auf das Wohnumfeld ausschließe, führt nicht zur Annahme einer besonderen Prägung des Gebiets des Bebauungsplans Nr. M.. Vielmehr war in der Ursprungsfassung die Möglichkeit, nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise sonstige nicht störende Gewerbebetriebe zuzulassen, ausgeschlossen worden. Da sich im Plangebiet tatsächlich aber diverse kleine und mittlere Handwerksbetriebe befanden, die nach Auffassung der Plangeberin keine erheblichen Beeinträchtigungen bewirkten und einen wichtigen Beitrag zur Grundversorgung leisteten, wurde im Jahr 2012 mit der 1. Änderung des Bebauungsplans bestimmt, dass sonstige nicht störende Gewerbebetriebe gemäß § 1 Abs. 6 i.V.m. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zulässig sind. Weitere Festsetzungen enthält der Bebauungsplan nicht. Die Lage der Einrichtung der Beigeladenen am Rande des Plangebietes angrenzend an den Außenbereich widerspricht der Eigenart des allgemeinen Wohngebiets ebensowenig wie ihr mit 41 Bewohnern überschaubarer Umfang.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>d) Soweit die Antragstellerin moniert, die Container und der Zaun würden sich nicht in die nähere Umgebung einfügen, kann sie sich nicht auf den Gebietserhaltungsanspruch stützen, da dieser sich lediglich auf die Art der baulichen Nutzung bezieht. Festsetzungen zum Maß, zur Bauweise oder zur überbaubaren Grundstücksfläche können nur dann drittschützenden Charakter entfalten, wenn diese Regelungen nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin auch dem Schutz der Nachbarn dienen sollten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.10.1005 - 4 B 215/95 -, juris Rn. 3; zum Maß der baulichen Nutzung Nds. OVG, Beschl. v. 09.03.2020 - 1 ME 154/19 -, juris Rn. 8;). Da der Bebauungsplan Nr. M. lediglich Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung umfasst, kommt eine derartige Zweckbestimmung durch die Plangeberin nicht in Betracht. Ein fehlendes Sich-Einfügen kann in einer solchen Konstellation vom Nachbarn nur gerügt werden, wenn es sich gleichzeitig als Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme darstellt, beispielsweise, weil das Vorhaben eine erdrückende Wirkung ausübt oder Nachbargrundstücke unzumutbar verschattet (vgl. Nds. OVG, ebenda).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>3. Die Genehmigung der Nutzungsänderung verletzt nicht das Gebot der Rücksichtnahme. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO sind Anlagen unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme stellt, hängen wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich ist, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge billigerweise zuzumuten ist (BVerwG, Beschl. v. 13.03.2019 - 4 B 39.18 -, juris Rn. 9 m.w.N.; Nds. OVG, Urt. v. 21.08.2020 - 1 LB 140/20 -, juris Rn. 8; VG Hannover, Urt. v. 22.04.2021 - 4 A 3809/20 -, juris Rn. 39; Beschl. v. 23.07.2021 - 12 B 3844/21 -, juris Rn. 30). Hier ergibt sich aus keinem der von der Antragstellerin angeführten Gesichtspunkte, dass die Nutzungsänderung einschließlich der damit verbundenen baulichen Veränderungen sie unzumutbar beeinträchtigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>a) Unzumutbar ist ein Vorhaben für den Nachbarn insbesondere dann, wenn es auf sein Grundstück eine erdrückende Wirkung ausübt, dieses unzumutbar verschattet oder zu unzumutbaren Einsichtsmöglichkeiten führt (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 18.02.2009 - 1 ME 282/08 -, juris Rn. 43, und Beschl. v. 09.03.2020 - 1 ME 154/19 -, juris Rn. 9; VG Hannover, Beschl. v. 23.07.2021 - 12 B 3844/21 -, juris Rn. 30). Inwiefern durch einen Zaun, der unwidersprochen über 37 m von ihrem Grundstück entfernt verläuft, eine erdrückende Wirkung ausgehen soll, hat die Antragstellerin ebensowenig konkretisiert wie den Vorwurf, es entstünden unzumutbare Einsichtsmöglichkeiten. Da auch die Container in einem Abstand von über 37 m zu der Grundstücksgrenze der Antragstellerin genehmigt wurden, ist eine ernsthafte Beeinträchtigung fernliegend. In Bezug auf die geltend gemachten Beeinträchtigungen durch Lichtemissionen von Suchscheinwerfern hat der Antragsgegner zutreffend darauf hingewiesen, dass das genehmigte Vorhaben die Installation solcher Scheinwerfer nicht umfasst.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>b) Für eine unzumutbare Beeinträchtigung durch Geräuschimmissionen liegen ebenfalls keine konkreten Anhaltspunkte vor und es war auch keine schalltechnische Untersuchung zu veranlassen. Im Rahmen eines baurechtlichen Genehmigungsverfahrens einer - wie hier - nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz nicht genehmigungsbedürftigen Anlage ist nicht ausnahmslos die Einholung einer gutachterlichen Prognose zu fordern. Vielmehr ist entsprechend Nr. 4.2 der TA Lärm nur dann eine Prognose der Geräuschimmissionen erforderlich, soweit nicht aufgrund von Erfahrungswerten vergleichbarer Anlagen zu erwarten ist, dass der Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Geräusche sichergestellt ist (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 08.10.2021 - 12 B 5201/21 -, juris Rn. 53 m.w.N.). Von Letzterem kann hier ausgegangen werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>c) Eine unzumutbare Gefahr von fremdgefährdendem Verhalten wird durch die genehmigte Nutzungsänderung ebenfalls nicht begründet. Die genehmigte Nutzung umfasst lediglich die Aufnahme von Personen, für die auf der Grundlage von § 1609 BGB wegen einer Eigengefährdung freiheitsentziehende Maßnahmen angeordnet werden können. Eine zwangsweise Unterbringung von Personen, bei denen die Gefahr einer Fremdgefährdung besteht, ist nicht vorgesehen. Die mögliche Gefahr individuellen Fehlverhaltens hat keine städtebaurechtliche Relevanz, sondern erfordert bei Bedarf eine Reaktion mit den Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts. Bodenrechtliche Bedeutung haben nur solche Störungen, die typischerweise bei der bestimmungsgemäßen Nutzung eines Vorhabens auftreten, etwa weil sich die Bewohner einer solchen Einrichtung üblicherweise in dieser Weise verhalten (vgl. BayVGH, Beschl. v. 17.01.2022 - 9 ZB 20.18 - juris Rn. 17 m.w.N.; zu psychisch kranken Menschen BVerwG, Beschl. v. 06.12.2011 - 4 BN 20/11 -, juris Rn. 5 ff). Einen „Milieuschutz“ kann und soll das Bauplanungsrecht nicht gewährleisten (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 08.05.2019 - 1 LA 91/81 -, juris Rn. 31; BVerwG, Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13/94 -, juris Rn. 72). Dass desorientierte oder verhaltensauffällige Personen in ihrem Wohnumfeld typischerweise andere Personen gefährden, ist nicht erkennbar. Soweit die Antragstellerin anführt, es könne wegen des unkalkulierbaren Verhaltens der Bewohner des beschützenden Bereichs bei Ausritten von Kindern aus dem benachbarten Reitstall zu gefährlichen Schrecksituationen kommen, ist dies eine spekulative Annahme, für die es keine begründeten Anhaltspunkte gibt. Im Übrigen ist der Beigeladenen beizupflichten, dass Reiter ihre Pferde bei den unterschiedlichsten möglichen Schrecksituationen kontrollieren können müssen. Der Hinweis der Antragstellerin, es gebe im Plangebiet typischerweise keine Gartenzäune und -tore, impliziert, dass Bewohner des sozialpsychiatrischen Zentrums Grundstücke unerlaubt betreten könnten. Für ein solches Verhalten von Bewohnern einer sozialtherapeutischen Einrichtung liegen ebenfalls keine Hinweise vor. Im Übrigen ergäbe sich dadurch keine unzumutbare Gefährdung der Nachbarschaft, zumal diese sich durch das Errichten von Einfriedungen schützen kann. Soweit die Antragstellerin eine unzureichende Betreuung der Bewohner im beschützenden Bereich beanstandet, ist ihr entgegenzuhalten, dass das im Genehmigungsverfahren beteiligte Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie mit Schreiben vom 15.03.2019 mitgeteilt hat, dass gegen die geplante Nutzungsänderung aus heimaufsichtsrechtlicher Sicht keine Bedenken bestünden. Eine baurechtliche Relevanz käme diesem Vorbringen nach dem Vorstehenden des Weiteren nur dann zu, wenn von einer unzureichenden Betreuung auf ein üblicherweise auftretendes (Stör-)Verhalten geschlossen werden könnte. Hierfür fehlen abermals Anhaltspunkte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>d) Abschließend dringt die Antragstellerin auch mit ihrem Argument nicht durch, die Beigeladene hätte ihr Vorhaben in ein neugebautes Krankenhaus in einem Sondergebiet in der Samtgemeinde integrieren oder zumindest die Therapieräume in das Hauptgebäude legen können. Die Annahme, das Rücksichtnahmegebot könne allein deshalb verletzt sein, weil es einen aus der Sicht des Nachbarn günstigeren Standort für ein Vorhaben gebe, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verfehlt. Im Gegensatz zum Planfeststellungsrecht mit seiner aus dem Abwägungsgebot als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eröffneten Alternativenprüfung ist die bebauungsrechtliche Prüfung an den Bauwunsch des Bauherrn gebunden; er allein bestimmt das Vorhaben, dessen Zulässigkeit - im Regelfall auf der Grundlage seines Bauantrags - von der Behörde zu prüfen ist. Maßgeblich ist allein die Intensität der Belastungen der Nachbarschaft im konkreten Fall; ergibt die Prüfung - wie hier -, dass die Belastungen an dem vom Bauherrn gewählten Standort für den Nachbarn im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zumutbar sind, so muss der Nachbar die bauliche Anlage auch dann hinnehmen, wenn es einen besser geeigneten Alternativstandort gibt (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 08.10.2021 - 12 B 5201/21 -, juris Rn. 57 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>C.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>I. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht nach § 162 Abs. 3 VwGO aus Billigkeitsgründen für erstattungsfähig zu erklären, weil die Beigeladene keinen Sachantrag gestellt und sich nach § 154 Abs. 3 VwGO damit keinem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>II. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 17 Buchst. b und Nr. 7 Buchst. a der Streitwertannahmen der mit Bau- und Immissionsschutzsachen befassten Senate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für ab dem 1. Juni 2021 eingegangene Verfahren (BauR 2021, 1240). Der danach in der Hauptsache anzunehmende Wert von 20.000,- Euro ist im Hinblick auf das vorliegende vorläufige Rechtsschutzverfahren zu halbieren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE220031686&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,214 | vg-minden-2022-07-22-1-k-168920 | {
"id": 845,
"name": "Verwaltungsgericht Minden",
"slug": "vg-minden",
"city": 465,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 K 1689/20 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-17T10:00:46 | 2022-10-17T11:09:14 | Urteil | ECLI:DE:VGMI:2022:0722.1K1689.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Soweit der Kläger seine Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Tatbestand:</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten um die Anerkennung des Klägers als eine für die Aufstellung von Brandschutzkonzepten im Sinne von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW geeignete Person.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 00.00.0000 teilte der Kläger der Beklagten mit, er sei angefragt worden, ein Brandschutzkonzept für die ehemalige "X. " zu erstellen. Er verfüge nicht über die staatliche Anerkennung nach § 87 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BauO NRW und wolle aufgrund seiner vergleichbaren Sachkunde und Erfahrung tätig werden. Hierzu verwies er unter Vorlage von Belegen u.a. darauf, während seines früheren Dienstes im Justizvollzug im Bereich des vorbeugenden Brandschutzes und als Brandschutzbeauftragter tätig gewesen zu sein und in einer Arbeitsgruppe des Justizvollzugs und des Bau- und Liegenschaftsbetriebs an der Erstellung von Empfehlungen zum Brandschutz beim Bau und Betrieb von Justizvollzugsanstalten mitgewirkt zu haben. Im Zeitraum 2007 bis 2008 habe er bei der Architektenkammer</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">U3.--ringen einen Weiterbildungslehrgang "Fachplaner für Brandschutz" absolviert. Brandschutzplanungen habe er in dieser Zeit noch nicht ausgeführt. Nebenberuflich habe er als Brandschutzbeauftragter u.a. für die Kreissenioreneinrichtungen des L1. M. gearbeitet. Überdies bilde er zweimal im Jahr gemeinsam mit einer anderen Person Brandschutzbeauftragte aus. Nach Absolvierung eines Vorbereitungslehrgangs sei er seit 00.00.0000 nach DIN EN ISO/IEC 17024 zertifiziert. Die Zertifizierungsstelle sei von der Akkreditierungsstelle DAkkSS anerkannt. Seit 2015 führe er Brandschutzplanungen aus, bis 2019 nebenberuflich und nun hauptberuflich. Seine Zertifizierung halte er durch zahlreiche Nachweise (Arbeitsproben und Nachweis von mindestens drei Tagen Fortbildung im Jahr) aufrecht. Seit 1985 sei er ehrenamtlich in der Feuerwehr aktiv und habe dort 2006 die Befähigung zum Zugführer erworben. Seitdem werde er in seinem Heimatort auch als Einsatzleiter eingesetzt. Zum Nachweis seiner praktischen Erfahrung fügte der Kläger vier Baugenehmigungen bei, in deren Rahmen er in den Jahren 2015 bis 2019 als Brandschutzplaner tätig war.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 00.00.0000 antwortete die Beklagte dem Kläger, dass aufgrund von bereits bestehenden Problemen und der geplanten Maßnahmen für dieses Projekt keine Anerkennung außerhalb der Rahmenbedingungen der BauO NRW erfolgen könne.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dagegen hat der Kläger 00.00.0000 die vorliegende Klage erhoben. Er rügt insbesondere, die Entscheidung der Beklagten sei nicht mit einer ordnungsgemäßen Begründung versehen gewesen und auch inhaltlich falsch. Die Beklagte habe sich bei ihrer Prüfung als Bewertungsmaßstab an den Voraussetzungen eines Sachverständigen im Sinne des § 54 Abs. 3 BauO NRW orientieren müssen. Diese Voraussetzungen erfülle er mit Ausnahme der Mitgliedschaft in der Architekten- bzw. Ingenieurkammer, da diese den Abschluss eines Studiums erfordere; darüber verfüge er nicht. Ein solches Studium im Bereich der Architektur oder des Bauingenieurwesens könne aber keine grundlegende Voraussetzung für die Durchführung von Brandschutzplanungen sein, da das Thema "Brandschutz" in diesen Studiengängen nur am Rande vermittelt werde. Aus der Gesetzeshistorie, insbesondere der Verwaltungsvorschrift zur Bauordnung NRW 2000, ergebe sich auch, dass ein Studium keine zwingende Voraussetzung für die Eignung zur Aufstellung von Brandschutzkonzepten sei, sondern durch langjährige praktische Erfahrung etwa im gehobenen feuerwehrtechnischen Dienst ersetzt werden könne. Hinsichtlich seiner Referenzen sei das von ihm brandschutztechnisch betreute Hotel-Bauvorhaben zwar nicht mit dem Vorhaben "X. ", das Anlass seiner jetzigen Anfrage war, vergleichbar. Die ebenfalls von ihm betreute Umbaumaßnahme bei einem Pflegeheim habe jedoch eine Einrichtung mit insgesamt 111 Bewohnern einschließlich Demenzerkrankten betroffen. Der dortige Neubau umfasse 3.700 m²; auch die baulichen Veränderungen im Altbau seien von ihm brandschutztechnisch geplant worden. Diese beträfen eine Geschossfläche von 3.900 m². Soweit von ihm der Nachweis von Erfahrungen mit Pflegeheimen verlangt werde, übersteige dies außerdem die an andere Sachverständige gestellten Anforderungen und verstoße daher gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Seine Sachkunde sei in Form der Zertifizierung als Sachverständiger für den vorbeugenden und gebäudetechnischen Brandschutz nach DIN EN ISO/IEC 17024 nach einem hoheitlich akkreditierten Verfahren festgestellt worden. Daraus ergebe sich eine abstrakte Eignungsprüfung.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat zunächst sinngemäß beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">die Beklagte zu verpflichten, ihn als Ersteller von Brandschutzkonzepten anzuerkennen,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihn als Ersteller von Brandschutzkonzepten für Pflege- und Betreuungseinrichtungen anzuerkennen,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">weiter hilfsweise,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Entscheidung der Beklagten vom 00.00.0000 aufzuheben und sie zu verpflichten, über seinen Antrag auf Anerkennung als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "L3. X1. " neu und rechtlich einwandfrei zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Er beantragt nunmehr nur noch,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">festzustellen, dass die Entscheidung der Beklagten vom 00.00.0000, den Kläger als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "L3. X1. " nicht anzuerkennen, rechtswidrig war.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Sie hat im Wesentlichen ausgeführt: Den von dem Kläger zum Nachweis seiner Erfahrung vorgelegten Baugenehmigungen, denen die erstellten Brandschutzplanungen selbst nicht beigefügt gewesen seien, habe sich schon anhand der Vorhaben-Bezeichnungen entnehmen lassen, dass es sich um kleinere, weniger komplexe Vorhaben hinsichtlich der brandschutztechnischen Anforderungen gehandelt habe. Bei dem streitgegenständlichen Planungsvorhaben handele es sich dahingegen um einen großen Sonderbau, nämlich um eine ehemalige L4. , die über mehrere Jahre leer gestanden habe. Im 00.00.0000 seien im Rahmen einer Bauvoranfrage diverse Nutzungsänderungen im Gebäudekomplex bauplanungsrechtlich zugelassen worden. Für einen ersten untergeordneten Gebäudeteil sei im 00.00.0000 eine Baugenehmigung für die Nutzungsänderung zu einer Pflegeeinrichtungen mit 34 Plätzen erteilt worden. Der inzwischen beantragte zweite Bauabschnitt zur Nutzungsänderung, für den der Kläger das Brandschutzkonzept erarbeiten wolle, beziehe sich auf eine Nutzfläche von insgesamt 7.800 m² mit diversen unterschiedlichen Nutzungseinheiten, verteilt auf sieben Geschosse. Dazu gehörten Pflege- und Betreuungseinrichtungen inklusive Tages- und stationärer Pflege, sieben Arzt- und Therapiepraxen, Bereiche für das sogenannte Centermanagement mit entsprechenden Büroräumen, einem Ladenlokal und barrierefreiem Wohnen. Im Zuge der ersten Teil-Nutzungsänderung sei bereits festgestellt worden, dass aufgrund der erheblichen Größe des Gesamtobjekts und der Vielzahl an unterschiedlichen geplanten Nutzungseinheiten im Objekt die brandschutzrechtlichen Beurteilungen aufgrund ihrer Komplexität ein hohes Maß an Erfahrung und Sachkunde bedürften. Die vom Kläger angeführten Erfahrungen in der Brandschutzplanung seien mit dem geschilderten Vorhaben zur Nutzungsänderung der "X. " bei Weitem nicht vergleichbar. Deshalb sei er im Sinne des § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW 2018 als für diesen Einzelfall zur Aufstellung des Brandschutzkonzepts nicht geeignet erachtet worden. Im Übrigen sei von dem Bauherrn des streitgegenständlichen Vorhabens zu keiner Zeit signalisiert worden, den Kläger mit der Aufstellung eines Brandschutzkonzepts beauftragen zu wollen. Inzwischen sei auch im Rahmen der Bauantragstellung bereits ein Brandschutzkonzept eines staatlich anerkannten Sachverständigen für die Prüfung des Brandschutzes eingereicht worden.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 4. Juli 2022 hat die Kammer das Verfahren der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Entscheidungsgründe:</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger seine - ursprünglich auch auf die Verpflichtung zur (allgemeinen) Anerkennung als Ersteller von Brandschutzkonzepten und hilfsweise zur Anerkennung als Ersteller von Brandschutzkonzepten für Pflege- und Betreuungseinrichtungen gerichtete - Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger im Hinblick auf die ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 00.00.0000, ihn als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das konkrete Bauvorhaben "X. " anzuerkennen, von seinem ursprünglichen Verpflichtungs- zu einem Feststellungsantrag übergegangen ist, war dies prozessual zulässig. Bei der Umstellung des Klageantrags vom Verpflichtungs- auf ein Fortsetzungsfeststellungsbegehren handelt es sich regelmäßig bereits nicht um eine Klageänderung im Sinne des § 91 VwGO, sondern um eine Einschränkung des Klageantrags gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 29. März 2017 - 6 C 1.16 -, juris Rn. 28, und vom 4. Dezember 2014 - 4 C 33.13 -, juris Rn. 11; OVG NRW, Beschluss vom 10. März 2021 - 12 A 82/18 -, juris Rn. 31; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Auflage 2021, § 113 Rn. 121; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 113 VwGO, Rn. 109.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon wäre die Umstellung selbst bei Einordnung als Klageänderung vorliegend zulässig. Zum einen hat die Beklagte in die Änderung eingewilligt, indem sie sich, ohne ihr zu widersprechen, in der mündlichen Verhandlung auf die geänderte Klage eingelassen hat (§ 91 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 2 VwGO). Zum anderen hält das Gericht die Umstellung aus Gründen der Prozessökonomie für sachdienlich.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Sachdienlichkeit OVG NRW, Beschluss vom 23. Januar 2003 - 13 A 4859/00 -, juris Rn. 6 und 8.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der in Form des Feststellungsbegehrens aufrecht erhaltene Teil der Klage ist zulässig (I.), aber unbegründet (II.).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">I. In dem noch aufrecht erhaltenen Teil ist die Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft (1.) und zulässig (2).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">1. Nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO kann das Gericht die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts aussprechen, wenn sich der Verwaltungsakt nach Klageerhebung erledigt und der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Diese grundsätzlich auf Anfechtungsklagen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) bezogene Vorschrift ist entsprechend anwendbar, wenn - wie hier in Bezug auf die ursprünglich (hilfsweise) begehrte Anerkennung als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " der Fall - eine zulässige Verpflichtungsklage unzulässig geworden ist, weil sich das mit ihr verfolgte Begehren erledigt hat.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 29. November 2017 - 6 C 57.16 -, juris Rn. 13, vom 29. März 2017 - 6 C 1.16 -, juris Rn. 28 m.w.N., und vom 24. Januar 1992 - 7 C 24.91 -, juris Rn. 7; OVG NRW, Urteil vom 3. Dezember 2021 - 11 A 1958/20 -, juris Rn. 29 f.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Mit dem ursprünglichen Antrag des Klägers, die ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 18. Juni 2020 aufzuheben und sie zu verpflichten, über seinen Antrag auf Anerkennung als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " "neu und rechtlich einwandfrei" zu entscheiden, hat er ein Verpflichtungsbegehren geltend gemacht (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO). Bei der begehrten Anerkennung des Klägers als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 35 Satz 1 VwVfG NRW. Danach ist ein Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. In der hier begehrten Anerkennung liegt eine für den konkreten Einzelfall (Bauvorhaben "X. ") mit Außenwirkung zu treffende Entscheidung der Behörde mit der feststellenden Regelung, dass die antragstellende Person im Sinne von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW für die Aufgabe nach Sachkunde und Erfahrung vergleichbar geeignet ist.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dieses Verpflichtungsbegehren hat sich nach Erhebung der Klage erledigt. Die Fortsetzungsfeststellungsklage dient u.a. dem Zweck, zu verhindern, dass ein Kläger um die "Früchte" seiner bisherigen Prozessführung gebracht wird. Ein Verpflichtungsbegehren ist danach erledigt, wenn es nach Klageerhebung aus dem Kläger nicht zurechenbaren Gründen unzulässig oder unbegründet wurde, wenn also das Rechtsschutzziel aus Gründen, die nicht in der Einflusssphäre des Klägers liegen, nicht mehr zu erlangen ist, weil es entweder außerhalb des Prozesses erreicht wurde oder überhaupt nicht mehr erreicht werden kann. Die Weiterverfolgung eines Verpflichtungsbegehrens wird etwa objektiv sinnlos, wenn sich die Sachlage dergestalt ändert, dass dem Kläger mit dem Erlass des beantragten Verwaltungsakts nicht mehr gedient ist, weil der Verwaltungsakt dem Kläger keinen Vorteil mehr bringt oder das Interesse des Klägers am Verwaltungsakt entfallen ist. Eine solche Änderung führt regelmäßig zur Unzulässigkeit der Klage wegen Fehlens eines Rechtsschutzbedürfnisses.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. September 2011 - 2 A 1335/10 -, juris Rn. 12; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 306.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Das (allgemeine) Rechtsschutzbedürfnis, bei dessen Fehlen eine Klage als unzulässig abzuweisen ist, fehlt u.a. dann, wenn ein Erfolg die Rechtsstellung des Klägers nicht verbessern würde bzw. für den Kläger offensichtlich keinen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringt.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 2004 - 3 C 25.03 -, juris Rn. 19; Wöckel, in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, vor §§ 40-53 Rn. 11 und 16; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 42 Rn. 335 und 350.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Das ist hier der Fall. Das Brandschutzkonzept für das konkrete Bauvorhaben "X. " wurde am 8. September 2020 durch einen vom Bauherrn zwischenzeitlich beauftragten staatlich anerkannten Sachverständigen für die Prüfung des Brandschutzes vorgelegt; das Genehmigungsverfahren ist nach den Angaben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung abgeschlossen und die Nutzung aufgenommen. Die Aufstellung eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " ist somit anderweitig erfolgt; die Zulassung des Klägers als Ersteller eines solchen Konzepts ist ihm objektiv nicht mehr von Nutzen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">2. Die statthafte Klage ist zulässig, insbesondere hat der Kläger das entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein und sich insbesondere aus den Gesichtspunkten der konkreten Wiederholungsgefahr, der Rehabilitierung, der schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung sowie der Präjudizwirkung für einen beabsichtigten Schadensersatzanspruch ergeben, kann aber auch aus anderen besonderen Umständen des Einzelfalls hergeleitet werden. Die gerichtliche Feststellung muss geeignet sein, die betroffene Position des Klägers zu verbessern.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 2020 - 2 C 5.19 -, juris Rn. 13; OVG NRW, Beschluss vom 10. März 2021 - 12 A 82/18 ‑, juris Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dabei ist es Sache des Klägers, die Umstände, aus denen sich das Feststellungsinteresse ergibt, darzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. November 1990 - 3 C 49.87 -, juris Rn. 25; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 267.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">a. Das Gericht nimmt vorliegend ein berechtigtes Feststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt einer konkreten Wiederholungsgefahr an. Ein solches besteht, wenn in absehbarer Zeit bei im Wesentlichen gleichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen mit einer gleichartigen Entscheidung der Behörde zu rechnen ist oder sich die in Bezug auf den erledigten Verwaltungsakt streitigen Rechtsfragen zwischen den Beteiligten in anderer Weise erneut stellen werden. Hierfür müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen; die vage oder abstrakte Möglichkeit einer Wiederholung ist ebenso wenig ausreichend wie der Wunsch nach einer Klärung abstrakter Rechtsfragen. Ist ungewiss, ob in Zukunft noch einmal die gleichen tatsächlichen Verhältnisse eintreten wie im Zeitpunkt des Erlasses des erledigten Verwaltungsaktes, kann das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht aus einer Wiederholungsgefahr hergeleitet werden.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 -, juris Rn. 21, und vom 12. Oktober 2006 - 4 C 12.04 -, juris Rn. 8; OVG NRW, Beschluss vom 10. März 2021 - 12 A 82/18 -, juris Rn. 38; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 113 VwGO, Rn. 126; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 271.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Im Falle der Erledigung eines Verpflichtungsbegehrens tritt an die Stelle der konkreten Wiederholungsgefahr ein konkretes Weiterverfolgungsinteresse. Dieses liegt vor, wenn die Gefahr besteht, dass die Behörde einen erneuten Antrag auf neuer Grundlage mit gleichen Gründen ablehnen wird. Es fehlt daher am Fortsetzungsfeststellungsinteresse, wenn sich nach der Ablehnung die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geändert haben und anzunehmen ist, dass die Behörde unter den geänderten Verhältnissen gleichartige Anträge des Klägers nicht mit gleichartigen Erwägungen ablehnen wird.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 311.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Zwar stellt die hier maßgebliche Regelung in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW für die Entscheidung, ob eine Person für die Aufstellung des Brandschutzkonzepts vergleichbar geeignet ist, bereits ausweislich des Wortlauts der Norm auf eine Betrachtung des jeweiligen Einzelfalls ab. Somit ist zu fragen, ob wegen der Individualität der jeweiligen Bauvorhaben von einer damit verbundenen - die Wiederholungsgefahr ausschließenden - Einmaligkeit der vorliegenden Ablehnungssituation auszugehen ist und der gerichtlichen Entscheidung im hier gegebenen Fall schon deshalb keine richtungsweisende Bedeutung für die künftige behördliche Entscheidungspraxis zukommen kann.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 271.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Jedoch ist anzunehmen, dass sich zwischen den Beteiligten bei zumindest <em>im Wesentlichen</em> gleichen tatsächlichen Verhältnissen (also vergleichbaren Bauvorhaben) die in Bezug auf das erledigte Begehren kontroversen Rechtsfragen - insbesondere die Frage nach der Bedeutung der Zertifizierung des Klägers bei der Anwendung des § 54 Abs. 3 BauO NRW - in anderer Weise erneut stellen werden und mit einer gleichartigen Entscheidung der Beklagten zu rechnen wäre. Einen konkreten Anhaltspunkt für die Wiederholungsgefahr bietet der Vortrag des Klägers mit Schriftsatz vom 16. November 2020, wonach er eine erneute Anfrage für eine Brandschutzplanung zu einem Pflegeheim im Zuständigkeitsbereich der Beklagten erhalten habe, zu der er ein Angebot abgeben wolle. Dass sich - wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung angab - diese Anfrage zwischenzeitlich erledigt hat, steht dem nicht entgegen, da aus dem Vorbringen des Klägers gleichwohl erkennbar ist, dass er weiterhin für Bauprojekte dieser Art als Ersteller von Brandschutzkonzepten im Zuständigkeitsbereich der Beklagten tätig sein möchte.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung allerdings auf die Frage nach seinem konkreten Feststellungsinteresse erklärt hat, ihm gehe es - auch - um eine Klärung für seine Berufskollegen, vermag er daraus ein Feststellungsinteresse nicht herzuleiten. Gleiches gilt im Hinblick darauf, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zum Hintergrund der Klage darauf verwiesen hat, vorher mehrfach ähnliche Erfahrungen mit der Ablehnung durch andere Behörden gesammelt zu haben. Denn die Wiederholungsgefahr ist allein in Bezug auf den Kläger und dessen konkrete Situation zu beurteilen und muss gerade im Verhältnis der Beteiligten des anhängigen Verwaltungsstreitverfahrens bestehen; begehrt der Kläger eine Klärung nicht für sich, sondern für einen Dritten, reicht dies nicht.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Februar 2014 - 12 A 2838/12 -, juris Rn. 5; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 113 VwGO, Rn. 127; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 270.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">b. Es kann damit dahinstehen, ob sich ein Feststellungsinteresse auch noch unter anderen Gesichtspunkten ergibt. Dies dürfte allerdings zu verneinen sein.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Ein Feststellungsinteresse im Hinblick auf eine Rehabilitierung des Klägers dürfte nicht gegeben sein. Ein berechtigtes Interesse an einer Rehabilitierung besteht nur dann, wenn sich aus dem erledigten Verwaltungsakt eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen. Diese Stigmatisierung muss Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 -, juris Rn. 25; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 113 Rn. 119; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 273.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vorliegend ist schon fraglich, ob die gegenüber dem Kläger ergangene Entscheidung überhaupt Außenwirkung erlangt hat. Überdies beruhte die Ablehnung, den Kläger als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " anzuerkennen, auf der Komplexität des Vorhabens und einer Bewertung der fachlichen Vorerfahrungen des Klägers, ohne dass damit ein stigmatisierendes Unwert-Urteil über die Person des Klägers verbunden gewesen wäre oder seine Qualifikation grundlegend in Frage gestellt worden wäre. Insoweit hat die Beklagte auch im gerichtlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erklärt, dass es sich um eine Einzelfall-Entscheidung gehandelt habe, und damit nicht ausgeschlossen sei, dass der Kläger bei anders gelagerten Bauvorhaben in Zukunft als zur Aufstellung des jeweiligen Brandschutzkonzepts geeignet angesehen werde. Soweit die Beklagte in ihrer E-Mail von 00.00.0000 auf bereits bestehende Probleme Bezug nahm, hat sie - sofern sich dies nicht bereits aus der Gesamtformulierung der E-Mail ergab - in der mündlichen Verhandlung öffentlich klargestellt, dass damit auf Probleme des Bauprojekts verwiesen wurde und nicht etwa auf Probleme mit dem Kläger.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Dass der Kläger beabsichtigt, einen Schadensersatzprozess anzustrengen, ist nicht vorgetragen. Bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage, die der Vorbereitung einer zivilrechtlichen Klage auf Schadensersatz oder Entschädigung dienen soll, ist das Feststellungsinteresse zu bejahen, wenn ein solcher Prozess bereits anhängig, mit Sicherheit zu erwarten oder ernsthaft beabsichtigt ist, die begehrte Feststellung in diesem Verfahren erheblich und die Rechtsverfolgung nicht offensichtlich aussichtslos ist. Insoweit bedarf es hinreichender Darlegungen seitens des die Feststellung begehrenden Klägers. Hierzu gehört insbesondere, dass er die Behauptung eines eingetretenen Schadens durch Angaben zur Art des Schadens und zur annähernden Schadenshöhe substantiiert.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. April 2018 - 2 A 1387/15 -, juris Rn. 42 ff., und Beschluss vom 15. August 2014 - 2 A 2507/13 -, juris Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Hierfür ist vorliegend nichts dargetan; vielmehr hat der Kläger auf die gerichtliche Frage nach seinem konkreten Interesse an der Feststellung in der mündlichen Verhandlung ausschließlich darauf verwiesen, ihm gehe es um eine Klärung für die Zukunft.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">II. Die noch aufrecht erhaltene Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO auf die Feststellung, dass die Ablehnung der Beklagten vom 00.00.0000, ihn als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " anzuerkennen, rechtswidrig war. Eine solche Feststellung setzt voraus, dass der Kläger durch die Ablehnung in seinen eigenen Rechten verletzt worden ist (1.). Dies ist hier nicht der Fall (2.).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">1. Eine Fortsetzungsfeststellungsklage ist im Falle eines erledigten Verpflichtungsbegehrens begründet, wenn die Verpflichtungsklage zum Zeitpunkt der Erledigung Erfolg gehabt hätte, d.h. wenn ein Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsakts bzw. auf Neubescheidung zum Zeitpunkt der Erledigung bestand.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. Juni 2012 - OVG 2 B 18.11 -, juris Rn. 42; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 113 VwGO, Rn. 151; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 314.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Insoweit entspricht das Prüfprogramm dem des § 113 Abs. 5 VwGO. Hierbei kann insbesondere nicht auf eine subjektive Rechtsverletzung und den danach erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhang verzichtet werden, weil die Fortsetzungsfeststellungsklage keinen umfassenderen Rechtsschutz gewähren darf als die vor der Erledigung erhobene oder ohne Erledigung zu erhebende Verpflichtungsklage.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 3. März 1987 - 1 C 15.85 -, juris Rn. 15, und vom 23. März 1982 - 1 C 157.79 - juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 23. September 2020 - 8 A 1161/18 ‑, juris Rn. 66 ff. (jeweils im Kontext einer Anfechtungssituation); Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 113 VwGO, Rn. 151.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">2. Die Voraussetzungen des § 113 Abs. 5 VwGO lagen hier nicht vor. Zwar wird die am 00.00.0000 an den Kläger versandte E-Mail der Beklagten, in dem diese ihm die ablehnende Entscheidung mitteilte, den formellen Anforderungen des VwVfG NRW nicht gerecht (a.). Dies führt jedoch nicht zur Begründetheit der Klage (b.). Die Klage hat keinen Erfolg, weil die ablehnende Sachentscheidung materiell nicht zu beanstanden ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt; ihm stand kein Anspruch auf die Anerkennung als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " zu (c.).</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">a. Die Mitteilung der ablehnenden Entscheidung mit E-Mail vom 00.00.0000 erfolgte in formeller Hinsicht nicht ordnungsgemäß.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">aa. Dabei ist zunächst nicht zu beanstanden, dass der Kläger vor Erlass der ablehnenden Entscheidung nicht angehört wurde. Nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW ist vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Vorschrift kann nach ihrem Sinngehalt grundsätzlich nur für solche beschwerenden Verwaltungsakte gelten, mit denen die Behörde in die Rechtssphäre des Bürgers eingreift und gegen die dem Bürger die Anfechtungsklage zusteht (sogenannte "Eingriffsverwaltung"). Dies ist der Fall, wenn durch den Verwaltungsakt die bisherige Rechtsstellung des Beteiligten zu seinem Nachteil verändert, ihm eine rechtliche Verpflichtung auferlegt, insbesondere von ihm ein Tun oder Unterlassen gefordert wird. Dagegen genügt es nicht, wenn - wie hier - der Erlass eines Verwaltungsakts abgelehnt wird, der erst eine Rechtsposition begründen soll. Bei Verwaltungsakten, die einen Antrag ablehnen, hat der Beteiligte regelmäßig bei der Antragstellung hinreichend Gelegenheit, alle für die Entscheidung erheblichen Tatsachen vorzutragen. Deshalb ist im Regelfall - und so auch hier - eine gesonderte Anhörung vor der Ablehnung des Antrags nicht geboten.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Oktober 1982 - 3 C 46.81 -, juris Rn. 35, und vom 30. April 1981 - 3 C 135.79 -, juris Rn. 64; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Juni 2011 - OVG 10 B 1.11 ‑, juris Rn. 45.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">bb. Dahingegen rügt der Kläger im Grundsatz zu Recht, dass die ablehnende Entscheidung ihm gegenüber in der E-Mail der Beklagten vom 18. Juni 2020 unzureichend begründet wurde. Dies hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch selbst ausdrücklich eingeräumt.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">(1) Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW ist ein schriftlicher oder elektronischer sowie ein schriftlich oder elektronisch bestätigter Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Bei der E-Mail der Beklagten vom 18. Juni 2020 handelt es sich um einen (elektronischen) Verwaltungsakt im Sinne von § 35 Satz 1 VwVfG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu dem Begriff und zur Einordnung einer E-Mail: Schröder, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: April 2022, § 37 VwVfG Rn. 59.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die E-Mail vom 18. Juni 2020 enthielt insbesondere eine Regelung, nämlich die für den konkreten Einzelfall getroffene Entscheidung der Beklagten, den Kläger nicht als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " zuzulassen. Dass das (formlose) elektronische Schreiben nicht dem üblichen Aufbau eines Verwaltungsakts entspricht und keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, steht seiner Einordnung als Verwaltungsakt nicht entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Der Verwaltungsakt hätte gemäß § 39 Abs. 1 VwVfG NRW einer ordnungsgemäßen Begründung bedurft. Die in § 39 Abs. 2 VwVfG NRW geregelten Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen eine Begründung entbehrlich ist, greifen vorliegend nicht ein. In der Begründung sind gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG NRW die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Die Anforderungen an Umfang und Vollständigkeit dieser Angaben sind einzelfallabhängig.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 39 Rn. 43.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Bei der Beurteilung, ob die Begründung diesen Anforderungen gerecht wird, sind auch die Funktionen des Begründungserfordernisses zu berücksichtigen. Zu diesen gehört u.a., die Entscheidung gegenüber dem Betroffenen zu erklären, zu legitimieren und ihm gegenüber nachvollziehbar zu machen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Funktionen der Begründung Tiedemann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand: April 2022, § 39 Rn. 1 ff.; Schuler-Harms, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: April 2022, § 39 VwVfG Rn. 5 f.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 39 Rn. 1.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Gründe müssen für den Betroffenen aus sich heraus verständlich sein.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schuler-Harms, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: April 2022, § 39 VwVfG Rn. 52.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Angabe der "wesentlichen rechtlichen Gründe" umfasst in der Regel die Nennung der maßgeblichen Rechtsgrundlage und die Mitteilung der wesentlichen Schritte und des Ergebnisses des Subsumtionsvorgangs.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schuler-Harms, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: April 2022, § 39 VwVfG Rn. 58 und 62; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 39 Rn. 50.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">(2) Diesen formellen Anforderungen wird die E-Mail vom 18. Juni 2020 nicht gerecht. Zwar ist das Gericht nach den Ausführungen der Beklagten im gerichtlichen Verfahren davon überzeugt, dass die Beklagte den maßgeblichen Rechtsrahmen zutreffend erkannt hat. Dies kam in der Formulierung, dass eine "Anerkennung außerhalb der Rahmenbedingungen der BauO NRW" (gemeint: außerhalb der Qualifikation nach § 54 Abs. 3 Var. 1 und 2 BauO NRW) für dieses Projekt nicht erfolgen könne, aber nur unzureichend zum Ausdruck. Auch eine Auseinandersetzung mit den vom Kläger vorgetragenen Sachkunde- und Erfahrungsnachweisen - die nach den Ausführungen der Beklagten in der mündlichen Verhandlung in Abstimmung mit der Brandschutzdienststelle durchaus stattgefunden hat - lässt die E-Mail nicht erkennen. Der o.g. Legitimations- bzw. Akzeptanz- oder Befriedigungsfunktion wurde die Begründung damit nicht gerecht. Überdies war der Verweis auf bereits bestehende Probleme und die geplanten Maßnahmen für den Adressaten nicht aus sich heraus verständlich.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">b. Der formelle Mangel führt aber nicht zur Begründetheit der Klage. Die Beklagte hat im Gerichtsverfahren mit Schriftsatz vom 5. November 2020 die erforderliche Begründung nachträglich gegeben und damit das vorherige Begründungsdefizit - bei dem es sich nicht um einen besonders schwerwiegenden oder anderweitig zur Nichtigkeit führenden Fehler im Sinne von § 44 Abs. 1, 2 VwVfG NRW handelt - geheilt (§ 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG NRW).</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon begründet bei einer Verpflichtungsklage eine fehlende bzw. unzureichende Begründung der Ablehnung noch keinen Anspruch auf den begehrten Verwaltungsakt; insofern führen bloß formelle Mängel einer Ablehnungsentscheidung grundsätzlich - und so auch hier - nicht zu einer materiellen Rechtsverletzung des Verpflichtungsklägers und zum Erfolg einer Verpflichtungsklage.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 1 L 53/13 -, juris Rn. 56; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 39 Rn. 27.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Streitgegenstand der Verpflichtungsklage - die sich vorliegend in Gestalt der Fortsetzungsfeststellungsklage fortsetzt - ist nicht die Feststellung, dass der Verwaltungsakt, in dem die Ablehnung nach außen Gestalt gefunden hat, rechtswidrig ist, sondern die Feststellung, dass die Weigerung der Behörde, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen, in dem für das Verpflichtungsbegehren entscheidenden Zeitpunkt die Rechtsordnung verletzt.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Januar 1992 - 7 C 24.91 -, juris Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Dies gilt entsprechend für eine Feststellungsklage in Fortsetzung eines Verpflichtungsbegehrens, da sich deren Erfolg nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen ebenfalls am Prüfprogramm des § 113 Abs. 5 VwGO bemisst. Für deren Begründetheit ist danach entscheidend, ob dem Feststellungskläger zum Zeitpunkt der Erledigung ein Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsakts zustand.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Dass der ursprüngliche Begründungsmangel nicht zum Erfolg der Klage führt, ergibt sich auch aus § 46 VwVfG NRW. Der Rechtsgedanke der Vorschrift ist auch im Falle einer Fortsetzungsfeststellungsklage zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Juni 2015 - 6 A 589/12 -, juris Rn. 109 ff.; Schwarz, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Auflage 2021, § 46 VwVfG Rn. 33; Schneider in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: April 2022, § 46 VwVfG Rn. 63.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der (wie hier) nicht nach § 44 VwVfG NRW nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Das ist hier der Fall. An der Kausalität des Fehlers für die Entscheidung fehlt es, weil dem Kläger - wie sich aus nachfolgenden Ausführungen ergibt - kein Anspruch auf Erlass des abgelehnten Verwaltungsakts zustand.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">c. Die Ablehnung, den Kläger als Ersteller eines Brandschutzkonzepts für das Bauvorhaben "X. " anzuerkennen, war materiell rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; ihm stand zum Zeitpunkt der Erledigung kein Anspruch auf die Anerkennung zu.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">aa. Brandschutzkonzepte für bauliche Anlagen werden nach § 54 Abs. 3 BauO NRW entweder von staatlich anerkannten Sachverständigen nach § 87 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BauO NRW für die Prüfung des Brandschutzes (Var. 1), von öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für vorbeugenden Brandschutz nach § 36 GewO (Var. 2), oder von Personen aufgestellt, die "im Einzelfall für die Aufgabe nach Sachkunde und Erfahrung vergleichbar geeignet sind" (Var. 3).</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist - was unter den Beteiligten außer Streit steht - weder ein staatlich anerkannter Sachverständiger nach § 87 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BauO NRW für die Prüfung des Brandschutzes noch ein öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für vorbeugenden Brandschutz nach § 36 GewO.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Während gemäß § 54 Abs. 3 Var. 1 und 2 BauO NRW staatlich anerkannte Sachverständige für die Prüfung des Brandschutzes und die diesen gleich gestellten öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für vorbeugenden Brandschutz nach § 36 GewO zur Vorlage von Brandschutzkonzepten generell als geeignet gelten</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">- vgl. die entsprechende Gesetzesbegründung, Lt.-Drs. 17/2166, S. 154; VG Minden, Beschluss vom 28. Januar 2022 - 9 K 6856/21 -, juris Rn. 6 -,</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">ist in Bezug auf die von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW erfassten Personen - wie sich schon aus dem Wortlaut der Norm ergibt - jeweils "im Einzelfall" von der zuständigen Bauaufsichtsbehörde zu prüfen, ob diese für die Aufgabe nach Sachkunde und Erfahrung vergleichbar geeignet sind.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Minden, Beschluss vom 28. Januar 2022 - 9 K 6856/21 -, juris Rn. 6 f.; LG Münster, Urteil vom 21. Januar 2022 - 22 O 53/21 -, juris Rn. 16, 18.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Das Gericht geht dabei zugunsten des Klägers davon aus, dass die durch das Gesetz zur Modernisierung des Bauordnungsrechts in Nordrhein-Westfalen - Baurechtsmodernisierungsgesetz (BauModG NRW) - vom 21. Juli 2018 eingeführte "Öffnungsklausel" in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW nicht bloß eine objektiv-rechtliche Verfahrensregelung bzw. eine Norm darstellt, die ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit dient, sondern zumindest auch eine subjektiv-rechtliche Komponenten enthält, die den Schutz individueller, einem bestimmten und abgrenzbaren - nämlich dem von dieser Regelung umfassten - Personenkreis zuzuordnender Individualinteressen derart zu dienen bestimmt ist, dass diese die Einhaltung des Rechtssatzes sollen verlangen können, und ihnen bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einen gebundenen, klagbaren Anspruch auf eine entsprechende Anerkennung vermittelt.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur sog. Schutznormtheorie BVerwG, Urteile vom 11. Oktober 2016 - 2 C 11.15 -, juris Rn. 27, und vom 10. April 2008 - 7 C 39.07 -, juris Rn. 19, OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. Mai 2021 - 11 LA 351/19 -, juris Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die E-Mail des Klägers vom 00.00.0000 war bei verständiger Würdigung seines Vorbringens dahingehend auszulegen, dass er bei der Beklagten beantragte, ihn für das Bauvorhaben "Klink X1. " als eine solche "im Einzelfall für die Aufgabe nach Sachkunde und Erfahrung vergleichbar geeignete" Person im Sinne von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW anzuerkennen.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Unter "Sachkunde" ist das fachbezogene Wissen zu verstehen, welches im Rahmen der Ausbildung erworben und durch Weiterbildungen aktualisiert wurde; "Erfahrung" bezieht sich auf die durch praktische Tätigkeiten erworbenen Erkenntnisse.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. Gohde, in: BeckOK Bauordnungsrecht NRW, Stand: Mai 2022, § 54 BauO Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Die Auslegung und Anwendung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe sind gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa zum Begriff der "besonderen Sachkunde" im Kontext der öffentlichen Bestellung nach § 36 GewO: BVerwG, Beschluss vom 28. Mai 2014 - 8 B 61.13 -, juris Rn. 7 und 9, und Urteil vom 26. Juni 1990 - 1 C 10.88 -, juris Rn. 19 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2017 - 4 B 799/16 -, juris Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Für die Frage, ob eine Person im Sinne von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW im Einzelfall für die Aufgabe nach Sachkunde und Erfahrung vergleichbar geeignet ist, soll es nach dem Willen des Gesetzgebers</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">- vgl. Lt.-Drs. 17/2166, S. 154 -</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">nicht allein auf Aus- und Fortbildungsnachweise ankommen, sondern darauf, ob zusätzlich eine praktische Erfahrung mit der Brandschutzplanung vergleichbarer Objekte nachgewiesen werden kann. Ob dies der Fall ist, hat die zuständige Bauaufsichtsbehörde bezogen auf das zur Entscheidung stehende Bauvorhaben zu beurteilen.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Vgl. Lt.-Drs. 17/2166, S. 154; Gohde, in: BeckOK Bauordnungsrecht NRW, Stand: Mai 2022, § 54 BauO Rn. 41; Boeddinghaus/Hahn/Schulte u.a., Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Stand: 115. AL 2022, § 54 Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">bb. Die vorliegend von der Beklagten getroffene Ablehnungsentscheidung ist danach nicht zu beanstanden. Die Beurteilung der Eignung für die Aufstellung des Brandschutzkonzepts hat objekt-bezogen zu erfolgen (1). Bezogen auf das konkret in Rede stehende Bauvorhaben (2) hat der Kläger praktische Erfahrung mit der Brandschutzplanung vergleichbarer Objekte nicht nachgewiesen (3). Aus dem Umstand, dass der Kläger nach der Norm DIN EN ISO/IEC 17024 von einer akkreditierten Stelle als Sachverständiger für den vorbeugenden und gebäudetechnischen Brandschutz zertifiziert ist, folgt - auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG - nicht, dass die in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW vorgesehene Einzelfallprüfung unterbleiben kann oder stets zu dem Ergebnis führen muss, dass eine nach Sachkunde und Erfahrung für die Aufgabe vergleichbare Eignung gegeben ist (4). Die zu der Vorgängervorschrift von § 54 Abs. 3 BauO NRW erlassene Verwaltungsvorschrift führt zu keinem anderen Ergebnis (5).</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">(1) Ausgangspunkt der in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW vorgesehenen Beurteilung der Eignung für die Aufgabe ist das konkrete Bauvorhaben, für das ein Brandschutzkonzept aufzustellen ist. Dies ergibt sich nicht nur aus der bereits wiedergegebenen Gesetzesbegründung ("bezogen auf das zur Entscheidung stehende Bauvorhaben", "Erfahrung mit der Brandschutzplanung vergleichbarer Objekte"), sondern ist auch im Wortlaut des Gesetzes selbst eindeutig zum Ausdruck gekommen, der darauf abstellt, ob jemand "im Einzelfall für die Aufgabe" geeignet ist. Soweit der Kläger der Ansicht ist (Schriftsatz vom 27. April 2022, S. 3), auf die Komplexität des Bauvorhabens komme es im Rahmen von § 54 Abs. 3 BauO NRW nicht an, geht dieser Einwand daher fehl.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Bei der einzelfallbezogenen Beurteilung ist - wie vorstehend dargestellt - insbesondere zu prüfen, ob die Person praktische Erfahrung mit der Brandschutzplanung vergleichbarer Objekte hat. Für die Frage, ob Objekte vergleichbar sind, ist nach der Systematik und dem Sinn und Zweck der Vorschrift entscheidend, ob diese Objekte im Hinblick auf die sich ergebenen brandschutzrechtlichen Fragestellungen - und speziell im Hinblick auf das erforderliche Brandschutzkonzept - vergleichbare Anforderungen stellen.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Nähere Einzelheiten zum Inhalt eines Brandschutzkonzepts enthält § 9 BauPrüfVO NRW. Danach ist das Brandschutzkonzept eine zielorientierte Gesamtbewertung des baulichen und abwehrenden Brandschutzes bei Sonderbauten (§ 9 Abs. 1 BauPrüfVO NRW). § 9 Abs. 2 Satz 1 BauPrüfVO NRW regelt bestimmte Pflichtangaben, die in einem Brandschutzkonzept enthalten sein müssen. Diese sind in einem schriftlichen Erläuterungsbericht zu formulieren und durch zeichnerische Darstellung der baulichen Anforderungen unter Angabe der technischen Anforderungen zu ergänzen (§ 9 Abs. 2 Satz 2 BauPrüfVO NRW). Zu den nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BauPrüfVO NRW erforderlichen Bestandteilen des Brandschutzkonzepts gehören u.a.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">- die Bemessung, Lage und Anordnung der Löschwasser-Rückhalteanlagen (Nr. 3),</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">- das System der äußeren und der inneren Abschottungen in Brandabschnitte bzw. Brandbekämpfungsabschnitte sowie der Rauchabschnitte mit Angaben zur Feuerwiderstandsfähigkeit der Bauteile und Anforderungen an das Brandverhalten der Baustoffe (Nr. 4),</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">- die Lage, Anordnung, Bemessung (gegebenenfalls durch rechnerischen Nachweis) und Kennzeichnung der Rettungswege auf dem Baugrundstück und in Gebäuden mit Angaben zur Sicherheitsbeleuchtung, zu automatischen Schiebetüren und zu elektrischen Verriegelungen von Türen (Nr. 5),</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">- die höchstzulässige Zahl der Nutzer der baulichen Anlage, deren Mobilität und Grundzüge der Evakuierung (Nr. 6),</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">- die Lage und Anordnung haustechnischer Anlagen, insbesondere der Leitungsanlagen, gegebenenfalls mit Angaben zum Brandverhalten im Bereich von Rettungswegen sowie von Aufzügen (Nr. 7),</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">- die Lage und Anordnung der Lüftungsanlagen mit Angaben zur brandschutztechnischen Ausbildung (Nr. 8),</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">- die Lage, Anordnung und Bemessung der Rauch- und Wärmeabzugsanlagen mit Eintragung der Querschnitte beziehungsweise Luftwechselraten sowie der Überdruckanlagen zur Rauchfreihaltung von Rettungswegen (Nr. 9),</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">- die Alarmierungseinrichtungen und Alarmierungsanlagen (Nr. 10),</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">- die Lage, Anordnung und gegebenenfalls Bemessung von Anlagen, Einrichtungen und Geräten zur Brandbekämpfung (wie Feuerlöschanlagen, Steigeleitungen, Wandhydranten, Schlauchanschlussleitungen, Feuerlöschgeräte) mit Angaben zu Schutzbereichen und zur Bevorratung von Sonderlöschmitteln (Nr. 11),</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">- die Sicherheitsstromversorgung mit Angaben zur Bemessung und zur Lage und brandschutztechnischen Ausbildung des Aufstellraums, der Ersatzstromversorgungsanlagen (Batterien, Stromerzeugungsaggregate) und zum Funktionserhalt der elektrischen Leitungsanlagen (Nr. 12),</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">- die Lage und Anordnung von Brandmeldeanlagen mit Unterzentralen und Feuerwehrtableaus, Auslösestellen (Nr. 13),</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">- Grundzüge der funktionalen steuerungstechnischen Zusammenhänge (Nr. 14),</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">- Angaben darüber, welchen materiellen Anforderungen der BauO NRW 2018 oder in Vorschriften auf Grund der BauO NRW 2018 nicht entsprochen wird und welche ausgleichenden Maßnahmen stattdessen vorgesehen werden (Nr. 17)</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">- sowie die Anwendung von Verfahren und Methoden des Brandschutzingenieurwesens (Nr. 18).</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Aus diesen in § 9 Abs. 2 Satz 1 BauPrüfVO NRW aufgezählten Anforderungen, die u.a. vielfach gerade auf die "Lage und Anordnung" der brandschutztechnisch relevanten Einrichtungen Bezug nehmen, ist ohne Weiteres ersichtlich, dass die Komplexität und Größe eines Gebäudes unmittelbaren Einfluss darauf hat, wie anspruchsvoll die Aufstellung des Brandschutzkonzepts ist.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Welche Kriterien nach der gesetzgeberischen Wertung zu erhöhten brandschutztechnischen Anforderungen an bauliche Anlagen führen, lässt sich auch daran ablesen, für welche Bauten ein Brandschutzkonzept zwingend vorgeschrieben ist (§§ 70 Abs. 2 Satz 3, 50 Abs. 2 BauO NRW - große Sonderbauten). Die in § 50 Abs. 2 BauO NRW aufgezählten großen Sonderbauten zeichnen sich im Wesentlichen durch ihre erhebliche Größe (Fläche und Höhe) und/oder durch besonders viele bzw. besonders schutzbedürftige Nutzer aus (siehe hierzu auch die Pflichtangabe in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 BauPrüfVO NRW). Demensprechend definiert § 50 Abs. 1 BauO NRW Sonderbauten auch als Anlagen und Räume "besonderer Art oder Nutzung".</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">(2) Das hier konkret in Rede stehende Bauvorhaben "X. " vereinigt gleich mehrere Kriterien, die nach den vorstehend wiedergegebenen gesetzgeberischen Wertungen auf eine anspruchsvolle brandschutztechnische Planung schließen lassen. Nach den zwischen den Beteiligten nicht in Zweifel stehenden Angaben der Beklagten handelt es sich um eine ehemalige L4. (großer Sonderbau), die mehrere Jahre leer stand und für die im Februar 2019 im Rahmen einer Bauvoranfrage diverse Nutzungsänderungen im Gebäudekomplex bauplanungsrechtlich genehmigt wurden. Für einen ersten untergeordneten Gebäudeteil wurde im Juni 2019 eine Baugenehmigung für die Nutzungsänderung zu einer Pflegeeinrichtung mit 34 Plätzen erteilt. Der streitgegenständliche zweite zur Genehmigung stehende Bauabschnitt bezog sich danach auf eine Nutzfläche von insgesamt ca. 7.800 m<sup>2</sup> mit diversen unterschiedlichen Nutzungseinheiten, nämlich Pflege- und Betreuungseinrichtungen inkl. Tages- und stationärer Pflege, sieben Arzt- und Therapiepraxen, Bereiche für das sog. Centermanagement mit entsprechenden Büroräumen, einem Ladenlokal sowie barrierefreiem Wohnen, verteilt auf sieben Geschosse.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Angesichts der Größe (sowohl im Hinblick auf die Fläche als auch im Hinblick auf die Geschossigkeit/Höhe) und angesichts des Aufeinandertreffens verschiedener Nutzungen einschließlich solcher durch besonders schutzbedürftige Personen und mit hohem Publikumsverkehr handelt es sich damit um ein Gebäude, das sich - gemessen an den oben beschriebenen Kriterien - sowohl seiner Art nach als auch seiner Nutzung nach als besonders anspruchsvoll erweist.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat die Beklagte darauf hingewiesen, bereits im Zuge der ersten Teilnutzungsänderung festgestellt zu haben, dass die brandschutzrechtlichen Beurteilungen aufgrund der erheblichen Größe des Gesamtobjekts und der Vielzahl an unterschiedlichen geplanten Nutzungseinheiten im Objekt aufgrund ihrer Komplexität ein hohes Maß an Erfahrung und Sachkunde bedürfen.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">(3) Dass der Kläger praktische Erfahrung mit der Brandschutzplanung vergleichbarer Objekte hat, ist weder nachgewiesen noch anderweitig ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger im Rahmen der Antragstellung angeführten Tätigkeiten als ehrenamtlicher Zugführer bei der Feuerwehr, als Brandschutzbeauftragter, als Mitwirkender einer Arbeitsgruppe des Justizvollzugs und des Bau- und Liegenschaftsbetriebs zur Erstellung von Empfehlungen zum Brandschutz beim Bau und Betrieb von Justizvollzugsanstalten im Jahr 2007, und im Rahmen seines Dienstes in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne (Brandschutzausbildung von Bediensteten, Fertigung brandschutztechnischer Stellungnahmen) belegen zwar praktische Erfahrungen im Bereich des vorbeugenden und abwehrenden Brandschutzes, lassen aber jedenfalls eine Erfahrung mit (eigenverantwortlichen) Brandschutzplanungen im Rahmen von Baugenehmigungsverfahren nicht erkennen.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Die zum Nachweis seiner diesbezüglichen praktischen Erfahrung eingereichten Baugenehmigungen, in deren Rahmen der Kläger die brandschutztechnische Planung betreut hatte, betrafen insgesamt vier Bauvorhaben: Aus dem Jahr 2015 (Bl. 13 f. der Beiakte) die Errichtung einer offenen Unterstellhalle für Fahrzeuge und den Abbruch einer Ruine ("Brandschutzplanung" im Rahmen einer Baugenehmigung) in Rüdersdorf/Herzfelde, aus dem Jahr 2016 (Bl. 15 ff. der Beiakte) eine Nutzungsänderung in einem Hotel ("Frühstücksraum und Wäschekammer zu zwei Doppelzimmern im 1. Obergeschoss, Gastraum und Lagerräume zu Frühstücksraum im Erdgeschoss") in Lindau ("Nachweis über den vorbeugenden Brandschutz" im Rahmen einer Baugenehmigung), aus dem Jahr 2017 (Bl. 22 ff. der Beiakte) die Erweiterung eines Altenpflegeheims und den Neubau von Einstellplätzen in Oyten ("Brandschutzgutachten" im Rahmen eines Nachtrags zur Baugenehmigung: Änderung des Brandschutzkonzepts), und aus dem Jahr 2019 (Bl. 18 ff. der Beiakte) einen Umbau mit Nutzungsänderung eines Betriebsgebäudes im Erdgeschoss in Bad Salzuflen ("Beschreibung der brandschutztechnischen Maßnahmen" im Rahmen einer Baugenehmigung). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, bei Antragstellung diejenigen von ihm betreuten Projekte eingereicht zu haben, die am ehesten mit dem hier streitgegenständlichen Vorhaben vergleichbar waren. Hinsichtlich des Vorhabens in Lindau (Nutzungsänderung innerhalb eines Hotels) erklärte er ergänzend, es habe sich dabei um eine Nutzungsänderung in einem Hotel mit etwa 15 bis 20 Betten in einem historischen Gebäude gehandelt. Bei dem Vorhaben im Jahr 2019 in Bad Salzuflen sei es um die Erweiterung eines Saals mit einer darunter gelegenen kleinen Garage gegangen. Das Vorhaben in Rüdersdorf habe den Neubau einer Brandwand beinhaltet. Dies sei "keine große Sache und mit dem hier streitgegenständlichen Vorhaben definitiv nicht vergleichbar" gewesen. Im Rahmen des Bauvorhabens im Jahr 2017 in Oyten sei eine geschützte Einrichtung für an Demenz erkrankte Pflegebedürftige um etwa 40 zusätzliche Plätze erweitert worden. Die brandschutztechnische Begleitung habe er von einem Kollegen übernommen, deren Brandschutzplanungen er überarbeitet (Änderungen des bestehenden Brandschutzkonzepts) bzw. fortgeführt habe.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Das Gericht verkennt nicht, dass diese (im Wesentlichen nebenberuflich) betreuten Bauvorhaben eine gewisse Erfahrung des Klägers im Bereich der Brandschutzplanung - einschließlich derjenigen für eine Pflegeeinrichtung - dokumentieren. Eine Vergleichbarkeit mit dem streitgegenständlichen Vorhaben ist unter Berücksichtigung der vorstehend aufgezeigten dafür maßgeblichen Kriterien indes nicht gegeben. Das betrifft sowohl das hier bestehende Aufeinandertreffen verschiedenster Nutzungsarten, als auch die Größe und Geschossigkeit des Gebäudes. Letztere ist - wie sich aus den oben dargestellten rechtlichen Wertungen ergibt - entgegen der Ansicht des Klägers im Hinblick auf die brandschutztechnischen Anforderungen ein durchaus relevanter Parameter. Insbesondere weist auch das von dem Kläger - im Übrigen lediglich in Form der Änderung eines bestehenden Brandschutzkonzepts - betreute Pflegeheim keine vergleichbare Geschossigkeit auf, wie sich aus dem von dem Kläger in Bezug genommenen, öffentlich zugänglichen Internet-Auftritt der Einrichtung ersehen lässt.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, ein Brandschutzkonzept für ein Objekt in der Größenordnung wie die "X. ", das ein Pflegeheim war, habe er nicht in seinem "Repertoire" gehabt. Auf die Frage, ob er bei Antragstellung auch schon weitere Sonderbauten mit Brandschutzkonzepten betreut hatte, erklärte er, zumindest keine vergleichbaren Projekte wie das hier streitgegenständliche Vorhaben - im Hinblick auf die Geschossigkeit u.ä. - bearbeitet zu haben. Ob die Beklagte, wie der Kläger im gerichtlichen Verfahren gerügt hat, nach dem Untersuchungsgrundsatz noch weitere Ermittlungen zu seinen praktischen Erfahrungen hätte anstellen müssen, kann vor diesem Hintergrund schon deshalb dahinstehen, weil solche nach dem vorstehend Gesagten zu keinen anderen Erkenntnissen geführt hätten.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Die von dem Kläger eingereichten Fortbildungsnachweise (Zertifikat der akkreditierten Stelle IQ-Zert, Bestätigung über die Teilnahme an der Qualifizierungsmaßnahme "Fachplaner für vorbeugenden Brandschutz") betreffen den Nachweis seiner "Sachkunde" und nicht seiner (praktischen) Erfahrung.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">(4) Aus dem Umstand, dass der Kläger nach der Norm DIN EN ISO/IEC 17024 als Sachverständiger für den vorbeugenden und gebäudetechnischen Brandschutz zertifiziert und die zertifizierende Stelle nach dem Akkreditierungsgesetz akkreditiert ist, folgt entgegen der Ansicht des Klägers nicht, dass die in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW vorgesehene Einzelfallprüfung unterbleiben kann oder stets zu dem Ergebnis führen muss, dass eine nach Sachkunde und Erfahrung für die Aufgabe vergleichbare Eignung gegeben ist.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Zwar kann die Zertifizierung des Klägers in Verbindung mit dem von dem Kläger vorgelegten, von der zertifizierenden Stelle aufgestellten Anforderungsprofil "Sachverständiger für den vorbeugenden Brandschutz" als Nachweis für eine bestimmte Sachkunde des Klägers herangezogen werden. Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass es nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW zusätzlich auch auf die praktische Erfahrung des Klägers ankommt.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Eine formale Gleichstellung von nach DIN EN ISO/IEC 17024 durch eine akkreditierte Stelle zertifizierten Sachverständigen mit staatlich anerkannten bzw. öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen ist auf der Ebene von Gesetzen und Verordnungen - soweit ersichtlich - bislang im Wesentlichen nur im Bereich des Sachverständigenwesens für die Grundstückswertermittlung und Immobilienbewertung - und dort auch nur in Ansätzen - vorzufinden</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">- vgl. (im Hinblick auf die Erstellung von Gutachten) § 198 Abs. 2 Bewertungsgesetz, § 6 Satz 1 Beleihungswert-ermittlungsverordnung (allerdings in Satz 2 ergänzt um eine Einzelfallprüfung) und § 38 Abs. 4 Satz 2 Landesgrundsteuergesetz Baden-Württemberg; zum Auskunftsrecht (Einholung von grundstücksbezogenen Auskünften) siehe auch § 34 Abs. 6 Satz 5 Grundstückswert-ermittlungsverordnung NRW, ähnlich die Regelungen in den Gutachterausschusslandesverordnungen von U3.--ringen (§ 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4), Mecklenburg-Vorpommern (§ 13 Abs. 2 Satz 2), Brandenburg (§ 11 Abs. 2 Nr. 3), Rheinland-Pfalz (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3), Bayern (§ 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3), Saarland (§ 13 Abs. 1 Satz 1) sowie in § 16 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 DVO-BauGB Berlin -,</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">und im Bereich des Baurechts gerade nicht erfolgt. Auch ist beispielsweise im Hinblick auf die öffentliche Bestellung von Sachverständigen nach § 36 Abs. 1 Satz 1 GewO anerkannt, dass aus einer bestehenden privatrechtlichen Zertifizierung weder ein Bestellungsanspruch noch "automatisch" die Bejahung besonderer Sachkunde folgt.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Mai 2014 - 8 B 61.13 -, juris Rn. 12; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14. Februar 2012 - 3 LA 46/11 -, juris Rn. 3, 10; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Juni 2006 - 6 S 1083/05 -, juris Rn. 2; VG Berlin, Urteil vom 30. September 2015 - VG 4 K 35/15 -, DS 2016, 27, 29 f.; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 13. April 2005 - 7 K 1366/03 -, DS 2005, 356, 358; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 11. März 2004 - RO 5 K 03.2464 -, DS 2005, 358, 359 f.; siehe auch BFH, Urteil vom 5. Dezember 2019 - II R 9/18 -, juris Rn. 22: "Eine durch eine akkreditierte Stelle durchgeführte Zertifizierung ist nicht deckungsgleich mit dem durch § 36 GewO nachgewiesenen fachlichen und persönlichen Profil."; eingehend zu der unterschiedlichen gesetzgeberischen Behandlung von zertifizierten und allgemein öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17. Januar 2018 - 3 K 3178/17 -, juris Rn. 34 ff.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Die unterschiedliche Behandlung von zertifizierten Sachverständigen auf der einen und staatlich anerkannten bzw. öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen auf der anderen Seite in § 54 Abs. 3 BauO NRW ist - auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG - nicht zu beanstanden. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Dies gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Es steht dem Normgeber aber frei, aufgrund autonomer Wertungen Differenzierungsmerkmale auszuwählen, an die er eine Gleich- oder Ungleichbehandlung anknüpft. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt nicht, unter allen Umständen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. März 2015 - 1 BvR 2880/11 -, juris Rn. 38 f., vom 7. Mai 2013 - 2 BvR 909/06 -, juris Rn. 73 f., und vom 16. Juli 2012 - 1 BvR 2983/10 -, juris Rn. 41 ff.; BVerwG, Urteile vom 21. September 2017 - 2 C 30.16 -, juris Rn. 30, vom 16. Dezember 2016 - 8 C 6.15 -, juris Rn. 76, und vom 24. November 2011 - 2 C 57.09 -, juris Rn. 31; OVG NRW, Beschluss vom 29. April 2020 - 13 B 512/20.NE -, juris Rn. 61, Urteile vom 16. Mai 2018 - 3 A 1828/16 -, juris Rn. 113, und vom 25. September 2017 - 2 A 2286/15 -, juris Rn. 136, sowie Beschluss vom 23. November 2016 - 2 A 3059/15 -, juris Rn. 117.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran verstößt die in § 54 Abs. 3 BauO NRW angelegte unterschiedliche Behandlung von staatlich anerkannten Sachverständigen nach § 87 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BauO NRW für die Prüfung des Brandschutzes bzw. öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für vorbeugenden Brandschutz nach § 36 GewO auf der einen Seite und sonstigen Personen, einschließlich zertifizierten Sachverständigen für den vorbeugenden und gebäudetechnischen Brandschutz, auf der anderen Seite nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG. Zwischen zertifizierten Sachverständigen, die der Regelung in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW unterfallen, und staatlich anerkannten bzw. öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen im Sinne von § 54 Abs. 3 Var. 1 und 2 BauO NRW bestehen Unterschiede, die unter Berücksichtigung des Schutzziels der Norm die in dieser Regelung angelegte Differenzierung - auch in Anbetracht der damit verbundenen Auswirkungen auf die Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) der von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW umfassten Personen - rechtfertigen und angemessen erscheinen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Die in § 54 Abs. 3 BauO NRW geregelten Anforderungen dienen erkennbar dem Zweck, sicherzustellen, dass die für in brandschutztechnischer Hinsicht besonders anspruchsvollen baulichen Anlagen erforderlichen und für die Nutzer der baulichen Anlagen äußerst sicherheitsrelevanten Brandschutzkonzepte nur von dafür befähigten Personen aufgestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Minden, Beschluss vom 28. Januar 2022 - 9 K 6856/21 -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger vorträgt, etwaigen Gefahren für die körperliche Unversehrtheit der Nutzer der baulichen Anlagen durch nicht korrekt aufgestellte Brandschutzkonzepte könne durch den Genehmigungsvorbehalt der Behörde und deren Befugnis, fehlerhafte Brandschutzkonzepte zurückzuweisen, begegnet werden, ändert dies an dem Befund nichts, zumal Brandschutzplaner für die von ihnen aufgestellten Konzepte als Fachplaner verantwortlich sind (§ 54 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW).</p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Als staatlich anerkannte Sachverständige für die Prüfung des Brandschutzes nach § 87 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BauO NRW werden nach § 3 Abs. 1 der aufgrund von § 87 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BauO NRW erlassenen "Verordnung über staatlich anerkannte Sachverständige nach der Landesbauordnung 2018" (im Folgenden: SV-VO NRW) nur solche Personen anerkannt, die die allgemeinen Voraussetzungen nach § 3 SV-VO NRW und die zusätzlichen fachlichen Voraussetzungen nach § 13 SV-VO NRW erfüllen. Zu den allgemeinen Voraussetzungen gehört nach § 3 Abs. 2 Satz 1 SV-VO NRW, dass die Person Mitglied in der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen oder der Ingenieurkammer-Bau Nordrhein-Westfalen ist. Die öffentliche Bestellung und Vereidigung als Sachverständiger setzt ebenfalls die Mitgliedschaft in der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen voraus (§ 36 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 und 2, Abs. 4 Satz 1 GewO, § 2 Abs. 1 Satz 3 Nr. 8 Gesetz über die Architektenkammer Nordrhein-Westfalen und die Ingenieurkammer-Bau Nordrhein-Westfalen vom 1. Dezember 2021 - im Folgenden: BauKaG NRW n.F. - bzw. §§ 14 Satz 1 Nr. 8 und 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 Gesetz über den Schutz der Berufsbezeichnungen "Architekt", "Architektin", "Stadtplaner" und "Stadtplanerin" sowie über die Architektenkammer, über den Schutz der Berufsbezeichnung "Beratender Ingenieur" und "Beratende Ingenieurin" sowie über die Ingenieurkammer-Bau vom 16. Dezember 2003 - im Folgenden: BauKaG a.F. - , je i.V.m. § 3 Abs. 2 Buchst. a) Sachverständigenordnung der Architektenkammer NRW).</p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Dabei handelt es sich nicht allein um ein formales Kriterium; vielmehr kommt der Voraussetzung auch ein materieller Gehalt zu. Die Mitgliedschaft sowohl in der Architektenkammer als auch in der Ingenieurkammer-Bau Nordrhein-Westfalen setzen nämlich einen bestimmten Ausbildungsgrad voraus, im Wesentlichen den erfolgreichen Abschluss eines entsprechenden einschlägigen (regelmäßig auf Architektur ausgerichteten bzw. technischen oder naturwissenschaftlichen) Studiums (vgl. §§ 1 Abs. 2, 20 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 BauKaG NRW n.F. / §§ 4, 12 Abs. 1 Satz 1 BauKaG NRW a.F. sowie § 1 Abs. 3 bis 5 BauKaG NRW n.F. / §§ 37, 38, 29 Abs. 1 und 2, 30 BauKaG NRW a.F. jeweils i.V.m. §§ 1 Abs. 1, 2 IngG NRW). Damit haben staatlich anerkannte bzw. öffentlich bestellte und vereidigte Brandschutz-Sachverständige zusätzlich zu den - für eine staatliche Anerkennung bzw. öffentliche Bestellung und Vereidigung ebenfalls erforderlichen - nachgewiesenen theoretischen und praktischen speziellen Kenntnissen im Brandschutz - durch ihre insgesamt - etwa im Vergleich zu betrieblichen Brandschutzbeauftragten oder Berufs- und Werkfeuerwehrleuten - wesentlich breiter angelegte Hochschul- oder Fachhochschulausbildung über den reinen Brandschutz hinaus einen umfassenderen baulich-technischen Wissensstand erworben.</p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 2. Oktober 2003 - 21 A 2007/01 -, juris Rn. 35, 41 f. und 44.</p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Es ist ohne Weiteres eingängig, dass ein solches Vorwissen gerade auch im Hinblick auf die Brandschutzplanung - insbesondere von komplexen baulichen Anlagen - von Bedeutung ist, die sich ja (wie bereits dargestellt) u.a. mit Bauteilen und Baustoffen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BauPrüfVO NRW), mit den materiellen Anforderungen des Bauordnungsrechts und etwaigen ausgleichenden Maßnahmen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 17 BauPrüfVO NRW) und mit Verfahren und Methoden des Brandschutzingenieurwesens (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 18 BauPrüfVO NRW) auseinanderzusetzen und eine zeichnerische Darstellung der baulichen Anforderungen unter Angabe der technischen Anforderungen zu enthalten hat (§ 9 Abs. 2 Satz 2 BauPrüfVO NRW). Vor diesem Hintergrund erachtet es das Gericht als eine zulässige Typisierung, dass der Gesetzgeber staatlich anerkannte bzw. öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für die Aufstellung von Brandschutzkonzepten als besonders qualifiziert und für die Aufgabe als generell geeignet ansieht. Dass im Einzelfall auch das Brandschutzkonzept etwa eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen unzureichend sein kann, und umgekehrt auch ein Gutachten eines nicht öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen fachlich beanstandungsfrei und integer sein kann, ändert daran nichts.</p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu diesem Gedanken BFH, Urteil vom 5. Dezember 2019 - II R 9/18 -, juris Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Dahingegen erfordert eine Zertifizierung als Sachverständiger für den vorbeugenden Brandschutz ein solches Studium oder einen anderweitig fest umrissenen bestimmten Ausbildungsgrad nicht.</p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa die Eingangsvoraussetzungen der den Kläger zertifizierenden Stelle "IQ-Zert", wonach sich z.B. auch Brandschutzbeauftragte mit mindestens zweijähriger Praxis im vorbeugenden Brandschutz oder Berufs- und Werkfeuerwehrleute zertifizieren lassen können oder "andere Personen mit besonderen Qualifikationen im Brandschutz oder vergleichbare[r] Qualifikation", abrufbar unter https://www.iq-zert.de/zertifizierung/brandschutz.html (abgerufen am 14. Juli 2022).</p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Die Zertifizierung nach der Norm DIN EN ISO/IEC 17024 durch eine nach dem Akkreditierungsgesetz akkreditierte Stelle dokumentiert zwar, dass im Hinblick auf das <em>Verfahren</em> der Zertifizierung gewisse Qualitätsstandards eingehalten wurden. Die nationale Akkreditierungsstelle setzt indes keine einheitlichen fachlichen Standards. Die Zertifizierung selbst erfolgt nicht auf Grund eines Gesetzes oder einer Verordnung, sondern auf Grund des fachlichen Anforderungsprofils der jeweiligen Zertifizierungsstelle und ist mithin privatrechtlich geregelt. Die fachlichen Anforderungen an die zu zertifizierenden Sachverständigen erstellt und verabschiedet jeder Zertifizierer in eigener Verantwortung. Die Zertifizierung erfolgt auf privatrechtlicher Grundlage.</p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Vgl. Rickert, in: Pielow, BeckOK GewO, Stand: Juli 2018, § 36 Rn. 5; Bleutge, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung, Stand: Februar 2021, § 36 Rn. 20.</p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Auch dies unterscheidet sich von den in § 54 Abs. 3 Var. 1 und 2 BauO NRW geregelten Sachverständigen, die auf öffentlich-rechtlicher Grundlage durch - der Aufsicht des Landesbauministeriums unterstellte (§ 4 Abs. 1 Satz 1 BauKaG NRW n.F. / § 96 f. BauKaG NRW a.F.) - Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BauKaG NRW n.F. / §§ 12 Abs. 2 Satz 1, 37 Abs. 2 Satz 1 BauKaG NRW a.F.) anerkannt bzw. öffentlich bestellt und vereidigt werden (§ 2 Abs. 1 Satz 3 Nr. 8 BauKaG NRW n.F. / §§ 14 Satz 1 Nr. 8, 9 und 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8, 9 BauKaG NRW a.F.) und unter berufsständischer Aufsicht (§§ 33 f. BauKaG NRW n.F. / §§ 52 ff. BauKaG NRW a.F.) stehen.</p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger zur Auslegung von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW auf Inhalte einer "Niederschrift über Dienstbesprechungen mit den Bauaufsichtsbehörden im Oktober / November 2014" Bezug nimmt, wonach bei sonstigen Erstellern von Brandschutzkonzepten nicht gefordert werden könne, dass diese "die gleichen Voraussetzungen" erfüllen wie Personen, die eine staatliche Anerkennung als Sachverständiger für die Prüfung des Brandschutzes besitzen, ergibt sich daraus keine andere Bewertung. Unabhängig von der Frage der rechtlichen Außenwirkung einer solchen Besprechung und abgesehen davon, dass diese Dienstbesprechungen offensichtlich vor der Neuregelung in § 54 Abs. 3 BauO NRW abgehalten wurden und sich auf Verwaltungsvorschriften zu der abweichend formulierten Vorgängerregelung (siehe hierzu unter (5)) bezogen, steht die daraus zitierte Aussage nicht im Widerspruch zu den oben beschriebenen Maßstäben und zum Inhalt der gesetzlichen Regelung in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW, denn auch darin wird nicht die identische Qualifikation, sondern nur eine nach Sachkunde und Erfahrung <em>vergleichbare</em> Eignung verlangt.</p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Dass diese Eignung bei zertifizierten Sachverständigen im Wege einer Einzelfallbetrachtung anhand des in Rede stehenden Bauvorhabens - so im Übrigen auch bereits die vorstehend erwähnte Niederschrift - gesondert zu prüfen ist, während staatlich anerkannte bzw. öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige generell als geeignet gelten, ist angesichts der oben dargestellten Unterscheide unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Nicht zu beanstanden ist insbesondere, dass - entsprechend des in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willens - von der in § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW geregelten Personengruppe, einschließlich zertifizierten Sachverständigen, in Anbetracht ihrer insgesamt deutlich heterogeneren theoretischen Vorbildung eine praktische Erfahrung mit der Brandschutzplanung vergleichbarer Objekte verlangt wird. Vor allem bei Personen, die - wie der Kläger - über keinen entsprechenden einschlägigen Studienabschluss verfügen, kann dies im Wege einer Gesamtbetrachtung der Eignung durch praktische Erfahrungen gleichsam kompensiert werden. Der Einwand, bei staatlich anerkannten bzw. öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen werde eine solche Erfahrung nicht nochmals im Einzelfall geprüft, übersieht dies und beansprucht selektiv, zwar im Hinblick auf den Ausbildungsabschluss (betrifft die "Sachkunde") ein anderes Vorbildungsniveau vorweisen zu dürfen, hinsichtlich der Anforderungen an die praktische Erfahrung aber mit staatlich anerkannten bzw. öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen gleich behandelt zu werden.</p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">(5) Insofern führt auch der Verweis des Klägers auf die zu der Vorgängervorschrift von § 54 Abs. 3 BauO NRW erlassenen Verwaltungsvorschriften nicht weiter. Die Regelung über die Aufstellung von Brandschutzkonzepten in § 54 Abs. 3 BauO NRW wurde durch das Gesetz zur Modernisierung des Bauordnungsrechts in Nordrhein-Westfalen - Baurechtsmodernisierungsgesetz (BauModG NRW) - vom 21. Juli 2018 (GV. NRW. S. 421) neu gefasst. Zuvor bestimmte § 58 Abs. 3 der bis dahin geltenden BauO NRW 2000 vom 1. März 2000 (im Folgenden: BauO NRW a.F.) nur, dass Brandschutzkonzepte für bauliche Anlagen von staatlich anerkannten Sachverständigen aufgestellt werden sollten. Die gemäß § 36 GewO öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für den baulichen Brandschutz waren ihnen nach § 9 Abs. 1 Satz 3 BauPrüfVO NRW in der Fassung vom 6. Dezember 1995 hinsichtlich der Aufstellung von Brandschutzkonzepten gleichgestellt. In der Verwaltungsvorschrift zu § 58 Abs. 3 BauO NRW a.F. (RdErl. d. Ministeriums für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport vom 12. Oktober 2000 - II A 3 - 100/85, MBl. NRW. Ausgabe 2000 Nr. 71 vom 23. November 2000) war überdies vorgesehen, dass neben den Sachverständigen "im Einzelfall" auch weitere Personen in Betracht kommen konnten, deren Brandschutzkonzepte "von den Bauaufsichtsbehörden akzeptiert werden". Dabei sollte es sich ausweislich der Verwaltungsvorschrift um Personen handeln, deren jeweilige Ausbildung und berufliche Erfahrung sie als hinreichend qualifiziert im Sinne des Regelungsziels des § 58 Abs. 3 BauO NRW a.F. erscheinen lasse. Die Verwaltungsvorschrift enthielt hierzu eine beispielhafte Aufzählung.</p>
<span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob und inwieweit Verwaltungsvorschriften Außenwirkung zukommt</p>
<span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">- vgl. hierzu Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 1 Rn. 212 ff.; Geis, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: April 2022, § 40 VwVfG Rn. 172 ff. -,</p>
<span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">und konkret diese - vor der Neuregelung in § 54 Abs. 3 BauO NRW erlassene - Verwaltungsvorschrift zur Auslegung von § 54 Abs. 3 Var. 3 BauO NRW herangezogen werden kann, bedarf schon deshalb keiner Vertiefung, weil auch sie ausdrücklich eine Einzelfall-Betrachtung durch die Bauaufsichtsbehörden vorsah. Auch gehört der Kläger nicht zu einer der in der Verwaltungsvorschrift aufgezählten Personengruppen.</p>
<span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
|
346,179 | fg-dusseldorf-2022-07-22-3-k-74420-kv | {
"id": 790,
"name": "Finanzgericht Düsseldorf",
"slug": "fg-dusseldorf",
"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Finanzgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 K 744/20 KV | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-13T10:01:59 | 2022-10-17T17:55:57 | Urteil | ECLI:DE:FGD:2022:0722.3K744.20KV.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Es wird festgestellt, dass die den Kläger betreffenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.06.2019 (Az.: 1470/19), 16.12.2019 (Az.: 2941/19), 24.01.2020 (Az.: 267/20) und 28.01.2020 (Az.: 325/20) und die die Klägerin betreffende Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 24.01.2020 (Az.: 268/20) rechtswidrig waren.</strong></p>
<p><strong>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</strong></p>
<p><strong>Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und der Beklagte je zur Hälfte. </strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, soweit nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Streitig ist, ob die Rechtswidrigkeit von sechs Pfändungs- und Einziehungsverfügungen festzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 05.06.2019 richtete der Beklagte zwei Pfändungs- und Einziehungsverfügungen an die <em>A Bank</em>, mit denen er wegen Rückständen i.H.v. 1.649,61 € sämtliche Konten und Ansprüche des Klägers (Az. <span style="text-decoration:underline">1470/19</span>) bzw. der Klägerin (Az. <span style="text-decoration:underline">1473/19</span>) aus der Geschäftsbeziehung zu dem Bankinstitut pfändete. Bezüglich der Klägerin teilte die <em>A Bank</em> mit, dass es keine Geschäftsbeziehung gebe. Bezüglich des Klägers erkannte die Bank die Pfändung an und zahlte den gepfändeten Betrag am 08.07.2019 an den Beklagten aus. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügung 1470/19 wurde daraufhin am 09.07.2019 aufgehoben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 16.12.2019 (Az. <span style="text-decoration:underline">2941/19</span>) wurden die Konten des Klägers bei der <em>A Bank</em> erneut gepfändet, und zwar wegen Steuerrückständen i.H.v. 4.031,59 € (im Wesentlichen bestehend aus Säumniszuschlägen zur Einkommensteuer 2001). Der Kläger erhob hiergegen am 07.01.2020 Sprungklage, die als Einspruch behandelte wurde. Am 27.01.2020 zahlte die Drittschuldnerin den offenen Betrag an den Beklagten, woraufhin der Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 13.05.2020 als unzulässig verworfen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 24.01.2020 pfändete der Beklagte auch sämtliche Konten und Ansprüche aus der Geschäftsbeziehung des Klägers zu der <em>B Bank</em> (Az. <span style="text-decoration:underline">267/20</span>) bzw. aus der Geschäftsbeziehung der Klägerin zu der <em>C Bank</em> (Az. <span style="text-decoration:underline">268/20</span>), und zwar jeweils wegen Steuerrückständen i.H.v. 5.821,59 €. In diesem Betrag sind die Steuerschulden, die Gegenstand der gegenüber der <em>A Bank</em> ergangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung 2941/19 waren, enthalten. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 267/20 und 268/20 erledigten sich dadurch, dass die <em>A Bank</em> – wie bereits dargestellt – am 27.01.2020 4.031,59 € an den Beklagten überwies und der Restbetrag von der Tochter der Kläger überwiesen wurde (1.756 € am 28.01.2020 und 64,11 € am 11.02.2020). Auch gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 267/20 und 268/20 hatten die Kläger Sprungklagen erhoben, welche als Einspruch behandelt und mit Einspruchsentscheidungen vom 13.05.2020 als unzulässig verworfen wurden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 28.01.2020 (Az. <span style="text-decoration:underline">325/20)</span> pfändete der Beklagte erneut die Konten des Klägers bei der <em>A Bank</em>, und zwar diesmal wegen Steuerrückständen i.H.v. 893,11 €. Es handelt sich hierbei um Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer / Solidaritätszuschlag 2001, welche bis zum 05.12.2019 zu entrichten waren. Die Zahlung war mit Schreiben vom 23.12.2019 angemahnt worden; eine Vollstreckungsankündigung erging nicht. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügung erledigte sich dadurch, dass die Tochter der Kläger am 07.02.2020 893,11 € an den Beklagten überwies. Der eingelegte Einspruch wurde als unzulässig verworfen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Weder die o.g. sechs Pfändungs- und Einziehungsverfügungen noch die entsprechenden Mitteilungen an die Kläger enthalten Ermessenserwägungen. Solche ergeben sich auch nicht aus den übersandten Akten.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 25.03.2020 haben die Kläger Klage erhoben, mit der sie die Rechtswidrigkeit der o.g. sechs Pfändungs- und Einziehungsverfügungen rügen. Im Wege einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO werde die Feststellung von deren Rechtswidrigkeit beantragt. Zudem seien sämtliche rechtswidrig eingezogenen Zinsen und Säumniszuschläge, die sich in der Summe auf 6.518,48 € belaufen würden, zu erstatten.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zu der zum Az. 1473/19 ergangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 05.06.2019 sei anzumerken, dass diese nicht „ins Leere gegangen“ sei. Vielmehr habe “die Drittschuldnerin Bank <em>A</em> dem Beklagten aufgrund dieser Pfändung den durch diesen gepfändeten Betrag ausgezahlt“ (Zitat aus dem Schriftsatz der Kläger vom 05.07.2022). Ein Feststellungsinteresse sei schon deshalb zu bejahen, weil der Beklagte die Kosten einer rechtswidrigen Pfändungs- und Einziehungsverfügung zu tragen habe.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Rechtswidrigkeit der einzelnen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen ergebe sich u.a. daraus, dass es für die in der jeweiligen „Rückstandsaufstellung“ genannten Einzelbeträge an Säumniszuschlägen und Zinsen keine Bescheide als Rechtsgrundlage gebe. Außerdem habe der Beklagte die Konten, die mit den streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügung gepfändet worden seien, durch einen rechtswidrigen Kontenabruf nach § 93 b AO ermittelt, und teilweise seien vor der Pfändung keine Mahnungen oder Vollstreckungsankündigungen versendet worden. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung der Kläger sowie zu der Berechnung des Betrags von 6.518,48 € wird auf die Ausführungen in der Klageschrift und im Schriftsatz vom 05.07.2022 Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der zur mündlichen Verhandlung nicht erschienene Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">festzustellen, dass die ihn betreffenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.06.2019, 16.12.2019, 24.01.2020 und 28.01.2020 rechtswidrig sind</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">sowie den Beklagten zu verpflichten, den aufgrund der o.g. Pfändungs- und Einziehungsverfügungen bereits eingezogenen Betrag von 6.518,48 € an ihn zu erstatten.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die ebenfalls zur mündlichen Verhandlung nicht erschienene Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">festzustellen, dass die sie betreffenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.06.2019 und 24.01.2020 rechtswidrig sind.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Er ist der Auffassung, dass die Klage bereits unzulässig sei, da es an einem besonderen Feststellungsinteresse fehle. Zudem sei die Klage auch unbegründet. Die streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen seien rechtmäßig ausgesprochen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Insbesondere sei es unschädlich, dass weder die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen noch die hierzu ergangenen internen Verfügungen Ermessenserwägungen enthalten würden. Solche seien nicht erforderlich gewesen, da die Kläger sowohl Kenntnis von den Steuerrückständen als auch von der Möglichkeit von Vollstreckungsmaßnahmen bei Nichtzahlung gehabt hätten. Zudem habe sich die ausdrückliche Darlegung von Ermessenserwägungen schon deshalb erübrigt, weil er – der Beklagte – „sich bewusst für das mildeste Instrument einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung entschieden habe“ (Zitat aus Schriftsatz vom 22.06.2022). Eine Kontenpfändung sei für den Vollstreckungsschuldner deutlich weniger belastend als z.B. die Pfändung von Arbeitseinkommen oder die Pfändung von Bauspar- und Lebensversicherungen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Auch habe keine Verpflichtung bestanden, vor der Vollstreckung Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen zu versenden. Eine Mahnung sei keine unerlässliche Voraussetzung der Vollstreckung und berühre daher die Wirksamkeit einer Vollstreckungsmaßnahme nicht (BFH, Urteil vom 04.10.1983 – VII R 16/82 und vom 03.02.1970 – VII R 67/67). § 259 AO bestimme lediglich, dass der Vollstreckungsschuldner in der Regel vor Beginn der Vollstreckung mit einer Zahlungsfrist von einer Woche gemahnt werden solle (Ermessensvorschrift). Ebenso wenig gebe es eine gesetzliche Regelung, die die Versendung einer Vollstreckungsankündigung vor Einleitung der Vollstreckung verlange. Insbesondere finde § 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW) keine Anwendung, da die getroffene Beitreibungsmaßnahme kein Zwangsmittel i.S.d. § 57 VwVG NRW sei. Zweck einer Vollstreckungsankündigung sei es, die Ernsthaftigkeit der Situation zu verdeutlichen. Sie könne von der Vollstreckungsstelle ausgebracht werden, wenn damit zu rechnen sei, dass der Schuldner daraufhin leisten werde. Da die Kläger bereits auf die Mahnungen vom 23.09.2019 und 15.11.2019 sowie die Vollstreckungsankündigung vom 28.10.2019 nicht vollständig gezahlt hätten, erscheine es ermessensgerecht, Beitreibungsmaßnahmen auch ohne weitere Mahnung und Vollstreckungsankündigung auszubringen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Dem stehe auch nicht der von den Klägern herangezogene Grundsatz der „Selbstbindung der Verwaltung“ entgegen, und zwar schon deshalb nicht, weil er – der Beklagte – keinesfalls stets Vollstreckungsankündigungen versende, sondern hiervon in geeigneten Fällen auch Ausnahmen mache. Auch wenn die Kläger früher Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen erhalten hätten, könnten sie hieraus keinen Vertrauensschutz ableiten, da derjenige, der sich fortgesetzt weigere, fällige Beträge zu bezahlen, damit rechnen müsse, dass das Finanzamt zukünftig vom Versenden zusätzlicher Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen absehen werde.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Verpflichtung des Finanzamts, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig zu erheben (§ 85 Satz 1 AO), erfordere eine konsequente Vollstreckung. Es seien daher zeitnah alle möglichen Vollstreckungsmaßnahmen zu ergreifen, die geeignet seien, den angestrebten Erfolg – d.h. die zumindest teilweise Tilgung der Rückstände - zu erreichen. Dabei es auch zulässig, mehrere Vollstreckungsmaßnahmen gleichzeitig zu ergreifen (Abschn. 23 Abs. 3 Satz 1 der Vollstreckungsanweisung -VollstrA-).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für das im Januar 2020 durchgeführte Kontenabrufersuchen sei § 93 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 AO. Ein vorheriges Auskunftsersuchen an die Kläger sei nicht erfolgversprechend gewesen und hätte die Vollstreckungsmaßnahmen möglicherweise sogar gefährdet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Begründung und der Ermessenserwägungen wird auf die Schriftsätze des Beklagten vom 13.05.2020 und 22.06.2022 Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">A. Das Gericht war durch das Nichterscheinen der Kläger zur mündlichen Verhandlung nicht an einer Entscheidung gehindert. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung im Urteil vom 22.07.2022 zum Parallelverfahren 3 K 2405/19 E Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">B. Die auf Erstattung der eingezogenen bzw. freiwillig gezahlten Säumniszuschläge und Zinsen gerichtete Klage hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ist eine Steuer ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrages (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO). Ohne rechtlichen Grund gezahlt ist eine Steuer, wenn der rechtliche Grund entweder von Anfang an fehlt oder später wegfällt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">1) Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs im Streitfall vorliegen, fehlt es jedenfalls an den formalen Voraussetzungen für dessen Geltendmachung. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann eine auf Zahlung gerichtete Leistungsklage nur dann Erfolg haben, wenn der Auszahlungsanspruch zuvor aufgrund eines abgeschlossenen Vorverfahrens durch Verwaltungsakt – nämlich durch einen Bescheid i.S. des § 218 Abs. 1 AO - festgesetzt worden ist und nur dessen Verwirklichung (Erfüllung) noch aussteht (z.B. Urteil vom 12.06.1986 - VII R 103/83, BStBl II 1986, 702, Beschluss vom 21.02.1992 – V B 75/91, BFH/NV 1992, 678 m.w.N., Urteil vom 30.11.1999 – VII R 97/98, BFH/NV 2000, 412, Beschluss vom 10.05.2007 – VII B 195/06, juris). Im Streitfall existiert jedoch kein Bescheid, in dem festgestellt wird, dass der Kläger – wie von ihm geltend gemacht wird - gegen den Beklagten einen Anspruch auf (Rück)Zahlung von Säumniszuschlägen und Zinsen i.H.v. 6.518,48 € hat.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">2) Der Leistungsantrag hat auch unter dem Gesichtspunkt der Folgenbeseitigung (Rückgängigmachung der durch die Vollstreckungsmaßnahme bewirkten Vermögensverschiebung) keinen Erfolg. Insoweit ist zu beachten, dass für die Beantwortung der Frage, ob eine Zahlung ohne rechtlichen Grund i.S.d. § 37 Abs. 2 AO erfolgt ist, nicht auf die Pfändungs- und Einziehungsverfügung abzustellen ist, sondern die der Pfändung zugrundeliegenden Steuerbescheide (bzw. - bei den kraft Gesetzes entstehenden Säumniszuschlägen - die Vorschrift des § 240 AO) den Grund für das Behaltendürfen der eingezogenen Gelder darstellen. Deshalb ist der Erstattungsanspruch auch dann durch Abrechnungsbescheid i.S.d. § 218 Abs. 2 AO festzustellen, wenn Gelder durch eine rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahme erlangt worden sind. Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn die Vollstreckungsmaßnahme gegen ein Pfändungs- und Vollstreckungsverbot verstoßen hat. In diesem Fall muss das Finanzamt das Erlangte an den Vollstreckungsschuldner herausgeben, da das Vollstreckungsverbot anderen falls keinerlei Schutzwirkung für den dadurch unmittelbar oder mittelbar begünstigten Vollstreckungsschuldner entfalten könnte (BFH, Beschluss vom 11.04.2001 – VII B 304/00, BStBl II 2001, 525).</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Grundsätzen kann der Kläger die Rückzahlung der vom Beklagten vereinnahmten Summe von 6.518,48 € nicht als Folgenbeseitigung beanspruchen. Denn weder rügt er einen Verstoß gegen ein Pfändungs- und Vollstreckungsverbot noch ist ein solcher Verstoß anderweitig ersichtlich. Die „einfache“ Rechtswidrigkeit einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung reicht - wie dargestellt - nicht aus, um eine von der (Steuer)Bescheidlage losgelöste Rückzahlungspflicht der Vollstreckungsbehörde zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">C. I. Soweit die Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen begehrt wird, ist die Klage - außer betreffend die zum Az. 1473/19 ergangene Pfändungs- und Einziehungsverfügung (hierzu unter 2) - zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">1) Dadurch, dass die Steuerforderungen, aufgrund derer die Vollstreckung betrieben wurde, durch freiwillige Zahlungen bzw. Drittschuldnerzahlungen erloschen sind, haben sich die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen erledigt. Erledigte Verwaltungsakte können (zulässig) weder mit dem Einspruch noch mit einer Anfechtungsklage angefochten werden. Tritt die Erledigung bereits während des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens oder – bei noch laufender Einspruchsfrist – sogar schon vor der Einspruchseinlegung ein, kann mit einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO die Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts begehrt werden (z.B. BFH, Beschluss vom 11.04.2001 – VII B 304/00, BStBl II 2001, 525). Lediglich dann, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Erledigung bereits bestandskräftig gewesen war oder ein Einspruch aus anderen Gründen nicht (mehr) zulässig gewesen wäre, ist eine Fortsetzungsfeststellungsklage ausgeschlossen. Im Streitfall war im Zeitpunkt der jeweiligen Erledigung noch keine Bestandskraft eingetreten. Gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 2941/19, 267/20, 268/20 und 325/20 wurde fristgerecht Einspruch eingelegt und bezüglich der Pfändungs- und Einziehungsverfügung 1470/19 war die Einspruchsfrist im Zeitpunkt der Erledigung noch nicht abgelaufen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Bei vorprozessualer Erledigung eines vor Eintritt der Bestandskraft unwirksam gewordenen Verwaltungsaktes unterliegt die Fortsetzungsfeststellungsklage keiner Klagefrist (vgl. BFH, Urteil vom 24.02.1989 - III R 36/88, BStBl II 1989, 445). Sie ist gemäß § 100 Abs. 1 S. 4 FGO jedoch nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines zurückgenommenen oder anders erledigten Verwaltungsaktes hat. Für das berechtigte Interesse genügt jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Bei hoheitlichen Maßnahmen wie z.B. Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, die nicht unwesentlich in den Grundrechtsbereich des Betroffenen eingreifen, sich aber typischerweise kurzfristig erledigen, ist das besondere Feststellungsinteresse regelmäßig zu bejahen. Denn ansonsten wäre eine gerichtliche Überprüfung der Maßnahme und eine Beseitigung ihrer Folgen in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum möglich, was einen mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbarenden Ausschluss jeglichen Rechtsschutzes zur Folge hätte (vgl. BFH, Urteil vom 11.12.2007 – VII R 52/06, BFH/NV 2008, 749). Entsprechend dieser Grundsätze ist auch im Streitfall das besondere Feststellungsinteresse zu bejahen. Hinzu kommt, dass der Beklagte regelmäßig – auch über den Streitfall hinaus – Konten der Kläger pfändet und somit Wiederholungsgefahr besteht.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">2) Ungeachtet dessen ist die Klage unzulässig, soweit sie die mit Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 05.06.2019 erfolgte Pfändung von Konten der Klägerin bei der <em>A Bank</em> (Az.: 1473/19) betrifft. Da die Klägerin mit dieser Bank keine Geschäftsbeziehung unterhielt, ist die Pfändung ins Leere gegangen. Soweit die Kläger mit Schriftsatz vom 06.07.2022 das Gegenteil behaupten – nämlich, dass die Pfändung nicht ins Leere gegangen sei, sondern die Bank den gepfändeten Betrag ausgezahlt habe – wird dieser Vortrag durch das Schreiben der <em>A Bank</em> vom 02.07.2019 widerlegt. Darin weist die Bank die Pfändung „mangels Geschäftsbeziehung“ zur Klägerin ausdrücklich zurück.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Durch eine ins Leere gegangene Pfändung wird der Vollstreckungsschuldner nicht beschwert. Bezogen auf den Streitfall hat dies zur Folge, dass die Klägerin gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügung 1473/19 keinen (zulässigen) Einspruch einlegen konnte und deshalb auch keine (zulässige) Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben werden konnte. Eine Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur statthaft, wenn gegen den Verwaltungsakt vor dessen Erledigung zulässig Einspruch/Klage eingelegt/erhoben wurde oder – bei Wegdenken der Erledigung – noch zulässig hätte eingelegt/erhoben werden können.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">II. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist – soweit sie zulässig ist – auch begründet.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 1470/19, 2941/19, 267/20, 268/20 und 325/20 sind rechtswidrig. Dabei kann dahinstehen, ob die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen der §§ 249, 251, 254 AO vorlagen. Denn es fehlt zumindest an einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">1) Wenngleich es zweifelhaft ist, ob den Finanzbehörden für das „Ob“ der Vollstreckung ein Ermessen eingeräumt ist (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 22.10.2002 - VII R 56/00, BStBl II 2003, 109, unter 3 b), so liegt gleichwohl die Entscheidung über die weiteren Fragen des „Wann“ und des „Wie“ der Vollstreckung im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörden; dabei ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Ist - wie im Bereich der Auswahl zwischen verschiedenen möglichen Vollstreckungsmaßnahmen nach § 249 AO - für die Finanzbehörde ein Ermessensspielraum eröffnet, so hat sie nach § 5 AO das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die Behörde muss ihre Maßnahmen in jedem Einzelfall auf das unumgänglich Notwendige beschränken und prüfen, welche der zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeigneten Maßnahmen den Betroffenen am wenigsten belasten (BFH, Urteil vom 24.09.1991 - VII R 34/90, BStBl II 1992, 57).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Damit der Betroffene und gegebenenfalls die Gerichte die Ermessenserwägungen der Finanzbehörde überprüfen können, muss eine Ermessensentscheidung grundsätzlich begründet werden. Die Begründung muss zeigen, dass die Finanzbehörde den Ermessensspielraum erkannt hat und von welchen Gesichtspunkten sie bei ihrer Ermessensentscheidung ausgegangen ist. Zwar ist unter den Voraussetzungen des § 121 Abs. 2 AO oder in Fällen, in denen die Ermessenserwägungen dem Betroffenen bereits bekannt sind, eine Begründung der Entscheidung nicht erforderlich. Daneben ist in bestimmten Bereichen des den Finanzbehörden eingeräumten Ermessens wie z.B. der Anordnung von Außenprüfungen die Ermessensentscheidung in einer Weise vorgeprägt, die eine besondere Begründung in der Regel entbehrlich macht. Der Bereich der Vollstreckung nach den Vorschriften der §§ 249 ff. AO zählt hierzu jedoch nicht (vgl. zu allem Niedersächsisches Finanzgericht, Beschluss vom 25.07.2014 – 15 V 164/14, EFG 2014, 1838).</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">2) Nach diesen Grundsätzen waren die angefochtenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen rechtswidrig, weil der Beklagte bei deren Erlass bzw. Änderung nicht diejenigen Erwägungen dargelegt hat, die der Auswahl und den Zeitpunkt der Vollstreckungsmaßnahme zugrunde lagen. Insbesondere enthalten die Mitteilungen, mit denen der Beklagte die Kläger über den Erlass von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen gegenüber dem einzelnen Banken unterrichtet hat, keine Ermessenserwägungen. Aus den vorliegenden Akten ist nicht einmal erkennbar, ob dem Sachbearbeiter des Beklagten überhaupt bewusst war, dass er Ermessen auszuüben hatte. Es liegt damit ein Fall des sog. Ermessensnichtgebrauchs vor.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">3) Der Beklagte war auch nicht berechtigt, die Ermessenserwägungen im Klageverfahren nachzuholen. Eine Ergänzung von Ermessenserwägungen nach § 102 Satz 2 FGO ist nur möglich, solange der Verwaltungsakt noch wirksam ist, und kommt deshalb bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage nicht in Betracht (BFH, Urteil vom 17.01.2017 – VIII R 52/14, BStBl II 2018, 740). Ungeachtet dessen würden die vom Beklagten im Schriftsatz vom 22.06.2022 dargelegten Ermessenserwägungen einer gerichtlichen Prüfung auch nicht standhalten, da es sich bei der Pfändung in Bankkonten keinesfalls um „die mildeste Form einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung“ handelt. Vielmehr stellt diese Art der Zwangsvollstreckung aufgrund der hierdurch typischerweise ausgelösten Folgen (u.a. Kündigung des Vertragsverhältnisses durch die Bank, Minderung der Kreditwürdigkeit des Vollstreckungsschuldners wegen Meldung an die SchuFa, Gefährdung sonstiger Vertragsverhältnisse durch Zahlungsverzug) regelmäßig die den Vollstreckungsschuldner am meisten belastende Form der Zwangsvollstreckung dar.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Im Streitfall gilt dies in besonderem Maße bei Vergleich mit der – vom Beklagten in keiner Weise in Betracht gezogenen – Möglichkeit der Pfändung der erheblichen Pensions- und Rentenansprüche, welche für die Kläger (außer der Minderung der an sie ausgezahlten Leistungen) keine weiteren Folgen gehabt hätte. Soweit der Beklagte im Klageverfahren darauf verweist, dass Lohnpfändungen bei Arbeitnehmern die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber zur Folge haben könnten, vermag dies selbst bei aktiven Arbeitsverhältnissen angesichts weitgreifender Kündigungsschutzvorschriften kaum zu überzeugen. Bei Rentnern bzw. Pensionären kann es zu der vom Beklagten „befürchteten“ Kündigung schon deshalb nicht kommen, weil der Versorgungsträger kein Kündigungsrecht hat.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.</p>
|
346,113 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-07-22-9-b-1822 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
"slug": "vg-schleswig-holsteinisches",
"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 9 B 18/22 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-09T10:00:26 | 2022-10-17T17:55:46 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0722.9B18.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Antragstellerin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache vorläufig zum Schuljahr 2022/2023 in die Jahrgangsstufe 5 aufzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners, sie zum Schuljahr 2022/2023 in die Jahrgangsstufe 5 aufzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Schulkonferenz des Antragsgegners hat mit Beschluss vom 01.02.2022 Kriterien für die Aufnahme in die Jahrgangsstufe 5 ab dem Schuljahr 2022/2023 beschlossen. Unter Anwendung dieser Kriterien wurde der Aufnahmeantrag der Antragstellerin mit Bescheid vom 09.03.2022 abgelehnt. Ihr Widerspruch vom 29.03.2022 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 06.05.2022, zugestellt am 10.05.2022, zurückgewiesen. Die Antragstellerin hat am 10.06.2022 Klage erhoben (9 A 58/22) und am 04.07.2022 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie vorläufig in Klasse 5 des Schuljahres 2022/2023 aufzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Akte des Verfahrens 9 A 58/22 sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Antragsgegners Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässig und begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint. Erforderlich ist danach das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs. Dabei sind die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung, die – wie hier – die Entscheidung in der Hauptsache teilweise vorwegnimmt, kommt nur dann in Betracht, wenn Rechtsschutz in der Hauptsache nicht rechtzeitig erlangt werden kann und dies zu schlechthin unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen für den oder die Antragsteller·in führt, die sich auch bei einem Erfolg in der Hauptsache nicht ausgleichen lassen. Zudem muss mindestens eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens in der Hauptsache bestehen (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 30.08.2005 – 3 MB 38/05 – juris Rn. 7).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Ein Anordnungsgrund liegt vor, denn ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache ist der Antragstellerin nicht zumutbar. Sie müsste dann zunächst eine andere Schule besuchen und im Falle ihres Obsiegens im Hauptsacheverfahren die Schule noch einmal wechseln. Ihr würden durch den Schulwechsel erhebliche, nicht auszugleichende Nachteile entstehen (vgl. auch OVG Schleswig, Beschluss vom 07.10.1993 – 3 M 52/93 – n. v.; st. Rspr. der Kammer, zuletzt Beschluss vom 14.08.2015 – 9 B 15/15 – n. v.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Auch ein Anordnungsanspruch ist gegeben, denn die Antragstellerin wird im Hauptsacheverfahren sehr wahrscheinlich obsiegen. Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen und zulässigen summarischen Sachprüfung ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Aufnahme in die Jahrgangsstufe 5 des Antragsgegners hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes (SchulG) wählen die Eltern im Rahmen der von der Schulaufsichtsbehörde festgesetzten Aufnahmemöglichkeiten aus dem vorhandenen Angebot an Grundschulen, weiterführenden allgemein bildenden Schulen und Förderzentren aus. Damit besteht ein grundsätzlich freies Wahlrecht der Eltern bzw. volljährigen Schüler·innen, das nur durch die Aufnahmekapazität begrenzt ist. Aus dem verfassungsrechtlich geschützten gleichberechtigten Zugangs- und Teilhaberecht an öffentlichen Schulbildungseinrichtungen ergibt sich bei begrenzten Aufnahmekapazitäten ein Anspruch auf eine rechtsfehlerfreie, den Gleichheitsgrundsatz wahrende Auswahlentscheidung (st. Rspr., vgl. Rux, Schulrecht, 6. Aufl. 2018, Rn. 772 m. w. N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Aufnahmemöglichkeit des Antragsgegners ist entsprechend § 24 Abs. 1 Satz 1 SchulG von der Schulaufsichtsbehörde für das Schuljahr 2022/2023 im Einvernehmen mit dem Schulträger auf insgesamt 87 Plätze festgesetzt worden, die sich aus einer für dieses Schuljahr bestimmten Dreizügigkeit des Antragsgegners bei 29 Schüler·innen pro Klasse ergeben. Dies entspricht den Vorgaben des Erlasses des damaligen Ministeriums für Bildung und Kultur zur Festlegung der Aufnahmemöglichkeiten an den weiterführenden allgemein bildenden Schulen sowie Empfehlungen zur Bestimmung der zuständigen Schule und der Aufnahmemerkmale vom 21.11.2011 – Aufnahmeerlass – (NBl. MBK Schl.-H. 2011, 322) in der Fassung des Änderungserlasses des damaligen Ministeriums für Schule und Berufsbildung vom 15.01.2015 (NBl. MSB. Schl.-H. 2015, 4). Nach Ziffer 1.1. des Aufnahmeerlasses beträgt die maximale Größe einer Lerngruppe grundsätzlich 29 Schüler·innen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Werden – wie hier mit 118 – mehr Schüler·innen angemeldet als die Schule nach der festgesetzten Aufnahmekapazität – hier 87 – aufnehmen kann, hat die Schule ein Auswahlverfahren unter Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes nach sachgerechten Kriterien durchzuführen. Bei seiner Auswahlentscheidung hat der Antragsgegner vorliegend einen Kriterienkatalog zugrunde gelegt, der nicht von der Schulkonferenz in dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren beschlossen worden war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die Schulkonferenz beschließt nach § 63 Abs. 1 Nr. 19 SchulG über die Festlegung von Merkmalen für die Aufnahme von Schüler·innen bei begrenzter Aufnahmekapazität. Die Festlegung der Aufnahmekriterien setzt demnach einen ordnungsgemäßen Beschluss der Schulkonferenz voraus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Eine ordnungsgemäße Beschlussfassung der Schulkonferenz liegt hinsichtlich der am 01.02.2022 im schriftlichen oder Umlaufverfahren beschlossenen Aufnahmekriterien nicht vor. Bei der Schulkonferenz handelt es sich nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SchulG im Rahmen ihrer Aufgaben um das oberste Beschlussgremium der Schule. Sie beschließt nach dem Katalog des § 68 Abs. 1 SchulG insbesondere über bestimmte schulische Grundsatzfragen. Wesentlicher Zweck dieser Tätigkeit ist es, durch Zusammenwirken der Mitglieder der Schulkonferenz, die nach § 62 Abs. 2 SchulG aus einer jeweils gleichen Zahl von Vertreter·innen der Lehrkräfte, der Eltern und der Schüler·innen besteht, eine gemeinsame, möglichst umfassende, durch Mehrheitsentscheidung abschließende Meinungsbildung über den jeweiligen Beratungsgegenstand zu erreichen. Dem liegt als Leitbild die Beschlussfassung in einer gemeinsamen Sitzung nach § 68 SchulG zugrunde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Ein ordnungsgemäßer Beschluss der Konferenz setzt die Beschlussfähigkeit des Gremiums voraus. Eine Konferenz ist beschlussfähig, wenn alle Mitglieder geladen und mehr als die Hälfte anwesend sind (§ 68 Abs. 5 Satz 2 SchulG). Bereits aus dem Wortlaut dieser Norm („anwesend“) folgt, dass Beschlüsse von den in einer Sitzung Anwesenden zu fassen sind. Dies ergibt sich zudem aus § 68 Abs. 8 SchulG, nach dem über die Konferenz eine Niederschrift zu fertigen ist, die u. a. Angaben enthalten muss über die Namen der anwesenden Mitglieder und den Wortlaut der gefassten Beschlüsse. Dabei ist nach § 68 Abs. 9 SchulG bei Einsatz geeigneter informationstechnischer Übertragungsverfahren keine gleichzeitige Anwesenheit am selben Ort erforderlich, wohl aber die Möglichkeit der Kommunikation in Echtzeit.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Nach § 68 Abs. 1 Satz 2 SchulG können an den Sitzungen der Schulkonferenz auch dort genannte Personen als Zuhörer·innen, die nicht Mitglieder der Schulkonferenz sind. Auch diese Regelung spricht gegen die Möglichkeit einer Beschlussfassung außerhalb einer Sitzung und damit im schriftlichen Verfahren, da dies zu einem Ausschluss dieser beschränkten Öffentlichkeit führen würde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Gegen das Erfordernis einer Sitzung zur Beschlussfassung der Schulkonferenz kann auch nicht eingewandt werden, ein schriftliches Verfahren müsse in Fällen von Eilbedürftigkeit möglich sein, da nach § 68 Abs. 3 Satz 4 SchulG in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit lediglich auf die Einhaltung der Ladungsfrist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 SchulG verzichtet werden kann. Auch besteht nach § 67 Abs. 4 VwGO die Möglichkeit, dass der oder die Schulleiter·in dringende Maßnahmen aus dem Aufgabenbereich der Schulkonferenz, die keinen Aufschub dulden, vorläufig trifft. Gemäß § 68 Abs. 9 SchulG besteht zudem die Möglichkeit, eine Sitzung der Schulkonferenz mit Hilfe von informationstechnischen Übertragungsverfahren durchzuführen, sodass Sitzungen auch dann möglich sind, wenn zeitweise, wie beispielsweise während der Covid-19-Pandemie, in deren Zeitraum der hiesige Beschluss fiel, das physische Zusammentreffen mehrerer Personen untersagt oder wenigstens untunlich ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Sinn und Zweck der Regelung, dass Beschlüsse von den in einer Sitzung Anwesenden zu treffen sind, ist es, die gemeinsame Beratung und den Meinungsaustausch in dem Gremium zu ermöglichen. Die Mitglieder der Konferenz sollen in die Lage versetzt werden, in Kenntnis unter Umständen unterschiedlicher inhaltlicher Auffassungen ihre Meinung zu bilden. Weder dem Wortlaut und der Systematik der genannten Vorschriften noch diesem Sinn und Zweck wird es gerecht, eine Beschlussfassung im schriftlichen Verfahren durchzuführen. Ein derartiges Verfahren ist nur dort möglich, wo es gesetzlich ausdrücklich zugelassen ist, z. B. in § 102 Abs. 1 Satz 2 LVwG. Eine entsprechende Regelung enthält das Schulgesetz jedoch nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Selbst wenn eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren möglich wäre, wäre die Entscheidung, ob im Rahmen einer Sitzung oder im schriftlichen Verfahren entschieden wird, selbst Teil der Entscheidungsfindung der Schulkonferenz (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 14.01.2020 – 3 L 1033.19 – juris Rn. 16). Im vorliegenden Fall hat die Schulleitung das schriftliche Verfahren gewählt, ohne dass ersichtlich ist, dass die Mitglieder der Schulkonferenz ein solches Verfahren in ihrer Geschäftsordnung grundsätzlich vorgesehen oder sich im konkreten Fall dafür entschieden hatten. Dem hierzu gehörigen „Digitalen Protokoll vom 01.02.2022“ des Antragsgegners ist entgegen § 68 Abs. 8 SchulG (selbst entsprechend auf das schriftliche Verfahren angewandt) weder zu entnehmen, in welchem Zeitraum das schriftliche Verfahren lief, wer daran teilgenommen hat noch was der Wortlaut des gefassten Beschlusses ist. Hinsichtlich der Teilnehmer·innen lässt sich aus der angegebenen Zahl von 29 Ja-Stimmen und einer Enthaltung lediglich schließen, dass wohl jedenfalls nicht alle Mitglieder der Schulkonferenz an der Abstimmung teilgenommen haben, denn ihr müssten, da der Antragsgegner den Angaben auf seiner Internetseite zufolge etwa 750 Schüler·innen hat, nach § 62 Abs. 4 SchulG 36 stimmberechtigte Mitglieder (je zwölf Vertreter·innen der Lehrkräfte, Eltern und Schüler·innen) angehören.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner hat damit sein Auswahlverfahren unter Anwendung von Kriterien durchgeführt, welche von der Schulkonferenz nicht in dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren beschlossen worden waren. Nimmt die Schule entgegen den gesetzlichen Regelungen Schüler·innen auf, so verkürzt sie den Zugangsanspruch anderer Bewerber·innen in rechtswidriger Weise und muss diese bis zur Grenze der Funktionsfähigkeit der Schule zusätzlich aufnehmen (vgl. OVG, B-Stadt, Beschluss vom 17.07.2013 – 1 Bs 213/13 – juris Rn. 27; OVG Bautzen, Beschluss vom 08.12.2008 – 2 B 316/08 – juris Rn. 17; OVG Koblenz, Beschluss vom 19.04.2000 – 2 B 10555/00 – juris Rn. 7; VG Schleswig, Beschluss vom 23.08.2010 – 9 B 67/10 – n. v.; Rux, a. a. O. Rn. 821 m. w. N.; a. A. VGH Kassel, Beschluss vom 25.10.2013 – 7 B 1889/13 – juris Rn. 29-33; OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.12.2008 – 2 ME 569/08 – juris Rn. 3-15). Würde man nicht aufgenommenen Schüler·innen auch bei Fehlern im Auswahlverfahren keinen Aufnahmeanspruch über die festgesetzte Kapazität hinaus zubilligen, wäre effektiver Rechtsschutz faktisch nicht gewährleistet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Nach Kenntnisstand der Kammer ist die Antragstellerin die einzige Bewerberin, die gerichtlich gegen ihre Ablehnung vorgegangen ist, sodass auch bei ihrer Aufnahme in die Jahrgangsstufe 5 des Antragsgegners, wodurch voraussichtlich in einer der drei Klassen 30 Kinder statt 29 beschult werden, keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Schule zu befürchten ist und ihr daher ein Aufnahmeanspruch zusteht. Der Antragsgegner ist demzufolge zur Sicherung dieses Anspruches zur vorläufigen Aufnahme der Antragstellerin zum Schuljahr 2022/2023 zu verpflichten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 und 63 Abs. 2 GKG.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,111 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-07-22-9-c-122 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
"slug": "vg-schleswig-holsteinisches",
"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 9 C 1/22 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-09T10:00:25 | 2022-10-17T17:55:46 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0722.9C1.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag des Antragstellers, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig einen Studienplatz im Sommersemester 2022 für das 5. Fachsemester Humanmedizin ⎯ 1. klinisches Fachsemester ⎯ zuzuteilen bzw. hilfsweise ihn zum 4., 3., 2. oder 1. Fachsemester zuzulassen oder an einem gerichtlich angeordneten Auswahl-(Los-)Verfahren für die Vergabe zusätzlicher Studienplätze zu beteiligen, ist nach § 123 Abs. 1 VwGO zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Ein Anordnungsgrund besteht in kapazitätsrechtlichen Streitigkeiten deshalb, weil den Studienbewerber·innen ein Zuwarten bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren, die in aller Regel erst geraume Zeit nach Abschluss des Bewerbungssemesters ergehen kann, nicht zumutbar ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Es fehlt aber an einem Anordnungsanspruch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass über die faktisch durch Belegung genutzte Kapazität hinaus weitere Studienplätze zur Verfügung stehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Zum Sommersemester 2022 stehen für das 1. klinische Fachsemester Humanmedizin bei der Antragsgegnerin keine weiteren Studienplätze zur Verfügung und eine Vergabe außerkapazitärer Plätze findet damit ohnehin nicht statt. Es bedarf deshalb auch keiner weiteren Überprüfung, ob die formalen Anspruchsvoraussetzungen des § 58 der Landesverordnung über die Kapazitätsermittlung, die Curricularwerte, die Festsetzung von Zulassungszahlen, die Auswahl von Studierenden und die Vergabe von Studienplätzen (Hochschulzulassungsverordnung ⎯ HZVO) vom 04.12.2019 (Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, Nachrichtenblatt Hochschule ⎯ NBl. HS MBWK Schl.-H. 2019, S. 56) in der Fassung der Landesverordnung zur Änderung der HZVO vom 13.05.2022 (NBl. HS MBWK Schl.-H. 2022, S. 29) gegeben sind, nämlich ein fristgerechter Antrag auf Zulassung außerhalb der Kapazität und eine form- und fristgerechte Bewerbung für den Studienort.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Der Anordnungsanspruch bemisst sich nach Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip. Gewährleistet ist damit für jeden, der die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllt, ein Anspruch auf Zulassung zum Hochschulstudium seiner Wahl. Soweit in dieses Teilhaberecht durch absolute Zulassungsbeschränkungen eingegriffen wird, ist dies nur auf einer gesetzlichen Grundlage statthaft und nur dann verfassungsgemäß, wenn dies zum Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes ⎯ Funktionsfähigkeit der Universitäten in Wahrnehmung ihrer Aufgaben in Forschung, Lehre und Studium ⎯ und nur in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazitäten angeordnet wird (BVerfG, Beschluss vom 22.10.1991 ⎯ 1 BvR 393/85 ⎯, juris Rn. 65).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Mit diesem verfassungsrechtlich begründeten Kapazitätserschöpfungsgebot ist die für das Sommersemester 2022 durch § 1 Nr. 2b) der Zulassungszahlenverordnung (ZZVO Sommersemester 2022) vom 13.12.2021 (NBl. HS MBWK Schl.-H. 2021, S. 85) auf <strong>55</strong> festgesetzte Studienplätze für das 1. klinische Fachsemester Humanmedizin in Verbindung mit der Zulassung von 194 Studierenden für das Studienjahr Wintersemester 2021/2022 und Sommersemester 2022 für das 1. klinische Fachsemester Humanmedizin an der Universität zu Lübeck zu vereinbaren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Diese Festsetzung beruht auf der langjährigen und von der Kammer und vom Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht jeweils gebilligten Praxis der Besetzung klinischer Studienplätze in Schleswig-Holstein, die den Umstand berücksichtigt, dass die Kapazität im klinischen Studienabschnitt regelmäßig höher ist als die im vorklinischen, und die ihren Niederschlag in § 2 Nr. 3 ZZVO gefunden hat. Danach sind für das 1. klinische Fachsemester im Wintersemester alle an der jeweiligen Hochschule für den Studiengang Humanmedizin eingeschriebenen Studierenden zuzulassen, die den Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im vorausgegangenen Sommersemester bestanden hatten. Im folgenden Sommersemester werden diejenigen an der jeweiligen Hochschule eingeschriebenen Studierenden zugelassen, die im vorangegangenen Wintersemester die Prüfung bestanden haben. Anschließend noch freie Studienplätze bestimmen sich nach der für das 1. klinische Fachsemester gem. Abschnitt 2 und 3 der Hochschulzulassungsverordnung ermittelten jährlichen Aufnahmekapazität. Dementsprechend wird für das Wintersemester keine Zulassungszahl festgesetzt, da alle eigenen Studierenden zugelassen werden, die das Physikum im Sommer bestanden haben. Die Zulassungszahl für das Sommersemester stellt die Differenz zwischen der Jahreskapazität und der Zahl der bereits im Wintersemester zugelassenen Studierenden dar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hat für das Studienjahr Wintersemester 2021/2022 und Sommersemester 2022 eine Jahreskapazität für das 1. klinische Fachsemester von 193,195, aufgerundet auf <strong>194</strong> (Vorjahr: 214), Studienplätzen ermittelt (Kapazitätsberechnung Klinik, Anlage zum Schriftsatz vom 22.03.2022). Diese Plätze sind belegt. Die Antragsgegnerin hat nach den von ihr vorgelegten Belegungslisten neben den zum Wintersemester 2021/2022 zum 1. klinischen Fachsemester zugelassenen 139 Studierenden, zum Sommersemester 2022 noch weitere 55 Studierende zugelassen. Insgesamt sind damit im Studienjahr Wintersemester 2021/2022 und Sommersemester 2022 im 1. klinischen Fachsemester 194 Studierende zugelassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Darüber hinaus sind nach der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung keine Studienplätze vorhanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die der Festsetzung zugrundeliegende Jahreskapazität von aufgerundet 194 Studienplätzen für das Studienjahr Wintersemester 2021/2022 und Sommersemester 2022 ist nicht zu beanstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hat dabei zu Recht lediglich die patient·innenbezogene Kapazität berücksichtigt. Zwar sieht die Hochschulzulassungsverordnung grundsätzlich in einem ersten Schritt auch für die Berechnung der Kapazität des klinischen Teils des Studienganges Medizin zunächst die Berechnung einer personalbezogenen Kapazität (Erster Teil, Abschnitt II HZVO) vor. Nach § 18 Abs. 2 HZVO ist jedoch in dem Falle, dass die nach § 18 Abs. 1 HZVO vorzunehmende Berechnung der patient·innenbezogenen Kapazität niedriger ist als die personalbezogene Kapazität, die patient·innenbezogene Kapazität der Festsetzung der Zulassungszahl zu Grunde zu legen. Aus diesem Grunde kann eine Kapazitätsfestsetzung, die lediglich auf einer patient·innenbezogenen Berechnung gemäß § 18 Abs. 1 HZVO basiert, nie zu einer zu geringen Festsetzung der Kapazität führen (vgl. z. B. OVG Schleswig, Beschluss vom 11.04.2008 ⎯ 3 NB 108/07 ⎯, n. v. S. 4; OVG Schleswig, Beschluss vom 28.10.2016 ⎯ 3 NB 5/16 ⎯, juris Rn. 3 zur gleichlautenden Vorschrift in der HZVO a. F.). Selbst wenn die personalbezogene Kapazität deutlich höher sein sollte, wird die Kapazität allein durch den Engpass der zur Ausbildung zur Verfügung stehenden Patient·innen bestimmt (Bahro/Berlin, Hochschulzulassungsrecht, 4. Aufl. 2003, § 18 KapVO Anm. 11<em>).</em> Die Vorlage einer personalbezogenen Kapazitätsberechnung ist damit nicht erforderlich. Entsprechenden Anträgen war daher nicht nachzugehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Für die Berechnung der patient·innenbezogenen Kapazität sind nach § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HZVO als patient·innenbezogene jährliche Aufnahmekapazität zunächst 15,5 % der Gesamtzahl der tagesbelegten Betten anzusetzen. Ist die nach § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HZVO errechnete Zahl niedriger als das personalbezogene Berechnungsergebnis, erhöht sich die Summe je 1.000 poliklinische Neuzugänge im Jahr um die Zahl 1. Die Zahl nach Nr. 1 wird jedoch höchstens um 50 % erhöht (§ 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 HZVO). Soweit in außeruniversitären Krankenanstalten Lehrveranstaltungen für diesen Studienabschnitt (zwischen 1. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung und Praktischem Jahr) vereinbarungsgemäß und auf Dauer durchgeführt werden, erhöht sich die patient·innenbezogene jährliche Aufnahmekapazität entsprechend (§ 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 HZVO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Gesamtzahl tagesbelegter Betten des Klinikums ist aufgrund einer sog. „Mitternachtszählung“ zu ermitteln (vgl. zuletzt OVG Schleswig, Beschluss vom 24.06.2020 ⎯ 3 NB 8/19 ⎯, juris Rn. 6). Die Berechnung der patient·innenbezogenen Ausbildungskapazität in § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HZVO geht von klassischen stationären Patient·innen aus, die sich über einen Zeitraum von mehreren Tagen ununterbrochen im Krankenhaus aufhalten. Auf dieser Annahme basiert der Parameter von 15,5 %. Demzufolge ist die Anknüpfung an „Übernachtungspatient·innen“, die von der Mitternachtszählung erfasst werden, sachgerecht. Tageskliniken, die der Versorgung ambulanter, nicht stationär aufgenommener Patient·innen dienen, sind dagegen nicht zu berücksichtigen. Deren Patient·innen werden nach dem System des § 18 Abs. 1 HZVO ausschließlich bei dem Aufschlag für poliklinische Neuzugänge erfasst.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Es ist allerdings davon auszugehen, dass sich in den letzten Jahren die Verweildauer im Krankenhaus verkürzt und sich die Anzahl der ambulant vorgenommenen Behandlungen zu Lasten der Bettenkapazität erhöht hat. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass dieser Aufschlag die gegenwärtige reale Situation nicht mehr abdeckt, zumal belastbare Erhebungen und Kriterien dazu fehlen, dass und ggf. in welchem Umfang die ambulant versorgten Patient·innen zu Ausbildungszwecken überhaupt geeignet sind und hierfür zur Verfügung stehen (st. Rspr. der Kammer, zuletzt Beschluss vom 25.05.2021 ⎯ 9 C 3/21 ⎯, Rn. 12; Beschluss vom 03.07.2020 ⎯ 9 C 22/20 ⎯, juris Rn. 10; Beschluss vom 16.05.2019 ⎯ 9 C 17/19 ⎯, Rn. 11 juris; sowie OVG Schleswig, zuletzt Beschluss vom 24.06.2020 ⎯ 3 NB 8/19 ⎯, juris Rn. 6).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Insbesondere ist es dem Gericht verwehrt, einzelne Parameter des § 18 Abs. 1 HZVO für sich zu betrachten und im Sinne antragsbezogener Ausführungen zu verändern, weil es sich bei den Parametern der Hochschulzulassungsverordnung um ein System von aufeinander abgestimmten, hochaggregierten Rechengrößen handelt, die ihrerseits eine Vielzahl von Einzeltatbeständen berücksichtigen. Zwar ist der Normgeber verpflichtet, von Annahmen auszugehen, die dem aktuellen Erkenntnis- und Erfahrungsstand entsprechen. Dabei ist indes zu gewärtigen, dass die Eingabegrößen, die den patient·innenbezogenen Engpass bestimmen, in ihrer Höhe nicht im naturwissenschaftlichen Sinne beweisbar sind. Das System der Kapazitätsermittlung soll die realen Gegebenheiten soweit wie möglich zutreffend abbilden. Damit kann indes keine Einzelfallgerechtigkeit einhergehen. Dafür wäre nämlich ein Verfahren erforderlich, das sich aufgrund einer nahezu unbeschränkten Anzahl von Eingabegrößen als intransparent und kaum noch handhabbar erweisen würde. Daher ist es dem Normgeber im Rahmen seines Ermessens vorbehalten, die der Norm zugrundeliegenden Annahmen und die tatsächliche Entwicklung zu beobachten und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen (OVG Schleswig, Beschluss vom 24.06.2020 ⎯ 3 NB 8/19 ⎯, juris Rn. 7 mit Verweis u. a. auf OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.12.2016 ⎯ 2 NB 120/16 ⎯, juris Rn. 14; VGH München, Beschluss vom 26.07.2016 ⎯ 7 CE 16.10143 u. a. ⎯, juris Rn. 10). Dass der Verordnungsgeber diesen Maßgaben nicht nachgekommen ist, ist auch anhand des antragsbezogenen Vorbringens nicht ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hat zu Recht die Privatpatient·innen ⎯ genauer: Wahlleistungspatient·innen ⎯ in ihrer Berechnung der tagesbelegten Betten nicht mit berücksichtigt. Die Kammer hält auch unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung der Rechtsprechung an ihrer im Anschluss an das OVG Schleswig schon bislang vertretenen Auffassung fest, dass jedenfalls am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) die von Wahlleistungspatient·innen belegten Betten nicht zu den „tagesbelegten Betten des Klinikums“ i. S. d. § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HZVO gehören. Das OVG Schleswig hat dazu zuletzt ⎯ auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung anderer Obergerichte ⎯ ausgeführt, dass Wahlleistungspatient·innen nicht ärztliche Patient·innen des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein seien, da ein ärztlicher Behandlungsvertrag jeweils nur zwischen Wahlleistungspatient·innen und Wahlärzt·innen geschlossen werde. Eine vertragliche Beziehung zwischen dem Universitätsklinikum und den Wahlleistungspatient·innen hinsichtlich der Erbringung ärztlicher Leistungen entstehe nicht. Diese Praxis am UKSH ziele nicht darauf ab, die Ausbildungskapazität in dem bei der Antragsgegnerin angebotenen Studiengang Humanmedizin zu verknappen, sondern sei Ausdruck der dem Universitätsklinikum zustehenden Organisationshoheit. Dass die Wahlleistungspatient·innen infolge der Nichtberücksichtigung in § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HZVO („tagesbelegte Betten des Klinikums“) aus der Ausbildungskapazität herausfielen, stelle sich daher nicht als zielgerichteter Eingriff in das Grundrecht der Berufswahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) dar, sondern als (rechtliche) Folge der aufgezeigten Vertragskonstruktion am UKSH. Der eingetretenen Kapazitätsverminderung stehe das Kapazitätserschöpfungsgebot nicht entgegen. Dieses beinhalte weder einen Kapazitätserhaltungs- noch einen Kapazitätsbeschaffungsanspruch im Sinne einer Kapazitätserweiterung, sondern nur einen Anspruch auf Erschöpfung und Teilhabe des Bewerbers an der im Rahmen des Auftrags und des Selbstentscheidungsrechts der Hochschule zulässigerweise tatsächlich vorhandenen Ausbildungskapazität nach den Regelungen der Hochschulzulassungsverordnung. Auch nach der Rechtsprechung anderer Obergerichte seien Patient·innen bei der Ermittlung der patient·innenbezogenen Kapazität nicht einzubeziehen, wenn diese ⎯ wie auch die Wahlleistungspatient·innen am UKSH ⎯ für die Ausbildung der Studierenden (Unterricht am Krankenbett) nicht zur Verfügung stünden (siehe zu diesem Abschnitt OVG Schleswig, Beschluss vom 24.06.2020 ⎯ 3 NB 8/19 ⎯, juris Rn. 20 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Vor diesem Hintergrund bleibt auch die Kammer bei ihrer Rechtsauffassung. Die vertraglichen Grundlagen haben sich gegenüber dem Vorjahr nicht verändert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Nicht zu beanstanden ist auch der Abzug gesunder Neugeborener bei den Behandlungstagen der tagesbelegten Betten. Gesunde Neugeborene werden mit den Pflegesätzen der Mutter abgegolten, so dass Leistungen für gesunde Neugeborene nicht zu berücksichtigen sind, da das Kapazitätsrecht an die Zählweise des früheren Krankenhausabrechnungssystems anknüpft und danach ausschließlich die Aufenthaltstage der Mutter nach der Mitternachtszählung zu berücksichtigen sind (OVG Hamburg, Beschluss vom 21.04.2015 ⎯ 3 Nc 121/14 ⎯, juris Rn.13).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hat ⎯ wie bereits im Vorjahr ⎯ kapazitätsgünstig auch die Betten der Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie auf dem Campus Lübeck berücksichtigt. Zwar sind diese, wie es z. B. bei der Christian-Albrechts-Universität in A-Stadt erfolgt, grundsätzlich der Lehreinheit Zahnmedizin zuzuordnen. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn es an der betreffenden Universität, wie in Lübeck, gar keine Lehreinheit Zahnmedizin gibt. In diesem Fall sind die Betten der Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie der Lehreinheit Humanmedizin ⎯ klinisch-praktische Medizin ⎯ zuzuordnen (VG Schleswig, Beschluss vom 29.05.2019 ⎯ 9 C 19/19 ⎯, juris Rn. 27).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Lehrveranstaltungen außeruniversitärer Lehrkrankenhäuser, die gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 HZVO zu berücksichtigen wären, werden nach den Ausführungen der Antragsgegnerin nicht in Anspruch genommen. Diese hat dazu bereits in den Vorjahren erklärt, dass Lehrkrankenhausverträge mit anderen Kliniken nur für das Praktische Jahr abgeschlossen werden und diese keine Ausbildung im 1. klinisch-praktischen Abschnitt des Studiums durchführen. Es besteht auch keine Verpflichtung der Antragsgegnerin, zur Erhöhung der patient·innenbezogenen Kapazität Verträge mit außeruniversitären Krankenanstalten abzuschließen. Dies würde der Sache nach eine Verpflichtung der Universität nicht nur zur Ausschöpfung der vorhandenen Kapazitäten, sondern zur Schaffung neuer Ausbildungskapazitäten bedeuten; ein solcher Kapazitätsverschaffungsanspruch besteht grundsätzlich jedoch nicht (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 21.12.2006 ⎯ 2 NB 347/06 ⎯, juris Rn. 46 und Zimmerling/Brehm, Kapazitätsrecht, Band 2, 2013, Rn. 762 m. w. N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Die Kammer hat keinen Anlass, an der Richtigkeit der auf dieser Basis ermittelten Fallzahlen zu zweifeln.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hat in der von ihr vorgelegten Kapazitätsberechnung die Pflegetage für das dem Stichtag 26.01.2021 vorangehende maßgebliche Jahr 2020 in den einzelnen Kliniken des UKSH/Campus Lübeck aufgelistet und für 2020 304.118 (Vorjahr 334.591) Pflegetage angesetzt; dabei sind Wahlleistungspatient·innen, Patient·innen in Tageskliniken und gesunde Neugeborene nicht berücksichtigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Die Kammer geht davon aus, dass die Zahl der zum Stichtag am 26.01.2021 ermittelten Pflegetage für das Jahr 2020 keiner Korrektur bedürfen. Zwar ist die Zahl der tagesbelegten Betten im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen. Soweit ersichtlich ist dies zu großen Teilen auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen. Dennoch der stichtagsgemäßen Erfassung der tagesaktuellen Betten gemäß § 6 Abs. 1 HZVO zu folgen, erscheint der Kammer geboten und auch angemessen. Es handelt sich bei dem Rückgang der Zahlen der berücksichtigungsfähigen stationären Aufenthalte gerade nicht um eine lediglich punktuelle Erscheinung, die ausschließlich im Jahr 2020 Eingang in die Zahlen fand. Denn zum einen spiegelt der Wert aus dem Jahr 2020 einen schon länger andauernden Abwärtstrend wider (2018: 339.283; 2019: 334.591). Zum anderen ist die pandemiebedingte Verstärkung des Abwärtstrends nach 2020 noch nicht abgeschlossen. Wie die bereits jetzt für das Studienjahr 2022/2023 nach dem Stichtag 09.02.2022 vorgelegten Zahlen (tagesbelegte Betten: 301.001) belegen, ist von einem weiteren Rückgang bei den tagesbelegten Betten auszugehen. Für die teilweise von Antragsteller·innenseite vorgeschlagene Mittelwertlösung besteht kein Raum. Es ist nicht ersichtlich, dass die Zahl der stationären Aufenthalte sich in den Folgejahren so deutlich erhöhen wird, dass nur der Mittelwert eine realistische Prognose darstellen würde. Die Kammer sieht auch keine so drastische Abweichung von der tatsächlichen Entwicklung, dass die Entscheidung des Verordnungsgebers für eine Stichtagsregelung sich als verfassungswidrig darstellen würde. Abweichungen im Vergleich zum Vorjahr bei der Studienplatzzahl sind natürliche Konsequenzen einer Stichtagsregelung. Starke Unschärfen, die sich aus der Stichtagsregelung und Veränderungen im Einzelnen ergeben könnten, hat der Verordnungsgeber jedoch mit den Abweichungsregelungen in § 6 Abs. 2 und 3 HZVO berücksichtigt. Derzeit sind wesentliche Änderungen der Daten jedoch weder erkennbar noch eingetreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Die Kammer geht im Rahmen einer Kapazitätsberechnung davon aus, dass mit der Anzahl von vier Stellen hinter dem Komma gerechnet wird, wobei die weiteren Stellen hinter dem Komma wegfallen, d. h. keine Aufrundungen vorgenommen werden. Lediglich am Ende des gesamten Rechenvorganges erfolgt eine Aufrundung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Nach diesen Maßgaben ergibt sich folgender Rechengang für die Berechnung der patientenbezogenen Kapazität nach § 18 Abs. 1 HZVO:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. Die Zahl der tagesbelegten Betten i. S. d. § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HZVO (Zahl der Pflegetage dividiert durch 365) hat die Antragsgegnerin für das Jahr 2020 mit 830,945 angegeben. Nach der oben dargestellten Rechenweise der Kammer sind hier (304.118 : 365 =) 833,2 tbB anzunehmen (das geringfügig abweichende Ergebnis dürfte darauf beruhen, dass die Antragsgegnerin die Zahl der Behandlungstage bei jeder einzelnen Klinik durch 365 dividiert und diese auf 2 Stellen hinter dem Komma gerundeten Zahlen dann addiert). 15,5 % davon ergeben 129,146.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. Die Zahl poliklinischer Neuzugänge hat die Antragsgegnerin mit 150.717 angegeben. Dividiert durch 1.000 ergibt dies 150,717. Da nach § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Satz 2 HZVO jedoch höchstens 50 % des nach Ziffer 1 errechneten Wertes aufgeschlagen werden, erfolgt eine Erhöhung um 64,573 Plätze (129,146:2).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Die patient·innenbezogene Gesamtkapazität errechnet sich aus der Summe der vorstehend errechneten beiden Teilwerte. 129,146 (siehe oben Ziffer 1.) zuzüglich 64,573 (siehe oben Ziffer 2.) ergibt 193,719, aufgerundet 194. Die Antragsgegnerin hat 193,195 Plätze errechnet und auf <strong>194 </strong>Plätze aufgerundet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Eines Schwundaufschlages bedurfte es nicht, da die Antragsgegnerin im klinischen Abschnitt des Medizinstudiums gemäß § 1 Nr. 1 b) ZZVO freiwerdende Studienplätze höherer Semester auffüllen muss und so sämtliche freigewordene Studienplätze wiederbesetzt. Darüber hinaus ist ein Schwundaufschlag bei der von der Antragsgegnerin für die klinischen Semester ausschließlich durchgeführten Berechnung der patient·innenbezogenen Kapazität schon deshalb nicht zu berücksichtigen, da es dabei um Parameter geht, die nicht von der Lehrnachfrage abhängen. Die Einbeziehung eines Schwundausgleichsfaktors in eine ausstattungsbezogene Berechnung wäre systemwidrig. Die Annahme einer Schwundkorrektur beruht darauf, dass die wegen Studienabbruchs, Fach- oder Hochschulwechsels eingesparten Lehrkapazitäten in höheren Fachsemestern zur Möglichkeit der Zulassung einer erhöhten Zahl von Studienanfänger·innen führen. Grundlage der Schwundkorrektur ist damit die durch tatsächliche Abgänge in höheren Fachsemestern eingetretene Entlastung des Lehrpersonals, die mit der Erhöhung der Zulassungszahlen im 1. Fachsemester „abgeschöpft“ werden soll. Eine entsprechende Verrechen- oder Austauschbarkeit liegt für die nach dem „Flaschenhalsprinzip“ bestehenden ausstattungsbezogenen Engpässe aber nicht vor, so dass eine Schwundkorrektur hier schon aus strukturellen Gründen ausscheiden muss (OVG Schleswig, Beschluss vom 25.06.2020 ⎯ 3 NB 8/19 ⎯, juris Rn. 13; OVG Schleswig, Beschluss vom 24.07.2017 ⎯ 3 NB 20/17 ⎯, juris Rn. 16; VGH Mannheim, Beschluss vom 30.09.2008 ⎯ NC 9 S 2234/08 ⎯, juris Rn. 7). Es ist daher unerheblich, dass § 18 HZVO eine derartige Einschränkung nicht enthält (a. A.: OVG Hamburg, Beschluss vom 30.07.2014 ⎯ 3 Nc 10/14 ⎯, juris Rn. 35; Zimmerling/Brehm, Kapazitätsrecht, Band 2, 2013, Rn. 672).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Damit ist die auf der Grundlage einer Jahreskapazität von 194 Studienplätzen im gesamten Studienjahr unter Abzug der 139 bereits zum Wintersemester eingeschriebenen Studierenden erfolgte Festsetzung von 55 Studienplätzen für das Sommersemester 2022 nicht zu beanstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Diese Studienplätze sind auch belegt. Die Antragsgegnerin hat nach den von ihr vorgelegten Belegungslisten zum Wintersemester 2021/2022 139 Studierende zum 1. klinischen Fachsemester zugelassen, zum Sommersemester 2022 dann noch weitere 55 Studierende. Insgesamt sind damit im Studienjahr Wintersemester 2021/2022 und Sommersemester 2022 im 1. klinischen Fachsemester 194 Studierende zugelassen worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Damit sind alle vorhandenen Plätze besetzt und die auf Zulassung außerhalb der Kapazität gerichteten Anträge abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Das gleiche gilt für einen ggf. hilfsweise gestellten Antrag auf Zulassung innerhalb der Kapazität bzw. auf Verlosung offener Studienplätze Alle festgesetzten Plätze sind besetzt. Konkrete Fehler im Vergabeverfahren sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Auch soweit Anträge hilfsweise auf vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin in einem niedrigeren als dem 5. Fachsemester außerhalb der festgesetzten Kapazität zum Sommersemester 2022 gerichtet waren, fehlt es an einem Anordnungsanspruch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Die Verpflichtung zur vorläufigen Zulassung außerhalb der festgesetzten Kapazität in einem niedrigeren Fachsemester kommt nicht in Betracht. Diejenigen, die den vorklinischen Studienabschnitt des Studiums der Humanmedizin erfolgreich mit Ablegen des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung abgeschlossen haben, haben im außerkapazitären Verfahren keinen Anspruch aus Art. 12 Abs. 1 GG auf formale Zulassung in einem niedrigeren Fachsemester, die lediglich dem Ziel dient, in der Folgezeit ins 5. Fachsemester aufzurücken und damit das für externe Bewerber zum 5. Fachsemester vorgesehene Bewerbungsverfahren zu umgehen (VG Freiburg, Urteil vom 29.11.2013 ⎯ NC 6 K 2390/13 ⎯, juris Rn. 46).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. 52 Abs. 2 GKG.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,103 | lsgbw-2022-07-22-l-4-kr-140520 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 4 KR 1405/20 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-06T10:01:35 | 2022-10-17T17:55:45 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Februar 2020 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 verurteilt, den Bescheid vom 8. August 2016 insoweit zurückzunehmen, als sie die Durchführung einer freiwilligen Mitgliedschaft der Klägerin ab 1. Juli 2015 ablehnte.</p><p>Es wird festgestellt, dass die Klägerin ab 1. Juli 2015 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten ist.</p><p>Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin seit 1. Juli 2015 (freiwilliges) Mitglied der Beklagten ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die 1957 geborene Klägerin siedelte im Jahr 2007 aus Rumänien kommend in die Bundesrepublik Deutschland über. Sie bezog ab 18. März 2009 Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und war hierdurch bei der Beklagten pflichtversichert. Ein im Jahr 2015 bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW) gestellter Antrag der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung blieb erfolglos. Die Klägerin wurde zwar für voll erwerbsgemindert erachtet, jedoch erfüllte sie nicht die Wartezeit für die Gewährung einer entsprechenden Rente.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Mit Bescheid vom 18. Juni 2015 bewilligte die Beigeladene zu 1 (Fachbereich Sozialhilfe) der Klägerin daraufhin rückwirkend ab 1. November 2014 (zunächst bis 31. Oktober 2015) Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) und teilte der Klägerin gleichzeitig mit, dass die Zahlung für den Zeitraum 1. November 2014 bis 30. Juni 2015 an das Jobcenter geleistet werde, das einen Erstattungsanspruch angemeldet habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Bescheid vom 14. Juli 2016 wandte sich die Beklagte an die Klägerin und teilte mit, dass sie „auch nach Beendigung der Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.11.2014 automatisch von einem optimalen Versicherungsschutz“ bei ihr profitiere, und führte weiter aus, gesetzlich dazu verpflichtet zu sein, die Versicherung auf der Basis der Beitragsbemessungsgrenze weiterzuführen, solange sie die Höhe der tatsächlichen Einnahmen nicht kenne, weshalb sie die beigefügten Einkommensfragebögen ausfüllen möge; die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung setzte sie insgesamt mit monatlich 745,81 EUR fest. Für die Zeit vom 1. November 2014 bis 30. Juni 2016 errechnete sie einen Betrag von insgesamt 14.530,62 EUR, den die Klägerin bis spätestens 28. Juli 2016 überweisen möge. Mit Schreiben vom 22. Juli 2016 wandte sich die Beklagte darüber hinaus an die Beigeladene zu 1. Sie teilte mit, dass die Klägerin seit 1. November 2014 als freiwilliges Mitglied bei ihr versichert sei und bat um Übersendung der Sozialhilfebescheide mit den Berechnungsgrundlagen sowie um Rücksendung der ausgefüllten „Übernahmeerklärung“. Die Beigeladene zu 1 übersandte der Beklagten sodann den erwähnten Bescheid vom 18. Juni 2015 sowie die Bescheide vom 19. Oktober 2015 und 23. November 2015 (Bewilligung vom Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom 1. bis 30. November 2015 bzw. vom 1. Dezember 2015 bis 31. Oktober 2016) und erklärte sich bereit, die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ab Beginn der Mitgliedschaft (1. November 2014) zu tragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit Bescheid vom 8. August 2016 führte die Beklagte gegenüber der Klägerin aus, ihre ursprüngliche Versicherung habe geendet. Um ihren Versicherungsschutz sicherzustellen, habe sie – die Beklagte – ab 1. November 2014 eine neue Versicherung, eine obligatorische Anschlussversicherung, durchgeführt. Nach sorgfältiger Prüfung habe sie nun festgestellt, dass sie – die Klägerin – nicht ihr Mitglied werden könne. Personen, die u.a. Leistungen nach dem SGB II bezögen oder Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten oder Siebten Kapitel des SGB XII seien, seien nicht versicherungspflichtig nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) und auch eine obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 SGB V sei nicht möglich. Die Klägerin möge sich an die Beigeladene zu 1 wenden; diese sei für die Absicherung im Krankheitsfall zuständig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Beigeladene zu 1, der die Beklagte eine Mehrfertigung dieses Bescheides übersandt hatte, bat daraufhin um Erläuterung, weshalb eine freiwillige Mitgliedschaft nicht durchgeführt werden könne. Die Beklagte führte mit Schreiben vom 8. September 2016 sodann aus, ein Antrag auf die freiwillige Versicherung sei immer spätestens drei Monate nach dem Ende der letzten Versicherung zu stellen. Werde der Antrag nicht innerhalb von drei Monaten nach dem Ende der letzten Versicherung gestellt, sei aufgrund der neuen Gesetzeslage nach § 188 Abs. 4 SGB V eine obligatorische Anschlussversicherung zu prüfen, die gegenüber einer Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V vorrangig sei. Vorliegend greife der Ausschlusstatbestand nach § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V. Denn wenn die Versicherungspflicht eines Beziehers von Arbeitslosengeld II ende und ein Anspruch auf anderweitigen Versicherungsschutz bestehe, sei eine obligatorische Anschlussversicherung nicht möglich. Der in § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V verwendete Begriff „anderweitiger Anspruch im Krankheitsfall“ sei inhaltlich deckungsgleich mit dem gleichlautenden Begriff in § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. Als typisches Beispiel seien Personen zu nennen, die während des Bezugs von Arbeitslosengeld II nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V versicherungspflichtig seien und anschließend nahtlos oder innerhalb der Monatsfrist laufende Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des SGB XII bezögen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit Bescheid vom 11. Oktober 2016 hob die Beigeladene zu 1 (Fachbereich Jobcenter) gegenüber der Klägerin den Bescheid vom 24. Februar 2015 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II ab 1. Juli 2015 auf. Zur Begründung führte sie aus, die DRV BW habe festgestellt, dass ihr Leistungsvermögen weniger als drei Stunden täglich betrage und sie daher nicht erwerbsfähig sei. Mangels Erwerbsfähigkeit lägen die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II nicht vor. Die Beigeladene zu 1 meldete die Klägerin dann am 27. Oktober 2016 bei der Beklagten rückwirkend zum 30. Juni 2015 ab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Mit Schreiben vom 8. November 2016 wandte sich die Klägerin, vertreten durch eine Mitarbeiterin des Arbeitslosenzentrums L. e.V., an die Beigeladene zu 1 und bat um eine Überprüfung ihres Krankenversicherungsschutzes gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Sie führte aus, der SGB II-Träger habe vermutlich eine Ummeldung an den zuständigen Krankenversicherungsträger versäumt und die Beklagte habe parallel hierzu nicht reagiert. Sie sei seit dem Wechsel vom SGB II zum SGB XII nicht krankenversichert. So habe sie vom zuständigen Krankenversicherungsträger eine Aufforderung bekommen, Beiträge in Höhe von mehr als 14.000 EUR nachzuzahlen. Sie verwies darüber hinaus auf einen analog beim Sozialgericht H. (SG) gestellten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Am 10. November 2016 stellte die Klägerin, wiederum vertreten durch die Mitarbeiterin des Arbeitslosenzentrums L. e.V., beim SG Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (S 11 KR 3413/16 ER) gegen die Beklagte, mit dem sie Versicherungsschutz durch die Beklagte begehrte. Nach Hinweis des SG auf die fehlende Eilbedürftigkeit nahm die Klägerin diesen Antrag zurück.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Mit Schreiben vom 16. November 2016 wandte sich die Mitarbeiterin des Arbeitslosenzentrums L. e.V. auch an die Beklagte, zeigte die Vertretung der Klägerin „bis ein gesetzlicher Betreuer sich ihrer annimmt“ an und stellte einen „Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X“. Sie verwies darauf, dass die Beklagte die Mitgliedschaft der Klägerin gekündigt habe, obwohl der SGB XII-Träger die Beiträge nachgezahlt hätte. Die Beklagte habe die Klägerin für die vergangenen Fehler verantwortlich gemacht, obwohl sie anerkannte Analphabetin sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Mit Bescheid vom 22. November 2016 führte die Beklagte aus, eine Änderung der Sach- oder Rechtslage sei nicht eingetreten. Eine Unrichtigkeit der Vorentscheidung sei nicht festzustellen. Der Versicherungsschutz sei vom Jobcenter am 27. Oktober 2016 rückwirkend zum 30. Juni 2015 beendet worden. Dies sei der Klägerin mit Aufhebungsbescheid vom 11. Oktober 2016 mitgeteilt worden. Damit sei die Bewilligung von Arbeitslosengeld II zum 1. Juli 2015 aufgehoben worden, da Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII bezogen werde. Eine obligatorische Anschlussversicherung komme nach § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V nicht zustande, sofern ein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall nachgewiesen werde. Dies sei der Fall, da die Klägerin laufende Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII erhalte. Somit sei eine obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V sowie eine Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht möglich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Hiergegen erhob die Klägerin durch die nunmehr prozessbevollmächtigte Rechtsanwältin Widerspruch und machte geltend, sie stehe im laufenden SGB XII-Bezug, weshalb die Krankenbehandlung gemäß § 264 Abs. 2 Satz 1 SGB V von der Beklagten zu übernehmen sei. Die Klägerin habe von ihrem Wahlrecht gemäß § 264 Abs. 3 SGB V Gebrauch gemacht und die Beklagte als Krankenkasse gewählt. Sie sei im Leistungsumfang mit den gesetzlich Krankenversicherten gleichzustellen. Die Beklagte möge ihrem Widerspruch daher stattgeben und bestätigen, dass sie bei ihr gemäß § 264 Abs. 2 SGB V krankenversichert sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. September 2017 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Mit Bescheid vom 8. August 2016 sei der Antrag auf die obligatorische Anschlussversicherung zu Recht abgelehnt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Bereits am 20. Juli 2017 hatte die Klägerin beim SG einen weiteren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt (S 9 KR 2300/17 ER) und geltend gemacht, sie benötige dringend medizinische Hilfe und die Beklagte verweigere die Übernahme der Behandlungskosten. Mit Beschluss vom 19. September 2017 verpflichtete das SG die Beklagte, die Krankenbehandlung der Klägerin nach § 264 Abs. 2 Satz 1 SGB V vorläufig ab 1. Juli 2016 bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache zu übernehmen. Die dagegen eingelegten Beschwerden der Klägerin und der Beigeladenen zu 1 (L 5 KR 4050/17 ER-B) blieben erfolglos (Beschluss des Landessozialgerichts [LSG] Baden-Württemberg vom 11. Dezember 2017).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Mit ihrer am 9. Oktober 2017 beim SG durch ihre Prozessbevollmächtigte erhobenen Klage machte die Klägerin die Rechtswidrigkeit der Bescheide vom 8. August 2016 sowie 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids am 13. September 2017 geltend und begehrte zuletzt, sie ab 1. Juli 2015 als freiwilliges Mitglied gemäß § 188 Abs. 4 SGB V zu versichern. Sie legte die Bestellungsurkunde (Betreuerausweis) des Notariats L., Betreuungsgericht, vom 13. Februar 2017 über die Betreuerbestellung u.a. für den Aufgabenkreis „Regelung von allen vermögensrechtlichen Angelegenheiten (insbesondere auch von Arbeits- Renten- Versicherungs- Sozialhilfeangelegenheiten und sonstiger Versicherungsangelegenheiten)“ vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Beklagte trat der Klage mit der Begründung entgegen, der Ausschlusstatbestand des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V sei angesichts des nachgehenden Leistungsanspruch nach § 19 Abs. 2 oder 3 SGB V i.V.m. dem sich daran anschließenden anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall erfüllt, da der Bezug laufender Leistungen u.a. nach dem Vierten Kapitel des SGB XII einen Anspruch auf Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII umfasse. Dieser Anspruch sei – ebenso wie im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V – ein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall im Sinne des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V. Dies gelte unabhängig davon, dass sich die anderweitige Absicherung im Krankheitsfall außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung nahtlos an die vorherige Versicherungspflicht anschließe. Ausweislich des Bescheids vom 18. Juni 2015 beziehe die Klägerin seit 1. November 2014 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Die Pflichtversicherung sei zum 30. Juni 2015 beendet worden. Somit sei im Anschluss an die Pflichtversicherung eine obligatorische Anschlussversicherung aufgrund einer anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall ab 1. Juli 2015 nicht möglich. Im Zeitraum vom 1. November 2014 bis 30. Juni 2015 sei die Klägerin kranken- und pflegeversichert gewesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Mit Beschluss vom 18. Dezember 2017 lud das SG das Landratsamt L. zu dem Verfahren bei (Beigeladene zu 1), das sich den Anträgen der Klägerin anschloss. Nach Auffassung der Beigeladenen zu 1 habe die Klägerin einen Anspruch auf eine freiwillige Krankenversicherung ab 1. November 2014. Die Beklagte habe das freiwillige Versicherungsverhältnis mit Bescheid vom 14. Juli 2016 rückwirkend ab 1. November 2014 bewilligt. Diesen Bescheid habe sie zu keinem Zeitpunkt wirksam aufgehoben. Das Schreiben vom 8. August 2016 stellte keinen wirksamen Aufhebungsbescheid dar, da es weder die gesetzliche Grundlage für die Aufhebung benenne noch die tatsächlichen Gründe für die Beendigung des freiwilligen Versicherungsverhältnisses darlege. Auch unter der Voraussetzung, dass das Schreiben vom 8. August 2016 ein wirksamer Aufhebungsbescheid sei, bestehe ein Anspruch der Klägerin auf eine freiwillige Weiterversicherung, da sie die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V erfülle. Sie sei aus der gesetzlichen Versicherungspflicht ausgeschieden und sei in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens 12 Monate versichert gewesen. Zwar habe sie nach Beendigung der Pflichtversicherung nicht die Frist von drei Monaten zu Erklärung ihres Beitritts zur freiwilligen Krankenversicherung eingehalten, dies rechtfertige die Ablehnung der freiwilligen Versicherung jedoch nicht. Denn zum Zeitpunkt der Kenntnis der Klägerin über das Ende ihrer Pflichtmitgliedschaft sei die Frist in der Vergangenheit bereits lange abgelaufen gewesen. Das Jobcenter habe die Klägerin mit Schreiben vom 27. Oktober 2016 nämlich rückwirkend zum 30. Juni 2015, also für einen Zeitraum von 16 Monaten in die Vergangenheit abgemeldet. Damit sei es der Klägerin niemals möglich gewesen, die Frist von drei Monaten einzuhalten. Dies habe die Beklagte wohl auch gewusst. Denn sie habe mit Bescheid vom 14. Juli 2016 die freiwillige Versicherung ab 1. November 2014 bewilligt, obwohl die Frist abgelaufen gewesen sei. Sofern sie nun den Ablauf der Frist moniere, sei dies nicht nachvollziehbar. Sie habe durch ihren Bescheid vom 14. Juli 2016 selbst einen Vertrauenstatbestand geschaffen, der die Klägerin habe annehmen lassen können, dass der Fristablauf nicht zu ihren Ungunsten berücksichtigt werde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Nach Umzug der Klägerin zum 1. Juli 2018 lud das SG mit Beschluss vom 19. Dezember 2018 die Stadt H. als nunmehr zuständiger Träger der Sozialhilfe (Beigeladene zu 2) zu dem Verfahren bei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Mit Urteil vom 21. Februar 2020 wies das SG die Klage ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 8. August 2016, da dieser rechtmäßig sei. Die Beklagte sei zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin bei ihr nicht freiwillig versichert sei, weder im Rahmen der obligatorischen Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V noch aufgrund eines Beitritts. Die Klägerin erfülle für eine obligatorische Anschlussversicherung zwar die Voraussetzungen des § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V, weil ihre Versicherungspflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V) mit dem Ende des Leistungsbezugs nach dem SGB II geendet habe und eine neue Versicherungspflicht durch den Bezug von Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII nicht begründet worden sei. So habe insbesondere keine Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V bestanden. Denn neben weiteren Voraussetzungen setze diese Vorschrift voraus, dass ein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall nicht bestehe. Diese Voraussetzung werde in § 5 Abs. 8a SGB V konkretisiert. Nach dessen Satz 1 sei nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht versicherungspflichtig, wer nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 12 SGB V versicherungspflichtig, freiwilliges Mitglied oder nach § 10 SGB V versichert sei. Dies gelte gemäß Satz 2 der Regelung entsprechend u.a. für Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten und Siebten Kapitel des SGB XII. Damit habe nach dem Gesetzesentwurf erreicht werden sollen, dass der Sozialhilfeträger weiterhin für die Krankenbehandlung von Empfängern von Leistungen nach dem Dritten bis Neunten Kapitel des SGB XII zuständig bleibe. Als Bezieherin von Leistungen nach dem SGB XII habe die Klägerin Anspruch auf Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII, sodass eine Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht in Betracht komme. Für eine obligatorische Anschlussversicherung erfülle die Klägerin zwar die Voraussetzungen des § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V, da sie ihren Austritt nicht erklärt habe. Eine solche Versicherung sei im Hinblick auf die Regelung des § 188 Abs. 4 Satz 3 2. Alt. SGB V jedoch ausgeschlossen. Denn danach gelte Satz 1 nicht für Personen, deren Versicherungspflicht ende, wenn ein Anspruch auf Leistungen nach § 19 Abs. 2 SGB V bestehe, sofern im Anschluss daran das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachgewiesen wird. Gemäß § 19 Abs. 2 SGB V bestehe ein Anspruch auf Leistungen längstens für einen Monat nach dem Ende der Mitgliedschaft, solange keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werde. Diese Voraussetzungen seien zu bejahen. Die Mitgliedschaft der Klägerin nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V habe mit dem Ende des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II geendet, eine Erwerbstätigkeit sei nicht ausgeübt worden und aufgrund des sich an den Bezug von Leistungen nach dem SGB II anschließenden Bezugs von Leistungen nach dem SGB XII habe sie einen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall in Form der Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII gehabt. Die Klägerin sei auch nicht aufgrund eines Beitritts zur freiwilligen Versicherung Mitglied der Beklagten geworden. Denn innerhalb von drei Monaten nach dem Ende der Pflichtmitgliedschaft, d.h. bis Ende September 2015, habe sie keine Beitrittserklärung abgegeben. Im Hinblick auf die Frist des § 9 Abs. 2 SGB V sei in begründeten Ausnahmefällen zwar eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 SGB X möglich. Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin jedoch nicht. Die rückwirkende Bewilligung von Leistungen nach dem SGB XII und damit die rückwirkende Beendigung des Leistungsbezugs nach dem SGB II sei bereits mit Bescheid der Beigeladenen zu 1 vom 18. Juni 2015 erfolgt, weshalb für die Klägerin bereits im Sommer 2015 Anlass bestanden habe, das Krankenversicherungsverhältnis zu klären. Diesbezüglich sei im Sommer 2016 im Anschluss an den Bescheid vom 8. August 2016 zwar ein reger Schriftwechsel zwischen dem Betreuer der Klägerin, der Beklagten, der Beigeladenen zu 1 und dem Arbeitslosenzentrum L. e.V. geführt worden, ein Antrag auf Wiedereinsetzung durch die Klägerin oder deren Vertreter sei jedoch nicht gestellt worden. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren habe die rechtsanwaltlich vertretene Klägerin hierzu keine Ausführungen gemacht. Allein die Beigeladene zu 1 habe sich in ihrem rechtlichen Vortrag auf eine mögliche Wiedereinsetzung in die versäumte Frist bezogen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Gegen das ihrer Prozessbevollmächtigten am 3. April 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 4. Mai 2020 beim LSG Baden-Württemberg Berufung eingelegt und zur Begründung zunächst vorgebracht, eine obligatorische Anschlussversicherung sei entgegen der Ansicht des SG nicht gemäß § 188 Abs. 4 Satz 3 2. Alt. SGB V ausgeschlossen. Die Voraussetzungen dieser Regelung seien nicht erfüllt. Sie sei weder familienversichert noch verfüge sie über eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall. Eine solche habe sie gegenüber der Beklagten auch nicht nachgewiesen. Nach ständiger Rechtsprechung, insbesondere des LSG Baden-Württemberg sei sozialhilferechtliche Krankenhilfe nach § 48 SGB XII gegenüber den Regelungen zur Krankenbehandlung nach § 264 SGB V nachrangig, was auch in § 48 Satz 2 SGB XII klargestellt sei. Auf den Hinweis des Senats, dass das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 29. Juni 2021 – B 12 KR 35/19 R – entschieden habe, dass ein Anspruch auf Krankenhilfe nach dem SGB XII im Sinne des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall darstelle, weshalb die Rechtsauffassung der Beklagten, eine obligatorische Anschlussversicherung sei nicht zustande gekommen, zutreffend sein dürfte, machte die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2022 geltend, sie begehre ausdrücklich die Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses in Form einer freiwilligen Versicherung. Die notwendigen Vorversicherungszeiten seien erfüllt. Sie beantrage im Hinblick auf die Beitrittserklärung ausdrücklich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie habe keine Kenntnis von ihrer Verpflichtung gehabt, den Beitritt zur Krankenkasse innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der Mitgliedschaft anzuzeigen. Sie sei Analphabetin. Weiter sei zu berücksichtigen, dass der Leistungsbezug nach dem SGB II im Oktober 2016 rückwirkend zum 1. November 2014 beendet worden sei, weshalb sich die Frage stelle, inwiefern die Sozialleistungsträger ihrer Aufklärungspflicht nachgekommen seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="21"/>das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Februar 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheids vom 8. August 2016 festzustellen, dass sie seit 1. Juli 2015 bei ihr freiwillig versichertes Mitglied ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="23"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig und verweist darauf, dass die Klägerin seit 1. Juli 2016 gegen Kostenerstattung nach § 264 SGB V bei ihr versichert sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt und sich zur Sache nicht geäußert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Verfahrensakten des SG und des Senats, die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Akten der Verfahren S 11 KR 3413/16 ER und S 9 KR 2300/17 ER.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>1. Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Klägerin begehrt die Feststellung, sie sei seit 1. Juli 2015 freiwilliges Mitglied der Beklagten und damit nicht eine Geld-, Sach- oder Dienstleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>2. Gegenstand des Rechtsstreits ist das Begehren der Klägerin auf Feststellung ihrer freiwilligen Mitgliedschaft bei der Beklagten seit 1. Juli 2015. Die Klägerin verfolgt dieses Begehren im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X mit dem Ziel der (teilweisen) Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 8. August 2016, mit dem die Beklagte entschied, dass die Klägerin entgegen der ab 1. November 2014 durchgeführten obligatorischen Anschlussversicherung nicht ihr Mitglied werden könne. Streitbefangen ist damit der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 (§ 95 SGG), mit dem es die Beklagte ablehnte, den Bescheid vom 8. August 2016 aufzuheben und die Klägerin als freiwilliges Mitglied aufzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Nicht Gegenstand des Verfahrens ist die Mitgliedschaft der Klägerin in der sozialen Pflegeversicherung bei der bei der Beklagten eingerichteten Pflegekasse. Weder im Ausgangs-, Abänderungs- noch im Widerspruchsbescheid wurde eine Entscheidung hierzu getroffen. Die Bescheide ergingen nicht auch im Namen der Pflegekasse. Die Klage richtete sich ausdrücklich (nur) gegen die beklagte Krankenkasse. Auch das SG entschied nur zur Mitgliedschaft in der Krankenversicherung. Ohnehin folgt die Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung nach § 20 Abs. 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) kraft Gesetzes aus der freiwilligen Krankenversicherung (vgl. Senatsurteil vom 22. März 2019 – L 4 KR 2182/18 – juris, Rn. 21).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>3. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Das SG hätte die als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Feststellungsklage statthafte Klage nicht abweisen dürfen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf (teilweise) Rücknahme des Bescheids vom 8. August 2016 und Feststellung, dass sie ab dem 1. Juni 2015 freiwilliges Mitglied der Beklagten ist. Soweit die Beklagte mit diesem Bescheid entschied, dass die Klägerin nicht ihr freiwilliges Mitglied werden könne bzw. nicht geworden ist, ist dies im Hinblick auf den streitbefangenen Zeitraum ab 1. Juli 2015 rechtsfehlerhaft. Für die Klägerin wurde im Anschluss an ihre Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten zwar keine freiwillige Mitgliedschaft in Form einer sog. obligatorischen Anschlussversicherung gemäß § 188 Abs. 4 SGB V begründet (hierzu b) und sie ist der Beklagten mit der Erklärung ihrer Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 3. Februar 2022 auch nicht wirksam als freiwilliges Mitglied beigetreten (hierzu c). Die Klägerin ist jedoch im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob sie der Beklagten fristgerecht beigetreten wäre (hierzu d).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Rechtsgrundlage für die Rücknahme eines Bescheids über die Ablehnung der Feststellung einer freiwilligen Mitgliedschaft für die Vergangenheit ist § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X (vgl. BSG, Urteil vom 8. Dezember 1999 – B 12 KR 12/99 R – juris, Rn. 16 und 23). Die Regelung über die Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte nach § 44 Abs. 1 SGB X ist dagegen eine Spezialregelung für Bescheide über sozialrechtliche Leistungen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2019 – L 6 SB 4715/17 – juris, Rn. 36). Im Gegensatz zu dem bindenden Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X eröffnet § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X der Behörde einen Ermessensspielraum (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) bei der Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit. Der Senat geht im vorliegenden Fall davon aus, dass der Anwendungsbereich von § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X – trotz der rückwirkenden Feststellung der Mitgliedschaft einer freiwilligen Versicherung – eröffnet ist. Zwar hat das BSG bereits entschieden, dass die Beurteilung von Versicherungsverhältnissen rückwirkend grundsätzlich nicht geändert werden soll (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1999 – B 12 KR 12/99 R – juris, Rn. 24). Es hat deshalb die rückwirkende Begründung einer Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner abgelehnt, wenn die Aufhebung einer die Mitgliedschaft ablehnenden bindenden Entscheidung im Streit war oder früher eine beantragte Mitgliedschaft des Rentenantragstellers wegen Versagung der Rente geendet hatte. Das BSG hat dies auch damit begründet, dass Sachleistungen der Krankenversicherung ohnehin nachträglich nicht erbracht werden können und Beitragsnachforderungen für die Vergangenheit vermieden werden. Im vorliegenden Fall ist aber zu beachten, dass die Beklagte im Bescheid vom 8. August 2016 gegenüber der Klägerin ausgeführt hat, ihre ursprüngliche Versicherung habe geendet. Um ihren Versicherungsschutz sicherzustellen, habe sie – die Beklagte – ab 1. November 2014 eine neue Versicherung, eine obligatorische Anschlussversicherung, durchgeführt. Nach sorgfältiger Prüfung habe sie nun festgestellt, dass sie – die Klägerin – nicht ihr Mitglied werden könne. Personen, die u.a. Leistungen nach dem SGB II bezögen oder Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten oder Siebten Kapitel des SGB XII seien, seien nicht versicherungspflichtig nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V und auch eine obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 SGB V sei nicht möglich. Die Klägerin möge sich an die Beigeladene zu 1 wenden; diese sei für die Absicherung im Krankheitsfall zuständig. Die Beigeladene zu 1 hatte sich in diesem Zusammenhang gegenüber der Beklagten schriftlich bereit erklärt, die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ab dem 1. November 2014 zu tragen. Vor dem Hintergrund dieser speziellen Konstellation, in der die Beklagte durch ihren Bescheid vom 8. August 2016 selbst das Mitgliedschaftsverhältnis der Klägerin in Frage gestellt hat, hat der Senat keine Bedenken, dass der Anwendungsbereich – anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall, bei der es um die Überprüfung einer mehrere Jahre zurückliegenden Befreiungsentscheidung ging – von § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X eröffnet ist. Selbst wenn der Anwendungsbereich nicht eröffnet wäre, wäre der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 vom Senat aufzuheben gewesen, da die Klägerin im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen ist, als ob sie der Beklagten fristgerecht beigetreten wäre, weshalb dem entgegenstehende Entscheidungen aufzuheben sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Soweit die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2016 entschied, dass die Klägerin nicht ihr freiwilliges Mitglied werden konnte, mithin auch nicht geworden ist, war dies rechtswidrig, als sie davon ausging, dass die Klägerin ab 1. Juli 2015 nicht ihr freiwilliges Mitglied geworden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>a. Der Bescheid vom 8. August 2016 ist nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil der damit getroffenen Entscheidung der Bescheid vom 14. Juli 2016 entgegenstand und dieser – so die Auffassung der Beigeladenen zu 1 – mit Bescheid vom 8. August 2016 nicht wirksam aufgehoben worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Mit Bescheid vom 14. Juli 2016 traf die Beklagte keine Entscheidung über den Versicherungsstatus der Klägerin. Sie entschied insbesondere nicht, dass für die Klägerin ab dem angegebenen Zeitpunkt eine freiwillige Mitgliedschaft in Form einer sog. obligatorischen Anschlussversicherung begründet wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Für die Auslegung von Verwaltungsakten i.S. des § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gelten die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften des §§ 157, 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend. Maßgeblich ist insofern der objektive Sinngehalt der Erklärung, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalles objektiv verstehen musste (Luthe, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand Oktober 2021, § 31 Rn. 26).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Im Bescheid vom 14. Juli 2016 brachte die Beklagte im Sinne der Angaben im Betreff („Lückenlos optimal versichert – Beitragsbescheid und wichtige Informationen zur Beitragsberechnung“) zu Beginn ihrer Ausführungen zunächst die Bedeutung einer lückenlosen Kranken- und Pflegeversicherung zum Ausdruck. Sie verwies darauf, dass der Gesetzgeber dies mittlerweile auch vorschreibe und hiervon auch die Klägerin ab 1. November 2014 profitiere. Im Weiteren ging die Beklagte auf die Beitragshöhe der Kranken- und Pflegeversicherung ein, die sich nach den tatsächlichen Einnahmen des Versicherten richteten. Diese möge die Klägerin zur korrekten Berechnung des Beitrags mit den beigefügten Fragebögen mitteilen. Zuvor sei der Beitrag nach den gesetzlichen Regelungen auf der Basis der Beitragsbemessungsgrenze zu berechnen. Aufgeführt wurde sodann der sich daraus errechnende monatliche Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Gesamtbetrag für den Zeitraum vom 1. November 2014 bis 30. Juni 2016, der bis spätestens 28. Juli 2016 zu überweisen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Einen Verfügungssatz, wonach die Klägerin zum 1. November 2014 im Rahmen der sog. obligatorischen Anschlussversicherung freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden sei, enthalten diese Ausführungen nicht. Sie lassen insbesondere auch nicht erkennen, dass die Beklagte eine Entscheidung über den Versicherungsstatus der Klägerin treffen wollte. Die Darlegungen erschöpfen sich nämlich in der Mitteilung, dass die Klägerin „automatisch“ weiterhin Versicherungsschutz genieße. Die Art des Versicherungsschutzes wird weder konkret bezeichnet noch näher beschrieben. So finden sich in den Ausführungen der Beklagten weder die Begriffe „freiwillige Mitgliedschaft“ oder „freiwilliges Mitglied“; auch enthalten sie keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem automatisch weitergeführten Versicherungsschutz um eine derartige Mitgliedschaft in Form der obligatorischen Anschlussversicherung handelt. Demgegenüber beschränkte sich die Beklagte - wie dies im Betreff des Bescheides durch den Begriff „Beitragsbescheid“ auch zum Ausdruck kommt – auf eine Verfügung dahingehend, die Klägerin zur Zahlung von Beiträgen in der aufgeführten Höhe zu verpflichten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>b. An die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin schloss sich keine freiwillige Mitgliedschaft als sog. obligatorische Anschlussversicherung gemäß § 188 Abs. 4 SGB V an.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V sind versicherungspflichtig Personen in der Zeit, für die sie Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch beziehen, es sei denn, dass diese Leistung nur darlehensweise gewährt wird oder nur Leistungen nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB II bezogen werden. Nach Halbsatz 2 der Regelung gilt dies auch, wenn die Entscheidung, die zum Bezug der Leistung geführt hat, rückwirkend aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Klägerin bezog bis 30. Juni 2015 Arbeitslosengeld II und war daher während des Leistungsbezugs bei der Beklagten pflichtversichert. Soweit die Beigeladene zu 1 der Klägerin mit Bescheid vom 18. Juni 2015 rückwirkend ab 1. November 2014 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bewilligte, änderte dies hinsichtlich des Zeitraums vom 1. November 2014 bis 30. Juni 2015 an der Pflichtversicherung im Hinblick auf § 5 Abs. 1 Nr. 2a Halbsatz 2 SGB V nichts, da der Klägerin Arbeitslosengeld II tatsächlich ausgezahlt wurde. Entsprechend wurde der Bescheid vom 24. Februar 2015 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II erst ab dem 1. Juli 2015 aufgehoben und die Beigeladene zu 1 meldete für den davorliegenden Zeitraum ab 1. November 2014 einen Erstattungsanspruch an. Tatsächlich gewährte die Beigeladene zu 1 der Klägerin ab dem 1. Juli 2015 laufend nur noch Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Die Klägerin bezog seitdem kein Arbeitslosengeld II mehr.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Diese Pflichtversicherung der Klägerin setzte sich weder als Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V (sog. Auffangversicherungspflicht) und insbesondere auch nicht als freiwillige Mitgliedschaft gemäß § 188 Abs. 4 SGB V (sog. obligatorische Anschlussversicherung) fort.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind versicherungspflichtig Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren (Buchst. a) oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Abs. 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten (Buchst. b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin bei Beendigung ihrer Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V nicht. Denn aufgrund der Bewilligung von Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Bescheid der Beigeladenen zu 1 vom 18. Juni 2015) hatte die Klägerin ab 1. Juli 2015 Anspruch auf Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII und damit einen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. Eine Versicherungspflicht nach dieser Regelung machte die Klägerin im laufenden Verfahren selbst auch nicht geltend, sodass es weiterer Ausführungen hierzu nicht bedarf. Der Senat verweist daher lediglich ergänzend auf die Darlegungen des SG in der angefochtenen Entscheidung (vgl. § 153 Abs. 2 SGG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Gemäß § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V setzt sich die Versicherung für Personen, deren Versicherungspflicht oder Familienversicherung endet, mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder mit dem Tag nach dem Ende der Familienversicherung als freiwillige Mitgliedschaft fort, es sei denn, das Mitglied erklärt innerhalb von zwei Wochen nach Hinweis der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeiten seinen Austritt. Der Austritt wird nur wirksam, wenn das Mitglied das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachweist (Satz 2). Nach Satz 3 der Regelung gilt Satz 1 u.a. nicht für Personen, deren Versicherungspflicht endet, wenn ein Anspruch auf Leistungen nach § 19 Abs. 2 SGB V besteht, sofern im Anschluss daran das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachgewiesen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Der Ausschlusstatbestand des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V ist im Fall der Klägerin erfüllt. Denn bei Ende der durch den Bezug von Arbeitslosengeld II begründeten Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V zum 30. Juni 2015 verfügte die Klägerin über einen nachgehenden Leistungsanspruch gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V und im Anschluss hieran hatte sie aufgrund des Bezugs von Leistungen nach dem SGB XII einen anderweitigen Anspruch auf Absicherung Krankheitsfall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Endet die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger, besteht nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V Anspruch auf Leistungen längstens für einen Monat nach dem Ende der Mitgliedschaft, solange keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Voraussetzung hierfür ist neben der fehlenden Erwerbstätigkeit, dass kein anderweitiger aktueller Krankenversicherungsschutz besteht. Beides war bei der Klägerin der Fall. Die Klägerin übte keine Erwerbstätigkeit aus und es bestand kein den nachgehenden Leistungsanspruch verdrängendes vorrangiges Versicherungsverhältnis. Der nachgehende Leistungsanspruch nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V wird nicht selbst durch den Bezug laufender Leistungen nach dem SGB XII verdrängt. Insoweit verbleibt es bei dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XII).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Im Anschluss an den Anspruch nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V bestand für die Klägerin im Sinne des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V ein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Bei der insoweit anzustellenden prognostischen Betrachtung bei Ende der Versicherungspflicht am 30. Juni 2015 hatte die Klägerin aufgrund der Bewilligung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mit Bescheid der Beigeladenen zu 1 vom 18. Juni 2015 Anspruch auf Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII. Bei diesem Anspruch handelt es sich um eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall. Hiervon ist die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2016 zu Recht ausgegangen (ausführlich zur anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall BSG, Urteile vom 29. Juni 2021 - B 12 KR 35/19 R und B 12 KR 33/19 R - juris). Der Empfang laufender Leistungen nach dem SGB XII steht damit sowohl dem Entstehen einer Auffangversicherungspflicht als auch der Begründung einer obligatorischen Anschlussversicherung entgegen. Im Sinne des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V ist die anderweitige Absicherung im Krankheitsfall schließlich durch Vorlage des Bescheids vom 23. November 2015 über die Bewilligung von laufenden Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, der bei der Beklagten am 2. August 2016 einging, auch nachgewiesen worden. Nachdem die Klägerin im Hinblick auf die Urteile des BSG vom 29. Juni 2021 (a.a.O.) an der zuvor vertretenen Auffassung, freiwilliges Mitglied der Beklagten gemäß § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V geworden zu sein, zuletzt im Berufungsverfahren nicht mehr festgehalten hat, bedarf es insoweit weiterer Ausführungen nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>c. Die Klägerin ist nicht durch Beitrittserklärung ihrer Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 3. Februar 2022 freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V können der Versicherung Personen beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert waren; Zeiten der Mitgliedschaft nach § 189 SGB V und Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen wurde, werden nicht berücksichtigt. Nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt der Krankenkasse im Falle des Abs. 1 Nr. 1 innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der Mitgliedschaft anzuzeigen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>(1) Die Klägerin war berechtigt, der Beklagten als freiwilliges Mitglied beizutreten. Sie war aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld II seit 18. März 2009 Pflichtmitglied und schied zum 30. Juni 2015 aus der Pflichtmitgliedschaft aus. In dem davorliegenden Zeitraum von fünf Jahren war die Klägerin somit mehr als 24 Monate versichert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>(2) Die Klägerin ist der Beklagten nicht innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der Mitgliedschaft beigetreten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Wie oben bereits dargelegt, endete die Versicherungspflicht der Klägerin zum 30. Juni 2015. Ausgehend hiervon erklärte die Klägerin ihren Beitritt zur Beklagten nicht innerhalb von drei Monaten. Ihren Beitritt erklärte sie erstmals durch ihre Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 3. Februar 2022, in dem diese ausführte, „Die Klägerin begehrt ausdrücklich die Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses in Form einer freiwilligen Versicherung mit der Beklagten“. Zu diesem Zeitpunkt war die Dreimonatsfrist des § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V bereits seit mehreren Jahren abgelaufen. Nichts anderes gilt, wenn man zugunsten der Klägerin davon ausginge, dass die Frist zur Erklärung des Beitritts erst mit der Betreuerbestellung im Februar 2017 begonnen hätte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Der Ablauf der Frist zur Anzeige des Beitritts zur freiwilligen Mitgliedschaft hat grundsätzlich den Ausschluss der Berechtigung nach § 9 SGB V zur Folge, wobei allerdings eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs. 1 SGB X in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 28. Mai 2008 – B 12 KR 16/07 R – juris, Rn. 14 m.w.N; Baierl, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, Stand Juni 2020, § 9 SGB V Rn. 75).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Soweit die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2022 beantragte, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, liegen die Voraussetzungen hierfür nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>§ 27 Abs. 1 SGB X bestimmt: War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen. Nach Abs. 2 Satz 1 der Regelung ist der Antrag innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (Satz 2). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen (Satz 3). Nach § 27 Abs. 3 SGB X kann nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist bereits wegen Ablauf der Jahresfrist gemäß § 27 Abs. 3 SGB X ausgeschlossen. Deren Ablauf schließt sowohl den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als auch die Nachholung der versäumten Handlung aus. Die Jahresfrist, die am Tag nach dem Tag des Fristablaufs beginnt, und damit am 1. Oktober 2015 begann, war im Februar 2022 seit Jahren abgelaufen. Anhaltspunkte für das Vorliegen höherer Gewalt liegen nicht vor und wurden auch nicht geltend gemacht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>d. Die Klägerin ist im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs jedoch so zu stellen, als ob sie die Frist zum Beitritt als freiwilliges Mitglied eingehalten hätte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Nach der Rechtsprechung des BSG stellen die Vorschriften zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X keine abschließende Entscheidung des Gesetzgebers über die in einer verspäteten Antragstellung liegenden Folgen von Pflichtverletzungen der Verwaltung dar. Ist die Fristversäumnis auf einen Behördenfehler zurückzuführen, überschneiden sich die Tatbestände des § 27 SGB X und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, ohne dass letzterer durch ersteren ausgeschlossen würde (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – B 13 R 91/11 R – juris, Rn. 28; BSG, Urteil vom 4. September 2013 – B 12 AL 2/12 R – juris, Rn. 17).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB I]), ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Er setzt demnach eine dem Sozialleistungsträger zurechenbare behördliche Pflichtverletzung voraus, die (als wesentliche Bedingung) kausal zu einem sozialrechtlichen Nachteil des Berechtigten geworden ist. Außerdem ist erforderlich, dass durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn die Behörde ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 V 6/15 Rn – juris, Rn. 29; BSG, Urteil vom 9. November 2011 – B 12 KR 21/09 R – juris, Rn. 26; BSG, Urteil vom 26. April 2005 – B 5 RJ 6/04 R – juris, Rn. 21).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob der Krankenversicherungsträger gehalten ist, Versicherte bei Beendigung der Pflichtmitgliedschaft auch ohne konkretes Beratungsbegehren darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedschaft durch einen innerhalb einer Frist von drei Monaten zu erklärenden Beitritt als freiwillige Mitgliedschaft fortgesetzt werden kann (verneinend Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 6. Mai 2002 – L 1 KR 30/01 – juris, Rn. 25 m.w.N.). Denn bei einem konkreten Anlass hat der Versicherungsträger den Versicherten aufgrund seiner Beratungspflicht gemäß § 14 SGB I auch ohne Beratungsbegehren von sich aus spontan auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die von jedem Versicherten mutmaßlich genutzt würden. Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage liegt, allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen (BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 29/13 R – juris, Rn. 29 m.w.N.; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 3. März 2011 – L 5 KR 108/10 – juris; Rn. 14). Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Im Zusammenhang mit dem Erlass des Bescheids vom 8. August 2016 trat für die Beklagte objektiv ein Anlass zur Beratung der Klägerin zutage. Zu diesem Zeitpunkt erkannte die Beklagte, dass die Pflichtversicherung der Klägerin sich nach deren Ende – entgegen ihrer ursprünglichen Annahme – nicht im Rahmen einer obligatorischen Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V als freiwillige Mitgliedschaft fortsetzte, weil die Voraussetzungen für eine solche freiwillige Mitgliedschaft tatsächlich nicht vorlagen, da der Ausschlusstatbestand des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V erfüllt war, nachdem die Klägerin aufgrund der Bewilligung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mit Bescheid vom 18. Juni 2015 im Sinne der genannten Regelung einen „anderweitigen Anspruch im Krankheitsfall“ hatte. Zu diesem Zeitpunkt lag der Beklagten darüber hinaus die der Beigeladenen zu 1 zuvor übersandte „Übernahmeerklärung“ ausgefüllt und unterzeichnet vor. Damit hatte sich die Beigeladene zu 1 bereit erklärt, die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge der Klägerin ab Beginn der freiwilligen Mitgliedschaft zu tragen. Der Beklagten musste sich damit ohne weiteres aufdrängen, dass die Klägerin von der Möglichkeit einer freiwilligen Weiterversicherung Gebrauch machen würde. Da ihr gleichzeitig noch keine Beitrittserklärung der Klägerin vorgelegen hat, bestand für die Beklagte Veranlassung, die Klägerin darauf hinzuweisen, dass eine freiwillige Mitgliedschaft nicht nur im Rahmen der zunächst – jedoch zu Unrecht – durchgeführten obligatorischen Anschlussversicherung in Betracht kam, sondern grundsätzlich auch durch Beitritt als freiwilliges Mitglied hätte begründet werden können, und zwar innerhalb von drei Monaten nach dem Ende der (früheren) Mitgliedschaft. In diesem Sinne informierte die Beklagte im Übrigen auch die Beigeladenen zu 1 auf deren Wunsch, ihr zu erläutern, weshalb für die Klägerin eine freiwillige Mitgliedschaft nicht durchgeführt werden könne (vgl. Schreiben vom 8. September 2016).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Der Hinweis auf diese Beitrittsmöglichkeit war nicht wegen Ablaufs der Dreimonatsfrist entbehrlich. Nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt innerhalb von drei Monaten „nach Beendigung der Mitgliedschaft“ anzuzeigen. Vorliegend führte die Beklagte die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin nach deren Ende automatisch als freiwillige Mitgliedschaft weiter. Die Beklagte bestätigte dies im weiteren Verlauf mit ihren Ausführungen im Bescheid vom 14. Juli 2016 (sie – die Klägerin – profitiere „auch nach Beendigung der Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.11.2014 automatisch von einem optimalen Versicherungsschutz“) und erhob dementsprechend für die Zeit ab 1. November 2014, dem Zeitpunkt des von ihr (zunächst) angenommenen Beginns der freiwilligen Mitgliedschaft, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung mit einem Gesamtbetrag von 14.530,62 EUR. Mit Schreiben vom 22. Juli 2016 teilte die Beklagte auch der Beigeladenen zu 1 mit, dass die Klägerin seit 1. November 2014 als freiwilliges Mitglied bei ihr versichert sei. Für die Klägerin bestand vor diesem Hintergrund keine Veranlassung, zur Begründung einer sich an die Pflichtmitgliedschaft gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V anschließenden freiwilligen Mitgliedschaft ihr Gestaltungsrecht gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V auszuüben. Ein Anlass hierfür entstand erstmals mit Erlass des Bescheids vom 8. August 2016, mit dem die Beklagte entschied, dass die Klägerin – entgegen der tatsächlichen Durchführung – zum 1. November 2014 nicht ihr freiwilliges Mitglied geworden sei. Denn hierdurch beendete die Beklagte mit Wirkung für die Vergangenheit die als freiwillige Mitgliedschaft geführte Versicherung der Klägerin, ohne dass diese über einen anderweitigen Versicherungsschutz verfügte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Der Senat geht davon aus, dass im Fall einer solchen rückwirkenden Beendigung einer freiwilligen Mitgliedschaft die Regelung des § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V in der Form anzuwenden ist, dass die Beitrittsfrist von drei Monaten erst mit Bekanntgabe des entsprechenden Bescheids beginnt und nicht bereits mit dem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt des tatsächlichen Endes der Mitgliedschaft. Wegen der rückwirkenden Beendigung der Mitgliedschaft der Klägerin durch Bescheid vom 8.August 2016 wäre die Beklagte im Rahmen ihrer Beratungspflicht gehalten gewesen, die Klägerin auf die Möglichkeit der Fortsetzung der Mitgliedschaft als freiwillige Versicherung durch Beitritt innerhalb von drei Monaten hinzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 7. Dezember 2000 – B 10 KR 3/99 R – juris, Rn. 38 f. zum nachträglichen freiwilligen Beitritt bei rückwirkender Feststellung, dass keine Familienversicherung bestand). Dies unterließ die Beklagte im Rahmen des Bescheids vom 8. August 2016 und beschränkte sich auf die Feststellung, dass nach Ende der Pflichtversicherung eine freiwillige Mitgliedschaft im Rahmen der obligatorischen Anschlussversicherung nicht möglich sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Die dargelegte Pflichtverletzung der Beklagten führte zumindest gleichwertig ursächlich zum Versäumnis der Klägerin, ihren Beitritt zur freiwilligen Mitgliedschaft innerhalb von drei Monaten nach Zugang des Bescheids vom 8. August 2016 zu erklären. Der Klägerin ist hierdurch auch ein sozialrechtlicher Schaden entstanden, weil sie ihren originären Versicherungsschutz verlor. Dass die Beigeladenen zu 1 und 2 als Sozialhilfeträger gleichwertige Leistungen im Rahmen des § 264 SGB V zur Verfügung stellen, steht der Annahme eines Nachteils durch den Verlust des originären Versicherungsschutzes nicht entgegen. Denn die von den Beigeladenen zu 1 und 2 zu erbringenden nachrangigen Leistungen werden nur unter der Voraussetzung der Bedürftigkeit nach den Regelungen des SGB XII gewährt (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 3. März 2011, a.a.O.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Die Klägerin ist im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nach alledem so zu stellen, als ob sie die Beitrittsfrist von drei Monaten nicht versäumt hätte. Sie ist mithin im Anschluss an ihre zum 30. Juni 2015 endende Pflichtversicherung ab 1. Juli 2016 freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>An diesem Ergebnis änderte sich auch dann nichts, wenn man davon ausginge, dass die Beitrittsfrist von drei Monaten bereits am 1. Juli 2015 begann. Denn nach einem entsprechenden Hinweis auf die Beitrittsmöglichkeit im Bescheid vom 8. August 2016 wäre die Klägerin noch vor Ablauf der Ausschlussfrist des § 27 Abs. 3 SGB V, die – wie ausgeführt – am 1. Oktober 2015 begann und am 30. September 2016 endete, in der Lage gewesen, der Beklagten unter gleichzeitiger Beantragung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beizutreten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Vor diesem Hintergrund ist auch das Ermessen der Beklagten im Rahmen von § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X auf Null reduziert (vgl. Merten, in: Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB X, § 44 Rn. 87). Eine derartige Verdichtung des Ermessens lag im Hinblick auf das festgestellte Fehlverhalten der Beklagten vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Beigeladenen zu 1 und 2 waren nicht mit außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu belasten; einen Antrag haben sie nicht gestellt. Auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 und 2 sind von der Beklagten nicht zu tragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>1. Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Klägerin begehrt die Feststellung, sie sei seit 1. Juli 2015 freiwilliges Mitglied der Beklagten und damit nicht eine Geld-, Sach- oder Dienstleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>2. Gegenstand des Rechtsstreits ist das Begehren der Klägerin auf Feststellung ihrer freiwilligen Mitgliedschaft bei der Beklagten seit 1. Juli 2015. Die Klägerin verfolgt dieses Begehren im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X mit dem Ziel der (teilweisen) Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 8. August 2016, mit dem die Beklagte entschied, dass die Klägerin entgegen der ab 1. November 2014 durchgeführten obligatorischen Anschlussversicherung nicht ihr Mitglied werden könne. Streitbefangen ist damit der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 (§ 95 SGG), mit dem es die Beklagte ablehnte, den Bescheid vom 8. August 2016 aufzuheben und die Klägerin als freiwilliges Mitglied aufzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Nicht Gegenstand des Verfahrens ist die Mitgliedschaft der Klägerin in der sozialen Pflegeversicherung bei der bei der Beklagten eingerichteten Pflegekasse. Weder im Ausgangs-, Abänderungs- noch im Widerspruchsbescheid wurde eine Entscheidung hierzu getroffen. Die Bescheide ergingen nicht auch im Namen der Pflegekasse. Die Klage richtete sich ausdrücklich (nur) gegen die beklagte Krankenkasse. Auch das SG entschied nur zur Mitgliedschaft in der Krankenversicherung. Ohnehin folgt die Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung nach § 20 Abs. 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) kraft Gesetzes aus der freiwilligen Krankenversicherung (vgl. Senatsurteil vom 22. März 2019 – L 4 KR 2182/18 – juris, Rn. 21).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>3. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Das SG hätte die als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Feststellungsklage statthafte Klage nicht abweisen dürfen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf (teilweise) Rücknahme des Bescheids vom 8. August 2016 und Feststellung, dass sie ab dem 1. Juni 2015 freiwilliges Mitglied der Beklagten ist. Soweit die Beklagte mit diesem Bescheid entschied, dass die Klägerin nicht ihr freiwilliges Mitglied werden könne bzw. nicht geworden ist, ist dies im Hinblick auf den streitbefangenen Zeitraum ab 1. Juli 2015 rechtsfehlerhaft. Für die Klägerin wurde im Anschluss an ihre Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten zwar keine freiwillige Mitgliedschaft in Form einer sog. obligatorischen Anschlussversicherung gemäß § 188 Abs. 4 SGB V begründet (hierzu b) und sie ist der Beklagten mit der Erklärung ihrer Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 3. Februar 2022 auch nicht wirksam als freiwilliges Mitglied beigetreten (hierzu c). Die Klägerin ist jedoch im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob sie der Beklagten fristgerecht beigetreten wäre (hierzu d).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Rechtsgrundlage für die Rücknahme eines Bescheids über die Ablehnung der Feststellung einer freiwilligen Mitgliedschaft für die Vergangenheit ist § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X (vgl. BSG, Urteil vom 8. Dezember 1999 – B 12 KR 12/99 R – juris, Rn. 16 und 23). Die Regelung über die Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte nach § 44 Abs. 1 SGB X ist dagegen eine Spezialregelung für Bescheide über sozialrechtliche Leistungen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2019 – L 6 SB 4715/17 – juris, Rn. 36). Im Gegensatz zu dem bindenden Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X eröffnet § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X der Behörde einen Ermessensspielraum (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) bei der Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit. Der Senat geht im vorliegenden Fall davon aus, dass der Anwendungsbereich von § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X – trotz der rückwirkenden Feststellung der Mitgliedschaft einer freiwilligen Versicherung – eröffnet ist. Zwar hat das BSG bereits entschieden, dass die Beurteilung von Versicherungsverhältnissen rückwirkend grundsätzlich nicht geändert werden soll (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1999 – B 12 KR 12/99 R – juris, Rn. 24). Es hat deshalb die rückwirkende Begründung einer Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner abgelehnt, wenn die Aufhebung einer die Mitgliedschaft ablehnenden bindenden Entscheidung im Streit war oder früher eine beantragte Mitgliedschaft des Rentenantragstellers wegen Versagung der Rente geendet hatte. Das BSG hat dies auch damit begründet, dass Sachleistungen der Krankenversicherung ohnehin nachträglich nicht erbracht werden können und Beitragsnachforderungen für die Vergangenheit vermieden werden. Im vorliegenden Fall ist aber zu beachten, dass die Beklagte im Bescheid vom 8. August 2016 gegenüber der Klägerin ausgeführt hat, ihre ursprüngliche Versicherung habe geendet. Um ihren Versicherungsschutz sicherzustellen, habe sie – die Beklagte – ab 1. November 2014 eine neue Versicherung, eine obligatorische Anschlussversicherung, durchgeführt. Nach sorgfältiger Prüfung habe sie nun festgestellt, dass sie – die Klägerin – nicht ihr Mitglied werden könne. Personen, die u.a. Leistungen nach dem SGB II bezögen oder Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten oder Siebten Kapitel des SGB XII seien, seien nicht versicherungspflichtig nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V und auch eine obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 SGB V sei nicht möglich. Die Klägerin möge sich an die Beigeladene zu 1 wenden; diese sei für die Absicherung im Krankheitsfall zuständig. Die Beigeladene zu 1 hatte sich in diesem Zusammenhang gegenüber der Beklagten schriftlich bereit erklärt, die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ab dem 1. November 2014 zu tragen. Vor dem Hintergrund dieser speziellen Konstellation, in der die Beklagte durch ihren Bescheid vom 8. August 2016 selbst das Mitgliedschaftsverhältnis der Klägerin in Frage gestellt hat, hat der Senat keine Bedenken, dass der Anwendungsbereich – anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall, bei der es um die Überprüfung einer mehrere Jahre zurückliegenden Befreiungsentscheidung ging – von § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X eröffnet ist. Selbst wenn der Anwendungsbereich nicht eröffnet wäre, wäre der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 vom Senat aufzuheben gewesen, da die Klägerin im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen ist, als ob sie der Beklagten fristgerecht beigetreten wäre, weshalb dem entgegenstehende Entscheidungen aufzuheben sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Soweit die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2016 entschied, dass die Klägerin nicht ihr freiwilliges Mitglied werden konnte, mithin auch nicht geworden ist, war dies rechtswidrig, als sie davon ausging, dass die Klägerin ab 1. Juli 2015 nicht ihr freiwilliges Mitglied geworden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>a. Der Bescheid vom 8. August 2016 ist nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil der damit getroffenen Entscheidung der Bescheid vom 14. Juli 2016 entgegenstand und dieser – so die Auffassung der Beigeladenen zu 1 – mit Bescheid vom 8. August 2016 nicht wirksam aufgehoben worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Mit Bescheid vom 14. Juli 2016 traf die Beklagte keine Entscheidung über den Versicherungsstatus der Klägerin. Sie entschied insbesondere nicht, dass für die Klägerin ab dem angegebenen Zeitpunkt eine freiwillige Mitgliedschaft in Form einer sog. obligatorischen Anschlussversicherung begründet wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Für die Auslegung von Verwaltungsakten i.S. des § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gelten die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften des §§ 157, 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend. Maßgeblich ist insofern der objektive Sinngehalt der Erklärung, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalles objektiv verstehen musste (Luthe, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand Oktober 2021, § 31 Rn. 26).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Im Bescheid vom 14. Juli 2016 brachte die Beklagte im Sinne der Angaben im Betreff („Lückenlos optimal versichert – Beitragsbescheid und wichtige Informationen zur Beitragsberechnung“) zu Beginn ihrer Ausführungen zunächst die Bedeutung einer lückenlosen Kranken- und Pflegeversicherung zum Ausdruck. Sie verwies darauf, dass der Gesetzgeber dies mittlerweile auch vorschreibe und hiervon auch die Klägerin ab 1. November 2014 profitiere. Im Weiteren ging die Beklagte auf die Beitragshöhe der Kranken- und Pflegeversicherung ein, die sich nach den tatsächlichen Einnahmen des Versicherten richteten. Diese möge die Klägerin zur korrekten Berechnung des Beitrags mit den beigefügten Fragebögen mitteilen. Zuvor sei der Beitrag nach den gesetzlichen Regelungen auf der Basis der Beitragsbemessungsgrenze zu berechnen. Aufgeführt wurde sodann der sich daraus errechnende monatliche Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Gesamtbetrag für den Zeitraum vom 1. November 2014 bis 30. Juni 2016, der bis spätestens 28. Juli 2016 zu überweisen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Einen Verfügungssatz, wonach die Klägerin zum 1. November 2014 im Rahmen der sog. obligatorischen Anschlussversicherung freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden sei, enthalten diese Ausführungen nicht. Sie lassen insbesondere auch nicht erkennen, dass die Beklagte eine Entscheidung über den Versicherungsstatus der Klägerin treffen wollte. Die Darlegungen erschöpfen sich nämlich in der Mitteilung, dass die Klägerin „automatisch“ weiterhin Versicherungsschutz genieße. Die Art des Versicherungsschutzes wird weder konkret bezeichnet noch näher beschrieben. So finden sich in den Ausführungen der Beklagten weder die Begriffe „freiwillige Mitgliedschaft“ oder „freiwilliges Mitglied“; auch enthalten sie keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem automatisch weitergeführten Versicherungsschutz um eine derartige Mitgliedschaft in Form der obligatorischen Anschlussversicherung handelt. Demgegenüber beschränkte sich die Beklagte - wie dies im Betreff des Bescheides durch den Begriff „Beitragsbescheid“ auch zum Ausdruck kommt – auf eine Verfügung dahingehend, die Klägerin zur Zahlung von Beiträgen in der aufgeführten Höhe zu verpflichten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>b. An die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin schloss sich keine freiwillige Mitgliedschaft als sog. obligatorische Anschlussversicherung gemäß § 188 Abs. 4 SGB V an.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V sind versicherungspflichtig Personen in der Zeit, für die sie Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch beziehen, es sei denn, dass diese Leistung nur darlehensweise gewährt wird oder nur Leistungen nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB II bezogen werden. Nach Halbsatz 2 der Regelung gilt dies auch, wenn die Entscheidung, die zum Bezug der Leistung geführt hat, rückwirkend aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Klägerin bezog bis 30. Juni 2015 Arbeitslosengeld II und war daher während des Leistungsbezugs bei der Beklagten pflichtversichert. Soweit die Beigeladene zu 1 der Klägerin mit Bescheid vom 18. Juni 2015 rückwirkend ab 1. November 2014 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bewilligte, änderte dies hinsichtlich des Zeitraums vom 1. November 2014 bis 30. Juni 2015 an der Pflichtversicherung im Hinblick auf § 5 Abs. 1 Nr. 2a Halbsatz 2 SGB V nichts, da der Klägerin Arbeitslosengeld II tatsächlich ausgezahlt wurde. Entsprechend wurde der Bescheid vom 24. Februar 2015 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II erst ab dem 1. Juli 2015 aufgehoben und die Beigeladene zu 1 meldete für den davorliegenden Zeitraum ab 1. November 2014 einen Erstattungsanspruch an. Tatsächlich gewährte die Beigeladene zu 1 der Klägerin ab dem 1. Juli 2015 laufend nur noch Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Die Klägerin bezog seitdem kein Arbeitslosengeld II mehr.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Diese Pflichtversicherung der Klägerin setzte sich weder als Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V (sog. Auffangversicherungspflicht) und insbesondere auch nicht als freiwillige Mitgliedschaft gemäß § 188 Abs. 4 SGB V (sog. obligatorische Anschlussversicherung) fort.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind versicherungspflichtig Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren (Buchst. a) oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Abs. 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten (Buchst. b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin bei Beendigung ihrer Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V nicht. Denn aufgrund der Bewilligung von Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Bescheid der Beigeladenen zu 1 vom 18. Juni 2015) hatte die Klägerin ab 1. Juli 2015 Anspruch auf Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII und damit einen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. Eine Versicherungspflicht nach dieser Regelung machte die Klägerin im laufenden Verfahren selbst auch nicht geltend, sodass es weiterer Ausführungen hierzu nicht bedarf. Der Senat verweist daher lediglich ergänzend auf die Darlegungen des SG in der angefochtenen Entscheidung (vgl. § 153 Abs. 2 SGG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Gemäß § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V setzt sich die Versicherung für Personen, deren Versicherungspflicht oder Familienversicherung endet, mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder mit dem Tag nach dem Ende der Familienversicherung als freiwillige Mitgliedschaft fort, es sei denn, das Mitglied erklärt innerhalb von zwei Wochen nach Hinweis der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeiten seinen Austritt. Der Austritt wird nur wirksam, wenn das Mitglied das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachweist (Satz 2). Nach Satz 3 der Regelung gilt Satz 1 u.a. nicht für Personen, deren Versicherungspflicht endet, wenn ein Anspruch auf Leistungen nach § 19 Abs. 2 SGB V besteht, sofern im Anschluss daran das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachgewiesen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Der Ausschlusstatbestand des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V ist im Fall der Klägerin erfüllt. Denn bei Ende der durch den Bezug von Arbeitslosengeld II begründeten Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V zum 30. Juni 2015 verfügte die Klägerin über einen nachgehenden Leistungsanspruch gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V und im Anschluss hieran hatte sie aufgrund des Bezugs von Leistungen nach dem SGB XII einen anderweitigen Anspruch auf Absicherung Krankheitsfall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Endet die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger, besteht nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V Anspruch auf Leistungen längstens für einen Monat nach dem Ende der Mitgliedschaft, solange keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Voraussetzung hierfür ist neben der fehlenden Erwerbstätigkeit, dass kein anderweitiger aktueller Krankenversicherungsschutz besteht. Beides war bei der Klägerin der Fall. Die Klägerin übte keine Erwerbstätigkeit aus und es bestand kein den nachgehenden Leistungsanspruch verdrängendes vorrangiges Versicherungsverhältnis. Der nachgehende Leistungsanspruch nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V wird nicht selbst durch den Bezug laufender Leistungen nach dem SGB XII verdrängt. Insoweit verbleibt es bei dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XII).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Im Anschluss an den Anspruch nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB V bestand für die Klägerin im Sinne des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V ein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Bei der insoweit anzustellenden prognostischen Betrachtung bei Ende der Versicherungspflicht am 30. Juni 2015 hatte die Klägerin aufgrund der Bewilligung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mit Bescheid der Beigeladenen zu 1 vom 18. Juni 2015 Anspruch auf Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII. Bei diesem Anspruch handelt es sich um eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall. Hiervon ist die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2016 zu Recht ausgegangen (ausführlich zur anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall BSG, Urteile vom 29. Juni 2021 - B 12 KR 35/19 R und B 12 KR 33/19 R - juris). Der Empfang laufender Leistungen nach dem SGB XII steht damit sowohl dem Entstehen einer Auffangversicherungspflicht als auch der Begründung einer obligatorischen Anschlussversicherung entgegen. Im Sinne des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V ist die anderweitige Absicherung im Krankheitsfall schließlich durch Vorlage des Bescheids vom 23. November 2015 über die Bewilligung von laufenden Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, der bei der Beklagten am 2. August 2016 einging, auch nachgewiesen worden. Nachdem die Klägerin im Hinblick auf die Urteile des BSG vom 29. Juni 2021 (a.a.O.) an der zuvor vertretenen Auffassung, freiwilliges Mitglied der Beklagten gemäß § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V geworden zu sein, zuletzt im Berufungsverfahren nicht mehr festgehalten hat, bedarf es insoweit weiterer Ausführungen nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>c. Die Klägerin ist nicht durch Beitrittserklärung ihrer Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 3. Februar 2022 freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V können der Versicherung Personen beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert waren; Zeiten der Mitgliedschaft nach § 189 SGB V und Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen wurde, werden nicht berücksichtigt. Nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt der Krankenkasse im Falle des Abs. 1 Nr. 1 innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der Mitgliedschaft anzuzeigen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>(1) Die Klägerin war berechtigt, der Beklagten als freiwilliges Mitglied beizutreten. Sie war aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld II seit 18. März 2009 Pflichtmitglied und schied zum 30. Juni 2015 aus der Pflichtmitgliedschaft aus. In dem davorliegenden Zeitraum von fünf Jahren war die Klägerin somit mehr als 24 Monate versichert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>(2) Die Klägerin ist der Beklagten nicht innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der Mitgliedschaft beigetreten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Wie oben bereits dargelegt, endete die Versicherungspflicht der Klägerin zum 30. Juni 2015. Ausgehend hiervon erklärte die Klägerin ihren Beitritt zur Beklagten nicht innerhalb von drei Monaten. Ihren Beitritt erklärte sie erstmals durch ihre Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 3. Februar 2022, in dem diese ausführte, „Die Klägerin begehrt ausdrücklich die Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses in Form einer freiwilligen Versicherung mit der Beklagten“. Zu diesem Zeitpunkt war die Dreimonatsfrist des § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V bereits seit mehreren Jahren abgelaufen. Nichts anderes gilt, wenn man zugunsten der Klägerin davon ausginge, dass die Frist zur Erklärung des Beitritts erst mit der Betreuerbestellung im Februar 2017 begonnen hätte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Der Ablauf der Frist zur Anzeige des Beitritts zur freiwilligen Mitgliedschaft hat grundsätzlich den Ausschluss der Berechtigung nach § 9 SGB V zur Folge, wobei allerdings eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs. 1 SGB X in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 28. Mai 2008 – B 12 KR 16/07 R – juris, Rn. 14 m.w.N; Baierl, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, Stand Juni 2020, § 9 SGB V Rn. 75).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Soweit die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 3. Februar 2022 beantragte, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, liegen die Voraussetzungen hierfür nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>§ 27 Abs. 1 SGB X bestimmt: War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen. Nach Abs. 2 Satz 1 der Regelung ist der Antrag innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (Satz 2). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen (Satz 3). Nach § 27 Abs. 3 SGB X kann nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist bereits wegen Ablauf der Jahresfrist gemäß § 27 Abs. 3 SGB X ausgeschlossen. Deren Ablauf schließt sowohl den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als auch die Nachholung der versäumten Handlung aus. Die Jahresfrist, die am Tag nach dem Tag des Fristablaufs beginnt, und damit am 1. Oktober 2015 begann, war im Februar 2022 seit Jahren abgelaufen. Anhaltspunkte für das Vorliegen höherer Gewalt liegen nicht vor und wurden auch nicht geltend gemacht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>d. Die Klägerin ist im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs jedoch so zu stellen, als ob sie die Frist zum Beitritt als freiwilliges Mitglied eingehalten hätte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Nach der Rechtsprechung des BSG stellen die Vorschriften zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X keine abschließende Entscheidung des Gesetzgebers über die in einer verspäteten Antragstellung liegenden Folgen von Pflichtverletzungen der Verwaltung dar. Ist die Fristversäumnis auf einen Behördenfehler zurückzuführen, überschneiden sich die Tatbestände des § 27 SGB X und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, ohne dass letzterer durch ersteren ausgeschlossen würde (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – B 13 R 91/11 R – juris, Rn. 28; BSG, Urteil vom 4. September 2013 – B 12 AL 2/12 R – juris, Rn. 17).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB I]), ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Er setzt demnach eine dem Sozialleistungsträger zurechenbare behördliche Pflichtverletzung voraus, die (als wesentliche Bedingung) kausal zu einem sozialrechtlichen Nachteil des Berechtigten geworden ist. Außerdem ist erforderlich, dass durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn die Behörde ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (BSG, Urteil vom 16. März 2016 – B 9 V 6/15 Rn – juris, Rn. 29; BSG, Urteil vom 9. November 2011 – B 12 KR 21/09 R – juris, Rn. 26; BSG, Urteil vom 26. April 2005 – B 5 RJ 6/04 R – juris, Rn. 21).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob der Krankenversicherungsträger gehalten ist, Versicherte bei Beendigung der Pflichtmitgliedschaft auch ohne konkretes Beratungsbegehren darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedschaft durch einen innerhalb einer Frist von drei Monaten zu erklärenden Beitritt als freiwillige Mitgliedschaft fortgesetzt werden kann (verneinend Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 6. Mai 2002 – L 1 KR 30/01 – juris, Rn. 25 m.w.N.). Denn bei einem konkreten Anlass hat der Versicherungsträger den Versicherten aufgrund seiner Beratungspflicht gemäß § 14 SGB I auch ohne Beratungsbegehren von sich aus spontan auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die von jedem Versicherten mutmaßlich genutzt würden. Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage liegt, allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen (BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 29/13 R – juris, Rn. 29 m.w.N.; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 3. März 2011 – L 5 KR 108/10 – juris; Rn. 14). Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Im Zusammenhang mit dem Erlass des Bescheids vom 8. August 2016 trat für die Beklagte objektiv ein Anlass zur Beratung der Klägerin zutage. Zu diesem Zeitpunkt erkannte die Beklagte, dass die Pflichtversicherung der Klägerin sich nach deren Ende – entgegen ihrer ursprünglichen Annahme – nicht im Rahmen einer obligatorischen Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V als freiwillige Mitgliedschaft fortsetzte, weil die Voraussetzungen für eine solche freiwillige Mitgliedschaft tatsächlich nicht vorlagen, da der Ausschlusstatbestand des § 188 Abs. 4 Satz 3 SGB V erfüllt war, nachdem die Klägerin aufgrund der Bewilligung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mit Bescheid vom 18. Juni 2015 im Sinne der genannten Regelung einen „anderweitigen Anspruch im Krankheitsfall“ hatte. Zu diesem Zeitpunkt lag der Beklagten darüber hinaus die der Beigeladenen zu 1 zuvor übersandte „Übernahmeerklärung“ ausgefüllt und unterzeichnet vor. Damit hatte sich die Beigeladene zu 1 bereit erklärt, die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge der Klägerin ab Beginn der freiwilligen Mitgliedschaft zu tragen. Der Beklagten musste sich damit ohne weiteres aufdrängen, dass die Klägerin von der Möglichkeit einer freiwilligen Weiterversicherung Gebrauch machen würde. Da ihr gleichzeitig noch keine Beitrittserklärung der Klägerin vorgelegen hat, bestand für die Beklagte Veranlassung, die Klägerin darauf hinzuweisen, dass eine freiwillige Mitgliedschaft nicht nur im Rahmen der zunächst – jedoch zu Unrecht – durchgeführten obligatorischen Anschlussversicherung in Betracht kam, sondern grundsätzlich auch durch Beitritt als freiwilliges Mitglied hätte begründet werden können, und zwar innerhalb von drei Monaten nach dem Ende der (früheren) Mitgliedschaft. In diesem Sinne informierte die Beklagte im Übrigen auch die Beigeladenen zu 1 auf deren Wunsch, ihr zu erläutern, weshalb für die Klägerin eine freiwillige Mitgliedschaft nicht durchgeführt werden könne (vgl. Schreiben vom 8. September 2016).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Der Hinweis auf diese Beitrittsmöglichkeit war nicht wegen Ablaufs der Dreimonatsfrist entbehrlich. Nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt innerhalb von drei Monaten „nach Beendigung der Mitgliedschaft“ anzuzeigen. Vorliegend führte die Beklagte die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin nach deren Ende automatisch als freiwillige Mitgliedschaft weiter. Die Beklagte bestätigte dies im weiteren Verlauf mit ihren Ausführungen im Bescheid vom 14. Juli 2016 (sie – die Klägerin – profitiere „auch nach Beendigung der Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.11.2014 automatisch von einem optimalen Versicherungsschutz“) und erhob dementsprechend für die Zeit ab 1. November 2014, dem Zeitpunkt des von ihr (zunächst) angenommenen Beginns der freiwilligen Mitgliedschaft, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung mit einem Gesamtbetrag von 14.530,62 EUR. Mit Schreiben vom 22. Juli 2016 teilte die Beklagte auch der Beigeladenen zu 1 mit, dass die Klägerin seit 1. November 2014 als freiwilliges Mitglied bei ihr versichert sei. Für die Klägerin bestand vor diesem Hintergrund keine Veranlassung, zur Begründung einer sich an die Pflichtmitgliedschaft gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V anschließenden freiwilligen Mitgliedschaft ihr Gestaltungsrecht gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V auszuüben. Ein Anlass hierfür entstand erstmals mit Erlass des Bescheids vom 8. August 2016, mit dem die Beklagte entschied, dass die Klägerin – entgegen der tatsächlichen Durchführung – zum 1. November 2014 nicht ihr freiwilliges Mitglied geworden sei. Denn hierdurch beendete die Beklagte mit Wirkung für die Vergangenheit die als freiwillige Mitgliedschaft geführte Versicherung der Klägerin, ohne dass diese über einen anderweitigen Versicherungsschutz verfügte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Der Senat geht davon aus, dass im Fall einer solchen rückwirkenden Beendigung einer freiwilligen Mitgliedschaft die Regelung des § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V in der Form anzuwenden ist, dass die Beitrittsfrist von drei Monaten erst mit Bekanntgabe des entsprechenden Bescheids beginnt und nicht bereits mit dem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt des tatsächlichen Endes der Mitgliedschaft. Wegen der rückwirkenden Beendigung der Mitgliedschaft der Klägerin durch Bescheid vom 8.August 2016 wäre die Beklagte im Rahmen ihrer Beratungspflicht gehalten gewesen, die Klägerin auf die Möglichkeit der Fortsetzung der Mitgliedschaft als freiwillige Versicherung durch Beitritt innerhalb von drei Monaten hinzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 7. Dezember 2000 – B 10 KR 3/99 R – juris, Rn. 38 f. zum nachträglichen freiwilligen Beitritt bei rückwirkender Feststellung, dass keine Familienversicherung bestand). Dies unterließ die Beklagte im Rahmen des Bescheids vom 8. August 2016 und beschränkte sich auf die Feststellung, dass nach Ende der Pflichtversicherung eine freiwillige Mitgliedschaft im Rahmen der obligatorischen Anschlussversicherung nicht möglich sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Die dargelegte Pflichtverletzung der Beklagten führte zumindest gleichwertig ursächlich zum Versäumnis der Klägerin, ihren Beitritt zur freiwilligen Mitgliedschaft innerhalb von drei Monaten nach Zugang des Bescheids vom 8. August 2016 zu erklären. Der Klägerin ist hierdurch auch ein sozialrechtlicher Schaden entstanden, weil sie ihren originären Versicherungsschutz verlor. Dass die Beigeladenen zu 1 und 2 als Sozialhilfeträger gleichwertige Leistungen im Rahmen des § 264 SGB V zur Verfügung stellen, steht der Annahme eines Nachteils durch den Verlust des originären Versicherungsschutzes nicht entgegen. Denn die von den Beigeladenen zu 1 und 2 zu erbringenden nachrangigen Leistungen werden nur unter der Voraussetzung der Bedürftigkeit nach den Regelungen des SGB XII gewährt (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 3. März 2011, a.a.O.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Die Klägerin ist im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nach alledem so zu stellen, als ob sie die Beitrittsfrist von drei Monaten nicht versäumt hätte. Sie ist mithin im Anschluss an ihre zum 30. Juni 2015 endende Pflichtversicherung ab 1. Juli 2016 freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>An diesem Ergebnis änderte sich auch dann nichts, wenn man davon ausginge, dass die Beitrittsfrist von drei Monaten bereits am 1. Juli 2015 begann. Denn nach einem entsprechenden Hinweis auf die Beitrittsmöglichkeit im Bescheid vom 8. August 2016 wäre die Klägerin noch vor Ablauf der Ausschlussfrist des § 27 Abs. 3 SGB V, die – wie ausgeführt – am 1. Oktober 2015 begann und am 30. September 2016 endete, in der Lage gewesen, der Beklagten unter gleichzeitiger Beantragung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beizutreten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Vor diesem Hintergrund ist auch das Ermessen der Beklagten im Rahmen von § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X auf Null reduziert (vgl. Merten, in: Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB X, § 44 Rn. 87). Eine derartige Verdichtung des Ermessens lag im Hinblick auf das festgestellte Fehlverhalten der Beklagten vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Beigeladenen zu 1 und 2 waren nicht mit außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu belasten; einen Antrag haben sie nicht gestellt. Auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 und 2 sind von der Beklagten nicht zu tragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,102 | lsgbw-2022-07-22-l-4-ba-360520 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 4 BA 3605/20 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-06T10:01:34 | 2022-10-17T17:55:44 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 7. Oktober 2020 abgeändert. Der Bescheid der Beklagten vom 24. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.</p><p>Von den Kosten des Rechtsstreits tragen in beiden Rechtszügen die Klägerin ein Drittel und die Beklagte zwei Drittel. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.</p><p>Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 11.083,25 EUR endgültig festgesetzt.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Klägerin wendet sich gegen die Auflösung von Wertguthabenvereinbarungen aufgrund unzureichender Insolvenzabsicherung und die Festsetzung einer Nachforderung in Höhe von 11.083,25 EUR durch einen Betriebsprüfungsbescheid.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Klägerin betreibt in der Rechtsform einer GmbH eine Unternehmensberatung, die Software-lösungen und betriebswirtschaftliche Dienstleistungen für Abfallwirtschaftsbetriebe anbietet. Sie beschäftigt ca. 40 Mitarbeiter. Mit mehreren Arbeitnehmern, darunter die Beigeladenen zu 1 bis 4 sowie zu 7 bis 10, schloss sie im Jahr 2003 Ergänzungsvereinbarungen zum Arbeitsvertrag. Darin wurde vertraglich vereinbart, dass die Klägerin für den jeweiligen Arbeitnehmer ein individuelles Zeitwertkonto einrichtet, auf dem die Zeitwerte in Geld erfasst und geführt werden, der Arbeitnehmer durch schriftliche Erklärung auf bis zu 100 Prozent seines Arbeitsentgelts verzichten kann, die entsprechenden Beträge nicht zur Auszahlung an den Arbeitnehmer gelangen, sondern auf das Zeitwertkonto eingestellt werden und der Arbeitnehmer das Zeitwertguthaben später in einem befristeten Zeitraum für eine bezahlte Freistellung von der Arbeit nutzen kann. In der Vereinbarung wurde zudem bestimmt, dass die Klägerin zur Absicherung des jeweiligen Arbeitnehmers und zur Finanzierung des Anspruchs auf bezahlte Freistellung bei einer Bankgesellschaft ein Vermögensverwaltungsdepot einrichtet (wegen der Einzelheiten der vertraglichen Regelungen wird auf die Ergänzungsvereinbarungen über die Verwendung von Bestandteilen künftiger Ansprüche und die Bildung eines Zeitwertkontos, Prüfmittelordner I, Bezug genommen). Die daraufhin eingerichteten Wertpapierdepots verpfändete die Klägerin mit gesonderten Vereinbarungen an die jeweiligen Arbeitnehmer. Nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen und zur Änderung anderer Gesetze (FlexiG II) am 1. Januar 2009 kündigte die Klägerin die geschlossenen Ergänzungsvereinbarungen mit Wirkung zum 31. Dezember 2009, sodass weitere Einzahlungen auf die Wertguthaben nicht mehr erfolgen konnten (vgl. Schreiben der Klägerin vom 28. September 2009, Bl. 160 f. der SG-Akte). Anfang 2012 vereinbarte sie mit den betroffenen Arbeitnehmern sodann einen Nachtrag zu den Ergänzungsvereinbarungen, mit dem u.a. in Anlehnung an § 7e Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) Vorkehrungen getroffen wurden, um die bereits angesparten Wertguthaben einschließlich der darin enthaltenen Lohnsteuern gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers vollständig abzusichern (vgl. Nachtrag zur Ergänzungsvereinbarung über die Verwendung von Bestandteilen künftiger Ansprüche und die Bildung eines Zeitwertkontos, Bl. 162 ff. SG-Akte). Im März 2012 schlossen die Klägerin und die Beigeladenen zu 1 bis 10 (neue) Ergänzungsvereinbarungen über die Teilnahme an einem Zeitwertkontenmodell, in denen erneut die Einrichtung und Führung von Wertguthaben für spätere Freistellungsphasen vereinbart wurde (wegen der Einzelheiten wird auf die Ergänzungsvereinbarungen vom 12. März 2012 über die Teilnahme des Arbeitnehmers an einem Zeitwertkontenmodell im Unternehmen des Arbeitgebers, Prüfmittelordner I, Bezug genommen). Während der Laufzeit der geschlossenen Vereinbarung wurden in die Wertguthaben der Beigeladenen zu 1 bis 10 jeweils Arbeitsentgelt und der darauf entfallende Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag für Entgelte bis zur Beitragsbemessungsgrenze eingestellt. Für Entgelte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze unterblieb eine Einzahlung des Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag sowie eine Insolvenzsicherung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Ab Mai 2013 führte die Beklagte bei der Klägerin eine Betriebsprüfung für die Kalenderjahre 2009 bis 2012 durch, wobei sie u.a. auch den Insolvenzschutz im Zusammenhang mit den Wertguthabenvereinbarungen prüfte. Mit Schreiben vom 29. November 2013 hörte sie die Klägerin zu einer Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von insgesamt 13.340,08 EUR an. In mehreren Fällen, darunter die Prüffälle der Beigeladenen zu 1 bis 10, beanstandete sie, dass die von der Klägerin gewählten Sicherungsmittel den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht in voller Höhe umfassten und deshalb keinen ausreichenden Insolvenzschutz darstellten. Im Rahmen der stichprobenweise durchgeführten Prüfung sei festgestellt worden, dass bei Überschreitung der Beitragsbemessungsgrenze die Einstellung der Arbeitgeberanteile nicht in voller Höhe erfolgt sei. Da in der Freistellungsphase auch über der Beitragsbemessungsgrenze erzieltes und ins Wertguthaben eingestelltes Arbeitsentgelt regelmäßig beitragspflichtig entspart werde, sei der Arbeitgeberbeitragsanteil auf die volle Höhe des Arbeitsentgelts ohne Begrenzung auf die Beitragsbemessungsgrenze einzustellen. Die Beklagte wies darauf hin, dass die betroffenen Wertguthabenvereinbarungen deshalb als von Anfang an unwirksam anzusehen seien, die Wertguthaben anstelle der Rückabwicklung wie in einem Störfall aufgelöst und der Beitragsentrichtung unterworfen werden könnten, die Klägerin aber auch die Möglichkeit habe, den Mangel innerhalb von zwei Monaten zu beheben und eine ausreichende Insolvenzsicherung nachzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Stellungnahme vom 2. Januar 2014 wies die Klägerin die Beanstandungen der Beklagten zurück. Die Forderung der Beklagten, in die Wertguthaben Arbeitgeberbetragsanteile auf die volle Höhe des Arbeitsentgelts ohne Begrenzung auf eine Beitragsbemessungsgrenze einzustellen, finde im Gesetz keine Grundlage und verstoße auch gegen das beitragsrechtliche Entstehungsprinzip. Denn in der Ansparphase verhindere das Überschreiten der Beitragsbemessungsgrenze zunächst eine Beitragspflicht. Diese entstehe vielmehr erst, wenn das Wertguthaben in einer Freistellungsphase beitragspflichtig werde. Die gesetzlichen Vorschriften zum Insolvenzschutz von Wertguthaben dienten dabei allein dazu, den Gesamtsozialversicherungsbeitrag im Insolvenzfall als möglichen Störfall abzusichern. In einem Störfall müsse ein Gesamtsozialversicherungsbeitrag aber nur gezahlt werden, wenn die sog. „SV-Luft“ (d.h. die Differenz zwischen der Beitragsbemessungsgrenze des jeweiligen Versicherungszweiges und dem im betreffenden Zeitraum erzielten beitragspflichtigen Arbeitsentgelt, vgl. Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Sozialversicherung zur Sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom 31. März 2009, unter 4.6.2.1 – im Folgenden: Rundschreiben der Spitzenverbände vom 31. März 2009) größer Null sei, was bei den beanstandeten Fällen gerade nicht der Fall sei. In den Prüffällen sei den Wertguthaben der betroffenen Arbeitnehmer deshalb überhaupt kein Gesamtsozialversicherungsbeitrag hinzuzurechnen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Nach nochmaliger Überprüfung des Sachverhaltes akzeptierte die Beklagte daraufhin bei einigen Arbeitnehmern – darunter dem Beigeladenen zu 9 – den Insolvenzschutz der geschlossenen Wertguthabenvereinbarungen als ausreichend. Dies teilte sie der Klägerin mit Schreiben vom 26. Mai 2014 mit und hörte zugleich nochmals zur beabsichtigten Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen aus unwirksamen Wertguthabenvereinbarungen an. Die vorausgegangene Anhörung habe nicht die zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeiträge aus den aufzulösenden Wertguthaben - unter Berücksichtigung der SV-Luft - beinhaltet, sondern lediglich die zu wenig eingestellten Arbeitgeberbeitragsanteile ausgewiesen. Da die fehlenden Arbeitgeberbeitragsanteile bislang nicht eingestellt worden seien und somit die gewählten Sicherungsmittel nicht den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag in voller Höhe umfassten, sei die Wertguthabenvereinbarung als von Anfang an unwirksam anzusehen. Es sei daher beabsichtigt, die Wertguthabenvereinbarungen wie in einem Störfall aufzulösen. Das habe zur Folge, dass die aus dem Wertguthaben zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrage sofort fällig würden, es sei denn, ein geeigneter Insolvenzschutz werde umgehend nachgewiesen. Hinsichtlich der Zusammenstellung der Beiträge wurde in dem Schreiben auf die beigefügte Anlage „Berechnung der Beiträge“ verwiesen, in welcher für die Beigeladenen zu 1, zu 3 bis 6 und zu 10 eine Beitragssumme aus der Auflösung der Wertguthaben von insgesamt 21.972,83 EUR ermittelt wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Klägerin äußerte sich hierzu mit Schreiben vom 11. Juni 2014 und gab an, die beanstandeten Wertguthaben seien vollständig gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers abgesichert. Bei allen genannten Arbeitnehmern sei die Wertguthabenvereinbarung vor dem 31. Dezember 2008 und damit vor Inkrafttreten der Neuregelung des FlexiG II geschlossen worden, sodass die Übergangsregelung des § 116 Abs. 3 SGB IV anzuwenden sei. Lediglich mit den Beigeladenen zu 5 und 6 seien die Wertguthabenvereinbarungen erst zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen worden. Mit jedem der Arbeitnehmer seien Vorkehrungen für den Fall der Insolvenz vereinbart worden. Für die Arbeitnehmer sei jeweils ein Wertpapierdepot bei einer deutschen Bank eingerichtet worden, auf das die Vergütungsbestandteile, auf deren Auszahlung die Arbeitnehmer zugunsten ihres Wertguthabens verzichtet hätten, vollständig eingezahlt worden seien. Zur Absicherung sei ein schuldrechtliches Verpfändungsmodell mit ausreichender Sicherung gegen Kündigung vereinbart worden. Die Arbeitgeberanteile zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag seien mit in die Wertpapierdepots eingezahlt worden. Für Arbeitsentgelte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze seien aber entgegen der Forderung der Beklagten Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht einzustellen. Denn andernfalls würden die Arbeitgeber in unzumutbarer Weise belastet und die betroffenen Arbeitnehmer ungerechtfertigt bevorzugt. Denn die Arbeitgeber würden verpflichtet, Beitragszahlungen zu leisten, die sie zum Zeitpunkt der tatsächlichen Arbeitsleistung ohne Berücksichtigung der Wertguthabenvereinbarung überhaupt nicht erbringen müssten. Die betreffenden Arbeitnehmer würden in einem Störfall demgegenüber deutlich bessergestellt als Arbeitnehmer, die nur Arbeitsentgelte unterhalb der Beitragsbemessungsgrenzen in ihr Wertguthaben eingestellt hätten. Denn ihre Wertguthaben seien in einem Störfall bei einer SV-Luft gleich Null nicht um Sozialversicherungsbeiträge zu kürzen, sodass ihnen der vom Arbeitgeber in das Wertguthaben für Vergütungsbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze eingestellte Anteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag als zusätzliches Arbeitsentgelt zufließen würde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Nach weiterem Schriftwechsel stellte die Beklagte schließlich mit Bescheid vom 24. August 2015 fest, dass die sich aus der Prüfung ergebende Nachforderung 11.083,25 EUR betrage. Es sei festgestellt worden, dass die von der Klägerin gewählten Sicherungsmittel den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht in voller Höhe umfassten, da bei mehreren Arbeitnehmern für Entgeltbestandteile über der Beitragsbemessungsgrenze keine Arbeitgeberanteile zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag insolvenzgesichert worden seien. Die Klägerin habe die Möglichkeit, den Mangel innerhalb von zwei Monaten zu beheben und eine ausreichende Insolvenzsicherung (nachträglich) nachzuweisen. Werde der Nachweis einer geeigneten, ausreichenden Insolvenzsicherung nicht innerhalb dieser Frist erbracht, werde der aus dem Wertguthaben zu zahlende Gesamtsozialversicherungsbeitrag sofort fällig und sei innerhalb der Zahlungsfrist, d.h. bis zum drittletzten Bankarbeitstag des Monats, der dem Datum des Bescheides folge, an die zuständige Einzugsstelle zu zahlen. Im Bescheid wurde sowohl hinsichtlich der sich im Einzelnen ergebenden Beträge, die unter Berücksichtigung der Zahlungsfrist an die Einzugsstellen zu zahlen seien, als auch bezüglich der in den Wertguthaben nicht eingestellten Arbeitgeberbeitragsanteile auf die Anlage bzw. beigefügten Berechnungsanlagen verwiesen. In der Anlage „Berechnung der Beiträge nach § 28p Abs. 1 SGB IV“ berechnete die Beklagte dabei für die Beigeladenen zu 1 bis 10 für Zeiträume aus den Jahren 2003 bis 2012 jeweils die Differenz zwischen den bisher im Wertguthaben eingestellten Beiträgen und dem „Beitrag neu“ und wies in der Anlage „Nachweis der Beiträge nach § 28p Abs. 1 SGB IV“ für die einzelnen Kalenderjahre die auf die jeweils zuständige Einzugsstelle entfallende Summe der auf diese Weise ermittelten Beiträge als „Summierung-Nachberechnung“ aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Beklagte unterrichtete in der Folge die betroffenen Einzugsstellen - darunter die Beigeladenen zu 11 und 13 - zunächst über die nachberechneten Beiträge, teilte diesen mit Schreiben vom 22. September 2015 dann aber mit, dass sie den Bescheid vom 24. August 2015 als gegenstandslos betrachten sollten. Mit dem Bescheid sei festgestellt worden, dass die gewählten Sicherungsmittel den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht in voller um Höhe umfassten. Aus Vereinfachungsgründen seien die fehlenden Arbeitgeberanteile dabei als „Nachberechnungen“ ausgewiesen worden. Es handle sich nicht um fällige Sozialversicherungsbeiträge. Vielmehr sei der Klägerin die Möglichkeit eingeräumt worden, den Mangel innerhalb von zwei Monaten zu beheben und eine ausreichende Insolvenzsicherung nachzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Klägerin legte gegen den Prüfbescheid Widerspruch ein. Sie machte im Wesentlichen geltend, die Forderung, Beiträge auch für Entgeltbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze in die Wertguthaben einzuzahlen und vollständig gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers abzusichern, lasse sich nur aus dem Rundschreiben der Spitzenverbände vom 31. März 2009 ableiten. Einer derartigen Verwaltungsanweisung komme jedoch keine Gesetzesqualität zu. Den Spitzenverbänden der Sozialversicherung sei daran gelegen gewesen, das durch die Neuregelung des FlexiG II entstandene Problem zu beheben, dass Beschäftigte nach Beendigung ihrer Beschäftigung nun die Übertragung des Wertguthabens auf die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund verlangen könnten und diese dann in die Arbeitgeberpflichten eintrete und ggf. Arbeitgeberbeitragsanteile zu entrichten habe, die wegen Überschreitens der Beitragsbemessungsgrenze zuvor nicht in das Wertguthaben eingestellt worden seien. Denn die DRV Bund verfüge weder über die hierzu notwendigen Mittel, noch über die rechtliche Möglichkeit, vom bisherigen Arbeitgeber den fehlenden Arbeitgeberbeitragsanteil nachzufordern. Die Behebung des Problems sei jedoch Aufgabe des Gesetzgebers. Im Übrigen habe die Beklagte Fragen zum Gegenstand der Prüfung gemacht, die überhaupt kein zulässiger Gegenstand eines Prüfbescheides seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Über das anhängige Widerspruchsverfahren informierte die Beklagte die Einzugsstellen mit Schreiben vom 16. November 2015. Dabei teilte sie mit, dass der Bescheid vom 24. August 2015 entgegen der ursprünglichen Mitteilung nicht insgesamt gegenstandslos sei. Die früheren Ausführungen hätten sich lediglich auf die spätere Fälligkeit aufgrund der Verbeitragung des Wertguthabens im Rahmen eines Störfalls bezogen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Den Widerspruch der Klägerin wies der Widerspruchsauschuss der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 zurück. Zur Begründung führte er aus, durch den angefochtenen Prüfbescheid seien die angesparten Wertguthaben im Rahmen einer Rückabwicklung entsprechend dem Entstehungsprinzip verbeitragt worden. Hierbei habe sich zum Zeitpunkt der Betriebsprüfung eine Beitragsnachforderung für noch nicht verjährte Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagen in Höhe von 11.083,25 EUR ergeben. Die Verbeitragung der Arbeitsentgelte sei aufgrund der unvollständigen Insolvenzsicherung für Entgeltbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze erfolgt. Seit dem 1. Januar 2009 schreibe § 7d SGB IV vor, dass Wertguthaben als Arbeitsentgeltguthaben einschließlich des darauf entfallenden Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu führen seien. Demnach setze sich das Wertguthaben aus dem Entgeltguthaben und den auf dieses Entgeltguthaben entfallenden Arbeitgeberbeitragsanteilen zusammen. Dies gelte auch für Entgeltbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze, die in das Wertguthaben eingebracht worden seien (Bezugnahme auf BT-Drs. 16/10289 und den Frage-Antwort-Katalog der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung zum Versicherungs-, Beitrags- und Melderecht für flexible Arbeitszeitregelungen vom 13. April 2010, Ziffer 4.5.4). Dass beim Aufbau eines Wertguthabens durch Einbringung von Arbeitsentgelt zuzüglich des Arbeitgeberanteils die Beitragsbemessungsgrenze nicht zu berücksichtigen sei, sei nochmals im Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des FlexiG II vom 14. März 2012 (BT-Drucksache 17/8991) klargestellt worden. Die Rentenversicherungsträger hätten daher im Rahmen der Prüfung nach § 7e SGB IV festzustellen, ob auch bei Entgeltbestandteilen über der Beitragsbemessungsgrenze, die seit 1. Januar 2009 in Wertguthaben angespart würden, der entsprechende Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag vom Arbeitgeber in das Wertguthaben eingestellt und gegen Insolvenz gesichert worden sei. Dies gelte hinsichtlich der Prüfung der Insolvenzsicherung auch für die Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag für vor 2009 angesparte Wertguthaben. Denn bereits nach alter Rechtslage (§ 7a, § 7d i.V.m. § 7b SGB IV a.F.) habe sich der Insolvenzschutz auf den Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag erstreckt, sodass sich durch das FlexiG II hinsichtlich der Verpflichtung zur Insolvenzsicherung des Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag und dessen abzusichernden Umfangs keine Änderung ergeben habe und deshalb insoweit auch nicht zwischen Wertguthaben zu differenzieren sei, die vor oder ab 2009 aufgebaut worden seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Hiergegen erhob die Klägerin am 25. Februar 2016 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG), mit der sie sich gegen die Beitragsnachforderung wandte und die von den Einzugsstellen auf die Forderung eingezogen Beträge nebst gesetzlicher Zinsen erstattet verlangte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Zur Begründung nahm sie auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug und führte ergänzend aus, die Beklagte habe die Beiträge rechtsgrundlos nacherhoben. Sowohl vor dem 1. Januar 2009 als auch danach seien in die Wertguthaben der Beigeladenen zu 1 bis 10 für eingebrachte Vergütungsanteile auch Arbeitgeberanteile zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag bis zum Erreichen der jeweiligen Beitragsbemessungsgrundlage eingezahlt worden. Damit sei sie ihrer Verpflichtung, das Wertguthaben einschließlich des darin enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrages gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers vollständig abzusichern, vollumfänglich nachgekommen. Nach den gesetzlichen Regelungen sei der Arbeitgeber nicht verpflichtet, während der Arbeitsphase auch für über die Beitragsbemessungsgrenze hinausgehendes Arbeitsentgelt einen Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag in das Wertguthaben einzustellen. Denn die Beitragsbemessungsgrenze, welcher das Bundesverfassungsgericht und das Bundessozialgericht (BSG) in ihrer Rechtsprechung zum Rentenversicherungsrecht seit jeher einen hohen Stellenwert einräumten (Verweis auf BSG, Urteil vom 10. April 2003 – B 4 RA 41/02 R –), gebe das höchste Bruttoentgelt für die Berechnung des Beitrages zur jeweiligen Sozialversicherung an. Ihr Überschreiten in der Ansparphase schließe das Entstehen einer Beitragspflicht - auch für den Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag - aus. Eine Beitragspflicht entstehe vielmehr erst, wenn das Wertguthaben in der Freistellungsphase ausgezahlt und damit beitragspflichtig werde. Dann sei der Arbeitgeber aufgrund der Fiktion eines Beschäftigungsverhältnisses während der Freistellung von der Arbeit verpflichtet, das Arbeitsentgelt bis zur Höhe der dann geltenden Beitragsbemessungsgrenze zu den dann geltenden Beitragssätzen zu verbeitragen und den Gesamtsozialversicherungsbeitrag einschließlich des darin enthaltenen Arbeitgeberbeitragsanteils an die Beitragseinzugsstellen abzuführen. Zwar seien Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam verpflichtet, Vorkehrungen zu treffen, um das Wertguthaben einschließlich des darin enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrages gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers vollständig abzusichern. Bei einer Insolvenz des Arbeitgebers trete allerdings ein sog. Störfall ein, bei dem nach § 23b Abs. 2 Satz 1 SGB IV nur der Teil des Wertguthabens beitragspflichtig werde, der bereits zum Zeitpunkt der Arbeitsleistung beitragspflichtig gewesen wäre, wenn er nicht in ein Wertguthaben übertragen worden wäre. Auch nur dieser Teil des Wertguthabens sei deshalb gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers abzusichern, was sie und die Beigeladenen getan hätten. Der Gesetzgeber habe ausschließlich für den Fall, dass der Arbeitgeber infolge Insolvenz zur Erfüllung seiner beitragsrechtlichen Verpflichtungen nicht mehr in der Lage sei, eine verpflichtende Insolvenzsicherung der Wertguthaben und der darauf entfallenden Arbeitgeberbeitragsanteile normiert, keineswegs aber die von der Beklagten bereits für die Ansparphase geforderte vorweggenommene Verbeitragung in einer (ungewissen) späteren Freistellungsphase vorgesehen. Mit der Anweisung im gemeinsamen Rundschreiben vom 31. März 2009, bei der Einzahlung von Arbeitsentgelt und des dazugehörigen Arbeitgeberanteils in Wertguthaben die Beitragsbemessungsgrenze nicht zu berücksichtigen, hätten die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger deshalb gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstoßen. Da die Beklagte im Rahmen der Betriebsprüfung nur die Erfüllung der Pflichten von Arbeitgebern nach dem SGB IV prüfen dürfe, habe sie mit dem angefochtenen Bescheid ihren Prüfauftrag überschritten. Denn sie habe auch Arbeitgeberanteile an den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen als vor einer Insolvenz zu schützen ausgewiesen, die in einem solchen Störfall vom Arbeitgeber nicht zu zahlen wären. Auch in den streitigen Prüffällen seien im Falle einer Auflösung der Wertguthaben im Störfall keine Beiträge mehr nachzuentrichten. Als Nachweise legte die Klägerin u.a. eine Aufstellung der aufgeschobenen Gehaltsbestandteile sowie Depotauszüge vor (wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 144 f. und 205 ff. der SG-Akten verwiesen).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid entgegen. Zudem führte sie aus, das Gesetz fordere in § 7d Abs. 1 SGB IV, dass zum Arbeitsentgeltguthaben stets der sich aus diesem Betrag zu errechnende Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag ins Wertguthaben einzustellen sei. Der Gesetzgeber habe insoweit bewusst den Begriff „Arbeitsentgelt“ und nicht den Begriff der beitragspflichtigen Einnahme verwandt. Bereits aus dem Gesetz leite sich daher ab, dass der Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag gemeint sei, der grundsätzlich auf die Arbeitsentgeltsumme entfalle. Eine explizite Beschränkung auf die Beitragsbemessungsgrenze, wie sie der Gesetzgeber in Vorschriften zur Beitragsberechnung oder zur Bestimmung der beitragspflichtigen Einnahme sonst vorgesehen habe (bspw. § 22 Abs. 2 SGB IV, § 23a Abs. 3 und 4 SGB IV, § 23b Abs. 1, 2 und 2a SGB IV), enthalte das Gesetz gerade nicht. Die beanstandeten Wertguthabenvereinbarungen beträfen Mischfälle mit Wertguthaben vor und nach dem 1. Januar 2009 sowie nach dem 1. Januar 2009 geschlossene Wertguthabenvereinbarungen. In den streitgegenständlichen Mischfällen sei ein Störfall bereits eingetreten, da die Altverträge der Beigeladenen zu 1 bis 4 sowie 8 bis 10 von der Klägerin zum 31. Dezember 2009 gekündigt und anschließend nicht nahtlos fortgeführt worden seien. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass von der Klägerin für Zeiten vor 2009 keine Arbeitgeberanteile in die Wertguthaben eingezahlt worden seien, da dies erst für ab dem 1. Januar 2009 ins Wertguthaben eingestelltes Arbeitsentgelt gesetzlich vorgeschrieben sei. Zudem könne festgestellt werden, dass für Wertguthaben, welches oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze der Renten- und Arbeitslosenversicherung angespart worden sei, keine Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag in die Wertguthaben eingestellt worden seien. Dies werde von der Klägerin auch nicht bestritten. Im Rahmen einer Betriebsprüfung seien die Wertguthabenvereinbarungen durch Verwaltungsakt von Beginn an aufzulösen, wenn Feststellungen im Sinne von § 7e Abs. 6 Nr. 1 bis 4 SGB IV getroffen würden. Anstelle einer Rückabwicklung der Wertguthaben könne nach dem Rundschreiben der Spitzenverbände vom 31. März 2009 das Wertguthaben auch wie in einem Störfall aufgelöst und verbeitragt werden. Bei einer Störfallberechnung sei Bemessungsgrundlage ausschließlich das Wertguthaben und zwar höchstens bis zu der für den einzelnen Versicherungszweig für die Dauer der Arbeitsphase festgestellten sog. SV-Luft. Während in der Anhörung vom 26. Mai 2014 die Wertguthaben der betroffenen Arbeitnehmer der SV-Luft gegenübergestellt worden seien, sei im Bescheid vom 24. August 2015 entgegen der Ankündigung keine Störfallberechnung, sondern abweichend hiervon eine sogenannte Rückrechnung (Zuordnung der Wertguthaben in den einzelnen Monaten) vorgenommen worden. Die im Bescheid hierzu ermittelten Beträge ließen sich anhand der vorliegenden Akten nicht vollständig nachvollziehen. Es bestünden nicht nachvollziehbare Abweichungen zwischen der Verbeitragung durch den angefochtenen Bescheid, den Werten aus der Anhörung und den nun nochmals durchgeführten Berechnungen der Beiträge.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Im Verlauf des Verfahrens erstellte die Beklagte zunächst verschiedene Aufstellungen und Beitragsberechnungen auf der Grundlage der vorliegenden Unterlagen und Informationen (wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 65 bis 68, Bl. 178-179 und Bl. 188 f. der SG-Akte Bezug genommen). Auf der Grundlage dieser Berechnungen unterbreitete sie einen Vergleichsvorschlag, wonach sie die Fälle der Beigeladenen zu 1, zu 2, zu 3, zu 4, zu 7 und zu 10 nicht mehr beanstandete und insoweit keine Forderung mehr geltend mache (vgl. Bl. 178 ff. sowie 188 f der SG-Akte). Mit Schreiben vom 20. Mai 2020 erklärte die Beklagte sodann, nach Rücksprache mit der Prüferin seien mit dem angefochtenen Bescheid vom 24. August 2015 entgegen der bisherigen Ausführungen keine Beitragsforderungen festgestellt, sondern vielmehr die fehlenden Arbeitgeberanteile für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze, mithin die noch nicht insolvenzgesicherten Arbeitsentgelte, dargestellt worden. Hierzu seien die eingestellten Wertguthabenentgelte fiktiv verbeitragt, anschließend die so ermittelten Sozialversicherungsbeiträge mit den bereits eingestellten Arbeitgeberanteilen verglichen und die sich ergebende Differenz der zu wenig eingestellten Arbeitgeberanteile dann mit dem Bescheid ausgewiesen worden. Eine Störfallberechnung sei nach Auskunft der Prüferin mit dem Bescheid nicht erfolgt. Vielmehr habe der Klägerin nochmals die Möglichkeit gegeben werden sollen, die fehlenden Arbeitgeberanteile nachzuweisen bzw. ins Wertguthaben „nachzuschießen“, um einen Störfall zu verhindern. Für den Fall, dass die Klägerin dieser Aufforderung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von zwei Monaten nachkomme, sei beabsichtigt gewesen, in einem zweiten Bescheid die Beitragsforderungen aufgrund einer Störfallberechnung festzusetzen. Lediglich in der Anhörung vom 26. Mai 2014 sei der Klägerin bereits mitgeteilt worden, welche Gesamtsozialversicherungsbeiträge fällig würden, sofern die Arbeitgeberanteile für Entgelte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze nicht ins Wertguthaben eingestellt würden. Dabei hätten sich bei der Störfallberechnung für die Beigeladenen zu 2, zu 8 und zu 9 aufgrund der fehlenden SV-Luft zwar keine beitragsrechtlichen Beanstandungen ergeben. Da aber auch bei diesen Arbeitnehmern Arbeitgeberanteile von der Klägerin nicht in voller Höhe ins Wertguthaben eingestellt worden seien, seien die Fälle dennoch zu beanstanden, mit der Folge, dass auch in diesen Fällen die Wertguthabenvereinbarungen aufzulösen seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Mit Beschluss vom 23. Juli 2020 lud das SG die betroffenen Arbeitnehmer und nach entsprechender Benachrichtigung der anderen Sozialversicherungsträger (§ 75 Abs. 2b Sozialgerichtsgesetz <SGG>) mit Beschluss vom 20. August 2020 auch die Krankenkasse des Beigeladenen zu 7 auf ihren Antrag zum Verfahren bei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Mit Urteil vom 7. Oktober 2020 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die von der Beklagten vorgenommene Prüfung sei nicht zu beanstanden. Die streitigen Wertguthabenvereinbarungen seien aufgrund fehlender (vollständiger) Insolvenzsicherung gemäß § 7e Abs. 6 Satz 1 Nr. 4. Satz 3 SGB IV als von Anfang an unwirksam anzusehen und daher aufzulösen. Denn die Arbeitgeberbeitragsanteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze seien in die Wertguthaben nicht eingestellt und gegen Insolvenz gesichert worden. Der Betrag, welcher in das Wertguthaben einzustellen sei, umfasse die Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag in Höhe des gesamten Arbeitsentgelts ohne Berücksichtigung einer Beitragsbemessungsgrenze. Dies entspreche den Ausführungen in den Gesetzesmaterialien (Verweis auf BT-Drs. 17/8991, S. 17 und 22). Eine andere Sichtweise führe dazu, dass das Wertguthaben in allen Fällen, in denen Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze angespart werde, systematisch weniger umfasse, als in der Freistellungsphase benötigt werde. Denn auf die jeweils in der Freistellungsphase gezahlten Beträge seien Beiträge auch dann zu erheben, wenn das in das Wertguthaben eingestellte Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze gelegen habe. Bei diesem Geldbedarf für die Freistellungsphase würde ein Verständnis, dass nur Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag einzustellen seien, soweit das Arbeitsentgelt während der Ansparphase unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liege, die Zielsetzungen des Gesetzes verkennen. Ein zentrales Anliegen des Gesetzesgebers sei bei der Neuregelung der Wertguthaben durch das FlexiG II der notwendige Erhalt der für das Wertguthaben gestundeten Sozialversicherungsbeiträge und der Einkommensteuer im Insolvenzfall sowie die Vermeidung des für die Beschäftigten bestehenden Risikos gewesen, dass im Störfall das Wertguthaben nicht zur Finanzierung einer Freistellungsphase genutzt werden könne. Der Gesetzgeber habe es dabei als angemessen angesehen, das dem Beschäftigten zustehende Wertguthaben für den Fall der Insolvenz des Arbeitgebers in besonderer Weise vor dem Verlust der Insolvenz zu schützen. Diese Ziele könnten nicht erreicht werden, wenn das zu führende Wertguthaben nicht die Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag umfasse, die in der Freistellungsphase erwartbar seien. Die von der Klägerin vorgenommene „Störfallbetrachtung", d.h. die Einstellung lediglich von Arbeitgeberbeitragsanteilen, wie sie im Störfall benötigt würden, sei nicht mit dem Sinn und Zweck der eingeführten Insolvenzschutzregelungen vereinbar. Die Insolvenzsicherung solle - mit dem Ziel des umfassenden Schutzes des Arbeitsnehmers - gewährleisten, dass die Pflichten des Arbeitgebers aus dem Wertguthaben auch in der Insolvenz noch erfüllt werden könnten. Der Regelfall der Erfüllung sei aber die Verwendung des Wertguthabens. Auch im Zusammenhang mit einer Übernahme der Wertguthaben durch andere Arbeitgeber ergäben sich bei fehlender Einstellung der Arbeitgeberbeitragsanteile Folgeprobleme, die sich nachteilig auf den Arbeitnehmer auswirkten. Die Beklagte sei auch berechtigt gewesen, eine „zweiteilige" Prüfung (einerseits Feststellung, dass Arbeitgeberbeitragsanteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze nicht eingestellt worden seien, und anderseits Feststellung, dass dementsprechend hierfür auch kein Insolvenzschutz vorliege) vorzunehmen. Denn die Rentenversicherungsträger prüften bei der Arbeitgeberprüfung sämtliche Arbeitgeberpflichten, insbesondere auch die des Beitrags- und Melderechts der Sozialversicherung, und hätten hierbei auch in anderen Fällen die Möglichkeit, mit den Mitteln des Sozialversicherungsrechts privatrechtliche Verträge und Abreden in ihrer Gültigkeit und Anerkennung auszuschließen. Die Ermächtigung der Rentenversicherung zur Arbeitgeberprüfung beziehe sich auf sämtliche im SGB IV normierten Arbeitgeberpflichten, zu denen auch ohne ausdrückliche Nennung die Verpflichtungen zum Insolvenzschutz und andere Nebenpflichten zur Vereinbarung von Wertguthaben gehörten. Um überhaupt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7e Abs. 6 SGB IV beurteilen zu können, müsse die Erfüllung der Arbeitgeberpflicht zur ordnungsgemäßen Führung und Verwaltung von Wertguthaben von der Beklagten überprüft werden können. Die Klägerin sei schließlich auch zur sofortigen Zahlung der ausgewiesenen Arbeitgeberbeitragsanteile verpflichtet gewesen. Die Wertguthabenvereinbarungen sei als von Anfang an unwirksam anzusehen und aufzulösen. Die Rechtsfolge des § 7e Abs. 6 Satz 3 SGB IV führe dazu, dass eine Wertguthabenvereinbarung als nicht, d.h. zu keiner Zeit, existent fingiert werde. Demnach scheide auch die Anwendung der Störfallverbeitragung gemäß § 23b SGB IV aus. Denn diese Vorschrift setze in allen ihren Regelungen, auch im Hinblick auf einen (wirklichen) Störfall, tatbestandsmäßig eine Wertguthabenvereinbarung voraus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Am 16. November 2020 hat die Klägerin hiergegen Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Zur Begründung wird - unter Wiederholung ihres Vorbringens aus erster Instanz - ergänzend ausgeführt, auch im Störfall sei allein der im Zeitpunkt seines Eintritts zuständige Arbeitgeber zur Abrechnung des Wertguthabens gegenüber dem Arbeitnehmer und zur Meldung und Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen verpflichtet. Eine Verpflichtung zum voraussorgenden Schutz des Arbeitgebers der Ansparphase für künftig möglicherweise entstehende Arbeitgeberbeitragsanteile im Falle einer überhaupt noch nicht feststehenden und möglicherweise auch nie eintretenden Freistellung von der Arbeitsleistung, wie sie die Beklagte fordere, finde im Gesetz keine Grundlage. Insoweit habe sich der Gesetzgeber seit jeher darauf verlassen, dass ein durch eine Insolvenz nicht daran gehinderter Arbeitgeber seinen sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen und im Übrigen auch den arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nachkomme. Nur für den Fall, dass der Arbeitgeber durch eine Insolvenz daran gehindert sei, treffe die gesetzliche Insolvenzschutznorm des § 7e SGB IV Vorsorge. Entgegen der Auffassung des SG sei die Finanzierung einer Freistellungsphase beim Eintritt des Störfalls Insolvenz auch nicht möglich. Denn das Beschäftigungsverhältnis mit der Möglichkeit zur Freistellung und einer daran anknüpfenden Beschäftigungsfiktion bestehe in diesem Fall nicht mehr fort. Es treffe deshalb auch nicht zu, dass es ein zentrales Anliegen des Gesetzgebers gewesen sei, über den Insolvenzschutz hinaus Arbeitnehmer von einem Risiko freizustellen, dass im Störfall der Insolvenz das Wertguthaben nicht zur Finanzierung einer Freistellungsphase genutzt werden könne.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 7. Oktober 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die mit dem Bescheid geltend gemachte Beitragsnachforderung, soweit sie die Arbeitgeberanteile für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze zum Gegenstand hat und von den Einzugsstellen daraufhin eingezogen wurde, nebst gesetzlichen Zinsen zu erstatten,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>hilfsweise die Revision zuzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>die Berufung zurückzuweisen,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>hilfsweise die Revision zuzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Mit Beschluss vom 25. Februar 2020 hat der Senat die Bundesagentur für Arbeit sowie weitere Kranken- und Pflegekassen der betroffenen Arbeitnehmer zum Verfahren beigeladen. Die Beigeladenen haben auch im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verfahrensakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>1. Die Berufung der Klägerin ist gemäß § 143 SGG statthaft. Einer Zulassung der Berufung hat es nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht bedurft. Denn die Klägerin verfolgt mit der Berufung ihre vom SG vollumfänglich abgewiesene Klage auf Aufhebung der mit dem angefochtenen Bescheid festgesetzten Forderung in Höhe von 11.083,25 EUR und auf Rückerstattung entsprechender Beitragszahlungen weiter, sodass der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 EUR übersteigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Die Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere hat die Klägerin die Berufung nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht beim LSG eingelegt. Da das SG gemäß § 63 Abs. 2 SGG i.V.m. §§ 172 Abs. 1 Satz 1, 175, 176 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) eine Zustellung des Urteils vom 7. Oktober 2020 an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin veranlasst hat, ein Empfangsbekenntnis oder eine Zustellurkunde (vgl. §§ 175 Abs. 4, 182 ZPO) jedoch nicht zur Akte gelangt ist, lässt sich eine ordnungsgemäße Zustellung des angefochtenen Urteils nicht nachweisen. Das Urteil gilt deshalb nach § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Prozessbevollmächtigten der Klägerin tatsächlich zugegangen ist. Das ist nach ihrem (nicht widerlegbaren) Vorbringen am 19. Oktober 2020 gewesen, sodass die am 16. November 2020 mittels Telefax eingelegte Berufung die Berufungsfrist von einem Monat nach Zustellung des Urteils gewahrt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>2. Gegenstand des Verfahrens und auch des Berufungsverfahrens ist zunächst die Klage auf Aufhebung des Prüfbescheides vom 24. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 (§ 95 SGG). Diese Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG) hat sich nicht durch Klagerücknahme im Berufungsverfahren erledigt (§ 153 Abs. 1, § 102 Abs. 1 SGG). Zwar hat die Klägerin den ursprünglich mit der Klage und Berufung verfolgten Anfechtungsantrag schriftsätzlich zuletzt nicht mehr gestellt, sondern vielmehr mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 5. April 2022 „abschließend“ nur noch die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Verurteilung der Beklagten zur Rückerstattung der aufgrund des streitgegenständlichen Bescheids von den Einzugsstellen eingezogenen „Beitragsnachforderung“ beantragt. In einer solchen schriftsätzlichen Beschränkung des Klageantrags kann eine konkludent erklärte Klagerücknahme liegen, mit der Folge, dass der nicht mehr angegriffene Verwaltungsakt in Bestandskraft erwächst (§ 77 SGG) und eine später – wie hier im Rahmen der mündlichen Verhandlung – hierauf erneut erstreckte Klage unzulässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2005 – B 6 KA 77/03 R – juris, Rn. 14; BSG, Urteil vom 31. März 1993 – 13 RJ 33/91 – juris, Rn. 16 f). Allerdings ist für die Beurteilung, ob eine Klagerücknahme erklärt worden ist, nicht allein auf den Klageantrag abzustellen. Denn das (Berufungs-)Gericht hat gemäß §§ 157, 153 Abs. 1, 123 SGG ohne Bindung an die Fassung der Anträge über die vom Kläger erhobenen Ansprüche umfassend zu entscheiden hat, sodass der Klageantrag nur dann maßgeblich ist, wenn er sich mit dem geltend gemachten Klagebegehren deckt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 1987 – 9a RV 22/85 – juris, Rn. 10; LSG Sachsen vom 28. Januar 2020 – L 3 AS 1242/17 NZB – juris, Rn. 35 ff.). Nach diesen Grundsätzen ist in der Beschränkung des Klageantrags vorliegend bei Auslegung des gesamten Vorbringens der Klägerin keine Klagerücknahme zu sehen. Nachdem sich nämlich die Klägerin in den zur Begründung ihrer „abschließenden“ Anträge im Schriftsatz vom 5. April 2022 gemachten Ausführungen weiterhin gegen die Forderung der Beklagten, Arbeitgeberanteile auch für Vergütungsbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen in Wertguthaben einzustellen, gewandt, diese Forderung ausdrücklich als „streitgegenständliches Handeln“ der Beklagten bezeichnet und einen Verstoß des Rundschreibens der Spitzenverbände vom 31. März 2009, aus dem die Beklagte die Berechtigung zu diesem Handeln ableitet, gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gerügt hat, ist die Neufassung ihrer Anträge zur Überzeugung des Senats erkennbar nicht so zu verstehen gewesen, dass sie den Prüfbescheid der Beklagten nunmehr akzeptieren und von einer weiteren Anfechtung absehen wollte. Ein Wille der Klägerin, den Klagegenstand auf den Leistungsantrag ihrer Klage zu beschränken, kann vor diesem Hintergrund den betreffenden Erklärungen jedenfalls nicht völlig eindeutig und unzweifelhaft entnommen werden, was jedoch Voraussetzung für die Annahme einer Klagerücknahme wäre (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2017– B 11 AL 2/16 R – juris, Rn. 15; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Auflage 2020, § 102 Rn. 7b). Darüber hinaus begehrt die Klägerin mit der kombinierten Leistungsklage (§ 131 Abs. 1, § 54 Abs. 4 SGG) von der Beklagten die Rückerstattung der Geldbeträge, die von den Einzugsstellen auf der Grundlage der mit dem Prüfbescheid geltend gemachten „Beitragsnachforderung“ eingezogen worden sind, sowie die Verzinsung dieser Forderung. Die beiden Klagebegehren verfolgt die Klägerin gemäß § 56 SGG zulässigerweise in objektiver Klagehäufung. Bei der Aufhebung des angefochtenen Prüfbescheides und der Erstattung der in Vollzug des Prüfbescheids (vorläufig) eingezogenen Forderungen handelt es sich um zwei voneinander unabhängige Streitgegenstände, über die zwar aufgrund ihres Zusammenhangs gemeinsam, aber nicht notwendig einheitlich zu entscheiden ist (Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 131 Rn. 4b; Schütz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, Stand: Juni 2022, § 131 SGG Rn. 14).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>3. Die Berufung der Klägerin ist teilweise begründet. Das Urteil vom 7. Oktober 2020 ist aufzuheben, soweit das SG die Anfechtungsklage der Klägerin abgewiesen hat. Der angefochtene Prüfbescheid vom 24. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (dazu unter a). Er ist deshalb auf die zulässige Anfechtungsklage der Klägerin hin aufzuheben. Im Übrigen hat das SG die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin kann gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rückerstattung der von den Einzugsstellen eingezogenen Geldbeträge und auf Verzinsung der Erstattungsforderung geltend machen (dazu unter b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>a) Der Anfechtungsantrag der Klägerin ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist bereits deshalb rechtswidrig, weil er inhaltlich nicht hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 SGB X) ist. Im Übrigen fehlt jedenfalls auch eine Rechtsgrundlage für die Nachforderung der Beklagten. Denn die Beklagte ist nicht befugt gewesen, die Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag, die nach dem Prüfergebnis von der Klägerin in die Wertguthaben noch einzubringen und gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers abzusichern sind, um eine Auflösung der Wertguthaben mit entsprechender Nachverbeitragung abzuwenden, durch Verwaltungsakt zur Zahlung an die Einzugsstellen festzusetzen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Die Beklagte hat den angefochtenen Prüfbescheid auf der Grundlage von § 28p Abs. 1 Satz 1 und 5 SGB IV (in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. November 2009, BGBl. I, S. 3710) in Verbindung mit § 7e Abs. 6 SGB IV (in der Fassung des FlexiG II vom 21. Dezember 2008, BGBl. I, S. 2940) erlassen. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten aus dem SGB IV im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag ordnungsgemäß erfüllen, und erlassen im Rahmen dessen gegenüber den Arbeitgebern Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und zur Beitragshöhe in den einzelnen Sozialversicherungszweigen. Stellt der Träger der Rentenversicherung bei einer solchen Prüfung eines Arbeitgebers fest, dass für ein Wertguthaben keine Insolvenzschutzregelung getroffen worden ist (Nr. 1), die gewählten Sicherungsmittel im Sinne des Gesetzes nicht geeignet sind (Nr. 2), die Sicherungsmittel in ihrem Umfang das Wertguthaben um mehr als 30 Prozent unterschreiten (Nr. 3) oder die Sicherungsmittel den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht umfassen (Nr. 4), weist er nach § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV in dem Verwaltungsakt (Prüfbescheid) den in dem Wertguthaben enthaltenen und vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag aus. Weist der Arbeitgeber dem Träger der Rentenversicherung innerhalb von zwei Monaten nach dieser Feststellung nach, dass er seiner gesetzlichen Verpflichtung, Vorkehrungen zur vollständigen Absicherung des Wertguthabens einschließlich des darin enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrages gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers zu treffen (§ 7e Abs. 1 SGB IV), nachgekommen ist, entfällt gemäß § 7e Abs. 6 Satz 2 SGB IV die Verpflichtung zur sofortigen Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages. Hat der Arbeitgeber den Nachweis nicht innerhalb der vorgesehenen Frist erbracht, ist die Wertguthabenvereinbarung hingegen als von Anfang an unwirksam anzusehen und das Wertguthaben aufzulösen (§ 7e Abs. 6 Satz 3 SGB IV).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Bei der Definition des Gegenstands einer Betriebsprüfung sind die prüfenden Rentenversicherungsträger grundsätzlich frei und können sich insbesondere auf eine Prüfung von Stichproben beschränken (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 Beitragsverfahrensverordnung <BVV>, in der ab. 1 Juli 2006 geltenden Fassung; BSG, Urteil vom 19. September 2019 – B 12 R 25/18 R – juris, Rn. 30; Urteil vom 19. September 2009 – B 12 R 25/18 R – juris, Rn. 35). Sie unterliegen anderseits aber auch im Rahmen ihrer Prüftätigkeit den verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (§ 1 Abs. 1 SGB X) und damit bei der abschließenden Prüfentscheidung auch dem Bestimmtheitsgebot des § 33 Abs. 1 SGB X (vgl. LSG Bayern, Beschluss vom 14. November 2012 – L 5 R 890/12 B ER – juris, Rn. 17; LSG Hamburg, Urteil vom 22. Januar 2009 – L 3 R 17/08 – juris, Rn. 33). Dieses verlangt, dass Gegenstand und Ergebnis der Betriebsprüfung in dem abschließenden Bescheid genannt werden (BSG, Urteil vom 19. September 2009 – a.a.O., Rn. 34). Danach genügt der Prüfbescheid den Bestimmtheitsanforderungen nur, wenn er im Falle von Beanstandungen den konkreten Sachverhalt aufführt, in dem die Prüfstelle einen Fehler mit Auswirkungen auf die Pflichten zur Abgabe von Meldungen und zur Entrichtung von Beiträgen sieht, und über die (Nach-)Erhebung von Beiträgen personenbezogen und beziffert entscheidet (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1999 – B 12 KR 18/99 R – juris, Rn. 16; LSG Niedersachsen Bremen, Teilurteil vom 18. August 2016 – L 2 R 325/15 – juris, Rn. 37,42 ff.; LSG Sachsen, Beschluss vom 22. März 2003 – L 1 KR 14/13 B ER – juris, Rn. 22 f.; vgl. zur Statusfeststellung auch: BSG, Urteil vom 11. März 2009 – B 12 R 11/07 R – juris, Rn. 16.). Selbst eine beanstandungsfrei durchgeführte Betriebsprüfung muss durch einen Verwaltungsakt beendet werden, der den Bestimmtheitsanforderungen genügt und Gegenstand sowie Ergebnis der Prüfung angibt (BSG, Urteil vom 19. September 2019 – B 12 R 25/18 R – juris unter Fortentwicklung von BSG vom 30. Oktober10.2013 – B 12 AL 2/11 R – und BSG vom 18. November 2015 – B 12 R 7/14 R). Ein entsprechender Prüfungsbescheid muss mithin den formell- und materiell-rechtlichen Anforderungen genügen, darunter dem Bestimmtheitsgebot nach § 33 Abs. 1 SGB X (BSG, Urteil vom 19. September 2019 – B 12 R 25/18 R – juris, Rn. 34).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Übertragen auf die streitgegenständliche Prüfung der Einhaltung der Insolvenzsicherungspflichten von Wertguthaben bei Arbeitgebern gemäß § 7e Abs. 6 SGB IV bedeutet dies: Das Bestimmtheitsgebot erfordert zum einen, dass der Prüfbescheid im Beanstandungsfall den bei der Prüfung der Wertguthaben festgestellten Insolvenzsicherungsmangel (Nr. 1 bis 4) konkret benennt (im Sinne einer ausdrücklichen Feststellung, vgl. Zieglmeier, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: Dezember 2021, § 7e Rn. 32; Knospe, in: Hauck/Noftz, SGB IV, Stand: August 2010, § 7e Rn. 61). Denn nur so wird der Arbeitgeber in die Lage versetzt, von der in § 7e Abs. 6 Satz 2 SGB IV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen und zur Abwendung der Auflösung der Wertguthaben dem Rentenversicherungsträger innerhalb von zwei Monaten nach der „Feststellung“ zu belegen, dass er die gebotene Insolvenzabsicherung nachgeholt, sprich den im Prüfbescheid festgestellten Insolvenzsicherungsmangel beseitigt hat (vgl. zum Inhalt der Nachweisobliegenheit: Knospe, a.a.O., Rn. 63 f.; Boecken, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Rn. 24). Außerdem lassen sich auch nur auf der Grundlage einer konkreten Feststellung des Sicherungsmangels im Prüfbescheid die nach Ablauf des Nachbesserungszeitraums von zwei Monaten eintretenden Rechtsfolgen zuverlässig beurteilen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Streit darüber entsteht, ob der Arbeitgeber einen ausreichenden Nachweis erbracht hat oder die Wertguthabenvereinbarung nach § 7e Abs. 6 Satz 3 SGB IV als unwirksam anzusehen und das Wertguthaben aufzulösen ist. Hat der prüfende Rentenversicherungsträger in diesem Sinne Mängel des Insolvenzschutzes bei Wertguthaben festgestellt, weist er darüber hinaus im Prüfbescheid gemäß § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV zugleich den im Wertguthaben enthaltenen und vom Arbeitgeber nach § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV insgesamt zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag – also nicht nur den vom Arbeitgeber zu tragenden Anteil – aus (vgl. Schlegel, in: Küttner Personalbuch 2022, Wertguthaben/Zeitguthaben Rn. 30; Stäbler, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung / Pflegeversicherung, Stand: Dezember 2021, § 7e SGB IV Rn. 13; Rittweger, in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, Stand: März 2022, § 7e SGB IV Rn. 8; Wißing, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, Stand: März 2016, § 7e SGB IV, Rn. 58). Nach der Intention des Gesetzgebers soll den Arbeitsvertragsparteien hierdurch bereits im Bescheid verdeutlicht werden, welche Konsequenzen bei fehlender oder mangelhafter Insolvenzsicherung eintreten (vgl. die Gesetzesmaterialien in BT-Drs. 16/10289, S. 17 f.; Lüdtke/Winkler, SGB IV, 3. Aufl. 2020, § 7e Rn.14; Knospe, NZS 2009, S. 600 ff., 605). Der Prüfbescheid steht insoweit aber unter einer gesetzlich angeordneten aufschiebenden Bedingung, da die Fälligkeit des festgesetzten Gesamtsozialversicherungsbeitrages erst mit ergebnislosem Ablauf der dem Arbeitgeber eingeräumten Nachweisfrist von zwei Monaten eintritt (Zieglmeier, a.a.O., Rn. 29; Boecken, a.a.O., Rn. 24; Stäbler, a.a.O., Rn. 14). Da durch den Prüfbescheid - wie sich aus § 7e Abs. 6 Satz 2 SGB IV ergibt - jedoch schon die Verpflichtung zur sofortigen Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages ausgelöst wird und eine weitere Verwaltungsentscheidung nicht vorgesehen ist, setzt die Feststellung der Beitragsschuld im Verwaltungsakt nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV unter Bestimmtheitsgesichtspunkten voraus, dass die Höhe des zu entrichtenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags bereits konkret festgesetzt und die Zahlung angeordnet wird (Schlegel, a.a.O., Rn. 30; Zieglmeier, a.a.O., Rn. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>aa) Diesen an den Regelungsinhalt eines Prüfbescheids gemäß § 28p Abs. 1 Satz 5, § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen genügt der angefochtene Bescheid nicht. Denn die Beklagte hat im Prüfbescheid vom 24. August 2015 nicht zwischen den einzelnen Verfügungssätzen eines solchen Verwaltungsaktes unterschieden, sondern die Feststellung des Insolvenzsicherungsmangels und die Festsetzung des zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags gleichgesetzt und unter der unspezifischen Bezeichnung „Nachforderung“ ausgewiesen. Zwar wurde in dem Bescheid einerseits die Zahlung der Nachforderung an die Einzugsstellen angeordnet und andererseits in der Begründung beanstandet, dass die gewählten Sicherungsmittel den in den Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht in voller Höhe umfassten, weil der Arbeitgeberbeitragsanteil nicht auf das gesamte eingebrachte Arbeitsentgelt ohne Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze eingestellt worden sei. Der Bescheid verweist jedoch hinsichtlich der für seine Bestimmtheit wesentlichen personenbezogenen Bezifferung der Beträge sowohl bei der Nachforderung als auch bei den in die Wertguthaben nicht eingestellten Arbeitgeberbeitragsanteilen auf dieselben Anlagen. Den darin enthaltenen Berechnungen und Aufstellungen ist eine Unterscheidung dieser Positionen nicht zu entnehmen. Auf diese Weise bleibt letztlich unklar, ob mit der festgesetzten „Nachforderung“ von 11.083,25 EUR der Gesamtsozialversicherungsbeitrag ausgewiesen wurde, welchen die Klägerin bei Auflösung der Wertguthaben an die Einzugsstellen zu zahlen hätte (Beitragsforderung), oder aber der Betrag festgestellt wurde, der bei dem in den Wertguthaben der Beigeladenen zu 1 bis 10 enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht von den Sicherungsmitteln umfasst war und den die Klägerin noch einbringen bzw. absichern musste, falls sie die Auflösung der Wertguthaben vermeiden wollte (Beanstandung eines Sicherungsmangels gemäß § 7e Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 SGB IV).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Damit fehlt der Regelung des Prüfbescheides eine hinreichende inhaltliche Bestimmtheit. Denn das Bestimmtheitserfordernis des § 33 Abs. 1 SGB X verlangt, dass die Verfügungssätze eines Verwaltungsakts nach ihrem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei sind und der Adressat des Bescheids bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers und unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls in die Lage versetzt wird, die von der Behörde gewollte Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten (BSG, Urteil vom 25. Oktober 2017 – B 14 AS 9/17 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 6. Februar 2007 – B 8 KN 3/06 R – juris, Rn. 38; LSG Sachsen, Beschluss vom 22. März 2003 – a.a.O., Rn. 22; Engelmann, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 33 Rn. 12 f. m.w.N.). Das war der Klägerin vorliegend jedoch nicht möglich, da der Inhalt und Bezugspunkt der im Prüfbescheid ausgewiesenen „Nachforderung“ offenbleibt und auch anhand der in Bezug genommenen Anlagen nicht eindeutig und unzweifelhaft zu erkennen ist, ob es sich bei der berechneten Forderung um den von ihr aus den (aufgelösten) Wertguthaben abzuführenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag oder den zur Behebung der Insolvenzsicherungsmängel in die Wertguthaben der beigeladenen Arbeitnehmer noch einzustellenden und abzusichernden Arbeitgeberanteil handelt. Es obliegt – wie dargestellt – insoweit der Beklagten, einen Prüfbescheid mit der hinreichend konkreten Feststellung eines Insolvenzsicherungsmangels und einer bezifferten Festsetzung des zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags zu erlassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Die Bestimmtheit lässt sich nach Ansicht des Senats im vorliegenden Einzelfall auch nicht über eine Auslegung des Bescheides herstellen. Denn weder aus dem Wortlaut des Bescheids vom 24. August 2015 noch aus den beigefügten Berechnungsblättern lässt sich entnehmen, auf welchen konkreten Sachverhalt und Inhalt sich die ausgewiesene „Nachforderung“ bezieht. Dies war auch aus den Begleitumständen des Erlasses des Bescheids nicht eindeutig zu ersehen. Denn die Beklagte hatte die Klägerin zuvor sowohl zu einer Nachforderung bezüglich zu wenig eingestellter Arbeitgeberbeitragsanteile (Schreiben vom 29. November 2013) als auch zu einer Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen aus den unwirksamen Wertguthabenvereinbarungen (Schreiben vom 26. Mai 2014) angehört, wobei die in den Anhörungen aufgeführten Werte – wie auch die Beklagte eingeräumt hat – von den im Prüfbescheid ermittelten Beträgen abweichen. Bezeichnenderweise konnte selbst die Beklagte den genauen Regelungsgehalt des angefochtenen Prüfbescheids erst im Verlauf des Klageverfahrens und nur durch Rücksprache mit der Betriebsprüferin klären. Danach sollte mit dem Bescheid vom 24. August 2015 nur die in den Wertguthaben fehlenden und noch nicht insolvenzgesicherten Arbeitgeberanteile für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrundlage dargestellt und ein Bescheid über die Beitragsforderung aus den (unwirksamen) Wertguthaben der Beigeladenen zu 1 bis 10 erst zu einem späteren Zeitpunkt erlassen werden. Ein Hinweis auf ein solches, gestuftes Vorgehen der Beklagten ist aber weder dem Prüfbescheid vom 24. August 2015 noch dem Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 zu entnehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Der Bestimmtheitsmangel ist auch durch den Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 nicht beseitigt worden. Zwar hat die Beklagte den Inhalt der festgesetzten Nachforderung im Widerspruchsbescheid dahingehend konkretisiert, dass mit dem angefochtenen Prüfbescheid die angesparten Wertguthaben im Rahmen einer Rückabwicklung entsprechend dem Entstehungsprinzip verbeitragt worden seien und sich hieraus eine Beitragsnachforderung für noch nicht verjährte Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagen in Höhe von 11.083,25 EUR ergeben habe. Der im Ausgangsbescheid angelegte Widerspruch, dass auch der Fehlbetrag an Arbeitgeberanteilen für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrundlage in den Wertguthaben durch dieselbe Berechnung beziffert und somit trotz der unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen und Beitragsbestandteile auf exakt die gleiche Art und Weise wie der aus den Wertguthaben zu zahlende Gesamtsozialversicherungsbeitrag ermittelt worden war, wurde dadurch jedoch nicht aufgelöst. Denn der Widerspruchsbescheid traf zum einen keine konkreten Feststellungen zum beanstandeten Insolvenzsicherungsmangel, bezifferte insbesondere nicht die Höhe der noch abzusichernden Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Zum anderen genügte die Festsetzung (irgendeiner) Beitragsnachforderung und die abstrakte Darstellung ihrer Berechnungsweise im Widerspruchsbescheid – wie dargestellt – nicht den an einen Prüfbescheid zu stellenden Anforderungen, da eine Beitragsfestsetzung auch im Rahmen der Betriebsprüfung hinreichend konkret und personenbezogen zu erfolgen hat. Unter diesen Umständen hat der Prüfbescheid vom 24. August 2015 auch durch den Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 keine inhaltlich hinreichend bestimmte Gestalt gefunden (§ 95 SGG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Zumal die Widersprüchlichkeit der getroffenen Regelungen durch die Erklärungen der Beklagten im Gerichtsverfahren nochmals verschärft worden sind. Denn die Beklagte hat sich im Klageverfahren zuletzt dahingehend geäußert, dass entgegen der Darstellung im Widerspruchsbescheid mit dem angefochtenen Bescheid vom 24. August 2015 gerade keine Beitragsforderung festgestellt, sondern vielmehr nur die nicht insolvenzgesicherten Arbeitgeberanteile für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ausgewiesen worden seien. Obgleich für die Beurteilung der Bestimmtheit maßgeblich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes abzustellen ist (Engelmann, a.a.O., Rn. 19 m.w.N.), sind derartige Interpretationserklärungen der Beklagten im Rechtbehelfsverfahren zu beachten. Denn die Behörde ist grundsätzlich befugt, einen unklaren Verwaltungsakt im Klageverfahren nachträglich zu präzisieren (BSG, Urteil vom 31. Januar 1989 – 2 RU 16/88 – juris, Rn. 19; BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 4 B 32/06 – juris, Rn. 1; Urteil vom 20. April 2005 – 4 C 18/03 – juris, Rn. 54; zur grundsätzlichen Heilungsmöglichkeit unbestimmter Verwaltungsakte im Rechtsbehelfsverfahren: BSG, Urteil vom 8. Dezember 2020 – B 4 AS 46/20 R – juris, Rn. 24 m.w.N). Eine solche Präzisierung ist der Beklagten vorliegend jedoch nicht gelungen, da ihre klarstellenden Erklärungen in einem unaufgelösten Widerspruch zum Wortlaut des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 stehen, mit dem die Beklagte die festgesetzte „Nachforderung“ explizit als Beitragsnachforderung für noch nicht verjährte Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagen ausgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>bb) Im Übrigen würde sich am Ergebnis des Verfahrens auch dann nichts ändern, wenn man die Erklärungen der Beklagten im Rechtsbehelfsverfahren als hinreichende Präzisierung des Prüfbescheids vom 24. August 2015 ausreichen ließe. Für die getroffenen Regelungen würde es in diesem Fall jedenfalls an einer Ermächtigungsgrundlage fehlen. Denn der prüfende Rentenversicherungsträger wird – wie dargestellt – durch § 28p Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV lediglich ermächtigt, im Prüfbescheid den Fall der Untersicherung (Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 bis 4) und den aus dem Wertguthaben vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag auszuweisen. Er ist jedoch nach § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV nicht befugt, fehlende Sicherungsmittel für den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag durch Verwaltungsakt zur Zahlung an die Einzugsstellen festzusetzen, wie es die Beklagte in der Sache mit der Präzisierung im Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 hinsichtlich der fehlenden Arbeitgeberbeitragsanteile für in die Wertguthaben eingebrachte Arbeitsentgelte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze verfügt hat. Denn die gesetzliche Regelung des § 7e Abs. 6 Satz 2 f. SGB IV überlässt es grundsätzlich den Arbeitsvertragsparteien, ob sie den von der Prüfstelle festgestellten Insolvenzsicherungsmangel im Sinne von § 7e Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 SGB IV beheben oder eine Auflösung des Wertguthabens in Kauf nehmen wollen. Eine sozialversicherungsrechtliche Nachschusspflicht, die von dem prüfenden Rentenversicherungsträger überwacht und durch Verwaltungsakt durchgesetzt werden könnte, ist vom Gesetzgeber nicht vorgesehen worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Auch für eine isolierte Beanstandung von Mängeln des Insolvenzschutzes bei Wertguthaben, wie sie die Beklagte nach ihren Erklärungen im Gerichtsverfahren durch den Prüfbescheid vom 24. August 2015 vornehmen wollte, bietet § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV keine Ermächtigungsgrundlage. Denn die Vorschrift knüpft an die Feststellung einer fehlenden oder unzureichenden Insolvenzabsicherung von Wertguthaben im Rahmen der Betriebsprüfung die Rechtsfolge, dass der Rentenversicherungsträger den im Wertguthaben enthaltenen und vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag auszuweisen hat. Wie dargestellt, dient die Beitragsfestsetzung dabei nach Sinn und Zweck der Regelung dazu, den Arbeitsvertragsparteien vor Auflösung der Wertguthaben die Konsequenzen des mangelhaften Insolvenzschutzes vor Augen zu führen. Dieser gesetzlichen Warnfunktion wird der Prüfbescheid jedoch nur gerecht, wenn mit der Beanstandung des Insolvenzsicherungsmangels durch den Rentenversicherungsträger, welche gemäß § 7e Abs. 6 Satz 2 f. SGB IV die Nachweisobliegenheit des Arbeitgebers und ggf. die Auflösung der Wertguthaben zur Rechtsfolge hat (vgl. Zieglmeier, a.a.O., Rn. 32), zugleich die zu zahlende Beitragsforderung verbindlich ausgewiesen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Schließlich kann sich die Beklagte vorliegend für die festgesetzte „Nachforderung“ auch nicht auf die allgemeine Ermächtigungsgrundlage des § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV und die Kontrolle allgemeiner Arbeitgeberpflichten, die im Rahmen der Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV generell zu prüfen sind, stützen. Soweit in § 7e Abs. 6 SGB IV vier konkrete Fälle für ein Einschreiten der Rentenversicherung bei der Arbeitgeberprüfung benannt sind, kann zwar fraglich sein, ob die Rentenversicherung auch andere Fälle der Missachtung von Arbeitgeberpflichten im Zusammenhang mit Wertguthaben zu prüfen hat, oder ob sich die Prüfpflicht nur auf die konkreten Prüffälle beschränkt, die im Gesetz ausdrücklich genannt sind (vgl. Knospe, a.a.O., § 7e Rn. 58). Auch wenn man eine Prüfpflicht bezüglich der allgemeinen Arbeitgeberpflichten bejaht, wofür viel spricht, wären die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine „Nachforderung“ von Sozialversicherungsbeiträgen bezüglich der hier streitigen Arbeitgeberbeitragsanteile offensichtlich nicht erfüllt. Denn infolge des § 23b Abs. 1 Satz 1 SGB IV tritt während einer Vereinbarung über flexible Arbeitszeit an die Stelle des in einem bestimmten Monat (tatsächlich) erzielten Entgelts das während dieser Zeit jeweils "fällige" Arbeitsentgelt, also während der Arbeitsphase ein in der Höhe begrenztes Arbeitsentgelt und während der Freistellung das für diese Zeit auszuzahlende Arbeitsentgelt aus dem Wertguthaben. Damit enthält § 23b Abs. 1 Satz 1 SGB IV entsprechend der amtlichen Überschrift der Vorschrift "Beitragspflichtige Einnahmen bei flexiblen Arbeitszeitregelungen" schon dem Wortlaut nach eine Arbeitsentgeltfiktion, auch wenn sich diese Funktion vorrangig auf § 23 Abs. 1 SGB IV bezieht (BSG, Urteil vom 20. März 2013 – B 12 KR 7/11 R – juris, Rn. 33). Durch diese Arbeitsentgeltfiktion greift § 23b Abs. 1 Satz 1 SGB IV über die Rechtsfolgenseite des § 23 Abs. 1 SGB IV hinaus, indem nicht lediglich die "Fälligkeit" von zu zahlenden Beiträgen verschoben wird, sondern die Regelung in § 23b SGB IV bereits auf der Tatbestandsseite des § 23 Abs.1 SGB IV eine der Höhe bzw. dem Zeitpunkt nach abweichende "Entstehung" des Beitragsanspruchs (= Erzielen von Arbeitsentgelt) fingiert (BSG, a.a.O., Rn. 34). Dem liegt – anknüpfend an die schon durch § 7 Abs. 1a Satz 1 SGB IV begründete Qualifizierung des für die Freistellungsphase fälligen Entgelts als (voll beitragspflichtiges) Arbeitsentgelt – die gesetzliche Konzeption zugrunde, dass im Falle vereinbarungsgemäßer Verwendung des Wertguthabens Anknüpfungspunkt für die Beitragsbemessung nur das während der Arbeitsphase bzw. der Freistellungsphase jeweils fällige tatsächliche bzw. fingierte Arbeitsentgelt ist, weil nur dieses als im jeweiligen Zeitraum erzielt gilt. Das bedeutet, dass die Arbeitgeberbeitragsanteile, die das während der Freistellungsphase fingierte Arbeitsentgelt betreffen, zum Zeitpunkt der hier streitigen Betriebsprüfung noch nicht fällig waren, mithin auch nicht „nachgefordert“ werden konnten. Die Frage, ob die noch nicht fälligen Arbeitgeberbeitragsanteile bereits ins Wertguthaben eingezahlt und abgesichert sind (vgl. § 7d Abs. 1 Satz 1 SGB IV, wonach Wertguthaben als Arbeitsentgeltguthaben einschließlich des darauf entfallenden Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu führen sind), ist hiervon unabhängig zu beurteilen. Diesbezüglich bleibt als „Mittel der Wahl“ nur die Vorgehensweise nach § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV. Wie bereits dargelegt, hat die Beklagte vorliegend aber (selbst bei unterstellter Bestimmtheit) unzulässige Rechtsfolgen an diese Kompetenznorm geknüpft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>cc) Der Mangel der Bestimmtheit des angefochtenen Verwaltungsaktes kann im gerichtlichen Verfahren schließlich auch nicht durch ein "Nachschieben von Gründen" behoben oder deswegen hingenommen werden, weil die Beteiligten durch den Rechtstreit die grundsätzliche Klärung einer Rechtsfrage anstreben (vgl. BSG, Urteil vom 23. Mai 1995 – 12 RK 63/93 – juris, Rn. 14). Aus denselben Gründen kann der erlassene Bescheid vom 24. August 2015 auch nicht gemäß § 43 SGB X in einen Bescheid im Sinne von § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV umgedeutet werden. Denn die Festsetzung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages für die Wertguthaben wäre auf ein anderes Ziel gerichtet. Die Beklagte hat eine entsprechende Beitragsberechnung bislang auch nicht durchgeführt. Die Gerichte sind indes schon im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion im Rahmen der Gewaltenteilung nicht berechtigt oder gar gehalten, bei unzureichender Bestimmtheit des Prüfbescheides eine umfassende Prüfung der Beitragsabführung auf Seiten des betroffenen Arbeitgebers durchzuführen, um dann eine Beitragsnacherhebung durch Urteil erstmalig festzusetzen (LSG Niedersachsen-Bremen, Teilurteil vom 18. Juni 2016 – a.a.O., Rn. 61 ff.). Hierin läge zudem eine unzulässige „reformatio in peius“ (vgl. BSG, Urteil vom 27. April 2021 – B 12 R 18/19 R – juris, Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>b) Die erhobene Leistungsklage ist hingegen unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>aa) Die Klägerin konnte ihr Leistungsbegehren zunächst nicht im Rahmen eines Antrags auf Vollzugsfolgenbeseitigungsanordnung gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 SGG geltend machen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Wird – wie vorliegend – ein Verwaltungsakt, der bereits vollzogen ist, aufgehoben, so kann das Gericht danach aussprechen, dass und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist allerdings nur zulässig, wenn die Verwaltungsstelle rechtlich dazu in der Lage und diese Frage ohne weiteres in jeder Beziehung spruchreif ist (§ 131 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die gerichtliche Anordnung der Vollzugsbeseitigung setzt als Annex zur Anfechtungsklage ferner voraus, dass es sich bei der zu beseitigenden Situation um eine unmittelbare Folge der Vollziehung des rechtswidrigen Verwaltungshandelns handelt, die nicht erst durch ein weiteres Verhalten des Betroffenen oder Dritter verursacht worden ist (Schütz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, Stand: Juni 2022, § 131 Rn. 16; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 131 Rn. 4, jeweils m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Klägerin kann eine Rückzahlung der von den Einzugsstellen vorläufig eingezogenen Beiträge schon deshalb nicht im Wege der Vollzugsfolgenbeseitigung geltend machen, weil es sich bei der Beitragsabführung nicht um eine unmittelbare Folge des aufgehobenen Prüfbescheids der Beklagten handelt. Denn das Verfahren zur Erhebung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen ist im Rahmen einer Betriebsprüfung zweigeteilt. Dem Zahlungsbescheid des prüfenden Rentenversicherungsträgers kommt in diesem Verfahren lediglich die Funktion eines Grundlagenbescheides für die Beitragserhebung zu (BSG, Urteil vom 28. Mai 2015 – B 12 R 16/13 R – juris, Rn. 23; Urteil vom 15. September 2016 – B 12 R 2/15 R – juris, Rn. 24; vgl. auch Scheer – a.a.O., Rn. 255 ff.). Die Entscheidung, ob und unter welchen Bedingungen ein solcher Bescheid vollzogen wird und die Beiträge (vorläufig) eingezogen werden, obliegt nach § 28h Abs. 1 SGB IV allein den Einzugsstellen als Gläubiger des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 19. Juli 2022 – L 4 BA 956/22 ER – n.v.). Aus den gleichen Gründen kann auch der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Zinsen für die entrichteten Beiträge nicht im Wege eines Antrags nach § 131 Abs. 1 Satz 1 SGG durchgesetzt werden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. August 2019 – L 6 U 3728/18 – juris, Rn. 74 ff.). Denn der Zinsanspruch betrifft in der Sache immer den Ersatz entgangener eigener Zinsen oder andere Nachteile, die nur mittelbar durch die rechtswidrige Vermögensverschiebung entstanden sind. Im Übrigen ist die Klägerin rechtlich auch nicht dazu in der Lage, den erfolgten Beitragseinzug rückabzuwickeln. Denn für die Erstattung der Beiträge sind die Sozialversicherungsträger zuständig, denen die entsprechenden Beiträge letztlich zugeflossen sind (BSG, Urteil vom 23. Mai 2017 – B 12 KR 9/16 R – juris, Rn. 28; Waßer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, Stand: August 2021, § 26 SGB Rn. 132). Eine Rückerstattung durch die Beklagte könnte daher allenfalls hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge erfolgen. Allerdings ist gemäß § 211 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in Verbindung mit den zwischen den Spitzenverbänden der Sozialversicherungsträger vereinbarten „Gemeinsamen Grundsätzen für die Auf- und Verrechnung und Erstattung zu Unrecht gezahlter Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung aus einer Beschäftigung“ (in der Fassung vom 20. November 2019, Ziffer 4.3.1) auch die Entscheidung über die Erstattung der Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung auf die Einzugsstellen übertragen. Ein Ausnahmefall im Sinne von 4.3.2 dieser Grundsätze ist weder ersichtlich noch von der Klägerin dargetan worden. Die Beklagte ist für die Rückabwicklung des Beitragseinzugs mithin nicht zuständig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>bb) Eine originäre Leistungsklage auf Verurteilung der Beklagten zur Rückerstattung der eingezogenen Beiträge und zur Zahlung von Zinsen für die Beitragsforderung ist ebenfalls unzulässig, weil insoweit weder ein anfechtbarer Verwaltungsakt vorliegt noch ein Vorverfahren durchgeführt worden ist. Über Ansprüche aus § 26 Abs. 2, § 27 SGB IV hat grundsätzlich zunächst eine Verwaltungsentscheidung zu ergehen, sodass gemäß § 54 Abs. 5 SGG nicht unmittelbar Klage auf die Leistung erhoben werden kann (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. August 2019 – a.a.O., Rn. 73). Im Übrigen hat die Klägerin auch keinen hinreichend bestimmten Klageantrag gestellt. Denn sie hat - obgleich sie den geltend gemachten Anspruch auf Beitragsrückerstattung aus abgeschlossenen Vorgängen in der Vergangenheit herleitet - weder ihren Zahlungsantrag beziffert noch dargelegt, welche Beiträge von den Einzugsstellen bereits eingezogen worden sind (vgl. zur Erforderlichkeit der Bezifferung und Substantiierung: BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 2/21 R – juris, Rn. 7 m.w.N.; für eine Klage auf Beitragsrückerstattung: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. Dezember 2013 – L 18 KN 362/10 – juris, Rn. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Nachdem sich die Beigeladenen am Verfahren auch in der Berufungsinstanz nicht beteiligt haben, war es nicht angezeigt, ihre außergerichtlichen Kosten der Beklagten oder Klägerin aufzuerlegen (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs.3 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>6. Der Streitwert ergibt sich gemäß § 197 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG in Verbindung mit § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 3 Satz 1, § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) auch für das Berufungsverfahren aus der Höhe der angegriffenen, durch den angefochtenen Bescheid festgesetzten Forderung. Der Leistungsantrag der Klägerin wirkt sich vorliegend nicht streitwerterhöhend aus. Sind bei einer objektiven Klagehäufung die verschiedenen prozessualen Ansprüche - wie hier - auf dasselbe wirtschaftliche Ergebnis gerichtet, bilden sie kostenrechtlich eine Einheit mit der Folge, dass wegen des einheitlichen Interesses entgegen der Grundregel des § 39 Abs. 1 GKG eine Zusammenrechnung der einzelnen Streitwerte unterbleibt und in entsprechender Anwendung von §§ 44, 45 Abs. 1 Satz 2 GKG nur der höhere Streitwert anzusetzen ist (vgl. Schindler, in: Dörndorfer/Wendtland/Gerlach/Diehn, BeckOK Kostenrecht, Stand: April 2022, § 39 GKG Rn. 17 f.; Dörndorfer, in: Binz/Dörndorfer/Zimmermann, Kommentar zum GKG, FamGKG, JVEG, 5. Auflage 2021, § 39 GKG Rn. 2).</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>1. Die Berufung der Klägerin ist gemäß § 143 SGG statthaft. Einer Zulassung der Berufung hat es nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht bedurft. Denn die Klägerin verfolgt mit der Berufung ihre vom SG vollumfänglich abgewiesene Klage auf Aufhebung der mit dem angefochtenen Bescheid festgesetzten Forderung in Höhe von 11.083,25 EUR und auf Rückerstattung entsprechender Beitragszahlungen weiter, sodass der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 EUR übersteigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Die Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere hat die Klägerin die Berufung nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht beim LSG eingelegt. Da das SG gemäß § 63 Abs. 2 SGG i.V.m. §§ 172 Abs. 1 Satz 1, 175, 176 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) eine Zustellung des Urteils vom 7. Oktober 2020 an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin veranlasst hat, ein Empfangsbekenntnis oder eine Zustellurkunde (vgl. §§ 175 Abs. 4, 182 ZPO) jedoch nicht zur Akte gelangt ist, lässt sich eine ordnungsgemäße Zustellung des angefochtenen Urteils nicht nachweisen. Das Urteil gilt deshalb nach § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Prozessbevollmächtigten der Klägerin tatsächlich zugegangen ist. Das ist nach ihrem (nicht widerlegbaren) Vorbringen am 19. Oktober 2020 gewesen, sodass die am 16. November 2020 mittels Telefax eingelegte Berufung die Berufungsfrist von einem Monat nach Zustellung des Urteils gewahrt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>2. Gegenstand des Verfahrens und auch des Berufungsverfahrens ist zunächst die Klage auf Aufhebung des Prüfbescheides vom 24. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 (§ 95 SGG). Diese Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG) hat sich nicht durch Klagerücknahme im Berufungsverfahren erledigt (§ 153 Abs. 1, § 102 Abs. 1 SGG). Zwar hat die Klägerin den ursprünglich mit der Klage und Berufung verfolgten Anfechtungsantrag schriftsätzlich zuletzt nicht mehr gestellt, sondern vielmehr mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 5. April 2022 „abschließend“ nur noch die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Verurteilung der Beklagten zur Rückerstattung der aufgrund des streitgegenständlichen Bescheids von den Einzugsstellen eingezogenen „Beitragsnachforderung“ beantragt. In einer solchen schriftsätzlichen Beschränkung des Klageantrags kann eine konkludent erklärte Klagerücknahme liegen, mit der Folge, dass der nicht mehr angegriffene Verwaltungsakt in Bestandskraft erwächst (§ 77 SGG) und eine später – wie hier im Rahmen der mündlichen Verhandlung – hierauf erneut erstreckte Klage unzulässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2005 – B 6 KA 77/03 R – juris, Rn. 14; BSG, Urteil vom 31. März 1993 – 13 RJ 33/91 – juris, Rn. 16 f). Allerdings ist für die Beurteilung, ob eine Klagerücknahme erklärt worden ist, nicht allein auf den Klageantrag abzustellen. Denn das (Berufungs-)Gericht hat gemäß §§ 157, 153 Abs. 1, 123 SGG ohne Bindung an die Fassung der Anträge über die vom Kläger erhobenen Ansprüche umfassend zu entscheiden hat, sodass der Klageantrag nur dann maßgeblich ist, wenn er sich mit dem geltend gemachten Klagebegehren deckt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 1987 – 9a RV 22/85 – juris, Rn. 10; LSG Sachsen vom 28. Januar 2020 – L 3 AS 1242/17 NZB – juris, Rn. 35 ff.). Nach diesen Grundsätzen ist in der Beschränkung des Klageantrags vorliegend bei Auslegung des gesamten Vorbringens der Klägerin keine Klagerücknahme zu sehen. Nachdem sich nämlich die Klägerin in den zur Begründung ihrer „abschließenden“ Anträge im Schriftsatz vom 5. April 2022 gemachten Ausführungen weiterhin gegen die Forderung der Beklagten, Arbeitgeberanteile auch für Vergütungsbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen in Wertguthaben einzustellen, gewandt, diese Forderung ausdrücklich als „streitgegenständliches Handeln“ der Beklagten bezeichnet und einen Verstoß des Rundschreibens der Spitzenverbände vom 31. März 2009, aus dem die Beklagte die Berechtigung zu diesem Handeln ableitet, gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gerügt hat, ist die Neufassung ihrer Anträge zur Überzeugung des Senats erkennbar nicht so zu verstehen gewesen, dass sie den Prüfbescheid der Beklagten nunmehr akzeptieren und von einer weiteren Anfechtung absehen wollte. Ein Wille der Klägerin, den Klagegenstand auf den Leistungsantrag ihrer Klage zu beschränken, kann vor diesem Hintergrund den betreffenden Erklärungen jedenfalls nicht völlig eindeutig und unzweifelhaft entnommen werden, was jedoch Voraussetzung für die Annahme einer Klagerücknahme wäre (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2017– B 11 AL 2/16 R – juris, Rn. 15; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Auflage 2020, § 102 Rn. 7b). Darüber hinaus begehrt die Klägerin mit der kombinierten Leistungsklage (§ 131 Abs. 1, § 54 Abs. 4 SGG) von der Beklagten die Rückerstattung der Geldbeträge, die von den Einzugsstellen auf der Grundlage der mit dem Prüfbescheid geltend gemachten „Beitragsnachforderung“ eingezogen worden sind, sowie die Verzinsung dieser Forderung. Die beiden Klagebegehren verfolgt die Klägerin gemäß § 56 SGG zulässigerweise in objektiver Klagehäufung. Bei der Aufhebung des angefochtenen Prüfbescheides und der Erstattung der in Vollzug des Prüfbescheids (vorläufig) eingezogenen Forderungen handelt es sich um zwei voneinander unabhängige Streitgegenstände, über die zwar aufgrund ihres Zusammenhangs gemeinsam, aber nicht notwendig einheitlich zu entscheiden ist (Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 131 Rn. 4b; Schütz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, Stand: Juni 2022, § 131 SGG Rn. 14).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>3. Die Berufung der Klägerin ist teilweise begründet. Das Urteil vom 7. Oktober 2020 ist aufzuheben, soweit das SG die Anfechtungsklage der Klägerin abgewiesen hat. Der angefochtene Prüfbescheid vom 24. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (dazu unter a). Er ist deshalb auf die zulässige Anfechtungsklage der Klägerin hin aufzuheben. Im Übrigen hat das SG die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin kann gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rückerstattung der von den Einzugsstellen eingezogenen Geldbeträge und auf Verzinsung der Erstattungsforderung geltend machen (dazu unter b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>a) Der Anfechtungsantrag der Klägerin ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist bereits deshalb rechtswidrig, weil er inhaltlich nicht hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 SGB X) ist. Im Übrigen fehlt jedenfalls auch eine Rechtsgrundlage für die Nachforderung der Beklagten. Denn die Beklagte ist nicht befugt gewesen, die Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag, die nach dem Prüfergebnis von der Klägerin in die Wertguthaben noch einzubringen und gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers abzusichern sind, um eine Auflösung der Wertguthaben mit entsprechender Nachverbeitragung abzuwenden, durch Verwaltungsakt zur Zahlung an die Einzugsstellen festzusetzen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Die Beklagte hat den angefochtenen Prüfbescheid auf der Grundlage von § 28p Abs. 1 Satz 1 und 5 SGB IV (in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. November 2009, BGBl. I, S. 3710) in Verbindung mit § 7e Abs. 6 SGB IV (in der Fassung des FlexiG II vom 21. Dezember 2008, BGBl. I, S. 2940) erlassen. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten aus dem SGB IV im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag ordnungsgemäß erfüllen, und erlassen im Rahmen dessen gegenüber den Arbeitgebern Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und zur Beitragshöhe in den einzelnen Sozialversicherungszweigen. Stellt der Träger der Rentenversicherung bei einer solchen Prüfung eines Arbeitgebers fest, dass für ein Wertguthaben keine Insolvenzschutzregelung getroffen worden ist (Nr. 1), die gewählten Sicherungsmittel im Sinne des Gesetzes nicht geeignet sind (Nr. 2), die Sicherungsmittel in ihrem Umfang das Wertguthaben um mehr als 30 Prozent unterschreiten (Nr. 3) oder die Sicherungsmittel den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht umfassen (Nr. 4), weist er nach § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV in dem Verwaltungsakt (Prüfbescheid) den in dem Wertguthaben enthaltenen und vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag aus. Weist der Arbeitgeber dem Träger der Rentenversicherung innerhalb von zwei Monaten nach dieser Feststellung nach, dass er seiner gesetzlichen Verpflichtung, Vorkehrungen zur vollständigen Absicherung des Wertguthabens einschließlich des darin enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrages gegen das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers zu treffen (§ 7e Abs. 1 SGB IV), nachgekommen ist, entfällt gemäß § 7e Abs. 6 Satz 2 SGB IV die Verpflichtung zur sofortigen Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages. Hat der Arbeitgeber den Nachweis nicht innerhalb der vorgesehenen Frist erbracht, ist die Wertguthabenvereinbarung hingegen als von Anfang an unwirksam anzusehen und das Wertguthaben aufzulösen (§ 7e Abs. 6 Satz 3 SGB IV).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Bei der Definition des Gegenstands einer Betriebsprüfung sind die prüfenden Rentenversicherungsträger grundsätzlich frei und können sich insbesondere auf eine Prüfung von Stichproben beschränken (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 Beitragsverfahrensverordnung <BVV>, in der ab. 1 Juli 2006 geltenden Fassung; BSG, Urteil vom 19. September 2019 – B 12 R 25/18 R – juris, Rn. 30; Urteil vom 19. September 2009 – B 12 R 25/18 R – juris, Rn. 35). Sie unterliegen anderseits aber auch im Rahmen ihrer Prüftätigkeit den verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (§ 1 Abs. 1 SGB X) und damit bei der abschließenden Prüfentscheidung auch dem Bestimmtheitsgebot des § 33 Abs. 1 SGB X (vgl. LSG Bayern, Beschluss vom 14. November 2012 – L 5 R 890/12 B ER – juris, Rn. 17; LSG Hamburg, Urteil vom 22. Januar 2009 – L 3 R 17/08 – juris, Rn. 33). Dieses verlangt, dass Gegenstand und Ergebnis der Betriebsprüfung in dem abschließenden Bescheid genannt werden (BSG, Urteil vom 19. September 2009 – a.a.O., Rn. 34). Danach genügt der Prüfbescheid den Bestimmtheitsanforderungen nur, wenn er im Falle von Beanstandungen den konkreten Sachverhalt aufführt, in dem die Prüfstelle einen Fehler mit Auswirkungen auf die Pflichten zur Abgabe von Meldungen und zur Entrichtung von Beiträgen sieht, und über die (Nach-)Erhebung von Beiträgen personenbezogen und beziffert entscheidet (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1999 – B 12 KR 18/99 R – juris, Rn. 16; LSG Niedersachsen Bremen, Teilurteil vom 18. August 2016 – L 2 R 325/15 – juris, Rn. 37,42 ff.; LSG Sachsen, Beschluss vom 22. März 2003 – L 1 KR 14/13 B ER – juris, Rn. 22 f.; vgl. zur Statusfeststellung auch: BSG, Urteil vom 11. März 2009 – B 12 R 11/07 R – juris, Rn. 16.). Selbst eine beanstandungsfrei durchgeführte Betriebsprüfung muss durch einen Verwaltungsakt beendet werden, der den Bestimmtheitsanforderungen genügt und Gegenstand sowie Ergebnis der Prüfung angibt (BSG, Urteil vom 19. September 2019 – B 12 R 25/18 R – juris unter Fortentwicklung von BSG vom 30. Oktober10.2013 – B 12 AL 2/11 R – und BSG vom 18. November 2015 – B 12 R 7/14 R). Ein entsprechender Prüfungsbescheid muss mithin den formell- und materiell-rechtlichen Anforderungen genügen, darunter dem Bestimmtheitsgebot nach § 33 Abs. 1 SGB X (BSG, Urteil vom 19. September 2019 – B 12 R 25/18 R – juris, Rn. 34).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Übertragen auf die streitgegenständliche Prüfung der Einhaltung der Insolvenzsicherungspflichten von Wertguthaben bei Arbeitgebern gemäß § 7e Abs. 6 SGB IV bedeutet dies: Das Bestimmtheitsgebot erfordert zum einen, dass der Prüfbescheid im Beanstandungsfall den bei der Prüfung der Wertguthaben festgestellten Insolvenzsicherungsmangel (Nr. 1 bis 4) konkret benennt (im Sinne einer ausdrücklichen Feststellung, vgl. Zieglmeier, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: Dezember 2021, § 7e Rn. 32; Knospe, in: Hauck/Noftz, SGB IV, Stand: August 2010, § 7e Rn. 61). Denn nur so wird der Arbeitgeber in die Lage versetzt, von der in § 7e Abs. 6 Satz 2 SGB IV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen und zur Abwendung der Auflösung der Wertguthaben dem Rentenversicherungsträger innerhalb von zwei Monaten nach der „Feststellung“ zu belegen, dass er die gebotene Insolvenzabsicherung nachgeholt, sprich den im Prüfbescheid festgestellten Insolvenzsicherungsmangel beseitigt hat (vgl. zum Inhalt der Nachweisobliegenheit: Knospe, a.a.O., Rn. 63 f.; Boecken, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Rn. 24). Außerdem lassen sich auch nur auf der Grundlage einer konkreten Feststellung des Sicherungsmangels im Prüfbescheid die nach Ablauf des Nachbesserungszeitraums von zwei Monaten eintretenden Rechtsfolgen zuverlässig beurteilen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Streit darüber entsteht, ob der Arbeitgeber einen ausreichenden Nachweis erbracht hat oder die Wertguthabenvereinbarung nach § 7e Abs. 6 Satz 3 SGB IV als unwirksam anzusehen und das Wertguthaben aufzulösen ist. Hat der prüfende Rentenversicherungsträger in diesem Sinne Mängel des Insolvenzschutzes bei Wertguthaben festgestellt, weist er darüber hinaus im Prüfbescheid gemäß § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV zugleich den im Wertguthaben enthaltenen und vom Arbeitgeber nach § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV insgesamt zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag – also nicht nur den vom Arbeitgeber zu tragenden Anteil – aus (vgl. Schlegel, in: Küttner Personalbuch 2022, Wertguthaben/Zeitguthaben Rn. 30; Stäbler, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung / Pflegeversicherung, Stand: Dezember 2021, § 7e SGB IV Rn. 13; Rittweger, in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, Stand: März 2022, § 7e SGB IV Rn. 8; Wißing, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, Stand: März 2016, § 7e SGB IV, Rn. 58). Nach der Intention des Gesetzgebers soll den Arbeitsvertragsparteien hierdurch bereits im Bescheid verdeutlicht werden, welche Konsequenzen bei fehlender oder mangelhafter Insolvenzsicherung eintreten (vgl. die Gesetzesmaterialien in BT-Drs. 16/10289, S. 17 f.; Lüdtke/Winkler, SGB IV, 3. Aufl. 2020, § 7e Rn.14; Knospe, NZS 2009, S. 600 ff., 605). Der Prüfbescheid steht insoweit aber unter einer gesetzlich angeordneten aufschiebenden Bedingung, da die Fälligkeit des festgesetzten Gesamtsozialversicherungsbeitrages erst mit ergebnislosem Ablauf der dem Arbeitgeber eingeräumten Nachweisfrist von zwei Monaten eintritt (Zieglmeier, a.a.O., Rn. 29; Boecken, a.a.O., Rn. 24; Stäbler, a.a.O., Rn. 14). Da durch den Prüfbescheid - wie sich aus § 7e Abs. 6 Satz 2 SGB IV ergibt - jedoch schon die Verpflichtung zur sofortigen Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages ausgelöst wird und eine weitere Verwaltungsentscheidung nicht vorgesehen ist, setzt die Feststellung der Beitragsschuld im Verwaltungsakt nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV unter Bestimmtheitsgesichtspunkten voraus, dass die Höhe des zu entrichtenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags bereits konkret festgesetzt und die Zahlung angeordnet wird (Schlegel, a.a.O., Rn. 30; Zieglmeier, a.a.O., Rn. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>aa) Diesen an den Regelungsinhalt eines Prüfbescheids gemäß § 28p Abs. 1 Satz 5, § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen genügt der angefochtene Bescheid nicht. Denn die Beklagte hat im Prüfbescheid vom 24. August 2015 nicht zwischen den einzelnen Verfügungssätzen eines solchen Verwaltungsaktes unterschieden, sondern die Feststellung des Insolvenzsicherungsmangels und die Festsetzung des zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags gleichgesetzt und unter der unspezifischen Bezeichnung „Nachforderung“ ausgewiesen. Zwar wurde in dem Bescheid einerseits die Zahlung der Nachforderung an die Einzugsstellen angeordnet und andererseits in der Begründung beanstandet, dass die gewählten Sicherungsmittel den in den Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht in voller Höhe umfassten, weil der Arbeitgeberbeitragsanteil nicht auf das gesamte eingebrachte Arbeitsentgelt ohne Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze eingestellt worden sei. Der Bescheid verweist jedoch hinsichtlich der für seine Bestimmtheit wesentlichen personenbezogenen Bezifferung der Beträge sowohl bei der Nachforderung als auch bei den in die Wertguthaben nicht eingestellten Arbeitgeberbeitragsanteilen auf dieselben Anlagen. Den darin enthaltenen Berechnungen und Aufstellungen ist eine Unterscheidung dieser Positionen nicht zu entnehmen. Auf diese Weise bleibt letztlich unklar, ob mit der festgesetzten „Nachforderung“ von 11.083,25 EUR der Gesamtsozialversicherungsbeitrag ausgewiesen wurde, welchen die Klägerin bei Auflösung der Wertguthaben an die Einzugsstellen zu zahlen hätte (Beitragsforderung), oder aber der Betrag festgestellt wurde, der bei dem in den Wertguthaben der Beigeladenen zu 1 bis 10 enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht von den Sicherungsmitteln umfasst war und den die Klägerin noch einbringen bzw. absichern musste, falls sie die Auflösung der Wertguthaben vermeiden wollte (Beanstandung eines Sicherungsmangels gemäß § 7e Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 SGB IV).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Damit fehlt der Regelung des Prüfbescheides eine hinreichende inhaltliche Bestimmtheit. Denn das Bestimmtheitserfordernis des § 33 Abs. 1 SGB X verlangt, dass die Verfügungssätze eines Verwaltungsakts nach ihrem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei sind und der Adressat des Bescheids bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers und unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls in die Lage versetzt wird, die von der Behörde gewollte Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten (BSG, Urteil vom 25. Oktober 2017 – B 14 AS 9/17 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 6. Februar 2007 – B 8 KN 3/06 R – juris, Rn. 38; LSG Sachsen, Beschluss vom 22. März 2003 – a.a.O., Rn. 22; Engelmann, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 33 Rn. 12 f. m.w.N.). Das war der Klägerin vorliegend jedoch nicht möglich, da der Inhalt und Bezugspunkt der im Prüfbescheid ausgewiesenen „Nachforderung“ offenbleibt und auch anhand der in Bezug genommenen Anlagen nicht eindeutig und unzweifelhaft zu erkennen ist, ob es sich bei der berechneten Forderung um den von ihr aus den (aufgelösten) Wertguthaben abzuführenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag oder den zur Behebung der Insolvenzsicherungsmängel in die Wertguthaben der beigeladenen Arbeitnehmer noch einzustellenden und abzusichernden Arbeitgeberanteil handelt. Es obliegt – wie dargestellt – insoweit der Beklagten, einen Prüfbescheid mit der hinreichend konkreten Feststellung eines Insolvenzsicherungsmangels und einer bezifferten Festsetzung des zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags zu erlassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Die Bestimmtheit lässt sich nach Ansicht des Senats im vorliegenden Einzelfall auch nicht über eine Auslegung des Bescheides herstellen. Denn weder aus dem Wortlaut des Bescheids vom 24. August 2015 noch aus den beigefügten Berechnungsblättern lässt sich entnehmen, auf welchen konkreten Sachverhalt und Inhalt sich die ausgewiesene „Nachforderung“ bezieht. Dies war auch aus den Begleitumständen des Erlasses des Bescheids nicht eindeutig zu ersehen. Denn die Beklagte hatte die Klägerin zuvor sowohl zu einer Nachforderung bezüglich zu wenig eingestellter Arbeitgeberbeitragsanteile (Schreiben vom 29. November 2013) als auch zu einer Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen aus den unwirksamen Wertguthabenvereinbarungen (Schreiben vom 26. Mai 2014) angehört, wobei die in den Anhörungen aufgeführten Werte – wie auch die Beklagte eingeräumt hat – von den im Prüfbescheid ermittelten Beträgen abweichen. Bezeichnenderweise konnte selbst die Beklagte den genauen Regelungsgehalt des angefochtenen Prüfbescheids erst im Verlauf des Klageverfahrens und nur durch Rücksprache mit der Betriebsprüferin klären. Danach sollte mit dem Bescheid vom 24. August 2015 nur die in den Wertguthaben fehlenden und noch nicht insolvenzgesicherten Arbeitgeberanteile für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrundlage dargestellt und ein Bescheid über die Beitragsforderung aus den (unwirksamen) Wertguthaben der Beigeladenen zu 1 bis 10 erst zu einem späteren Zeitpunkt erlassen werden. Ein Hinweis auf ein solches, gestuftes Vorgehen der Beklagten ist aber weder dem Prüfbescheid vom 24. August 2015 noch dem Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 zu entnehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Der Bestimmtheitsmangel ist auch durch den Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 nicht beseitigt worden. Zwar hat die Beklagte den Inhalt der festgesetzten Nachforderung im Widerspruchsbescheid dahingehend konkretisiert, dass mit dem angefochtenen Prüfbescheid die angesparten Wertguthaben im Rahmen einer Rückabwicklung entsprechend dem Entstehungsprinzip verbeitragt worden seien und sich hieraus eine Beitragsnachforderung für noch nicht verjährte Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagen in Höhe von 11.083,25 EUR ergeben habe. Der im Ausgangsbescheid angelegte Widerspruch, dass auch der Fehlbetrag an Arbeitgeberanteilen für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrundlage in den Wertguthaben durch dieselbe Berechnung beziffert und somit trotz der unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen und Beitragsbestandteile auf exakt die gleiche Art und Weise wie der aus den Wertguthaben zu zahlende Gesamtsozialversicherungsbeitrag ermittelt worden war, wurde dadurch jedoch nicht aufgelöst. Denn der Widerspruchsbescheid traf zum einen keine konkreten Feststellungen zum beanstandeten Insolvenzsicherungsmangel, bezifferte insbesondere nicht die Höhe der noch abzusichernden Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Zum anderen genügte die Festsetzung (irgendeiner) Beitragsnachforderung und die abstrakte Darstellung ihrer Berechnungsweise im Widerspruchsbescheid – wie dargestellt – nicht den an einen Prüfbescheid zu stellenden Anforderungen, da eine Beitragsfestsetzung auch im Rahmen der Betriebsprüfung hinreichend konkret und personenbezogen zu erfolgen hat. Unter diesen Umständen hat der Prüfbescheid vom 24. August 2015 auch durch den Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 keine inhaltlich hinreichend bestimmte Gestalt gefunden (§ 95 SGG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Zumal die Widersprüchlichkeit der getroffenen Regelungen durch die Erklärungen der Beklagten im Gerichtsverfahren nochmals verschärft worden sind. Denn die Beklagte hat sich im Klageverfahren zuletzt dahingehend geäußert, dass entgegen der Darstellung im Widerspruchsbescheid mit dem angefochtenen Bescheid vom 24. August 2015 gerade keine Beitragsforderung festgestellt, sondern vielmehr nur die nicht insolvenzgesicherten Arbeitgeberanteile für Arbeitsentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ausgewiesen worden seien. Obgleich für die Beurteilung der Bestimmtheit maßgeblich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes abzustellen ist (Engelmann, a.a.O., Rn. 19 m.w.N.), sind derartige Interpretationserklärungen der Beklagten im Rechtbehelfsverfahren zu beachten. Denn die Behörde ist grundsätzlich befugt, einen unklaren Verwaltungsakt im Klageverfahren nachträglich zu präzisieren (BSG, Urteil vom 31. Januar 1989 – 2 RU 16/88 – juris, Rn. 19; BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 4 B 32/06 – juris, Rn. 1; Urteil vom 20. April 2005 – 4 C 18/03 – juris, Rn. 54; zur grundsätzlichen Heilungsmöglichkeit unbestimmter Verwaltungsakte im Rechtsbehelfsverfahren: BSG, Urteil vom 8. Dezember 2020 – B 4 AS 46/20 R – juris, Rn. 24 m.w.N). Eine solche Präzisierung ist der Beklagten vorliegend jedoch nicht gelungen, da ihre klarstellenden Erklärungen in einem unaufgelösten Widerspruch zum Wortlaut des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2016 stehen, mit dem die Beklagte die festgesetzte „Nachforderung“ explizit als Beitragsnachforderung für noch nicht verjährte Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagen ausgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>bb) Im Übrigen würde sich am Ergebnis des Verfahrens auch dann nichts ändern, wenn man die Erklärungen der Beklagten im Rechtsbehelfsverfahren als hinreichende Präzisierung des Prüfbescheids vom 24. August 2015 ausreichen ließe. Für die getroffenen Regelungen würde es in diesem Fall jedenfalls an einer Ermächtigungsgrundlage fehlen. Denn der prüfende Rentenversicherungsträger wird – wie dargestellt – durch § 28p Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV lediglich ermächtigt, im Prüfbescheid den Fall der Untersicherung (Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 bis 4) und den aus dem Wertguthaben vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag auszuweisen. Er ist jedoch nach § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV nicht befugt, fehlende Sicherungsmittel für den im Wertguthaben enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrag durch Verwaltungsakt zur Zahlung an die Einzugsstellen festzusetzen, wie es die Beklagte in der Sache mit der Präzisierung im Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2016 hinsichtlich der fehlenden Arbeitgeberbeitragsanteile für in die Wertguthaben eingebrachte Arbeitsentgelte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze verfügt hat. Denn die gesetzliche Regelung des § 7e Abs. 6 Satz 2 f. SGB IV überlässt es grundsätzlich den Arbeitsvertragsparteien, ob sie den von der Prüfstelle festgestellten Insolvenzsicherungsmangel im Sinne von § 7e Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 SGB IV beheben oder eine Auflösung des Wertguthabens in Kauf nehmen wollen. Eine sozialversicherungsrechtliche Nachschusspflicht, die von dem prüfenden Rentenversicherungsträger überwacht und durch Verwaltungsakt durchgesetzt werden könnte, ist vom Gesetzgeber nicht vorgesehen worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Auch für eine isolierte Beanstandung von Mängeln des Insolvenzschutzes bei Wertguthaben, wie sie die Beklagte nach ihren Erklärungen im Gerichtsverfahren durch den Prüfbescheid vom 24. August 2015 vornehmen wollte, bietet § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV keine Ermächtigungsgrundlage. Denn die Vorschrift knüpft an die Feststellung einer fehlenden oder unzureichenden Insolvenzabsicherung von Wertguthaben im Rahmen der Betriebsprüfung die Rechtsfolge, dass der Rentenversicherungsträger den im Wertguthaben enthaltenen und vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag auszuweisen hat. Wie dargestellt, dient die Beitragsfestsetzung dabei nach Sinn und Zweck der Regelung dazu, den Arbeitsvertragsparteien vor Auflösung der Wertguthaben die Konsequenzen des mangelhaften Insolvenzschutzes vor Augen zu führen. Dieser gesetzlichen Warnfunktion wird der Prüfbescheid jedoch nur gerecht, wenn mit der Beanstandung des Insolvenzsicherungsmangels durch den Rentenversicherungsträger, welche gemäß § 7e Abs. 6 Satz 2 f. SGB IV die Nachweisobliegenheit des Arbeitgebers und ggf. die Auflösung der Wertguthaben zur Rechtsfolge hat (vgl. Zieglmeier, a.a.O., Rn. 32), zugleich die zu zahlende Beitragsforderung verbindlich ausgewiesen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Schließlich kann sich die Beklagte vorliegend für die festgesetzte „Nachforderung“ auch nicht auf die allgemeine Ermächtigungsgrundlage des § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV und die Kontrolle allgemeiner Arbeitgeberpflichten, die im Rahmen der Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV generell zu prüfen sind, stützen. Soweit in § 7e Abs. 6 SGB IV vier konkrete Fälle für ein Einschreiten der Rentenversicherung bei der Arbeitgeberprüfung benannt sind, kann zwar fraglich sein, ob die Rentenversicherung auch andere Fälle der Missachtung von Arbeitgeberpflichten im Zusammenhang mit Wertguthaben zu prüfen hat, oder ob sich die Prüfpflicht nur auf die konkreten Prüffälle beschränkt, die im Gesetz ausdrücklich genannt sind (vgl. Knospe, a.a.O., § 7e Rn. 58). Auch wenn man eine Prüfpflicht bezüglich der allgemeinen Arbeitgeberpflichten bejaht, wofür viel spricht, wären die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine „Nachforderung“ von Sozialversicherungsbeiträgen bezüglich der hier streitigen Arbeitgeberbeitragsanteile offensichtlich nicht erfüllt. Denn infolge des § 23b Abs. 1 Satz 1 SGB IV tritt während einer Vereinbarung über flexible Arbeitszeit an die Stelle des in einem bestimmten Monat (tatsächlich) erzielten Entgelts das während dieser Zeit jeweils "fällige" Arbeitsentgelt, also während der Arbeitsphase ein in der Höhe begrenztes Arbeitsentgelt und während der Freistellung das für diese Zeit auszuzahlende Arbeitsentgelt aus dem Wertguthaben. Damit enthält § 23b Abs. 1 Satz 1 SGB IV entsprechend der amtlichen Überschrift der Vorschrift "Beitragspflichtige Einnahmen bei flexiblen Arbeitszeitregelungen" schon dem Wortlaut nach eine Arbeitsentgeltfiktion, auch wenn sich diese Funktion vorrangig auf § 23 Abs. 1 SGB IV bezieht (BSG, Urteil vom 20. März 2013 – B 12 KR 7/11 R – juris, Rn. 33). Durch diese Arbeitsentgeltfiktion greift § 23b Abs. 1 Satz 1 SGB IV über die Rechtsfolgenseite des § 23 Abs. 1 SGB IV hinaus, indem nicht lediglich die "Fälligkeit" von zu zahlenden Beiträgen verschoben wird, sondern die Regelung in § 23b SGB IV bereits auf der Tatbestandsseite des § 23 Abs.1 SGB IV eine der Höhe bzw. dem Zeitpunkt nach abweichende "Entstehung" des Beitragsanspruchs (= Erzielen von Arbeitsentgelt) fingiert (BSG, a.a.O., Rn. 34). Dem liegt – anknüpfend an die schon durch § 7 Abs. 1a Satz 1 SGB IV begründete Qualifizierung des für die Freistellungsphase fälligen Entgelts als (voll beitragspflichtiges) Arbeitsentgelt – die gesetzliche Konzeption zugrunde, dass im Falle vereinbarungsgemäßer Verwendung des Wertguthabens Anknüpfungspunkt für die Beitragsbemessung nur das während der Arbeitsphase bzw. der Freistellungsphase jeweils fällige tatsächliche bzw. fingierte Arbeitsentgelt ist, weil nur dieses als im jeweiligen Zeitraum erzielt gilt. Das bedeutet, dass die Arbeitgeberbeitragsanteile, die das während der Freistellungsphase fingierte Arbeitsentgelt betreffen, zum Zeitpunkt der hier streitigen Betriebsprüfung noch nicht fällig waren, mithin auch nicht „nachgefordert“ werden konnten. Die Frage, ob die noch nicht fälligen Arbeitgeberbeitragsanteile bereits ins Wertguthaben eingezahlt und abgesichert sind (vgl. § 7d Abs. 1 Satz 1 SGB IV, wonach Wertguthaben als Arbeitsentgeltguthaben einschließlich des darauf entfallenden Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu führen sind), ist hiervon unabhängig zu beurteilen. Diesbezüglich bleibt als „Mittel der Wahl“ nur die Vorgehensweise nach § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV. Wie bereits dargelegt, hat die Beklagte vorliegend aber (selbst bei unterstellter Bestimmtheit) unzulässige Rechtsfolgen an diese Kompetenznorm geknüpft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>cc) Der Mangel der Bestimmtheit des angefochtenen Verwaltungsaktes kann im gerichtlichen Verfahren schließlich auch nicht durch ein "Nachschieben von Gründen" behoben oder deswegen hingenommen werden, weil die Beteiligten durch den Rechtstreit die grundsätzliche Klärung einer Rechtsfrage anstreben (vgl. BSG, Urteil vom 23. Mai 1995 – 12 RK 63/93 – juris, Rn. 14). Aus denselben Gründen kann der erlassene Bescheid vom 24. August 2015 auch nicht gemäß § 43 SGB X in einen Bescheid im Sinne von § 7e Abs. 6 Satz 1 SGB IV umgedeutet werden. Denn die Festsetzung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages für die Wertguthaben wäre auf ein anderes Ziel gerichtet. Die Beklagte hat eine entsprechende Beitragsberechnung bislang auch nicht durchgeführt. Die Gerichte sind indes schon im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion im Rahmen der Gewaltenteilung nicht berechtigt oder gar gehalten, bei unzureichender Bestimmtheit des Prüfbescheides eine umfassende Prüfung der Beitragsabführung auf Seiten des betroffenen Arbeitgebers durchzuführen, um dann eine Beitragsnacherhebung durch Urteil erstmalig festzusetzen (LSG Niedersachsen-Bremen, Teilurteil vom 18. Juni 2016 – a.a.O., Rn. 61 ff.). Hierin läge zudem eine unzulässige „reformatio in peius“ (vgl. BSG, Urteil vom 27. April 2021 – B 12 R 18/19 R – juris, Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>b) Die erhobene Leistungsklage ist hingegen unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>aa) Die Klägerin konnte ihr Leistungsbegehren zunächst nicht im Rahmen eines Antrags auf Vollzugsfolgenbeseitigungsanordnung gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 SGG geltend machen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Wird – wie vorliegend – ein Verwaltungsakt, der bereits vollzogen ist, aufgehoben, so kann das Gericht danach aussprechen, dass und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist allerdings nur zulässig, wenn die Verwaltungsstelle rechtlich dazu in der Lage und diese Frage ohne weiteres in jeder Beziehung spruchreif ist (§ 131 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die gerichtliche Anordnung der Vollzugsbeseitigung setzt als Annex zur Anfechtungsklage ferner voraus, dass es sich bei der zu beseitigenden Situation um eine unmittelbare Folge der Vollziehung des rechtswidrigen Verwaltungshandelns handelt, die nicht erst durch ein weiteres Verhalten des Betroffenen oder Dritter verursacht worden ist (Schütz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, Stand: Juni 2022, § 131 Rn. 16; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 131 Rn. 4, jeweils m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Klägerin kann eine Rückzahlung der von den Einzugsstellen vorläufig eingezogenen Beiträge schon deshalb nicht im Wege der Vollzugsfolgenbeseitigung geltend machen, weil es sich bei der Beitragsabführung nicht um eine unmittelbare Folge des aufgehobenen Prüfbescheids der Beklagten handelt. Denn das Verfahren zur Erhebung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen ist im Rahmen einer Betriebsprüfung zweigeteilt. Dem Zahlungsbescheid des prüfenden Rentenversicherungsträgers kommt in diesem Verfahren lediglich die Funktion eines Grundlagenbescheides für die Beitragserhebung zu (BSG, Urteil vom 28. Mai 2015 – B 12 R 16/13 R – juris, Rn. 23; Urteil vom 15. September 2016 – B 12 R 2/15 R – juris, Rn. 24; vgl. auch Scheer – a.a.O., Rn. 255 ff.). Die Entscheidung, ob und unter welchen Bedingungen ein solcher Bescheid vollzogen wird und die Beiträge (vorläufig) eingezogen werden, obliegt nach § 28h Abs. 1 SGB IV allein den Einzugsstellen als Gläubiger des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 19. Juli 2022 – L 4 BA 956/22 ER – n.v.). Aus den gleichen Gründen kann auch der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Zinsen für die entrichteten Beiträge nicht im Wege eines Antrags nach § 131 Abs. 1 Satz 1 SGG durchgesetzt werden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. August 2019 – L 6 U 3728/18 – juris, Rn. 74 ff.). Denn der Zinsanspruch betrifft in der Sache immer den Ersatz entgangener eigener Zinsen oder andere Nachteile, die nur mittelbar durch die rechtswidrige Vermögensverschiebung entstanden sind. Im Übrigen ist die Klägerin rechtlich auch nicht dazu in der Lage, den erfolgten Beitragseinzug rückabzuwickeln. Denn für die Erstattung der Beiträge sind die Sozialversicherungsträger zuständig, denen die entsprechenden Beiträge letztlich zugeflossen sind (BSG, Urteil vom 23. Mai 2017 – B 12 KR 9/16 R – juris, Rn. 28; Waßer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, Stand: August 2021, § 26 SGB Rn. 132). Eine Rückerstattung durch die Beklagte könnte daher allenfalls hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge erfolgen. Allerdings ist gemäß § 211 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in Verbindung mit den zwischen den Spitzenverbänden der Sozialversicherungsträger vereinbarten „Gemeinsamen Grundsätzen für die Auf- und Verrechnung und Erstattung zu Unrecht gezahlter Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung aus einer Beschäftigung“ (in der Fassung vom 20. November 2019, Ziffer 4.3.1) auch die Entscheidung über die Erstattung der Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung auf die Einzugsstellen übertragen. Ein Ausnahmefall im Sinne von 4.3.2 dieser Grundsätze ist weder ersichtlich noch von der Klägerin dargetan worden. Die Beklagte ist für die Rückabwicklung des Beitragseinzugs mithin nicht zuständig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>bb) Eine originäre Leistungsklage auf Verurteilung der Beklagten zur Rückerstattung der eingezogenen Beiträge und zur Zahlung von Zinsen für die Beitragsforderung ist ebenfalls unzulässig, weil insoweit weder ein anfechtbarer Verwaltungsakt vorliegt noch ein Vorverfahren durchgeführt worden ist. Über Ansprüche aus § 26 Abs. 2, § 27 SGB IV hat grundsätzlich zunächst eine Verwaltungsentscheidung zu ergehen, sodass gemäß § 54 Abs. 5 SGG nicht unmittelbar Klage auf die Leistung erhoben werden kann (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. August 2019 – a.a.O., Rn. 73). Im Übrigen hat die Klägerin auch keinen hinreichend bestimmten Klageantrag gestellt. Denn sie hat - obgleich sie den geltend gemachten Anspruch auf Beitragsrückerstattung aus abgeschlossenen Vorgängen in der Vergangenheit herleitet - weder ihren Zahlungsantrag beziffert noch dargelegt, welche Beiträge von den Einzugsstellen bereits eingezogen worden sind (vgl. zur Erforderlichkeit der Bezifferung und Substantiierung: BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 2/21 R – juris, Rn. 7 m.w.N.; für eine Klage auf Beitragsrückerstattung: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. Dezember 2013 – L 18 KN 362/10 – juris, Rn. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Nachdem sich die Beigeladenen am Verfahren auch in der Berufungsinstanz nicht beteiligt haben, war es nicht angezeigt, ihre außergerichtlichen Kosten der Beklagten oder Klägerin aufzuerlegen (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs.3 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>6. Der Streitwert ergibt sich gemäß § 197 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG in Verbindung mit § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 3 Satz 1, § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) auch für das Berufungsverfahren aus der Höhe der angegriffenen, durch den angefochtenen Bescheid festgesetzten Forderung. Der Leistungsantrag der Klägerin wirkt sich vorliegend nicht streitwerterhöhend aus. Sind bei einer objektiven Klagehäufung die verschiedenen prozessualen Ansprüche - wie hier - auf dasselbe wirtschaftliche Ergebnis gerichtet, bilden sie kostenrechtlich eine Einheit mit der Folge, dass wegen des einheitlichen Interesses entgegen der Grundregel des § 39 Abs. 1 GKG eine Zusammenrechnung der einzelnen Streitwerte unterbleibt und in entsprechender Anwendung von §§ 44, 45 Abs. 1 Satz 2 GKG nur der höhere Streitwert anzusetzen ist (vgl. Schindler, in: Dörndorfer/Wendtland/Gerlach/Diehn, BeckOK Kostenrecht, Stand: April 2022, § 39 GKG Rn. 17 f.; Dörndorfer, in: Binz/Dörndorfer/Zimmermann, Kommentar zum GKG, FamGKG, JVEG, 5. Auflage 2021, § 39 GKG Rn. 2).</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,065 | ovgnrw-2022-07-22-4-b-73122 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 B 731/22 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-08-05T10:01:14 | 2022-10-17T17:55:39 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0722.4B731.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch einzulegende Beschwerde gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 31.5.2022 wird abgelehnt.</p>
<h1> </h1><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Senat versteht das Schreiben des Antragstellers vom 13.6.2022, mit welchem dieser sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 31.5.2022 wendet, nach entsprechender Anhörung als Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine durch einen Prozessbevollmächtigten noch einzulegende Beschwerde. Dies liegt im Kosteninteresse des Antragstellers. Eine von ihm selbst erhobene Beschwerde müsste wegen des bei dem Oberverwaltungsgericht bestehenden Vertretungserfordernisses (§ 67 Abs. 4 i. V. m. Abs. 2 VwGO), auf das der Antragsteller in der Rechtsmittelbelehrung zu dem streitgegenständlichen Beschluss sowie mit Eingangsverfügung der Berichterstatterin vom 22.6.2022 hingewiesen worden ist, auf seine Kosten als unzulässig verworfen werden.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung jedenfalls keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine noch zu erhebende Beschwerde wäre verfristet. Die zweiwöchige Beschwerdefrist gemäß § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist, nachdem der angegriffene Beschluss dem Antragsteller am 9.6.2022 zugestellt worden war, mit Ablauf des 23.6.2022 verstrichen.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO könnte dem Antragsteller nicht gewährt werden. Ist einer Partei wegen ihrer Mittellosigkeit die fristgerechte Einlegung eines Rechtsmittels durch einen Rechtsanwalt nicht zuzumuten, darf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann gewährt werden, wenn die Partei bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist ein vollständiges Prozesskostenhilfegesuch mit allen dazugehörigen Unterlagen eingereicht hat. Nur dann hat die Partei alles getan, was von ihr zur Wahrung der Frist erwartet werden kann, und ist es gerechtfertigt, das Fristversäumnis als unverschuldet anzusehen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 21.1.1999 – 1 B 3.99, 1 PKH 1.99 –, juris, Rn. 3, und vom 28.1.2004 – 6 PKH 15.03 –, juris, Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier. Der Antragsteller hat die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und Abs. 4 ZPO erforderliche Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Verwendung des dafür vorgeschriebenen Formulars bis zum Ablauf der genannten Frist nicht abgegeben. Auf das entsprechende Erfordernis ist er in der Eingangsverfügung hingewiesen worden. Zudem ist allgemein bekannt, dass staatliche Leistungen nur erbracht werden, wenn die Voraussetzungen hierfür in der jeweils vorgesehenen Form vollständig nachgewiesen werden, so dass er sich bei Unkenntnis der Einzelheiten rechtzeitig hätte informieren können und müssen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.7.2018 – 4 E 604/18 –, juris, Rn. 4.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen hat der Antragsteller bis heute keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nachgereicht oder erklärt, warum ihm die fristgemäße Einreichung eines vollständigen Antrags nicht möglich gewesen sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Antragsteller auch in der Sache weder aus den von ihm zur Begründung seines Antrags herangezogenen Normen (§ 41 Abs. 1 BBG und § 24 Abs. 1 BBG) noch aus dem Disziplinarrecht oder sonstigen Rechtsgrundlagen einen subjektiven Anspruch auf Entfernung des gar nicht verbeamteten Bediensteten aus dem Dienst herleiten kann, zumal der Bedienstete nicht bei dem Antragsgegner beschäftigt ist (vgl. auch § 44g SGB II).</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
|
345,984 | ovgnrw-2022-07-22-13-b-146621 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 13 B 1466/21 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-07-29T10:01:01 | 2022-10-17T17:55:26 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0722.13B1466.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 13. August 2021 wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller zu 1. bis 5. zu 1/8 als Gesamtschuldner, die Antragsteller zu 6. bis 8. zu 1/8 als Gesamtschuldner, die Antragsteller zu 9. bis 11. zu 1/8 als Gesamtschuldner, die Antragsteller zu 12. und 13. zu 1/8 als Gesamtschuldner, der Antragsteller zu 14. zu 1/8 allein, die Antragsteller zu 15. und 16. zu 1/8 als Gesamtschuldner, der Antragsteller zu 17. zu 1/8 allein, die Antragsteller zu 18. und 19. zu 1/8 als Gesamtschuldner.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 80.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde mit dem wörtlichen Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">„den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 13. August 2021 aufzuheben und</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">1. vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache festzustellen, dass die Antragsgegnerin nicht berechtigt ist, den Erlass der §§ 20 Abs. 8 bis 14 i. V. m. § 73 Abs. 1a Nr. 1a (gemeint vermutlich 7a) bis 7d lfSG in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBl. 1 S. 148), zuletzt geändert durch Artikel 1 Nr. 14 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BGBI. 2020, 2397), welche die Antragsteller in deren Grundrechten verletzt, vollziehen zu lassen und auf eine entsprechende Impfung gegen deren Willen hinzuwirken,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">2. hilfsweise</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache festzustellen, dass die Antragsgegnerin nicht berechtigt ist, den Erlass der §§ 20 Abs. 9 Satz 6 lfSG und § 20 Abs. 12 Satz 3 lfSG i. V. m. § 73 Abs. 1a Nr. 7b bis 7d IfSG in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBI. 1 S. 148), zuletzt geändert durch Artikel 1 Nr. 14 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BGBI. 2020, 2397), welche die Antragsteller in deren Grundrechten verletzen, vollziehen zu lassen und auf eine entsprechende Impfung gegen deren Willen hinzuwirken,</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">3. hilfsweise für den Fall der Ablehnung des Hauptantrages und unabhängig von der Entscheidung über den ersten Hilfsantrag,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache festzustellen, dass die Antragsgegnerin nur nach folgender Maßgabe berechtigt ist, den Erlass der § 20 Abs. 11 Nr. 1 lfSG i. V. m. § 20 Abs. 9 Satz 1 i. V. m. § 73 Abs. 1a Nr. 7a IfSG in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBI. 1 S. 148), zuletzt geändert durch Artikel 1 Nr. 14 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BGBI. 2020, 2397), vollziehen zu lassen: Auch dem in dieser Norm bezeichneten Personenkreis ist bis zur Entscheidung in der Hauptsache zur Vorlage des Impfnachweises nach § 20 Abs. 9 Satz 1 lfSG Zeit bis zum 31. Juli 2021 einzuräumen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">4. Die §§ 5 und 28a lfSG in der Fassung von Artikel 2 des Gesetzes vom 18. November 2020 (BGBI. I S. 2397) werden bis zur Entscheidung über die Klage in der Hauptsache vorläufig außer Vollzug gesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">5. hilfsweise: § 28a i. V. m. § 5 lfSG wird vorläufig mit der Maßgabe außer Vollzug gesetzt, dass Positiv-Testungen auf das Sars-Covid-19-Virus nur dann bei der Berechnung der Grenzwerte i. S. d. § 28a Abs. 3 lfSG zu berücksichtigen sind, wenn</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- ihnen ein Ct-Wert i. H. v. maximal 30 zu Grunde liegt. Dem Gesetzgeber steht es frei, nach sachgerechter Abwägung diesen Wert anderweitig zu regeln. RKI und Gesundheitsämter haben unverzüglich eine einheitliche Kalibrierung vorzunehmen sowie</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">- sichergestellt ist, dass die Testung nur von medizinischem Fachpersonal gemäß Betriebsanleitung des jeweiligen PCR-Tests vorgenommen worden ist,“</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnungen abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der unter Ziff. 4 gestellte Antrag sei unzulässig. Die begehrte Außervollzugsetzung von Regelungen könne es nicht aussprechen, weil das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht als subjektives Beanstandungsverfahren grundsätzlich dem Individualrechtsschutz diene. Selbst wenn man zugunsten der Antragsteller annähme, sie begehrten die vorläufige Feststellung, dass die angegriffenen Normen wegen ihrer Verfassungswidrigkeit nicht auf sie angewendet werden könnten, sei dieser Antrag unzulässig. Es fehle an einem konkreten feststellungsfähigen Rechtsverhältnis zwischen der beklagten Bundesrepublik und den Antragstellern. Es bestehe im Regelfall – so auch hier – kein Rechtsverhältnis zwischen Normadressat und Normgeber, sondern, weil nach Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben grundsätzlich Sache der Länder sei und Art. 83 GG ebenso grundsätzlich bestimme, dass die Länder Bundesgesetzes als eigene Angelegenheit ausführten, zwischen Normadressat und Normanwender. Der unter Ziff. 5 gestellte Hilfsantrag sei ebenfalls unzulässig. Der Erlass bzw. die Ergänzung eines förmlichen Gesetzes sei kein zulässiger Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Feststellungsverfahrens. Hinsichtlich der Zulässigkeit der unter Ziff. 1. bis 3. gestellten Haupt- und Hilfsanträge bestünden Bedenken. Die Anträge seien aber jedenfalls unbegründet. Die sich in der Hauptsache stellenden Rechtsfragen könnten im Rahmen des Eilverfahrens nicht in der Weise vertiefend behandelt werden, dass eine zuverlässige Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache möglich erscheine. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2020 - 1 BvR 469/20, 1 BvR 470/20 - bestätige, dass die geltend gemachten Verfassungsverstöße keineswegs offensichtlich oder evident seien. Die deswegen vorzunehmende Folgenabwägung gehe zu Lasten der Antragsteller aus. Das Verwaltungsgericht schließe sich den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im oben bezeichneten Beschluss an, wonach das Interesse der im dortigen Verfahren antragstellenden Eltern, ihre Kinder ohne Masernschutzimpfung in einer Gemeinschaftseinrichtung betreuen zu lassen, bzw. der antragstellenden Kinder, selbst dort betreut zu werden, gegenüber dem Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen zurücktreten müsse. Dasselbe gelte, soweit sich die Antragsteller zu 14., 15. und 17. auf einen Eingriff in ihre Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG beriefen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die von den Antragstellern hiergegen dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen es nicht, den angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und die begehrten einstweiligen Anordnungen zu erlassen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dies gilt sowohl, soweit die Antragsteller sich gegen die Ablehnung ihrer Anträge zu 4. und 5. im Zusammenhang mit den Vorschriften zur Feststellung einer epidemischen Lage und Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 wenden (A.), als auch gegen die Ablehnung ihrer Anträge zu 1. bis 3. im Zusammenhang mit den Vorschriften zu dem Erfordernis, in bestimmten Bereichen eine Masernschutzimpfung (bzw. eine Immunität gegen Masern oder das Vorliegen einer Kontraindikation gegen eine Impfung) auf- bzw. nachzuweisen (B.).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">A. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Anträge zu 4. und 5. unzulässig sind, haben die Antragsteller mit ihrem Vorbringen nicht erschüttert.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">I. Die Antragsteller rügen, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei ihr Antrag zu 4. zulässig, weil in der Hauptsache eine Feststellungsklage zulässig sei. Damit ziehen sie die Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel, dass das wörtlich geltend gemachte Begehren – die Außervollzugsetzung einer Vorschrift – im Rahmen eines nur dem Individualrechtsschutz dienenden Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht schon nicht gewährt werden könne. Ihr Verweis darauf, dass in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Gültigkeit einer Norm – anders als im Verfahren nach § 47 VwGO für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle untergesetzlicher landesrechtlicher Normen – nur eine Vorfrage sei, ist zwar zutreffend. Sollte bei der Klärung dieser Vorfrage festgestellt werden, dass die Norm rechtswidrig ist, kann das Verwaltungsgericht diese allerdings nicht – wie von ihnen beantragt – insgesamt außer Vollzug setzen, sondern lediglich eine einstweilige Anordnung mit einer Feststellung zugunsten der Antragsteller des Verfahrens erlassen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller nun erstmals nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist geltend machen, sie begehrten auch nur eine „Außervollzugsetzung inter partes“ dürfte sich eine solche Auslegung des Begehrens im erstinstanzlichen Verfahren im Hinblick auf die ansonsten übliche Verwendung des Begriffs der Außervollzugsetzung bei Normenkontrollen nicht aufgedrängt haben. Hierauf kommt es für das vorliegende Beschwerdeverfahren aber auch nicht an, weil das Verwaltungsgericht den Antrag auch für den Fall als unzulässig angesehen hat, dass er als Antrag auf vorläufige Feststellung, dass die Normen wegen ihrer Verfassungswidrigkeit auf die Antragsteller nicht angewendet können, ausgelegt wird.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Auch diese Annahme haben die Antragsteller mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht erfolgreich in Zweifel gezogen. Sie verweisen darauf, zwischen ihnen und der Antragsgegnerin bestehe durch die Anwendbarkeit der §§ 5, 28a IfSG – anders als das Verwaltungsgericht meine – ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis. Zwischen Normadressat und Normgeber ist ein solches jedoch nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn die Rechtsnorm unmittelbar Rechte und Pflichten des Normadressaten begründet, ohne dass eine Konkretisierung oder Individualisierung durch Verwaltungsvollzug vorgesehen oder möglich ist, und effektiver Rechtsschutz für den Normadressaten nur im Verhältnis zwischen dem Normadressaten und dem Normgeber gewährt werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Januar 2010 - 8 C 19.09 -, juris, Rn. 28 ff., und vom 23. August 2007 ‑ 7 C 2.07‑, juris, Rn. 21 ff.; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2018 - 13 A 1328/15 -, juris, Rn. 32 f., m. w. N.; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 1. März 2022 - OVG 9 S 5/22 -, juris, Rn. 15; Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 58b; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 43 Rn. 45.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Eine Feststellungsklage gegen den Normgeber kommt mithin nur dann in Betracht, wenn die Rechtsverordnung unmittelbar Rechte und Pflichten der Betroffenen begründet, ohne dass eine Konkretisierung oder Individualisierung durch Verwaltungsvollzug vorgesehen oder möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Januar 2010 - 8 C 19.09 -, juris, Leitsatz, Rn. 30, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Dass es an diesen Voraussetzungen fehlt, weil die Antragsgegnerin als Normgeberin an den Umsetzungsakten nicht beteiligt ist und Betroffene um Rechtsschutz im Verfahren gegen die Umsetzungsakte nachsuchen können (Beschlussabdruck, S. 5), hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Schl.-H. OVG, Beschluss vom 20. Mai 2022 - 3 MB 28/21 ‑, juris, Rn. 17 f., das in einem gegen die <em>Vollzugsbehörde</em> (vgl. Rn. 18) gerichteten Verfahren zwar ein Rechtsverhältnis bejaht, aber ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung mit der Begründung verneint hat, für vorbeugenden Rechtsschutz bestehe kein Raum, weil der Betroffene in zumutbarer Weise auf nachträglichen Rechtsschutz gegen die Umsetzungsakte verwiesen werden könne (Rn. 19).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">II. Aus den dargestellten Gründen hat auch der unter Ziff. 5 gestellte Hilfsantrag keinen Erfolg, selbst wenn man ihn so auslegte, dass die Antragsteller nicht generell eine Modifizierung der Vorschriften verlangen, sondern nur begehren, dass die von ihnen dargestellten Maßgaben ihnen gegenüber Anwendung finden. Denn auch insoweit fehlt es an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis im Verhältnis zur Antragsgegnerin als Normgeberin.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">B. Mit ihrem Beschwerdevorbringen legen die Antragsteller nicht erfolgreich dar, dass die Anträge zu 1. bis 3. zu Unrecht abgelehnt worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">I. Soweit die Antragsteller hierzu zunächst vortragen, die Zweifel des Verwaltungsgerichts an der Zulässigkeit ihrer Anträge zu 1. bis 3. seien unberechtigt, kam es hierauf aus der Sicht des Verwaltungsgerichts nicht an, denn es hat die Zulässigkeit der Anträge offengelassen und sich hierauf nicht entscheidungstragend gestützt.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen ist der Antrag zu 1. unzulässig (1.), der Antrag zu 2. nur hinsichtlich einiger Antragsteller möglicherweise zulässig (2.) und der Antrag zu 3. unzulässig (3.).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">1. Die Antragsteller wenden sich mit ihrem Antrag zu 1. pauschal gegen § 20 Abs. 8 bis 14 i. V. m. §§ 7a Abs. 1a Nr. 1a bis 7d lfSG. Sie begehren die vorläufige Feststellung, dass die Antragsgegnerin nicht berechtigt ist, den Erlass dieser Vorschriften, „welche die Antragsteller in deren Grundrechten verletzen, vollziehen zu lassen und auf eine entsprechende Impfung gegen deren Willen hinzuwirken“.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Den so formulierten Antrag legt der Senat gemäß der §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO anhand des Rechtsschutzbegehrens der Antragsteller aus. In der Begründung ihrer erstinstanzlich zusammen mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhobenen Klage erläutern die Antragsteller, dass sie sich „gegen die sog. Masernimpflicht, die jedenfalls faktisch (in Deutschland) eine Pflicht zur Dreifach-Impfung (Masern, Röteln, Mumps) darstellt“ wenden. Den Antragstellern sei bekannt, dass zur gleichen Grundthematik zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig seien. Aus Gründen der Rechtswegerschöpfung sei jedoch eine vorherige Anrufung der Fachgerichte zu empfehlen, jedenfalls aber zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Damit geben die Antragsteller zu erkennen, dass sie das vorliegende vorläufige Rechtsschutzverfahren zur verfassungsrechtlichen Klärung der durch das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBl. 2020, 148) eingeführten Vorschriften durch die Verwaltungsgerichte bemühen. Da sie von deren Verfassungswidrigkeit ausgehen, ist ihr Antrag zu 1. sinngemäß dahin zu verstehen, gegenüber der Antragsgegnerin als Normgeberin vorläufig festzustellen, dass sie durch die zitierten Vorschriften in ihren Grundrechten verletzt werden.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. allgemein auch BVerwG, Urteil vom 28. Januar 2010 - 8 C 19.09 -, juris, Rn. 25.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der so verstandene Antrag ist jedoch unzulässig. Im Hinblick auf die Vielzahl der in § 20 Abs. 8 bis 14 IfSG i. V. m. §§ 7a Abs. 1a Nr. 1a bis 7d lfSG getroffenen Einzelregelungen bleibt unklar, durch welche konkreten Bestimmungen sich die jeweiligen Antragsteller in ihren Rechten verletzt sehen; sie legen dies nicht näher dar. Dem Antrag fehlt es damit an der erforderlichen Benennung der jeweils streitigen konkreten Rechtsverhältnisse zwischen der Antragsgegnerin als Normgeberin und den jeweiligen Antragstellern. Gegenstand einer Feststellungsklage kann nur ein streitiges konkretes Rechtsverhältnis sein, d. h. es muss die Anwendung einer Rechtsnorm auf einen bestimmten bereits überschaubaren Sachverhalt streitig sein. Unabhängig von der Frage der Konkretisierung des Rechtsverhältnisses setzt ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis voraus, dass zwischen den Parteien dieses Rechtsverhältnisses ein Meinungsstreit besteht, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite verlangen zu können. Daran fehlt es, wenn nur abstrakte Rechtsfragen wie die Gültigkeit einer Norm zur Entscheidung gestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Januar 2010 - 8 C 19.09 -, juris, Rn. 24.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">2. In Betracht kommt allerdings, dass der hilfsweise gestellte Antrag zu 2. teilweise – dies jedoch auch nur in Bezug auf einige Antragsteller – zulässig ist. Er ist bei sinngemäßer Auslegung so zu verstehen, dass die Antragsteller die Feststellung begehren, dass sie durch § 20 Abs. 9 Satz 6 lfSG und § 20 Abs. 12 Satz 4 (dieser entspricht dem § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG in der im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung) lfSG i. V. m. § 73 Abs. 1a Nr. 7b bis 7d IfSG in ihren Grundrechten verletzt werden.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die wesentlichen streitgegenständlichen Regelungen lauten:</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">§ 20 Abs. 8 IfSG:</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">„Folgende Personen, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren sind, müssen entweder einen nach den Maßgaben von Satz 2 ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres eine Immunität gegen Masern aufweisen:</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">1. Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut werden,</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">2. Personen, die bereits vier Wochen</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">a) in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 4 betreut werden oder</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">b) in einer Einrichtung nach § 36 Absatz 1 Nummer 4 untergebracht sind, und</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">3. Personen, die in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig sind.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Ein ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht, wenn ab der Vollendung des ersten Lebensjahres mindestens eine Schutzimpfung und ab der Vollendung des zweiten Lebensjahres mindestens zwei Schutzimpfungen gegen Masern bei der betroffenen Person durchgeführt wurden. Satz 1 gilt auch, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten. Satz 1 gilt nicht für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können.“</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG:</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">„Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut oder in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig werden sollen, haben der Leitung der jeweiligen Einrichtung vor Beginn ihrer Betreuung oder ihrer Tätigkeit folgenden Nachweis vorzulegen:</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">1. eine Impfdokumentation nach § 22 Absatz 1 und 2 oder ein ärztliches Zeugnis, auch in Form einer Dokumentation nach § 26 Absatz 2 Satz 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, darüber, dass bei ihnen ein nach den Maßgaben von Absatz 8 Satz 2 ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht,</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">2. ein ärztliches Zeugnis darüber, dass bei ihnen eine Immunität gegen Masern vorliegt oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können oder</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">3. eine Bestätigung einer staatlichen Stelle oder der Leitung einer anderen in Absatz 8 Satz 1 genannten Einrichtung darüber, dass ein Nachweis nach Nummer 1 oder Nummer 2 bereits vorgelegen hat.“</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG:</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">„Eine Person, die ab der Vollendung des ersten Lebensjahres keinen Nachweis nach Satz 1 vorlegt, darf nicht in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut oder in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 beschäftigt werden.“</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">§ 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG:</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">„Das Gesundheitsamt kann einer Person, die trotz der Anforderung nach Satz 1 keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt oder der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach Satz 2 nicht Folge leistet, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in Absatz 8 Satz 1 genannten Einrichtung dienenden Räume betritt oder in einer solchen Einrichtung tätig wird.“</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">a. Der so verstandene Antrag der Antragsteller ist hinsichtlich der begehrten Feststellung zu § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG unzulässig. Die Regelung, wonach das Gesundheitsamt einer Person, die trotz der Anforderung nach Satz 1 keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt oder der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach Satz 2 nicht Folge leistet, untersagen kann, dass sie die dem Betrieb einer in Absatz 8 Satz 1 genannten Einrichtung dienenden Räume betritt oder in einer solchen Einrichtung tätig wird, begründet kein Rechtsverhältnis zwischen den Antragstellern und der Antragsgegnerin. Wie oben unter A. I. ausgeführt, ist ein solches nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn die Rechtsnorm unmittelbar Rechte und Pflichten des Normadressaten begründet, ohne dass eine Konkretisierung oder Individualisierung durch Verwaltungsvollzug vorgesehen oder möglich ist, und deshalb effektiver Rechtsschutz für den Normadressaten nur im Verhältnis zwischen dem Normadressaten und dem Normgeber gewährt werden kann. § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG sieht jedoch gerade eine Konkretisierung bzw. Individualisierung durch Verwaltungsvollzug vor, weil das Gesundheitsamt zum Erlass eines Betretungs- oder Tätigkeitsverbots ermächtigt wird. Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis besteht im Hinblick darauf zur Vollzugsbehörde und nicht zur Normgeberin.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">b. Soweit sich das Feststellungsbegehren auf § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG bezieht, ist dieser Antrag bei den Antragstellern zu 1. bis 7., 12. bis 14. und 16. bis 19. ebenfalls unzulässig, weil zwischen ihnen und der Antragsgegnerin auch insoweit kein feststellungsfähiges Rechtverhältnis besteht. § 20 Abs. 9 Satz 6 lfSG ist auf die Antragsteller zu 1. bis 7., 12. bis 14. und 16. bis 19. nicht anwendbar. Diese Vorschrift bestimmt, dass eine Person, die ab der Vollendung des ersten Lebensjahres keinen Nachweis nach Satz 1 der Vorschrift vorlegt, nicht in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 IfSG (Kindertageseinrichtungen und Kinderhorte; die nach § 43 Abs. 1 SGB VIII erlaubnispflichtige Kindertagespflege; Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen) betreut oder in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1 (Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen), § 33 Nummer 1 bis 4 (die vorgenannten Kinder- und Ausbildungseinrichtungen sowie Heime) oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 (Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern) IfSG beschäftigt werden darf. Die Regelung gilt, wie das Zusammenspiel mit § 20 Abs. 10 Satz 1 IfSG zeigt, für Personen, die ab dem 2. März 2020 eine Beschäftigung in einer solchen Einrichtung beginnen wollen oder ab diesem Zeitpunkt einen Betreuungsplatz neu antreten wollen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu dem betroffenen Personenkreis für die Nachweispflicht aus § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG ebenso: Gebhard in Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 20 Rn. 48.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Denn § 20 Abs. 10 IfSG enthält besondere Vorgaben für Personen, die bereits zum Stichtag 1. März 2020 einen entsprechenden Betreuungsplatz innehatten oder in einer der genannten Einrichtungen tätig waren, und sieht für diese Personen weder selbst ein solches gesetzliches Verbot vor, noch verweist er auf § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG (anders als z. B. auf § 9 Satz 3 IfSG). Daraus folgt, dass – wenn diese Personen aus den Einrichtungen ferngehalten werden sollen – das Gesundheitsamt auf der Grundlage von § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG ein Betretungs- oder Tätigkeitsverbot auszusprechen hat.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Insoweit sind diejenigen Antragsteller nicht von dieser Regelung beschwert, die seit dem Stichtag bereits eine Kindertageseinrichtung oder Schule besuchen (Antragsteller zu 3. bis 5., 13. und 16.) bzw. deren Eltern, soweit sie nur im Hinblick auf ihr Elternrecht Rechtsschutz suchen (Antragsteller zu 1., 2. und 12.). Ferner ist die Regelung nicht auf diejenigen Personen anwendbar, die bereits zum 1. März 2020 eine Beschäftigung in einer der von der Nachweispflicht erfassten Einrichtungen ausgeübt haben (Antragsteller zu 14. und 17., wobei der im Jahr 1967 geborene Antragsteller zu 17. wegen seines Geburtsdatums und der in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG getroffenen Stichtagsregelung ohnehin nicht betroffen ist). Die Antragstellerin zu 19. hat zwar nach dem 1. März 2020 einen Betreuungsplatz in einer Schule neu angetreten. Da sie aber schulpflichtig ist, gilt gemäß § 20 Abs. 9 Satz 9 IfSG das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG für sie nicht, so dass weder sie noch ihr Vater, der Antragsteller zu 18., durch diese Regelung berührt werden. Eine Betroffenheit der Antragsteller zu 6. und 7., die nur aus ihrem Elternrecht herzuleiten wäre, scheidet inzwischen aus, weil ihr Sohn, der Antragsteller zu 8., volljährig geworden ist.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">c. Für die Antragsteller zu 8. bis 11. und 15. kommt jedoch in Betracht, dass durch die Existenz des § 20 Abs. 9 Satz 6 lfSG ein konkretes Rechtsverhältnis zur Normgeberin begründet wird. Denn diese Regelung verhindert ohne weiteren Verwaltungsvollzug, dass der Antragsteller zu 11. einen Betreuungsplatz in einem Kindergarten erhält, wodurch auch das Elternrecht der Antragsteller zu 9. und 10. berührt sein dürfte. Der volljährige Antragsteller zu 8., der eine Berufsschule besuchen möchte, hat aufgrund der Regelung keinen Zugang zur von ihm angestrebten Schulbildung. Der Antragstellerin zu 15. ist aufgrund der Regelung die Aufnahme einer Tätigkeit als Erzieherin in einer von den Regelungen erfassten Einrichtung verwehrt.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Ob hinsichtlich dieser Antragsteller die Feststellungsanträge deswegen zulässig wären oder ob es nicht dennoch an der Voraussetzung fehlt, dass effektiver Rechtsschutz nur im Verhältnis zum Normgeber erlangt werden kann, weil eine Konkretisierung oder Individualisierung durch Verwaltungsvollzug vorgesehen oder möglich ist, und im Übrigen ein Betroffener im Regelfall auch zumutbarerweise auf den von der Verwaltungsgerichtsordnung als grundsätzlich angemessen und ausreichend angesehenen nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann,</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">so käme zum Beispiel bei einem erfolglosen Bemühen um einen Platz in einer Kindertageseinrichtung oder der Kindertagespflege eine gerichtliche Geltendmachung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII in Betracht, bei der die Anwendbarkeit der Regelungen des Masernschutzgesetzes als Vorfrage zu klären sind, vgl. z. B. OVG NRW, Beschluss vom 29. Oktober 2021 - 12 B 1277/21 -, juris, Rn. 18; vgl. zu den Voraussetzungen vorbeugenden Rechtsschutzes: BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1983 - 8 C 43.81 -, juris, Rn. 23, m. w. N.; Schl.-H. OVG, Beschluss vom 20. Mai 2022 - 3 MB 28/21 -, juris, Rn. 19,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">oder jedenfalls der Grundsatz der Subsidiarität der Feststellungsklage greift, kann allerdings offenbleiben. Denn ihre Anträge wären aus den Gründen zu II. jedenfalls unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">3. Der hilfsweise gestellte Antrag zu 3. ist unzulässig. Insoweit hätte die begehrte Verlängerung der Frist zur Vorlage des Nachweises nur zur Folge, dass der in § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG vorgesehene Verwaltungsvollzug später beginnen kann. Dieses Begehren kann ebenfalls gegenüber der Vollzugsbehörde geltend gemacht werden und begründet mithin kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zur Antragsgegnerin als Normgeberin.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">II. Soweit die Antragsteller rügen, dass das Verwaltungsgericht nur eine offene Folgenabwägung angestellt hat, verhilft dies der Beschwerde in der Sache – die Zulässigkeit des Antrags zu 2. der Antragsteller zu 8. bis 11. und 15. unterstellt – nicht zum Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon, dass eine solche Verfahrensrüge für sich genommen nicht zum Erfolg einer Beschwerde gegen die Ablehnung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 oder § 123 VwGO führen kann –,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. September 2020 - 1 B 1716/19 -, juris, Rn. 10, m. w. N.; OVG LSA, Beschluss vom 15. Februar 2021 ‑ 2 M 121/20 -, juris, Rn. 14,</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">ist hierin nicht ohne Weiteres die gerügte Versagung rechtlichen Gehörs zu sehen. Denn das Verwaltungsgericht ist gerade aufgrund der Vielzahl der geltend gemachten Verfassungsverstöße zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erfolgsaussichten als offen zu bewerten sind.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Ob das Verwaltungsgericht die Prüfung auf die deswegen allein durchgeführte Folgenabwägung beschränken durfte oder ob in der vorliegenden Fallkonstellation durch die Anwendung von § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG bereits in einer Weise vollendete Tatsachen geschaffen werden, die es gebieten, vor einer Folgenabwägung zu versuchen, dem verfassungsrechtlichen Gebot der tatsächlichen und rechtlichen Durchdringung des Falls nach Möglichkeit gerecht zu werden,</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. September 2016 - 1 BvR 1335/13 -, juris, Rn. 22; BVerwG, Beschluss vom 2. März 2020 - GrSen 1.19 -, juris, Rn. 17, m. w. N.,</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">kann offenbleiben.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Denn die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen aus den nachfolgenden Erwägungen auch bei Vornahme einer näheren Prüfung nicht vor. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der – wie hier – begehrt wird, festzustellen, dass § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG die Antragsteller zu 8. bis 11. und 15. in ihren Grundrechten verletzt und die damit letztlich darauf gerichtet ist, eine Regelung in einem formellen Gesetz gegenüber diesen Antragstellern nicht anzuwenden, ist an besondere Voraussetzungen geknüpft. Zwar sind die Fachgerichte in Bezug auf ein formelles Gesetz durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung nicht vorweggenommen wird. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes würde den Eintritt von Nachteilen während der Durchführung des Hauptsacheverfahrens verhindern.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1992 - 1 BvR 1028/91 -, juris, Rn. 29; BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2010 - 7 VR 5.10 -, juris, Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Ein solches Vorgehen kann bei formellen Gesetzen aber nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 100 Abs. 1 GG erfolgen.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. April 2009 - 16 B 539/09 -, juris, Rn. 34 ff.; in diesem Sinne auch: OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 2013 - 1 B 1316/12 -, juris, Rn. 8 ff.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Erforderlich ist mithin, dass das beschließende Gericht von der Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Vorschriften überzeugt ist. Dies bedeutet im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, dass der Grundrechtsverstoß offenkundig ist.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Maßstab des Art. 100 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss vom 25. März 2021 - 2 BvF 1/20 u. a. -, juris, Rn. 71; zur Notwendigkeit eines „offenkundigen Grundrechtsverstoßes“ für eine Regelung im vorläufigen Rechtsschutz: BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 1988 - 1 BvR 482/84 u. a. -, juris, Rn. 59; BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2010 - 7 VR 5.10 -, juris, Rn. 10; Nds. OVG, Beschluss vom 9. Oktober 2020 - 10 ME 207/20 -, juris, Rn. 6 ff.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Zu einer dem entsprechenden Überzeugung ist der Senat nicht gelangt.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Ergebnis ebenso: OVG NRW, Beschluss vom 29. Oktober 2021 - 12 B 1277/21 -, juris, Rn. 18 ff.; Nds. OVG, Beschluss vom 9. Oktober 2020 - 10 ME 207/20 -, juris, Rn. 5 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 7. Juli 2021 - 25 CS 21.1651 - juris, Rn. 10; VG Ansbach, Beschluss vom 5. November 2021 - AN 18 S 21.01884 -, juris, Rn. 29.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Allerdings dürfte die Annahme des Verwaltungsgerichts für sich genommen nicht tragen, der aufgrund einer Folgenabwägung ergangene Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2020 in den Sachen 1 BvR 469/20 und 1 BvR 470/20 zur Ablehnung eines Eilantrags gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG gegen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes zum Nachweis einer Masernschutzimpfung bestätige, dass die von den Antragstellern geltend gemachten Verfassungsverstöße nicht offensichtlich oder evident seien (VG-Beschlussabdruck, S. 7, erster Absatz). Denn bei der Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage von § 32 BVerfGG haben – worauf das Bundesverfassungsgericht in der o. g. Entscheidung auch hinweist – die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2020 - 1 BvR 469/20 und 1 BvR 470/20 -, juris, Rn. 10; näher zum Prüfungsmaßstab: BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 1958 - 2 BvQ 1/58 -, juris, Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Somit dürfte aus dem Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht eine Folgenabwägung angestellt hat, lediglich zu schließen sein, dass es die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache nicht als unzulässig oder offensichtlich unbegründet einschätzt.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Bei der gebotenen eigenständigen Prüfung steht jedenfalls nicht zur Überzeugung des Senats fest, dass – die Zulässigkeit der Anträge soweit unterstellt – § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG das Recht der Antragsteller zu 8., 11. und 15. auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG (1.) die Berufsfreiheit der Antragstellerin zu 15. aus Art. 12 Abs. 1 GG (2.) und das Elternrecht der Antragsteller zu 9. und 10. aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (3.) verletzt. Zudem ist nicht offensichtlich, dass ein rechtswidriger Eingriff in die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG vorliegt (4.) oder gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen wird (5.).</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">1. Die Vorschrift des § 20 Abs. 9 Satz 6 lfSG greift in das Recht der Antragsteller zu 8., 11. und 15. auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ein (a). Der Eingriff könnte aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, so dass der Senat nicht zu der für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung notwendigen Überzeugung gelangt, dass dieses Grundrecht verletzt wird (b.).</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">a. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht. Es bleibt vom Grundsatz her dem freien Willen der Grundrechtsträger überlassen, ob und welche medizinischen Maßnahmen sie für sich in Anspruch nehmen wollen. Das Selbstbestimmungsrecht umfasst auch – eigenverantwortlich getroffene – medizinisch unvernünftige Entscheidungen. Dieser Gewährleistungsgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird durch § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG verkürzt, auch wenn die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit von der Impfentscheidung der Betroffenen als notwendigem Zwischenschritt abhängig ist. Denn aufgrund der mit der Entscheidung gegen eine Impfung verbundenen in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG normierten nachteiligen Konsequenz liegt ein zielgerichteter mittelbarer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. ausführlich für die Impfung gegen SARS-CoV-2: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 ‑ 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 110 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">b. Dieser Eingriff bedarf verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Grundsätzlich können Eingriffe in das hier betroffene Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gerechtfertigt werden; es steht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung setzt voraus, dass die angegriffene Regelung formell (aa) und materiell verfassungsgemäß (bb) ist.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">aa. Die von den Antragstellern vorgetragenen Verfassungsverstöße in formeller Hinsicht liegen nicht in einer Weise auf der Hand, dass der Senat von der Verfassungswidrigkeit des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG überzeugt ist.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">(1) Für den Senat drängt sich zunächst nicht auf, dass dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass der Regelung fehlte. Denn der Bund hat gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren. Diese berechtigt ihn, Maßnahmen gegen die Verbreitung von Masern zu ergreifen, indem er für bestimmte Bereiche eine Pflicht vorsieht, eine Masernschutzimpfung nachzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Dass er hierfür auch Regelungen trifft, die Auswirkungen auf Schulen haben, überschreitet jedenfalls nicht offensichtlich seine Gesetzgebungskompetenz. Nach Art. 70 Abs. 1 GG haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Im Unterschied zu den Ländern bedarf nach dieser Regelung der Bund für ein Gesetzesvorhaben einer ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Befugnis. Für die Frage, ob eine solche Zuweisung besteht, kommt es auf die Gesetzgebungsmaterien an, wie sie insbesondere in Art. 73 (Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes) und 74 GG (Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung) niedergelegt sind. Dabei dürfen die einzelnen Vorschriften eines Gesetzes aber nicht isoliert betrachtet werden. Ausschlaggebend ist vielmehr der Regelungszusammenhang. Eine Teilregelung, die bei isolierter Betrachtung einer Materie zuzurechnen wäre, für die der Bundesgesetzgeber nicht zuständig ist, kann gleichwohl in seine Kompetenz fallen, wenn sie mit dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt der Gesamtregelung derart eng verzahnt ist, dass sie als Teil dieser Gesamtregelung erscheint.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteile vom 27. Oktober 1998 - 1 BvR 2306/96 -, juris, Rn. 157, und vom 17. Februar 1998 - 1 BvF 1/91 -, juris, Rn. 86.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Dies kommt hier für die Regelungen zu Schulen, wie die ihnen gegenüber zu erfüllenden Nachweispflichten, die von ihnen zu erfolgende Benachrichtigung des Gesundheitsamts bei Nichtvorlage des Nachweises, sowie Betreuungs-, Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbote, jedenfalls in Betracht. Denn es handelt sich hierbei um Regelungen, die zwar Schulen betreffen und von ihnen teilweise selbst umzusetzen sind, aber allein einen infektionsschutzrechtlichen Zweck verfolgen und nicht aus schulgestalterischen Erwägungen erlassen worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Verbot von Präsenzunterricht durch § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG während der Corona-Pandemie: BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u. a. -, juris, Rn. 86 f.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Daran ändert auch Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG und der Umstand, dass auch Privatschulen durch diese Regelungen Vorgaben gemacht werden, nichts.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes erstreckt sich im Übrigen auch auf Regelungen der Behördenorganisation und des Verwaltungsverfahrens, wobei es nicht darauf ankommt, ob man diese – auch – in der genannten Sachgesetzgebungskompetenz begründet sieht oder davon ausgeht, dass diese auf Art. 84 Abs. 1 Satz 2 GG beruht, aber akzessorisch zu einer Sachgesetzgebungskompetenz des Bundes ist.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Offengelassen: BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2014 - 3 CN 1.13 -, juris, Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">(2) Soweit die Antragsteller den Umfang der vom Gesundheitsausschuss vorgeschlagenen Änderungen am Beschlussentwurf der Bundesregierung rügen, ist der von ihnen hieraus abgeleitete Verstoß gegen die Regelungen zum Gesetzesinitiativrecht aus Art. 76 Abs. 1 GG nicht ersichtlich. Insbesondere gelten die Grundsätze der von den Antragstellern angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2008 - 2 BvL12/01 - nicht, in der es die Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses aufgezeigt hat. Dessen Vermittlungsvorschlag ist inhaltlich und formal an den durch den Deutschen Bundestag vorgegebenen Rahmen gebunden und durch diejenigen Regelungsgegenstände begrenzt, die bis zur letzten Lesung im Bundestag in das jeweilige Gesetzgebungsverfahren eingeführt waren (Rn. 60 ff.). Vorliegend ist indes nicht der Vermittlungsausschuss, sondern der ständige Gesundheitsausschuss tätig geworden, nachdem diesem die Vorlagen zur Masernimpfpflicht (Drucksachen 19/13452, 19/13826, 19/14061 und 19/9960) nach einer ersten Lesung im Bundestag überwiesen worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll Nr. 19/119, S. 14787 A.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Antragsteller lassen sich die dargestellten Grundsätze zu den Grenzen der Tätigkeit eines Vermittlungsausschusses nicht auf die Tätigkeit der ständigen Fachausschüsse des Bundestags übertragen. Der Vermittlungsausschuss ist gemäß Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG ein aus Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats für die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildeter Ausschuss, der nur auf Einberufung durch den Bundesrat (Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG) bzw. bei Zustimmungsgesetzen auch durch den Bundestag oder die Bundesregierung (Art. 77 Abs. 2 Satz 4 GG) tätig wird. Im Unterschied dazu haben die ständigen Fachausschüsse des Bundestags als vorbereitende Beschlussorgane die Funktion, dem Bundestag bestimmte Beschlüsse zu empfehlen (vgl. § 62 Abs. 1 GOBT), was zur Folge hat, dass der Schwerpunkt der Gesetzgebungsarbeit in den Ausschüssen stattfindet.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vgl. J. Masing/H. Risse in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band II, 7. Aufl. 2018, Art. 77, Rn. 29; Bryde in v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 77 Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Häufig werden hier Brücken zwischen den Fraktionen gebaut und die Gesetzesentwürfe mehr oder weniger überarbeitet.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Vgl. Deutscher Bundestag, Weg der Gesetzgebung, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/gesetzgebung_neu/gesetzgebung/weg-255468.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Die Ausschüsse verfügen damit über ein weitreichendes Umgestaltungsrecht.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Urteil vom 17. Oktober 2003 ‑ V ZR 91/03 -, juris, Rn. 15.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Dass die Änderungsvorschläge des Gesundheitsausschusses vorliegend so weit gingen, dass diese sich nicht mehr – wie in § 62 Abs. 1 Satz 2 GOBT vorgegeben – auf die überwiesenen Vorlagen oder die mit diesen in unmittelbarem Sachzusammenhang stehende Fragen bezogen haben und die Ergänzung sich damit in der Sache als eine Gesetzesinitiative des Ausschusses darstellte, drängt sich nicht auf. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine Vielzahl von Änderungen vorgenommen wurde. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Änderungen im Zusammenhang mit Gesetzgebungsziel und Gesetzgebungsinitiative der Vorlage standen.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu J. Masing/H. Risse in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band II, 7. Aufl. 2018, Art. 77 Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Es darf insoweit zu keiner „Denaturierung“ der Gesetzesvorlage führen, weil diese in sachlicher und inhaltlicher Hinsicht nicht einmal mehr in ihren Grundzügen erhalten geblieben ist. Die Regelungsidee des Initianten muss gewahrt bleiben.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Urteil vom 17. Oktober 2003 ‑ V ZR 91/03 -, juris, Rn. 15, m. w. N.; Brüning in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 76 Rn. 168 (Stand August 2016).</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Dieser Zusammenhang besteht bei den auf den Gesundheitsausschuss zurückgehenden Änderungen hinsichtlich der Regelungen zur Masernschutzimpfung. Größtenteils dienten die Änderungsvorschläge – wie das Einfügen der Definition des ausreichenden Impfschutzes gegen Masern oder die Ersetzung von Verweisen – der Präzisierung von Vorschriften und der Beseitigung von Unklarheiten, Widersprüchen oder rechtlichen Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. Nr. 19/15164, S. 21, 25, 43, 55, 56; s. auch Gebhard in Kießling, IfSG, 2. Auf. 2021, § 20 Rn. 44.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">(3) Ungeachtet der Frage, ob ein Gesetz als Ganzes zustimmungsbedürftig ist, wenn es auch nur eine Vorschrift enthält, die die Zustimmungsbedürftigkeit anordnet,</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">sog. Einheitsthese, vgl. z. B. BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1980 - 2 BvR 3/77 -, juris, Rn. 121; zuletzt allerdings offengelassen: Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, juris, Rn. 133,</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">ist das Gesetz jedenfalls auch nicht deshalb offensichtlich formell verfassungswidrig, weil es der Zustimmung des Bundesrats bedurft hätte, aber nur als Einspruchsgesetz erlassen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">(i) Eine Zustimmungsbedürftigkeit ergibt sich jedenfalls nicht so offensichtlich aus Art. 74 Abs. 2 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG, dass der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass das Masernschutzgesetz formell verfassungswidrig ist. Nach Art. 74 Abs. 2 GG bedürfen Gesetze auf dem Gebiet der Staatshaftung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG der Zustimmung des Bundesrats. Staatshaftung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG meint die Haftung nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder sowie aller anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. St. Oeter, in: v. Mangold/Klein/Stark, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 74 Rn. 168.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Das Masernschutzgesetz dürfte diesem Kompetenztitel mit Blick auf die Neuregelung in § 56 IfSG jedenfalls nicht offensichtlich unterfallen. Es hat sich darauf beschränkt, dem § 56 Abs. 1 IfSG den Satz anzufügen: „Eine Entschädigung nach den Sätzen 1 und 2 erhält nicht, wer durch Inanspruchnahme einer Schutzimpfung oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe, die gesetzlich vorgeschrieben ist oder im Bereich des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Betroffenen öffentlich empfohlen wurde, ein Verbot in der Ausübung seiner bisherigen Tätigkeit oder eine Absonderung hätte vermeiden können. Diese Regelung normiert keine Haftung für staatliches Unrecht, sondern schränkt den zuvor geltenden Anwendungsbereich des § 56 IfSG lediglich ein. Dass auch insoweit eine Zustimmungspflicht gilt, erscheint mit Blick auf den Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses, Länderinteressen zu wahren,</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 1974 ‑ 2 BvF 2/73 u. a. -, juris, Rn. 59,</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">jedenfalls nicht zwingend. Im Übrigen ist auch zweifelhaft, ob § 56 IfSG einem klassischerweise dem Staatshaftungsrecht zugehörigen Rechtsinstitut zugeordnet werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Vgl. Eckart/Winkelmüller in: BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand 1. April 2022, § 56 Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Antragsteller handelt es sich insbesondere nicht um einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch. Denn Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist eine im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Beziehung eingetretene rechtsgrundlose Vermögensverschiebung.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. November 1995 - 7 C 56.93 -, juris, Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Eine solche Konstellation liegt § 56 IfSG nicht zugrunde. Nach dem Willen des Gesetzgebers handelt es sich um eine „Billigkeitsregelung“, die die Betroffenen wirtschaftlich absichern und vor materieller Not schützen soll. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die von § 56 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG erfassten Ausscheider, Ansteckungs-, Krankheitsverdächtigen oder Träger von Krankheitserregern im infektionsschutzrechtlichen Sinne (Handlungs-)„Störer“ sind und als solche nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht einen infolge eines Erwerbstätigkeitsverbots oder einer Absonderung erlittenen Verdienstausfall grundsätzlich entschädigungslos hinnehmen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Juni 2022 - 3 B 29.21 -, juris, Rn. 17; BGH, Urteile vom 17. März 2022 - III ZR 79/21 -, juris, Rn. 18 f., und vom 30. November 1978 - III ZR 43/77 -, juris, Rn. 22 f .; Kümper in Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 56 Rn. 3; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, 5. Aufl. 2021, § 56 Rn. 1, mit Verweis auf BT-Drs. Nr. 1888, S. 27; Aligbe, Infektionsschutzrecht in Zeiten von Corona, 1. Aufl. 2021, 9. Kapitel, 1. Allgemeines.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Dieser Umstand, der einige zu der Einschätzung bewegt hat, es handele sich bei der Regelung in § 56 Abs. 1 IfSG um eine Maßnahme der sozialen Sicherung,</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">vgl. Kümper in Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 56 Rn. 3, m. w. N.; Aligbe, Infektionsschutzrecht in Zeiten von Corona, 1. Aufl. 2021, 9. Kapitel, 1. Allgemeines; in diesem Sinne auch Stöß/Putzer, NJW 2020, 1465, 1466; vgl. mit einer etwas anderen Tendenz allerdings BT-Drs. 14/2530, S. 87; Eckart/Winkelmüller in: BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand 1. April 2022, § 56 Rn. 10, der diese Maßnahme nicht als eine Entschädigung im sozialrechtlichen Sinne verstanden wissen will,</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">ist jedenfalls ein beachtliches Argument dagegen, dass die Regelungen nach Art. 74 Abs. 2 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG als Regelungen des „Staatshaftungsrechts“ zustimmungsbedürftig sind.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">(ii) Eine Zustimmungsbedürftigkeit wird nicht durch Art. 74 Abs. 2 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG ausgelöst. Danach bedürfen Gesetze, die Statusrechte und ‑pflichten der Beamten der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie der Richter in den Ländern mit Ausnahme der Laufbahnen, Besoldung und Versorgung regeln, der Zustimmung des Bundesrats. Es werden jedoch durch das Masernschutzgesetz lediglich allgemeine Rechtspflichten insbesondere von Landes- oder Gemeindebeamten und keine spezifischen Rechte und Pflichten geregelt, die deren Statusverhältnis beträfen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu entsprechenden Regelungen im Zusammenhang mit der einrichtungsbezogenen Impfflicht gegen SARS-CoV-2: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 118.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">(iii) Auch aus Art. 84 Abs. 1 Satz 5 und 6 GG ergibt sich keine formelle Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur Masernschutzimpfung, weil, wie die Antragsteller zu 8. bis 11. und 15. meinen, neue Zuständigkeiten (z. B. § 20 Abs. 9 Satz 2, Abs. 11 Satz 2 IfSG) begründet würden und ein bestimmtes Verwaltungsverfahren angeordnet werde (z. B. § 20 Abs. 12 Sätze 1, 3, Abs. 9 Sätze 3, 4 IfSG).</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Art. 84 GG bestimmt, dass, wenn die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen – wie hier das Infektionsschutzgesetz – sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln (Satz 1). In Ausnahmefällen kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren jedoch ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln (Satz 5). Diese Gesetze bedürfen der Zustimmung des Bundesrats (Satz 6).</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Vgl. im Übrigen dazu, dass durch die Ersetzung des Zustimmungserfordernisses durch eine Abweichungsbefugnis der Länder die Quote der zustimmungsbedürftigen Gesetze verringert werden sollte: BT-Drs. 16/813, S. 14 (zu Nr. 9).</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrats setzt danach eine bundesgesetzliche Regelung über die Einrichtung und das Verfahren von Landesbehörden voraus. Eine Einrichtungsregelung liegt nicht nur vor, wenn ein Bundesgesetz neue Landesbehörden vorschreibt, sondern auch, wenn es den näheren Aufgabenkreis einer Landesbehörde festlegt. Das Verfahren der Landesbehörden wird dagegen geregelt, wenn das Gesetz verbindlich die Art und Weise sowie die Form der Ausführung eines Bundesgesetzes bestimmt. Das ist auch dann der Fall, wenn materiell-rechtliche Regelungen des Gesetzes nicht lediglich die Verwaltungsbehörden zum Handeln auffordern, sondern zugleich ein bestimmtes verfahrensmäßiges Verwaltungshandeln festlegen.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Juli 2002 - 1 BvF 1/01, 1 BvR 2/02 -, juris, Rn. 48, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Ob die angefochtenen Regelungen des Masernschutzgesetzes daran gemessen die Einrichtung von Behörden oder das Verwaltungsverfahren regeln, wofür z. B. bei § 12 Abs. 9 Satz 2 ff. oder § 12 Abs. 12 Satz 2 ff. IfSG jedenfalls einiges sprechen könnte, kann jedoch dahinstehen. Ein Zustimmungserfordernis könnte nach Art. 84 Abs. 1 Satz 5 und 6 GG nur dann bestehen, wenn ein Bundesgesetz das Verwaltungsverfahren „ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder“ geregelt hat. Eine solche Abweichungsfestigkeit setzt jedoch eine ausdrückliche, zumindest aber hinreichend deutliche Regelung voraus. Dies wird dem Anliegen der Föderalismusreform gerecht, „die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen“ (so die Begründung des Entwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD für ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 16/813, S. 1).</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Juni 2016 - 1 BvR 1015/15 -, juris, Rn. 60.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Einen solchen ausdrücklichen Ausschluss einer Abweichungsmöglichkeit enthält das Masernschutzgesetz jedoch nicht.</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">(4) Der geltend gemachte Verstoß gegen das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist jedenfalls nicht offensichtlich festzustellen. § 20 Abs. 14 IfSG verweist darauf, dass durch die Abs. 6 bis 12 der Vorschrift das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) eingeschränkt wird. Entgegen der Auffassung der Antragsteller liegt aber nicht auf der Hand, dass ferner ein Verweis auf eine Einschränkung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, 6 Abs. 3 GG, 8 Abs. 2 GG, 11 Abs. 1 GG sowie Art. 13 Abs. 7 GG erforderlich gewesen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG knüpft an die in Satz 1 in dieser Vorschrift umschriebene Voraussetzung an, dass „ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann“. Für diesen Fall wird bestimmt, dass das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen muss. Das Zitiergebot dient zur Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines speziellen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden könnten. Es erfüllt eine Warn- und Besinnungsfunktion. Indem das Gebot den Gesetzgeber zwingt, Grundrechtseingriffe im Gesetzeswortlaut auszuweisen, will es sicherstellen, dass nur wirklich gewollte Eingriffe erfolgen; auch soll sich der Gesetzgeber über die Auswirkungen seiner Regelungen für die betroffenen Grundrechte Rechenschaft geben.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 916/11 u. a. -, juris, Rn. 230, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon ist bei Art. 2 Abs. 2 Satz 2 (Freiheit der Person), 11 Abs. 1 (Freizügigkeit) sowie Art. 13 Abs. 7 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) jedenfalls nicht offensichtlich, dass deren Schutzbereich durch die Vorschriften über eine Masernschutzimpfung überhaupt berührt wird.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Sinne zu den ähnlich ausgestalteten Regelungen zu einem Immunitätsnachweis gegen COVID-19, die unter bestimmten Voraussetzungen z. B. auch zum Erlass eines Betretungsverbots – auch hinsichtlich Arbeitsstätten – ermächtigen (vgl. § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG): BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 97.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Dass dies anders beurteilt werden müsste, weil auch Kindertagesstätten und Privatschulen von Betretungsverboten umfasst sind, drängt sich jedenfalls nicht auf. Es erscheint vielmehr auch diesbezüglich fragwürdig, ob der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG, der das Recht schützt, ungehindert durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, überhaupt berührt ist. Dessen Reichweite ist umstritten.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Vgl. näher zum Streitstand: Epping/Hillgruber in BeckOK GG, Stand 15. Mai 2022, Art. 11 Rn. 11 ff.; Dürig/Herzog/Scholz, GG, Werkstand November 2021, Art. 11 Rn. 77 f.</p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Recht der Eltern von Schülern aus Art. 13 GG berührt sein soll. Warum für diese das Schulgebäude als Wohnung i. S. d. Art. 13 GG qualifiziert werden sollte, erschließt sich dem Senat nicht. Ferner dürfen die Eltern, auch wenn sie selbst keinen Immunschutz gegen Masern aufweisen, Schulen und Kindertageseinrichtungen weiterhin betreten. Denn die entsprechenden Pflichten betreffen – wie auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat – jeweils nur Personen, die in den Einrichtungen betreut werden oder dort tätig sind, nicht aber Personen, die diese zu einem anderen Zweck – wie z. B. zur Teilnahme an einem Elternabend – lediglich besuchen wollen. Soweit Lehrern das Aufsuchen ihrer Arbeitsstätte verwehrt wird, dürfte dies dem sachnäheren Schutz der Berufsfreiheit unterliegen.</p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Ein Eingriff in Art. 6 Abs. 3 GG, der bestimmt, dass gegen den Willen Kinder von den Erziehungsberechtigten nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden dürfen, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen, liegt fern.</p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Auch inwieweit die Regelungen in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG eingreifen sollten, erschließt sich für den Senat nicht und wird von den Antragstellern auch nicht näher begründet.</p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">bb. Auch in materieller Hinsicht ist die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG jedenfalls nicht offenkundig.</p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">(1) Der Senat vermag dem Vorbringen der Antragsteller nicht zu folgen, wonach eine Verfassungswidrigkeit daraus folgen soll, dass § 20 Abs. 9 Nr. 1 IfSG, auf den § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG Bezug nimmt, auf § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB V verweist.</p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSG sieht vor, dass ein Nachweis über einen ausreichenden Impfschutz – neben anderen Nachweismöglichkeiten – auch durch ein ärztliches Zeugnis in Form einer Dokumentation nach § 26 Abs. 2 Satz 4 SGB V erbracht werden kann. § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB V regelt, dass in der ärztlichen Dokumentation über Gesundheitsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche auf den Impfstatus in Bezug auf Masern hingewiesen werden soll, um einen Nachweis im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 IfSG zu ermöglichen. Näheres über unter anderem Inhalt, Art und Umfang dieser Gesundheitsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche regelt gemäß § 26 Abs. 2 Satz 2 SGB V der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 SGB V.</p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Entgegen der der Argumentation der Antragsteller offenbar zugrundeliegenden Annahme dürfte dem Gemeinsamen Bundesausschuss der Krankenkassen nicht pauschal, d. h. unabhängig davon, auf welche Befugnisnorm er sich stützt, welches Gehalt und welche Reichweite von ihm erlassene Regelungen haben und wen diese betreffen, die demokratische Legitimation für seine Tätigkeit fehlen.</p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 - 1 BvR 2056/12 -, juris, Rn. 22.</p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Die Antragsteller haben indes nicht dargetan, warum dem Gemeinsamen Bundesausschuss der Krankenkassen die hinreichende Legitimation konkret für die diesem in § 26 Abs. 2 Satz 2 SGB V zugewiesene Aufgabe, das Nähere über unter anderem Inhalt, Art und Umfang der Gesundheitsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche zu regeln, fehlen soll.</p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen erschließt sich aber auch nicht, warum eine etwaige mangelnde Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses der Krankenkassen, nähere Regelungen zu Art und Umfang von Gesundheitsuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen zu treffen, zur Verfassungswidrigkeit von § 20 Abs. 9 Satz 1Nr. 1 IfSG führen soll. Denn dieser bestimmt lediglich, dass (neben anderen Nachweismöglichkeiten) auch mit einer Dokumentation einer ärztlichen Untersuchung nach § 26 Abs. 2 Satz 4 SGB V ein Nachweis über das Vorliegen eines Impfschutzes gegen Masern erbracht werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">(2) Der Senat konnte auch nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass das gesetzliche Betreuungs- und Tätigkeitsverbot, das nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG greift, wenn vor Antritt der Tätigkeit bzw. Aufnahme eines Betreuungsplatzes in einer von den Regelungen erfassten Einrichtung kein ausreichender Schutz gegen Masern nachgewiesen wird, gegen die Grundsätze der sog. Wesentlichkeitsdoktrin verstößt.</p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Diese wird aus dem Vorbehalt des Gesetzes hergeleitet, der im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verlangt, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Nach der sog. Wesentlichkeitsdoktrin betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben. Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab.</p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1990 - 1 BvR 402/87 -, juris, Rn. 39, und Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 -, juris, Rn. 67 f., jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Es liegt jedenfalls nicht ohne Weiteres auf der Hand, dass der Gesetzgeber – wie die Antragsteller meinen – wesentliche Regelungen im Zusammenhang mit der Masernschutzimpfung nicht selbst getroffen, sondern letztlich der Pharmaindustrie überlassen hat, die die Impfstoffe gegen Masern zur Verfügung stellt. Aus § 20 Abs. 9 Satz 8 IfSG ergibt sich mittelbar, dass der Nachweis der Masernschutzimpfung durch Impfstoffe mit einer Masernkomponente, die für das Inverkehrbringen in Deutschland zugelassen oder genehmigt sind, erbracht werden muss. Welche Impfstoffe dies im Einzelnen sind, hat der Gesetzgeber nicht definiert. § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG, wonach ein ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht, wenn ab der Vollendung des ersten Lebensjahres mindestens eine Schutzimpfung und ab der Vollendung des zweiten Lebensjahres mindestens zwei Schutzimpfungen gegen Masern bei der betroffenen Person durchgeführt wurden, stellt – über die Zulassung des Impfstoffs hinausgehend – keine spezifischen Anforderungen an den konkret zu verwendenden Impfstoff. Der Gesetzgeber hat jedoch mit § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG zu erkennen gegeben, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG (und damit auch § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) auch gilt, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten. Aktuell bedeutet dies, dass eine Impfung mit einem sog. Kombinationsimpfstoff zu erfolgen hat. Mit diesem Umstand hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich und in Kenntnis der sich derzeit auf dem Markt befindlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln beziehungsweise gegen Masern-Mumps-Röteln-Windpocken auseinandergesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 28.</p>
<span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Dies kann allerdings in Zukunft theoretisch dazu führen, dass der für die Masernschutzimpfung vorzuweisende Impfnachweis nur zu erlangen ist, wenn der Pflichtige eine Kombinationsimpfung auch gegen andere Erkrankungen erhalten hat. Je nach Produktionsverhalten der Pharmaindustrie oder Medikamentenzulassung durch die zuständigen Behörden, könnten künftig ausschließlich Impfstoffe zur Verfügung stehen, die neben dem Masernimpfstoff andere Impfstoffe beinhalten als die aktuell vertriebenen MMR-Impfstoffe. Auch wenn gewisse Bedenken bestehen, ob dies mit dem Erfordernis einer Gesetzesgrundlage für Grundrechtsbeschränkungen in Einklang zu bringen ist,</p>
<span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">vgl. zu diesen Bedenken BR-Drs. 358/1/19, 27 (32),</p>
<span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">weil hierdurch faktisch die Impfvorgaben auf andere Erkrankungen erstreckt würden, dürfte dies jedenfalls nicht eindeutig zu verneinen sein. Denn jedenfalls könnte der Gesetzgeber auf eine etwaige Entwicklung bei der Impfstoffherstellung, die seine ursprünglichen Annahmen nicht mehr tragen sollten, noch reagieren, soweit dies verfassungsrechtlich geboten sein sollte.</p>
<span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 ‑ 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 167.</p>
<span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">Diese Option – die insoweit allerdings faktisch mit einer gewissen Pflicht einhergeht die entsprechenden Entwicklungen im Blick zu behalten – könnte möglicherweise ausreichen, um den Vorgaben der sog. Wesentlichkeitsdoktrin zu genügen, weil bei der Vielzahl theoretisch denkbarer Kombinationsimpfstoffe eine vorherige Festlegung möglicher Kombinationspräparate nur schwerlich in Form einer alle Eventualitäten erfassenden gesetzlichen Regelung möglich sein dürfte.</p>
<span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu, dass der erforderliche Grad der Bestimmtheit einer gesetzlichen Regelung auch davon abhängt inwieweit der zu regelnde Sachbereich einer genauen begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 126; sowie im Zusammenhang mit den Impfungen gegen SARS-CoV-2 dazu, dass der Gesetzgeber auch mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz nicht gehalten ist, zugelassene Impfstoffe selbst zu benennen: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 146; krit. Aligbe in Eckart/Winkelmüller, BeckOK IfSG, § 20 Rn. 206 f.</p>
<span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Dass der Gesetzgeber sich im Hinblick darauf hätte festlegen müssen, dass die Vorgaben nur gelten, wenn in Zukunft wenigstens eines der derzeit auf dem Markt befindlichen Kombinationspräparate zur Verfügung steht, ist jedenfalls nicht offensichtlich zu bejahen.</p>
<span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">(3) Der Eingriff in das Recht der Antragsteller zu 8., 11. und 15. auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch § 20 Abs. 9 Satz 6 lfSG könnte auch verhältnismäßig sein, so dass der Senat nicht zu der für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung notwendigen Überzeugung gelangt ist, dass dieses Grundrecht verletzt wird. Die Regelung in § 20 Abs. 9 Satz 6 lfSG dürfte einen legitimen Zweck verfolgen (i). Gewisse Zweifel an der Eignung (ii), Erforderlichkeit (iii) und Angemessenheit (iv) reichen nicht aus, um die begehrte einstweilige Anordnung auszusprechen.</p>
<span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">(i) Durch gesetzliche Regelungen erfolgende Eingriffe in Grundrechte können lediglich dann gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber damit verfassungsrechtlich legitime Zwecke verfolgt. Impfungen gegen Masern in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur das Individuum gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, wenn mit Hilfe der Maßnahmen erreicht wird, dass die Impfquote in der Bevölkerung hoch genug ist. Auf diese Weise will der Gesetzgeber auch Personen schützen, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe bei einer Infektion drohen. Ziel des Masernschutzgesetzes ist namentlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat prinzipiell auch kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angehalten ist.</p>
<span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2020 - 1 BvR 469/20, 1 BvR 470 -, juris, Rn. 15, sowie näher zur Schutzpflicht: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 155.</p>
<span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Ferner kommt angesichts des in § 1 IfSG definierten Zweck des Gesetzes, übertragbare Krankheiten beim Menschen vorzubeugen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern, als legitimes Ziel die Konkordanz mit den Zielen der WHO, die Masern zu eliminieren, in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">Vgl. Zuck, Gesetzlicher Masern-Impfzwang, ZRP 2017, 118, 119.</p>
<span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Der Gesetzgeber verweist in der Gesetzesbegründung darauf, dass in Deutschland die Masern weiterhin zirkulierten, weil eine Impfquote von 95 %, die dies verhindern würde, bisher nicht erreicht worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, „Masern“, wonach Experten davon ausgehen, dass sich die Masern nicht ausbreiten können, wenn mehr als 95 % der Bürger eine Immunität gegen Masern durch Impfung oder durch eine durchgemachte Erkrankung haben, abrufbar unter:</p>
<span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/m/masern.html; vgl. zur Ermittlung dieses Werts: Robert Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern - Warum können die Masern ausgerottet werden, wenn 95 % in der Bevölkerung immun sind?, Stand 25. Januar 2022, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html.</p>
<span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">Masern gehörten zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten des Menschen und seien anders als verbreitet angenommen keine harmlose Erkrankung, sondern verliefen schwer und zögen Komplikationen und Folgeerkrankungen nach sich. Dies begründe eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, der mit den Regelungen aus dem sog. Masernschutzgesetz begegnet werden müsse. Ziel des Gesetzes sei es dabei, einen individuellen Schutz insbesondere von vulnerablen Personen sowie einen ausreichender Gemeinschaftsschutz vor Maserninfektionen zu erreichen. Der Fokus liege hierbei insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen. Damit würden vor allem auch jene Personen von einem Gemeinschaftsschutz profitieren, die auf Grund ihrer gesundheitlichen Verfassung eine Schutzimpfung nicht in Anspruch nehmen können. Durch eine deutliche Steigerung der Impfquoten in Deutschland könne mittelfristig auch die Elimination der Masern in Deutschland und das von der WHO vorgegebene globale Ziel der Masernelimination erreicht werden.</p>
<span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. Nr. 19/13452, S. 1.</p>
<span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Diese Erwägungen sind aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Masern sind hochansteckend. Faktisch alle nicht immunen Menschen erkranken nach Exposition.</p>
<span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI, Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung, Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020, S. 5, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/02_20.pdf?__blob=publicationFile.</p>
<span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Masern stellen keine harmlose Infektionskrankheit dar. Als Komplikationen können Mittelohr-, Lungen- oder Gehirnentzündungen auftreten.</p>
<span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Vgl. Robert Koch-Institut, Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2019, S. 172.</p>
<span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Spätfolge der Masern ist die subakute sklerosierende Panenzephalitits (SSPE). Diese wird nach WHO-Angaben bei vier bis elf von 100.000 Masern-Fällen beobachtet und tritt durchschnittlich etwa 7 Jahre nach einer akuten Masern-Infektion auf, bei Kindern ist dieses Risiko erhöht.</p>
<span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI, Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung, Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020, S. 6, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/02_20.pdf?__blob=publicationFile.</p>
<span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">Im Jahr 2019 mussten in Deutschland 35 % der an Masern Erkrankten hospitalisiert werden, eine Person ist an einer akuten Maserninfektion verstorben.</p>
<span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">Vgl. Robert Koch-Institut, Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2019, S. 175.</p>
<span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">In den 1950er und 1960er Jahren, d. h. vor Einführung der Masernschutzimpfung, starben jährlich in Deutschland noch zwischen 50 und 470 Menschen an Masern.</p>
<span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI, Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung, Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020, S. 6, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/02_20.pdf?__blob=publicationFile.</p>
<span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">Maserninfektionen sind – wie die Gesetzesbegründung zutreffend ausführt – in Deutschland nicht eliminiert. Für das Jahr 2019 wurden 514 Masernfälle festgestellt, womit eine Maserninzidenz von 0,6 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner/Jahr vorlag. Diese lag deutlich über der von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebenen Indikatorinzidenz von < 0,1 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner/Jahr, die diese als erfolgreichen Schritt in Richtung einer Elimination der Masern definiert hatte. Betroffen waren insbesondere Kinder in den ersten Lebensjahren und damit eine Altersgruppe, die von Komplikationen besonders betroffen ist. Die Inzidenz bei Kindern unter 12 Monaten zeigt, dass der Gemeinschaftsschutz nicht ausreicht, um eine Ausbreitung der Masern in dieser Altersgruppe zu verhindern und diejenigen wirksam zu schützen, die selbst (noch) nicht geimpft werden können.</p>
<span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">Vgl. Robert Koch-Institut, Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2019, S. 172, 178, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Jahrbuch/Jahrbuch_2019.pdf?__blob=publicationFile.</p>
<span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">Denn die Impfungen sind für Kinder frühestens ab dem 9. Lebensmonat zugelassen, also erst einige Monate nachdem ihr natürlicher Immunschutz nachgelassen hat.</p>
<span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">Vgl. Robert Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern – Für wen sind Maserninfektionen besonders gefährlich?, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html.</p>
<span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">In den Jahren vor 2019 schwankte die Zahl der übermittelten Fälle teils erheblich, diese lagen jedoch jeweils deutlich über dem historischen Tiefstand von 123 Masernfällen im Jahr 2004.</p>
<span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Vgl. Robert Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern – Wie häufig treten Masernerkrankungen in Deutschland auf?, Stand 28. Februar 2022, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html</p>
<span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">(ii) § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG dürfte jedenfalls zur Verfolgung des Zwecks, einen individuellen Schutz insbesondere von vulnerablen Personen vor Maserninfektionen zu erreichen, auch geeignet sein.</p>
<span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Für die Eignung genügt bereits die Möglichkeit, durch die Regelung den mit ihr verfolgten Zweck zu erreichen. Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele der Norm zu erreichen. Dieser Spielraum reicht nicht stets gleich weit. Insoweit hängt sein Umfang vielmehr einzelfallbezogen etwa von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ab. Für Letzteres können auch das vom Eingriff betroffene Recht und das Eingriffsgewicht eine Rolle spielen. Auch hier gilt, dass bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen dürfen. Erfolgt aber der Eingriff zum Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt.</p>
<span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 166.</p>
<span class="absatzRechts">203</span><p class="absatzLinks">Es spricht viel dafür, dass § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG zur Erreichung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks, vulnerable Personen zu schützen, unter Zugrundelegung dieses Maßstabs geeignet ist. Die Masernschutzimpfung weist eine hohe Impfeffektivität auf (95 bis 100 % bei der auch vom Gesetzgeber vorgesehenen zweifachen Impfung) und vermittelt einen lebenslangen Schutz.</p>
<span class="absatzRechts">204</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI, Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung, Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020, S. 9 f.</p>
<span class="absatzRechts">205</span><p class="absatzLinks">Die Vorgaben zu Masernschutzimpfungen hat der Gesetzgeber insbesondere für Bereiche vorgesehen, die von Masernausbrüchen überproportional häufig betroffen sind. Viele Ausbrüche mit mehreren Erkrankten ereignen sich in medizinischen Einrichtungen oder Betreuungseinrichtungen.</p>
<span class="absatzRechts">206</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI, Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung, Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020, S. 8, abrufbar unterhttps://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/02_20.pdf?__blob=publicationFile.</p>
<span class="absatzRechts">207</span><p class="absatzLinks">Die Erzielung einer hohen Impfquote in diesen Bereichen bzw. das Fernhalten nicht geimpfter Personen aus diesen Einrichtungen dürfte damit der Reduzierung von Infektionen dienen.</p>
<span class="absatzRechts">208</span><p class="absatzLinks">Von entsprechenden Vorgaben in Einrichtungen der Kinderbetreuung dürften insbesondere junge Kinder profitieren, die aufgrund ihres Alters noch nicht geimpft sind, aber bei Infektionen ein besonders hohes Risiko haben, Komplikationen zu erleiden. Die Vorgaben für das Personal in medizinischen Einrichtungen dürften insbesondere dort behandelte vulnerable Personen – wie etwa Neu- oder Frühgeborene – vor Infektionen schützen. So wurden in der Vergangenheit Masernausbrüche in medizinischen Einrichtungen beobachtet, bei denen als Auslöser das medizinische Personal identifiziert wurde.</p>
<span class="absatzRechts">209</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI, Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung, Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020, S. 8, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">210</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/02_20.pdf?__blob=publicationFile..</p>
<span class="absatzRechts">211</span><p class="absatzLinks">Offen ist hingegen, ob die vorhandenen Impflücken in der Bevölkerung mit der Beschränkung auf die Pflichtimpfung von Betreuern und Betreuten in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 IfSG und von Personen, die in einer medizinischen Einrichtung nach § 23 Absatz 3 Satz 1 IfSG Tätigkeiten mit Kontakt zu Patienten ausüben, auch in dem Umfang geschlossen werden können, dass die entsprechende der WHO-Vorgabe angestrebte Immunisierung von 95 % der Gesamtbevölkerung erreicht werden kann. Angesichts der konstatierten Impflücken bei nach 1970 geborenen Erwachsenen könnte es näherer Aufklärung bedürfen, ob allein eine Impfpflicht für die in den genannten Bereichen tätigen Erwachsenen ausreicht, um eine 95-prozentige Immunisierung der Gesamtbevölkerung zu erreichen.</p>
<span class="absatzRechts">212</span><p class="absatzLinks">Vgl. diesbezüglich zweifelnd BR-Drs. 358/1/19, 27 (31), Stellungnahme des Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht eV (DIJuF) zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 19/13452).</p>
<span class="absatzRechts">213</span><p class="absatzLinks">(iii) Offen ist ferner, ob § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG als Maßnahme zum Schutz insbesondere vulnerabler Personen auch erforderlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">214</span><p class="absatzLinks">Grundrechtseingriffe dürfen nicht weitergehen, als es der Schutz des Gemeinwohls erfordert. Daran fehlt es, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Erreichung des Gemeinwohlziels zur Verfügung steht, das den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen. Dem Gesetzgeber steht grundsätzlich auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum zu. Der Spielraum bezieht sich unter anderem darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren. Dient der Eingriff dem Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt.</p>
<span class="absatzRechts">215</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. -, juris, Rn. 202 ff.</p>
<span class="absatzRechts">216</span><p class="absatzLinks">Fraglich ist schon, ob die Annahme zutrifft, dass mildere Maßnahmen, wie Informationskampagnen oder die Ausweitung von Impfangeboten, den verfolgten Zweck nicht in gleicher Weise erreichen würden.</p>
<span class="absatzRechts">217</span><p class="absatzLinks">Vgl. die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats „Impfen als Pflicht“ vom 27. Juni 2019, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">218</span><p class="absatzLinks">https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf</p>
<span class="absatzRechts">219</span><p class="absatzLinks">Zwar ist zu berücksichtigen, dass durch solche Maßnahmen Personen nicht zum Impfen bewegt werden, die – wie z. B. die Antragsteller – eine Masernschutzimpfung grundsätzlich ablehnen. Allerdings folgt daraus nicht zwangsläufig, dass eine Impfberatung als milderes Mittel tatsächlich nicht genügt. Zwar haben laut Gesetzentwurf die bisherigen Maßnahmen einer Impfberatungspflicht noch nicht zu einem relevanten Rückgang der Maserninfektion geführt (BT-Drs. 19/13452, 2). Ob dies aber an Umsetzungsdefiziten bei der Durchführung der Impfberatung liegt und ob bei der beratenen Personengruppe die erforderlichen Impfquoten infolge der Beratung tatsächlich nicht erreicht werden, ist nicht abschließend geklärt. Laut Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) liegen die Impfquoten bei Kindern mit knapp über 97 % bei der ersten Masernimpfung sogar oberhalb der von der WHO empfohlenen Durchimpfungsrate von 95 % und lediglich die Quoten der zweiten Impfung mit knapp 93 % gerade unterhalb der empfohlenen Impfquote. Gerade im Hinblick auf das Fehlen nur eines kleinen Teils und nur der zweiten Impfung lässt sich aber vermuten, dass es sich größtenteils nicht um kategorische „Impfgegner“ handelt und bereits das Erreichen der „Impfvergesser“ ausreichen könnte, um die erforderlichen Impfquoten zu erreichen. Der verhältnismäßig besonders schwere Eingriff in die Impfentscheidung von tatsächlichen „Impfgegnern“ könnte vermieden werden, wenn durch das Erreichen der „Impfvergesser“ bereits das Gesetzesziel erreicht werden könnte.</p>
<span class="absatzRechts">220</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stellungnahme des Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht eV (DIJuF) zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 19/13452).</p>
<span class="absatzRechts">221</span><p class="absatzLinks">Auch ist zu erwägen, ob evtl. zeitweise Betreuungsverbote in Kitas und Schulen für nicht immunisierte Kinder (z. B. nach dem Auftreten von Masernfällen) eine Alternative darstellen, mit der das verfolgte Ziel zwar nicht in gleichem, aber möglicherweise ausreichendem Maße erreicht würde.</p>
<span class="absatzRechts">222</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu dieser Option: Stellungnahme des Deutschen Ethikrats „Impfen als Pflicht“ vom 27. Juni 2019 (Empfehlung Nr. 11), abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">223</span><p class="absatzLinks">https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf.</p>
<span class="absatzRechts">224</span><p class="absatzLinks">Diese Bedenken, ob die Regelung erforderlich ist, sind allerdings nicht so schwerwiegend, dass der Senat zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Erforderlichkeit zu verneinen ist. Denn zum einen ist zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber, wie ausgeführt, eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Erforderlichkeit der Maßnahmen zukommt. Zum anderen ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch „Impfvergesser“ effizienter zur Durchführung der fehlenden Impfung angehalten werden, wenn die in den gesetzlichen Regelungen vorgesehenen Konsequenzen – wie das in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG geregelte Betreuungs- und Tätigkeitsverbot – drohen.</p>
<span class="absatzRechts">225</span><p class="absatzLinks">(iii) Nicht offensichtlich zu bejahen ist weiter die Frage, ob die Regelung in § 12 Abs. 9 Satz 6 IfSG angemessen ist. Sie ist jedoch nach Prüfung des Senats jedenfalls nicht offensichtlich unangemessen.</p>
<span class="absatzRechts">226</span><p class="absatzLinks">Die Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen. Es ist Aufgabe des Normgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegenüberzustellen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Umgekehrt wird ein Handeln des Normgebers umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können. Auch bei der Prüfung der Angemessenheit besteht grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum des Normgebers. Die gerichtliche Prüfung bezieht sich dann darauf, ob der Normgeber seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat. Bei der Kontrolle prognostischer Entscheidungen setzt dies wiederum voraus, dass die Prognose auf einer hinreichend gesicherten Grundlage beruht.</p>
<span class="absatzRechts">227</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. -, juris, Rn. 216 f.</p>
<span class="absatzRechts">228</span><p class="absatzLinks">Es steht nicht zur notwendigen Überzeugung des Senats fest, dass der Gesetzgeber offensichtlich den ihm danach zustehenden Einschätzungsspielraum überschritten und gegen das Übermaßverbot verstoßen hat.</p>
<span class="absatzRechts">229</span><p class="absatzLinks">Die durch die beanstandete Vorschrift begründeten Pflichten, eine Masernschutzimpfung in bestimmten Bereichen auf- bzw. nachzuweisen, stellt für den Einzelnen einen nicht unerheblichen Eingriff in dessen körperliche Unversehrtheit dar. Das Einbringen eines Stoffes in den Körper setzt zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts betreffend den eigenen Körper grundsätzlich die Einwilligung der Betroffenen (bzw. ihrer Sorgeberechtigten) voraus. Die Impfung löst konkrete körperliche Reaktionen aus, die sich als Immunantwort auf die Verabreichung des Impfstoffs darstellen. Übliche Impfreaktionen bei einer Masernschutzimpfung sind Rötung, Schwellung oder Schmerzen an der Injektionsstelle, Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, Übelkeit, Allgemeinsymptome, wie Mattigkeit, Unwohlsein, Unruhe, Schwellung der regionalen (der Einstichstelle naheliegenden) Lymphknoten; im gleichen Sinne zu deutende Symptome einer „Impfkrankheit“ können ein bis drei Wochen nach der Verabreichung von sog. Lebendimpfstoffen auftreten: z. B. eine leichte Parotisschwellung (Schwellung der Ohrspeicheldrüse), kurzzeitige Gelenkschmerzen oder ein flüchtiges Exanthem nach der Masern-, Mumps-, Röteln- oder Varizellen-Impfung. Es handelt sich hierbei um vorübergehende Lokal- und Allgemeinreaktionen. Sie sind im Allgemeinen mild und stellen in der Regel keinen Anlass zur Sorge dar. Schwere unerwünschte Nebenwirkungen der Impfungen sind selten. Das Risiko der durch MMR-Impfstoffe verursachten Fieberkrämpfe, wird auf einen pro 1.150 bis 1.700 verabreichte Dosen geschätzt. Bei der MMR-Impfung kann bei etwa drei von 100.000 Geimpften eine idiopathische Thrombozytopenie (Abfall der Thrombozyten (Blutplättchen)) auftreten, die in aller Regel selbstlimitierend ist. Das Risiko nach der Impfung ist jedoch geringer als bei einer natürlichen Infektion mit Masernviren. Bei einem bis vier Fällen von einer Million Geimpften kam es nach der Impfung zu einer Anaphylaxie (akute allergische Reaktion).</p>
<span class="absatzRechts">230</span><p class="absatzLinks">Vgl. Robert Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern – Was versteht man unter üblichen Impfreaktionen? Stand 20. April 2020; Welche Nebenwirkungen können nach MMR-Impfungen auftreten? Stand 4. Juni 2020, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">231</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html;jsessionid=AE815BEEACE60BDBC923985843293590.internet062.</p>
<span class="absatzRechts">232</span><p class="absatzLinks">Die Impfstoffe unterliegen einer fortlaufenden Überprüfung, so dass nicht davon auszugehen ist, dass es unerwünschte Nebenwirkungen in größerem Ausmaß als bekannt gibt. Denn diese sind meldepflichtig. Das Paul-Ehrlich-Institut unterhält eine Datenbank, die Verdachtsfälle im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen umfasst.</p>
<span class="absatzRechts">233</span><p class="absatzLinks">Vgl. z. B. Paul-Ehrlich-Institut, Berichtete Verdachtsfälle von Impfreaktionen und Impfkomplikationen für das 2. Halbjahr 2021, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">234</span><p class="absatzLinks">https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/arzneimittelsicherheit/pharmakovigilanz/listen-impfreaktionen/liste-impfreaktionen-bewertung-2021-2-halbjahr.pdf?__blob=publicationFile&v=3; siehe auch die Übersicht zu Studien von Impfnebenwirkungen bei Masern aus dem Jahr 2019: Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Dokumentation - Nebenwirkung der in Deutschland gängigen Masernimpfstoffe, WD 9 - 3000 - 068/19, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">235</span><p class="absatzLinks">https://www.bundestag.de/resource/blob/662794/a3a7916fe1f2c45093168e1a578c2427/WD-9-068-19-pdf-data.pdf.</p>
<span class="absatzRechts">236</span><p class="absatzLinks">Etwas abgemildert wird der aufgezeigte Eingriff in die körperliche Unversehrtheit wiederum dadurch, dass die Vorschriften keinen unmittelbaren, hoheitlich durchsetzbaren Impfzwang statuieren. Betroffene müssen die Impfung vor Aufnahme einer Beschäftigung oder der Inanspruchnahme einer Betreuung in bestimmten Einrichtungen nachweisen, d. h. sie können sich dem grundsätzlich entziehen, wenn sie auf die Beschäftigung oder ihre Betreuungsplatz in der Einrichtung verzichten.</p>
<span class="absatzRechts">237</span><p class="absatzLinks">Nichtsdestotrotz hat der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ein nicht unerhebliches Gewicht dadurch, dass erhebliche Konsequenzen drohen, wenn die Betroffenen der Nachweispflicht nicht nachkommen. So ist die Aufnahme einer berufliche Tätigkeit bei einer Verweigerung in bestimmten Einrichtungen nicht möglich, was Art. 12 Abs. 1 GG berührt (vgl. dazu auch 2.). Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter können nicht in entsprechenden Einrichtungen betreut werden, womit nicht nur ihre Rechte insbesondere auf entsprechende Förderung eingeschränkt werden, sondern mittelbar in das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG eingegriffen wird (vgl. dazu auch 3.). Nicht mehr schulpflichtige Schüler – wie der Antragsteller zu 8. – können ihre Schullaufbahn nicht mehr in der gewünschten Weise fortsetzen.</p>
<span class="absatzRechts">238</span><p class="absatzLinks">Der Eingriff wird zudem (quasi als Beifang) dadurch ausgeweitet, dass er sich auch auf eine Impfung gegen Mumps und Röteln erstreckt, ohne dass insoweit die Grundrechtsbeschränkung ausdrücklich geregelt wird.</p>
<span class="absatzRechts">239</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Bedenken BR-Drs. 358/1/19, 27 (32).</p>
<span class="absatzRechts">240</span><p class="absatzLinks">Es liegt jedoch nicht auf der Hand, dass der Gesetzgeber dem Gesundheitsschutz insbesondere vulnerabler Personengruppen zu Unrecht den Vorzug gegeben hat. So ist zunächst nicht offensichtlich, dass in Abwägung der Schutzpflicht des Staates mit dem Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen die angegriffenen Regelungen schon allein wegen der bezogen auf die Gesamtbevölkerung nur geringen Zahl an Masernerkrankungen und des deshalb (gegenwärtig) wohl bloß abstrakten Risikos, an Masern zu erkranken,</p>
<span class="absatzRechts">241</span><p class="absatzLinks">vgl. Zuck, Gesetzlicher Masern-Impfzwang, ZRP 2017, 118,119),</p>
<span class="absatzRechts">242</span><p class="absatzLinks">unangemessen sind. Denn von den sehr seltenen Masernfällen sind häufig auch Personen betroffen, die sich nicht selbst durch eine Impfung gegen eine Maserninfektion schützen können, wie z. B. Kinder unter 9 Monaten, Personen, bei denen eine Masernschutzimpfung medizinisch kontraindiziert ist oder solche, die auf die Impfung nicht reagieren. Aufgrund der hohen Infektiösität des Masernvirus können diese Personen sich auch nicht durch eigene Vorsichtsmaßnahmen effektiv vor einer Ansteckung schützen. Ihnen droht bei einer Infektion die Gefahr von erheblichen Komplikationen, die in sehr seltenen Fällen zum Tode führen können. Dieses Risiko ist zwar statistisch äußerst gering, aber für den Einzelnen Betroffenen schwerwiegend und aufgrund der Verfügbarkeit einer effektiven Masernimpfung, die bei Erreichen einer hinreichenden Impfquote einen Gemeinschaftsschutz vermitteln würde, wohl vermeidbar. Insoweit erscheint jedenfalls offen, ob eine Vielzahl von Personen zu Impfungen durch die hier in Rede stehende gesetzliche Regelung angehalten werden dürfen, um wenige Einzelne zu schützen. Dafür könnte jedenfalls sprechen, dass schwerwiegende Komplikationen von Masernschutzimpfungen trotz der hohen Zahl der Impfungen äußerst selten sind. Zudem ist aus der Empfehlung dieser Impfung durch die STIKO zu schließen, dass der Nutzen dieser Impfung das ihr innewohnende Risiko überwiegt, mögen dabei auch epidemiologische Gesichtspunkte eine Rolle spielen.</p>
<span class="absatzRechts">243</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 - XII ZB 157/16 -, juris, Rn. 25, und Urteil vom 15. Februar 2000 - VI ZR 48/99 -, juris, Rn. 25; siehe dazu, dass die STIKO bei der Erarbeitung von Impfempfehlungen in erster Linie eine medizinisch-epidemiologische Nutzen-Risiko-Bewertung auf Basis der bestverfügbaren Evidenz durchführt: Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut 2022 in Epidemiologisches Bulletin Nr. 4/2022, S. 4, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">244</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2022/Ausgaben/04_22.pdf?__blob=publicationFile.</p>
<span class="absatzRechts">245</span><p class="absatzLinks">Ferner kommt – bei entsprechender Eignung (siehe oben) – in Betracht, dass die Vorgaben auch im Hinblick auf das im Einklang mit der WHO verfolgte Ziel, die Masern zu eliminieren, gerechtfertigt sein könnten. Dabei dürfte zu berücksichtigen sein, dass das Erreichen eines wirksamen Gemeinschaftsschutzes in Deutschland verhinderte, dass von hier aus Maserninfektionen in andere Länder hineingetragen werden, in denen das Gesundheitssystem mit größeren Masernausbrüchen ggf. überfordert wäre.</p>
<span class="absatzRechts">246</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Zusammenhang zum Höchststand der weltweiten Todesfälle an Masern seit 23 Jahren im Jahr 2020: Unicef, Weltweit 207.500 Todesfälle durch Masern, 12. November 2020, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">247</span><p class="absatzLinks">https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2020/masern-todesfaelle/230166.</p>
<span class="absatzRechts">248</span><p class="absatzLinks">2. Auch die Berufsfreiheit der Antragstellerin zu 15. aus Art. 12 Abs. 1 GG wird durch § 12 Abs. 9 Satz 6 IfSG jedenfalls nicht offensichtlich verletzt.</p>
<span class="absatzRechts">249</span><p class="absatzLinks">Art. 12 Abs. 1 GG schützt insbesondere vor solchen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind, indem sie eine Berufstätigkeit unmittelbar unterbinden oder beschränken. Als Eingriffe in die Berufsfreiheit sind danach etwa Vorschriften anzusehen, die eine berufliche Tätigkeit grundsätzlich verbieten und nur unter dem Vorbehalt behördlicher Einzelzulassung erlauben. Das in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG geregelte Beschäftigungsverbot, das bei fehlendem Nachweis von Gesetzes wegen eintritt, schränkt die Möglichkeiten der Berufsausübung für die Antragstellerin zu 15. erheblich ein, da sie in einer Vielzahl von Einrichtungen nicht tätig werden kann. Diese Regelung hat eine objektiv berufsregelnde Tendenz. Zwar werden die in den genannten Einrichtungen ausgeübten Tätigkeiten ohne Rücksicht darauf erfasst, ob sie berufsmäßig durchgeführt und übertragen werden. Dementsprechend sind nicht nur Berufstätige Adressaten, sondern zum Beispiel auch ehrenamtlich dort Tätige. Die angegriffenen Regelungen betreffen aber im Schwerpunkt Tätigkeiten, die typischerweise beruflich ausgeübt werden.</p>
<span class="absatzRechts">250</span><p class="absatzLinks">Dieser Eingriff hat erhebliches Gewicht. Die Antragstellerin zu 15. ist mit dem Problem konfrontiert, dass ihre berufliche Qualifikation im Wesentlichen darauf zugeschnitten ist, in Einrichtungen tätig zu werden, in denen ein Masernimpfschutz benötigt wird.</p>
<span class="absatzRechts">251</span><p class="absatzLinks">Dennoch kommt in Betracht, dass dieser Eingriff in die Berufsfreiheit zum Schutz der Gesundheit insbesondere vulnerabler Personen vor einer Maserninfektion aus den oben gemachten Ausführungen gerechtfertigt sein könnte. Bei Erziehern dürfte zudem einiges dafür sprechen, dass die auch generell bestehende Pflicht, dass Beschäftigte für ihre eigene sowie die Sicherheit derjenigen Personen sorgen müssen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind (vgl. § 15 Abs. 1 ArbSchG), gegenüber den von ihnen betreuten bzw. unterrichteten Kindern (und Jugendlichen) besonderes Gewicht hat.</p>
<span class="absatzRechts">252</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Sinne für das Personal in Heil- und Pflegeberufen: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 265.</p>
<span class="absatzRechts">253</span><p class="absatzLinks">3. Auch eine Verletzung des Elternrechts der Antragsteller zu 9. und 10. aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht nach Auffassung des Senats jedenfalls nicht fest. Zwar wird in dieses Grundrecht eingegriffen (a), es kommt aber jedenfalls in Betracht, dass dieser Eingriff gerechtfertigt sein könnte (b).</p>
<span class="absatzRechts">254</span><p class="absatzLinks">a. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Das Elternrecht umfasst den gesamten Bereich der Personen- und Vermögenssorge, wozu auch die Sorge für die Gesundheit des Kindes gehört.</p>
<span class="absatzRechts">255</span><p class="absatzLinks">Vgl. Uhle in Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Stand 15. Mai 2022, Art. 6 Rn. 54.</p>
<span class="absatzRechts">256</span><p class="absatzLinks">Sie können grundsätzlich frei von staatlichem Einfluss nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen.</p>
<span class="absatzRechts">257</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteil vom 16. Januar 2003 - 2 BvR 716/02 -, FamRZ 2003, 296, 299.</p>
<span class="absatzRechts">258</span><p class="absatzLinks">In dieses Recht dürfte § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG mittelbar eingreifen, weil die Entscheidung der Eltern gegen eine Masernschutzimpfung der Kinder – jedenfalls wenn diese im Kindergartenalter sind – erhebliche Konsequenzen nach sich zieht wie die Tatsache, dass diese dann nicht mehr in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege betreut und gefördert werden können. Die Entscheidung, ob Kinder einen Kindergarten besuchen, obliegt den Eltern.</p>
<span class="absatzRechts">259</span><p class="absatzLinks">Vgl. Uhle in Epping/Hillgruber BeckOK GG, Stand 15. Mai 2022, Art. 6 Rn. 54.</p>
<span class="absatzRechts">260</span><p class="absatzLinks">Grundsätzlich haben Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres ansonsten auch einen Anspruch (vgl. § 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII) auf Betreuung in einer Tageseinrichtung (oder in der Kindertagespflege).</p>
<span class="absatzRechts">261</span><p class="absatzLinks">b. Der Senat ist jedoch nicht zu der erforderlichen Überzeugung gelangt, dass dieser Eingriff offensichtlich nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Auch wenn das Elternrecht keinem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterliegt,</p>
<span class="absatzRechts">262</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2013 - 1 BvL 6/10 -, juris, Rn. 98,</p>
<span class="absatzRechts">263</span><p class="absatzLinks">gilt es nicht unbeschränkt. Zum einen muss das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein. Wenn Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, greift das Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 GG ein; der Staat ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">264</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 1982 - 1 BvR 188/80 -, NJW 1982, 1379.</p>
<span class="absatzRechts">265</span><p class="absatzLinks">Zum anderen unterliegt das Recht verfassungsimmanenten Schranken.</p>
<span class="absatzRechts">266</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2013 - 1 BvL 6/10 -, juris, Rn. 98.</p>
<span class="absatzRechts">267</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall erscheint es zwar nicht unbedingt naheliegend, dass der Eingriff in das Elternrecht zum Wohl der Kinder, deren Eltern eine Masernschutzimpfung ablehnen, gerechtfertigt sein könnte. Denn insoweit dürfte die Entscheidung der Eltern, ihr Kind nicht gegen Masern impfen zu lassen, keine Kindeswohlgefährdung darstellen, die zu einem staatlichen Eingreifen zwingt. Auch wenn die Eltern bei der Risiko-/Nutzenabwägung bei der Masernschutzimpfung individuell zu einem anderen Ergebnis kommen als die STIKO in ihrer Impfempfehlung –</p>
<span class="absatzRechts">268</span><p class="absatzLinks">Die STIKO empfiehlt die Masern-Impfung als MMR-Kombinationsimpfung mit insgesamt zwei Impfstoffdosen für alle Kinder. Babys und Kleinkinder sollen die erste MMR-Impfung im Alter von 11-14 Monaten erhalten. Die zweite Impfung sollte frühestens 4 Wochen nach der ersten Impfung, im Alter von 15 bis23 Monaten durchgeführt werden. Eine Impfung <11 Monaten ist unter bestimmten Bedingungen möglich, siehe Robert Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern, Wem wird die Impfung gegen Masern von der STIKO empfohlen?, Stand: 4. November 2021, abrufbar unter:</p>
<span class="absatzRechts">269</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html#:~:text=Wann%20sollen%20die%20Impfungen%20gegen,der%20ersten%20MMR%2DImpfung%20erfolgen. –</p>
<span class="absatzRechts">270</span><p class="absatzLinks">dürfte dies wegen der verhältnismäßig geringen Gefahr, dass ihr Kind mit schweren Komplikationen an Masern erkrankt, von ihrem Elternrecht gedeckt sein.</p>
<span class="absatzRechts">271</span><p class="absatzLinks">Allerdings kommt in Betracht, dass der Eingriff zum Schutz von Leben und Gesundheit insbesondere von vulnerablen Personen aus den oben gemachten Erwägungen gerechtfertigt ist und das Elternrecht hinter diesen Verfassungsgütern zurücktreten muss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Tageseinrichtungen oder der Kindertagespflege regelmäßig sehr günstige Bedingungen für die Verbreitung von Infektionskrankheiten herrschen. Vor diesem Hintergrund scheint es jedenfalls nicht von vornherein unverhältnismäßig, dass die Eltern durch eine Impfung ihrer Kinder dafür Sorge tragen müssen, dass eine potentiell gefährliche Infektionskrankheit durch ihr Kind nicht in eine solche Einrichtungen hereingetragen wird und sich dort unter Umständen verbreiten kann.</p>
<span class="absatzRechts">272</span><p class="absatzLinks">4. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass durch die Regelungen zur Masernschutzimpfung die Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Antragsteller zu 8. bis 11. und 15. aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt wird. Denn sie legen ihre eigenen religiösen, weltanschaulichen oder gewissensbezogenen Überzeugungen nicht nachvollziehbar und durch Tatsachen gestützt in einer Weise dar, dass überprüft werden könnte, ob und inwieweit der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG in Bezug auf die Ablehnung einer Masernschutzimpfung überhaupt eröffnet ist.</p>
<span class="absatzRechts">273</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 94.</p>
<span class="absatzRechts">274</span><p class="absatzLinks">Allein der pauschale Verweis auf die Stellungnahme von Dr. Elisabeth Leutner aus November 2017 „Impfstoffe und Abtreibung“ mit Verweis auf die Nutzung von humanen fetalen Zellen bei der Impfstoffproduktion dürfte hierfür nicht ausreichen.</p>
<span class="absatzRechts">275</span><p class="absatzLinks">5. Auch der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht offensichtlich verletzt.</p>
<span class="absatzRechts">276</span><p class="absatzLinks">Dieser gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist der Gesetzgeber berechtigt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu verwenden, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Typisierung bedeutet, bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammenzufassen. Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind, können generalisierend vernachlässigt werden. Begünstigungen oder Belastungen können in einer gewissen Bandbreite zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung nach oben und unten pauschalierend bestimmt werden. Allerdings liegt eine typisierende Gruppenbildung nur vor, wenn die tatsächlichen Anknüpfungspunkte im Normzweck angelegt sind. Sie ist außerdem nur zulässig, wenn die mit ihr verbundenen Härten nicht besonders schwer wiegen und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären.</p>
<span class="absatzRechts">277</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2004 - 1 BvL 3/98 -, juris, Rn. 62 f.</p>
<span class="absatzRechts">278</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesem Maßstab dürfte die Differenzierung, wonach die Pflicht, in bestimmten Einrichtungen eine Impfung gegen Masern aufweisen zu müssen, nur Personen betrifft, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren sind, gerechtfertigt sein. Nach den Feststellungen des Robert Koch-Instituts aus einer Seroprävalenzstudie im Zeitraum von 2008 bis 2011 weisen 95,5 % bis 99,3 % vor 1970 geborenen Erwachsenen eine Immunität gegen Masern auf, die in der Regel auf einer durchgemachten Wildvirusinfektion beruht. Bei den späteren Geburtsjahrgängen nimmt jedoch der Anteil der gegen Masern Immunen ab. Dies hat seine Ursache darin, dass 1970 die MMR-Impfung in die deutschen Impfempfehlungen für Kinder aufgenommen wurde, womit die Zahl der Maserninfektionen drastisch zurückgegangen ist. Da damit die Wahrscheinlichkeit sank, sich mit dem Masernvirus zu infizieren, ging in der Folge auch der Anteil der Erwachsenen zurück, die durch eine natürliche Infektion eine Immunität gegen Masern erworben haben. Dies trifft auch auf medizinisches Personal und in Gemeinschaftseinrichtungen tätige Personen zu.</p>
<span class="absatzRechts">279</span><p class="absatzLinks">Vgl. Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI, Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung, Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020, S. 12 und 13, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">280</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/02_20.pdf?__blob=publicationFile.</p>
<span class="absatzRechts">281</span><p class="absatzLinks">Diese Umstände dürften die vorgenommene Differenzierung nach dem Geburtsjahrgang rechtfertigen und den o. g. Vorgaben genügen. Es handelt sich im Ergebnis um eine bevorzugende Typisierung, bei der dem Gesetzgeber eine größerer Gestaltungsfreiheit zukommt als bei einer benachteiligenden Typisierung.</p>
<span class="absatzRechts">282</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. April 2001 - 2 BvL 7/98 -, juris, Rn. 42.</p>
<span class="absatzRechts">283</span><p class="absatzLinks">Denn die Regelung führt dazu, dass einige Personen den Nachweispflichten nicht unterfallen, obwohl sie über keinen Immunschutz verfügen (nach den Feststellungen des Robert Koch-Instituts zwischen 0,7 bis 4,5 % der vor dem Stichtag geborenen Personen). Die nach dem Stichtag geborenen Personen werden indes nicht benachteiligt. Denn wenn sie über einen Immunschutz verfügen, weil sie geimpft worden sind, können sie dies problemlos nachweisen. Auch wenn sie aber – was nach den oben wiedergegeben Feststellungen des Robert Koch-Instituts allerdings eher selten vorkommen sollte – immun sind, obwohl sie nach dem Stichtag geboren wurden und nicht geimpft sind, dürften sie in der Regel durch die Vorschriften nicht zu einer Impfung gedrängt werden. Ihnen dürfte es möglich sein, ihren Immunschutz durch ein ärztliches Zeugnis nachzuweisen (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG). Dieses kann der Arzt auf der Grundlage ausstellen, dass ihm eine frühere Masernerkrankung der Person bekannt ist oder wenn eine serologische Titerbestimmung einen ausreichenden Immunschutz gegen Masern ergeben hat.</p>
<span class="absatzRechts">284</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 29.; siehe auch Gebhard in Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 20 Rn. 44.</p>
<span class="absatzRechts">285</span><p class="absatzLinks">Die aus der Differenzierung folgende Bevorzugung einer verhältnismäßig geringen Anzahl von Personen dürfte im Ergebnis voraussichtlich gerechtfertigt sein. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Gesetzgeber mit dem Geburtsdatum an ein Merkmal anknüpft, dass die Betroffenen nicht beeinflussen können. Denn im Hinblick darauf, dass die Regelungen – wie oben ausgeführt – nicht unerheblich in Grundrechte der Betroffenen eingreifen, dürfte der Gesetzgeber gehalten zu sein, solche Vorgaben nur zu machen, wenn diese einen positiven Effekt auf die Erreichung des von ihm verfolgten Ziels haben. Dass er davon ausgeht, dass dies bei Impfungen der vor dem 31. Dezember 1970 geborenen Personen nicht der Fall ist, ist nicht zu beanstanden. Denn diese sind zu einem so hohen Prozentanteil gegen Masern immun, der – bezöge er sich auf die gesamte Bevölkerung – bereits einen wirksamen Gemeinschaftsschutz vermitteln würde. Dies wird entgegen der Auffassung der Antragsteller auch nicht durch einen Zuzug einer Vielzahl von vor 1970 geborenen Personen aus dem Ausland durchgreifend in Frage gestellt. Insoweit liegt nahe, dass auch die meisten dieser Personen Maserninfektionen mit dem Wildvirus durchgemacht haben. Bevor Masernschutzimpfungen verfügbar waren, hat sich nahezu jedes Kind mit Masern angesteckt. Die Erstzulassung eines Masernimpfstoffs erfolgte 1963. Zu einem massiven Rückgang der Maserninfektionen kam es dann Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre.</p>
<span class="absatzRechts">286</span><p class="absatzLinks">Vgl. Centers for Disease Control an Prevention (CDC), Measles Prevention: Recommendations of the Immunization Practices Advisory Committee (ACIP), 29. Dezember 1989, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">287</span><p class="absatzLinks">https://www.cdc.gov/mmwr/preview/mmwrhtml/00041753.htm.</p>
<span class="absatzRechts">288</span><p class="absatzLinks">III. Da der Senat nicht zu der Überzeugung gelangt ist, dass § 20 Abs. 9 Satz 6 die Antragsteller zu 8. bis 11. und 15. in ihren Grundrechten verletzt, liegt der für einen Erfolg des Antrags erforderliche Anordnungsanspruch nicht vor. Auf eine Folgenabwägung kommt es insoweit nicht mehr an, so dass die Rügen hinsichtlich der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Folgenabwägung der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen können.</p>
<span class="absatzRechts">289</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs.1 ZPO sowie § 159 Satz 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG, wobei der Senat sich den Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Bemessung des Streitwerts anschließt.</p>
<span class="absatzRechts">290</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">291</span><p class="absatzLinks">Schildwächter Dr. Strauch Linßen</p>
|
345,983 | ovgnrw-2022-07-22-1-a-79420 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 A 794/20 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-07-29T10:01:00 | 2022-10-17T17:55:26 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0722.1A794.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 1.402,02 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">1. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers, der sich ab dem 11. Dezember 2017 in einer Auslandsverwendung in M. M1. F. Q. in Frankreich befand, auf Bewilligung einer Pauschale für klimagerechte Kleidung abgewiesen. Nach § 21 Abs. 1 AUV werde bei der ersten Verwendung an einem Auslandsdienstort mit einem Klima, das vom mitteleuropäischen Klima erheblich abweiche, eine Pauschale für das Beschaffen klimagerechter Kleidung gezahlt. Gemäß § 21 Abs. 2 AUV stelle das Auswärtige Amt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung durch Allgemeinverfügung die Auslandsdienstorte fest, deren Klima vom mitteleuropäischen Klima erheblich abweichen würden. Dies vorausgesetzt scheide die Bewilligung der Pauschale aus, weil das Klima am Dienstort M. M1. vom mitteleuropäischen Klima nicht erheblich abweiche. Dies ergebe sich bereits daraus, dass M. M1. nicht als ein solcher Dienstort festgestellt worden sei. In Europa seien als Dienstorte, für die die Beschaffung von Tropenbekleidung gezahlt werde, nur die Orte Limassol, Nikosia und Valletta aufgeführt.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen gälten auch nicht als erfüllt. Nach Ziffer 21.2.2 der Erläuterungen des Auswärtigen Amtes zu § 21 AUV sei dies der Fall, wenn für Dienstorte die Anerkennung der Beitragsfähigkeit beantragt werde und dort vergleichbare Verhältnisse wie an einem bereits in die Liste aufgenommenen Dienstort in demselben Land herrschen. Der Vortrag des Klägers in seiner Beschwerde sei zwar als ein solcher Antrag auszulegen. Allerdings fehle es an einem in der Liste aufgenommenen Dienstort in demselben Land, nämlich in Frankreich.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">2. Die Berufung hiergegen ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend rechtfertigt das – fristgerecht vorgelegte – Zulassungsvorbringen die begehrte Zulassung der Berufung nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung des Zulassungsgrundes ist die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird. Ist die aufgeworfene Frage eine Rechtsfrage, so ist ihre Klärungsbedürftigkeit nicht schon allein deshalb zu bejahen, weil sie bislang nicht obergerichtlich oder höchstrichterlich entschieden ist. Nach der Zielsetzung des Zulassungsrechts ist vielmehr Voraussetzung, dass aus Gründen der Einheit oder Fortentwicklung des Rechts eine obergerichtliche oder höchstrichterliche Entscheidung geboten ist. Die Klärungsbedürftigkeit fehlt deshalb, wenn sich die als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage entweder schon auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts nach allgemeinen Auslegungsmethoden oder aber (ggf. ergänzend) auf der Basis bereits vorliegender Rechtsprechung ohne weiteres beantworten lässt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Februar 2018– 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32, und vom 13. Oktober 2011 – 1 A 1925/09 –, juris, Rn. 31 f., m. w. N.; ferner Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 127, 142 ff., 149 und 151 ff.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">b) Gemessen hieran liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nicht vor. Die von dem Kläger allein als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">ob im Rahmen eines Antrages auf Anerkennung der Beitragsfähigkeit (Pauschale für klimagerechte Kleidung gemäß § 21 AUV) eines bestimmten Dienstortes zu Vergleichszwecken nur ein in die Liste des Auswärtigen Amtes gemäß § 21 AUV bereits aufgenommener Dienstort in demselben Land herangezogen werden darf,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">lässt sich schon anhand des Wortlauts der vom Verwaltungsgericht insoweit herangezogenen Ziff. 21.2.2 der Erläuterungen des Auswärtigen Amtes zu § 21 AUV eindeutig beantworten. Danach gelten die Voraussetzungen – d. h. die erhebliche Abweichung vom mitteleuropäischen Klima am Auslandsdienstort – als erfüllt, wenn für Dienstorte die Anerkennung der Beitragsfähigkeit beantragt wird und dort vergleichbare Verhältnisse herrschen wie an einem bereits in die Liste des Auswärtigen Amts aufgenommenen Dienstort in demselben Land. Diese Regelung diene der Verwaltungsvereinfachung. In diesem Fall entfällt die in § 21 Abs. 1 Satz 1 AUV angelegte Prüfung, ob das Klima an dem Auslandsdienstort erheblich vom mitteleuropäischen Klima abweicht; das Vorliegen dieser Vorgabe wird bei klimatischer Vergleichbarkeit mit einem bereits gelisteten Dienstort in demselben Land fingiert. Die von dem Kläger als zu eng bemängelte Beschränkung auf vergleichbare Auslandsdienstorte in demselben Land ist hier allerdings ausdrücklich vorgegeben.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der – auch erst nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist mit Schriftsatz vom 13. Januar 2021 erfolgte – Hinweis der Klägerin auf Ziff. 144 der ab dem 15. Juni 2016 geltenden Bereichsdienstvorschrift C-2213/26 (Anwendung der Auslandsumzugskostenverordnung) des Bundesministeriums der Verteidigung ist für die Beantwortung der Frage, so wie der Kläger sie formuliert hat, unerheblich. Dabei kann offen bleiben, ob diese für den Organisationsbereich Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen (IUD) der Bundeswehr geltende Bereichsdienstvorschrift im Falle des Klägers anwendbar ist. Nach dieser Bestimmung erfolgt die Bewilligung der Pauschale zum Beschaffen klimagerechter Kleidung nämlich schon nicht im Rahmen eines Antrags auf Anerkennung der Beitragsfähigkeit im Sinne der Ziff. 21.2.2 der Erläuterungen zu § 21 AUV, sondern die o. g. Voraussetzungen gelten ohne eine solche Anerkennung. Dass das Verwaltungsgericht nicht geprüft hat, ob die Voraussetzungen von Ziff. 144 der Bereichsdienstvorschrift – wenn sie für ihn gilt – am Auslandsdienstort des Klägers erfüllt sind, ist beim Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ohne Belang.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
|
345,982 | ovgnrw-2022-07-22-1-a-183220 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 A 1832/20 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-07-29T10:00:59 | 2022-10-17T17:55:25 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0722.1A1832.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf die Wertstufe bis 1000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Klägerin auf die beihilferechtliche (Vor)Anerkennung der in den Kostenvoranschlägen des Universitätsklinikums N. vom 11. und 12. September 2018 aufgeführten Aufwendungen für die Versorgung mit Implantaten abgewiesen. Es fehle ausweislich des im Verwaltungsverfahren eingeholten amtsärztlichen Gutachtens ersichtlich an einer der in § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 6 BVO NRW in der hier maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung vom 6. Dezember 2018 genannten Indikationen. Die Feststellungen des amtsärztlichen Gutachtens würden durch die privatärztliche Stellungnahme des Universitätsklinikums N. nicht erschüttert. Entgegen der Ansicht der Klägerin komme es auch nicht auf deren Grunderkrankung an, sondern auf die Versorgung mit Implantaten. Eine weitere Prüfung atypischer Konstellationen sei im Rahmen des § 4 Abs. 2 Buchst. b) BVO NRW nicht (mehr) vorgesehen. Die Regelung trage auch der Fürsorgepflicht ausreichend Rechnung.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">II. Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend rechtfertigt das – fristgerecht vorgelegte – Zulassungsvorbringen die begehrte Zulassung der Berufung aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">1. Die Berufung kann zunächst nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">a) Die Klägerin trägt vor, das Verwaltungsgericht habe den Sinn und Zweck der Vorschrift des § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 6 BVO NRW verkannt. Es sei nicht ersichtlich, warum man bei der Beurteilung der Ausnahmeregelung auf die Versorgung abstellen solle und nicht auf die Grunderkrankung. § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 6 BVO NRW nenne als Indikationen z. B. Tumoroperationen oder genetische Nichtanlage von Zähnen. Diese Indikationen stellten auf die Anamnese des Patienten ab, die als Folge Wirkung für den Zahnersatz haben. Insofern müsse auf die Grunderkrankung abgestellt werden. Es komme dabei auch maßgeblich auf den jeweiligen Einzelfall an, wobei darauf abzustellen sei, ob es im konkreten Fall alternative Behandlungsmethoden gebe, die gleich effektiv aber kostengünstiger seien. Es sei auch anerkannt, dass der Beihilfeberechtigte durch die sparsame Verwendung von öffentlichen Geldmitteln nicht benachteiligt werden dürfe.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Dieses Vorbringen greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">aa) Die Indikationen des § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 6 BVO NRW sind entgegen der Annahme der Klägerin abschließend. Die allgemeine Vorschrift des § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW enthält eine (vor die Klammer gezogene) „Generalklausel“ für die spezielleren nachfolgenden Vorschriften der Beihilfeverordnung betreffend die einzelnen Leistungsarten. Die Bestimmung dessen, was der Dienstherr mit Blick auf die verschiedenen Leistungsarten jeweils für notwendig und insbesondere für angemessen erachtet, erfolgt in der Regel abschließend in den weiteren Vorschriften, hier in § 4 Abs. 2 Buchst. b) BVO NRW. Soweit der Gesichtspunkt der Notwendigkeit dort keine nähere Konkretisierung erfahren hat, ist er zwar zusätzlich zu prüfen, aber nicht in dem Sinne, dass er einer nach diesen Normen von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossenen Maßnahme unmittelbar und allein am Ende doch zur Anerkennung der Beihilfefähigkeit verhelfen könnte. Das „Programm“ der Beihilfeleistungen wird dementsprechend nicht allein durch die § 3 Abs. 1 Satz 1 BVO NRW niedergelegten allgemeinen Grundsätze, sondern letztlich durch die jeweils anwendbaren Beihilfevorschriften in ihrer Gesamtheit bestimmt. Es widerspricht diesem „Programm“ insbesondere nicht von vornherein, wenn von bestimmten Leistungsausschlüssen und -begrenzungen auch – wie hier – Aufwendungen erfasst werden, die medizinisch erforderliche Behandlungen betreffen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur früheren (insoweit vergleichbaren) Rechtslage: OVG NRW, Urteil vom 24. Mai 2006 – 1 A 3706/04 –, juris, Rn. 40 und Beschluss vom 9. Juli 2019 – 1 A 1509/16 –, juris, Rn. 15 ff.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dies vorausgesetzt scheidet die Beihilfefähigkeit selbst notwendiger und angemessener Aufwendungen – über die Pauschale des Satzes 1 in Höhe von 1.000,00 Euro je Implantat für höchstens zehn Implantate hinaus – grundsätzlich aus, wenn keine der Indikationen erfüllt ist. Fehlt eine Indikation besteht insbesondere auch nicht die ausnahmsweise Möglichkeit, den jeweiligen Einzelfall daraufhin zu überprüfen, ob die geltend gemachten Aufwendungen für eine Versorgung mit Implantaten über die Pauschale hinaus medizinisch notwendig und angemessen sind. Es kommt daher weder darauf an, ob im Fall der Klägerin alternative Behandlungsmethoden höhere Kosten verursachen oder welche Grunderkrankung der Klägerin die Aufwendungen erforderlich macht. Auch der Hinweis der Klägerin, es müsse auf die Grunderkrankung und nicht auf die Versorgung mit den Implantaten ankommen, liegt neben der Sache, soweit die Klägerin meinen sollte, dass bei Vorliegen einer Erkrankung alle dadurch medizinisch notwendig werdenden, angemessenen Aufwendungen auch beihilfefähig sein müssten.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">bb) Die Klägerin hat mit ihrem Vorbringen auch die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage gestellt, die Regelung des § 4 Abs. 2 Buchst b) BVO NRW sei verhältnismäßig. Die Klägerin macht sich in der Zulassungsbegründung (wörtlich) die – dies bejahenden – Gründe des Urteils des OVG NRW vom 15. August 2008 – 6 A 4309/05 –, juris, Rn. 54 bis 65 zu eigen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Anders OVG NRW, Urteile vom 24. Mai 2006 – 1 A 3706/05 –, juris, Rn. 41 und – 1 A 3633/04 –, juris, Rn. 45 ff., 52, dazu BVerwG, Beschluss vom 31. August 2008 – 2 B 41.06 –, juris, Rn. 4 f.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Diese bloße (faktische) Bezugnahme ist erkennbar unzureichend. Das Urteil vom 15. August 2008 betrifft eine frühere Rechtslage, nach der Beilhilfeleistungen selbst zu medizinisch notwendigen und angemessenen Aufwendungen für die Versorgung mit Implantaten völlig ausgeschlossen waren, wenn keine der Indikationen vorlag. Die Klägerin hat sich weder mit der eingehend begründeten abweichenden Ansicht des Senats zu dieser früheren Rechtslage auseinandergesetzt, noch dargelegt, dass die in Bezug genommenen Ausführungen ohne Weiteres auf die hier maßgebliche Rechtslage, die nur noch eine Leistungsbeschränkung vorsieht, übertragen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">cc) Die Klägerin hat ferner im Zulassungsverfahren nicht darzulegen vermocht, dass die in § 4 Abs. 2 Buchst. b) BVO NRW geregelten Leistungsbeschränkungen bei der Versorgung mit Implantaten gegen die Fürsorgepflicht verstoßen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Fürsorgepflicht ergänzt die ebenfalls durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleistete Alimentationspflicht des Dienstherrn. Sie fordert, dass der Dienstherr den amtsangemessenen Lebensunterhalt des Beamten bzw. Versorgungsempfängers und seiner Familie auch in besonderen Belastungssituationen wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Geburt oder Tod sicherstellt. Ob er diese Pflicht über eine entsprechende Bemessung der Dienstbezüge, über Sachleistungen, Zuschüsse oder in sonst geeigneter Weise erfüllt, bleibt von Verfassungs wegen seiner Entscheidung überlassen. Auch für die besonderen Belastungssituationen wird die Fürsorgepflicht grundsätzlich abschließend durch die Beihilfevorschriften konkretisiert. Im Ausnahmefall kann sich allerdings unmittelbar aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Fürsorgegrundsatz ein Beihilfeanspruch ergeben. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung der Fall, wenn anderenfalls dem Beamten eine auch unter Berücksichtigung des pauschalierenden und typisierenden Charakters der Beihilfevorschriften nicht mehr zumutbare Belastung abverlangt würde und die Ablehnung der Beihilfe die Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern verletzt. Die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht ist wegen des Zusammenhangs mit der sich ebenfalls aus Art. 33 Abs. 5 GG ergebenden Alimentationspflicht des Dienstherrn unter anderem verletzt, wenn der Beihilfeberechtigte infolge eines für bestimmte krankheitsbedingte Aufwendungen vorgesehenen Leistungsausschlusses oder einer Leistungsbegrenzung mit erheblichen finanziellen Kosten belastet bleibt, die er durch die Regelalimentation oder eine zumutbare Eigenvorsorge nicht bewältigen kann.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. statt aller BVerwG, Urteil vom 26. April 2018 – 5 C 4.17 –, juris, Rn. 12, und OVG NRW, Urteile vom 26. November 2021 – 1 A 46.17 –, juris, Rn. 87 bis 90, jeweils m. w. N. sowie vom 18. Juli 2022 – 1 A 1886/20 –, demnächst in juris.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran begegnet die Einschätzung des Verwaltungsgerichts keinen Bedenken, der Fürsorgepflicht werde durch die Gewährung der Pauschale des § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 1 BVO NRW sowie die Regelung in § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 3 BVO NRW, wonach die Aufwendungen für die Suprakonstruktion neben der Pauschale beihilfefähig sind, ausreichend Rechnung getragen. Mit diesem Argument setzt die Klägerin sich nicht ansatzweise auseinander.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">2. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung des Zulassungsgrundes ist die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird. Ist die aufgeworfene Frage eine Rechtsfrage, so ist ihre Klärungsbedürftigkeit nicht schon allein deshalb zu bejahen, weil sie bislang nicht obergerichtlich oder höchstrichterlich entschieden ist. Nach der Zielsetzung des Zulassungsrechts ist vielmehr Voraussetzung, dass aus Gründen der Einheit oder Fortentwicklung des Rechts eine obergerichtliche oder höchstrichterliche Entscheidung geboten ist. Die Klärungsbedürftigkeit fehlt deshalb, wenn sich die als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage entweder schon auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts nach allgemeinen Auslegungsmethoden oder aber (ggf. ergänzend) auf der Basis bereits vorliegender Rechtsprechung ohne weiteres beantworten lässt.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Februar 2018– 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32, und vom 13. Oktober 2011 – 1 A 1925/09 –, juris, Rn. 31 f., m. w. N.; ferner Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 127, 142 ff., 149 und 151 ff.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Danach liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nicht vor. Die von der Klägerin (sinngemäß) als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen Fragen, ob § 4 Abs. 2 Buchst. b) BVO NRW rechtmäßig und die Aufzählung in Satz 6 abschließend ist, lassen sich – wie oben dargelegt – anhand der vorliegenden Rechtsprechung des Senats und in Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze ohne weiteres bejahen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">3. Auch der noch geltend gemachte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt nicht vor. Danach ist die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin trägt vor, das Verwaltungsgericht habe die Aufklärungspflicht verletzt. Dies sei besonders gewichtig, weil der schriftliche Beweisantrag der Klägerin in Bezug auf die Frage, ob eine Indikation vorliege, abgelehnt worden sei. Das Verwaltungsgericht habe auch die Grunderkrankung der Klägerin und deren Auswirkungen auf die Versorgung mit Implantaten nicht näher ermittelt, sondern habe sich ausschließlich von der pauschalen Feststellung in dem amtsärztlichen Attest leiten lassen, es läge keine der Indikationen des § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 4 BVO NRW vor. Es handele sich bei dem amtsärztlichen Gutachten zudem nicht um ein weiteres Gutachten im Sinne des § 412 ZPO, weil es nicht vom Verwaltungsgericht, sondern im Verwaltungsverfahren erstellt worden sei. Auch lasse sich dem Urteil nicht entnehmen, warum das Verwaltungsgericht dem privatärztlichen Gutachten des Universitätsklinikums N. nicht glaube. Ferner seien keine Informationen zu alternativen Behandlungsmöglichkeiten eingeholt worden.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Damit dringt die Klägerin nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Liegt – wie hier – bereits ein Gutachten vor, so steht es nach § 98 VwGO, §§ 404 Abs. 1, 412 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Verwaltungsgerichts, ob es zusätzliche Sachverständigengutachten einholt.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Es kann sich dabei – anders als die Klägerin meint – ohne Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch auf Gutachten oder gutachterliche Stellungnahmen stützen, die von der zuständigen Behörde im vorausgehenden Verwaltungsverfahren eingeholt worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht ist nur verpflichtet, ein weiteres Gutachten einzuholen, wenn sich ihm auf der Grundlage seiner materiell-rechtlichen Rechtsauffassung eine weitere Sachaufklärung aufdrängen muss, d. h. wenn das vorhandene Gutachten nicht (hinreichend) geeignet ist, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist der Fall, wenn das vorliegende Gutachten auch für den Nichtsachkundigen erkennbare (grobe) Mängel aufweist, etwa nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Gutachters gibt. Die Verpflichtung zur Einholung eines weiteren Gutachtens folgt hingegen nicht schon daraus, dass ein Beteiligter das vorliegende Gutachten als Erkenntnisquelle für unzureichend hält.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">St. Rspr. des BVerwG, etwa Beschluss vom 16. Mai 2018 – 2 B 12.18 –, juris, Rn. 9; auch: OVG NRW, Beschlüsse vom 15. November 2017 – 1 A 2597/16 –, juris, Rn. 27 f., vom 11. Dezember 2019 – 1 A 1815/17 –, juris, Rn. 13 f., und vom 22. April 2022 – 1 E 39/22 –, juris, Rn. 11 ff.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">a) Gemessen hieran musste das Verwaltungsgericht zunächst nicht dem Beweisantrag der Klägerin in dem Schriftsatz vom 11. Oktober 2019 entsprechen. Verzichtet ein Beteiligter – wie hier – nach Ankündigung eines Beweisantrags auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO), muss das Gericht über den angekündigten Beweisantrag, wenn es ihm nicht folgt, erst in den Gründen seiner abschließenden Entscheidung der Sache nach befinden.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24. April 2012 – 1 A 2243/10 –, juris, Rn. 12 bis 15, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Dieser Verpflichtung ist das Verwaltungsgericht in hinreichender Weise nachgekommen, indem es den Beweisantrag in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils als unsubstantiiert abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht hat mit der Ablehnung zum Ausdruck gebracht, dass es einer Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens oder durch sonstige Ermittlungen nicht bedürfe, weil die Klägerin das Ergebnis der amtsärztlichen Stellungnahme nicht substantiiert in Zweifel gezogen habe. Daran ist nichts zu bemängeln. Dem Beweisbegehren war nämlich nicht zu entnehmen, welche Beweisbehauptung genau durch die Einholung eines medizinischen Gutachtens bewiesen werden sollte. Insbesondere, dass die Klägerin – wie sie in der Zulassungsbegründung behauptet – eine Beweiserhebung zu der Frage beantragt haben will, ob eine Indikation nach § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 6 BVO NRW vorliege, lässt sich dem Schriftsatz vom 11. Oktober 2019 nicht entnehmen. Das Begehren hätte nach dem damaligen Streitstand auch ergänzende Ermittlungen zu einer (anderen) Grunderkrankung der Klägerin betreffen können.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">b) Dem Verwaltungsgericht musste sich auf der Grundlage seiner materiell-rechtlichen Auffassung nicht aufdrängen, weitere Ermittlungen zu der die Versorgung mit Implantaten erforderlich machenden Grunderkrankung der Klägerin durchzuführen. Wie oben ausgeführt durfte das Verwaltungsgericht davon ausgehen, dass die Indikationen in § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 6 BVO NRW abschließend aufgezählt sind und die Prüfung atypischer Konstellationen grundsätzlich ausscheidet.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">c) Es bedurfte schließlich auch keiner näheren Ausführungen des Verwaltungsgerichts dazu, warum das Verwaltungsgericht dem privatärztlichen Gutachten des Universitätsklinikums N. vom 16. Oktober 2018 nicht gefolgt ist. Das Gutachten verhält sich nämlich von vorneherein nicht zu der allein entscheidungserheblichen Frage, ob bei der Klägerin eine der Indikationen des § 4 Abs. 2 Buchst. b) Satz 6 BVO NRW vorliegt, sondern attestiert ausschließlich das Vorliegen einer nicht in der Auflistung enthaltenen Erkrankung.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtkräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
|
345,981 | ovgnrw-2022-07-22-8-b-188021 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 8 B 1880/21 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-07-29T10:00:59 | 2022-10-17T17:55:25 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0722.8B1880.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 6. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.</p>
<p>Der Streitwert wird unter Änderung des erstinstanzlich festgesetzten Streitwerts für das Verfahren in beiden Instanzen auf jeweils 20.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Dabei bleibt offen, ob der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerin auf Stilllegung der Anlage der Beigeladenen durch sein Schreiben vom 26. Januar 2021, gegen das die Antragstellerin nicht weiter vorgegangen ist, insbesondere nicht durch Erhebung einer Klage auf Einschreiten, bestandskräftig abgelehnt hat und ob mit Blick darauf überhaupt noch ein Rechtsschutzbedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes besteht.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls stellt das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, den angegriffenen Beschluss nicht durchgreifend in Frage, mit dem das Verwaltungsgericht die Anträge gemäß § 123 Abs. 1 VwGO auf Stilllegung der Bauschutt- und Bodenaufbereitungsanlage der Beigeladenen (dazu I.) und auf Feststellung der nicht gesicherten Erschließung der Anlage (dazu II.) abgelehnt hat.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">I. Hinsichtlich des Antrags auf Stilllegung der Anlage hat die Antragstellerin weder einen Anordnungsanspruch (dazu 1.) noch einen Anordnungsgrund (dazu 2.) glaubhaft gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1. Ein Stilllegungsanspruch ergibt sich entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren weder aus § 20 Abs. 2 BImSchG (dazu a)) noch aus § 20 Abs. 3 BImSchG (dazu b)); nichts anderes folgt aus § 20 Abs. 1 BImSchG (dazu c)). Ein mit dem Antrag auf Verpflichtung zur Stilllegung konkludent geltend gemachter Anspruch gegen den Antragsgegner gerichtet darauf, den Stilllegungsantrag der Antragstellerin vom 11. Januar 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, besteht ebenfalls nicht (dazu d)).</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a) Aus § 20 Abs. 2 Satz 1 BImSchG lässt sich kein Anspruch der Antragstellerin auf Stilllegung der gesamten Bauschutt- und Bodenaufbereitungsanlage der Beigeladenen herleiten. Nach dieser Vorschrift soll die zuständige Behörde anordnen, dass eine Anlage, die ohne die erforderliche Genehmigung errichtet, betrieben oder wesentlich geändert wird, stillzulegen oder zu beseitigen ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Ansicht der Antragstellerin wird die Anlage der Beigeladenen nicht insgesamt ohne die erforderliche Genehmigung betrieben. Vielmehr besteht eine bestandskräftige Genehmigung des Staatlichen Umweltamtes Herten vom 24. Juli 1996 für die Errichtung und den Betrieb einer Anlage zum Brechen und Klassieren von Bauschutt in der Fassung der (ebenfalls bestandskräftigen) Änderungsgenehmigung des Staatlichen Umweltamtes Herten vom 14. April 2004 für eine Anlage zum Brechen und Klassieren von natürlichem und künstlichem Gestein in Verbindung mit einer Anlage zur sonstigen Behandlung von nicht besonders überwachungsbedürftigen Abfällen. Darin werden u. a. maximale Lagerkapazitäten mit maximalen Lagerhöhen festlegt. Ein Tatbestand, der - wie die Antragstellerin meint - zum Erlöschen der Genehmigung geführt haben könnte (vgl. etwa § 18 Abs. 1 und 2 BImSchG; § 43 Abs. 2 VwVfG), liegt ersichtlich nicht vor. Durch die deutliche Erhöhung der Lagermengen und der Haldenhöhen schon vor vielen Jahren - vor Übergang der Betreiberstellung auf die Beigeladene - wurde die Anlage allerdings ohne die dafür erforderliche Genehmigung wesentlich geändert. Aus diesem Grund gab der Antragsgegner der Beigeladenen durch Ordnungsverfügung mit Androhung von Zwangsgeld vom 7. November 2013 gemäß § 20 Abs. 2 BImSchG auf, die überschüssigen Lagermengen im RCL-, Eingangs- und Bodenlager zu beseitigen. Darin liegt der Sache nach eine (Teil‑)Stilllegung der Anlage, soweit sie ohne Genehmigung betrieben wird.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zu einer Teilstilllegung bei ungenehmigter Betriebserweiterung durch Lagern von Bodenmaterial auf dem Nachbargrundstück siehe OVG NRW, Beschluss vom 28. Mai 2021 - 8 B 1468/20 -, juris Rn. 19 ff.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat bei Erlass dieser Ordnungsverfügung den ihm durch § 20 Abs. 2 BImSchG eingeräumten Entscheidungsspielraum erkannt und sich unter Berücksichtigung der konkreten Einzelfallumstände dafür entschieden, die Anlage nicht vollständig stillzulegen, sondern der Beigeladenen lediglich aufzugeben, die den genehmigten Umfang übersteigenden Lagermengen über einen längeren Zeitraum hinweg abzubauen und schließlich die für die einzelnen Lagerplätze vorgeschriebenen Lagermengen und -höhen sicherzustellen. Diese Entscheidung sowie die spätere Verlängerung der der Beigeladenen eingeräumten Sanierungsfristen war nicht offensichtlich fehlerhaft. Da sich der ohne Genehmigung betriebene Teil der Anlage hinsichtlich der Menge und der Höhe des gelagerten Materials von dem genehmigten Teil abgrenzen lässt und die Entsorgung der Bodenmassen nach den insoweit plausiblen Angaben der Beigeladenen nur durch die Einnahmen aus dem regulären Betrieb der Anlage finanzierbar ist, spricht Erhebliches dafür, dass die von der Antragstellerin erstrebte vollständige Stilllegung der gesamten Anlage allein wegen der Mengenüberschreitung des gelagerten Materials auf der Grundlage von § 20 Abs. 2 Satz 1 BImSchG unverhältnismäßig sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen von § 20 Abs. 2 Satz 1 BImSchG siehe OVG NRW, Beschluss vom 8. November 2016 - 8 B 1395/15 -, juris Rn. 70.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin kann auch nicht deswegen die Stilllegung der ganzen Anlage verlangen, weil die Beigeladene im August 2019 den bisher genutzten Brecher durch einen neuen ersetzt hat, der lauter ist als der bisherige (ausweislich der Schallleistungspegelbestimmung des Ingenieurbüros X. vom 29. Oktober 2019 nun 115,3 dB(A) statt zuvor 113 dB(A)), über eine größere Behandlungskapazität verfügt und an einer anderen Stelle steht als im Jahre 2004 genehmigt. Auch wenn dies eine wesentliche Änderung der Anlage sein dürfte (wovon der Antragsgegner in seinem Schreiben an die Beigeladene vom 10. September 2019 ausgeht), folgt daraus kein Stilllegungsanspruch der Antragstellerin für die gesamte Anlage. Der Betrieb des neuen Brechers, der aus Lärmschutzgründen wie schon der vorherige Brecher mit Zustimmung des Antragsgegners doppelt so weit vom Wohnhaus der Antragstellerin entfernt steht wie 2004 genehmigt (mehr als 70 m statt etwa 35 m), verletzt die Antragstellerin aller Voraussicht nach nicht in ihren Rechten. Insbesondere führt er nicht zu einer Überschreitung der Lärmrichtwerte auf dem Grundstück der Antragstellerin. Nach der Prognose von Schallimmissionen der Dekra Umwelt GmbH vom 14. August 2003, die nach Abschnitt I und Anhang I des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsbescheides des Staatlichen Umweltamtes Herten vom 14. April 2004 Teil der Genehmigung ist und den bisherigen Brecher berücksichtigte, unterschritt der Beurteilungspegel von 58 dB(A) auf dem Grundstück der Antragstellerin den für Gewerbegebiete tagsüber geltenden Lärmrichtwert von 65 dB(A) auch bei dem alten, näher am Grundstück der Antragstellerin gelegenen Standort des vormaligen Brechers deutlich (S. 4 der Prognose). Auch die Spitzenwertbegrenzung während der Tageszeit wurde dort mit den genehmigten Maschinen und Fahrzeugen prognostisch unterschritten. Selbst wenn also der Betrieb des neuen Brechers - insbesondere bei größerer Entfernung zum Grundstück der Antragstellerin - dort etwas höhere Lärmwerte hervorrufen sollte, wäre der genannte Lärmrichtwert dort voraussichtlich immer noch eingehalten. Dies gilt erst recht, falls man das Grundstück der Antragstellerin als Teil eines Industriegebietes mit einem Lärmrichtwert von 70 dB(A) nach Nr. 6.1 Buchstabe a TA Lärm einordnen sollte. Die größere Behandlungskapazität des neuen Brechers wirkt sich als solche nicht zum Nachteil der Antragstellerin aus, weil die jährlich zulässige Gesamtkapazität der Bauschuttaufbereitungsanlage weiterhin einzuhalten ist. Im Gegenteil ist bei gleichbleibender Gesamtkapazität und höherer Durchgangsleistung in der Gesamtschau sogar eher von einer Reduzierung der Betriebszeiten des Brechers auszugehen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die (hohen) Lärmwerte, die die Antragstellerin mit ihrem Smartphone gemessen hat, stehen dieser Einschätzung nicht entgegen. Diese Messungen sind nicht hinreichend aussagekräftig. Es ist nicht ansatzweise ersichtlich, sondern vielmehr fernliegend, dass sie den maßgeblichen Vorgaben der TA Lärm zu Überwachungsmessungen (Nr. 6.9 und A.3 des Anhangs) etwa hinsichtlich geeichter Messgeräte oder des Messverfahrens entsprechen könnten und die nach Nr. 6.4 der TA Lärm für die Ermittlung der Beurteilungspegel maßgeblichen Beurteilungszeiten berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Aus dem Vorstehenden folgt, dass sich der Stilllegungsanspruch der Antragstellerin auch nicht aus § 20 Abs. 2 Satz 2 BImSchG ergibt, der auf Satz 1 der Vorschrift aufbaut.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">b) Die Antragstellerin kann sich für den geltend gemachten Stilllegungsanspruch auch nicht mit Erfolg auf § 20 Abs. 3 Satz 1 BImSchG berufen. Danach kann die zuständige Behörde den weiteren Betrieb einer genehmigungsbedürftigen Anlage durch den Betreiber oder einen mit der Leitung des Betriebs Beauftragten untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit dieser Personen in Bezug auf die Einhaltung von Rechtsvorschriften zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen dartun, und die Untersagung zum Wohl der Allgemeinheit geboten ist.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von der Frage, inwieweit diese Vorschrift nachbarschützend ist,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">siehe dazu Hansmann/Röckinghausen, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: Dez. 2021, § 20 BImSchG Rn. 90,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass der Betreiber der Anlage der Beigeladenen unzuverlässig i. S. v. § 20 Abs. 3 Satz 1 BImSchG (dazu aa)) und das dem Antragsgegner bei seiner Entscheidung zustehende Ermessen auf Null reduziert ist (dazu bb)).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Betreiber einer Anlage ist unzuverlässig, wenn er keine Gewähr dafür bietet, dass er die Anlage künftig unter Beachtung der Vorschriften zum Schutz vor schädlichen Umweltauswirkungen führen wird. Das Unzuverlässigkeitsurteil setzt kein Verschulden voraus, sondern fordert eine durch Tatsachen untermauerte Prognose für das zukünftige Verhalten. Der Grad der Wahrscheinlichkeit hängt vom Ausmaß der drohenden Gefahren ab. Unzuverlässig ist jedenfalls, wer erkennbare Rechtsverstöße auf behördlichen Hinweis nicht abstellt. Dabei kann es sich ebenso um einen gravierenden Rechtsverstoß wie um eine Häufung kleinerer Verstöße handeln.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 6. Oktober 2016 ‑ 8 B 10771/16 -, juris Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beruft sich für die Unzuverlässigkeit auf „die gravierende Missachtung der genehmigungsrechtliche[n] Vorschriften durch die Beigeladene und den jahrelang andauernden, nicht genehmigungskonformen Betrieb, beispielsweise durch die illegale Unterhaltung einer Bodendeponie auf dem Betriebsgelände“.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Damit hat die Antragstellerin keine Unzuverlässigkeit des Anlagenbetreibers - hier wohl des Geschäftsführers der Beigeladenen - glaubhaft gemacht. Die illegale Bodendeponie stammt nach Aktenlage aus der Zeit vor der Insolvenz des früheren Anlagenbetreibers. Der Abbau der überschüssigen Mengen erfolgt langsam und ist immer noch nicht beendet. Im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gegen die dritte Zwangsgeldfestsetzung von Februar 2016 auf der Grundlage der Ordnungsverfügung vom 7. November 2013 wegen des verzögerten Rückbaus einigten sich die Beigeladene und der Antragsgegner im März 2019 für die Freiräumung einer bestimmten Fläche auf eine Frist bis Ende 2020 sowie darauf, im Jahre 2020 Verhandlungen zum Zwecke der Erzielung einer Einigung über die Entsorgung weiterer Bodenmassen aufzunehmen. Die Beigeladene hat nach den Feststellungen des Antragsgegners die Lagermengen seitdem weiter verringert und stimmt den weiteren Rückbau jährlich mit dem Antragsgegner ab. Aus diesem Geschehensablauf lässt sich nicht die Prognose ableiten, der derzeitige Betreiber der Anlage werde sich künftig nicht an die Vorschriften zum Schutz vor schädlichen Umweltauswirkungen halten.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die von der Antragstellerin beklagte Missachtung der (sonstigen) genehmigungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere der Nebenbestimmungen zum Schutz der Nachbarn vor Lärm und Staub, begründet ebenfalls keine Unzuverlässigkeit des Anlagenbetreibers. Bei dieser Bewertung hat der Senat die in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen, seit vielen Jahren regelmäßig erhobenen und oft zusammen mit Fotos eingereichten Beschwerden der Antragstellerin betreffend Lärm, Staub und die Verkehrssituation in der C.--straße ebenso zur Kenntnis genommen wie die ebenfalls zahlreich vorhandenen Aktenvermerke und Fotos des Antragsgegners zur Anlage der Beigeladenen. Insgesamt lässt sich daraus erkennen, dass zwar die immissionsschutzrechtlichen Nebenbestimmungen beim Betrieb der Anlage nicht immer eingehalten worden sind, sondern es Verstöße gab (z. B. im Hinblick auf die Funktionstüchtigkeit der Reifenwaschanlage oder die Sauberkeit der C.--straße ). Die Zahl der Verstöße war nach Aktenlage allerdings nicht übermäßig groß und hat in den letzten Jahren abgenommen. Die Beigeladene hat im März 2021 sogar ohne eine entsprechende Verpflichtung eine zweite Reifenwaschanlage direkt hinter der ersten installiert, um die Lkw-Reifen besser reinigen zu können, und hält die Lkw-Fahrer nach eigenen Angaben zu einer langsamen Fahrweise an, um eine ordnungsgemäße Funktion der Reifenwaschanlage zu gewährleisten. Außerdem sind die Verstöße nicht derart häufig und gewichtig, dass aus ihnen zu schließen wäre, der Anlagenbetreiber könne keine Gewähr dafür bieten, die Anlage künftig unter Beachtung der Vorschriften zum Schutz vor schädlichen Umweltauswirkungen zu führen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">bb) Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen ist das dem Antragsgegner nach § 20 Abs. 3 Satz 1 BImSchG zustehende Ermessen nicht auf Null reduziert.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Eine solche Reduzierung des Ermessens kommt nur in engen Ausnahmefällen in Betracht. Sie setzt voraus, dass nach Lage der Dinge alle denkbaren Alternativen offenkundig nur unter pflichtwidriger Vernachlässigung eines eindeutig vorrangigen Sachgesichtspunkts gewählt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Mai 2016 - 5 C 36.15 -, juris Rn. 31.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Bevor der Antragsgegner dem Geschäftsführer der Beigeladenen oder sonstigen Personen, die den Betrieb leiten, verbietet, den Anlagenbetrieb fortzuführen, und damit der Sache nach den Betrieb zumindest vorübergehend stilllegt, kommen zunächst mildere, gleich geeignete Mittel in Betracht, so z. B. häufigere Kontrollen des Antragsgegners vor Ort, Anwendung geeigneter Zwangsmittel oder (hinsichtlich der Staubbelastung) eine Anordnung an die Beigeladene, die Effektivität der Reifenwaschanlage(n) und der Kehrmaschinenleistung sowie den Verschmutzungsgrad der C.--straße regelmäßig und in kurzen Abständen durch namentlich benannte und verantwortliche Mitarbeiter zu kontrollieren, dies zu dokumentieren und dem Antragsgegner regelmäßig zu berichten.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">c) Die Antragstellerin kann die Stilllegung der gesamten Anlage der Beigeladenen schließlich nicht nach § 20 Abs. 1 BImSchG verlangen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">aa) Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 BImSchG kann die zuständige Behörde dann, wenn der Betreiber einer genehmigungsbedürftigen Anlage einer Auflage, einer vollziehbaren nachträglichen Anordnung oder einer abschließend bestimmten Pflicht aus einer Rechtsverordnung nach § 7 BImSchG nicht nachkommt und die Auflage, die Anordnung oder die Pflicht die Beschaffenheit oder den Betrieb der Anlage betreffen, den Betrieb ganz oder teilweise bis zur Erfüllung der Auflage, der Anordnung oder der Pflichten aus der Rechtsverordnung nach § 7 BImSchG untersagen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Da das dem Antragsgegner auch nach dieser Vorschrift zustehende Ermessen aus den eben genannten Gründen nicht auf Null reduziert ist, scheidet ein Stilllegungsanspruch auch auf dieser Rechtsgrundlage aus.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">bb) Er folgt auch nicht aus § 20 Abs. 1 Satz 2 BImSchG. Danach hat die zuständige Behörde den Betrieb ganz oder teilweise nach Satz 1 zu untersagen, wenn ein Verstoß gegen die Auflage, Anordnung oder Pflicht eine unmittelbare Gefährdung der menschlichen Gesundheit verursacht oder eine unmittelbare erhebliche Gefährdung der Umwelt darstellt. Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Auflagen i. S. v. § 20 Abs. 1 BImSchG sind solche nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BImSchG i. V. m. § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW, also (Neben‑)Bestimmungen eines Verwaltungsakts, durch die dem Begünstigten ein Tun, Dulden oder Unterlassen vorgeschrieben wird.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. Jarass, BImSchG, 13. Aufl. 2020, § 20 Rn. 7 und § 12 Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Nebenbestimmungen der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung, die dem Schutz der Nachbarn vor Immissionen wie Lärm und Staub dienen, stellen Auflagen in diesem Sinne dar.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass die von ihr in der Vergangenheit gerügten und für die Zukunft weiter befürchteten Verstöße der Beigeladenen gegen diese Nebenbestimmungen die menschliche Gesundheit unmittelbar gefährden. Sie trägt dazu vor, die von der Anlage der Beigeladenen seit Jahren ausgehenden Lärm-, Staub-, Geruchs- und Erschütterungsimmissionen beeinträchtigten als Dauerstressbelastung ihre Konzentration und hätten bei ihr zu einer Herzerkrankung, Kopfschmerzen, Migräne mit Sehstörungen und gefährlich hohem Blutdruck geführt; die Abgase der auf der Anlage betriebenen Maschinen und Fahrzeuge sowie des an- und abfahrenden Schwerlastverkehrs seien unzumutbar.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Schon das Verwaltungsgericht hat im angegriffenen Beschluss darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin keine aussagekräftigen ärztlichen Bescheinigungen eingereicht hat, aus denen sich die behaupteten Erkrankungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen ergeben. Weder in den Gerichtsakten zum Verfahren erster Instanz oder 8 L 850/19 beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen noch in den sonstigen beigezogenen Gerichtsakten und Verwaltungsvorgängen finden sich entsprechende ärztliche Atteste. Das schlichte Vorbringen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren, von ihr dürfe nicht verlangt werden, „angesichts der bereits im Vorprozess aufgezeigten […] bei ihr aufgetretenen Herzerkrankung noch aktualisierte ärztliche Atteste vor[zu]legen, um gesundheitliche Auswirkungen vom illegalen Betrieb der Bauschuttaufbereitungsanlage nochmals zu belegen und glaubhaft zu machen“, ersetzt die gebotene Glaubhaftmachung nicht.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Zudem liegt auch nicht ohne weiteres auf der Hand, dass die geschilderten gesundheitlichen Probleme in einem kausalen Verhältnis zu den nach Aktenlage anzunehmenden Verstößen gegen nachbarschützende Auflagen stehen und nicht auf dem nach den vorstehenden Ausführungen grundsätzlich genehmigten bzw. für eine Übergangszeit vom Antragsgegner und nach dem im vorangegangenen Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht geschlossenen außergerichtlichen Vergleich auch von der Antragstellerin tolerierten Betrieb beruhen, dessen Auswirkungen die Antragstellerin als Bewohnerin eines unmittelbar an ein Industriegebiet angrenzenden, wenn nicht gar selbst in einem faktischen Industriegebiet gelegenen Grundstücks nach immissionsschutzrechtlichen Maßstäben hinzunehmen hat.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">d) Ein im Stilllegungsantrag - bei einer gemäß den §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO am Interesse der Antragstellerin orientierten Auslegung ungeachtet der fehlenden diesbezüglichen Ausführungen in der Beschwerde - konkludent enthaltener Anspruch auf Neubescheidung des Antrags der Antragstellerin auf Stilllegung besteht ebenfalls nicht.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner hat sein Ermessen, soweit ihm dieses nach § 20 Abs. 1, 2 und 3 BImSchG zusteht, nicht zu Lasten der Antragstellerin fehlerhaft ausgeübt. Er hat die Stilllegung auch des genehmigten Teils der Anlage im Wesentlichen mit folgender Begründung abgelehnt (vgl. Schreiben des Antragsgegners an den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 23. Oktober 2020 und vom 26. Januar 2021, die der Sache nach Bezug nehmen auf den Schriftsatz des Antragsgegners vom 13. August 2019, Seite 3 ff., im Verfahren 8 L 850/19 beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen): Das Hauptproblem bei der Überschreitung der Lagermengen stelle das Bodenlager dar, das die Antragstellerin als solches jedoch nicht belaste, weil der Bereich der massiven Überhangmengen komplett begrünt sei und daher keine zusätzliche Staubbelastung verursache. Allein die größeren Lagerhöhen bei Bauschutt und RC‑Material führten - bei Einhaltung der Gesamtlagermenge und der Vorsorgemaßnahmen - nicht zu relevant erhöhten Immissionen bei der Antragstellerin. Die Antragstellerin wohne in einem ehemaligen Verwaltungs- und Bürogebäude einer früheren Zeche in einem Gebiet, das schon immer industriell genutzt worden sei. Bei einer derartigen Wohnlage gälten für Lärm relativ hohe Immissionsrichtwerte. Diese seien nach der vorliegenden Schallimmissionsprognose aus dem Jahre 2004 und einer Geräuschmessung aus dem Jahre 2000 auch unter Berücksichtigung der mittlerweile geänderten Betriebsabläufe eingehalten. Entsprechendes gelte für die Staubemissionen. Die Verkehrsbelastung auf dem privaten Teil der C.--straße , die die Erschließungsstraße für das Industrie- und Gewerbegebiet darstelle, sei wegen der dort angesiedelten verschiedenen gewerblichen Betriebe schon immer groß gewesen. Relevante Mängel in Bezug auf die Verunreinigung der Straßen und die Staubminderung auf der Anlage seien in den letzten 25 Jahren eher selten festgestellt worden. Eine Stilllegung der Anlage wäre wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen für die Beigeladene und deren Beschäftigten unverhältnismäßig.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Diese Erwägungen sind rechtlich voraussichtlich nicht zu beanstanden. Dass die Halden auf dem Betriebsgelände der Beigeladenen zumindest teilweise noch begrünt sein dürften, ergibt sich aus den zur Gerichtsakte übersandten und in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Fotos aus den vergangenen Jahren. Im Übrigen würde die begehrte Stilllegung der ganzen Anlage, die mit einem Abbau der dort lagernden Bodenmassen verbunden sein müsste, weil die Anlage andernfalls weiterhin zur Lagerung genutzt würde und insoweit nicht stillgelegt wäre, die Staubbelastung für die Antragstellerin nicht verringern. Entscheidend ist, dass die vorgeschriebenen Staubminderungsmaßnahmen beim Lagern und Behandeln des Materials eingehalten werden.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">2. Es fehlt weiter an einem Anordnungsgrund für die begehrte Stilllegung.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Soll die begehrte Anordnung die Hauptsache nach § 123 Abs. 1 VwGO zumindest teilweise, etwa für die Dauer des Hauptsacheverfahrens, vorwegnehmen, setzt ein Anordnungsgrund voraus, dass das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte. Dabei ist den jeweils betroffenen Rechten des Antragstellers und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) Rechnung zu tragen. Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn nicht ausnahmsweise überwiegende gewichtige Gründe entgegenstehen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 8 B 1967/20 -, juris Rn. 7 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">In Verfahren gemäß § 123 Abs. 1 VwGO, in denen wegen Immissionsbelastungen ein nachbarliches Abwehrrecht auf behördliches Einschreiten auch unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rücksichtnahme im Raum steht, ist die „Zumutbarkeit“ Beurteilungsmaßstab sowohl für den Anordnungsanspruch als auch - hinsichtlich der Auswirkungen des Vorhabens speziell für die Zeit des Hauptsacheverfahrens - für den Anordnungsgrund relevant. Aus der Unterschiedlichkeit der Bezugspunkte für das Maß des Zumutbaren bei Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund folgt in Fällen dieser Art, dass ein Anordnungsgrund erst dort in Erwägung gezogen werden kann, wo eine Beeinträchtigung durch das Vorhaben von einer Intensität glaubhaft gemacht ist, die zumindest das für das Glaubhaftmachen der Verletzung des Rücksichtnahmegebots Erforderliche erreicht. Regelmäßig liegt die Schwelle für das, was im Hinblick auf von einer Nutzung ausgehende Störungen auch vorübergehend nicht hingenommen werden kann und deshalb den Erlass einer Regelungsanordnung rechtfertigt, jedoch noch deutlich höher als die für das Vorliegen eines Nachbarrechtsverstoßes wegen einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots maßgebliche. Nicht alles, was unter dem Gesichtspunkt des immissionsschutzrechtlichen Nachbarrechtsschutzes als rücksichtslos und unzumutbar zu bewerten sein könnte, ist bereits ein für die Dauer des Hauptsacheverfahrens nicht hinzunehmender wesentlicher Nachteil im Sinn des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 16. April 2019 ‑ 15 CE 18.2652 -, juris Rn. 25; OVG S.-A., Beschluss vom 7. März 2008 - 2 M 8/08 -, juris Rn. 5; OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 1992 - 7 B 2686/92 -, juris Rn. 20.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Für die Bestimmung der Schwelle, ab der Immissionen das zumutbare Maß überschreiten und damit eine erhebliche Belästigung im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG darstellen, ist ein objektivierter Maßstab - nämlich das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen, nicht die individuelle Einstellung eines besonders empfindlichen Nachbarn - zugrunde zu legen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. September 2020 ‑ 8 A 1161/18 -, juris Rn. 85 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">a) Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren keinen Anordnungsgrund für die beantragte vorläufige Stilllegung der Anlage glaubhaft gemacht. Eine solche Stilllegung würde die Hauptsache mindestens zeitweilig vorwegnehmen und kann wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteile zur Insolvenz der Beigeladenen führen. Dass der Weiterbetrieb der Anlage während eines - hier noch nicht einmal eingeleiteten - Hauptsacheverfahrens für die Antragstellerin schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte und ihr eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in ihren Rechten (Gesundheit, Eigentum) drohte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnte, ist nicht glaubhaft gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Für die behauptete Gesundheitsbeeinträchtigung der Antragstellerin ist dies oben ausgeführt worden. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist dies auch hinsichtlich sonstiger Nachteile nicht erkennbar.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">aa) Aus den oben genannten Gründen ist anzunehmen, dass die beim Betrieb der Anlage hervorgerufenen Schallimmissionen die auf dem Grundstück der Antragstellerin zulässigen Lärmrichtwerte einhalten.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Dass der Anlagenbetrieb mit unzumutbaren Erschütterungen verbunden wäre, ist nicht ersichtlich. Soweit größere Metallteile als Fehlwürfe in der Brechanlage in Einzelfällen zu besonders lauten Geräuschen und Erschütterungen geführt haben, wird der Anlagenbetrieb nicht dadurch generell für die Antragstellerin unzumutbar. Dabei handelt es sich um wohl nie vollständig auszuschließende, kurzzeitige Ausnahmen, die die Beigeladene schon im eigenen Interesse möglichst vermeiden wird, weil sie die Brechanlage beschädigen. Bei dem von der Antragstellerin thematisierten plötzlichen Aufschlagen der Ladeklappen von Lkw, wodurch ihre mit flüssigem Metall hantierenden Mitarbeiter erschrecken können, ist nicht glaubhaft gemacht, dass dies in einer unzumutbaren Häufigkeit geschieht, die eine Stilllegung rechtfertigten könnte.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">bb) Dass der Staubniederschlag durch den Anlagenbetrieb (Lagerungen, Materialaufbereitung im Freien, Umschlagvorgänge auf dem Betriebsgelände) die für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots maßgebliche Schwelle in einem Maße übersteigt, das eine sofortige Stilllegung der Anlage begründen könnte, ist trotz der zahlreichen Beschwerden der Antragstellerin über Staubablagerungen auf ihrem Grundstück nicht glaubhaft gemacht. Nach Aktenlage ist im Übrigen auch nicht ohne weiteres klar, inwieweit der von der Antragstellerin beklagte Staubniederschlag gerade auf die Anlage der Beigeladenen zurückzuführen ist. In Betracht kommt auch der Betrieb der Axel Arnolds GmbH, eines schräg gegenüber dem Grundstück der Antragstellerin ebenfalls an der C.--straße angesiedelten Unternehmens. Die B. GmbH bietet ausweislich ihres Internetauftritts die Leistungen Tiefbau, Abbruch, Transporte und Recycling an und verfügt auf dem Betriebsgelände in H. über eine immissionsschutzrechtlich genehmigte Recyclinganlage zur Aufbereitung von Bauschuttmassen sowie einen zahlreiche Fahrzeuge umfassenden Fuhrpark. Nach den bei TIM-online abrufbaren Luftbildern wird auf ihrem Gelände an der C.--straße auch derartiges Material gelagert.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend für die von der Antragstellerin gerügte Verschmutzung der C.--straße vor ihrem Grundstück. Dabei ist dem Senat bewusst, dass die Antragstellerin sich zumindest seit 1997 immer wieder über den Anlagenbetrieb beschwert und unter anderem geltend macht, die von der Anlage abfahrenden Lkw verschmutzten die C.--straße in erheblichem Maße. Den von ihr übersandten Fotos zum Straßenzustand und den Feststellungen des Antragsgegners bei wiederholten unangekündigten Kontrollen vor Ort (Aktenvermerke und Fotos) ist auch zu entnehmen, dass die Straße nicht nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen in unterschiedlichem Grad verschmutzt war. Allerdings ergibt sich daraus nicht, dass die C.--straße vor dem Grundstück der Antragstellerin gerade durch den Betrieb der Anlage der Beigeladenen trotz zwischenzeitlicher Errichtung der zweiten Lkw-Reifenwaschanlage auch aktuell noch so häufig so stark verschmutzt wäre, dass eine sofortige Anlagenstilllegung gerechtfertigt sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">cc) Die von der Antragstellerin beklagten Verkehrsprobleme durch den Lieferverkehr in der C.--straße (Lärm, Schmutz, Abgase, Stau, Parken am Straßenrand, Überfahren ihres Grundstücks) begründen keinen Anordnungsgrund für die beantragte Betriebsstilllegung. Auch hier ist unklar, in welchem Maße sie auf den Lieferverkehr zur Anlage der Beigeladenen oder z. B. der B. GmbH zurückzuführen sind. Außerdem ist nicht glaubhaft gemacht, dass sie derart gravierend wären, dass die Antragstellerin daran gehindert würde, ihr Grundstück angemessen zu nutzen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">c) Ein Anordnungsgrund für die beantragte Stilllegung der Anlage besteht entgegen der Ansicht der Antragstellerin auch nicht deshalb, weil der im Eilverfahren 8 L 850/19 vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen geschlossene Vergleich bisher größtenteils noch nicht umgesetzt worden sei. Denn die bisherigen Auswirkungen der Anlage begründen aus den dargestellten Gründen keinen Anordnungsgrund für eine vorläufige Stilllegung der Anlage.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Abgesehen davon dient die der Beigeladenen vom Antragsgegner erteilte Änderungsgenehmigung vom 18. März 2022 der Umsetzung dieses Vergleichs. Der gegen diese Änderungsgenehmigung erhobene Widerspruch der Antragstellerin beschleunigt die in dieser Änderungsgenehmigung (auch) vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Antragstellerin jedenfalls nicht. Auf die Frage, inwieweit der Widerspruch zulässig und begründet ist, kommt es vorliegend nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">II. Einen Anordnungsgrund im Sinne eines besonderen Eilbedürfnisses für den Hilfsantrag auf Feststellung der nicht gesicherten Erschließung der Anlage der Beigeladenen hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint. Das Vorbringen der Antragstellerin, das streitgegenständliche Feststellungsbegehren sei „von eminenter Wichtigkeit für alle Prozessbeteiligten und für laufende oder zukünftige Genehmigungsverfahren“, stellt dies nicht ansatzweise in Frage und zeigt insoweit keine besondere Dringlichkeit auf.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon lässt dieses Vorbringen nicht erkennen, worin das besondere Feststellungsinteresse i. S. v. § 43 Abs. 1 VwGO der Antragstellerin bestehen sollte, das für eine Feststellungsklage erforderlich ist. Zudem hat der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren mitgeteilt und belegt, dass im Baulastenverzeichnis der Stadt H. seit dem 9. September 1993 eine Erschließungsbaulast auf den Flurstücken, die den privaten Teil der C.--straße bilden, für die umliegenden Grundstücke eingetragen ist, darunter auch für den westlichen Teil des Betriebsgeländes der Beigeladenen.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">III. Die von der Antragstellerin beantragte Durchführung eines Ortstermins hält der Senat im Beschwerdeverfahren wegen der in den Verwaltungsvorgängen und den Eingaben der Antragstellerin anschaulich dokumentierten örtlichen Zustände für nicht geboten.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">IV. Eine von der Antragstellerin im Schriftsatz vom 20. Juli 2022 thematisierte (etwaige) weitere Änderungsgenehmigung für die Beigeladene zum Zwecke der Entsorgung von Fisch- und/oder Essensabfällen ist ebenso wenig Gegenstand des vorliegenden, auf Stilllegung gerichteten Verfahrens wie das von der Antragstellerin nunmehr wegen der seit dem 18. Juli 2022 wahrgenommenen Geruchsbelästigung (fischig-fauliger Gestank vom Betriebsgelände der Beigeladenen) beantragte Einschreiten des Antragsgegners.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">V. Auch wenn die Antragstellerin nach alldem mit ihrem ausschließlich auf Stilllegung des Betriebs der Beigeladenen gerichteten Begehren keinen Erfolg haben kann, weist der Senat mit Blick auf die langjährige Konfliktsituation zwischen den Beteiligten auf Folgendes hin: Nach Aktenlage besteht Anlass sowohl für die Beigeladene, die nachbarschützenden Nebenbestimmungen der bisherigen Genehmigungen hinsichtlich der Staubemissionen gewissenhafter einzuhalten als bisher, als auch Anlass für den Antragsgegner, den Anlagenbetrieb jedenfalls auch in dem verbleibenden Zeitraum bis zur Realisierung der insbesondere im Interesse der Antragstellerin liegenden Änderungsgenehmigung vom 18. März 2022 in kürzeren Abständen weiterhin zu überwachen und nötigenfalls zu prüfen, ob und ggf. mit welchen Mitteln er gegen die von der Anlage der Beigeladenen ausgehende Staubbelastung auf dem Grundstück der Antragstellerin sowie gegen die Staubbelastung und die Verschmutzung des privaten Teils der C.--straße vorgeht. Im Einzelnen:</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid des Staatlichen Umweltamtes Herten vom 14. April 2004 enthält in seinem Abschnitt IV 3.2 „Luftreinhaltung“ Nebenbestimmungen für den Anlagenbetrieb und die Zufahrt zum Betriebsgelände über die C.--straße , die auch dem Schutz der an die Anlage angrenzenden Nachbargrundstücke vor Luftverunreinigungen i. S. d. § 3 Abs. 3 BImSchG durch Staubablagerungen dienen. So ist etwa bei der Lagerung von Ein- und Ausgangsmaterial bei Bedarf eine Berieselungseinrichtung einzusetzen (Nebenbestimmung IV 3.2.3). Dies gilt, da die Ordnungsverfügung vom 7. November 2013 keine spezielleren Regelungen enthält, ersichtlich auch für den angeordneten Rückbau der überschüssigen Lagermengen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Nebenbestimmung Nr. 3.2.6 sieht vor, dass der Ausfahrtbereich bis zum öffentlichen Teil der C.--straße und die Betriebsstraßen bei Verschmutzungen, die durch den Betrieb der Anlage entstehen, mittels Nass- oder Saugkehrmaschinen so zu reinigen sind, dass Staubablagerungen vermieden werden und sichtbare Staubemissionen auch beim Befahren der Straße mittels Radlader oder Lkw nicht auftreten.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Zwar sind die dazu erforderlichen technischen Vorrichtungen auf der Anlage der Beigeladenen vorhanden. Auf dem Betriebsgelände ist eine Reifenwaschanlage installiert worden; seit März 2021 gibt es sogar zwei hintereinander liegende Reifenwaschanlagen. Außerdem verfügt die Beigeladene über eine Kehrmaschine zum Säubern der Straße; zusätzlich reinigt die Stadt H. auf Kosten der Beigeladenen die Straße einmal täglich mit einer Kehrmaschine. Nach den in den Verwaltungsvorgängen vorhandenen und aus den von der Antragstellerin übersandten Fotos spricht allerdings manches dafür, dass die Vorgaben dieser Nebenbestimmungen häufiger nicht eingehalten worden sind, als der Antragsgegner bei seinen Kontrollen festgestellt hat (wobei jedoch unklar ist, in welchem Umfang dies der Beigeladenen zuzurechnen ist). Die Reifen der von der Anlage der Beigeladenen abfahrenden Lkw werden möglicherweise nicht immer ausreichend gereinigt und zwar auch dann nicht, wenn die Lkw - wie vorgeschrieben - durch die Reifenwaschanlage(n) fahren. Dadurch wird Material, das an den Reifen haftet, auf die C.--straße gebracht, das die Kehrmaschinen wohl nicht immer in Gänze beseitigen können und das dort nach dem Trocknen staubt. In gewissem Umfang räumt dies auch die Beigeladene selbst ein. Sie hat gegenüber dem Antragsgegner angegeben, dass die Reinigungsleistung der Reifenwaschanlage(n) beim Wechsel zwischen Regen- und Trockenphasen nachlasse, weil dann im Reifenprofil Material eher haften bleibe und schwieriger abzuwaschen sei (vgl. Vermerke des Antragsgegners über Telefonate mit Herrn T. am 18. Januar 2021, mit Frau T. am 2. Februar 2021 und mit einem Mitarbeiter der Beigeladenen am 8. Februar 2022). Wechsel zwischen Regen- und Trockenphasen sind bei den typischen Wetterverhältnissen am Anlagenstandort der Beigeladenen jedoch keine außergewöhnlichen Umstände, sondern treten immer wieder auf. Dementsprechend ist die Beigeladene verpflichtet, die Nebenbestimmungen auch bei solchen Wetterbedingungen einzuhalten und die Reinigungsvorrichtungen (Reifenwaschanlage, Kehrmaschine) so einzusetzen, dass anlagenbedingte Verschmutzungen mit Staubablagerungen und dadurch hervorgerufene sichtbare Staubemissionen auf dem privaten Teil der C.--straße vermieden werden. Um dieses Ziel zu erreichen, könnte es bei entsprechenden Wetterbedingungen beispielsweise nötig sein, die Lkw noch langsamer durch die Reifenwaschanlage fahren zu lassen, die Reifen zusätzlich manuell zu reinigen oder die Kehrmaschinen häufiger einzusetzen, damit der Reinigungszustand der C.--straße auch in dem Zeitraum zwischen den jeweiligen Einsätzen der städtischen Kehrmaschine, beispielsweise am Wochenende, den Vorgaben der Genehmigung vom 14. April 2004 entspricht.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Die bisherigen Ermessenserwägungen des Antragsgegners, die sich auf ein Einschreiten wegen der Staubbelastung beziehen, könnten jedenfalls in Bezug auf die Straßenreinigung teilweise rechtlich angreifbar sein. Entgegen der Annahme des Antragsgegners im Vermerk vom 10. März 2021 dürfte seine Zuständigkeit „in Bezug auf die Restverunreinigungen der C.--straße “ nicht schon dadurch entfallen, dass die Beigeladene „die geforderten Vorsorgemaßnahmen zur weitgehenden Minderung des Austrags von Verunreinigungen erfüllt“. Diese Vorsorgemaßnahmen, mit denen die Reifenwaschanlagen und die Kehrmaschine gemeint sein dürften, müssen nicht nur vorhanden und beim Betrieb der Anlage funktionstüchtig sein, sondern auch so eingesetzt werden - auch bei Wechsel zwischen Regen- und Trockenphasen -, dass die immissionsschutzrechtlichen Nebenbestimmungen zum Schutz der Nachbarn eingehalten werden. Da die Vorgaben zur Sauberhaltung der C.--straße Teil der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung sind und es um Verschmutzungen geht, die dem Anlagenbetrieb zuzurechnen sind, handelt es sich dabei nicht um rein verkehrsrechtliche Belange, für die der Antragsgegner nicht zuständig ist.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Auch wenn die Anforderungen an die Sauberkeit einer Straße in einem Industrie‑/Gewerbegebiet geringer sein mögen als in einem Wohngebiet, könnte es rechtlich bedenklich sein, wenn sich der Antragsgegner bei der Frage, ob er wegen einer Straßenverschmutzung gegen den Anlagenbetrieb einschreitet, auf die Feststellungen beschränkt, die in den letzten Jahren festgestellten Verschmutzungen seien nicht massiv (vgl. Vermerk des Antragsgegners vom 12. November 2018) und die Stadt H. als zuständige Straßenverkehrsbehörde sehe insoweit keinen Grund zum Einschreiten (vgl. Schreiben des Antragsgegners an die Antragstellerin vom 12. November 2020). Denn die Nebenbestimmung Nr. 3.2.6 des Bescheides vom 14. April 2004 stellt nicht auf massive Verschmutzungen des Ausfahrtbereichs bis zum öffentlichen Teil der C.--straße ab. Vielmehr müssen dort Staubablagerungen vermieden werden und dürfen beim Befahren der Straßen mittels Radlader oder Lkw keine sichtbaren Staubemissionen auftreten.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind aus Gründen der Billigkeit erstattungsfähig, weil sie einen Sachantrag gestellt und sich substantiiert zur Sache eingelassen hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung und ‑änderung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 45 Abs. 1 Satz 2, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG i. V. m. Nr. 19.2 und Nr. 2.2.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Dabei bewertet der Senat den Streitwert für den Antrag auf Stilllegung der Anlage mit 15.000 Euro und für den Hilfsantrag mit 5.000 Euro. Diese Werte werden nach § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG addiert, weil über den Hilfsantrag entschieden wird und die Ansprüche (Stilllegung, Erschließung) nicht denselben Gegenstand betreffen (vgl. § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG). Da die Antragstellerin der Sache nach jeweils eine (zeitweilige) Vorwegnahme der Hauptsache begehrt, wird der Streitwert nicht nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs wegen der Vorläufigkeit des Verfahrens auf die Hälfte reduziert.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
|
345,938 | ovgni-2022-07-22-5-la-12220 | {
"id": 601,
"name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht",
"slug": "ovgni",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": null
} | 5 LA 122/20 | 2022-07-22T00:00:00 | 2022-07-26T10:01:09 | 2022-10-17T17:55:20 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 8. Kammer - vom 1. Juli 2020 wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 29.144,28 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong> I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin begehrt die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe in der Laufbahngruppe 2 der Fachrichtung Bildung für das Lehramt an Haupt- und Realschulen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die am … 1971 geborene Klägerin studierte in den Jahren 2004 bis 2009 den Diplom-Studiengang „Wirtschaftspädagogik“ an der Universität Göttingen. Die Diplom-Vorprüfung legte sie am … 2006 ab. Am … 2009 bestand sie die Abschlussprüfung als Diplom-Handelslehrerin. Im Anschluss an den Vorbereitungsdienst bestand sie am … 2012 die Staatsprüfung für das Lehramt an berufsbildenden Schulen (in der beruflichen Fachrichtung Wirtschaftswissenschaften und im Ausbildungsschwerpunkt Industrie).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Vom … April 2013 bis zum … September 2016 war sie als Dozentin für Wirtschaft und Mathematik bei der E. in C-Stadt beschäftigt. Kurz vor Vollendung ihres 45. Lebensjahres beantragte sie am 1. Juli 2016 bei der damaligen Niedersächsischen Landesschulbehörde erstmalig die Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe. Mit Wirkung vom … Oktober 2016 wurde die Klägerin als tarifbeschäftigte Lehrkraft in den niedersächsischen Landesdienst an der Beklagten eingestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Den erneuten Antrag der Klägerin auf Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe vom 23. November 2016 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. Februar 2017 ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe setze unter anderem die entsprechende Lehrbefähigung voraus. Die Klägerin verfüge nicht über eine Lehrbefähigung für den allgemeinbildenden Schuldienst, sondern lediglich über eine solche für das Lehramt an berufsbildenden Schulen. Eine Gleichwertigkeit der Lehrbefähigung sei nicht gegeben. Diese erfordere die Zuerkennung von zwei allgemeinbildenden Unterrichtsfächern. Der Klägerin könne lediglich das Fach Wirtschaft zugeordnet werden. Für die Zuordnung eines weiteren allgemeinbildenden Unterrichtsfaches reichten die Studieninhalte ihres Studiums nicht aus, weshalb lediglich die unbefristete Einstellung im Tarifbeschäftigtenverhältnis in Betracht komme. Die erforderliche Lehrbefähigung könne von der Klägerin auch nicht im Wege einer Qualifizierung erworben werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin hat am 20. März 2017 beim Verwaltungsgericht Lüneburg Klage erhoben, welche mit Urteil vom 1. Juli 2020 abgewiesen worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Gegen diese Entscheidung richtet sich der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung vom 28. Juli 2020, dem die Beklagte entgegentritt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Sie hat die von ihr geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der besonderen tatsächlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) bereits nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des vorinstanzlichen Urteils sind zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden. Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen. Es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt. Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substantiiert mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist (Nds. OVG, Beschluss vom 7.4.2011 - 5 LA 28/10 -). Ist das angegriffene Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, müssen hinsichtlich aller dieser Begründungen Zulassungsgründe dargelegt werden (Nds. OVG, Beschluss vom 24.3.2011 - 5 LA 300/09 -, juris Rn. 6; Beschluss vom 30.8.2011 - 5 LA 214/10 -, juris Rn. 3).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Vorbringen der Klägerin nicht zur Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner ablehnenden Entscheidung auf Seite 10 f. des Urteilsabdrucks ausgeführt, dass der Klägerin die erforderliche Lehrbefähigung für den allgemeinbildenden Bereich und damit eine laufbahnrechtliche Voraussetzung fehle. Gemäß § 6 der Niedersächsischen Verordnung über die Laufbahn der Laufbahngruppe 2 der Fachrichtung Bildung (NLVO-Bildung) habe die Lehrbefähigung für das Lehramt an Grundschulen, das Lehramt an Haupt- und Realschulen, das Lehramt für Sonderpädagogik, das Lehramt an Gymnasien oder das Lehramt an berufsbildenden Schulen erworben, wer</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">1. das für das betreffende Lehramt vorgeschriebene Studium mit einem Mastergrad (Master of Education), mit der Ersten Staatsprüfung für ein Lehramt in Niedersachsen oder mit einem gleichwertigen Abschluss abgeschlossen habe oder ein anderes Hochschulstudium mit einem Mastergrad oder einem gleichwertigen Abschluss abgeschlossen habe, wenn der Abschluss zwei Fächern im Sinne der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung zugeordnet werden könne, und</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">2. den nach § 7 sowie durch die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung näher bestimmten Vorbereitungsdienst mit einer Prüfung erfolgreich abgeschlossen habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin habe einen Abschluss im universitären Diplomstudiengang Wirtschaftspädagogik erlangt. Eine Gleichwertigkeit dieses Diplomgrads mit dem Mastergrad sei grundsätzlich gegeben. Entgegen der Ansicht der Klägerin fehle es jedoch an der weiteren Voraussetzung der möglichen Zuordnung zu zwei Fächern im Sinne der Verordnung über Masterabschlüsse für Lehrämter in Niedersachsen (Nds. MasterVO-Lehr), da die Klägerin neben dem Unterrichtsfach Wirtschaft nicht über ein erforderliches zweites allgemeinbildendes Unterrichtsfach verfüge.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin wendet hiergegen ein, dass sie über einen gleichwertigen Abschluss verfüge, der zwei Fächern im Sinne der Ausbildungs- und Prüfungsordnung zugeordnet werden könne. Hierzu führt sie im Wesentlichen aus: Das Verwaltungsgericht habe nicht näher definiert, wann ein gleichwertiger Abschluss im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 NLVO-Bildung vorliege. Aus der Urteilsbegründung ergebe sich aber, dass das Verwaltungsgericht wohl fordere, dass vorrangig mathematische Inhalte in den studierten Fächern/Kursen unterrichtet worden sein müssten. Dies greife als Definition der Gleichwertigkeit zu kurz. Zum anderen habe das Verwaltungsgericht die Inhalte der einzelnen von ihr studierten Fächer/Kurse nicht geprüft und deswegen auch nicht beurteilt, ob diese Fächer und Kurse dem Lehramtsstudium im Fach Mathematik entsprechende Inhalte umfasst hätten. „Reine“ Mathematik-Kurse (im Hauptstudium) könnten für die Feststellung der Gleichwertigkeit nicht gefordert werden. Nach ihrer eigenen Beurteilung sei eine Gleichwertigkeit im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 NLVO-Bildung anzunehmen, wenn die - hier mathematischen - Inhalte in Umfang und Anforderungsniveau dazu führten, dass das Anforderungsprofil erfüllt werde, das ein Mathematiklehrer an Haupt- und Realschulen vorweisen müsse. Dabei komme es weniger auf den Namen oder Titel des studierten Faches bzw. Kurses an, sondern auf dessen konkreten Inhalt. Hierbei dürften nicht rein oder „explizit“ mathematische Kurse gefordert werden, denn es sei „nur“ eine Gleichwertigkeit und kein Mathematik-Studium (für das Lehramt) gefordert. Das Verwaltungsgericht habe eine nähere Betrachtung und einen Vergleich trotz der von ihr vorgelegten Übersichten und Gegenüberstellungen der Inhalte nicht angestellt. Da sich das Verwaltungsgericht trotz des ausführlichen Vortrags mit der Fragestellung nicht auseinandergesetzt und die Gleichwertigkeit ohne nähere Begründung verneint habe, sei die Prüfung der Gleichwertigkeit im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 NLVO-Bildung nunmehr in der Berufung nachzuholen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Mit diesem Vorbringen hat die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht dargetan. Ihre Ausführungen zum Begriff der Gleichwertigkeit gehen am Inhalt der verwaltungsgerichtlichen Argumentation vorbei. Denn das Verwaltungsgericht hat in seiner Urteilsbegründung die grundsätzliche Gleichwertigkeit des von der Klägerin erlangten Diplomabschlusses mit einem Masterabschluss festgestellt, ihre Lehrbefähigung gemäß § 6 NLVO-Bildung aber (allein) deshalb verneint, weil es an der weiteren Voraussetzung der möglichen Zuordnung ihres Abschlusses zu zwei Fächern im Sinne der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung fehle. Diese rechtliche Unterscheidung beachtet die Klägerin nicht hinreichend, wenn sie ihre Ausführungen zum Fach Mathematik dogmatisch an die „Definition der ‚Gleichwertigkeit‘“ knüpft (ZB, S. 3 [Bl. 174/ GA]). Ebenso lässt ihr Vorbringen (ZB, S. 3 [Bl. 174/ GA]), das Verwaltungsgericht habe die Inhalte der einzelnen, von ihr studierten Kurse/Fächer nicht geprüft, die nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erforderliche hinreichende Sichtung und Durchdringung des Streitstoffes vermissen. Denn das Verwaltungsgericht hat bei der Frage, ob der von der Klägerin erreichte Abschluss u. a. dem Fach Mathematik zugeordnet werden kann, darauf abgehoben, die Landesschulbehörde habe nachvollziehbar dargetan, dass sich den Unterlagen zum Diplom-Studium (Hauptstudium) nicht entnehmen lasse, dass in dieser Zeit (von der Klägerin) weitere Prüfungen im Unterrichtsfach Mathematik absolviert worden wären. Mit dieser tragenden Begründung des Verwaltungsgerichts, insbesondere mit deren rechtlichen Ansatz, setzt sich die Klägerin nicht in einen den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise auseinander.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>2. Die Berufung ist des Weiteren auch nicht wegen besonderer tatsächlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 VwGO) zuzulassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Gesetzgeber hat mit dem Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (negativ) an die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheides (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und die Übertragung eines Rechtsstreits auf den Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO) angeknüpft. Hiernach weist eine Streitsache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, wenn ihre Entscheidung voraussichtlich in tatsächlicher bzw. rechtlicher Hinsicht größere, d. h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursachen wird (Nds. OVG, Beschluss vom 17.2.2010 - 5 LA 342/08 -, juris Rn. 10; Beschluss vom 13.1.2012 - 7 LA 138/11 -, juris Rn. 13). Die besonderen Schwierigkeiten müssen sich allerdings auf Fragen beziehen, die für den konkreten Fall und das konkrete Verfahren entscheidungserheblich sind (Nds. OVG, Beschluss vom 13.1.2012 - 7 LA 138/11 -, juris Rn. 13). Die Darlegung des Zulassungsgrundes erfordert, dass in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die geltend gemachten Schwierigkeiten als solche benannt werden und darüber hinaus aufgezeigt wird, dass und aus welchen Gründen sie sich qualitativ von denjenigen eines Verwaltungsrechtsstreits „durchschnittlicher“ Schwierigkeit abheben (Nds. OVG, Beschluss vom 4.2.2010 - 5 LA 37/08 -, juris Rn. 14; Beschluss vom 17.2.2010, a. a. O., Rn. 10). Der Rechtsmittelkläger muss sich also mit dem verwaltungsgerichtlichen Urteil substantiell auseinandersetzen und deutlich machen, in welchem konkreten tatsächlichen oder rechtlichen Punkt das Urteil zweifelhaft ist (Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 124a Rn. 68).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Diesen Darlegungsanforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin, welches sich in der Aussage erschöpft, dass die Angelegenheit „aus den vorgenannten Gründen“ besondere tatsächliche Schwierigkeiten aufweisen dürfte (ZB, S. 6 [Bl. 177/GA]), nicht. Die Klägerin hat weder benannt, welche tatsächlichen Fragen sie für besonders schwierig erachtet noch hat sie etwas zu deren Entscheidungserheblichkeit vorgetragen. An Ausführungen dazu, worin überdurchschnittliche Schwierigkeiten zu sehen sind, mangelt es ebenfalls.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>3. Schließlich scheidet auch eine Berufungszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) aus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat eine Rechtssache dann, wenn sie eine grundsätzliche, fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die im allgemeinen Interesse der Klärung bedarf. Das ist nur dann zu bejahen, wenn die Klärung der Frage durch die im erstrebten Berufungsverfahren zu erwartende Entscheidung zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder für eine bedeutsame Fortentwicklung des Rechts geboten erscheint (Nds. OVG, Beschluss vom 1.10.2008 - 5 LA 64/06 -, juris Rn. 14; Beschluss vom 17.8.2021 - 5 LA 130/20 -, juris Rn. 10). An der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage fehlt es, wenn sie sich unschwer aus dem Gesetz oder auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung beantworten lässt (Nds. OVG, Beschluss vom 1.10.2008 - 5 LA 64/06 -, juris Rn. 14; Beschluss vom 17.8.2021 - 5 LA 130/20 -, juris Rn. 10). Um die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO darzulegen, hat der Zulassungsantragsteller die für fallübergreifend gehaltene Frage zu formulieren (Nds. OVG, Beschluss vom 29.2.2008 - 5 LA 167/04 - juris Rn. 12) sowie näher zu begründen, weshalb sie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat und ein allgemeines Interesse an ihrer Klärung besteht. Darzustellen ist weiter, dass sie entscheidungserheblich ist und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten steht (Nds. OVG, Beschluss vom 3.11.2011 - 10 LA 72/10 -, juris Rn. 24; Beschluss vom 17.8.2021 - 5 LA 130/20 -, juris Rn. 10).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Gemessen an diesen Grundsätzen hat die Klägerin den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend dargelegt, weil sie schon die Entscheidungserheblichkeit der von ihr für klärungsbedürftig gehaltenen Frage,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„ob und unter welchen Voraussetzungen ein gleichwertiges Studium im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 NLVO-Bildung zum Mastergrad oder der 1. Staatsprüfung für ein Lehramt in Niedersachsen vorliegt und ob diese Anforderungen durch das Studium der Klägerin für das Fach Mathematik erfüllt werden“ (ZB, S. 6 [Bl. 177/GA])</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>nicht dargelegt hat. Überdies ist eine Entscheidungserheblichkeit der angeführten Rechtsfrage aus den vorstehenden Ausführungen unter 1. zu verneinen. Außerdem hat die Klägerin nicht begründet, weshalb die angeführte Rechtsfrage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung haben und ein allgemeines Interesse an ihrer Klärung bestehen soll.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung für das Berufungszulassungsverfahren ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 40, 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG in der zum Zeitpunkt der Einleitung des zweiten Rechtszugs (28. Juli 2020) geltenden Fassung, bemisst sich also nach der Hälfte der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltfähiger Zulagen. Unter Berücksichtigung des maßgeblichen Endgrundgehalts (hierzu: Nds. OVG, Beschluss vom 11.11.2014 - 5 ME 157/14 -, m. w. N.) der Besoldungsgruppe A 12 in Höhe von 4.857,38 EUR (§ 2 Abs. 2 Nr. 1, § 7 Abs. 1, Abs. 2 NBesG in Verbindung mit Anlage 5) errechnet sich ein Streitwert in Höhe von 29.144,28 EUR.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006590&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,777 | vghbw-2022-07-21-5-s-194020 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 5 S 1940/20 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-09-30T10:02:02 | 2022-10-17T11:10:43 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>Der Antrag wird abgewiesen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragstellerin wendet sich gegen den Bebauungsplan „Gebersheimer Weg“ der Antragsgegnerin.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Das insgesamt 5,67 ha große Plangebiet befindet sich im Nordosten von Rutesheim, beidseits der K 1082, welche als Nordumfahrung der Stadt die bereits bestehenden Gewerbegebiete „Schertlenswald“ im Osten des Gemeindegebiets und „Gewerbegebiet am Autobahnanschluss“ im Westen verbindet. Es besteht aus zwei Gebietsteilen, die sich beidseits der Nordumfahrung erstrecken und als bisherige Außenbereichsgrundstücke landwirtschaftlich bzw. als Streuobstwiesen genutzt sind. Der größere westliche Gebietsteil wird im Norden von dem Weg Flst.-Nr. ..., im Osten von der Nordumfahrung, im Süden von der K 1059 (Gebersheimer Straße) und im Westen von weiterhin landwirtschaftlich genutzten Freiflächen begrenzt, welche als Erweiterungsfläche für den westlich davon gelegenen Friedhof bereitgehalten werden sollen. Der kleinere östliche Gebietsteil grenzt im Westen an die Nordumfahrung, im Süden an die K 1059 (Gebersheimer Straße), im Norden an den bestehenden Weg Flst- Nr. ... sowie im Osten an den bestehenden Weg Flst.-Nr. .... Beide Gebietsteile sollen von der Gebersheimer Straße her verkehrlich erschlossen werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Bebauungsplan setzt im gesamten Plangebiet Gewerbeflächen fest. Zulässig sind Gewerbebetriebe aller Art und öffentliche Betriebe, Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäude sowie Anlagen für sportliche Zwecke. Ausnahmsweise zulässig sind Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke, sowohl als gewerblich betriebene Anlagen als auch als Gemeinbedarfsanlagen. Nicht zulässig sind Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter, Anlagen für kirchliche Zwecke, Vergnügungsstätten, Tankstellen, Beherbergungsbetriebe (z.B. Hotels, Boardinghouses), Abfallentsorgungsunternehmen, Schrotthandel, selbstständige Speditionen, Kurier- und/oder Expressdienste, selbstständige Lagerhäuser und Lagerplätze sowie Einzelhandelsbetriebe mit Ausnahme eines untergeordneten Direktverkaufs bis 200 m<sup>2 </sup>Verkaufsfläche. Auch Fremdwerbung ist in dem Plangebiet als gewerbliche Nutzung ausgeschlossen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit der Planung beabsichtigt die Antragsgegnerin, dringend benötigte Gewerbeflächen - die Rede ist von einem aktuellen Bedarf von 7 bis 8 ha - zu schaffen. Anlass der Planung war der konkrete Ansiedlungswunsch eines großen Unternehmens aus dem Bereich der Automobilindustrie. Im westlichen Gebietsteil (GE 1) soll eine große, zusammenhängende Gewerbefläche geschaffen, im östlichen Gebietsteil (GE 2) sollen hingegen kleinstrukturiertere Gewerbeflächen, v.a. für mittelständische und ortsansässige Betriebe, zur Verfügung gestellt werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Die Antragstellerin ist Eigentümerin des außerhalb des Plangebiets liegenden landwirtschaftlich genutzten Grundstücks Flst.-Nr. ... sowie der in gleicher Weise genutzten Grundstücke Flst.-Nrn. ... und ..., welche im GE 1 liegen und folglich überplant werden. Sie möchte auf dem ihr im Umlegungsverfahren zugewiesenen Grundstück ein Boardinghouse betreiben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Das Verfahren zur Aufstellung des Bebauungsplans verlief im Wesentlichen wie folgt: Am 6. November 2017 beschloss der Gemeinderat der Antragsgegnerin, den angefochtenen Bebauungsplan einschließlich der örtlichen Bauvorschriften für das Plangebiet aufzustellen und den Flächennutzungsplan im Parallelverfahren nach § 8 Abs. 3 BauGB fortzuschreiben. Der Aufstellungsbeschluss wurde im Mitteilungsblatt der Antragsgegnerin am 9. November 2017 bekanntgemacht. Am 27. November 2017 wurde eine frühzeitige Bürgerbeteiligung gemäß § 3 Abs. 1 BauGB durchgeführt. In der Zeit vom 7. Februar 2020 bis zum 9. März 2020 lagen der Entwurf des Bebauungsplans und der örtlichen Bauvorschriften mit Begründung, Umweltbericht mit Umweltprüfung sowie integriertem Grünordnungsplan mit Eingriffs- und Ausgleichsflächenbilanzierung samt begleitender Untersuchungen und Gutachten (nach entsprechender Bekanntmachung im Mitteilungsblatt vom 30. Januar 2020) im Rathaus - Bauamt - der Antragsgegnerin öffentlich aus. Zugleich wurde eine Beteiligung der Behörden und Träger öffentlicher Belange durchgeführt. Über die eingegangenen Stellungnahmen - auch der Antragstellerin - beriet der Gemeinderat in seiner Sitzung am 11. Mai 2020 und beschloss anschließend den Bebauungsplan „Gebersheimer Weg“ sowie die örtlichen Bauvorschriften zu dem Bebauungsplan jeweils als Satzung. Zugleich wurde die parallele Änderung des „Flächennutzungsplans 2008-2025 Rutesheim“ beschlossen. Der Bebauungsplan wurde von der Bürgermeisterin der Antragsgegnerin ausgefertigt und am 14. Mai 2020 im Mitteilungsblatt der Antragsgegnerin ortsüblich bekannt gemacht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>In seiner Sitzung am 11. Januar 2021 beschloss der Gemeinderat - in Reaktion auf das Vorbringen der Antragstellerin in dem zu diesem Zeitpunkt bereits eingeleiteten Normenkontrollverfahren - die Durchführung eines ergänzenden Verfahrens. Die Änderungen betrafen den Ausschluss des bis dahin zulässigen nicht ortskernrelevanten Einzelhandels im Plangebiet, die ausführlichere Prüfung von Alternativstandorten für die Gewerbeansiedlung, die Änderung des Umweltberichts und des Grünordnungsplans in Bezug auf Ersatzpflanzungen von Streuobstwiesen sowie die geringfügige Ergänzung der Überschneidung des Bebauungsplans mit dem Bebauungsplan „Nordumfahrung Rutesheim“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>In der Zeit vom 22. Januar 2021 bis zum 23. Februar 2021 lagen die geänderten Planunterlagen - nach vorheriger Bekanntmachung im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 14. Januar 2021 - im Bauamt der Antragsgegnerin erneut öffentlich aus. Es wurde ein weiteres Verfahren zur Beteiligung von Behörden und Trägern öffentlicher Belange durchgeführt. Über die - auch vonseiten der Antragstellerin - eingegangenen Stellungnahmen beriet der Gemeinderat in seiner Sitzung am 8. März 2021 und beschloss anschließend mit Rückwirkung zum 14. Mai 2020 den Bebauungsplan „Gebersheimer Weg“ sowie die örtlichen Bauvorschriften zu dem Bebauungsplan jeweils erneut als Satzung. Der Bebauungsplan wurde am 9. März 2021 von der Bürgermeisterin der Antragsgegnerin ausgefertigt und am 11. März 2020 im Mitteilungsblatt der Antragsgegnerin ortsüblich bekannt gemacht. Die Bekanntmachung wurde am 25. März 2021 - nunmehr unter Hinweis auf die rückwirkende Inkraftsetzung des Bebauungsplans und der örtlichen Bauvorschriften - wiederholt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Bereits am 2. Juli 2020 hatte die Antragstellerin beim Verwaltungsgerichtshof das Normenkontrollverfahren eingeleitet und nach Ergehen des Satzungsbeschlusses vom 8. März 2021 erklärt, dass das Verfahren auf der Grundlage des neu beschlossenen Bebauungsplans fortgeführt werde. Zur Begründung macht sie zusammengefasst geltend: Der Bebauungsplan sei bereits nicht städtebaulich erforderlich. Es handele sich um eine reine Gefälligkeitsplanung, die den privaten Interessen des ansiedlungswilligen Unternehmens, mit dem bereits ein Ansiedlungsvertrag geschlossen worden sei, diene. Städtebauliche Gründe lägen nicht vor oder seien nur vorgeschoben. Denn die Antragsgegnerin habe nicht geprüft und dargelegt, dass überhaupt ein Bedarf an neuen Gewerbeflächen bestehe. Soweit darauf verwiesen werde, dass es keine Baulücken zur Ansiedlung von Gewerbebetrieben mehr gebe, sei dies widersprüchlich, weil Abfallentsorgungsunternehmen und Schrotthandel in dem Gewerbegebiet mit der Begründung ausgeschlossen worden seien, dass diese Betriebe in anderen Gewerbegebieten der Stadt besser untergebracht werden könnten. Auch stehe das von der Firma ...xx aufgegebene Gelände zur Gewerbeansiedlung zur Verfügung, welches allerdings mit Wohnbebauung überplant werden solle. Widersprüchlich und vorgeschoben sei auch die Begründung für die Aufteilung der Gewerbegebietsaufteilung in zwei Gebietsteile. Denn die beabsichtigte Zulassung von Nutzungen mit einem hohen Arbeitsplatzanteil lasse sich in dem GE 2, welches der Unterbringung ortsansässiger Betriebe dienen solle, nicht verwirklichen. Die planerische Anlage des GE 1, einer riesigen und isolierten Gewerbefläche, entspreche keinem städtebaulichen Planungskonzept. Weiteres Indiz für das Vorliegen einer reinen Gefälligkeitsplanung sei, dass der Flächennutzungsplan in dem Plangebiet keine Gewerbeflächen vorsehe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Der Bebauungsplan verstoße ferner gegen das Abwägungsgebot des § 2 Abs. 3 BauGB, § 1 Abs. 7 BauGB. Denn wie sich schon aus dem Vortrag zur fehlenden Erforderlichkeit der Planung ergebe, habe die Antragsgegnerin keine Standortalternativen geprüft. So sei z.B. die südliche bzw. südöstliche Erweiterung des bereits bestehenden Gewerbegebiets nördlich der Rutesheimer Straße nicht in Betracht gezogen worden. Dort stehe eine Fläche von ca. 8 ha zur Verfügung, die auch verkehrlich gut angebunden sei. Die Antragsgegnerin habe das Gebot des sparsamen Umgangs mit Grund und Boden (§ 1a Abs. 2 Satz 1 und 2 BauGB) dadurch verletzt, dass eine weitere gewerbliche Nutzung des früheren ... -Areals nicht geprüft worden sei. Dort solle vielmehr Wohnbebauung entstehen, was in Widerspruch zu der Ansicht der Antragsgegnerin stehe, der Bedarf an Gewerbeflächen könne nicht gedeckt werden. Auch eine Ausweisung der Fläche „Heimsheimer Rain“ als Gewerbegebiet habe sich als vorzugswürdig aufgedrängt, da diese eine natürliche Erweiterung der Gewerbeflächen "Gewerbegebiet am Autobahnanschluss Rutesheim“ und „Bonholz/Bonholz Süd“ darstelle, topographisch geeignet sei und das Konfliktpotential mit der umgebenden Wohnbebauung nicht wesentlich höher sei als bei der von der Antragsgegnerin präferierten Lösung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Ein weiterer Abwägungsmangel liege in Bezug auf den Ausschluss von Beherbergungsbetrieben vor. Denn der Antragsgegnerin sei bewusst gewesen, dass die Antragstellerin auf dem ihr im Umlegungsverfahren zugewiesenen Grundstück den Betrieb eines Boardinghouses plane. Hierbei handele es sich um die einzig sinnvolle Grundstücksnutzung. Die Antragsgegnerin habe dieses besondere Interesse weder ausreichend ermittelt noch in die Abwägung einbezogen. Die aus der Abwägungstabelle zu entnehmende direkte, wortgleiche Wiedergabe der Stellungnahme aus der Begründung des Bebauungsplans genüge den Abwägungsanforderungen nicht. Ermittelt worden sei ferner nicht, inwiefern zur Vermeidung von Konfliktpotential in dem Gewerbegebiet Beherbergungsbetriebe als Nutzung ausgeschlossen werden müssten. Denn anders als die Antragsgegnerin meine, handele es sich bei einem Boardinghouse nicht um eine mit Wohnnutzung vergleichbare Nutzungsart. Es sei nicht erkennbar, weshalb die Zurverfügungstellung einer billigen, vorübergehenden Übernachtungsmöglichkeit mit der Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets nicht vereinbar sei, zumal in dem Gebiet auch Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke zulässig seien, die ebenfalls nicht zum produzierenden Gewerbe gehörten. Zu berücksichtigen sei zudem, dass etwaigen Lärmkonflikten im nachgelagerten Genehmigungsverfahren Rechnung getragen werden könne und sich schon aus der geringen Entfernung des Gewerbegebietes zu bestehender Wohnbebauung - im Nordwesten etwa 50 m, im Südwesten etwa 30 m - sowie aus dessen Lage in der Nähe des Friedhofs immissionsbedingte Nutzungseinschränkungen für anzusiedelndes Gewerbe ergäben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Im Übrigen liege ein „ganzheitlicher Abwägungsmangel“ darin, dass die Antragsgegnerin mit dem Unternehmen einen Ansiedlungsvertrag geschlossen und den Bebauungsplan an dessen Konzeption angepasst habe. Letzteres ergebe sich aus den Äußerungen im Rahmen der Gemeinderatssitzung vom 5. November 2018. Durch die vertragliche Bindung habe sich der Gemeinderat einseitig festgelegt und sei einer umfassenden Abwägung nicht mehr zugänglich gewesen. Dafür spreche auch der Umgang mit den Einwendungen der Antragstellerin, die schematisch unter Wiedergabe der Begründung des Bebauungsplans zurückgewiesen worden sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Schließlich sei auch der Ausschluss von Fremdwerbung in dem Gewerbegebiet abwägungsfehlerhaft. Denn das Vorliegen der nach § 1 Abs. 5, Abs. 9 BauGB genannten Gründe werde lediglich behauptet, nicht aber städtebaulich näher begründet. Insbesondere finde sich keine nähere Begründung dafür, worin der „hochwertige Charakter“ des Gewerbegebietes liegen und inwiefern ein Ausschluss von Fremdwerbung zu dessen Schutz erforderlich sein solle. Eine überbordende Werbelandschaft könne sich allein schon aus der weiterhin zulässigen Eigenwerbung ergeben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Antragstellerin beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="15"/>den Bebauungsplan „Gebersheimer Weg“ der Antragsgegnerin vom 11. Mai 2020 in der Fassung des Satzungsbeschlusses vom 8. März 2021 für unwirksam zu erklären.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die Antragsgegnerin beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="17"/>den Antrag abzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Sie trägt zur Begründung zusammengefasst vor: Der Planung fehle nicht die städtebauliche Erforderlichkeit. § 1 Abs. 3 BauGB schließe lediglich grobe und einigermaßen offensichtliche planerische Missgriffe aus. Ein solcher Fall liege hier nicht vor. Insbesondere handele es sich hier nicht um eine städtebaulich nicht erforderliche Gefälligkeitsplanung. Zwar habe die Antragsgegnerin den Ansiedlungswunsch eines Unternehmens zum Anlass genommen, den Bebauungsplan aufzustellen. Ob es zu dieser Ansiedlung komme, sei jedoch völlig offen, zumal der Ansiedlungsvertrag am 9. Juni 2020 ausgelaufen und nicht verlängert worden sei. Der planerische Wille sei vielmehr darauf gerichtet gewesen, den westlichen Teil des Gewerbegebietes für Unternehmen mit großem Flächenbedarf zu sichern. Eine ausschließliche Zuordnung dieser Fläche zum Unternehmen sei nicht Gegenstand des Bebauungsplanverfahrens gewesen. Die von der Antragstellerin angeführten Zweifel am Gewerbeflächenbedarf beruhten auf bloßen Behauptungen. Weder der Regionalverband noch die höhere Raumordnungsbehörde hätten in ihren Stellungnahmen Bedenken an diesem Bedarf angemeldet. Der Vorwurf, die Antragsgegnerin habe die Planalternativen nicht ausreichend ermittelt und bewertet, treffe nicht zu. Sowohl im Flächennutzungsplanverfahren als auch im Bebauungsplanverfahren seien alle in Betracht kommenden Alternativstandorte ermittelt und untersucht worden. Unter 2.5 der Planbegründung sei dies näher ausgeführt und beschrieben. Die Kritik der Antragstellerin, die Fläche „Heimsheimer Rain“ sei zu Unrecht als weniger geeignet eingestuft worden, sei unberechtigt. Schon die in der Abwägungstabelle enthaltene Stellungnahme widerlege diese Behauptung. Aus dem ergänzend vorgelegten Übersichtsplan samt Lichtbildern ergebe sich, dass die dortige Topographie gegen eine Gewerbeansiedlung spreche. Wegen dieser Topographie wäre ein Gewerbegebiet „Heimsheimer Rain“ auch keine natürliche Erweiterung der Gewerbegebiete „Am Autobahnanschluss Rutesheim“ und „Bonholz/Bonholz Süd“. Aufgrund der schmalen Nord-Süd-Ausdehnung der in Rede stehenden Fläche könnten dort größere Gewerbebetriebe nicht angesiedelt werden; auch würde das Gebiet „Heimsheimer Rain“ weit größere Lärmkonflikte mit der umgebenden Wohnbebauung hervorrufen als dies bei dem Bebauungsplan „Gerbersheimer Weg“ der Fall sei. Der Ausschluss von Beherbergungsbetrieben lasse ebenfalls keinen Abwägungsfehler erkennen. In der Abwägungstabelle sei – auf S. 23 und 24 – dargelegt, dass bei Beherbergungsbetrieben und insbesondere bei Boardinghouses die Gefahr bestehe, dass es vor allem nachts zu Konflikten mit der gewerblichen Nutzung komme. Um diese Konflikte auszuschließen, habe sich die Antragsgegnerin entschieden, alle Arten von Beherbergungsbetrieben, also auch solche, die unter der Bezeichnung „Boardinghouse“ betrieben würden, im Gewerbegebiet auszuschließen. Dieser Schutz sei ein legitimer Abwägungsaspekt und stelle sich bei den von der Antragstellerin herangezogenen zugelassenen Nutzungen nicht in gleicher Weise. Denn die dort genannten Anlagen für soziale und gesundheitliche Zwecke müssten gebietsverträglich sein, weshalb im Falle der Antragstellung eine Einzelfallprüfung durchgeführt werden müsse. Die Antragsgegnerin habe im Zeitpunkt der Planaufstellung nur Handlungsbedarf hinsichtlich der Beherbergungsbetriebe gesehen. Weitergehende Festsetzungen habe sie in diesem Fall nicht treffen müssen. Dieselben Überlegungen stritten dafür, dass die Antragsgegnerin auch berechtigt gewesen sei, in einem Gewerbegebiet aus städtebaulichen Gründen Fremdwerbung auszuschließen. Die bodenrechtliche Relevanz solcher Werbeanlagen ergebe sich gerade aus der gedachten Häufigkeit ihrer Existenz.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Rüge, die Planung leide an einem ganzheitlichen Abwägungsmangel, entbehre jeder Grundlage. Entgegen der Behauptung der Antragstellerin habe der Gemeinderat eine umfassende Abwägung vorgenommen. Der mit dem Unternehmen geschlossene und jedenfalls am 9. Juni 2020 ausgelaufene Ansiedlungsvertrag habe nicht die Verpflichtung der Antragsgegnerin enthalten, einen bestimmten Bebauungsplan aufzustellen. In der Abwägungstabelle und in der Begründung sei festgehalten, dass im Hinblick auf das Unternehmen, welches Anlass für die Bebauungsplanaufstellung gewesen sei, keinerlei Bindung bestehe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Schließlich liege ein Abwägungsmangel auch nicht darin, dass die Antragsgegnerin trotz der erhobenen Einwendungen an ihrem Planungsziel festgehalten habe, Beherbergungsbetriebe auszuschließen. Allein der Umstand, dass der Gemeinderat dem Wunsch der Antragstellerin nicht entsprochen habe, führe nicht zu einer Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Abwägung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Dem Senat liegen die einschlägigen Bebauungsplanakten (1 Leitz-Ordner) vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt dieser Akten sowie der Akten des Senats verwiesen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Der Normenkontrollantrag hat keinen Erfolg.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Verfahrensgegenstand ist lediglich der Bebauungsplan „Gebersheimer Weg“ der Antragsgegnerin. Gegen die am 11. Mai 2020 und am 8. März 2021 zugleich beschlossenen örtlichen Bauvorschriften für das Plangebiet, die in Baden-Württemberg mangels landesrechtlicher Ermächtigung zwar nicht als Festsetzungen (vgl. § 9 Abs. 4 BauGB) Teil des Bebauungsplans, wegen § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, § 4 AGVwGO aber als eigenständige, im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift in Form der Satzung in zulässiger Weise Verfahrensgegenstand sein können (Sauter, LBO § 74 Rn. 20), wendet sich die Antragstellerin ausweislich ihres Vortrages im Normenkontrollverfahren hingegen nicht. Dies hat sie mit ihrem in der mündlichen Verhandlung formulierten Antrag nochmals klargestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>A. Der Antrag ist zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>1. Er richtet sich gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO in statthafter Weise gegen eine Satzung, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen wurde. Der Normenkontrollantrag wurde auch innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der am 11. Mai 2020 beschlossenen Satzung - am 14. Mai 2020 im Mitteilungsblatt der Antragsgegnerin - am 2. Juli 2020 beim Verwaltungsgerichtshof erhoben. Die am 8. März 2021 rückwirkend zum 14. Mai 2020 neu beschlossene und am 25. März 2021 im Mitteilungsblatt der Antragsgegnerin bekanntgemachte Satzung wurde mit Schriftsatz der Antragstellerin vom 30. April 2021 rechtswirksam in das bereits eingeleitete Normenkontrollverfahren einbezogen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>2. Die Antragstellerin ist antragsbefugt nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Antragsbefugnis liegt vor, wenn ein Antragsteller geltend macht, durch die angegriffene Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Wie bei der Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO ist für die Antragsbefugnis erforderlich, aber auch ausreichend, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch Festsetzungen des Bebauungsplans in seinen Rechten verletzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.03.1998 - 4 CN 6.97 -, NVwZ 1998, 732; juris Rn. 12 und Beschluss vom 02.03.2015 - 4 BN 30.14 -, juris Rn. 2).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Ausgehend hiervon ist die Antragstellerin antragsbefugt. Denn nach ihrem unbestrittenen Vortrag besitzt sie mit den Grundstücken Flst.-Nr. ...... und Nr. ...xx jedenfalls zwei im Plangebiet liegende Grundstücke, mit deren konkreter planerischer Inanspruchnahme durch die Vorschriften des angegriffenen Bebauungsplans sie nicht einverstanden ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Anhaltspunkte dafür, dass der antragsbefugten Antragstellerin das notwendige Rechtsschutzinteresse für die Durchführung des Normenkontrollverfahrens fehlen könnte, sind nicht zu erkennen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>B. Der mithin zulässige Normenkontrollantrag gegen den Bebauungsplan ist nicht begründet. Prüfungsgegenstand ist der Bebauungsplan in der Gestalt, die er durch das ergänzende Verfahren gefunden hat. Denn die Antragstellerin hat auf die Durchführung des ergänzenden Verfahrens nicht mit einer verfahrensbeendenden Erklärung reagiert und damit signalisiert, dass ihr Abwehrwille nunmehr gegenüber der ergänzten und neu bekanntgemachten Satzung in der Fassung vom 8. März 2021 besteht (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 4.5.2017 - 5 S 2378/14 - juris Rn. 22). Diese Satzung ist nicht zu beanstanden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>I. Es liegen keine formell-rechtlichen Fehler vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>1. Eine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB) sowie über die Begründung des Flächennutzungsplans und der Satzung (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB) ist bislang nicht gerügt. Die durch die Bekanntmachung vom 25. März 2021 wirksam in Lauf gesetzte Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist inzwischen abgelaufen, sodass etwaige Fehler aus dem genannten Bereich jedenfalls unbeachtlich geworden sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>2. Anhaltspunkte dafür, dass die Satzung nicht ordnungsgemäß ausgefertigt und im Amtlichen Mitteilungsblatt am 25. März 2021 nicht rechtswirksam bekanntgemacht worden wäre, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>3. Es sind auch keine nach § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB beachtlich gebliebenen Ermittlungs- und Bewertungsfehler i.S.v. § 2 Abs. 3 BauGB zu erkennen. Zwar hat die Antragstellerin solche Fehler mit ihrem Vortrag im Normenkontrollverfahren innerhalb der Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB schriftlich gegenüber der Gemeinde unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts gerügt. Denn ihre zur Begründung des Normenkontrollantrags beim Verwaltungsgerichtshof eingegangenen Schriftsätze vom 30. Juni 2020, vom 30. April 2021 und vom 2. Juli 2021, welche entsprechende Rügen enthalten, wurden vom Senat jeweils fristgerecht mit Wissen und Wollen der Antragstellerin an die Antragsgegnerin übermittelt. Dies genügt für eine rechtzeitige Rüge (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.7.2019 - 5 S 2405/17 - juris Rn 25 m.w.N.). Die gerügten Ermittlungs- und Bewertungsfehler liegen aber in der Sache nicht vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>a) Nach § 2 Abs. 3 BauGB sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne die Belange, die für die Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB von Bedeutung sind (Abwägungsmaterial), zu ermitteln und zu bewerten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Das notwendige Abwägungsmaterial umfasst dabei solche Belange, die in der konkreten Planungssituation „nach Lage der Dinge“ in die Abwägung eingestellt werden müssen (vgl. BVerwG, Urteile vom 12.12.1969 - IV C 105.66 - BVerwGE 34, 301, juris Rn. 29, und vom 5.7.1974 - IV C 50.72 - BVerwGE 45, 309, juris Rn. 45). Ein bereits einen Verfahrensfehler im Sinne des § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB begründendes Ermittlungsdefizit liegt vor, wenn abwägungserhebliche Belange in wesentlichen Punkten nicht zutreffend ermittelt worden sind und der Gemeinderat deshalb seiner Abwägungsentscheidung einen falschen Sachverhalt zu Grunde gelegt hat. Denn eine sachgerechte Einschätzung des Gewichts der berührten Belange (als Bewertung im Sinne des § 2 Abs. 3 BauGB) setzt ein vollständiges und zutreffendes Bild von den voraussichtlichen Auswirkungen der Planung voraus (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 22.3.2018 - 5 S 1873/15 - juris Rn. 56; vom 3.9.2019 - 8 S 2056/17 - juris Rn. 68; BayVGH, Urteil vom 18.1.2017 - 15 N 14.2033 - juris Rn. 50). Ein ebenfalls bereits einen Verfahrensfehler im Sinne des § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB begründender Bewertungsfehler liegt vor, wenn die Bedeutung der berührten Belange verkannt wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 12.12.1969, a.a.O., juris Rn. 29, und vom 5.7.1974, a.a.O., juris Rn. 45; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.7.2011 - 5 S 2718/09 - juris Rn. 28 ff)</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Beachtlich ist ein Ermittlungs- oder Bewertungsfehler nur, wenn entgegen § 2 Abs. 3 BauGB die von der Planung berührten Belange, die der Gemeinde bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, in wesentlichen Punkten nicht zutreffend ermittelt oder bewertet worden sind und wenn der Mangel offensichtlich und auf das Ergebnis des Verfahrens von Einfluss gewesen ist (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>b) Bei Anwendung dieser Maßstäbe sind der Antragsgegnerin hier keine Ermittlungs- und Bewertungsfehler unterlaufen:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>aa) Die Verpflichtung der Gemeinde, die von ihrer Planung berührten öffentlichen und privaten Belange in einer Weise zum Ausgleich zu bringen, welche zu ihrer objektiven Gewichtigkeit in einem angemessenen Verhältnis steht, kann auch die Prüfung ernsthaft in Betracht kommender Standort- und Planungsalternativen erforderlich machen. Ein solche Verpflichtung kommt insbesondere in dem hier vorliegenden Fall einer Erweiterung des bisherigen Siedlungsbereichs durch Ausweisung eines Neubaugebiets in Betracht (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014 - 3 S 1227/12 - juris Rn. 82).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>(1) Die Antragsgegnerin hat die in Betracht kommenden Standortalternativen für ein Gewerbegebiet jedenfalls im Rahmen des durchgeführten ergänzenden Verfahrens ausreichend ermittelt. Ausweislich der Begründung zum Bebauungsplan i.V.m. der Anlage 1 zu dieser Begründung („Übersicht zur Alternativenprüfung“) hat die Antragsgegnerin insgesamt 9 Alternativen („Gewerbegebiet am Autobahnanschluss Rutesheim“, „Burgfeld“, „Friolzheimer Weg“, „Heimsheimer Rain“, „Bonholz und Bonholz Süd“, „Weiler Weg“, „...-Areal“, „Schertlenswald“ und „Schertlenswald Süd“) geprüft und näher in den Blick genommen. Es ist nicht zu erkennen, dass die hierzu angestellten Ermittlungen unvollständig oder in sonstiger Weise unzureichend wären. Auch die Antragstellerin behauptet dies nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>(2) Der Antragsgegnerin ist bei der Alternativenprüfung auch kein Bewertungsfehler unterlaufen. Hier ist die Besonderheit zu beachten, dass die nach § 1 Abs. 7 BauGB vorzunehmende Bewertung von Standortalternativen - im Sinne einer sachgerechten Einschätzung der berührten Belange - vollständig in das Planungsermessen der Gemeinde fällt. Dies führt dazu, dass eine Bewertung im Rahmen von § 1 Abs. 7 BauGB nur dann als rechtsfehlerhaft zu qualifizieren ist, wenn sich eine andere als die gewählte Lösung unter Berücksichtigung aller abwägungserheblichen Belange eindeutig als die bessere, weil öffentliche und private Belange insgesamt schonender Variante hätte aufdrängen müssen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014 - 3 S 1227/12 - juris Rn. 82; Urteil vom 22.5.2019 - 8 S 2431/17 - juris Rn. 84). Dann aber muss der Antragsgegnerin auch schon bei der im Rahmen des § 2 Abs. 3 BauGB vorzunehmenden „isolierten“ Bewertung einer ins Spiel gebrachten Standortalternative ein Bewertungsspielraum dahingehend eingeräumt werden, dass sie Flächen, die aus nachvollziehbaren städtebaulichen Gründen ungeeignet sind und aus ihrer Sicht als real mögliche Lösungen nicht ernsthaft in Betracht kommen (zu diesem Maßstab BVerwG, Beschluss vom 28.8.1987 - 4 N 1. 86 - juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014 - 3 S 1227/12 - juris Rn. 82), als untaugliche Alternative bewerten und damit von der weiteren Betrachtung ausschließen darf. Denn es ist gesetzlich nicht vorgegeben, in welchem Verfahrensstadium die Gemeinde in diesem Sinne ungeeignete Alternativflächen ausscheiden darf. Sie kann deshalb stufenweise vorgehen und diese Bewertung schon in einem frühen Verfahrensstadium vornehmen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014, a.a.O.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Nach diesem Maßstab ist die von der Antragsgegnerin konkret getroffene Bewertung von Alternativstandorten nicht zu beanstanden. Die Alternativen „Gewerbegebiet am Autobahnanschluss Rutesheim“, „Schertlenswald“ sowie „Bonholz und Bonholz Süd“ wurden verworfen, weil die dortigen Gewerbegebietsflächen im Wesentlichen bereits vollständig bebaut sind und somit - mit Ausnahme einer nur 0,13 ha großen Fläche im Gewerbegebiet am Autobahnanschluss - nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Antragstellerin ist dieser Einschätzung nicht entgegengetreten. Eine Erweiterung des bestehenden Gewerbegebiets „Schertlenswald“ nach Osten („Schertlenswald Ost“) wurde wegen Schwierigkeiten der Topographie und der Erschließung sowie wegen der übergeordneten Reglementierung in Form eines Grünzuges ausgeschieden. Dies ist ebenfalls nicht zu beanstanden, zumal die Antragstellerin nicht aufzeigt, weshalb diese Bewertung falsch sein sollte. Gleiches gilt für die Freiflächen in den Gewannen „Burgfeld“ und „Friolzheimer Weg“, die als regionaler Grünzug ausgewiesen sind und als ökologisch wertvoll eingeschätzt wurden. Die Alternative „Weiler Weg“ wurde in nachvollziehbarer Weise deshalb ausgeschlossen, weil südlich des vorhandenen Wohngebiets „Steige“ im Bereich „Weiler Weg“ sowie östlich des Gewerbegebiets „Am Autobahnanschluss Rutesheim“ - und damit auf den zu prüfenden Alternativflächen - im aktuellen Flächennutzungsplan Wohnbauflächen vorgesehen sind (Steige I mit 1,67 ha). Hinzu kommt die nachvollziehbare Erwägung, dass bei einer Gewerbenutzung der in Betracht kommenden Fläche Lärmschutzkonflikte mit der Wohnbebauung im vorhandenen Gebiet „Steige“ zu erwarten sind, zumal die Lärmschutzsituation dort schon wegen des Verkehrslärms der A 8 problematisch ist und durch die Gewerbegebietsausweisung weiter verschlechtert würde. Die Antragstellerin hat im Normenkontrollverfahren nichts Substantiiertes dazu vorgetragen, weshalb diese Erwägungen nicht tragfähig sein könnten und die Alternative „Weiler Weg“ nach dem oben dargestellten Maßstab doch ernsthaft hätte in Betracht gezogen werden müssen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Der Alternativstandort „...x-Areal“ liegt im innerörtlichen Bereich umgeben von Wohnbebauung und Gemeinschaftsflächen in Form von Schulen. Ihn hat die Antragsgegnerin mit der Erwägung ausgeschlossen, dass in dem zentralörtlich gelegenen, voll erschlossenen, verkehrlich gut angebundenen und bereits von Wohnnutzung umgebenen Areal zukünftig dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden solle, zumal dort eine gewerbliche Nutzung wegen des Lieferverkehrs und des Zu- und Abfahrtsverkehrs zu einem enormen Konfliktpotential in Bezug auf Lärm führen würde. Dies ist plausibel. Die Kritik der Antragstellerin, es sei befremdlich, dass ein bereits ausgewiesenes Gewerbegebiet nicht weiter als solches genutzt werden solle und nicht geprüft worden sei, ob dieses Gebiet den Gewerbeflächenbedarf nicht wenigstens teilweise decke, ist angesichts der von der Antragsgegnerin angestellten Überlegungen unberechtigt und lässt nicht erkennen, inwiefern sich das ...xx-Areal als vorzugswürdig hätte aufdrängen und als real mögliche Alternativlösung ernsthaft hätte in Betracht kommen müssen. Dies gilt in gleicher Weise für den verworfenen Standort „Heimsheimer Rain“, der nordöstlich des bereits ausgewiesenen Standorts „Gewerbegebiet am Autobahnanschluss Rutesheim“ südlich der Pforzheimer Straße liegt. Zwar wäre dort eine Ausweisung von weiteren Gewerbeflächen mit paralleler Änderung des Flächennutzungsplans möglich. Die Antragsgegnerin hat hierzu aber nachvollziehbar vorgetragen, dass aufgrund der Topographie - das Gebiet steigt von der Pforzheimer Straße aus nach Süden an - dort nicht die gewünschten großflächigen Gewerbestandorte ausgewiesen werden könnten und dass Konfliktpotential zu der angrenzenden Wohnbebauung in Verlängerung der Drescherstraße bestehe. Die Argumentation der Antragsgegnerin wird durch die von ihr vorgelegten Lichtbilder gestützt. Die mit der Planung verfolgte Zielsetzung, in einem künftigen Gewerbegebiet einerseits große, zusammenhängende Flächen, andererseits kleinstrukturierte Gewerbeflächen zu schaffen, könnte im „Heimsheimer Rain“ auch nach Auffassung des Senats aufgrund der nur relativ schmalen Freifläche entlang der Pforzheimer Straße nicht umgesetzt werden, zumal auf dieser Fläche nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Ersten Beigeordneten der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung noch eine Binnenerschließungsstraße gebaut werden müsste. Auch ist für den Senat offensichtlich, dass ein direkter Lärmkonflikt mit der unmittelbar benachbarten und (teilweise) oberhalb der Freifläche gelegenen Wohnnutzung bestünde. Zwar ist der Vortrag der Antragstellerin richtig, dass der gewählte Standort ebenfalls nicht frei von solchen Konflikten ist und dort zudem das Problem des Eingriffs in bestehende Streuobstwiesen bewältigt werden muss. Auch hat die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Gewerbefläche im „Heimsheimer Feld“ deutlich näher an der Autobahn liege. Dennoch aber drängt sich eine Ausweisung der Freifläche im Gewann „Heimsheimer Feld“ als Gewerbefläche im Vergleich zur ausgewiesenen Fläche am Gebersheimer Weg selbst bei Berücksichtigung dieser Argumente nicht als eindeutig vorzugswürdig auf, zumal auch der gewählte Standort über die Nordumfahrung gut an die Autobahn angeschlossen ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>bb) Ein Ermittlungs- und Bewertungsfehler liegt ferner nicht vor in Bezug auf den Gesichtspunkt des sparsamen Umgangs mit Grund und Boden. Insoweit verlangt § 1a Abs. 2 BauGB von der Gemeinde, zur Verringerung der zusätzlichen Inanspruchnahme von Flächen die Möglichkeit der Wiedernutzbarmachung von Flächen, der Nachverdichtung sowie andere Maßnahmen der Innenentwicklung zu nutzen sowie die Bodenversiegelung auf das notwendige Maß zu begrenzen. Insbesondere landwirtschaftliche Flächen sollen nur im notwendigen Umfang umgenutzt werden (§1a Abs. 2 Satz 3 BauGB). Eine vorgenommene Umwandlung soll begründet werden, dabei sollen Ermittlungen zu den Möglichkeiten der Innenentwicklung zugrunde gelegt werden, zu denen Brachflächen, Gebäudeleerstand, Baulücken und andere Nachverdichtungsmöglichkeiten zählen können (§ 1a Abs. 2 Satz 4 BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Diesen Anforderungen ist die Antragsgegnerin gerecht geworden. Da die Gemeinde mit der Ausweisung eines neuen Gewerbegebietes nicht nur der allgemein hohen Nachfrage nach Gewerbeflächen Rechnung tragen, sondern auch ein großflächiges, zusammenhängendes Gewerbegebiet zur Ansiedlung eines größeren Betriebes mit 400 bis 500 Arbeitsplätzen schaffen möchte, sind die Möglichkeiten, eine solche Planung innerörtlich auf vorhandenen Freiflächen oder Baulücken zu realisieren, von vornherein begrenzt. Nach Lage der Dinge - und übereinstimmend mit dem Vortrag der Antragstellerin - kommt als vorrangig zu prüfende Maßnahme der Innenverdichtung für ein solches Vorhaben allein das ...x-Areal in Betracht, zu dessen Eignung die Antragsgegnerin jedenfalls im ergänzenden Verfahren die notwendigen Ermittlungen vorgenommen und die erforderlichen Überlegungen angestellt hat (Planbegründung S. 5, Umweltbericht S. 4, Abwägungstabelle S. 23). Die Überlegung der Antragsgegnerin, auf diesem innerörtlich und in unmittelbarer Nähe von Schulen gelegenen Areal zukünftig dem ebenfalls dringenden Wohnraumbedarf im Gemeindegebiet Rechnung zu tragen und deshalb dort keine gewerbliche Nutzung mehr zuzulassen, ist auch im vorliegenden Zusammenhang nachvollziehbar und begründet keinen Bewertungsfehler. Denn die Bodenschutzklausel des § 1a Abs. 2 BauGB setzt der Gemeinde keine strikten unüberwindbaren Grenzen, sondern erlegt dieser lediglich auf, im Rahmen der Abwägung der mit § 1a Abs. 2 BauGB hervorgehobenen Bedeutung der Belange hinreichend Rechnung zu tragen (BVerwG, Beschluss vom 12.6.2008 - 4 BN 8.08 - juris Rn. 4; BayVGH, Urteil vom 13.12.2021 - 15 N 20.1649 - juris Rn. 61 ff). Dies ist geschehen. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Antragsgegnerin die Bodenschutzklausel des § 1a Abs. 2 BauGB nicht - und zwar auch nicht im Umweltbericht - explizit erwähnt hat. Denn in der Sache hat sie die gebotenen Überlegungen angestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Die Ansicht der Antragstellerin, bei weiterer gewerblicher Nutzung des ...xx-Areals hätte auf eine erweiterte Inanspruchnahme von landwirtschaftlichen Flächen des Außenbereichs verzichtet werden können, überzeugt nicht. Denn abgesehen davon, dass jedenfalls das angestrebte großflächige zusammenhängende Gewerbegebiet nur auf derzeit landwirtschaftlich genutzten Freiflächen umgesetzt werden könnte, wäre auch der von der Antragsgegnerin angenommene - und von der Antragstellerin nicht bestrittene - dringende Wohnraumbedarf dann, wenn das ...xx-Areal hierfür nicht zur Verfügung stünde, wohl nur unter Inanspruchnahme von Flächen „auf der grünen Wiese“ zu verwirklichen. Dafür spricht der Vortrag der Antragsgegnerin zur geplanten Wohnbebauung am Standort „Weiler Weg“, die ebenfalls im bisherigen Außenbereich umgesetzt werden müsste.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>cc) Der Antragsgegnerin ist in Bezug auf den Ausschluss von Beherbergungsbetrieben, insbesondere von Boardinghouses, in dem Plangebiet ebenfalls kein Ermittlungs- und Bewertungsfehler i.S.v. § 2 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB unterlaufen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>(1) Zunächst ist der Einwand der Antragstellerin unberechtigt, die Antragsgegnerin habe ihr besonderes Interesse daran, auf den überplanten Grundstücken bzw. auf dem ihr (nach Durchführung des Umlegungsverfahrens) im Plangebiet noch zuzuweisenden Grundstück „als einzig sinnvolle Nutzungsmöglichkeit“ ein Boardinghouse zu betreiben, nicht ausreichend ermittelt und bewertet. Denn die Antragstellerin verkennt mit diesem Vorbringen, dass sie im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Satzung (§ 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB) am 8. März 2021 Eigentümerin von (nur) landwirtschaftlich genutzten und grundsätzlich nicht bebaubaren Außenbereichsgrundstücken im Plangebiet war und ihre Eigentümerinteressen allenfalls mit diesem Gewicht im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen waren. So ist es geschehen. Ausweislich der Planbegründung (S. 6, Nr. 3.3) ist die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass die Flächen im Plangebiet, auch soweit sie noch in privater Hand seien, landwirtschaftlich genutzt würden. Demgegenüber bestand keine Veranlassung, zu ermitteln und gesondert zu bewerten, welche künftigen Nutzungsmöglichkeiten sich auf den Grundstücken des Plangebiets infolge des Satzungsbeschlusses und nach einer Umlegung für die einzelnen privaten Grundstückseigentümer ergeben. Daher ist es - entgegen dem Vortrag der Antragstellerin - auch nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin in der Abwägungstabelle (dort S. 23/24) auf das geltend gemachte Nutzungsinteresse, in dem Plangebiet zukünftig ein Boardinghouse betreiben zu wollen, nicht gesondert eingegangen ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>(2) Dem weiteren Einwand der Antragstellerin, die Antragsgegnerin habe die Notwendigkeit eines Ausschlusses von Beherbergungsbetrieben/Boardinghouses im Plangebiet nicht ausreichend ermittelt und jedenfalls fehlerhaft bewertet, ist ebenfalls nicht zu folgen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Hintergrund dieser Rüge ist, dass in dem Gewerbegebiet nach A.1 der planungsrechtlichen Festsetzungen zwar Beherbergungsbetriebe wie Hotels und Boardinghouses unzulässig sind, Anlagen für sportliche Zwecke aber allgemein zugelassen wurden und Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke zumindest ausnahmsweise zugelassen werden können. Die Antragstellerin vermisst Ermittlungen und Bewertungen dazu, weshalb der Ausschluss gerade von Beherbergungsbetrieben zur Vermeidung von Konfliktpotential notwendig ist, obwohl sich bei den zulässigen bzw. ausnahmsweise zulässigen Nutzungen eine vergleichbare Problemstellung ergebe. In der Sache rügt sie damit Ermittlungs- und Bewertungsfehler in Bezug auf die Lärmschutzbelange der künftigen Nutzer des Gewerbegebiets. Für den Senat bleibt unerfindlich, was die Antragsgegnerin hier noch weiter hätte ermitteln sollen. Aufgrund der Einwendungen der Antragstellerin war ihr bekannt, dass diese einen Beherbergungsbetrieb im Plangebiet betreiben möchte und deshalb Veranlassung bestand, sich über die Zulassung solcher Betriebe im dem Gewerbegebiet und deren Folgen Gedanken zu machen. Ausweislich der Planbegründung (S. 8) und der Abwägungstabelle (S. 23/24) ist dies geschehen. Dort findet sich jeweils folgende Erwägung:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="51"/>„Der Begriff des Boardinghouses ist planungsrechtlich nicht definiert. Unter diesem Begriff verbergen sich Betriebe des Beherbergungsgewerbes oder aber städtebauliches „Wohnen“. Als Wohnnutzung sind Boardinghouses in Gewerbegebieten ohnehin unzulässig. Die Grenzziehung zwischen wohnartigen Boardinghouses und beherbergungsrechtlichen Boardinghouses ist im Einzelfall schwierig. Auch Beherbergungsbetriebe sind jedoch schutzwürdige Nutzungen gegenüber Lärm. Deshalb werden Beherbergungsbetriebe insgesamt ausgeschlossen. Dadurch soll sichergestellt werden, das von solchen Betrieben keine Einschränkungen (vor allem nachts) der gewerblichen Nutzung ausgehen“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Diese Überlegungen lassen weder bei isolierter Betrachtung noch in Zusammenschau mit den sonstigen Erwägungen zur Zulässigkeit von Anlagen für sportliche Zwecke und zur ausnahmsweisen Zulässigkeit von Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke Bewertungsfehler erkennen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>(a) Bei einem Boardinghouse handelt es sich um eine bauplanungsrechtlich nicht geregelte Übergangsform zwischen Wohnnutzung und Beherbergungsbetrieb, deren konkrete Zuordnung von den Umständen des Einzelfalls, v.a. dem Nutzungskonzept des Bauherrn abhängt (VGH Bad.-Württ. Beschluss vom 17.1.2017 - 8 S 1641/16 - juris Rn. 16 f). Zu Recht ist die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass ein Boardinghouse, welches als Wohnnutzung einzustufen wäre (d.h., in welchem die Nutzer einen eigenständigen Haushalt führen ohne Inanspruchnahme von Dienstleistungen oder Gemeinschaftseinrichtungen), in dem Gewerbegebiet schon nach § 8 Abs. 1 BauNVO unzulässig ist und sich ein befürchteter Lärmkonflikt insoweit nicht stellt. Bei einem als Beherbergungsbetrieb einzustufenden Boardinghouse, welches als nicht erheblich belästigender Gewerbebetrieb in einem Gewerbegebiet ohne weiteres zulässig wäre, hätten die Nutzer zwar an sich die (höheren) Lärmimmissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 TA Lärm für Gewerbegebiete hinzunehmen. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch Nutzer von Beherbergungsbetrieben in Gewerbegebiet regelmäßig - v.a. in den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende - ein der Wohnnutzung nahekommendes Ruhebedürfnis haben können mit der Folge, dass Lärmkonflikte mit der umgebenden Gewerbenutzung entstehen und diese im Einzelfall ggf. zulasten benachbarter Gewerbebetriebe gelöst werden müssen. Es unterliegt keinen Bedenken, dass die Antragsgegnerin solchen Konflikten von vornherein aus dem Weg gehen wollte, indem sie planerisch von § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO Gebrauch gemacht und die Zulässigkeit von Beherbergungsbetrieben in dem Plangebiet generell ausgeschlossen hat. Umgekehrt ist es - anders als die Antragstellerin meint - in dieser Situation nicht bewertungsfehlerhaft, dass die Antragsgegnerin den alternativen Weg eines nachgelagerten Verwaltungsverfahrens, in welchem etwaige auftretende Lärmschutzkonflikte erst nach planerischer Zulassung von Boardinghouses im Wege ggf. nachträglicher Lärmschutzvorkehrungen gelöst werden, nicht weiterverfolgt hat. Das gilt umso mehr, als Nutzungskonflikte grundsätzlich im Planungsverfahren gelöst werden sollen und nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen die Lösung in ein nachgelagertes Verwaltungsverfahren verschoben werden darf.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>(b) Entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin sind die von der Antragsgegnerin in Zusammenhang mit dem Ausschluss getroffenen Bewertungen weder widersprüchlich noch inkonsistent. Denn auch - an sich im Gewerbegebiet nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO ausnahmsweise zulässige - Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen, Betriebsinhaber und Betriebsleiter wurden generell ausgeschlossen, weil bei diesen Nutzungen dieselbe Konfliktlage wie bei Beherbergungsbetrieben entstehen kann. Der Umstand, dass Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke (sowohl als gewerbliche Anlagen als auch als Gemeinschaftsanlagen) weiterhin ausnahmsweise zulässig sind und damit nicht für allgemein unzulässig erklärt wurden, widerspricht der mit dem Ausschluss von Beherbergungsbetrieben verfolgten Konzeption nicht. Denn während sich bei Beherbergungsbetrieben der Konflikt zwischen dem Ruhebedürfnis der Nutzer einerseits und dem ungeschmälerten Nutzungsinteresse der übrigen Gewerbebetriebe andererseits bereits im Bauleitverfahren konkret beschreiben und erfassen lässt mit der Folge, dass er schon im Planungsverfahren selbst bewältigt werden kann, ist dies bei den Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke nicht der Fall. Unter diesen Begriff fallen Nutzungen unterschiedlichster Art, vom ambulanten Pflegedienst über die Kindertagesstätte bis zur Tagespflegeeinrichtung, bei denen sich regelmäßig erst nach Vorliegen eines konkreten Nutzungskonzepts im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens verlässlich beurteilen lässt, ob und wenn ja, welche bewältigungsbedürftigen Konflikte mit der Nachbarschaft auftreten und ggf. gelöst werden müssen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>(c) Da die Erwägungen der Antragsgegnerin zum generellen Ausschluss von Beherbergungsbetrieben mithin nicht bewertungsfehlerhaft sind, unterliegt es auch keinen Bedenken, dass sich in der Abwägungstabelle (auf S. 23/24) dieselben Überlegungen finden wie bereits in der Begründung des Bebauungsplans und auf die Einwendung der Antragstellerin, es liege ein besonderes Eigentümerinteresse am Betrieb eines Boardinghouses im Plangebiet vor, nicht mehr gesondert eingegangen wurde. Entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin lässt diese Vorgehensweise auch nicht darauf schließen, dass der Gemeinderat der Antragsgegnerin am 8. März 2021 zur Frage des Ausschlusses von Boardinghouses keine eigene Bewertung mehr vorgenommen habe. Denn es blieb ihm unbenommen, sich im Rahmen der Abwägung den bereits vorliegenden Erwägungen im Entwurf der Bebauungsplanbegründung anzuschließen und sich diese vollständig und unverändert zu eigen zu machen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>(d) Des Weiteren führt auch die Rüge der Antragstellerin, im Rahmen der Abwägung habe die Antragsgegnerin zwar den Belangen des produzierenden Gewerbes Rechnung tragen wollen, dann aber auch nicht produzierendes Gewerbe zugelassen, nicht auf einen Ermittlungs- und Bewertungsfehler. Denn aus dem Textteil (unter A.1.1.) und der Begründung des Bebauungsplans (S. 7/8) ergibt sich, dass die Antragsgegnerin mit der Ausweisung des Gewerbegebiets nicht ausschließlich Flächen für produzierendes Gewerbe zur Verfügung stellen wollte. Vielmehr sollten auf den Gewerbeflächen des Plangebiets von vornherein auch Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke errichtet werden können, weil für solche Anlagen im Ortskernbereich keine Flächen mehr zur Verfügung stehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>dd) Der Antragstellerin ist schließlich in Bezug auf den Ausschluss von Fremdwerbung im Plangebiet kein als Ermittlungs- und Bewertungsfehler i.S.v. § 2 Abs. 3 BauGB zu prüfender Abwägungsmangel unterlaufen. Mit ihrem Vortrag, tatsächlich liege keine hinreichende städtebauliche Begründung für den Ausschluss von Fremdwerbung in dem Gewerbegebiet vor, macht die Antragstellerin in der Sache geltend, der Ausschluss sei wegen eines Festsetzungsfehlers (dazu sogleich unten B. II. 2) unwirksam. Im Übrigen zeigt die Antragstellerin mit ihrem Vortrag auch nicht auf, welchen abwägungsbeachtlichen Belang die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang nicht ermittelt, übersehen oder fehlbewertet hätte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>II. Der Bebauungsplan leidet nicht an einem beachtlichen materiellen Rechtsfehler.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>1. Er scheitert nicht am Erfordernis der Erforderlichkeit i.S.v. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB haben die Gemeinden Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Dies gilt für die Planung insgesamt und für jede ihrer Festsetzungen. Was im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB erforderlich ist, bestimmt sich maßgeblich nach der jeweiligen planerischen Konzeption. Welche städtebaulichen Ziele sich eine Gemeinde hierbei setzt, liegt grundsätzlich in ihrem planerischen Ermessen. Der Gesetzgeber ermächtigt sie, diejenige „Städtebaupolitik“ zu betreiben, die ihren städtebaulichen Ordnungsvorstellungen entspricht. Eine Planung ist dann gerechtfertigt, wenn sie nach dem städtebaulichen Konzept „vernünftigerweise“ geboten erscheint. Die Gemeinde besitzt insoweit ein sehr weites planerisches Ermessen. Nicht erforderlich sind daher nur solche Bebauungspläne, deren Verwirklichung auf unabsehbare Zeit rechtliche oder tatsächliche Hindernisse im Wege stehen und die daher die Aufgabe einer verbindlichen Bauleitplanung nicht erfüllen können oder die einer positiven Planungskonzeption entbehren und ersichtlich der Förderung von Zielen dienen, für deren Verwirklichung die Planungsinstrumente des Baugesetzbuchs nicht bestimmt sind. In dieser Auslegung setzt § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB der Bauleitplanung eine erste, wenn auch strikt bindende Schranke, die lediglich grobe und einigermaßen offensichtliche Missgriffe ausschließt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 10.9.2015 - 4 CN 8.14 - BVerwGE 153,16; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.7.2020 - 5 S 1493/17 - VBlBW 2021, 23).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Nach diesem Maßstab bestehen hier keine Bedenken gegen die städtebauliche Erforderlichkeit des Bebauungsplans i.S.v. § 1 Abs. 3 BauGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Entgegen dem Vortrag der Antragsteller handelt es nicht um eine reine Gefälligkeitsplanung im Interesse des Unternehmens, um diesem eine Ansiedlung in dem Gewerbegebiet zu ermöglichen. Eine Gemeinde wäre nach ständiger Rechtsprechung bei ihrer Planung grundsätzlich nicht gehindert, sogar ein Konzept zur Grundlage ihrer Planung zu machen, das von einem Privaten entwickelt worden ist; denn sie kann hinreichend gewichtige private Belange zum Anlass für die Aufstellung eines Bebauungsplans nehmen und sich dabei an den Wünschen eines Dritten - etwa eines Vorhabenträgers - orientieren, solange sie zugleich auch städtebauliche Belange und Zielsetzungen verfolgt. Nur wenn die Gemeinde mit ihrer Zielsetzung ausschließlich private Interessen verfolgen würde, setzte sie das ihr zur Verfügung gestellte Planungsinstrumentarium des Baugesetzbuchs in zweckwidriger Weise ein, was die Unzulässigkeit einer solchen Gefälligkeitsplanung zur Folge hätte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.3.2007 - 4 BN 9.07 - juris Rn. 6; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.10.2021 - 5 S 3125/20 – juris Rn. 75; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.1.2021 - 8 C 10362/20 - juris Rn. 69 m.w.N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Denn mit dem Bebauungsplan bezweckt die Antragsgegnerin die Ausweisung von unterschiedlichen Gewerbeflächen für unterschiedliche Branchen: Während im östlichen Teilgebiet GE 2 Flächen für kleinere Handwerksbetriebe und Gewerbeunternehmen zur Verfügung gestellt werden sollen, möchte die Antragsgegnerin auf der westlichen Teilfläche GE 1 eine große, zusammenhängende Gewerbefläche ausweisen, welche dort die Schaffung von 400 bis 500 neuen Arbeitsplätzen ermöglicht. Hierbei handelt es sich um jeweils zulässige städtebauliche Zielsetzungen. In Bezug auf das GE 2 besteht von vornherein kein greifbarer Anhaltspunkt dafür, dass die aufgezeigte städtebauliche Zielsetzung im Sinne einer Gefälligkeitsplanung nur vorgeschoben sein könnte. Aber auch in Bezug auf die Teilfläche GE 1 ist dies nicht der Fall. Zwar hatte das Unternehmen bereits vor Ergehen des Planaufstellungsbeschlusses einen konkreten Ansiedlungswunsch geäußert und wurde am 6. Juni 2017 ein Ansiedlungsvertrag zwischen der Antragsgegnerin und dem Unternehmen geschlossen. Aus der Begründung des Bebauungsplans (S.4) und dem - unwidersprochen gebliebenen - Vortrag der Antragsgegnerin im Normenkontrollverfahren ergibt sich aber, dass die Antragsgegnerin keine vertragliche Bindung eingegangen ist, die Gewerbefläche GE 1 in jedem Fall an das Unternehmen zu verkaufen und der Ansiedlungsvertrag am 9. Juni 2020 zudem ausgelaufen ist. Wesentlich erscheint aus Sicht des Senats, dass der planerische Wille der Antragsgegnerin, im GE 1 eine große, zusammenhängende Teilfläche zu schaffen, unabhängig von den Ansiedlungswünschen des Unternehmens bestand und besteht. Denn nach der Begründung des Bebauungsplans (S. 4) soll diese Fläche ggf. auch an einen anderen Gewerbebetrieb veräußert werden. Notfalls soll die Fläche auch an mehrere Betriebe veräußert werden, sofern das Ziel, etwa 500 neuen Arbeitsplätze zu schaffen, nur auf diesem Weg erreicht werden könnte (Abwägungstabelle S. 19).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Auch der Vortrag der Antragstellerin, aus in der Gemeinderatssitzung am 5. November 2018 getätigten Äußerungen ergebe sich, dass die Antragsgegnerin ihren Bebauungsplan an die Wünsche des Unternehmens angepasst habe, lässt nicht auf eine unzulässige Gefälligkeitsplanung schließen. Denn abgesehen davon, dass eine solche Anpassung für sich genommen nicht zu beanstanden ist (s.o.), liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Äußerungen vom November 2018 noch für die erst im Mai 2020 bzw. im März 2021 vorgenommene Abwägungsentscheidung des Gemeinderats relevant waren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>2. Der in der planungsrechtlichen Festsetzung A.1.1 vorgesehene Ausschluss von Fremdwerbung (Werbung, die nicht an der Stätte der Leistung stattfindet) in dem Plangebiet ist rechtlich nicht zu beanstanden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>a) Er findet seine Rechtsgrundlage in dem im Textteil des Bebauungsplans zitierten § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. § 1 Abs. 5 und Abs. 9 BauNVO. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB können im Bebauungsplan aus städtebaulichen Gründen Art und Maß der baulichen Nutzung festgesetzt werden. Nach § 1 Abs. 5 BauNVO kann im Bebauungsplan festgesetzt werden, dass bestimmte Arten von Nutzungen, die nach den §§ 2 bis 9 und 13 allgemein zulässig sind, nicht zulässig sind oder nur ausnahmsweise zugelassen werden können. Diese Vorschrift betrifft allerdings nur die in den Absätzen 2 der Baugebietsnormen aufgeführten zulässigen Arten von Nutzungen. Demgegenüber lässt § 1 Abs. 9 BauNVO unter den dort genannten Voraussetzungen weitere Feindifferenzierungen in Bezug auf einzelne Unterarten von Nutzungen zu, welche die BauNVO selbst nicht aufführt (BVerwG, Beschluss vom 5.6.2014 - 4 BN 8.14 - juris Rn. 10 m.w.N.). In der Rechtsprechung ist geklärt, dass Werbeanlagen für Fremdwerbung, wie sie in der planungsrechtlichen Festsetzung A.1.1 genannt werden, eine Unterart eines Gewerbebetriebes im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO darstellen und damit grundsätzlich von der Regelung des § 1 Abs. 9 BauNVO erfasst werden (BVerwG, Urteil vom 3.12.1992 - 4 C 27.91 - juris Rn. 49; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.1.2017 - 8 S 2081/16 - juris Rn. 8 und Urteil vom 16.4.2008 - 3 S 3005/06 - juris Rn. 26).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>b) Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 9 BauNVO sind gegeben. Die Vorschrift verlangt zwar das Vorliegen „besonderer städtebaulicher Gründe“, um den Ausschluss von Fremdwerbeanlagen zu rechtfertigen. Allerdings bedeutet das nicht, dass die auf § 1 Abs. 9 BauNVO gestützte Festsetzung damit von erschwerten Voraussetzungen abhängt. Das „Besondere“ liegt vielmehr darin, dass es sich um spezielle Gründe gerade für eine gegenüber § 1 Abs. 5 BauNVO noch feinere Ausdifferenzierung der zulässigen Nutzungen handeln muss (BVerwG, Beschluss vom 10.11.2014 - 4 BN 33.04 - Rn. 4).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Solche besonderen Gründe liegen hier vor. Denn die Antragsgegnerin möchte - wie sich aus S. 9 der Planbegründung ergibt - ein hochwertiges Gewerbegebiet ohne „überbordende Werbelandschaft“ schaffen. In der Abwägungstabelle ist hierzu auf S. 25 präzisierend ausgeführt:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="69"/>„Bei einer ungesteuerten Zulassung der Fremdwerbung kann sich die Fremdwerbung dominant als Hauptnutzung entwickeln. Es gibt keine städtebauliche Erforderlichkeit, um in einem Gewerbegebiet die Fremdwerbung zuzulassen. Sie dient nicht der Arbeitsplatzsicherung, schafft keine Arbeitsplätze, hat keinen Bezug zur im Gewerbegebiet erwünschten Ansiedlung produzierender oder arbeitender Gewerbe. Insoweit widerspricht die Zulassung von Fremdwerbung der städtebaulichen Zielsetzung in diesem Gewerbegebiet“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Es kann dahingestellt bleiben, ob das in der Planbegründung genannte Ziel, ein „hochwertiges Gewerbegebiet“ zu schaffen, hinreichend tragfähig ist. Denn jedenfalls stellt das von der Antragsgegnerin gleichermaßen verfolgte weitere Ziel, mit dem Ausschluss von Fremdwerbung zu verhindern, dass hierfür Flächen in Anspruch genommen werden, die für die Ansiedlung „produzierender oder arbeitender Gewerbe“ dann nicht mehr zur Verfügung stehen, einen besonderen städtebaulichen Grund im Sinne von § 1 Abs. 9 BauNVO dar. Diese Zielsetzung dient sowohl den Belangen der Wirtschaft i.S.v. § 1 Abs. 6 Nr. 8 a) BauGB als auch dem Belang der Schaffung von Arbeitsplätzen (§ 1 Abs. 6 Nr. 8 c) BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Es bestehen aus Sicht des Senats keine Zweifel, dass sie mit einem Ausschluss von Fremdwerbeanlagen auch tatsächlich erreicht werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin ist nicht zu verlangen, dass die aufgezeigten städtebaulichen Gründe den Ausschluss der Fremdwerbung gerade erfordern. Vielmehr reicht es aus, dass sie die Beschränkung rechtfertigen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 28.2.1992 - 5 S 2149/90 - juris Ls. 1). Da dies hier der Fall ist, hängt die Rechtmäßigkeit des planungsrechtlichen Ausschlusses vom Fremdwerbung - anders als die Antragstellerin wohl meint - nicht davon ab, dass mit den örtlichen Bauvorschriften B. 3 auch bauordnungsrechtliche Anforderungen an Werbeanlagen gestellt werden und möglicherweise bereits mit diesen Vorgaben die mit der Beschränkung von Werbung verfolgten Ziele erreicht werden könnten. Zudem ist offensichtlich, dass sich die örtlichen Bauvorschriften ausschließlich auf die planungsrechtlich zulässigen Werbeanlagen an der Stätte der Leistung beziehen und diese Werbeanlagen ebenfalls im Interesse der Beeinträchtigung des Umgebungsverkehrs und der Gebietsgestaltung (vgl. Begründung S. 13) beschränken.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>c) Die allgemeine Zweckbestimmung des Gewerbegebietes, die bei Anwendung des § 1 Abs. 9 i.V.m. Abs. 5 BauNVO gewahrt werden muss, wird durch den festgesetzten Ausschluss von Fremdwerbeanlagen nicht infrage gestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>d) Auch eine unverhältnismäßige Einschränkung der Eigentümerbefugnisse vermag der Senat nicht zu erkennen. Denn zum einen betrifft der Ausschluss von Fremdwerbung nur eine gewerbliche Hauptnutzung von vielen weiterhin möglichen gewerblichen Nutzungen. Zum anderen wird den Grundstückeigentümern nicht jegliche Werbemöglichkeit genommen. Werbung an der Stätte der Leistung bleibt vielmehr zulässig. Zum dritten bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass auf Fremdwerbung spezialisierte Unternehmen auf den im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin gelegenen Gewerbegebieten ihrem Geschäftsmodell nicht mehr nachgehen könnten, weil dort flächendeckend Fremdwerbung ausgeschlossen wäre.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>3. Der Bebauungsplan leidet schließlich auch nicht im Übrigen - also jenseits der Ermittlungs- und Bewertungspflicht nach § 2 Abs. 3 BauGB - an einem beachtlichen Verstoß gegen das Abwägungsgebot nach § 1 Abs. 7 BauGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>a) Die Vorschrift des § 1 Abs. 7 BauGB verlangt bei der Aufstellung eines Bebauungsplans die gerechte Abwägung der öffentlichen und privaten Belange gegen- und untereinander. Die gerichtliche Kontrolle dieser von der Gemeinde vorzunehmenden Abwägung hat sich jenseits der Ermittlungs- und Bewertungsfehler darauf zu beschränken, ob ein sonstiger Fehler im Abwägungsvorgang - insbesondere ein Abwägungsausfall - vorliegt und ob der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belangen in einer Weise vorgenommen worden ist, die zu ihrem objektiven Gewicht in einem angemessenen Verhältnis steht (keine Abwägungsdisproportionalität). Hat die Gemeinde diese Anforderungen an ihre Planungstätigkeit beachtet, wird das Abwägungsgebot nicht dadurch verletzt, dass sie bei der Abwägung der verschiedenen Belange dem einen den Vorzug einräumt und sich damit notwendigerweise für die Zurückstellung eines anderen entscheidet. Es ist vielmehr erst dann zu beanstanden, wenn eine fehlerfreie Nachholung der erforderlichen Abwägung schlechterdings nicht zum selben Ergebnis führen könnte, weil anderenfalls der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen würde, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Die Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit müssen also überschritten sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.9.2010 - 4 CN 2.10 - BVerwGE 138, 12). Dabei ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Bebauungsplan abzustellen (§ 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>b) Ausgehend hiervon liegt kein Abwägungsvorgangsfehler vor. Die Antragstellerin sieht einen solchen darin, dass sich die Antragsgegnerin bei der Abwägung maßgeblich und in fehlerhafter Weise von dem mit dem Unternehmen geschlossenen Ansiedlungsvertrag habe leiten lassen mit der Konsequenz, dass sie sich den Blick auf die Bedeutung der gegenläufigen privaten und öffentlichen Belange von vornherein verstellt und diese nicht mehr mit dem ihnen zukommenden Gewicht bei der Abwägung berücksichtigt habe. Dem vermag der Senat indessen nicht zu folgen. Auf die diesbezüglichen Ausführungen unter B.II.1 wird verwiesen. Dort wurde bereits in Zusammenhang mit dem Vorwurf der Gefälligkeitsplanung dargelegt, dass und weshalb sich die Antragsgegnerin nicht in zu beanstandender Art und Weise von dem Ansiedlungswunsch hat leiten lassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>c) Schließlich liegt auch kein Abwägungsergebnisfehler vor. Es ist nicht zu erkennen, dass die Antragsgegnerin selbst bei fehlerfreier Durchführung der Abwägung nicht zu dem hier gefundenen Ergebnis hätte gelangen dürfen, weil der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wurde, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (BVerwG, Urteil vom 22.9.2010 - 4 CN 2.10 - juris Rn. 22), m.a.W. die Abwägung schlechterdings nicht zu diesem Planungsergebnis hätte führen dürfen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>D. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/><strong>Beschluss</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>vom 21. Juli 2022</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Der Streitwert für das Verfahren wird gemäß § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nr. 9.8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit endgültig auf 20.000 Euro festgesetzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Der Normenkontrollantrag hat keinen Erfolg.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Verfahrensgegenstand ist lediglich der Bebauungsplan „Gebersheimer Weg“ der Antragsgegnerin. Gegen die am 11. Mai 2020 und am 8. März 2021 zugleich beschlossenen örtlichen Bauvorschriften für das Plangebiet, die in Baden-Württemberg mangels landesrechtlicher Ermächtigung zwar nicht als Festsetzungen (vgl. § 9 Abs. 4 BauGB) Teil des Bebauungsplans, wegen § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, § 4 AGVwGO aber als eigenständige, im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift in Form der Satzung in zulässiger Weise Verfahrensgegenstand sein können (Sauter, LBO § 74 Rn. 20), wendet sich die Antragstellerin ausweislich ihres Vortrages im Normenkontrollverfahren hingegen nicht. Dies hat sie mit ihrem in der mündlichen Verhandlung formulierten Antrag nochmals klargestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>A. Der Antrag ist zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>1. Er richtet sich gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO in statthafter Weise gegen eine Satzung, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen wurde. Der Normenkontrollantrag wurde auch innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der am 11. Mai 2020 beschlossenen Satzung - am 14. Mai 2020 im Mitteilungsblatt der Antragsgegnerin - am 2. Juli 2020 beim Verwaltungsgerichtshof erhoben. Die am 8. März 2021 rückwirkend zum 14. Mai 2020 neu beschlossene und am 25. März 2021 im Mitteilungsblatt der Antragsgegnerin bekanntgemachte Satzung wurde mit Schriftsatz der Antragstellerin vom 30. April 2021 rechtswirksam in das bereits eingeleitete Normenkontrollverfahren einbezogen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>2. Die Antragstellerin ist antragsbefugt nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Antragsbefugnis liegt vor, wenn ein Antragsteller geltend macht, durch die angegriffene Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Wie bei der Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO ist für die Antragsbefugnis erforderlich, aber auch ausreichend, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch Festsetzungen des Bebauungsplans in seinen Rechten verletzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.03.1998 - 4 CN 6.97 -, NVwZ 1998, 732; juris Rn. 12 und Beschluss vom 02.03.2015 - 4 BN 30.14 -, juris Rn. 2).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Ausgehend hiervon ist die Antragstellerin antragsbefugt. Denn nach ihrem unbestrittenen Vortrag besitzt sie mit den Grundstücken Flst.-Nr. ...... und Nr. ...xx jedenfalls zwei im Plangebiet liegende Grundstücke, mit deren konkreter planerischer Inanspruchnahme durch die Vorschriften des angegriffenen Bebauungsplans sie nicht einverstanden ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Anhaltspunkte dafür, dass der antragsbefugten Antragstellerin das notwendige Rechtsschutzinteresse für die Durchführung des Normenkontrollverfahrens fehlen könnte, sind nicht zu erkennen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>B. Der mithin zulässige Normenkontrollantrag gegen den Bebauungsplan ist nicht begründet. Prüfungsgegenstand ist der Bebauungsplan in der Gestalt, die er durch das ergänzende Verfahren gefunden hat. Denn die Antragstellerin hat auf die Durchführung des ergänzenden Verfahrens nicht mit einer verfahrensbeendenden Erklärung reagiert und damit signalisiert, dass ihr Abwehrwille nunmehr gegenüber der ergänzten und neu bekanntgemachten Satzung in der Fassung vom 8. März 2021 besteht (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 4.5.2017 - 5 S 2378/14 - juris Rn. 22). Diese Satzung ist nicht zu beanstanden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>I. Es liegen keine formell-rechtlichen Fehler vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>1. Eine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB) sowie über die Begründung des Flächennutzungsplans und der Satzung (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB) ist bislang nicht gerügt. Die durch die Bekanntmachung vom 25. März 2021 wirksam in Lauf gesetzte Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist inzwischen abgelaufen, sodass etwaige Fehler aus dem genannten Bereich jedenfalls unbeachtlich geworden sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>2. Anhaltspunkte dafür, dass die Satzung nicht ordnungsgemäß ausgefertigt und im Amtlichen Mitteilungsblatt am 25. März 2021 nicht rechtswirksam bekanntgemacht worden wäre, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>3. Es sind auch keine nach § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB beachtlich gebliebenen Ermittlungs- und Bewertungsfehler i.S.v. § 2 Abs. 3 BauGB zu erkennen. Zwar hat die Antragstellerin solche Fehler mit ihrem Vortrag im Normenkontrollverfahren innerhalb der Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB schriftlich gegenüber der Gemeinde unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts gerügt. Denn ihre zur Begründung des Normenkontrollantrags beim Verwaltungsgerichtshof eingegangenen Schriftsätze vom 30. Juni 2020, vom 30. April 2021 und vom 2. Juli 2021, welche entsprechende Rügen enthalten, wurden vom Senat jeweils fristgerecht mit Wissen und Wollen der Antragstellerin an die Antragsgegnerin übermittelt. Dies genügt für eine rechtzeitige Rüge (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.7.2019 - 5 S 2405/17 - juris Rn 25 m.w.N.). Die gerügten Ermittlungs- und Bewertungsfehler liegen aber in der Sache nicht vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>a) Nach § 2 Abs. 3 BauGB sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne die Belange, die für die Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB von Bedeutung sind (Abwägungsmaterial), zu ermitteln und zu bewerten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Das notwendige Abwägungsmaterial umfasst dabei solche Belange, die in der konkreten Planungssituation „nach Lage der Dinge“ in die Abwägung eingestellt werden müssen (vgl. BVerwG, Urteile vom 12.12.1969 - IV C 105.66 - BVerwGE 34, 301, juris Rn. 29, und vom 5.7.1974 - IV C 50.72 - BVerwGE 45, 309, juris Rn. 45). Ein bereits einen Verfahrensfehler im Sinne des § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB begründendes Ermittlungsdefizit liegt vor, wenn abwägungserhebliche Belange in wesentlichen Punkten nicht zutreffend ermittelt worden sind und der Gemeinderat deshalb seiner Abwägungsentscheidung einen falschen Sachverhalt zu Grunde gelegt hat. Denn eine sachgerechte Einschätzung des Gewichts der berührten Belange (als Bewertung im Sinne des § 2 Abs. 3 BauGB) setzt ein vollständiges und zutreffendes Bild von den voraussichtlichen Auswirkungen der Planung voraus (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 22.3.2018 - 5 S 1873/15 - juris Rn. 56; vom 3.9.2019 - 8 S 2056/17 - juris Rn. 68; BayVGH, Urteil vom 18.1.2017 - 15 N 14.2033 - juris Rn. 50). Ein ebenfalls bereits einen Verfahrensfehler im Sinne des § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB begründender Bewertungsfehler liegt vor, wenn die Bedeutung der berührten Belange verkannt wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 12.12.1969, a.a.O., juris Rn. 29, und vom 5.7.1974, a.a.O., juris Rn. 45; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.7.2011 - 5 S 2718/09 - juris Rn. 28 ff)</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Beachtlich ist ein Ermittlungs- oder Bewertungsfehler nur, wenn entgegen § 2 Abs. 3 BauGB die von der Planung berührten Belange, die der Gemeinde bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, in wesentlichen Punkten nicht zutreffend ermittelt oder bewertet worden sind und wenn der Mangel offensichtlich und auf das Ergebnis des Verfahrens von Einfluss gewesen ist (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>b) Bei Anwendung dieser Maßstäbe sind der Antragsgegnerin hier keine Ermittlungs- und Bewertungsfehler unterlaufen:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>aa) Die Verpflichtung der Gemeinde, die von ihrer Planung berührten öffentlichen und privaten Belange in einer Weise zum Ausgleich zu bringen, welche zu ihrer objektiven Gewichtigkeit in einem angemessenen Verhältnis steht, kann auch die Prüfung ernsthaft in Betracht kommender Standort- und Planungsalternativen erforderlich machen. Ein solche Verpflichtung kommt insbesondere in dem hier vorliegenden Fall einer Erweiterung des bisherigen Siedlungsbereichs durch Ausweisung eines Neubaugebiets in Betracht (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014 - 3 S 1227/12 - juris Rn. 82).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>(1) Die Antragsgegnerin hat die in Betracht kommenden Standortalternativen für ein Gewerbegebiet jedenfalls im Rahmen des durchgeführten ergänzenden Verfahrens ausreichend ermittelt. Ausweislich der Begründung zum Bebauungsplan i.V.m. der Anlage 1 zu dieser Begründung („Übersicht zur Alternativenprüfung“) hat die Antragsgegnerin insgesamt 9 Alternativen („Gewerbegebiet am Autobahnanschluss Rutesheim“, „Burgfeld“, „Friolzheimer Weg“, „Heimsheimer Rain“, „Bonholz und Bonholz Süd“, „Weiler Weg“, „...-Areal“, „Schertlenswald“ und „Schertlenswald Süd“) geprüft und näher in den Blick genommen. Es ist nicht zu erkennen, dass die hierzu angestellten Ermittlungen unvollständig oder in sonstiger Weise unzureichend wären. Auch die Antragstellerin behauptet dies nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>(2) Der Antragsgegnerin ist bei der Alternativenprüfung auch kein Bewertungsfehler unterlaufen. Hier ist die Besonderheit zu beachten, dass die nach § 1 Abs. 7 BauGB vorzunehmende Bewertung von Standortalternativen - im Sinne einer sachgerechten Einschätzung der berührten Belange - vollständig in das Planungsermessen der Gemeinde fällt. Dies führt dazu, dass eine Bewertung im Rahmen von § 1 Abs. 7 BauGB nur dann als rechtsfehlerhaft zu qualifizieren ist, wenn sich eine andere als die gewählte Lösung unter Berücksichtigung aller abwägungserheblichen Belange eindeutig als die bessere, weil öffentliche und private Belange insgesamt schonender Variante hätte aufdrängen müssen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014 - 3 S 1227/12 - juris Rn. 82; Urteil vom 22.5.2019 - 8 S 2431/17 - juris Rn. 84). Dann aber muss der Antragsgegnerin auch schon bei der im Rahmen des § 2 Abs. 3 BauGB vorzunehmenden „isolierten“ Bewertung einer ins Spiel gebrachten Standortalternative ein Bewertungsspielraum dahingehend eingeräumt werden, dass sie Flächen, die aus nachvollziehbaren städtebaulichen Gründen ungeeignet sind und aus ihrer Sicht als real mögliche Lösungen nicht ernsthaft in Betracht kommen (zu diesem Maßstab BVerwG, Beschluss vom 28.8.1987 - 4 N 1. 86 - juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014 - 3 S 1227/12 - juris Rn. 82), als untaugliche Alternative bewerten und damit von der weiteren Betrachtung ausschließen darf. Denn es ist gesetzlich nicht vorgegeben, in welchem Verfahrensstadium die Gemeinde in diesem Sinne ungeeignete Alternativflächen ausscheiden darf. Sie kann deshalb stufenweise vorgehen und diese Bewertung schon in einem frühen Verfahrensstadium vornehmen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.12.2014, a.a.O.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Nach diesem Maßstab ist die von der Antragsgegnerin konkret getroffene Bewertung von Alternativstandorten nicht zu beanstanden. Die Alternativen „Gewerbegebiet am Autobahnanschluss Rutesheim“, „Schertlenswald“ sowie „Bonholz und Bonholz Süd“ wurden verworfen, weil die dortigen Gewerbegebietsflächen im Wesentlichen bereits vollständig bebaut sind und somit - mit Ausnahme einer nur 0,13 ha großen Fläche im Gewerbegebiet am Autobahnanschluss - nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Antragstellerin ist dieser Einschätzung nicht entgegengetreten. Eine Erweiterung des bestehenden Gewerbegebiets „Schertlenswald“ nach Osten („Schertlenswald Ost“) wurde wegen Schwierigkeiten der Topographie und der Erschließung sowie wegen der übergeordneten Reglementierung in Form eines Grünzuges ausgeschieden. Dies ist ebenfalls nicht zu beanstanden, zumal die Antragstellerin nicht aufzeigt, weshalb diese Bewertung falsch sein sollte. Gleiches gilt für die Freiflächen in den Gewannen „Burgfeld“ und „Friolzheimer Weg“, die als regionaler Grünzug ausgewiesen sind und als ökologisch wertvoll eingeschätzt wurden. Die Alternative „Weiler Weg“ wurde in nachvollziehbarer Weise deshalb ausgeschlossen, weil südlich des vorhandenen Wohngebiets „Steige“ im Bereich „Weiler Weg“ sowie östlich des Gewerbegebiets „Am Autobahnanschluss Rutesheim“ - und damit auf den zu prüfenden Alternativflächen - im aktuellen Flächennutzungsplan Wohnbauflächen vorgesehen sind (Steige I mit 1,67 ha). Hinzu kommt die nachvollziehbare Erwägung, dass bei einer Gewerbenutzung der in Betracht kommenden Fläche Lärmschutzkonflikte mit der Wohnbebauung im vorhandenen Gebiet „Steige“ zu erwarten sind, zumal die Lärmschutzsituation dort schon wegen des Verkehrslärms der A 8 problematisch ist und durch die Gewerbegebietsausweisung weiter verschlechtert würde. Die Antragstellerin hat im Normenkontrollverfahren nichts Substantiiertes dazu vorgetragen, weshalb diese Erwägungen nicht tragfähig sein könnten und die Alternative „Weiler Weg“ nach dem oben dargestellten Maßstab doch ernsthaft hätte in Betracht gezogen werden müssen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Der Alternativstandort „...x-Areal“ liegt im innerörtlichen Bereich umgeben von Wohnbebauung und Gemeinschaftsflächen in Form von Schulen. Ihn hat die Antragsgegnerin mit der Erwägung ausgeschlossen, dass in dem zentralörtlich gelegenen, voll erschlossenen, verkehrlich gut angebundenen und bereits von Wohnnutzung umgebenen Areal zukünftig dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden solle, zumal dort eine gewerbliche Nutzung wegen des Lieferverkehrs und des Zu- und Abfahrtsverkehrs zu einem enormen Konfliktpotential in Bezug auf Lärm führen würde. Dies ist plausibel. Die Kritik der Antragstellerin, es sei befremdlich, dass ein bereits ausgewiesenes Gewerbegebiet nicht weiter als solches genutzt werden solle und nicht geprüft worden sei, ob dieses Gebiet den Gewerbeflächenbedarf nicht wenigstens teilweise decke, ist angesichts der von der Antragsgegnerin angestellten Überlegungen unberechtigt und lässt nicht erkennen, inwiefern sich das ...xx-Areal als vorzugswürdig hätte aufdrängen und als real mögliche Alternativlösung ernsthaft hätte in Betracht kommen müssen. Dies gilt in gleicher Weise für den verworfenen Standort „Heimsheimer Rain“, der nordöstlich des bereits ausgewiesenen Standorts „Gewerbegebiet am Autobahnanschluss Rutesheim“ südlich der Pforzheimer Straße liegt. Zwar wäre dort eine Ausweisung von weiteren Gewerbeflächen mit paralleler Änderung des Flächennutzungsplans möglich. Die Antragsgegnerin hat hierzu aber nachvollziehbar vorgetragen, dass aufgrund der Topographie - das Gebiet steigt von der Pforzheimer Straße aus nach Süden an - dort nicht die gewünschten großflächigen Gewerbestandorte ausgewiesen werden könnten und dass Konfliktpotential zu der angrenzenden Wohnbebauung in Verlängerung der Drescherstraße bestehe. Die Argumentation der Antragsgegnerin wird durch die von ihr vorgelegten Lichtbilder gestützt. Die mit der Planung verfolgte Zielsetzung, in einem künftigen Gewerbegebiet einerseits große, zusammenhängende Flächen, andererseits kleinstrukturierte Gewerbeflächen zu schaffen, könnte im „Heimsheimer Rain“ auch nach Auffassung des Senats aufgrund der nur relativ schmalen Freifläche entlang der Pforzheimer Straße nicht umgesetzt werden, zumal auf dieser Fläche nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Ersten Beigeordneten der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung noch eine Binnenerschließungsstraße gebaut werden müsste. Auch ist für den Senat offensichtlich, dass ein direkter Lärmkonflikt mit der unmittelbar benachbarten und (teilweise) oberhalb der Freifläche gelegenen Wohnnutzung bestünde. Zwar ist der Vortrag der Antragstellerin richtig, dass der gewählte Standort ebenfalls nicht frei von solchen Konflikten ist und dort zudem das Problem des Eingriffs in bestehende Streuobstwiesen bewältigt werden muss. Auch hat die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Gewerbefläche im „Heimsheimer Feld“ deutlich näher an der Autobahn liege. Dennoch aber drängt sich eine Ausweisung der Freifläche im Gewann „Heimsheimer Feld“ als Gewerbefläche im Vergleich zur ausgewiesenen Fläche am Gebersheimer Weg selbst bei Berücksichtigung dieser Argumente nicht als eindeutig vorzugswürdig auf, zumal auch der gewählte Standort über die Nordumfahrung gut an die Autobahn angeschlossen ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>bb) Ein Ermittlungs- und Bewertungsfehler liegt ferner nicht vor in Bezug auf den Gesichtspunkt des sparsamen Umgangs mit Grund und Boden. Insoweit verlangt § 1a Abs. 2 BauGB von der Gemeinde, zur Verringerung der zusätzlichen Inanspruchnahme von Flächen die Möglichkeit der Wiedernutzbarmachung von Flächen, der Nachverdichtung sowie andere Maßnahmen der Innenentwicklung zu nutzen sowie die Bodenversiegelung auf das notwendige Maß zu begrenzen. Insbesondere landwirtschaftliche Flächen sollen nur im notwendigen Umfang umgenutzt werden (§1a Abs. 2 Satz 3 BauGB). Eine vorgenommene Umwandlung soll begründet werden, dabei sollen Ermittlungen zu den Möglichkeiten der Innenentwicklung zugrunde gelegt werden, zu denen Brachflächen, Gebäudeleerstand, Baulücken und andere Nachverdichtungsmöglichkeiten zählen können (§ 1a Abs. 2 Satz 4 BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Diesen Anforderungen ist die Antragsgegnerin gerecht geworden. Da die Gemeinde mit der Ausweisung eines neuen Gewerbegebietes nicht nur der allgemein hohen Nachfrage nach Gewerbeflächen Rechnung tragen, sondern auch ein großflächiges, zusammenhängendes Gewerbegebiet zur Ansiedlung eines größeren Betriebes mit 400 bis 500 Arbeitsplätzen schaffen möchte, sind die Möglichkeiten, eine solche Planung innerörtlich auf vorhandenen Freiflächen oder Baulücken zu realisieren, von vornherein begrenzt. Nach Lage der Dinge - und übereinstimmend mit dem Vortrag der Antragstellerin - kommt als vorrangig zu prüfende Maßnahme der Innenverdichtung für ein solches Vorhaben allein das ...x-Areal in Betracht, zu dessen Eignung die Antragsgegnerin jedenfalls im ergänzenden Verfahren die notwendigen Ermittlungen vorgenommen und die erforderlichen Überlegungen angestellt hat (Planbegründung S. 5, Umweltbericht S. 4, Abwägungstabelle S. 23). Die Überlegung der Antragsgegnerin, auf diesem innerörtlich und in unmittelbarer Nähe von Schulen gelegenen Areal zukünftig dem ebenfalls dringenden Wohnraumbedarf im Gemeindegebiet Rechnung zu tragen und deshalb dort keine gewerbliche Nutzung mehr zuzulassen, ist auch im vorliegenden Zusammenhang nachvollziehbar und begründet keinen Bewertungsfehler. Denn die Bodenschutzklausel des § 1a Abs. 2 BauGB setzt der Gemeinde keine strikten unüberwindbaren Grenzen, sondern erlegt dieser lediglich auf, im Rahmen der Abwägung der mit § 1a Abs. 2 BauGB hervorgehobenen Bedeutung der Belange hinreichend Rechnung zu tragen (BVerwG, Beschluss vom 12.6.2008 - 4 BN 8.08 - juris Rn. 4; BayVGH, Urteil vom 13.12.2021 - 15 N 20.1649 - juris Rn. 61 ff). Dies ist geschehen. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Antragsgegnerin die Bodenschutzklausel des § 1a Abs. 2 BauGB nicht - und zwar auch nicht im Umweltbericht - explizit erwähnt hat. Denn in der Sache hat sie die gebotenen Überlegungen angestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Die Ansicht der Antragstellerin, bei weiterer gewerblicher Nutzung des ...xx-Areals hätte auf eine erweiterte Inanspruchnahme von landwirtschaftlichen Flächen des Außenbereichs verzichtet werden können, überzeugt nicht. Denn abgesehen davon, dass jedenfalls das angestrebte großflächige zusammenhängende Gewerbegebiet nur auf derzeit landwirtschaftlich genutzten Freiflächen umgesetzt werden könnte, wäre auch der von der Antragsgegnerin angenommene - und von der Antragstellerin nicht bestrittene - dringende Wohnraumbedarf dann, wenn das ...xx-Areal hierfür nicht zur Verfügung stünde, wohl nur unter Inanspruchnahme von Flächen „auf der grünen Wiese“ zu verwirklichen. Dafür spricht der Vortrag der Antragsgegnerin zur geplanten Wohnbebauung am Standort „Weiler Weg“, die ebenfalls im bisherigen Außenbereich umgesetzt werden müsste.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>cc) Der Antragsgegnerin ist in Bezug auf den Ausschluss von Beherbergungsbetrieben, insbesondere von Boardinghouses, in dem Plangebiet ebenfalls kein Ermittlungs- und Bewertungsfehler i.S.v. § 2 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB unterlaufen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>(1) Zunächst ist der Einwand der Antragstellerin unberechtigt, die Antragsgegnerin habe ihr besonderes Interesse daran, auf den überplanten Grundstücken bzw. auf dem ihr (nach Durchführung des Umlegungsverfahrens) im Plangebiet noch zuzuweisenden Grundstück „als einzig sinnvolle Nutzungsmöglichkeit“ ein Boardinghouse zu betreiben, nicht ausreichend ermittelt und bewertet. Denn die Antragstellerin verkennt mit diesem Vorbringen, dass sie im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Satzung (§ 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB) am 8. März 2021 Eigentümerin von (nur) landwirtschaftlich genutzten und grundsätzlich nicht bebaubaren Außenbereichsgrundstücken im Plangebiet war und ihre Eigentümerinteressen allenfalls mit diesem Gewicht im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen waren. So ist es geschehen. Ausweislich der Planbegründung (S. 6, Nr. 3.3) ist die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass die Flächen im Plangebiet, auch soweit sie noch in privater Hand seien, landwirtschaftlich genutzt würden. Demgegenüber bestand keine Veranlassung, zu ermitteln und gesondert zu bewerten, welche künftigen Nutzungsmöglichkeiten sich auf den Grundstücken des Plangebiets infolge des Satzungsbeschlusses und nach einer Umlegung für die einzelnen privaten Grundstückseigentümer ergeben. Daher ist es - entgegen dem Vortrag der Antragstellerin - auch nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin in der Abwägungstabelle (dort S. 23/24) auf das geltend gemachte Nutzungsinteresse, in dem Plangebiet zukünftig ein Boardinghouse betreiben zu wollen, nicht gesondert eingegangen ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>(2) Dem weiteren Einwand der Antragstellerin, die Antragsgegnerin habe die Notwendigkeit eines Ausschlusses von Beherbergungsbetrieben/Boardinghouses im Plangebiet nicht ausreichend ermittelt und jedenfalls fehlerhaft bewertet, ist ebenfalls nicht zu folgen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Hintergrund dieser Rüge ist, dass in dem Gewerbegebiet nach A.1 der planungsrechtlichen Festsetzungen zwar Beherbergungsbetriebe wie Hotels und Boardinghouses unzulässig sind, Anlagen für sportliche Zwecke aber allgemein zugelassen wurden und Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke zumindest ausnahmsweise zugelassen werden können. Die Antragstellerin vermisst Ermittlungen und Bewertungen dazu, weshalb der Ausschluss gerade von Beherbergungsbetrieben zur Vermeidung von Konfliktpotential notwendig ist, obwohl sich bei den zulässigen bzw. ausnahmsweise zulässigen Nutzungen eine vergleichbare Problemstellung ergebe. In der Sache rügt sie damit Ermittlungs- und Bewertungsfehler in Bezug auf die Lärmschutzbelange der künftigen Nutzer des Gewerbegebiets. Für den Senat bleibt unerfindlich, was die Antragsgegnerin hier noch weiter hätte ermitteln sollen. Aufgrund der Einwendungen der Antragstellerin war ihr bekannt, dass diese einen Beherbergungsbetrieb im Plangebiet betreiben möchte und deshalb Veranlassung bestand, sich über die Zulassung solcher Betriebe im dem Gewerbegebiet und deren Folgen Gedanken zu machen. Ausweislich der Planbegründung (S. 8) und der Abwägungstabelle (S. 23/24) ist dies geschehen. Dort findet sich jeweils folgende Erwägung:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="51"/>„Der Begriff des Boardinghouses ist planungsrechtlich nicht definiert. Unter diesem Begriff verbergen sich Betriebe des Beherbergungsgewerbes oder aber städtebauliches „Wohnen“. Als Wohnnutzung sind Boardinghouses in Gewerbegebieten ohnehin unzulässig. Die Grenzziehung zwischen wohnartigen Boardinghouses und beherbergungsrechtlichen Boardinghouses ist im Einzelfall schwierig. Auch Beherbergungsbetriebe sind jedoch schutzwürdige Nutzungen gegenüber Lärm. Deshalb werden Beherbergungsbetriebe insgesamt ausgeschlossen. Dadurch soll sichergestellt werden, das von solchen Betrieben keine Einschränkungen (vor allem nachts) der gewerblichen Nutzung ausgehen“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Diese Überlegungen lassen weder bei isolierter Betrachtung noch in Zusammenschau mit den sonstigen Erwägungen zur Zulässigkeit von Anlagen für sportliche Zwecke und zur ausnahmsweisen Zulässigkeit von Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke Bewertungsfehler erkennen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>(a) Bei einem Boardinghouse handelt es sich um eine bauplanungsrechtlich nicht geregelte Übergangsform zwischen Wohnnutzung und Beherbergungsbetrieb, deren konkrete Zuordnung von den Umständen des Einzelfalls, v.a. dem Nutzungskonzept des Bauherrn abhängt (VGH Bad.-Württ. Beschluss vom 17.1.2017 - 8 S 1641/16 - juris Rn. 16 f). Zu Recht ist die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass ein Boardinghouse, welches als Wohnnutzung einzustufen wäre (d.h., in welchem die Nutzer einen eigenständigen Haushalt führen ohne Inanspruchnahme von Dienstleistungen oder Gemeinschaftseinrichtungen), in dem Gewerbegebiet schon nach § 8 Abs. 1 BauNVO unzulässig ist und sich ein befürchteter Lärmkonflikt insoweit nicht stellt. Bei einem als Beherbergungsbetrieb einzustufenden Boardinghouse, welches als nicht erheblich belästigender Gewerbebetrieb in einem Gewerbegebiet ohne weiteres zulässig wäre, hätten die Nutzer zwar an sich die (höheren) Lärmimmissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 TA Lärm für Gewerbegebiete hinzunehmen. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch Nutzer von Beherbergungsbetrieben in Gewerbegebiet regelmäßig - v.a. in den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende - ein der Wohnnutzung nahekommendes Ruhebedürfnis haben können mit der Folge, dass Lärmkonflikte mit der umgebenden Gewerbenutzung entstehen und diese im Einzelfall ggf. zulasten benachbarter Gewerbebetriebe gelöst werden müssen. Es unterliegt keinen Bedenken, dass die Antragsgegnerin solchen Konflikten von vornherein aus dem Weg gehen wollte, indem sie planerisch von § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO Gebrauch gemacht und die Zulässigkeit von Beherbergungsbetrieben in dem Plangebiet generell ausgeschlossen hat. Umgekehrt ist es - anders als die Antragstellerin meint - in dieser Situation nicht bewertungsfehlerhaft, dass die Antragsgegnerin den alternativen Weg eines nachgelagerten Verwaltungsverfahrens, in welchem etwaige auftretende Lärmschutzkonflikte erst nach planerischer Zulassung von Boardinghouses im Wege ggf. nachträglicher Lärmschutzvorkehrungen gelöst werden, nicht weiterverfolgt hat. Das gilt umso mehr, als Nutzungskonflikte grundsätzlich im Planungsverfahren gelöst werden sollen und nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen die Lösung in ein nachgelagertes Verwaltungsverfahren verschoben werden darf.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>(b) Entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin sind die von der Antragsgegnerin in Zusammenhang mit dem Ausschluss getroffenen Bewertungen weder widersprüchlich noch inkonsistent. Denn auch - an sich im Gewerbegebiet nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO ausnahmsweise zulässige - Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen, Betriebsinhaber und Betriebsleiter wurden generell ausgeschlossen, weil bei diesen Nutzungen dieselbe Konfliktlage wie bei Beherbergungsbetrieben entstehen kann. Der Umstand, dass Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke (sowohl als gewerbliche Anlagen als auch als Gemeinschaftsanlagen) weiterhin ausnahmsweise zulässig sind und damit nicht für allgemein unzulässig erklärt wurden, widerspricht der mit dem Ausschluss von Beherbergungsbetrieben verfolgten Konzeption nicht. Denn während sich bei Beherbergungsbetrieben der Konflikt zwischen dem Ruhebedürfnis der Nutzer einerseits und dem ungeschmälerten Nutzungsinteresse der übrigen Gewerbebetriebe andererseits bereits im Bauleitverfahren konkret beschreiben und erfassen lässt mit der Folge, dass er schon im Planungsverfahren selbst bewältigt werden kann, ist dies bei den Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke nicht der Fall. Unter diesen Begriff fallen Nutzungen unterschiedlichster Art, vom ambulanten Pflegedienst über die Kindertagesstätte bis zur Tagespflegeeinrichtung, bei denen sich regelmäßig erst nach Vorliegen eines konkreten Nutzungskonzepts im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens verlässlich beurteilen lässt, ob und wenn ja, welche bewältigungsbedürftigen Konflikte mit der Nachbarschaft auftreten und ggf. gelöst werden müssen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>(c) Da die Erwägungen der Antragsgegnerin zum generellen Ausschluss von Beherbergungsbetrieben mithin nicht bewertungsfehlerhaft sind, unterliegt es auch keinen Bedenken, dass sich in der Abwägungstabelle (auf S. 23/24) dieselben Überlegungen finden wie bereits in der Begründung des Bebauungsplans und auf die Einwendung der Antragstellerin, es liege ein besonderes Eigentümerinteresse am Betrieb eines Boardinghouses im Plangebiet vor, nicht mehr gesondert eingegangen wurde. Entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin lässt diese Vorgehensweise auch nicht darauf schließen, dass der Gemeinderat der Antragsgegnerin am 8. März 2021 zur Frage des Ausschlusses von Boardinghouses keine eigene Bewertung mehr vorgenommen habe. Denn es blieb ihm unbenommen, sich im Rahmen der Abwägung den bereits vorliegenden Erwägungen im Entwurf der Bebauungsplanbegründung anzuschließen und sich diese vollständig und unverändert zu eigen zu machen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>(d) Des Weiteren führt auch die Rüge der Antragstellerin, im Rahmen der Abwägung habe die Antragsgegnerin zwar den Belangen des produzierenden Gewerbes Rechnung tragen wollen, dann aber auch nicht produzierendes Gewerbe zugelassen, nicht auf einen Ermittlungs- und Bewertungsfehler. Denn aus dem Textteil (unter A.1.1.) und der Begründung des Bebauungsplans (S. 7/8) ergibt sich, dass die Antragsgegnerin mit der Ausweisung des Gewerbegebiets nicht ausschließlich Flächen für produzierendes Gewerbe zur Verfügung stellen wollte. Vielmehr sollten auf den Gewerbeflächen des Plangebiets von vornherein auch Anlagen für kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke errichtet werden können, weil für solche Anlagen im Ortskernbereich keine Flächen mehr zur Verfügung stehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>dd) Der Antragstellerin ist schließlich in Bezug auf den Ausschluss von Fremdwerbung im Plangebiet kein als Ermittlungs- und Bewertungsfehler i.S.v. § 2 Abs. 3 BauGB zu prüfender Abwägungsmangel unterlaufen. Mit ihrem Vortrag, tatsächlich liege keine hinreichende städtebauliche Begründung für den Ausschluss von Fremdwerbung in dem Gewerbegebiet vor, macht die Antragstellerin in der Sache geltend, der Ausschluss sei wegen eines Festsetzungsfehlers (dazu sogleich unten B. II. 2) unwirksam. Im Übrigen zeigt die Antragstellerin mit ihrem Vortrag auch nicht auf, welchen abwägungsbeachtlichen Belang die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang nicht ermittelt, übersehen oder fehlbewertet hätte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>II. Der Bebauungsplan leidet nicht an einem beachtlichen materiellen Rechtsfehler.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>1. Er scheitert nicht am Erfordernis der Erforderlichkeit i.S.v. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB haben die Gemeinden Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Dies gilt für die Planung insgesamt und für jede ihrer Festsetzungen. Was im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB erforderlich ist, bestimmt sich maßgeblich nach der jeweiligen planerischen Konzeption. Welche städtebaulichen Ziele sich eine Gemeinde hierbei setzt, liegt grundsätzlich in ihrem planerischen Ermessen. Der Gesetzgeber ermächtigt sie, diejenige „Städtebaupolitik“ zu betreiben, die ihren städtebaulichen Ordnungsvorstellungen entspricht. Eine Planung ist dann gerechtfertigt, wenn sie nach dem städtebaulichen Konzept „vernünftigerweise“ geboten erscheint. Die Gemeinde besitzt insoweit ein sehr weites planerisches Ermessen. Nicht erforderlich sind daher nur solche Bebauungspläne, deren Verwirklichung auf unabsehbare Zeit rechtliche oder tatsächliche Hindernisse im Wege stehen und die daher die Aufgabe einer verbindlichen Bauleitplanung nicht erfüllen können oder die einer positiven Planungskonzeption entbehren und ersichtlich der Förderung von Zielen dienen, für deren Verwirklichung die Planungsinstrumente des Baugesetzbuchs nicht bestimmt sind. In dieser Auslegung setzt § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB der Bauleitplanung eine erste, wenn auch strikt bindende Schranke, die lediglich grobe und einigermaßen offensichtliche Missgriffe ausschließt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 10.9.2015 - 4 CN 8.14 - BVerwGE 153,16; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 9.7.2020 - 5 S 1493/17 - VBlBW 2021, 23).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Nach diesem Maßstab bestehen hier keine Bedenken gegen die städtebauliche Erforderlichkeit des Bebauungsplans i.S.v. § 1 Abs. 3 BauGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Entgegen dem Vortrag der Antragsteller handelt es nicht um eine reine Gefälligkeitsplanung im Interesse des Unternehmens, um diesem eine Ansiedlung in dem Gewerbegebiet zu ermöglichen. Eine Gemeinde wäre nach ständiger Rechtsprechung bei ihrer Planung grundsätzlich nicht gehindert, sogar ein Konzept zur Grundlage ihrer Planung zu machen, das von einem Privaten entwickelt worden ist; denn sie kann hinreichend gewichtige private Belange zum Anlass für die Aufstellung eines Bebauungsplans nehmen und sich dabei an den Wünschen eines Dritten - etwa eines Vorhabenträgers - orientieren, solange sie zugleich auch städtebauliche Belange und Zielsetzungen verfolgt. Nur wenn die Gemeinde mit ihrer Zielsetzung ausschließlich private Interessen verfolgen würde, setzte sie das ihr zur Verfügung gestellte Planungsinstrumentarium des Baugesetzbuchs in zweckwidriger Weise ein, was die Unzulässigkeit einer solchen Gefälligkeitsplanung zur Folge hätte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.3.2007 - 4 BN 9.07 - juris Rn. 6; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.10.2021 - 5 S 3125/20 – juris Rn. 75; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.1.2021 - 8 C 10362/20 - juris Rn. 69 m.w.N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Denn mit dem Bebauungsplan bezweckt die Antragsgegnerin die Ausweisung von unterschiedlichen Gewerbeflächen für unterschiedliche Branchen: Während im östlichen Teilgebiet GE 2 Flächen für kleinere Handwerksbetriebe und Gewerbeunternehmen zur Verfügung gestellt werden sollen, möchte die Antragsgegnerin auf der westlichen Teilfläche GE 1 eine große, zusammenhängende Gewerbefläche ausweisen, welche dort die Schaffung von 400 bis 500 neuen Arbeitsplätzen ermöglicht. Hierbei handelt es sich um jeweils zulässige städtebauliche Zielsetzungen. In Bezug auf das GE 2 besteht von vornherein kein greifbarer Anhaltspunkt dafür, dass die aufgezeigte städtebauliche Zielsetzung im Sinne einer Gefälligkeitsplanung nur vorgeschoben sein könnte. Aber auch in Bezug auf die Teilfläche GE 1 ist dies nicht der Fall. Zwar hatte das Unternehmen bereits vor Ergehen des Planaufstellungsbeschlusses einen konkreten Ansiedlungswunsch geäußert und wurde am 6. Juni 2017 ein Ansiedlungsvertrag zwischen der Antragsgegnerin und dem Unternehmen geschlossen. Aus der Begründung des Bebauungsplans (S.4) und dem - unwidersprochen gebliebenen - Vortrag der Antragsgegnerin im Normenkontrollverfahren ergibt sich aber, dass die Antragsgegnerin keine vertragliche Bindung eingegangen ist, die Gewerbefläche GE 1 in jedem Fall an das Unternehmen zu verkaufen und der Ansiedlungsvertrag am 9. Juni 2020 zudem ausgelaufen ist. Wesentlich erscheint aus Sicht des Senats, dass der planerische Wille der Antragsgegnerin, im GE 1 eine große, zusammenhängende Teilfläche zu schaffen, unabhängig von den Ansiedlungswünschen des Unternehmens bestand und besteht. Denn nach der Begründung des Bebauungsplans (S. 4) soll diese Fläche ggf. auch an einen anderen Gewerbebetrieb veräußert werden. Notfalls soll die Fläche auch an mehrere Betriebe veräußert werden, sofern das Ziel, etwa 500 neuen Arbeitsplätze zu schaffen, nur auf diesem Weg erreicht werden könnte (Abwägungstabelle S. 19).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Auch der Vortrag der Antragstellerin, aus in der Gemeinderatssitzung am 5. November 2018 getätigten Äußerungen ergebe sich, dass die Antragsgegnerin ihren Bebauungsplan an die Wünsche des Unternehmens angepasst habe, lässt nicht auf eine unzulässige Gefälligkeitsplanung schließen. Denn abgesehen davon, dass eine solche Anpassung für sich genommen nicht zu beanstanden ist (s.o.), liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Äußerungen vom November 2018 noch für die erst im Mai 2020 bzw. im März 2021 vorgenommene Abwägungsentscheidung des Gemeinderats relevant waren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>2. Der in der planungsrechtlichen Festsetzung A.1.1 vorgesehene Ausschluss von Fremdwerbung (Werbung, die nicht an der Stätte der Leistung stattfindet) in dem Plangebiet ist rechtlich nicht zu beanstanden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>a) Er findet seine Rechtsgrundlage in dem im Textteil des Bebauungsplans zitierten § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. § 1 Abs. 5 und Abs. 9 BauNVO. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB können im Bebauungsplan aus städtebaulichen Gründen Art und Maß der baulichen Nutzung festgesetzt werden. Nach § 1 Abs. 5 BauNVO kann im Bebauungsplan festgesetzt werden, dass bestimmte Arten von Nutzungen, die nach den §§ 2 bis 9 und 13 allgemein zulässig sind, nicht zulässig sind oder nur ausnahmsweise zugelassen werden können. Diese Vorschrift betrifft allerdings nur die in den Absätzen 2 der Baugebietsnormen aufgeführten zulässigen Arten von Nutzungen. Demgegenüber lässt § 1 Abs. 9 BauNVO unter den dort genannten Voraussetzungen weitere Feindifferenzierungen in Bezug auf einzelne Unterarten von Nutzungen zu, welche die BauNVO selbst nicht aufführt (BVerwG, Beschluss vom 5.6.2014 - 4 BN 8.14 - juris Rn. 10 m.w.N.). In der Rechtsprechung ist geklärt, dass Werbeanlagen für Fremdwerbung, wie sie in der planungsrechtlichen Festsetzung A.1.1 genannt werden, eine Unterart eines Gewerbebetriebes im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO darstellen und damit grundsätzlich von der Regelung des § 1 Abs. 9 BauNVO erfasst werden (BVerwG, Urteil vom 3.12.1992 - 4 C 27.91 - juris Rn. 49; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.1.2017 - 8 S 2081/16 - juris Rn. 8 und Urteil vom 16.4.2008 - 3 S 3005/06 - juris Rn. 26).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>b) Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 9 BauNVO sind gegeben. Die Vorschrift verlangt zwar das Vorliegen „besonderer städtebaulicher Gründe“, um den Ausschluss von Fremdwerbeanlagen zu rechtfertigen. Allerdings bedeutet das nicht, dass die auf § 1 Abs. 9 BauNVO gestützte Festsetzung damit von erschwerten Voraussetzungen abhängt. Das „Besondere“ liegt vielmehr darin, dass es sich um spezielle Gründe gerade für eine gegenüber § 1 Abs. 5 BauNVO noch feinere Ausdifferenzierung der zulässigen Nutzungen handeln muss (BVerwG, Beschluss vom 10.11.2014 - 4 BN 33.04 - Rn. 4).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Solche besonderen Gründe liegen hier vor. Denn die Antragsgegnerin möchte - wie sich aus S. 9 der Planbegründung ergibt - ein hochwertiges Gewerbegebiet ohne „überbordende Werbelandschaft“ schaffen. In der Abwägungstabelle ist hierzu auf S. 25 präzisierend ausgeführt:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="69"/>„Bei einer ungesteuerten Zulassung der Fremdwerbung kann sich die Fremdwerbung dominant als Hauptnutzung entwickeln. Es gibt keine städtebauliche Erforderlichkeit, um in einem Gewerbegebiet die Fremdwerbung zuzulassen. Sie dient nicht der Arbeitsplatzsicherung, schafft keine Arbeitsplätze, hat keinen Bezug zur im Gewerbegebiet erwünschten Ansiedlung produzierender oder arbeitender Gewerbe. Insoweit widerspricht die Zulassung von Fremdwerbung der städtebaulichen Zielsetzung in diesem Gewerbegebiet“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Es kann dahingestellt bleiben, ob das in der Planbegründung genannte Ziel, ein „hochwertiges Gewerbegebiet“ zu schaffen, hinreichend tragfähig ist. Denn jedenfalls stellt das von der Antragsgegnerin gleichermaßen verfolgte weitere Ziel, mit dem Ausschluss von Fremdwerbung zu verhindern, dass hierfür Flächen in Anspruch genommen werden, die für die Ansiedlung „produzierender oder arbeitender Gewerbe“ dann nicht mehr zur Verfügung stehen, einen besonderen städtebaulichen Grund im Sinne von § 1 Abs. 9 BauNVO dar. Diese Zielsetzung dient sowohl den Belangen der Wirtschaft i.S.v. § 1 Abs. 6 Nr. 8 a) BauGB als auch dem Belang der Schaffung von Arbeitsplätzen (§ 1 Abs. 6 Nr. 8 c) BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Es bestehen aus Sicht des Senats keine Zweifel, dass sie mit einem Ausschluss von Fremdwerbeanlagen auch tatsächlich erreicht werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin ist nicht zu verlangen, dass die aufgezeigten städtebaulichen Gründe den Ausschluss der Fremdwerbung gerade erfordern. Vielmehr reicht es aus, dass sie die Beschränkung rechtfertigen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 28.2.1992 - 5 S 2149/90 - juris Ls. 1). Da dies hier der Fall ist, hängt die Rechtmäßigkeit des planungsrechtlichen Ausschlusses vom Fremdwerbung - anders als die Antragstellerin wohl meint - nicht davon ab, dass mit den örtlichen Bauvorschriften B. 3 auch bauordnungsrechtliche Anforderungen an Werbeanlagen gestellt werden und möglicherweise bereits mit diesen Vorgaben die mit der Beschränkung von Werbung verfolgten Ziele erreicht werden könnten. Zudem ist offensichtlich, dass sich die örtlichen Bauvorschriften ausschließlich auf die planungsrechtlich zulässigen Werbeanlagen an der Stätte der Leistung beziehen und diese Werbeanlagen ebenfalls im Interesse der Beeinträchtigung des Umgebungsverkehrs und der Gebietsgestaltung (vgl. Begründung S. 13) beschränken.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>c) Die allgemeine Zweckbestimmung des Gewerbegebietes, die bei Anwendung des § 1 Abs. 9 i.V.m. Abs. 5 BauNVO gewahrt werden muss, wird durch den festgesetzten Ausschluss von Fremdwerbeanlagen nicht infrage gestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>d) Auch eine unverhältnismäßige Einschränkung der Eigentümerbefugnisse vermag der Senat nicht zu erkennen. Denn zum einen betrifft der Ausschluss von Fremdwerbung nur eine gewerbliche Hauptnutzung von vielen weiterhin möglichen gewerblichen Nutzungen. Zum anderen wird den Grundstückeigentümern nicht jegliche Werbemöglichkeit genommen. Werbung an der Stätte der Leistung bleibt vielmehr zulässig. Zum dritten bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass auf Fremdwerbung spezialisierte Unternehmen auf den im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin gelegenen Gewerbegebieten ihrem Geschäftsmodell nicht mehr nachgehen könnten, weil dort flächendeckend Fremdwerbung ausgeschlossen wäre.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>3. Der Bebauungsplan leidet schließlich auch nicht im Übrigen - also jenseits der Ermittlungs- und Bewertungspflicht nach § 2 Abs. 3 BauGB - an einem beachtlichen Verstoß gegen das Abwägungsgebot nach § 1 Abs. 7 BauGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>a) Die Vorschrift des § 1 Abs. 7 BauGB verlangt bei der Aufstellung eines Bebauungsplans die gerechte Abwägung der öffentlichen und privaten Belange gegen- und untereinander. Die gerichtliche Kontrolle dieser von der Gemeinde vorzunehmenden Abwägung hat sich jenseits der Ermittlungs- und Bewertungsfehler darauf zu beschränken, ob ein sonstiger Fehler im Abwägungsvorgang - insbesondere ein Abwägungsausfall - vorliegt und ob der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belangen in einer Weise vorgenommen worden ist, die zu ihrem objektiven Gewicht in einem angemessenen Verhältnis steht (keine Abwägungsdisproportionalität). Hat die Gemeinde diese Anforderungen an ihre Planungstätigkeit beachtet, wird das Abwägungsgebot nicht dadurch verletzt, dass sie bei der Abwägung der verschiedenen Belange dem einen den Vorzug einräumt und sich damit notwendigerweise für die Zurückstellung eines anderen entscheidet. Es ist vielmehr erst dann zu beanstanden, wenn eine fehlerfreie Nachholung der erforderlichen Abwägung schlechterdings nicht zum selben Ergebnis führen könnte, weil anderenfalls der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen würde, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Die Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit müssen also überschritten sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.9.2010 - 4 CN 2.10 - BVerwGE 138, 12). Dabei ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Bebauungsplan abzustellen (§ 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>b) Ausgehend hiervon liegt kein Abwägungsvorgangsfehler vor. Die Antragstellerin sieht einen solchen darin, dass sich die Antragsgegnerin bei der Abwägung maßgeblich und in fehlerhafter Weise von dem mit dem Unternehmen geschlossenen Ansiedlungsvertrag habe leiten lassen mit der Konsequenz, dass sie sich den Blick auf die Bedeutung der gegenläufigen privaten und öffentlichen Belange von vornherein verstellt und diese nicht mehr mit dem ihnen zukommenden Gewicht bei der Abwägung berücksichtigt habe. Dem vermag der Senat indessen nicht zu folgen. Auf die diesbezüglichen Ausführungen unter B.II.1 wird verwiesen. Dort wurde bereits in Zusammenhang mit dem Vorwurf der Gefälligkeitsplanung dargelegt, dass und weshalb sich die Antragsgegnerin nicht in zu beanstandender Art und Weise von dem Ansiedlungswunsch hat leiten lassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>c) Schließlich liegt auch kein Abwägungsergebnisfehler vor. Es ist nicht zu erkennen, dass die Antragsgegnerin selbst bei fehlerfreier Durchführung der Abwägung nicht zu dem hier gefundenen Ergebnis hätte gelangen dürfen, weil der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wurde, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (BVerwG, Urteil vom 22.9.2010 - 4 CN 2.10 - juris Rn. 22), m.a.W. die Abwägung schlechterdings nicht zu diesem Planungsergebnis hätte führen dürfen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>D. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/><strong>Beschluss</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>vom 21. Juli 2022</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Der Streitwert für das Verfahren wird gemäß § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nr. 9.8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit endgültig auf 20.000 Euro festgesetzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,727 | vg-stuttgart-2022-07-21-a-4-k-125322 | {
"id": 160,
"name": "Verwaltungsgericht Stuttgart",
"slug": "vg-stuttgart",
"city": 90,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | A 4 K 1253/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-09-27T10:01:46 | 2022-10-17T11:10:35 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p><p>Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der nach eigenen Angaben am ...1980 geborene Kläger gibt an, syrischer Staatsangehöriger zu sein. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 15.12.2021 in das Bundesgebiet ein. Am 16.12.2021 beantragte der Kläger die Gewährung von Asyl. Bei der Anhörung in Heidelberg am 23.12.2021 gab der Kläger an, von Libyen sei er mit einem Boot nach Italien gereist. Dort sei er zunächst zwölf Tage in Quarantäne gewesen. Danach habe er sich in der Stadt Fibrian fünf Tage aufgehalten. Anschließend sei er mit dem Auto nach Deutschland gefahren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Mit Bescheid vom 28.02.2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag als unzulässig ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen. Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 07.03.2022 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, er bedürfe fachärztlicher und operativer Behandlung. Es sei nicht gewährleistet, dass er im Fall einer Rückkehr nach Italien dort unmittelbaren Zugang zu einer Unterkunft erhalten werde. Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation sei es ihm nicht möglich, durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit für seinen Lebensunterhalt in Italien zu sorgen. Die Beklagte habe bei der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auch nicht berücksichtigt, dass eine Schwester und zwei Brüder im Bundesgebiet lebten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="5"/>den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.02.2022 aufzuheben;</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="6"/>hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt;</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="7"/>höchst hilfsweise, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf null Monate zu befristen.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>die Klage abzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Sie verweist auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Im vom Kläger vorgelegten Arztbericht des H S vom 08.06.2022 wird ausgeführt, der Kläger habe eine ausgeprägte Varikosis am rechten Unterschenkel dorsal und medial. Dem Kläger werde dringend das Tragen von Kompressionsstrümpfen der Klasse II empfohlen. Außerdem bestehe eine OP-Indikation aufgrund der Stammvarikosis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Im ärztlichen Attest vom 24.03.2022 führte der Facharzt für Allgemeinmedizin S aus, beim Kläger bestehe ein recht ausgeprägtes Krampfaderleiden beider Beine. Ein operativer Eingriff des rechten Beins sei bereits erfolgt. Vermutlich werde eine neuerliche Operation erforderlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Im ärztlichen Bericht des Zentrums für Radiologie B F vom 24.03.2022 ist ausgeführt, beim Kläger bestehe ein Zustand nach Thoraxschuss. Multiple Schrotkugeln befänden sich an der ventralen und lateralen Thoraxwand.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörende Behördenakte verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Das Gericht kann trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da sie bei der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die zulässige Klage ist nicht begründet. Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers vom 16.12.2021 zu Recht als unzulässig abgelehnt (1.). Nationale Abschiebungsverbot liegen nicht vor (2.). Die Abschiebungsanordnung ist rechtlich nicht zu beanstanden (3.). Das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnet ebenfalls keinen Bedenken (4.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>1. Die Beklagte hat den Asylantrag zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG als unzulässig abgelehnt. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier der Fall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Italienische Republik ist für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig und deshalb nach Art. 18 Abs. 1 lit. a Dublin III-VO verpflichtet, den Kläger nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 Dublin III-VO aufzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Zuständigkeit der Italienischen Republik für die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Danach wird der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Art. 7 bis 15) Dublin III-VO als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständige, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Dies ist nach dem eigenen Vortrag des Klägers Italien. Dies wird belegt durch den für den Kläger erzielten Eurodac-Treffer mit der Kennzeichnung IT2, wonach diese Kennzeichnung bedeutet, dass die betreffende Person in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten einer Außengrenze aufgegriffen wurde (Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 Eurodac-VO). Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen (§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die so entstandene Zuständigkeit der Italienischen Republik ist nicht auf die Beklagte übergegangen. Aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO folgt kein Zuständigkeitsübergang. Die Entscheidung der Beklagten, das ihr zustehende Selbsteintrittsrecht nicht zu Gunsten des Klägers auszuüben, begegnet keinen rechtlichen Bedenken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Auch nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO ist ein Übergang der Zuständigkeit nicht eingetreten. Systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>a) Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat selbst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, wenn es sich als unmöglich erweist, den Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen. Dafür muss es wesentliche Gründe für die Annahme geben, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (im Folgenden: GRC) mit sich bringen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Regelung beruht auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der EU-Grundrechtecharta anerkannten Grundrechte zu bieten (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 80; BVerwG, Beschl. v. 17.01.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 18). Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylantragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 82 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Vermutung ist allerdings widerlegbar. Das ist dann der Fall, wenn der Asylantragsteller in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen dem ernsthaften Risiko („real risk“) einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Behandlung ausgesetzt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 85, 87). Systemisch sind Mängel, wenn sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35.14 - juris Rn. 5). Solche Mängel treffen den Einzelnen nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren (vgl. BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35.14 - juris Rn. 5). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Vermutung nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen des zuständigen Mitgliedstaats widerlegt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 - juris Rn. 85; BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35.14 - juris Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Systemische Mängel der Aufnahmebedingungen setzen voraus, dass die Lebensbedingungen derart schlecht sind, dass dem Antragsteller das ernsthafte Risiko einer Behandlung i. S. v. Art. 4 GRC droht. Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Damit entspricht die Vorschrift dem Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK), so dass sie nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK besitzt (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91). Daher ist bei der Auslegung des Art. 4 GRC auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Das Risiko einer Verletzung des Art. 4 GRC kann in schlechten humanitären Verhältnissen begründet liegen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92 ff.; bezogen auf Art. 3 EMRK: EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - HUDOC Rn. 254; BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 8 ff.). Allerdings muss dafür eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht sein (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91). Die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats muss zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse, d. h. insbesondere sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden, zu befriedigen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92). Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 93).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable, also besonders verletzliche Personen früher erreicht sein. Gegenüber dieser Personengruppe obliegt den Mitgliedstaaten eine besondere Schutzverpflichtung (bezogen auf Art. 3 EMRK: EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 - HUDOC Rn. 118 f.). Daher ist die besondere Verletzlichkeit bei der Bewertung des Risikos, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, zu berücksichtigen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-297/17 - juris Rn. 93). Aus der besonderen Verletzlichkeit können sowohl zusätzliche zwingende Bedarfe als auch überdurchschnittliche Beeinträchtigungen resultieren. Insbesondere den Bedürfnissen von Kindern ist Rechnung zu tragen. Wegen ihres Alters und ihrer Abhängigkeit haben diese besondere Bedürfnisse, die die staatlichen Stellen nach dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 26. Januar 1990 (UN-Kinderrechtskonvention) zu angemessenen Maßnahmen verpflichtet. Zur Vermeidung einer erniedrigenden Behandlung ist es deshalb geboten, die Aufnahmebedingungen von minderjährigen Antragstellern so auszugestalten, dass keine Traumatisierung eintritt (vgl. EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 - HUDOC Rn. 119).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>In zeitlicher Hinsicht ist nicht nur ein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung und während des Asylverfahrens auszuschließen. Gleiches muss auch für den Zeitraum nach einer (unterstellten) Zuerkennung des internationalen Schutzstatus im zuständigen Mitgliedstaat gewährleistet sein (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 88 f.; BVerfG, Beschl. v. 07.10.2019 - 2 BvR 721/19 - juris Rn. 22). Diese Prüfung ist nur dann entbehrlich, wenn die Zuerkennung internationalen Schutzes offenkundig ausgeschlossen ist (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 29.07.2019 - A 4 S 749/19 - juris Rn. 37).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Bestehen ernsthafte Zweifel, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen des zuständigen Mitgliedstaates diesen Anforderungen genügen, bedarf es einer eingehenden Prüfung anhand aussagekräftiger und aktueller Erkenntnismittel (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 90; BVerfG, Beschl. v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 15 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung, ob systemische Schwachstellen vorliegen, ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Ein von § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG abweichender Prüfungszeitpunkt ist weder in der Dublin III-VO vorgegeben noch zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes erforderlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>b) Nach diesen Maßstäben sind alleinstehende Personen durch das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundsätzlich nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRC ausgesetzt. Dies gilt auch für Familien mit minderjährigen Kindern; insbesondere existiert eine hinreichende Zusicherung für eine familiengerechte Unterbringung im Anschluss an die Rückführung nach Italien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Italienische Republik hatte aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 -) in Rundschreiben vom 2. Februar, 15. April und 8. Juni 2015 an die Dublin-Staaten und die EU-Kommission zugesichert, Familien mit Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten sogenannten SPRAR-Unterkünften unterzubringen. Dies erachtete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grundsätzlich für ausreichend, um das Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszuschließen (vgl. EGMR, Urt. v. 04.10.2016 - 30474/14 - HUDOC Rn. 15, 34; Urt. v. 04.10.2016 - 32275/15 - HUDOC Rn. 12, 27 f.), auch wenn Zusicherungen in Einzelfällen nicht eingehalten wurden (vgl. EGMR, Urt. v. 15.05.2018 - 67981/16 - HUDOC Rn. 20 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Ende des Jahres 2018 verschlechterten sich mit dem Erlass des sogenannten Salvini-Dekrets (Dekret No. 113/2018 über Sicherheit und Migration) die Aufnahmebedingungen in Italien. Die von „SPRAR“ in „SIPROIMI“ umbenannten Unterkünfte standen Asylantragstellern und Dublin-Rückkehrern mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung. Bei den verbliebenen Unterkünften für Asylantragsteller und Dublin-Rückkehrer (CAS und CARA) wurde das Leistungsangebot eingeschränkt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 09.10.2019, S. 13; AIDA, Forms and levels of material reception conditions, 30.11.2020). Es konnte daher ohne eingehende Prüfung nicht mehr von einer kind- und familiengerechten Unterbringung sowie einem sofortigen Zugang für Familien mit Kindern nach der Ankunft in Italien ausgegangen werden, auch nicht in Anbetracht des neuen Rundschreibens der Italienischen Republik vom 8. Januar 2019, in dem dies zugesichert worden war (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 23).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Inzwischen wurden allerdings durch das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret No. 130/2020 die Aufnahmebedingungen in Italien wieder verbessert. Danach sollen zukünftig alle Asylantragsteller so schnell wie möglich in die von „SIPROIMI“ in „SAI“ umbenannten Unterkünfte wechseln. Diese bieten neben Leistungen zur Erfüllung von Grundbedürfnissen auch Maßnahmen mit dem Ziel einer umfassenden Integration (Gesellschaft, Arbeitsmarkt, Sprache) an (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11.11.2020, S. 14; AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 119). Im Vergleich zu den CAS-Unterkünften gelten sie als besser ausgestattet. Über die geänderte Lage informierte die Italienische Republik die anderen Dublin-Staaten mit Rundschreiben vom 8. Februar 2021. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung verneinte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK in einem Fall, in dem eine Überstellung einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern im Grundschulalter nach Italien beabsichtigt war (vgl. EGMR, Urt. v. 23.03.2021 - 46595/19 -).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Das Gericht folgt dieser Einschätzung und geht davon aus, dass die Aufnahmebedingungen in Italien unter Berücksichtigung des Rundschreibens vom 8. Februar 2021 auch bezogen auf Familien mit minderjährigen und damit vulnerablen Kindern grundsätzlich nicht im Widerspruch zu Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK stehen (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 22.03.2022 - 4 A 389/20.A - juris Rn. 37 ff). Dies gilt erst recht für den Kläger, bei dem es sich um eine alleinstehende Person handelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>(aa) Der Kläger hat nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit zu befürchten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Nach Art. 17 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 lit. g der Aufnahmerichtlinie haben die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen (Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs) in Anspruch nehmen können. Das italienische Unterbringungssystem ist dabei in drei Phasen eingeteilt: die Phase der unmittelbaren Notversorgung in sogenannten CPSA/Hotspots in den Hauptankunftsorten von Bootsflüchtlingen; die Erstaufnahmephase in großen Zentren (CARA bzw. CDA) bzw. in temporären Strukturen (CAS), wenn keine Plätze verfügbar sind; und schließlich die Zweitaufnahmephase in den sogenannten SAI (ehem. SIPRIOMI bzw. SPRAR) - Unterkünften. Aufgrund des nunmehr geltenden Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 vom 21.10.2020 haben Asylsuchende (insbesondere Vulnerable) auch wieder die Möglichkeit, neben den Erstaufnahmeeinrichtungen der ersten Ebene in SAI-Einrichtungen der zweiten Ebene untergebracht zu werden (vgl. Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 08.02.2021 - "Circular Letter"; Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien - Aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 5 f.). Insbesondere Antragsteller, die in der Aufnahmerichtlinie als „vulnerable Personen" eingestuft werden, werden vorrangig in SAI-Aufnahmeeinrichtungen untergebracht. Personen, die sich illegal im Land aufhalten und keinen internationalen Schutz beantragen sowie Personen, die eine Ausweisung erhalten haben, kommen unter bestimmten Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem Schubhaftzentrum (CPR) infrage. Dublin-Rückkehrer werden meist in Erstaufnahmezentren und temporären Einrichtungen untergebracht, wobei auch die Unterbringung im Zweitaufnahmesystem SAI oder in sonstigen Gemeindeunterkünften möglich ist. Insbesondere im Fall von Platzmangel wird auch auf die temporären Strukturen (CAS) zurückgegriffen. Die Unterbringung in einem CAS soll so kurz als möglich dauern, bis zur Unterbringung des Betreffenden in einem Erstaufnahmezentrum. In den CAS ist der Unterbringungsstandard von der betreibenden Präfektur abhängig (vgl. AIDA Country Report Italy vom 27.05.2020). Die Versorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen sieht unter anderem folgende Leistungen vor: Unterbringung, Verpflegung, Sozialbetreuung, Information, linguistisch-kulturelle Mediation, notwendige Transporte, medizinische Betreuung, Hygieneprodukte, Wäschedienst oder Waschprodukte, Startpaket (Kleidung, Bettzeug, Telefonkarte), Taschengeld, Schulbedarf (vgl. BFA, a.a.O. v. 11.11.2020, S. 13 f.). Das aktuelle Gesetzesdekret Nr. 130/2020 sieht eine Anpassung der Dienstleistungen der CAS an die regulären Zentren der ersten Stufe vor, insbesondere sind nunmehr psychologische Betreuungsdienste und Italienischkurse vorgesehen (vgl. SFH, a.a.O., Juni 2021, S. 5 und 6). Neben diesen Unterbringungseinrichtungen stehen weitere kommunale Einrichtungen, karitative Einrichtungen (z. B. CARITAS, Migrantes in Rom, die Schwestern des Ordens der Mutter Teresa „Suoro Missionarie della Carita") sowie Einrichtungen von Hilfsorganisationen (z. B. Comunita di Sant'Egidio, Opere Antoniane, Stranieri in Italia, Centro Astalli) zur Verfügung, in denen nicht anderweitig unterkommende Schutzsuchende aufgenommen und versorgt werden können (vgl. Auswärtiges Amt an das OVG Münster vom 23.02.2016, S. 4; BFA, a.a.O. v. 11.11.2020, S. 17 f.). Die Unterbringung in den staatlichen Einrichtungen wird grundsätzlich für die Zeit des Asylverfahrens und eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens gewährleistet. Diese Maßstäbe gelten insbesondere auch für Dublin-Rückkehrer. In den Einrichtungen sind Plätze für Familien sowie allein reisende Frauen, ggf. mit Kindern, vorgesehen (vgl. BFA, a.a.O. v. 11.11.2020, S. 14). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass Asylsuchende auch ohne individuelle Garantieerklärung unmittelbar nach ihrer Rückkehr eine Unterkunft erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen entspricht. Die Überstellung von Dublin-Rückkehrenden wird in der Regel vorher angekündigt, sodass die italienischen Behörden rechtzeitig eine geeignete Unterkunft finden können. Diese Einschätzung der systemischen Lage in Italien entspricht auch der aktuellen Beurteilung des EGMR, als dem für die Einhaltung und Auslegung europäischer Grundrechte maßgebenden Gericht (vgl. EGMR, Urt. v. 23.03.2021 - 46595/19 -). Unter Bezugnahme auf die jüngsten Gesetzesänderungen in Italien sowie die allgemeine Zusicherung Italiens vom 08.02.2021 führte der EGMR aus, dass die gegenwärtigen Asylbedingungen Italiens bezüglich Ankunft und Einrichtungen auch dem geforderten „besonderen Schutz" Asylsuchender mit spezifischen Bedürfnissen und extremer Verletzlichkeit gerecht werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>bb) Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist in Italien sichergestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Es ist davon auszugehen, dass Krankheiten in Italien behandelbar sind und ausreichende Behandlungskapazitäten existieren. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) bearbeitet aufgrund dessen nur in sehr spezifischen Einzelfällen Anfragen zu Behandlungsmöglichkeiten in Italien (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 11.11.2020, S. 21). Der tatsächliche Zugang von Asylantragstellern zu medizinischer Versorgung ist ebenfalls gegeben. Asylantragsteller haben in gleicher Weise wie italienische Bürger einen Anspruch auf medizinische Versorgung, der mit der Registrierung eines Asylantrags entsteht. Bis zum Zeitpunkt der Registrierung werden medizinische Basisleistungen, insbesondere eine kostenfreie Notfallversorgung, gewährleistet. Bürokratische Hindernisse lassen sich mit Hilfe der Betreiber der Aufnahmeeinrichtungen überwinden. Zusätzlich sind in den Erstaufnahmeeinrichtungen Ärztinnen und Ärzte beschäftigt, die medizinische Erstuntersuchungen und Notfallmaßnahmen vornehmen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 11.11.2020, S. 19 ff.; BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 10 f., 15 f., 21 f., 37 f., 45 f.; AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 127).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>cc) Der Zugang zu weiteren erforderlichen staatlichen Leistungen ist gegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Voraussetzung, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, ist teilweise eine Registrierung am Wohnort („residenza“) (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 171). Diese können Asylantragsteller jedenfalls inzwischen wieder in zumutbarer Weise vornehmen, weil der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die durch das sogenannte Salvini-Dekret geschaffenen Erschwernisse bei der Registrierung für verfassungswidrig erklärt hat (vgl. AIDA, a.a.O., S. 171; Human Rights Watch, Finally, Good News for Asylum Seekers in Italy, <span style="text-decoration:underline">www.hrw.org/news/2020/10/07/finally-good-news-asylum-seekers-italy</span>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>dd) Im Anschluss an die Zuerkennung internationalen Schutzes besteht ebenfalls grundsätzlich kein ernsthaftes Risiko, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die wirtschaftliche Situation hatte sich in Italien infolge der COVID-19- Pandemie zwar zunächst verschlechtert, nach dem ersten Einbruch aber teilweise wieder verbessert (vgl. ausführlich zur wirtschaftlichen Situation VG Karlsruhe, Urt. v. 14.9.2020, A 9 K 3639/18, juris Rn. 42 ff. m.w.N.). Es mag zwar sowohl für Dublin-Rückkehrer als auch für anerkannte Schutzberechtigte bei bestehender Erwerbsfähigkeit unter Umständen schwierig sein, ihre Existenz durch eine Arbeitsaufnahme zu sichern, jedoch ist eine Arbeitsaufnahme nicht unmöglich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Arbeitsfähige international Schutzberechtigte haben eine realistische Chance, innerhalb des ersten Jahres nach der Zuerkennung internationalen Schutzes eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden. Diese Einschätzung beruht auf den staatlichen Maßnahmen zur beruflichen Integration in den Arbeitsmarkt, der aktuellen Situation von international Schutzberechtigten im Arbeitsmarkt und der Arbeitskräftenachfrage aus dem Bereich der Schattenwirtschaft. Migranten können sich frühzeitig um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemühen. Bereits zwei Monate nach der Stellung des Asylantrags in Italien ist es erlaubt, eine bezahlte Arbeit aufzunehmen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11.11.2020, S. 15; Respond, Italy country report, 2020, S. 24). Nach Ablauf des Unterbringungsanspruchs in den staatlichen Einrichtungen wird von international Schutzberechtigten - wie auch von italienischen Staatsangehörigen - grundsätzlich erwartet, sich selbst zu versorgen (vgl. Romer, Asylmagazin 2021, 207, 212). Dazu bieten insbesondere die SAI-Einrichtungen Fördermaßnahmen an, um die Chancen von Asylantragstellern und international Schutzberechtigten auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen (vgl. Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 7; Respond, Italy country report, 2020 S. 28). Zwar wurde durch diese Fördermaßnahmen nicht erreicht, dass sich die Arbeitsmarktsituation von international Schutzberechtigten auf der einen Seite und italienischen Staatsangehörigen oder Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf der anderen Seite vollständig angeglichen hat. Allerdings ist eine Annäherung der Situation, insbesondere zu den in Italien lebenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, festzustellen. Beim Durchschnittgehalt bestehen keine übermäßigen Unterschiede. Die Gruppe der international Schutzberechtigten erhält knapp 80 Prozent des Durchschnittsgehalts von Beschäftigten mit italienischer Staatsangehörigkeit (vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 214). Fast keine Unterschiede beim Durchschnittsgehalt bestehen im Vergleich zu den in Italien arbeitenden Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (vgl. de Sario, a. a. O., S. 214). Eine ähnliche Situation besteht bei der Arbeitslosenquote. Bezogen auf international Schutzberechtigte lag diese im Jahr 2018 bei 17,8 Prozent. Sie war damit in einem nicht unerheblichen Maße höher als die von italienischen Staatsangehörigen (10,2 Prozent). Der Unterschied zur Arbeitslosenquote von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (13,5 Prozent) ist dagegen deutlich geringer (vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 212). Die aktuelle Arbeitslosenquote von international Schutzberechtigten dürfte im Vergleich zu der von 2018 geringer sein. Denn zum einen ist die Arbeitslosigkeit in Italien seit 2018 - trotz der Auswirkungen der Corona-Pandemie - gesunken. Nach den Daten von Eurostat betrug die Arbeitslosenquote in Italien (jeweils drittes Quartal) 2018 10,2 Prozent, 2019 9,8 Prozent, 2020 10,8 Prozent und 2021 9,4 Prozent (https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/lfs/data/database). Zum anderen arbeiten Migranten ohne EU-Staatsangehörigkeit überwiegend in Bereichen, in denen die Corona-Pandemie nicht zu einer Reduzierung des Arbeitskräftebedarfs geführt hat. Die größten Beschäftigungssektoren sind der Pflegedienstleistungssektor (47,2 Prozent), die Landwirtschaft (18,6 Prozent), das Baugewerbe (16,6 Prozent) sowie der Sektor Handel, Verkehr, Wohnungswesen und Gastronomie (16,2 Prozent) (vgl. Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 4; ähnliche Zahlen werden in anderen Veröffentlichungen benannt, vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 206). Bezogen auf diese Sektoren wurden substantielle Nachfragereduzierungen durch die Corona-Pandemie nur in den Bereichen Handel, Verkehr und Gastronomie ausgelöst. Neben einer Tätigkeit im regulären Arbeitsmarkt können sich international Schutzberechtigte auch um eine Arbeit in der Schattenwirtschaft bemühen. Schwarzarbeit ist in Italien weit verbreitet; etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich (vgl. OVG Münster, Urt. v. 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - juris Rn. 130 f.). Insbesondere in der Landwirtschaft sollen viele Migranten bei der saisonalen Ernte irregulär arbeiten (vgl. borderline-europe, Die Situation der Geflüchteten auf Sizilien, 2019, S. 42 ff.). Die Aufnahme von Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft ist aber grundsätzlich zumutbar (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.01.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 29).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>International Schutzberechtigten wird es voraussichtlich auch gelingen, eine bedarfsgerechte Unterkunft zu erhalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>International Schutzberechtigte können in Italien für einen Zeitraum von sechs Monaten in einem sog. SAI-Zentrum (vorher SIPROIMI-Zentren) untergebracht werden, sofern es dort freie Plätze gibt und die Person nicht bereits zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebracht war. Dieses Unterbringungssystem besteht derzeit aus 760 kleineren, dezentralisierten Projekten und ist primär für die Unterbringung für bereits anerkannte Schutzberechtigte und unbegleitete Minderjährige vorgesehen (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 180 f.) Im Januar 2021 gab es in SAI-Zentren 30.049 Unterkunftsplätze, von denen zum 31. Dezember 2020 25.574 belegt waren (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 182 u. 180). Jeder Fall eines international Schutzberechtigten, der sich in einen anderen EU-Staat begeben hatte und dort nochmal Asyl beantragt hat und in der Folge nach Italien rücküberstellt wird, wird vom sog. „Servizio Centrale“ geprüft. Rückkehrer können bereits im Vorfeld vor ihrer Rückkehr nach Italien einen Antrag beim Servizio Centrale stellen (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 7 f). Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SAI-Zentrum kann dabei um sechs weitere Monate verlängert werden, beispielsweise um Integrationsmaßnahmen abzuschließen oder wenn besondere Umstände, wie z.B. gesundheitliche Probleme, vorliegen. Gleiches gilt für vulnerable Personen, zu denen unter anderem unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel sowie Menschen mit ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen zählen. Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen kann der Aufenthalt im SAI-Zentrum sogar ein zweites Mal um sechs Monate verlängert werden (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 182). In den SAI-Zentren stehen international Schutzberechtigten spezielle Integrationsmaßnahmen zur Verfügung, bestehend aus Sprachtraining, Vermittlung von Grundkenntnissen zu Rechten und Pflichten, die in der Verfassung der Italienischen Republik verankert sind, Orientierung bezüglich wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen sowie Orientierung bezüglich der Arbeitsvermittlung (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.06.2021, S. 12, Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183). Die Möglichkeit, über ein SAI-Zentrum Unterstützung zu erhalten, hängt dabei vor allem davon ab, ob und in welchem Umfang ein Schutzberechtigter bereits Leistungen der Sekundärunterbringung in Anspruch genommen hat. Das Recht auf Unterbringung in einem SAI-Zentrum besteht insbesondere dann nicht mehr, wenn eine Person bereits dort untergebracht war oder aber wenn eine Person die ihr vom Servizio-Centrale zugewiesene Unterkunft trotz entsprechender Zuteilung nicht genutzt hat und ihr daher der entsprechende Anspruch entzogen wurde (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 56). Neben den staatlich finanzierten SAI-Projekten gibt es für international Schutzberechtigte auch die Möglichkeit, eine Sozialwohnung zu beantragen. Ein solcher Antrag ist direkt in der jeweiligen Stadt bzw. Gemeinde zu stellen, wobei die Zugangsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Dabei hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 9). International Schutzberechtigte haben dabei dasselbe Recht auf Zugang zu sozialem Wohnraum wie italienische Staatsbürger (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183 f; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 9 f.). In einigen Regionen Italiens erfordert der Zugang zu Sozialwohnungen jedoch einen Mindestaufenthalt im Land, wie z.B. in der Region Friaul - Venezien, wo der Zugang zu Sozialwohnungen auf Personen beschränkt ist, die nachweislich und ununterbrochen fünf Jahre in der Region gewohnt haben. Darüber hinaus ist die Warteliste für derartige Sozialwohnungen vielerorts lang, in Rom beispielsweise beträgt die entsprechende Wartezeit rund sieben Jahre. Zudem muss regelmäßig nachgewiesen werden, dass bereits ein Wohnsitz in der Gemeinde besteht, in der eine Sozialwohnung beantragt wird. Das bedeutet in der Praxis, dass es Personen mit internationalem Schutzstatus regelmäßig sehr schwer fällt, Zugang zu öffentlichem Wohnraum bzw. Sozialwohnungen zu erhalten (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 9 f.). Des Weiteren können sich international Schutzberechtigte an die italienischen Kirchen und Hilfsorganisationen wenden. Diese bieten sowohl Unterkünfte für international Schutzberechtigte als auch Unterstützung bei der Wohnungssuche an (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 120; SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29.10.2020, S. 7). Nicht selten leben Menschen mit internationalem Schutzstatus jedenfalls vorübergehend auch in Notunterkünften, die lediglich einen Platz zum Schlafen anbieten und die nicht speziell für Flüchtlinge gewidmet sind, sondern auch italienischen Staatsbürgern in Notsituationen offenstehen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 23). Schließlich gibt es in ganz Italien informelle Siedlungen oder besetzte Häuser, in denen Fremde leben, unter ihnen Asylbewerber und Schutzberechtigte. Die Personen, die dort unter prekären Umständen leben, werden von Nichtregierungsorganisationen wie Sant‘Egidio und MEDU unterstützt. Für die Erfüllung der Grundbedürfnisse gelten nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweise Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.01.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 20). Unter Berücksichtigung der vorstehenden Angaben besteht für international Schutzberechtigte in Italien zwar eine gewisse Gefahr der (vorübergehenden) Obdachlosigkeit (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.06.2021, S. 12 f.). Es liegen jedoch keine Erkenntnismittel vor, wonach tatsächlich ein größerer Teil der international Schutzberechtigten obdachlos ist. Vielmehr ist im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl ein eher kleiner Teil der Migranten tatsächlich obdachlos bzw. lebt in besetzten Häusern. Nach Schätzungen der MÈDECINS SANS FRONTIÈRES (Ärzte ohne Grenzen) gibt es in Italien ungefähr 10.000 obdachlose Menschen (MSF, „OUT of sight“ - Second edition, Stand: 08.02.2018), unter denen sich auch international Schutzberechtigte befinden. Dass international Schutzberechtigte damit regelhaft bzw. systematisch der Obdachlosigkeit anheimfallen würden, lässt sich den aktuellen Erkenntnismitteln nicht entnehmen, selbst wenn es auch unter diesen immer wieder zu Obdachlosigkeit kommen kann (vgl. BFA, Länderinformationsblatt - Italien, Stand: 26.02.2019, S. 25).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Das Gericht ist daher der Auffassung, dass arbeitsfähige Personen wie der Kläger in Italien legale Arbeit finden und sich selbst dahingehend versorgen können, dass die vom EuGH allein in den Blick genommenen elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot und Seife") befriedigt werden. Der Kläger leidet zwar unter Krampfadern; außerdem besteht bei ihm ein Zustand nach Thoraxschuss. Dass er deshalb nicht erwerbsfähig sein könnte, ist den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen indes nicht zu entnehmen. Das Gericht vermag derzeit auch nicht zu erkennen, dass Italien einer etwaigen Verschlechterung der Existenzsicherungsmöglichkeiten anerkannter Schutzberechtigter gleichgültig gegenübersteht, Unterstützungsprogramme der EU nicht greifen und anerkannt Schutzberechtigte auch mit zumutbar hohem Maß an Eigeninitiative, Ausschöpfung rechtlicher Möglichkeiten und tatsächlicher Unterstützung dem Risiko extremer materieller Not ausgesetzt sein werden. Vor diesem Hintergrund kann das Gericht nicht feststellen, dass es dem Kläger als junge und arbeitsfähige Person nicht möglich wäre, eine geeignete Arbeitsstelle zu finden. Nach alldem liegen zur Überzeugung des Gerichts in Italien für die Vergleichsgruppe des Klägers keine systemischen Mängel vor (so auch VGH Mannheim, Beschl. v. 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18 - juris -; VG Augsburg, Urt. v. 23.07.2021 - Au 4 K 20.31273 - juris -; VG Berlin, Urt. v. 19.05.2021 - 28 K 84.18 A - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 25.02.2021 - A 4 K 1044/20 - juris; VG Gießen, Urt. v. 28.01.2021 - 8 K 6487/17.GI.A - juris -; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.09.2020 - A 9 K 3639/18 - juris; VG Cottbus, Urt. v. 26.08.2020 - 5 K 1123/19.A - juris -; VG Freiburg, Urt. v. 19.08.2020 - A 10 K 3159/18 - juris -; VG Arnsberg, Urt. v. 09.07.2020 - 5 K 2904/18.A - juris -; VG Kassel, Urt. v. 08.04.2020 - 4 K 1375/17.KS.A - juris -). Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR (Urt. v. 23.03.2021 - 46595/19 -) und der in Italien erfolgten gesetzlichen Änderungen Ende 2020 kann insbesondere auf das Vorliegen einer individuellen Zusicherung Italiens hinsichtlich der Behandlung und Unterbringung des Klägers verzichtet werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>2. Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Deshalb bleibt auch der gestellte Hilfsantrag, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ohne Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Fall einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 162). Dies ist nach den dargestellten Umständen vorliegend nicht der Fall. Auf die obigen Ausführungen wird verwiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>b) Ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - juris Rn. 16). Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 - juris Rn. 12; Urt. v. 27.04.1998 - 9 C 13.97 - juris Rn. 6 und Urt. v. 21.09.1999 - 9 C 8.99 - juris Rn. 13).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Sind die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht erfüllt, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 26.06.2019 - A 11 S 2108/18 - juris Rn. 131). Individuelle Umstände in der Person der Kläger, insbesondere gesundheitlicher Art, rechtfertigen nicht die Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zwar leidet der Kläger nach den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen an Krampfadern. Dass dieses Krampfaderleiden in Italien nicht behandelbar ist, ist jedoch weder dargelegt noch sonst ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>3. Die Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des Bescheids) verletzt den Kläger ebenfalls nicht in eigenen Rechten. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Bestimmung ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind diese Voraussetzungen erfüllt. Die Italienische Republik ist für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Es steht auch im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Der Abschiebung des Klägers stehen weder Abschiebungsverbote noch Vollzugshindernisse entgegen. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie machen die tatsächliche Durchführung der Abschiebung nicht unmöglich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>4. Der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 4 des Bescheids) sind nach Maßgabe von § 11, § 75 Nr. 12 AufenthG erfolgt. Rechtliche Mängel bestehen insoweit nicht. Entgegen dem Vortrag des Klägers liegt kein Ermessensfehler vor. Allein der Umstand, dass im Bundesgebiet eine Schwester und zwei Brüder des Klägers leben, rechtfertigt nicht die Festsetzung einer kürzeren Frist. Denn der Kläger hat schon nicht geltend gemacht, dass er auf Lebenshilfe dieser drei Geschwister angewiesen ist. Damit bleibt auch das hilfsweise gestellte Begehren, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf null Monate zu befristen, ohne Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Das Gericht kann trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da sie bei der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Die zulässige Klage ist nicht begründet. Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers vom 16.12.2021 zu Recht als unzulässig abgelehnt (1.). Nationale Abschiebungsverbot liegen nicht vor (2.). Die Abschiebungsanordnung ist rechtlich nicht zu beanstanden (3.). Das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnet ebenfalls keinen Bedenken (4.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>1. Die Beklagte hat den Asylantrag zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG als unzulässig abgelehnt. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier der Fall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Italienische Republik ist für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig und deshalb nach Art. 18 Abs. 1 lit. a Dublin III-VO verpflichtet, den Kläger nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 Dublin III-VO aufzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Zuständigkeit der Italienischen Republik für die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Danach wird der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Art. 7 bis 15) Dublin III-VO als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständige, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Dies ist nach dem eigenen Vortrag des Klägers Italien. Dies wird belegt durch den für den Kläger erzielten Eurodac-Treffer mit der Kennzeichnung IT2, wonach diese Kennzeichnung bedeutet, dass die betreffende Person in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten einer Außengrenze aufgegriffen wurde (Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 Eurodac-VO). Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen (§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die so entstandene Zuständigkeit der Italienischen Republik ist nicht auf die Beklagte übergegangen. Aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO folgt kein Zuständigkeitsübergang. Die Entscheidung der Beklagten, das ihr zustehende Selbsteintrittsrecht nicht zu Gunsten des Klägers auszuüben, begegnet keinen rechtlichen Bedenken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Auch nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO ist ein Übergang der Zuständigkeit nicht eingetreten. Systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>a) Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat selbst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, wenn es sich als unmöglich erweist, den Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen. Dafür muss es wesentliche Gründe für die Annahme geben, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (im Folgenden: GRC) mit sich bringen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Regelung beruht auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der EU-Grundrechtecharta anerkannten Grundrechte zu bieten (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 80; BVerwG, Beschl. v. 17.01.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 18). Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylantragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 82 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Vermutung ist allerdings widerlegbar. Das ist dann der Fall, wenn der Asylantragsteller in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen dem ernsthaften Risiko („real risk“) einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Behandlung ausgesetzt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 85, 87). Systemisch sind Mängel, wenn sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35.14 - juris Rn. 5). Solche Mängel treffen den Einzelnen nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren (vgl. BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35.14 - juris Rn. 5). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Vermutung nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen des zuständigen Mitgliedstaats widerlegt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 - juris Rn. 85; BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35.14 - juris Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Systemische Mängel der Aufnahmebedingungen setzen voraus, dass die Lebensbedingungen derart schlecht sind, dass dem Antragsteller das ernsthafte Risiko einer Behandlung i. S. v. Art. 4 GRC droht. Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Damit entspricht die Vorschrift dem Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK), so dass sie nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK besitzt (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91). Daher ist bei der Auslegung des Art. 4 GRC auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Das Risiko einer Verletzung des Art. 4 GRC kann in schlechten humanitären Verhältnissen begründet liegen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92 ff.; bezogen auf Art. 3 EMRK: EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - HUDOC Rn. 254; BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 8 ff.). Allerdings muss dafür eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht sein (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91). Die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats muss zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse, d. h. insbesondere sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden, zu befriedigen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92). Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 93).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable, also besonders verletzliche Personen früher erreicht sein. Gegenüber dieser Personengruppe obliegt den Mitgliedstaaten eine besondere Schutzverpflichtung (bezogen auf Art. 3 EMRK: EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 - HUDOC Rn. 118 f.). Daher ist die besondere Verletzlichkeit bei der Bewertung des Risikos, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, zu berücksichtigen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-297/17 - juris Rn. 93). Aus der besonderen Verletzlichkeit können sowohl zusätzliche zwingende Bedarfe als auch überdurchschnittliche Beeinträchtigungen resultieren. Insbesondere den Bedürfnissen von Kindern ist Rechnung zu tragen. Wegen ihres Alters und ihrer Abhängigkeit haben diese besondere Bedürfnisse, die die staatlichen Stellen nach dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 26. Januar 1990 (UN-Kinderrechtskonvention) zu angemessenen Maßnahmen verpflichtet. Zur Vermeidung einer erniedrigenden Behandlung ist es deshalb geboten, die Aufnahmebedingungen von minderjährigen Antragstellern so auszugestalten, dass keine Traumatisierung eintritt (vgl. EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 - HUDOC Rn. 119).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>In zeitlicher Hinsicht ist nicht nur ein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung und während des Asylverfahrens auszuschließen. Gleiches muss auch für den Zeitraum nach einer (unterstellten) Zuerkennung des internationalen Schutzstatus im zuständigen Mitgliedstaat gewährleistet sein (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 88 f.; BVerfG, Beschl. v. 07.10.2019 - 2 BvR 721/19 - juris Rn. 22). Diese Prüfung ist nur dann entbehrlich, wenn die Zuerkennung internationalen Schutzes offenkundig ausgeschlossen ist (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 29.07.2019 - A 4 S 749/19 - juris Rn. 37).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Bestehen ernsthafte Zweifel, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen des zuständigen Mitgliedstaates diesen Anforderungen genügen, bedarf es einer eingehenden Prüfung anhand aussagekräftiger und aktueller Erkenntnismittel (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris Rn. 90; BVerfG, Beschl. v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 15 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung, ob systemische Schwachstellen vorliegen, ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Ein von § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG abweichender Prüfungszeitpunkt ist weder in der Dublin III-VO vorgegeben noch zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes erforderlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>b) Nach diesen Maßstäben sind alleinstehende Personen durch das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundsätzlich nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRC ausgesetzt. Dies gilt auch für Familien mit minderjährigen Kindern; insbesondere existiert eine hinreichende Zusicherung für eine familiengerechte Unterbringung im Anschluss an die Rückführung nach Italien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Italienische Republik hatte aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 -) in Rundschreiben vom 2. Februar, 15. April und 8. Juni 2015 an die Dublin-Staaten und die EU-Kommission zugesichert, Familien mit Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten sogenannten SPRAR-Unterkünften unterzubringen. Dies erachtete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grundsätzlich für ausreichend, um das Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszuschließen (vgl. EGMR, Urt. v. 04.10.2016 - 30474/14 - HUDOC Rn. 15, 34; Urt. v. 04.10.2016 - 32275/15 - HUDOC Rn. 12, 27 f.), auch wenn Zusicherungen in Einzelfällen nicht eingehalten wurden (vgl. EGMR, Urt. v. 15.05.2018 - 67981/16 - HUDOC Rn. 20 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Ende des Jahres 2018 verschlechterten sich mit dem Erlass des sogenannten Salvini-Dekrets (Dekret No. 113/2018 über Sicherheit und Migration) die Aufnahmebedingungen in Italien. Die von „SPRAR“ in „SIPROIMI“ umbenannten Unterkünfte standen Asylantragstellern und Dublin-Rückkehrern mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung. Bei den verbliebenen Unterkünften für Asylantragsteller und Dublin-Rückkehrer (CAS und CARA) wurde das Leistungsangebot eingeschränkt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 09.10.2019, S. 13; AIDA, Forms and levels of material reception conditions, 30.11.2020). Es konnte daher ohne eingehende Prüfung nicht mehr von einer kind- und familiengerechten Unterbringung sowie einem sofortigen Zugang für Familien mit Kindern nach der Ankunft in Italien ausgegangen werden, auch nicht in Anbetracht des neuen Rundschreibens der Italienischen Republik vom 8. Januar 2019, in dem dies zugesichert worden war (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 23).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Inzwischen wurden allerdings durch das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret No. 130/2020 die Aufnahmebedingungen in Italien wieder verbessert. Danach sollen zukünftig alle Asylantragsteller so schnell wie möglich in die von „SIPROIMI“ in „SAI“ umbenannten Unterkünfte wechseln. Diese bieten neben Leistungen zur Erfüllung von Grundbedürfnissen auch Maßnahmen mit dem Ziel einer umfassenden Integration (Gesellschaft, Arbeitsmarkt, Sprache) an (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11.11.2020, S. 14; AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 119). Im Vergleich zu den CAS-Unterkünften gelten sie als besser ausgestattet. Über die geänderte Lage informierte die Italienische Republik die anderen Dublin-Staaten mit Rundschreiben vom 8. Februar 2021. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung verneinte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK in einem Fall, in dem eine Überstellung einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern im Grundschulalter nach Italien beabsichtigt war (vgl. EGMR, Urt. v. 23.03.2021 - 46595/19 -).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Das Gericht folgt dieser Einschätzung und geht davon aus, dass die Aufnahmebedingungen in Italien unter Berücksichtigung des Rundschreibens vom 8. Februar 2021 auch bezogen auf Familien mit minderjährigen und damit vulnerablen Kindern grundsätzlich nicht im Widerspruch zu Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK stehen (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 22.03.2022 - 4 A 389/20.A - juris Rn. 37 ff). Dies gilt erst recht für den Kläger, bei dem es sich um eine alleinstehende Person handelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>(aa) Der Kläger hat nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit zu befürchten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Nach Art. 17 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 lit. g der Aufnahmerichtlinie haben die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen (Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs) in Anspruch nehmen können. Das italienische Unterbringungssystem ist dabei in drei Phasen eingeteilt: die Phase der unmittelbaren Notversorgung in sogenannten CPSA/Hotspots in den Hauptankunftsorten von Bootsflüchtlingen; die Erstaufnahmephase in großen Zentren (CARA bzw. CDA) bzw. in temporären Strukturen (CAS), wenn keine Plätze verfügbar sind; und schließlich die Zweitaufnahmephase in den sogenannten SAI (ehem. SIPRIOMI bzw. SPRAR) - Unterkünften. Aufgrund des nunmehr geltenden Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 vom 21.10.2020 haben Asylsuchende (insbesondere Vulnerable) auch wieder die Möglichkeit, neben den Erstaufnahmeeinrichtungen der ersten Ebene in SAI-Einrichtungen der zweiten Ebene untergebracht zu werden (vgl. Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 08.02.2021 - "Circular Letter"; Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien - Aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 5 f.). Insbesondere Antragsteller, die in der Aufnahmerichtlinie als „vulnerable Personen" eingestuft werden, werden vorrangig in SAI-Aufnahmeeinrichtungen untergebracht. Personen, die sich illegal im Land aufhalten und keinen internationalen Schutz beantragen sowie Personen, die eine Ausweisung erhalten haben, kommen unter bestimmten Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem Schubhaftzentrum (CPR) infrage. Dublin-Rückkehrer werden meist in Erstaufnahmezentren und temporären Einrichtungen untergebracht, wobei auch die Unterbringung im Zweitaufnahmesystem SAI oder in sonstigen Gemeindeunterkünften möglich ist. Insbesondere im Fall von Platzmangel wird auch auf die temporären Strukturen (CAS) zurückgegriffen. Die Unterbringung in einem CAS soll so kurz als möglich dauern, bis zur Unterbringung des Betreffenden in einem Erstaufnahmezentrum. In den CAS ist der Unterbringungsstandard von der betreibenden Präfektur abhängig (vgl. AIDA Country Report Italy vom 27.05.2020). Die Versorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen sieht unter anderem folgende Leistungen vor: Unterbringung, Verpflegung, Sozialbetreuung, Information, linguistisch-kulturelle Mediation, notwendige Transporte, medizinische Betreuung, Hygieneprodukte, Wäschedienst oder Waschprodukte, Startpaket (Kleidung, Bettzeug, Telefonkarte), Taschengeld, Schulbedarf (vgl. BFA, a.a.O. v. 11.11.2020, S. 13 f.). Das aktuelle Gesetzesdekret Nr. 130/2020 sieht eine Anpassung der Dienstleistungen der CAS an die regulären Zentren der ersten Stufe vor, insbesondere sind nunmehr psychologische Betreuungsdienste und Italienischkurse vorgesehen (vgl. SFH, a.a.O., Juni 2021, S. 5 und 6). Neben diesen Unterbringungseinrichtungen stehen weitere kommunale Einrichtungen, karitative Einrichtungen (z. B. CARITAS, Migrantes in Rom, die Schwestern des Ordens der Mutter Teresa „Suoro Missionarie della Carita") sowie Einrichtungen von Hilfsorganisationen (z. B. Comunita di Sant'Egidio, Opere Antoniane, Stranieri in Italia, Centro Astalli) zur Verfügung, in denen nicht anderweitig unterkommende Schutzsuchende aufgenommen und versorgt werden können (vgl. Auswärtiges Amt an das OVG Münster vom 23.02.2016, S. 4; BFA, a.a.O. v. 11.11.2020, S. 17 f.). Die Unterbringung in den staatlichen Einrichtungen wird grundsätzlich für die Zeit des Asylverfahrens und eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens gewährleistet. Diese Maßstäbe gelten insbesondere auch für Dublin-Rückkehrer. In den Einrichtungen sind Plätze für Familien sowie allein reisende Frauen, ggf. mit Kindern, vorgesehen (vgl. BFA, a.a.O. v. 11.11.2020, S. 14). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass Asylsuchende auch ohne individuelle Garantieerklärung unmittelbar nach ihrer Rückkehr eine Unterkunft erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen entspricht. Die Überstellung von Dublin-Rückkehrenden wird in der Regel vorher angekündigt, sodass die italienischen Behörden rechtzeitig eine geeignete Unterkunft finden können. Diese Einschätzung der systemischen Lage in Italien entspricht auch der aktuellen Beurteilung des EGMR, als dem für die Einhaltung und Auslegung europäischer Grundrechte maßgebenden Gericht (vgl. EGMR, Urt. v. 23.03.2021 - 46595/19 -). Unter Bezugnahme auf die jüngsten Gesetzesänderungen in Italien sowie die allgemeine Zusicherung Italiens vom 08.02.2021 führte der EGMR aus, dass die gegenwärtigen Asylbedingungen Italiens bezüglich Ankunft und Einrichtungen auch dem geforderten „besonderen Schutz" Asylsuchender mit spezifischen Bedürfnissen und extremer Verletzlichkeit gerecht werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>bb) Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist in Italien sichergestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Es ist davon auszugehen, dass Krankheiten in Italien behandelbar sind und ausreichende Behandlungskapazitäten existieren. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) bearbeitet aufgrund dessen nur in sehr spezifischen Einzelfällen Anfragen zu Behandlungsmöglichkeiten in Italien (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 11.11.2020, S. 21). Der tatsächliche Zugang von Asylantragstellern zu medizinischer Versorgung ist ebenfalls gegeben. Asylantragsteller haben in gleicher Weise wie italienische Bürger einen Anspruch auf medizinische Versorgung, der mit der Registrierung eines Asylantrags entsteht. Bis zum Zeitpunkt der Registrierung werden medizinische Basisleistungen, insbesondere eine kostenfreie Notfallversorgung, gewährleistet. Bürokratische Hindernisse lassen sich mit Hilfe der Betreiber der Aufnahmeeinrichtungen überwinden. Zusätzlich sind in den Erstaufnahmeeinrichtungen Ärztinnen und Ärzte beschäftigt, die medizinische Erstuntersuchungen und Notfallmaßnahmen vornehmen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 11.11.2020, S. 19 ff.; BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 10 f., 15 f., 21 f., 37 f., 45 f.; AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 127).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>cc) Der Zugang zu weiteren erforderlichen staatlichen Leistungen ist gegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Voraussetzung, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, ist teilweise eine Registrierung am Wohnort („residenza“) (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 171). Diese können Asylantragsteller jedenfalls inzwischen wieder in zumutbarer Weise vornehmen, weil der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die durch das sogenannte Salvini-Dekret geschaffenen Erschwernisse bei der Registrierung für verfassungswidrig erklärt hat (vgl. AIDA, a.a.O., S. 171; Human Rights Watch, Finally, Good News for Asylum Seekers in Italy, <span style="text-decoration:underline">www.hrw.org/news/2020/10/07/finally-good-news-asylum-seekers-italy</span>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>dd) Im Anschluss an die Zuerkennung internationalen Schutzes besteht ebenfalls grundsätzlich kein ernsthaftes Risiko, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die wirtschaftliche Situation hatte sich in Italien infolge der COVID-19- Pandemie zwar zunächst verschlechtert, nach dem ersten Einbruch aber teilweise wieder verbessert (vgl. ausführlich zur wirtschaftlichen Situation VG Karlsruhe, Urt. v. 14.9.2020, A 9 K 3639/18, juris Rn. 42 ff. m.w.N.). Es mag zwar sowohl für Dublin-Rückkehrer als auch für anerkannte Schutzberechtigte bei bestehender Erwerbsfähigkeit unter Umständen schwierig sein, ihre Existenz durch eine Arbeitsaufnahme zu sichern, jedoch ist eine Arbeitsaufnahme nicht unmöglich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Arbeitsfähige international Schutzberechtigte haben eine realistische Chance, innerhalb des ersten Jahres nach der Zuerkennung internationalen Schutzes eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden. Diese Einschätzung beruht auf den staatlichen Maßnahmen zur beruflichen Integration in den Arbeitsmarkt, der aktuellen Situation von international Schutzberechtigten im Arbeitsmarkt und der Arbeitskräftenachfrage aus dem Bereich der Schattenwirtschaft. Migranten können sich frühzeitig um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemühen. Bereits zwei Monate nach der Stellung des Asylantrags in Italien ist es erlaubt, eine bezahlte Arbeit aufzunehmen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11.11.2020, S. 15; Respond, Italy country report, 2020, S. 24). Nach Ablauf des Unterbringungsanspruchs in den staatlichen Einrichtungen wird von international Schutzberechtigten - wie auch von italienischen Staatsangehörigen - grundsätzlich erwartet, sich selbst zu versorgen (vgl. Romer, Asylmagazin 2021, 207, 212). Dazu bieten insbesondere die SAI-Einrichtungen Fördermaßnahmen an, um die Chancen von Asylantragstellern und international Schutzberechtigten auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen (vgl. Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 7; Respond, Italy country report, 2020 S. 28). Zwar wurde durch diese Fördermaßnahmen nicht erreicht, dass sich die Arbeitsmarktsituation von international Schutzberechtigten auf der einen Seite und italienischen Staatsangehörigen oder Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf der anderen Seite vollständig angeglichen hat. Allerdings ist eine Annäherung der Situation, insbesondere zu den in Italien lebenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, festzustellen. Beim Durchschnittgehalt bestehen keine übermäßigen Unterschiede. Die Gruppe der international Schutzberechtigten erhält knapp 80 Prozent des Durchschnittsgehalts von Beschäftigten mit italienischer Staatsangehörigkeit (vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 214). Fast keine Unterschiede beim Durchschnittsgehalt bestehen im Vergleich zu den in Italien arbeitenden Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (vgl. de Sario, a. a. O., S. 214). Eine ähnliche Situation besteht bei der Arbeitslosenquote. Bezogen auf international Schutzberechtigte lag diese im Jahr 2018 bei 17,8 Prozent. Sie war damit in einem nicht unerheblichen Maße höher als die von italienischen Staatsangehörigen (10,2 Prozent). Der Unterschied zur Arbeitslosenquote von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (13,5 Prozent) ist dagegen deutlich geringer (vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 212). Die aktuelle Arbeitslosenquote von international Schutzberechtigten dürfte im Vergleich zu der von 2018 geringer sein. Denn zum einen ist die Arbeitslosigkeit in Italien seit 2018 - trotz der Auswirkungen der Corona-Pandemie - gesunken. Nach den Daten von Eurostat betrug die Arbeitslosenquote in Italien (jeweils drittes Quartal) 2018 10,2 Prozent, 2019 9,8 Prozent, 2020 10,8 Prozent und 2021 9,4 Prozent (https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/lfs/data/database). Zum anderen arbeiten Migranten ohne EU-Staatsangehörigkeit überwiegend in Bereichen, in denen die Corona-Pandemie nicht zu einer Reduzierung des Arbeitskräftebedarfs geführt hat. Die größten Beschäftigungssektoren sind der Pflegedienstleistungssektor (47,2 Prozent), die Landwirtschaft (18,6 Prozent), das Baugewerbe (16,6 Prozent) sowie der Sektor Handel, Verkehr, Wohnungswesen und Gastronomie (16,2 Prozent) (vgl. Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 4; ähnliche Zahlen werden in anderen Veröffentlichungen benannt, vgl. de Sario, Migration at the crossroads - the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 206). Bezogen auf diese Sektoren wurden substantielle Nachfragereduzierungen durch die Corona-Pandemie nur in den Bereichen Handel, Verkehr und Gastronomie ausgelöst. Neben einer Tätigkeit im regulären Arbeitsmarkt können sich international Schutzberechtigte auch um eine Arbeit in der Schattenwirtschaft bemühen. Schwarzarbeit ist in Italien weit verbreitet; etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich (vgl. OVG Münster, Urt. v. 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - juris Rn. 130 f.). Insbesondere in der Landwirtschaft sollen viele Migranten bei der saisonalen Ernte irregulär arbeiten (vgl. borderline-europe, Die Situation der Geflüchteten auf Sizilien, 2019, S. 42 ff.). Die Aufnahme von Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft ist aber grundsätzlich zumutbar (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.01.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 29).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>International Schutzberechtigten wird es voraussichtlich auch gelingen, eine bedarfsgerechte Unterkunft zu erhalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>International Schutzberechtigte können in Italien für einen Zeitraum von sechs Monaten in einem sog. SAI-Zentrum (vorher SIPROIMI-Zentren) untergebracht werden, sofern es dort freie Plätze gibt und die Person nicht bereits zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebracht war. Dieses Unterbringungssystem besteht derzeit aus 760 kleineren, dezentralisierten Projekten und ist primär für die Unterbringung für bereits anerkannte Schutzberechtigte und unbegleitete Minderjährige vorgesehen (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 180 f.) Im Januar 2021 gab es in SAI-Zentren 30.049 Unterkunftsplätze, von denen zum 31. Dezember 2020 25.574 belegt waren (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 182 u. 180). Jeder Fall eines international Schutzberechtigten, der sich in einen anderen EU-Staat begeben hatte und dort nochmal Asyl beantragt hat und in der Folge nach Italien rücküberstellt wird, wird vom sog. „Servizio Centrale“ geprüft. Rückkehrer können bereits im Vorfeld vor ihrer Rückkehr nach Italien einen Antrag beim Servizio Centrale stellen (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 7 f). Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SAI-Zentrum kann dabei um sechs weitere Monate verlängert werden, beispielsweise um Integrationsmaßnahmen abzuschließen oder wenn besondere Umstände, wie z.B. gesundheitliche Probleme, vorliegen. Gleiches gilt für vulnerable Personen, zu denen unter anderem unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel sowie Menschen mit ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen zählen. Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen kann der Aufenthalt im SAI-Zentrum sogar ein zweites Mal um sechs Monate verlängert werden (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 182). In den SAI-Zentren stehen international Schutzberechtigten spezielle Integrationsmaßnahmen zur Verfügung, bestehend aus Sprachtraining, Vermittlung von Grundkenntnissen zu Rechten und Pflichten, die in der Verfassung der Italienischen Republik verankert sind, Orientierung bezüglich wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen sowie Orientierung bezüglich der Arbeitsvermittlung (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.06.2021, S. 12, Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183). Die Möglichkeit, über ein SAI-Zentrum Unterstützung zu erhalten, hängt dabei vor allem davon ab, ob und in welchem Umfang ein Schutzberechtigter bereits Leistungen der Sekundärunterbringung in Anspruch genommen hat. Das Recht auf Unterbringung in einem SAI-Zentrum besteht insbesondere dann nicht mehr, wenn eine Person bereits dort untergebracht war oder aber wenn eine Person die ihr vom Servizio-Centrale zugewiesene Unterkunft trotz entsprechender Zuteilung nicht genutzt hat und ihr daher der entsprechende Anspruch entzogen wurde (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 56). Neben den staatlich finanzierten SAI-Projekten gibt es für international Schutzberechtigte auch die Möglichkeit, eine Sozialwohnung zu beantragen. Ein solcher Antrag ist direkt in der jeweiligen Stadt bzw. Gemeinde zu stellen, wobei die Zugangsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Dabei hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 9). International Schutzberechtigte haben dabei dasselbe Recht auf Zugang zu sozialem Wohnraum wie italienische Staatsbürger (vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183 f; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 9 f.). In einigen Regionen Italiens erfordert der Zugang zu Sozialwohnungen jedoch einen Mindestaufenthalt im Land, wie z.B. in der Region Friaul - Venezien, wo der Zugang zu Sozialwohnungen auf Personen beschränkt ist, die nachweislich und ununterbrochen fünf Jahre in der Region gewohnt haben. Darüber hinaus ist die Warteliste für derartige Sozialwohnungen vielerorts lang, in Rom beispielsweise beträgt die entsprechende Wartezeit rund sieben Jahre. Zudem muss regelmäßig nachgewiesen werden, dass bereits ein Wohnsitz in der Gemeinde besteht, in der eine Sozialwohnung beantragt wird. Das bedeutet in der Praxis, dass es Personen mit internationalem Schutzstatus regelmäßig sehr schwer fällt, Zugang zu öffentlichem Wohnraum bzw. Sozialwohnungen zu erhalten (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.09.2020, S. 9 f.). Des Weiteren können sich international Schutzberechtigte an die italienischen Kirchen und Hilfsorganisationen wenden. Diese bieten sowohl Unterkünfte für international Schutzberechtigte als auch Unterstützung bei der Wohnungssuche an (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 120; SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29.10.2020, S. 7). Nicht selten leben Menschen mit internationalem Schutzstatus jedenfalls vorübergehend auch in Notunterkünften, die lediglich einen Platz zum Schlafen anbieten und die nicht speziell für Flüchtlinge gewidmet sind, sondern auch italienischen Staatsbürgern in Notsituationen offenstehen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 23). Schließlich gibt es in ganz Italien informelle Siedlungen oder besetzte Häuser, in denen Fremde leben, unter ihnen Asylbewerber und Schutzberechtigte. Die Personen, die dort unter prekären Umständen leben, werden von Nichtregierungsorganisationen wie Sant‘Egidio und MEDU unterstützt. Für die Erfüllung der Grundbedürfnisse gelten nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweise Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.01.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 20). Unter Berücksichtigung der vorstehenden Angaben besteht für international Schutzberechtigte in Italien zwar eine gewisse Gefahr der (vorübergehenden) Obdachlosigkeit (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.06.2021, S. 12 f.). Es liegen jedoch keine Erkenntnismittel vor, wonach tatsächlich ein größerer Teil der international Schutzberechtigten obdachlos ist. Vielmehr ist im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl ein eher kleiner Teil der Migranten tatsächlich obdachlos bzw. lebt in besetzten Häusern. Nach Schätzungen der MÈDECINS SANS FRONTIÈRES (Ärzte ohne Grenzen) gibt es in Italien ungefähr 10.000 obdachlose Menschen (MSF, „OUT of sight“ - Second edition, Stand: 08.02.2018), unter denen sich auch international Schutzberechtigte befinden. Dass international Schutzberechtigte damit regelhaft bzw. systematisch der Obdachlosigkeit anheimfallen würden, lässt sich den aktuellen Erkenntnismitteln nicht entnehmen, selbst wenn es auch unter diesen immer wieder zu Obdachlosigkeit kommen kann (vgl. BFA, Länderinformationsblatt - Italien, Stand: 26.02.2019, S. 25).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Das Gericht ist daher der Auffassung, dass arbeitsfähige Personen wie der Kläger in Italien legale Arbeit finden und sich selbst dahingehend versorgen können, dass die vom EuGH allein in den Blick genommenen elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot und Seife") befriedigt werden. Der Kläger leidet zwar unter Krampfadern; außerdem besteht bei ihm ein Zustand nach Thoraxschuss. Dass er deshalb nicht erwerbsfähig sein könnte, ist den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen indes nicht zu entnehmen. Das Gericht vermag derzeit auch nicht zu erkennen, dass Italien einer etwaigen Verschlechterung der Existenzsicherungsmöglichkeiten anerkannter Schutzberechtigter gleichgültig gegenübersteht, Unterstützungsprogramme der EU nicht greifen und anerkannt Schutzberechtigte auch mit zumutbar hohem Maß an Eigeninitiative, Ausschöpfung rechtlicher Möglichkeiten und tatsächlicher Unterstützung dem Risiko extremer materieller Not ausgesetzt sein werden. Vor diesem Hintergrund kann das Gericht nicht feststellen, dass es dem Kläger als junge und arbeitsfähige Person nicht möglich wäre, eine geeignete Arbeitsstelle zu finden. Nach alldem liegen zur Überzeugung des Gerichts in Italien für die Vergleichsgruppe des Klägers keine systemischen Mängel vor (so auch VGH Mannheim, Beschl. v. 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18 - juris -; VG Augsburg, Urt. v. 23.07.2021 - Au 4 K 20.31273 - juris -; VG Berlin, Urt. v. 19.05.2021 - 28 K 84.18 A - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 25.02.2021 - A 4 K 1044/20 - juris; VG Gießen, Urt. v. 28.01.2021 - 8 K 6487/17.GI.A - juris -; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.09.2020 - A 9 K 3639/18 - juris; VG Cottbus, Urt. v. 26.08.2020 - 5 K 1123/19.A - juris -; VG Freiburg, Urt. v. 19.08.2020 - A 10 K 3159/18 - juris -; VG Arnsberg, Urt. v. 09.07.2020 - 5 K 2904/18.A - juris -; VG Kassel, Urt. v. 08.04.2020 - 4 K 1375/17.KS.A - juris -). Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR (Urt. v. 23.03.2021 - 46595/19 -) und der in Italien erfolgten gesetzlichen Änderungen Ende 2020 kann insbesondere auf das Vorliegen einer individuellen Zusicherung Italiens hinsichtlich der Behandlung und Unterbringung des Klägers verzichtet werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>2. Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Deshalb bleibt auch der gestellte Hilfsantrag, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ohne Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Fall einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 162). Dies ist nach den dargestellten Umständen vorliegend nicht der Fall. Auf die obigen Ausführungen wird verwiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>b) Ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - juris Rn. 16). Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 - juris Rn. 12; Urt. v. 27.04.1998 - 9 C 13.97 - juris Rn. 6 und Urt. v. 21.09.1999 - 9 C 8.99 - juris Rn. 13).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Sind die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht erfüllt, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 26.06.2019 - A 11 S 2108/18 - juris Rn. 131). Individuelle Umstände in der Person der Kläger, insbesondere gesundheitlicher Art, rechtfertigen nicht die Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zwar leidet der Kläger nach den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen an Krampfadern. Dass dieses Krampfaderleiden in Italien nicht behandelbar ist, ist jedoch weder dargelegt noch sonst ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>3. Die Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des Bescheids) verletzt den Kläger ebenfalls nicht in eigenen Rechten. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Bestimmung ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind diese Voraussetzungen erfüllt. Die Italienische Republik ist für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Es steht auch im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Der Abschiebung des Klägers stehen weder Abschiebungsverbote noch Vollzugshindernisse entgegen. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie machen die tatsächliche Durchführung der Abschiebung nicht unmöglich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>4. Der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 4 des Bescheids) sind nach Maßgabe von § 11, § 75 Nr. 12 AufenthG erfolgt. Rechtliche Mängel bestehen insoweit nicht. Entgegen dem Vortrag des Klägers liegt kein Ermessensfehler vor. Allein der Umstand, dass im Bundesgebiet eine Schwester und zwei Brüder des Klägers leben, rechtfertigt nicht die Festsetzung einer kürzeren Frist. Denn der Kläger hat schon nicht geltend gemacht, dass er auf Lebenshilfe dieser drei Geschwister angewiesen ist. Damit bleibt auch das hilfsweise gestellte Begehren, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf null Monate zu befristen, ohne Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
|
346,516 | arbg-koln-2022-07-21-8-ca-177922 | {
"id": 771,
"name": "Arbeitsgericht Köln",
"slug": "arbg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Arbeitsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 8 Ca 1779/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-09-11T10:01:24 | 2022-10-17T11:10:01 | Urteil | ECLI:DE:ARBGK:2022:0721.8CA1779.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1. Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.</p>
<p>3. Der Streitwert wird festgesetzt auf 5.184.- Euro.</p>
<p>4. Die Berufung wird auch gesondert zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Parteien streiten im wesentlichen über Vergütungsansprüche und tatsächliche Beschäftigung in ihrem bestehenden Arbeitsverhältnis nach Einführung der „einrichtungsbezogenen Impfpflicht“ in § 20a IfSG seit März 2022.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte betreibt – im Verbund der „……………….“ - bundesweit mehrere Senioreneinrichtungen, darunter eine gemäß § 72 SGB XI zugelassene Pflege- und Senioreneinrichtung in …………….</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">In dieser ist der am ……………. geborene Kläger seit dem 01.02.2010 als Alltagsbegleiter und Betreuungskraft Sozialer Dienst beschäftigt. Er erzielt hierfür ein vom Pflegemindestlohn abhängiges Einkommen, das bis Ende März 2022 Euro 2.017,12 brutto pro Monat betrug und aufgrund der Erhöhung des Pflegemindestlohns zum 01.04.2022 seitdem 2.092.- Euro brutto pro Monat beträgt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach Verabschiedung der gesetzlichen Neuregelung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht (§ 20a Infektionsschutzgesetz) schrieb die Beklagte ihre Mitarbeiter – darunter auch den Kläger – mit Schreiben vom 16.12.2021 (Anlage B1, Bl. 59 d. A.) an und forderte Ihre Mitarbeiter hierbei auf, sich gegen das SARS-CoV2-Virus impfen zu lassen, um künftig nicht auf sie verzichten zu müssen. Sie kündigte hierbei an, ungeimpfte Mitarbeiter nach dem 15.03.2022 nicht mehr zu beschäftigen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist nicht gegen das SARS-Cov2-Virus geimpft und hat infolgedessen der Beklagten bis zum 14.03.2022 auch keine Bescheinigung über eine erfolgte Impfung vorgelegt. Auf eine medizinisch begründete Kontraindikation gegen eine Impfung beruft sich der Kläger nicht.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Daraufhin erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 14.03.2022 (Anlage K1, Bl. 6 d. A.) die unbezahlte Freistellung des Klägers ab dem 16.03.2022 aufgrund der Nichtvorlage eines Impfnachweises.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Entsprechend verfuhr die Beklagte bzw. die …………… mit sämtlichen Mitarbeitern, die zu diesem Zeitpunkt keinen Impf- oder Genesenennachweis vorgelegt hatten, diese wurden sämtlich freigestellt.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Kläger war zum Zeitpunkt der Freistellung am 14.03.2022 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Arbeitsunfähigkeit dauerte bis 27.03.2022 an. Die Arbeitsunfähigkeit beruhte jedenfalls auch auf einer Erkrankung am SARS-Cov2-Virus. Ab dem 30.03.2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und bot der Beklagten seine Arbeitsleistung an. Die Beklagte lehnte das Arbeitsangebot in Anbetracht der erklärten Freistellung ab.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Für März 2022 rechnete die Beklagte einen Betrag in Höhe von 976,03 Euro brutto ab und brachte hieraus einen Nettobetrag in Höhe von 818,56 Euro an den Kläger zur Auszahlung.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legte aufgrund seiner Corona-Erkrankung aus März 2022 beim Gesundheitsamt des …………….. ein Genesenenzertifikat vor.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Daraufhin teilte das Gesundheitsamt des ……………… der Beklagten mit Schreiben vom 12.04.2022 (Bl. 64.C d. A.) mit:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"><em>„Ihr Mitarbeiter ……….. ist im Rahmen der Anforderung eines Nachweises der vollständigen Immunisierung gegen das Coronavirus im Sinne des § 22a Absatz 1 oder Absatz 2 IfSG bzw. eines ärztlichen Zeugnisses über das Bestehen einer medizinischen Kontraindikation seiner Vorlagepflicht nachgekommen</em></p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><em>Der Vorgang hat vorerst seine Erledigung gefunden.</em></p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><em>Das Genesenenzertifikat von ……….. läuft am 14.06.2022 ab.</em></p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><em>Ich möchte Sie vorsorglich daran erinnern, dass ……… verpflichtet ist, innerhalb eines Monats nach Ablauf der Gültigkeit einen neuen Nachweis bei Ihnen vorzulegen, sofern die Freistellung wieder aufgehoben wird.“</em></p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">In der Folgezeit wurde der Kläger wiederum für die Beklagte tätig und seit dem Zeitraum der tatsächlichen Beschäftigung auch durch die Beklagte vergütet, d. h. insofern für den Monat April 2022 anteilig.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Seit dem 15.06.2022 ist der Kläger wiederum aufgrund des Ablaufs des Genesenenzertifikats durch die Beklagte unbezahlt freigestellt.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Abrechnung für April 2022 (Bl. 73 d. A.) enthielt den Vermerk: „Umgeimpft gemäß gemeldeter Immunisierung durch Vorgesetzten“.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Einen entsprechenden Hinweis enthielt die Abrechnung für Mai 2022, in dem der Kläger vollständig gearbeitet hat und die Vergütung an den Kläger vollständig ausgezahlt wurde, nicht. Demgegenüber enthält die Abrechnung für Juni 2022, in dem die Vergütung an den Kläger wiederum aufgrund der fehlenden Immunisierung nur gekürzt ausgezahlt wurde, nicht.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 08.04.2022 die vorliegende Klage erhoben. Mit dieser macht er tatsächliche Beschäftigung und einen Vergütungsrückstand in Höhe von 1.000.- Euro brutto für März 2022 geltend. Soweit der Kläger mit der ursprünglichen Klage darüber hinausgehend auch noch die Erteilung eines Zwischenzeugnisses begehrt hat, haben die Parteien insofern im Kammertermin einen Teilvergleich geschlossen, wonach die Beklagte dem Kläger das begehrte Zwischenzeugnis erteilt. Mit Klageerweiterung vom 08.06.2022 (Bl. 70 d. A.) hat der Kläger seine Klage um einen Unterlassungsantrag im Hinblick auf den Hinweis auf den Impfstatus auf der Verdienstabrechnung erweitert.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hält die arbeitgeberseitige unbezahlte Freistellung für rechtswidrig. Er legt die gesetzliche Neuregelung des § 20a Infektionsschutzgesetz dahingehend aus, dass lediglich das Gesundheitsamt zum Ausspruch eines Tätigkeits- und Betretungsverbotes berechtigt sei. Er legt das Gesetz dahingehend aus, dass aus der seiner Ansicht nach unterschiedlichen Regelung für Bestands-Arbeitsverhältnisse in § 20a Abs. 2 IfSG und für neubegründete Arbeitsverhältnisse in § 20a Abs. 3 IfSG folge, dass bei Bestands-Arbeitsverhältnissen der Arbeitgeber verpflichtet sei, zunächst die Entscheidung des Gesundheitsamtes abzuwarten und er den ungeimpften Arbeitnehmer bis dahin weiterbeschäftigen müsse. Eine vorzeitige Freistellung durch den Arbeitgeber sei durch die Gesetzessystematik ausgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der nach Ansicht des Klägers rechtswidrigen Freistellung sei die Beklagte zur Zahlung der vollständigen März-Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges verpflichtet. Jedenfalls bestehe für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit ein Vergütungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hält darüber hinaus den Vermerk des Impfstatus auf der Verdienstabrechnung für datenschutzrechtlich rechtswidrig. Es handele sich insofern um sensible Gesundheitsdaten, die vertraulich zu behandeln seien, und im übrigen um eine unzulässige Stigmatisierung „ungeimpfter“ Mitarbeiter.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt zuletzt,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger die noch offene März-Vergütung in Höhe von 1.000,00 € brutto nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über den Basiszinssatz aus dem Nettobetrag seit dem 01.04.2022 zu zahlen,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">28</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger als Pflegekraft in ihrer Einrichtung in ………. zu den arbeitsvertraglichen Bedingungen zu beschäftigen,</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">30</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">3. die Beklagte hat es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen Ordnungsgeldes bis zu Euro 250.000,-, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Wiederholungsfall Ordnungshaft bis zu 2 Jahren zu unterlassen, den Impfstatus des Klägers mit der Bemerkung „ungeimpft gemäß gemeldeter Immunisierung durch Vorgesetzte" auf Verdienstbescheinigungen des Klägers zu vermerken.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Sie hält ihre Freistellungsanordnung für rechtmäßig. Sie entnimmt der gesetzlichen Regelung in § 20a Abs. 1 Infektionsschutzgesetz ein zwingendes gesetzliches Tätigkeitsverbot, wonach in einer Senioreneinrichtung nach dem 15.03.2022 ohne Vorlage eines Impf- oder Genesenennachweises niemand mehr tätig werden dürfe. Zum Schutze der besonders vulnerablen Personengruppen in einem Seniorenzentrum hält sie es auch zum Zwecke des Gesundheitsschutzes für geboten, keine Mitarbeiter ohne Impf- oder Genesenennachweis mehr tätig werden zu lassen. Sie verweist insofern auf ihr diesbezügliches Hygienekonzept.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Da der Kläger aufgrund des fehlenden Immunisierungsnachweises in einer Senioreneinrichtung der Beklagten nicht einsatzfähig gewesen sei, fehle es an der zur Begründung eines Annahmeverzugs erforderlichen Leistungsfähigkeit des Klägers. Aufgrund des Grundsatzes der Monokausalität bestehe insofern auch kein Entgeltfortzahlungsanspruch im Krankheitsfall. Der Kläger dürfe aufgrund der Erkrankung nicht besser gestellt werden als ohne Erkrankung.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Aufnahme des Impfstatus auf der Verdienstabrechnung sei zu Abrechnungszwecken erforderlich. Eine „Stigmatisierung“ sei damit nicht beabsichtigt. Dies zeige sich auch daran, dass in der Abrechnung für Mai, für die der Impfstatus des Klägers keine Relevanz gehabt hätte, auch kein Hinweis auf den Impfstatus des Klägers enthalten war.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Den Antrag der Klageerweiterung hält die Beklagte im übrigen bereits für unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt und insbesondere die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien und deren Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage war unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Der zulässige Beschäftigungsantrag war unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">1.)</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf tatsächliche Beschäftigung war zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Als Ausfluss des verfassungsrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz) kann ein Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis regelmäßig neben der arbeitsvertraglich vereinbarten Vergütung auch tatsächliche Beschäftigung verlangen (grundlegend: Großer Senat des BAG, Beschluss vom 27.02.198, GS 1/84).</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Insofern sind auf tatsächliche Beschäftigung im bestehenden Arbeitsverhältnis gerichtete Klagen grundsätzlich zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">2.)</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf tatsächliche Beschäftigung war jedoch unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Dies ergibt sich zum einen aus dem seit dem 16.03.2022 für den Kläger aus § 20a Abs. 1 IfSG bestehenden gesetzlichen Tätigkeitsverbot als auch darüber hinausgehend aus dem Ergebnis der hilfsweise vorzunehmenden Interessenabwägung hinsichtlich der arbeitgeberseitigen Freistellungsentscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Zwar hat ein Arbeitnehmer im bestehenden, ungekündigten Arbeitsverhältnis regelmäßig Anspruch auf tatsächliche vertragsgemäße Beschäftigung. Dieser Anspruch besteht jedoch ausnahmsweise nicht, wenn hinsichtlich der geschuldeten Tätigkeit ein gesetzliches Verbot besteht oder wenn sich ein Arbeitgeber bei der vorzunehmenden Interessenabwägung auf ein überwiegendes Interesse an einer Nichtbeschäftigung berufen kann.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Beide Ausnahmekonstellationen waren vorliegend gegeben. Für den streitgegenständlichen Zeitraum bestand ein gesetzliches Verbot aus § 20a Abs. 1 IfSG hinsichtlich der geschuldeten Tätigkeit, darüber hinausgehend überwog auch jedenfalls das Nichtbeschäftigungsinteresse der Beklagten in Anbetracht der gesetzlichen Wertung des § 20a IfSG.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Insofern kam es letztlich gar nicht mehr allein entscheidungserheblich auf die zwischen den Parteien streitige Auslegung der gesetzlichen Neuregelung des § 20a IfSG an, ob sich hieraus ein zwingendes gesetzliches Tätigkeitsverbot für nicht immunisierte Pflegekräfte seit dem 15.03.2022 ergibt. Selbst wenn man mit dem Kläger § 20a IfSG dahingehend auslegt, dass sich hieraus noch kein zwingendes sofortiges Tätigkeitsverbot kraft Gesetzes ergibt, steht § 20a IfSG jedenfalls nicht – anders als der Kläger meint – einer arbeitgeberseitigen Freistellung entgegen. Im Gegenteil ergibt sich jedenfalls aus der gesetzlichen Wertung des § 20a IfSG, dass sich der Arbeitgeber, der bereits unmittelbar nach dem 15.03.2022 keine Mitarbeiter mehr in einer Senioreneinrichtung tätig werden lässt, die keinen Immunitätsnachweis vorgelegt haben, hierfür regelmäßig auf ein gegenüber dem Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers überwiegende Gründe für eine Nichtbeschäftigung berufen kann.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Im einzelnen:</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Nach § 20a Abs. 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) müssen u. a. Personen, die in Krankenhäusern sowie stationären Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen tätig sind, ab dem 15.03.2022 über einen Impf- oder Genesenennachweis nach § 22a Absatz 1 oder Absatz 2 IfSG verfügen. Nach § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG gilt die Verpflichtung aus Satz 1 lediglich nicht „für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV2 geimpft werden können“.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die nachfolgenden Absätze des § 20a IfSG regeln insofern ein Verfahren zur Vorlage des Nachweises.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Nach § 20a Abs. 2 IfSG haben Personen, die in den genannten Einrichtungen tätig sind, bis Ablauf des 15.03.2022 der Einrichtungsleitung einen Impf- oder Genesenennachweis bzw. ein ärztliches Zeugnis einer medizinischen Kontraindikation vorzulegen. Bei fehlendem Nachweis oder Zweifeln an der inhaltlichen Richtigkeit hat die Einrichtungsleitung unverzüglich das Gesundheitsamt zu benachrichtigen (§ 20a Abs. 2 Satz 2 IfSG).</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Nach § 20a Abs. 3 Satz 1 IfSG haben Personen, die in den genannten Einrichtungen „ab dem 16.03.2022 tätig werden sollen“, „vor Beginn ihrer Tätigkeit“ einen entsprechenden Nachweis vorzulegen. § 20a Abs. 3 Satz 2 IfSG bestimmt, dass bei Zweifeln an der inhaltlichen Richtigkeit die Einrichtungsleitung das Gesundheitsamt zu benachrichtigen hat. Alsdann bestimmt § 20a Abs. 3 Satz 4 IfSG ausdrücklich: <em>„Eine Person nach Satz 1, die keinen Nachweis nach Absatz 2 Satz 1 vorlegt, darf nicht in den in Absatz 1 Satz 1 genannten Einrichtungen oder Unternehmen beschäftigt tätig werden“.</em> Alsdann sieht § 20a Abs. 3 Satz 5 vor, dass die zuständige Behörde Ausnahmen zulassen kann.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">§ 20a Abs. 5 IfSG regelt alsdann das Verfahren vor den Gesundheitsämtern. Satz 1 verpflichtet die in Abs. 1 Satz 1 genannten Personen zur Vorlage des Nachweises gegenüber dem Gesundheitsamt. Satz 2 berechtigt das Gesundheitsamt zur Vorlage einer ärztlichen Untersuchung, u. a. zur Frage der medizinischen Kontraindikation.§ 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG bestimmt alsdann: <em>„Das Gesundheitsamt kann einer Person, die trotz Anforderung nach Satz 1 keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt oder der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach Satz 2 nicht Folge leistet, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in Abs. 1 Satz 1 genannten Einrichtung (…) betritt oder in einer solchen Einrichtung oder einem solchen Unternehmen tätig wird“.</em> Ein Verstoß gegen ein ausgesprochenes Betretungs- bzw. Tätigkeitsverbot nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ist bußgeldbewährt.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die arbeitsrechtlichen Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelung zu § 20a IfSG sind in den ersten hierzu veröffentlichten Stellungnahmen im Schrifttum sowie der ersten hierzu veröffentlichten Rechtsprechung umstritten.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Teilweise wird – entsprechend der Rechtsauffassung des hiesigen Klägers – vertreten, dass sich aus § 20a Abs. 3 IfSG nur für ab dem 16.03.2022 neu eingestellte Mitarbeiter ein unmittelbares gesetzliches Tätigkeitsverbot ergebe und für die bereits vor diesem Zeitpunkt eingestellten unimmunisierten Mitarbeiter der Arbeitgeber den Ausspruch eines behördlichen Tätigkeits- und Betretungsverbots nach § 20a Abs. 5 IfSG abzuwarten habe (z. B. Arbeitsgericht Bonn, Urteil vom 18.05.2022, 2 Ca 2082/21; Chama/Noll, MDR 2022, S. 406 ff.; Yannik Beden, NZA 2022, S. 611 ff.).</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Andererseits wird teilweise – insbesondere unter Bezugnahme auf den Wortlaut des§ 20a Abs. 1 IfSG - ein unmittelbares gesetzliches Tätigkeitsverbot für nicht immunisierte Pflegekräfte auch hinsichtlich bereits vor dem 16.03.2022 beschäftigter Arbeitnehmer ab diesem Zeitpunkt angenommen (so u. a. das Sächsische Landesarbeitsgericht im beklagtenseitig zitierten Urteil vom 10.05.2022, 3 SaGa 3/22; ebenso Oberthür, ArbRB 2022, S. 80 ff.; Weigert, NZA 2022, S. 166 ff.; Bonitz/Schleiff, NZA 2022, S. 237 f.).</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">c)</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Zutreffend besteht nach der von der erkennenden Kammer vorgenommenen Auslegung der gesetzlichen Neuregelung des § 20a IfSG für den Kläger seit dem 16.03.2022 bereits unmittelbar aus § 20a Abs. 1 IfSG ein gesetzliches Tätigkeitsverbot für seine vertraglich geschuldete Tätigkeit bei der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">aa)</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Der Wortlaut des § 20a Abs. 1 IfSG ist insofern eindeutig (Personen, die in einer genannten Einrichtung „tätig sind“, „müssen“ über einen Nachweis verfügen; einzige gesetzlich vorgesehene Ausnahme ist nach § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG die medizinische Kontraindikation). Eine dem Wortlaut entgegenstehende Auslegung erscheint kaum möglich, jedenfalls in den Fällen, in denen sich ein Arbeitnehmer – wie vorliegend – unstreitig nicht auf eine medizinische Kontraindikation i. S. § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG beruft. Bei einer Problematik einer medizinischen Kontraindikation mag eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein. Hier dürfte es im Regelfall dem Arbeitgeber kaum möglich sein, medizinische – ggf. komplexe – Sachverhalte in eigener Zuständigkeit und Verantwortung aufzuklären. Nur das Gesundheitsamt und nicht der Arbeitgeber kann eine diesbezügliche medizinische Untersuchung anordnen. Bei einer derartigen Problematik einer medizinischen Kontraindikation macht es Sinn, zunächst das Ergebnis der durch das Gesundheitsamt vorzunehmenden medizinischen Prüfung abzuwarten.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">In einem einfach gelagerten Sachverhalt, wie dem vorliegenden, in dem unzweifelhaft keine medizinische Kontraindikation gegen eine Impfung besteht und der Arbeitnehmer unzweifelhaft über keinen gültigen Immunisierungsnachweis verfügt, ist jedoch nicht ersichtlich, weshalb ein Arbeitgeber entgegen dem Wortlaut des § 20a Abs. 1 IfSG verpflichtet sein sollte, die nicht immunisierte Pflegekraft dennoch weiterhin in einer Einrichtung zu beschäftigen, in der jedenfalls seit dem 16.03.2022 eine einrichtungsbezogene gesetzliche Impfpflicht besteht.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">bb)</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Zu einer derartigen anderweitigen Auslegung besteht weder aus der Entstehungsgeschichte noch aus der Systematik noch aus dem Zweck der gesetzlichen Regelung des § 20a IfSG Anlass.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">In der Entstehungsgeschichte war stets von einer „einrichtungsbezogenen Impfpflicht ab dem 15.03.2022“ die Rede. Dieser ausdrücklich betonte Stichtag „15.03.2022“ hätte jedoch praktisch keine nennenswerte Relevanz, wenn man der gegenteiligen Rechtsansicht folgen würde. Denn müsste erst ein behördliches Betretungs- bzw. Tätigkeitsverbot nach § 20a Abs. 5 IfSG abgewartet wäre, wäre gerade in Anbetracht der allgemeinkundigen erheblichen Belastung der Gesundheitsämter in der aktuellen Pandemiesituation der Erlass eines solchen regelmäßig nicht zeitnah zu erwarten. Eine praktisch relevante „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ würde sich mithin nicht bereits ab dem 15.03.2022, sondern regelmäßig erst Monate später ergeben.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">In der beklagtenseitig zitierten Gesetzesbegründung (BT-Drs. 20/188, S. 40) wird auch ausdrücklich benannt, dass aus § 20a IfSG eine „gesetzliche Tätigkeitsvoraussetzung und damit eine rechtliche Pflicht aus dem Arbeitsrecht“ folgen soll.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Auch die systematische Auslegung der Vorschrift spricht nicht für ein anderweitiges Ergebnis. Dass zwischen zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Rechtsfolgen regelmäßig zu unterscheiden ist, entspricht einem anerkannten Verständnis der geltenden Rechtsordnung. Insofern erscheint naheliegend, die Regelung § 20a Abs. 5 IfSG dahingehend zu verstehen, dass es sich hierbei um eine öffentlich-rechtliche Norm handelt, welche das Verhältnis zwischen der Behörde (Gesundheitsamt) und dem Bürger (dem der einrichtungsbezogenen Impfpflicht unterfallenden Mitarbeiter) regelt. Dem behördlichen Ausspruch eines Betretungs- bzw. Tätigkeitsverbots nach § 20aAbs. 5 Satz 4 IfSG kommen insofern öffentlich-rechtliche Konsequenzen zu. Das Betreten einer Einrichtung entgegen einem behördlichen Betretungsverbot ist – erst – ab Ausspruch des behördlichen Betretungsverbots bußgeldbewährt. Dass sich aus dem gesetzlich in Abs. 5 vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Prüfungsprozess jedoch im Umkehrschluss eine „Sperrwirkung“ für ein früheres arbeitgeberseitiges Tätigkeits- bzw. Betretungsverbot ergeben soll, wäre systemwidrig.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Auch in anderen Bereichen ist ein Auseinanderfallen zwischen öffentlich-rechtlichen Konsequenzen und zivilrechtlichen / arbeitsrechtlichen Konsequenzen üblich. Wenn beispielsweise ein Speditionsunternehmer auf seinem Betriebshof einen bei ihm beschäftigten Fahrer sieht, der in einem erkennbar fahruntüchtigen Zustand das Führerhaus eines Lkw betritt und versucht loszufahren, ist der Speditionsunternehmer selbstverständlich zivilrechtlich und arbeitsrechtlich berechtigt, dies dem Fahrer zu untersagen, ohne dass ihn der Fahrer darauf verweisen könnte, dass zunächst der Ausspruch eines öffentlich-rechtlichen Fahrverbots auszusprechen sei.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Auch in der Systematik des § 20a IfSG ist kein Ansatzpunkt ersichtlich, warum ein Arbeitgeber verpflichtet sein sollte, einen nach § 20a Abs. 1 IfSG erkennbar rechtswidrigen Zustand noch für einen Übergangszeitraum hinnehmen zu müssen, bis eine behördliche Entscheidung getroffen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Insofern ergibt sich entgegen der Rechtsansicht des Klägers auch kein systematischer Ansatz aus einer Gegenüberstellung der Regelungen in Absatz 2 und Absatz 3 des§ 20a IfSG. Dass eine der ausdrücklichen Regelung in § 20a Abs. 3 Satz 4 IfSG entsprechende Regelung in Absatz 2 nicht enthalten ist, lässt nicht den Umkehrschluss zu, dass es für zum 15.03.2022 bereits beschäftigte Mitarbeiter kein gesetzliches Tätigkeitsverbot gebe. Das Gesetz mag zu diesem Punkt unklar formuliert sein. In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts des § 20 Abs. 1 Satz 1 IfSG als allgemeiner Regelung, wonach – generell – Personen, die in Einrichtungen mit Kontakt zu vulnerablen Personengruppen, „tätig sind“, über einen Immunisierungsnachweis „verfügen müssen“, erscheint ohnehin bereits ein Verständnis auch des § 20a Abs. 3 Satz 1 IfSG dahingehend naheliegend, dass zu den Personen, die „ab dem 16.03.2022 tätig werden sollen“, nicht nur Neueinstellungen zählen, sondern auch bereits zuvor in einer entsprechenden Einrichtung beschäftigte Personen, die ebenso „ab dem 16.03.2022 tätig werden sollen“. Schließlich geht es bei der Regelung in § 20a IfSG um die Frage der tatsächlichen „Tätigkeit“ und nicht die Frage der rechtlichen Begründung eines Arbeitsverhältnisses. Nur die tatsächliche Tätigkeit in Kontakt zu vulnerablen Personengruppen kann sich ggf. gesundheitlich nachteilig auf vulnerable Personen auswirken, aber nicht die rechtliche Begründung eines Arbeitsverhältnisses.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Auch aus der teleologischen (zweckbezogenen) Auslegung des § 20a IfSG ergibt sich nichts anderes. Ziel des Gesetzes war die Förderung von zeitnahen Impfungen und damit die zeitnahe Erhöhung der Impfquote im Bereich des Pflegepersonals, das mit vulnerablen Personen in Kontakt tritt, um so diese möglichst zeitnah besser zu schützen vor einer SARS-Cov2-Infektion (vgl. z. B. BT-Drs. 20/188, S. 4). Der gesetzliche Stichtag „15.03.2022“ ist insofern bewusst gewählt worden als das Datum, bis zu dem es nach Verabschiedung des Gesetzes den betroffenen bislang ungeimpften Personen unter Berücksichtigung der vorhandenen Impfkapazitäten zumutbar möglich sein würde, die gesetzlich geforderte Immunisierung zu verlangen. Wenn man nunmehr – der klägerischen Rechtsauffassung folgend – eine praktische Relevanz der einrichtungsbezogenen Impfpflicht erst zu einem deutlich späteren Zeitpunkt annehmen würde, nämlich dem vom Gesetzgeber gar nicht steuerbaren, sondern von der Belastungssituation der Gesundheitsämter abhängigen Zeitpunkt des behördlichen Erlasses eines Betretungs- bzw. Tätigkeitsverbots nach § 20a Abs. 5 IfSG, könnte nicht mehr ernsthaft von einer „einrichtungsbezogenen Impfpflicht“ bereits ab dem „15.03.2022“ gesprochen werden. Der Zweck des Gesetzes würde verfehlt.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">d)</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Darüber hinausgehend ergäbe sich vorliegend selbst dann, wenn man der klägerseitig vertretenen abweichenden Auslegung des § 20a IfSG folgen würde, vorliegend kein Beschäftigungsanspruch des Klägers.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Denn dann wäre immer noch eine Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers und dem Nichtbeschäftigungsinteresse des Arbeitgebers.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Auch wenn im bestehenden und ungekündigten Arbeitsverhältnis dem Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers regelmäßig hohes Gewicht zukommt, kann sich die Beklagte – wenn man entsprechend der Rechtsansicht des Klägers kein unmittelbares gesetzliches Tätigkeitsverbot aus § 20a Abs. 1 IfSG annimmt – hinsichtlich seines Nichtbeschäftigungsinteresses einer nicht immunisierten Pflegekraft ab dem 16.03.2022 jedenfalls auf die gesetzliche Wertung des § 20a IfSG berufen. Hieraus ergibt sich zweifelsfrei, dass nicht immunisierte Mitarbeiter, die sich auch nicht auf eine medizinische Kontraindikation berufen können, in Einrichtungen mit Kontakt zu vulnerablen Personen nach dem 15.03.2022 nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht mehr tätig werden sollen.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat dies jedenfalls vorliegend ihr eigenes „Hygienekonzept“ dahingehend umgesetzt, dass sie nicht nur individuell dem hiesigen Kläger, sondern sämtlichen nicht immunisierten Mitarbeitern im Unternehmensverbund eine Tätigkeit nach dem 15.03.2022 untersagt.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Eine derartige, auf der gesetzlichen Wertung des § 20a IfSG beruhende arbeitgeberseitige unternehmenseinheitliche Regelung ist jedenfalls nicht sachwidrig und konnte rechtmäßig getroffen werden.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Es steht einem Arbeitgeber grundsätzlich frei, im Rahmen der Pandemiebekämpfung auch über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehende eigene Regelung zu treffen, soweit sich diese bei der vorzunehmenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligter als verhältnismäßig und interessengerecht erweisen (LAG München, Urteil vom 26.10.2021, 9 Sa 312/21, inzwischen bestätigt durch BAG, Urteil vom 01.06.2022, 5 AZR 28/22).</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend stellt sich vorliegend die unternehmenseinheitliche Regelung der Beklagten, in ihren - § 20a IfSG unterfallenden – Einrichtungen ab dem 16.03.2022 nur noch immunisiertes Personal tätig werden zu lassen, als verhältnismäßig und interessengerecht dar. Denn sie entspricht gerade der Wertung des Gesetzgebers mit der gesetzlichen Neuregelung zu § 20a IfSG. Auch das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass die der gesetzlichen Bewertung des § 20a IfSG zugrunde liegenden Abwägungen des Gesetzgebers verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind (BVerfG, Beschluss vom 27.04.2022, 1 BvR 2649/21; zuvor bereits im Eilverfahren BVerfG, Beschluss vom 10.02.2022, 1 BvR 2649/21).</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Auch die Interessen der in den Einrichtungen der Beklagten zu betreuenden vulnerablen Personengruppen sprechen unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes für ein Tätigkeitsverbot gegenüber nicht immunisiertem Personal, jedenfalls sofern hierdurch keine Personalengpässe hinsichtlich der Versorgung der Bewohner entstehen, was im vorliegenden Sachverhalt jedoch mangels diesbezüglichem Vortrag der Parteien hierzu jedoch offenbar nicht der Fall ist.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Entgegenstehende überwiegende Interessen des beschäftigungswilligen Arbeitnehmers bestehen nicht. Dieser hat es alleinig selbst in der Hand, durch Vornahme der gesetzlich und vorliegend auch arbeitgeberseitig geforderten Impfung selbst wiederum die erforderlichen Voraussetzungen für seine Beschäftigung zu schaffen.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Auch der zulässige Zahlungsantrag zu 2) war unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat für den Zeitraum, für den er vorliegend Vergütungsansprüche geltend macht, keine Arbeitsleistung erbracht. Ein Vergütungsanspruch aus § 611a BGB für geleistete Arbeit scheidet mithin ersichtlich aus.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Auch ein Tatbestand, aufgrund dessen, die Beklagte vorliegend „Lohn ohne Arbeit“ schulden sollte, ist vorliegend nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">1.)</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger vorliegend nicht mehr arbeitsunfähig war, liegen die Voraussetzungen für einen Anspruch aus Annahmeverzug gemäß § 615 BGB nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Annahmeverzug setzt u.a. Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit des Arbeitnehmers für die konkret arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit voraus. Hieran fehlt es vorliegend. Aufgrund der fehlenden Immunisierung war der Kläger vorliegend – auch nach Beendigung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit – nicht leistungsfähigi. S. des § 615 BGB für die geschuldete Tätigkeit.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit des Klägers ist unzweifelhaft ausschließlich eine solche in einer Senioreneinrichtung. Diese konnte der Klägers aufgrund seines fehlenden Immunisierungsstatus nach vorstehenden Ausführungen aufgrund eines gesetzlichen Tätigkeitsverbots und jedenfalls aufgrund des nicht zu beanstandenden Konzepts der Beklagten, nach dem 15.03.2022 entsprechend der gesetzlichen Wertung des § 20a IfSG in ihren Einrichtungen keine ungeimpften Mitarbeiter mehr zu beschäftigen, nicht mehr verrichten.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Insofern schlägt sich die Berechtigung der Freistellung auch auf den Vergütungsanspruch durch. Es würde der Intention des Gesetzgebers vollkommen widersprechen, in der vorliegenden Konstellation einen Vergütungsanspruch zuzusprechen. Mit Schaffung des § 20a IfSG wollte der Gesetzgeber unzweifelhaft einen Anreiz setzen, sich impfen zu lassen. Wenn nun aber eine ungeimpfte Pflegekraft zwar einerseits die Arbeit in einer Pflege- bzw. Senioreneinrichtung nicht mehr verrichten kann, andererseits jedoch auch ohne Arbeitsleistung weiterhin das gleiche Entgelt erhalten würde, würde gerade der gegenteilige Anreiz gesetzt. Gerade der Umstand, nicht geimpft zu sein, würde dann einen auch ansonsten bei geleisteter Arbeit entsprechenden Vergütungsanspruch begründen. Damit wäre ein Anreiz gesetzt, sich gerade nicht impfen zu lassen, was die gesetzliche Wertung des § 20a IfSG vollkommen konterkarieren würde.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">2.)</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Auch für den Zeitraum, in dem der Kläger – unstreitig – nach dem 15.03.2022 noch arbeitsunfähig erkrankt war, besteht kein Vergütungsanspruch.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Zwar hat ein Arbeitnehmer, der arbeitsunfähig erkrankt ist, grundsätzlich für den Zeitraum bis zu sechs Wochen einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gegen den Arbeitgeber aus § 3 EFZG.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Ein derartiger Anspruch setzt jedoch voraus, dass die Arbeitsunfähigkeit die einzige Ursache des Arbeitsausfalls war (sogenannter „Grundsatz der Monokausalität“, ständige Rechtsprechung, z. B. BAG, Urteil vom 28.01.2004, 5 AZR 58/03). Nur der kausal auf die Arbeitsunfähigkeit zurückzuführende Lohnausfall ist nach dem im Entgeltfortzahlungsrecht geltenden Lohnausfallprinzip zu ersetzen.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Nach vorstehenden Ausführungen konnte der Kläger nach dem 15.03.2022 bereits keinen Vergütungsanspruch haben, weil er aufgrund seines fehlenden Impfstatus durch die Beklagte berechtigt unbezahlt freigestellt war.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Dass der Kläger zusätzlich zunächst auch noch arbeitsunfähig war, kann keinen Vergütungsanspruch begründen. Denn die Arbeitsunfähigkeit war gerade nicht die einzige Ursache des Lohnausfalls. Es fehlt an der erforderlichen Monokausalität. Der Kläger kann aufgrund des zusätzlichen Aspektes der Arbeitsunfähigkeit nicht besser gestellt werden als in der Situation ohne die Arbeitsunfähigkeit, in der er ebenfalls keine Vergütung erhalten hätte.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Der Unterlassungsantrag zu 3) aus der Klageerweiterung war zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">1.)</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Der Unterlassungsantrag war entgegen der Rechtsansicht der Beklagten zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beklagte den Antrag für unzulässig hält und hierbei darauf verweist, dass der Festsetzung eines Ordnungsgeldes eine vorherige Androhung des Ordnungsgeldes vorzugehen habe, übersieht die Beklagte, dass die die Klägerseite mit der gewünschten Titulierung im Erkenntnisverfahren gerade diese Androhung erreichen möchte und eben noch nicht die – zutreffend erst einem etwaigen späteren Zwangsvollstreckungsverfahren vorbehaltene – Festsetzung eines Ordnungsgeldes bzw. sonstiger Ordnungs- bzw. Zwangsmittel.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">2.)</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Der Unterlassungsantrag ist jedoch unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen Unterlassungsanspruch dahingehend, dass die Beklagte generell und ausnahmslos verpflichtet wäre, einen Vermerk des Impfstatus des Klägers auf einer Verdienstabrechnung zu unterlassen.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls dann, wenn der Impfstatus des Klägers abrechnungsrelevant ist, ist die Beklagte auch berechtigt, diesen Impfstatus auf einer Verdienstabrechnung betreffend den Kläger zu vermerken. Entgegenstehende überwiegende schützenswerte Interesse des Klägers können nicht festgestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Nach § 26 Abs. 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) dürfen personenbezogene Daten von Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses verarbeitet werden, wenn dies u. a. für die Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist. Insofern bestimmt § 26 Abs. 3 BDSG, dass abweichend von Artikel 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 („EU-Datenschutzgrundverordnung“) die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Datenschutzgrundverordnung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses zulässig ist, wenn sie u. a. zur Ausübung von Rechten oder zur Erfüllung rechtlicher Pflichten aus dem Arbeitsrecht erforderlich ist und kein Grund zu der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person an dem Ausschluss der Verarbeitung überwiegt.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend kann dahinstehen, ob es sich in Anbetracht der ausdrücklichen gesetzlichen Wertung in § 20a IfSG, nach der im Bereich besonders gefährdeter Einrichtungen wie Senioreneinrichtungen tätige Personen zur Offenlegung ihres Impfstatus zwingend gesetzlich verpflichtet sind, bei dem „Impfstatus“ einer in diesem Bereich tätigen Person überhaupt noch um besonders sensible und besonders vertrauliche Gesundheitsdaten handelt.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Denn selbst wenn man mit dem Kläger davon ausgeht, dass es sich insofern beim Impfstatus um besonders schützenswerte Gesundheitsdaten handelt, liegen jedenfalls die erweiterten Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 BDSG vor. Die Beklagte kann sich insofern darauf berufen, dass die Datenverarbeitung zur Ausübung von Rechten als auch vorliegend sogar kummulativ zur Erfüllung rechtlicher Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis erforderlich ist; es besteht auch darüber hinausgehend kein Grund zur Annahme, dass ein schutzwürdiges Interesse des Klägers an dem Ausschluss der Datenverarbeitung überwiegt.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte durfte die Erwähnung des Impfstatus des Klägers jedenfalls auf den Verdienstabrechnungen für diejenigen Monate, in denen sich der Impfstatus auf den Vergütungsanspruch des Klägers auswirkt, als zur Ausübung von Rechten aus dem Arbeitsrecht erforderlich ansehen.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Denn nach vorstehenden Auswirkungen entfällt aufgrund der fehlenden Immunisierung des Klägers dessen Vergütungsanspruch für die Zeiten der Nichtbeschäftigung, in denen er keine Immunisierung nachweisen kann. Die Frage der Immunisierung ist mithin unmittelbar vergütungsrelevant. Vergütungsrelevante Aspekte dürfen auch auf einer Entgeltabrechnung aufgeführt werden.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Auch soweit die Entgeltabrechnung bei der Beklagten über einen externen Dienstleister durchgeführt wird, stellt es insofern für die Beklagte kein milderes zumutbares Mittel dar, den Impfstatus nicht auf der Verdienstbescheinigung, sondern lediglichz. B. in der Personalakte zu verzeichnen. Denn gerade wenn insofern eine Personentrennung besteht, zwischen Personalabteilung und Abrechnungsstelle, besteht für die Beklagte das Risiko einer versehentlichen Gehaltsüberzahlung, wenn die Abrechnungsstelle nicht über sämtliche für die Abrechnung relevanten Informationen verfügt.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerseite die Rechtsauffassung vertritt, aus dem Infektionsschutzgesetz ergebe sich lediglich ein Fragerecht hinsichtlich des Impfstatus, jedoch keine Befugnis zur Datenverarbeitung, erscheint dies fernliegend. Aus dem Fragerecht – und vorliegend sogar der gesetzlichen Fragepflicht – hinsichtlich des Impfstatus folgt denklogisch auch eine Befugnis, das Ergebnis dieser Frage aufzuzeichnen und insofern Daten zu verarbeiten. Gerade bei größeren Unternehmen wie dem Unternehmensverbund der Beklagten, in dem nach den Erörterungen im Kammertermin über 20.000 Arbeitnehmer in Senioreneinrichtungen beschäftigt werden, ist es dem einzelnen Mitarbeiter der Personalabteilung kaum zuzumuten, dass Ergebnis der jeweiligen Fragen nach dem Impfstatus „auswendig im Kopf zu merken“, ohne diesbezüglich Aufzeichnungen zu machen, von etwaigen Vertretungsfällen aufgrund Ausfalls des konkret fragenden Mitarbeiters der Personalabteilung ganz abgesehen. Der Ansatz, es bestünde zwar eine gesetzliche Fragepflicht, aber keine rechtliche Möglichkeit, das Ergebnis der Frage aufzuzeichnen, ist mithin ersichtlich unzutreffend.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Es besteht auch kein Grund zur Annahme, dass ein schutzwürdiges Interesse des Klägers an dem Ausschluss der Datenverarbeitung überwiegt.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Insofern ist zunächst festzuhalten, dass aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Wertung des § 20a IfSG es sich für einen in einer Senioreneinrichtung beschäftigten Mitarbeiter bei seinem Impfstatus gerade nicht um einen besonders vertraulichen, sondern im Gegenteil um einen offenbarungspflichtigen Umstand handelt.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Besonders schützenswerte Interessen des Klägers an einer Geheimhaltung sind bei der Interessenabwägung nicht ersichtlich. Es handelt sich bei einem Impfstatus auch im Kern nicht um einen gesundheitlichen Aspekt. Es ist nicht einerseits „krank“, wer ungeimpft ist und andererseits „gesund“, wer geimpft ist, sondern die Impfung dient lediglich der Vorbeugung vor einer etwaigen späteren eigenen Erkrankung bzw. einer in diesem Zusammenhang möglichen Ansteckung weiterer Personen. Erst wenn es später – trotz oder infolge fehlender Impfung – zum Ausbruch einer Erkrankung kommt, handelt es sich hierbei um einen gesundheitlichen Aspekt, der ggf. einer verstärkten Vertraulichkeit bedarf.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass eine Verdienstabrechnung grds. kein besonders „öffentlichkeitswirksames“ Kommunikationsmittel ist, sondern der Kreis derjenigen, die Kenntnis von einer solchen Verdienstabrechnung erhalten, im Regelfall auf Arbeitgeber (unter Einschluss der Abrechnungsstelle) und Arbeitnehmer begrenzt bleibt, sofern nicht der Arbeitnehmer von sich aus Dritten die Abrechnung vorlegt. Eine Verdienstabrechnung ist keine „Litfaß-Säule“ o. ä. Wenn der Arbeitgeber „öffentlichkeitswirksamere“ Mittel zur Bekanntgabe des Impfstatus gewählt hätte, etwa einem Aushang am „Schwarzen Brett“ hinsichtlich der Namen der ungeimpften Mitarbeiter, wäre insofern sicherlich die Frage der Erforderlichkeit einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die bloße Aufnahme des Impfstatus auf einer Verdienstabrechnung – vorliegend auch lediglich auf den Abrechnungen für April und Juni, für die der Impfstatus abrechnungsrelevant war und gerade nicht auf der Abrechnung für Mai, für die der Impfstatus des Klägers aus Sicht der Beklagten nicht relevant war – überschreitet die Schwelle des Erforderlichen i. S. des § 26 BDSG noch nicht. Die klägerseitig behauptete Gefahr einer „Stigmatisierung“ kann durch das Gericht nicht gesehen werden.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks"><strong>IV.</strong></p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. § 46 Abs. 2 ArbGG. Hiernach hatte der Kläger als unterlegene Partei des Rechtsstreits die Kosten zu tragen.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Der gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzende Streitwert wurde auf den bezifferten Wert des Zahlungsantrags sowie darüber hinausgehend jeweils ein Bruttomonatsgehalt für den Beschäftigungsantrag und für den Unterlassungsantrag festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die – aufgrund der Beschwerdesumme ohnehin zulässige - Berufung wurde gemäߧ 64 Abs. 3 Ziffer 1 ArbGG i. V. m. § 64 Abs. 3 a ArbGG wegen grundsätzlicher Bedeutung auch gesondert zugelassen.</p>
|
346,450 | olgham-2022-07-21-4-rvs-8822 | {
"id": 821,
"name": "Oberlandesgericht Hamm",
"slug": "olgham",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 4 RVs 88/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-09-07T10:01:23 | 2022-10-17T11:09:50 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0721.4RVS88.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.</p>
<p>Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Strafrichter zuständige Abteilung des Amtsgerichts Rheine zurückverwiesen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe</span>:</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht Rheine hat gegen den Angeklagten mit Urteil vom 29. März 2022 wegen Betruges eine Freiheitsstrafe von drei Monaten verhängt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe hat es zur Bewährung ausgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zum Tatgeschehen hat das Amtsgericht dabei folgende Feststellungen getroffen:</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">„Der Angeklagte bezog in der Zeit vom 12.04.2021 bis 30.04.2021 zu Unrecht Arbeitslosenunterstützung in Höhe von 1.082,37 Euro, weil er es pflichtwidrig und vorsätzlich unterließ, der Arbeitsagentur A seine Arbeitsaufnahme am 12.04.2021 bei der Firma B GmbH anzuzeigen.“</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 30. März 2022 zunächst das Rechtsmittel der Berufung eingelegt. Sein Rechtsmittel hat er mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers vom 24. Mai 2022 dahingehend geändert, dass er nunmehr Revision gegen das Urteil des Amtsgerichts einlegt. Diese hat der Verteidiger des Angeklagten zugleich unter näheren Ausführungen mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, wie vom Senat erkannt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die nach §§ 333, 335 StPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und auch begründete Sprungrevision des Angeklagten ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die auf die erhobene Sachrüge hin vorzunehmende Überprüfung des Urteils führt zu seiner Aufhebung, da die Feststellungen des Amtsgerichts den Schuldspruch wegen Betruges nicht tragen. Die Feststellungen des Amtsgerichts sind insoweit lückenhaft.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Wird einem Angeklagten vorgeworfen, staatliche Sozialleistungen betrügerisch erlangt zu haben, müssen die tatrichterlichen Entscheidungsgründe in nachvollziehbarer Weise zu erkennen geben, dass und inwieweit auf die angeblich „überzahlten“ Beträge nach den sozialhilferechtlichen Bestimmungen tatsächlich kein Anspruch bestand. Im Rahmen der getroffenen Feststellungen darf sich das erkennende Gericht dabei nicht mit dem bloßen Verweis auf eine behördliche Schadensaufstellung begnügen. Eine Verurteilung nach § 263 StGB wegen betrügerisch erlangter öffentlicher Leistungen setzt regelmäßig voraus, dass der Tatrichter selbst nach den Grundsätzen der für die Leistungsbewilligung geltenden Vorschriften geprüft hat, ob und inwieweit tatsächlich kein Anspruch auf die beantragten Leistungen bestand (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 11. Mai 2021, 5 RVS 25/21, Beschluss vom 17. August 2015, 5 RVs 65/15, Beschluss vom 15. Februar 2011, 5 RVs 2/11, Beschluss vom 16. Mai 2006 in 3 Ss 7/06, Beschluss vom 28. Juni 2005, StV 2005, 612; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. November 2000, StV 2001, 354, Beschluss vom 12. Juli 1991, StV 1991, 520; Kammergericht Berlin, Urteil vom 18. Februar 2013, 1 Ss 281/12 (341/12); Fischer, StGB, 69. Aufl., § 263, Rdnr. 141).</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend sind detaillierte Ausführungen dazu erforderlich, wie sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten zum jeweiligen Tatzeitpunkt darstellten und in welcher Höhe nach den gesetzlichen Bestimmungen dann jeweils ein Anspruch auf öffentliche Leistungen bestand bzw. eine Überzahlung öffentlicher Leistungen erfolgte. Insoweit ist seitens des erkennenden Gerichts selbst eine – ggf. auch ins Einzelne gehende – Berechnung der dem Angeklagten zustehenden öffentlichen Leistungen notwendig (vgl. nur OLG Hamm, Beschluss vom 11. Mai 2021, 5 RVs 25/21).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen werden die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils ersichtlich nicht gerecht. Das Amtsgericht hat lediglich pauschal festgestellt, dass der Angeklagte zu Unrecht in der Zeit vom 12. bis zum 30. April 2021 Arbeitslosenunterstützung in Höhe von 1.082,37 Euro erhalten hat. Weitere Einzelheiten, insbesondere die Berechnung des überzahlten Betrages, werden nicht mitgeteilt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Aufgrund des aufgezeigten Mangels ist das angefochtene Urteil nach § 349 Abs. 4 StPO insgesamt aufzuheben. Die Sache ist an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Rheine – auch zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels – nach § 354 Abs. 2 StPO zurückzuverweisen.</p>
|
346,442 | vg-hannover-2022-07-21-2-a-380821 | {
"id": 615,
"name": "Verwaltungsgericht Hannover",
"slug": "vg-hannover",
"city": 325,
"state": 11,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 2 A 3808/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-09-07T10:01:07 | 2022-10-17T11:09:48 | Urteil | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Klage wird abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrags leistet.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin begehrt die Zahlung weiterer Beihilfe für Hygienemaßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin ist beihilfeberechtigt mit einem Bemessungssatz von 50 Prozent. Ihr wurden durch zwei ärztliche Verordnungen vom 19. November 2020 jeweils sechs Mal Krankengymnastik verordnet. Sie nahm daraufhin die Leistungen einer Heilpraktikerin der Physiotherapie zwölf Mal in Anspruch. Mit Schreiben vom 8. Januar 2021 wurde der Klägerin „12 x Desinfektionspauschale“ zu jeweils 1,50 EUR, mithin ein Gesamtbetrag in Höhe von 18,00 EUR berechnet. Mit Beihilfebescheid vom 1. März 2021 setzte der Beklagte den beihilfefähigen Betrag auf 3,00 EUR fest und erstattete 1,50 EUR. Er verwies hierzu auf § 2 Abs. 7 COVID-19-Versorgungsstrukturen-Schutzverordnung (COVID-19-VSt-SchutzV) und führte aus, dass eine Abrechnung der Hygienepauschale pro Behandlungseinheit nicht zulässig sei. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. April 2021 zurückwies. Zur Begründung führte er aus, Aufwendungen für die Hygienepauschale seien nur einmal je Verordnung beihilfefähig. Hier lägen zwei Verordnungen vor, sodass insgesamt 3,00 EUR erstattungsfähig seien. Dass der Hygieneaufwand bei jeder Therapiestunde erneut erforderlich und erbracht worden sei, sei für die beihilferechtliche Beurteilung nach der Niedersächsischen Beihilfeverordnung (NBhVO) ohne Belang. Maßgeblich sei ausschließlich § 2 Abs. 7 COVID-19-VSt-SchutzV.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin hat am 19. Mai 2021 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, das Bundesministerium für Gesundheit habe in der Verordnung zur pauschalen Abgeltung erhöhter Kosten für Hygieneaufwendungen im Heilmittelbereich (Hygienepauschaleverordnung - HygPV) verfügt, dass die Leistungserbringer für jede in einem bestimmten Zeitraum abgerechnete Heilmittelverordnung einen zusätzlichen Betrag in Höhe von 1,50 EUR gegenüber den Krankenkassen geltend machen könnten. Die in Rede stehende Verordnung habe nach dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit das Ziel, Mehrkosten für Hygienemittel auszugleichen. Es gehe um eine nachhaltige Entwicklung im Hinblick auf die Vermeidung von Gefahren und Risiken für die menschliche Gesundheit. Diese Zielsetzung als Basis und die Tatsache, dass eine Heilmittelverordnung auf einem einheitlich geltenden speziellen Verordnungsvordruck verfügt sei, ließen den Schluss zu, dass das physisch vorliegende Papier inhaltlich jeweils sechs Mal eine krankengymnastische Behandlung verordne. Ärztlicherseits müsse jede Anwendung verordnet sein, da andernfalls keine Erstattung erfolgen würde. Es würde dem Ziel des Referentenentwurfs und damit dem Inhalt der Verordnung zur pauschalen Abgeltung erhöhter Kosten für Hygieneaufwendungen zuwiderlaufen, die Pauschale von 1,50 EUR auf eine Verordnung und nicht auf eine Anwendung zu beziehen. Von allen gesetzlichen und privaten Krankenkassen, der Beihilfe des Bundes und einigen Länderbeihilfestellen würden Aufwendungen gemäß § 2 Abs. 7 COVID-19-VSt-SchutzV pro Anwendung als erstattungs- und beihilfefähig anerkannt. Nichts anderes könne in der Hygienepauschaleverordnung gemeint sein. Folge man der Argumentation des Beklagten, würde pro Behandlung nur ein Hygieneaufwand von 0,25 EUR abgedeckt, was unrealistisch sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin beantragt sinngemäß,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">den Bescheid des Beklagten vom 1. März 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. April 2021 insoweit aufzuheben, dass die Aufwendungen zur pauschalen Abgeltung der Kosten für erhöhte Hygienemaßnahmen infolge der CODIV-19-Epidemie in Höhe von insgesamt 18,00 EUR als beihilfefähig anerkannt werden, d. h., dass die vorgenommene Kürzung um 15,00 EUR korrigiert wird und der Beihilfebetrag auf insgesamt 9,00 EUR festgesetzt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">die Klage abzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Er verweist zur Begründung auf seinen Widerspruchsbescheid. Ergänzend trägt er vor, gemäß § 18 Abs. 1 NBhVO seien Aufwendungen für ärztlich verordnete Heilmittel beihilfefähig, wenn das Heilmittel in Anlage 5 zu § 18 Abs. 1 NBhVO aufgeführt sei, die dort genannten Voraussetzungen vorlägen und das Heilmittel von einer Person angewandt worden sei, die die Anforderungen nach Anlage 6 zu § 18 Abs. 1 NBhVO erfülle. Bei der „Desinfektionspauschale“ in Höhe von 18,00 EUR handele es sich nicht um ein solches Heilmittel. Demnach bestehe grundsätzlich kein Beihilfeanspruch, denn eine Hygienepauschale oder Ähnliches sei nach den niedersächsischen Beihilfevorschriften nicht vorgesehen. Nach § 2 Abs. 7 COVID-19-VSt-SchutzV sei ein Betrag in Höhe von 1,50 EUR für jede Heilmittelverordnung - mithin je Rezept - erstattungsfähig. Dieser Handhabung habe sich das Niedersächsische Finanzministerium angeschlossen. Eine Berücksichtigung für jede Therapieeinheit komme nicht in Betracht. Dies stelle auch kein Verstoß gegen die dem Dienstherrn obliegende Fürsorgepflicht dar. Sie gebiete keine lückenlose Erstattung aller krankheitsbedingten Kosten. Von einem besonderen Härtefall könne hier keine Rede sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Über die Klage konnte durch den Berichterstatter und ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§§ 87a Abs. 2, Abs. 3, 101 Abs. 2 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf die Gewährung weiterer Beihilfe (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 80 NBG i.V.m. der Niedersächsischen Beihilfeverordnung. Für die rechtliche Beurteilung beihilferechtlicher Streitigkeiten ist dabei die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich, für die Beihilfe verlangt wird (BVerwG, Urt. v. 29.7.2021 - 5 C 18/19 -, juris Rn. 9 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>In Bezug auf das klägerische Begehren fehlt eine Anspruchsgrundlage, weshalb die berechnete „Desinfektionspauschale“ nicht als beihilfefähig anerkannt werden kann. Der Beklagte führt zu recht aus, dass es sich bei dieser Rechnungsposition nicht um Heilmittel im Sinne der Anlage 5 zu § 18 Abs. 1 NBhVO handelt. Auch sonst sehen weder die Niedersächsische Beihilfeverordnung noch das Niedersächsische Beamtengesetz eine Beihilfefähigkeit für die hier streitigen Aufwendungen vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Dass es an einer Anspruchsgrundlage fehlt, ist nicht zu beanstanden. Die Niedersächsische Beihilfeverordnung ist eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber seinen Beamten. Die Fürsorgepflicht ergänzt die ebenfalls in Art. 33 Abs. 5 GG gewährleistete Alimentationspflicht des Dienstherrn. Sie fordert, dass der Dienstherr den amtsangemessenen Lebensunterhalt der Beamten bzw. Versorgungsempfänger und ihrer Familien auch in besonderen Belastungssituationen wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Geburt oder Tod sicherstellt. Ob er diese Pflicht über eine entsprechende Bemessung der Dienstbezüge, über Sachleistungen, Zuschüsse oder in sonst geeigneter Weise erfüllt, bleibt von Verfassungs wegen seiner Entscheidung überlassen. Für die genannten besonderen Belastungssituationen wird die Fürsorgepflicht grundsätzlich abschließend durch die Beihilfevorschriften konkretisiert. Im Bereich der Krankenvorsorge verpflichtet sie den Dienstherrn, den Beamten bzw. Versorgungsempfänger von in Hinblick auf seine Alimentation unzumutbaren und unabwendbaren Belastungen freizuhalten, gebietet aber keine lückenlose Erstattung aller krankheitsbedingten Kosten (vgl. zur Bundesbeihilfeverordnung BVerwG, Urt. v. 2.4.2014 - 5 C 40.12 -, juris Rn. 19 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Aus diesem Grund ist es nicht rechtswidrig, wenn der Beklagte gemäß § 2 Abs. 7 Satz 1 COVID-19-VSt-SchutzV Aufwendungen für erhöhte Hygienemaßnahmen entsprechend des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift „für jede Heilmittelverordnung“ und nicht pro Anwendung als erstattungs- und beihilfefähig anerkennt. Auch aus § 1 HygPV kann die Klägerin keine weitergehenden Rechte herleiten, denn auch nach dieser Norm können bestimmte Leistungserbringer zur pauschalen Abgeltung der ihnen infolge der COVID-19-Pandemie entstehenden Kosten für erhöhte Hygienemaßnahmen nur für jede Heilmittelverordnung einen zusätzlichen Betrag in Höhe von 1,50 EUR gegenüber den Krankenkassen geltend machen. Der von der Klägerin vorgetragenen Argumentation folgt der Berichterstatter daher nicht. Sie muss die klageweise geltend gemachten Aufwendungen selbst tragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006935&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,360 | vg-koln-2022-07-21-22-k-68621a | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 22 K 686/21.A | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-30T10:01:37 | 2022-10-17T11:09:36 | Urteil | ECLI:DE:VGK:2022:0721.22K686.21A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2021 (Gesch.-Z.: 7595793-163) verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen und ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.</p>
<p>Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Kläger sind türkische Staatsangehöriger, türkischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. sind verheiratet und die Eltern des am 00.00.2002 geborenen Klägers zu 3. und des am 00.00.2006 geborenen Klägers zu 4. Sie reisten nach eigenen Angaben am 21. August 2018 mit einem von der Botschaft in Kiew ausgestellten Schengen-Visum per Direktflug von Kiew in die Bundesrepublik Deutschland ein, nachdem sie zuvor etwa zwei Jahre in der Ukraine gelebt hatten. Am 5. September 2018 stellten sie einen Asylantrag.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 17. September 2018 hörte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. an. Im Rahmen der Anhörungen sowie mit ergänzenden E-Mails ihres Verfahrensbevollmächtigten gaben der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. im Wesentlichen an, ihnen drohe Verfolgung, weil sie zur Gülen-Bewegung gehörten.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Hierzu erläuterte der Kläger zu 1., sie seien in der Türkei unterdrückt und beleidigt worden, weil er zur Gülen-Bewegung gehört habe. Er habe nach seinem Abitur in Russland an der Russian Federation Ufa Bashkir State University Russische Literatur studiert. Nach Abschluss des Studiums habe er seit 1998 verschiedene Tätigkeiten ausgeübt, die – mit Ausnahme seines fünf-monatigen Wehrdienstes – der Gülen-Bewegung nahe gewesen seien. Er habe in der Türkei mit seiner Frau und seinen Kindern in einer Mietwohnung in J. (Provinzbezirk T. ) gelebt. Offiziell sei er zuletzt bei der Firma eines Freundes (J1. N. ) angestellt gewesen; dort habe er aber nicht gearbeitet, sondern sei nur wegen der Versicherung angestellt gewesen. Tatsächlich gearbeitet habe er für zwei Vereine der Gülen-Bewegung als Lehrer sowie als Organisator (z. B. des Opferfests oder von Lesungen von Gülen-Büchern). Die Vereine seien später wegen eines Gesetzesdekrets geschlossen worden (ausweislich einer E-Mail seines Verfahrensbevollmächtigten vom 26. November 2019 handelte es sich hierbei um die Vereine KHK-Tarih Ve Kultür Arastirmalari Demegi und Basari Muhendisler Platformu Demegi und das Gesetzesdekret 667). Er habe dort 4.500 Türkische Lira verdient. Er teile die Ansichten der Gülen Bewegung und sei auch politisch aktiv gewesen. Dass er der Gülen-Bewegung angehöre, hätten die Leute auch deshalb gewusst, weil er Leute für Zeitungs- und Zeitschriften-Abos geworben habe.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 30. Juli 2016 hätten Polizisten ohne Durchsuchungsbeschluss ihre Wohnung durchsucht, weil jemand ihn wegen seiner Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung angezeigt habe. Die Polizei hätte die Wohnung allerdings nicht so detailliert durchsucht. Da es keinen Haftbefehl gegen ihn gegeben habe und er nicht als Lehrer registriert gewesen sei, hätten sie ihn freigelassen. Er und seine Familie seien eine bis anderthalb Stunden in der Wohnung gewesen und die Polizisten seien unten gewesen. Er habe nach der Durchsuchung ihre Sachen zu seiner Mutter transportiert und sich dort etwa eine Woche aufgehalten, bis er in ein Gasthaus des Vereins gegangen und dort untergekommen sei. Hier sei er mit seiner Frau und den Kindern etwas mehr als zwei Monate geblieben. Auch dort sei er angezeigt worden und es habe die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass er festgenommen werde. Daher sei er Mitte September 2016 – zunächst alleine – in die Ukraine geflüchtet. Er sei hierzu von J. nach P. geflogen und dann weiter mit dem Zug nach L. gefahren. Später habe er seine Familie nachgeholt. In der Ukraine hätten sie legal in einer Mietwohnung gelebt und auch in der Ukraine seien die Kinder in einer Gülen-Schule gewesen. Er habe dort auf einem Markt gearbeitet und sie hätten von dem verdienten Geld gut dort leben können.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Ein Freund von ihm, T1. A. Z. , der von der Türkei aus gesucht worden sei, sei dann auf dem Markt entführt worden. In den Nachrichten sei von zehn Leuten gesprochen worden, die entführt werden sollten. Der Oberstaatsanwalt der Ukraine habe gesagt, sie hätten T1. A. Z. an die türkischen Behörden übergeben. Er habe Angst gehabt, dass auch er entführt werde, denn auch er werde in der Türkei gesucht. Es gebe in der Türkei zwei Haftbefehle aus 2016 und 2017 gegen ihn. Ihm werde vorgeworfen, Mitglied in einer terroristischen Organisation zu sein. Aus Angst seien sie dann nach Deutschland ausgereist. Bis zur Ausreise sei ihm in der Ukraine nichts passiert. Wenn er in die Türkei zurückgehen müsste, würde er verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Als Nachweis für die Existenz der Haftbefehle legte er beim Bundesamt eine Bildschirmaufnahme, die nach seinen Angaben aus dem türkischen Justizsystem stamme, vor. Diese habe er für 50,- Euro über einen Freund aus P. erhalten. Man könne gegen Zahlung von 50,- Euro solche Dokumente von Staatsanwälten bekommen. Auf das e-Devlet/UYAP-System könne er nicht zugreifen, weil das Passwort alle sechs Monate von der Regierung erneuert werde.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin zu 2. führte in ihrer Anhörung aus, sie sei in der Türkei Hausfrau gewesen und habe als freiwilliges und ehrenamtliches Mitglied der Hilfsorganisation Kimse Yokmu, einer Einrichtung der Gülen-Bewegung, gearbeitet. Dort hätten sie z. B. Geld für arme Menschen gesammelt und anlässlich des Opferfests Fleisch an die Armen verteilt. Auch in anderen Vereinen sei sie freiwillig aktiv gewesen. Persönlich sei ihr bis zur Ausreise nichts passiert. In einer Nacht nach dem 15. Juli seien sie als Terroristen bezeichnet und von Verwandten beleidigt worden. Der Hausbesitzer habe zu ihrem Mann gesagt, dass sie die Wohnung verlassen sollten. Sie hätten dann ihre Sachen aus der Wohnung geholt und die Polizei sei gekommen. Dies sei am 30. Juli gewesen. Die Polizei habe gesagt, es gebe eine Anzeige und habe „in das Portemonnaie [ihres] Mannes geguckt und den Personalausweis angeguckt“. Ansonsten hätten sie die Wohnung nur oberflächlich durchsucht. Dies habe etwa eine Stunde gedauert; danach seien die Polizisten noch eine halbe Stunde draußen gewesen. Dann hätte die Polizei erfahren, dass ihr Mann kein Lehrer sei, und sei weggegangen. Sie hätten dann die Sachen zur Schwiegermutter transportiert, seien ein paar Tage (eine Woche bis zehn Tage) bei dieser geblieben und anschließend nach J. zurückgekehrt. Dort hätten sie in einem Gasthaus des Vereins gewohnt. Sie seien von einem Teppichhändler im Haus bedroht worden und ihr Mann habe nicht richtig raus gehen können und sei dann in die Ukraine geflohen. Er habe Angst gehabt, festgenommen zu werden. Sie seien jeden Tag beleidigt worden und hätten kein Geld mehr gehabt. Sie habe auch Angst gehabt, dass sie festgenommen werde, und daher hätten sie fliehen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Sie sei dann am 30. November 2016 mit dem Flugzeug von J. nach P. in die Ukraine eingereist. Dort hätten sie in einer Mietwohnung gelebt und ihr Mann habe eine Art Laden gehabt und Nahrungsmittel verkauft. Es habe dort viele Nachrichten über Entführungen gegeben und ein Freund ihres Mannes (T1. ) sei entführt und an die Türken übergeben worden. Erdogan habe gesagt, dass sie alle Mitglieder der Bewegung in der Ukraine festnehmen würden. Ihr Mann sei Gülenist und es gebe gegen ihn einen Haftbefehl in der Türkei. Dies hätten sie in der Ukraine erfahren. Sie hätten Angst gehabt vor den Türken, die in der Ukraine einheimisch sind und mit den Behörden zusammenarbeiten, und dann Visa für Deutschland beantragt. Am 21. August 2018 seien sie nach Deutschland gereist, weil sie in der Ukraine keine Sicherheit mehr gehabt hätten. Wenn sie wieder in die Türkei zurückgehen müsste, würde sie am Flughafen festgenommen, weil es gegen ihren Mann einen Haftbefehl gebe.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Kläger reichten beim Bundesamt verschiedene Unterlagen zu den Akten, insbesondere:</p>
<span class="absatzRechts">10</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Bildschirmaufnahme, die nach den Angaben der Kläger eine Übersicht aus dem türkischen Justizsystem in Bezug auf den Kläger zu 1. zeigt (Bl. 246 BA 1). Ausweislich einer vom Bundesamt erstellten Übersetzung, weist die auf dem Bildschirm abgebildete Tabelle auf das Bestehen einer Festnahmeakte (0000/00; Datum der Straftat 2016) wegen Mitgliedschaft in der Terrororganisation FETÖ/PDY sowie von zwei Ermittlungsakten wegen Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation FETÖ/PDY (0000/00; Datum der Straftat 2016 sowie 0000/0000; Datum der Straftat 27. November 2017) hin;</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Bildschirmaufnahme, die ausweislich einer vom Bundesamt angefertigten Übersetzung auf einen gegen den Kläger zu 1. ergangenen Haftbefehl (Aktennummer 0000/000) aufgrund Beschlusses der Strafkammer des Amtsgerichts N1. vom 27. Dezember 2016 in Bezug auf eine „gesonderte Strafakte“ hinweist (Bl. 247 BA 1);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dekret 667, in dem ausweislich einer vom Bundesamt angefertigten Übersetzung bestimmt wird, dass u. a. Vereine, die auf einer beigefügten Liste stehen, geschlossen werden (Bl. 249, 371 BA 1). Auf der Liste finden sich auch die Vereine „Istanbul Tarih ve Kültür Arastirmalari Dernegi“ (1058 34112-042) sowie „Istanbul Basar Muhendisler Platformu Dernegi“ (567 34-193-088);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Bildschirmaufnahme aus dem UYAP-System, wonach ausweislich einer zu dem Akten gereichten Übersetzung gegen den Kläger zu 1. wegen einer „Strafakte in gesonderter Sache“ ein Festnahmebeschluss von dem Strafgericht N1. am 27. Dezember 2016 zum Aktenzeichen 0000/000 erlassen worden ist (Bl. 381 BA 1);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ablichtung einer jeweils auf den Kläger zu 1. ausgestellten Bank- sowie Kreditkarte („ASYACARD“) der BANK ASYA (Bl. 266 BA 1).</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mails ihres Verfahrensbevollmächtigten erläuterten die Kläger zu der eingereichten Bildschirmaufnahme aus dem türkischen Justizsystem, dass Ermittlungsverfahren und Haftbefehle anders als Anklagen, Gerichtsverhandlungen und Verurteilungen nicht im e-Devlet der betroffenen Personen aufgeführt seien. Weitergehende Informationen könne man aus dem UYAP-System des Justizministeriums illegal mithilfe von Gerichtsmitarbeitern gegen Bezahlung erhalten. Daher stammten auch die eingereichten Bildschirmaufnahmen, die die Mitarbeiter des Gerichts nicht ausgedruckt, sondern abfotografiert hätten. Die Kläger erläutern zudem, dass bekannt sei, dass u. a. Gülen-Anhänger/Sympathisanten in der Türkei sowie im Ausland verfolgt und oftmals mithilfe des türkischen Geheimdienstes entführt würden. Auch habe der ukrainische Präsident im Februar 2020 ein entschiedenes Vorgehen gegen die in der Türkei verbotene Gülen-Bewegung angekündigt, weshalb die Ukraine für die Kläger kein sicherer Drittstaat sei. Ergänzend führten die Kläger aus, eine herausragende Stellung in der Gülen-Bewegung sei für eine Verfolgung nicht erforderlich. Die Türkei ordne auch solche Menschen als „FETÖ“-Terroristen ein, die etwa eine von der Bewegung betriebene Schule besuchten oder im Besitz von Schriften Gülens seien. Auch das Führens eines Kontos bei der „Bank ASYA“, die Nutzung der App „ByLock“ oder das Abonnement einer der Bewegung zugerechneten Zeitung/Zeitschrift („ZAMAN“, „SIZINTI“) würden als Indizien angesehen. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien sei ein Verfolgungsinteresse der türkischen Regierung gegenüber den Klägern anzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit Asylbescheid vom 1. Februar 2021 (Az. 7595793-163) lehnte das Bundesamt den Antrag der Kläger auf Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzstatus (Ziffern 1 und 3) ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Ziffer 4) und drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 5). Es befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Der Sachvortrag der Kläger genüge nicht den Kriterien einer glaubhaften Darstellung eines Verfolgungsschicksals. Dieser bleibe arm an Details, vage und oberflächlich. Die Angaben der Kläger seien trotz mehrmaliger Nachfragen nicht nachvollziehbar. So habe z. B. die vom Kläger zu 1. vorgetragene Wohnungsdurchsuchung im Jahr 2016 nach Angaben seiner Ehefrau in dieser Form nicht stattgefunden. Es seien lediglich die Ausweisdokumente ihres Mannes überprüft worden. Der Kläger zu 1. habe zudem nicht erklären können, weshalb er sich trotz Angst vor Verhaftung in einem Gästehaus der Gülen-Bewegung versteckt habe. Ferner habe der Antragsteller seine Beweggründe, sich der Hizmet-Bewegung anzuschließen, nicht überzeugend darlegen und aufklären können und er habe nicht einmal über rudimentäre Kenntnisse zu deren Zielen verfügt. Die eingereichten Beweismittel (Bildschirmauszüge) überzeugten nicht, weil die interne Glaubhaftigkeit nicht gegeben sei. Der Kläger habe nicht nachvollziehbar erklären können, weshalb er keine weiteren Beweismittel über das Bürgerportal abrufen könne. Die Behauptung, dass die Regierung alle sechs Monate das Passwort ändere, widerspreche den Gegebenheiten in seinem Herkunftsland. Der Zugang zum e-Devlet-System sei inzwischen auch über die Verifizierung im Online-Banking System der größten türkischen Banken möglich, ohne dass dafür ein gesondertes Passwort nötig wäre. Selbst bei Wahrunterstellung des Vortrags könne nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Klägern um mehr als nur einfache Anhänger der Gülen-Bewegung handle. Dies reiche für eine Verurteilung in der Türkei indes nach der Praxis des Kassationsgerichtshofes nicht (mehr) aus. Der Kassationsgerichtshof habe mehrere Verurteilungen wegen FETÖ/PDY Mitgliedschaft (u.a. beim Herausgeber der Zeitung Zaman) aufgehoben und darauf abgestellt, ob den Betroffenen die „wahren“ Zielsetzungen der Organisation bekannt gewesen seien, diese ab dem 15. Juli 2016 weiterhin ihre Aktivitäten fortgesetzt hätten und in welcher Hierarchie-Ebene die Betroffenen anzusiedeln seien. Aus den genannten Gründen lägen auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht vor und auch Abschiebungsverbote seien nicht gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben 10. Februar 2021 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Sie nehmen zur Begründung ihrer Klage im Wesentlichen Bezug auf die bei der Anhörung vorgetragenen Gründe, wiederholen diese und tragen ergänzend insbesondere vor, es habe während der Anhörung beim Bundesamt Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Klägern und dem Dolmetscher gegeben. Die Beurteilung des Bundesamts sei zudem sachfremd. Es könne davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechne, in der Türkei mit asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen müsse, auch ohne dass sie eine führende Stellung in der Gülen-Bewegung innehabe bzw. gehabt habe. Die türkischen Behörden verwendeten mittlerweile ein Denunziationsschema in Form von Finanzanalyse-Berichten (Mali Analiz Raporu) mit sechs Kriterien, um die Verbindungen der Beschuldigten zur Gülen-Bewegung bzw. ihre FETÖ-Mitgliedschaft festzustellen und anschließend die Strafverfahren einzuleiten. Diese Kriterien träfen auch auf die Kläger zu. Bei der Bank Asya, den Unternehmerverbänden und der Hilfsorganisation „Kimse Yokmu" sei darauf hinzuweisen, dass der jetzige Präsident Erdogan diese zu einer finanziellen Quelle der Gülen-Bewegung erklärt habe. Im Falle der Zurückweisung in die Türkei könne davon ausgegangen werden, dass die Kläger bei ihrer Einreise auf jeden Fall verhaftet würden, weil sie auch einen Asylantrag gestellt haben. Hierdurch drohe den Klägern auf jeden Fall die Verfolgung wegen zugeschriebener politischer Überzeugung.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Konkretisierend tragen die Kläger vor, dass der Kläger zu 1. mit Apostille vom 1. Oktober 2020 in der Türkei einen Rechtsanwalt (RA B. U. ) beauftragt habe und dieser nochmals ermittelt habe, dass gegen den Kläger durch die Oberstaatsanwaltschaft in J. Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation FETÖ/PDY eingeleitet worden seien. Der Rechtsanwalt habe am 12. Oktober 2020 einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt und festgestellt, dass schon früher die Oberstaatsanwaltschaft J. bei der 10. Strafkammer des Amtsgerichts J. einen Beschränkungsbeschluss beantragt hätte, wodurch dieses am 18. Juni 2017 in gesonderter Sache 0000/0000 X.Xx die Einsicht in die Ermittlungsakte und den Erhalt von Abschriften der Unterlagen beschränkt habe. Ferner habe auch die Strafkammer beim Amtsgericht N1. wegen eines bestehenden Beschränkungsbeschlusses in gesonderter Sache 0000/000 X.Xx keine Unterlagen ausgehändigt. Hiergegen habe der Rechtsanwalt an 12. Oktober 2020 Widerspruch/Einspruch eingelegt, den die 2. Strafkammer des Amtsgerichts J. am 1. Dezember 2020 (0000/0000 X.Xx.; Bl. 110 d. GA) zurückgewiesen habe. Hiergegen habe der Rechtsanwalt am 30. Dezember 2020 Widerspruch/Einspruch eingelegt, der am 22. Januar 2021 durch die 3. Strafkammer des Amtsgerichts J. zurückgewiesen worden sei (Beschlussnummer 0000/000 X.Xx.; Bl. 108 f. d. GA). Die insoweit relevanten Unterlagen (Schriftsätze, Beschlüsse) reichen die Kläger nebst eines Schreibens des Rechtsanwalts aus der Türkei vom 16. Februar 2021, in dem die Vorgänge zusammengefasst werden, zur Akte. Hierin führt der Rechtsanwalt aus der Türkei schließlich aus, dass die Vertraulichkeitssituation der Akte rechtskräftig sei.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kläger führen dazu weiter aus, soweit die Beklagte meine, eine Verurteilung des Klägers in der Türkei drohe mit Blick auf die Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs nicht, sei dem nicht zu folgen. Aus den vorgelegten Entscheidungen gehe bereits nicht hervor, dass nur Mitglieder der FETÖ/PDY ab der 3 Hierarchie-Ebene bestraft würden und Mitglieder der Ebenen 1 und 2 ohne positive Kenntnis freizusprechen seien. Zudem sei nicht die Auslegung des türkischen Strafrechts das Hauptproblem, sondern dessen Anwendung durch den politisierten Justizapparat. Jedenfalls missachteten untere Instanzen die vermeintlichen Vorgaben des Kassationshofs. So sei es in vergleichbaren Sachverhalten zu Verurteilungen bzw. Freisprüchen in Abhängigkeit der betroffenen Person gekommen, was u. a. auf die Nähe einzelner Personen zu Staatspräsident Erdogan zurückzuführen sei. Auch existierten widersprechende Urteile des Kassationsgerichtshofs, in denen Verurteilung von Personen aus der ersten und zweiten Ebene oder solcher, die gar keiner der Ebenen angehörten, bestätigt worden seien (näher Bl. 208 ff. d. GA). In einem Staat wie der jetzigen Türkei mit rechtstaatlichen Normen zu argumentieren, sei an sich widersprüchlich.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Kläger beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">1. den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mit dem Geschäftszeichen 7595793-163 datiert vom 1. Februar 2021 aufzuheben und</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">25</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">2. die Beklagt zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsyIG zuzuerkennen, hilfsweise, subsidiären Schutz gemäß § 4 AsyIG zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung und trägt ergänzend vor: Die weiteren vorgelegten Dokumente führten nicht zu einer anderen Beurteilung. Zwar stelle die Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe unter den Voraussetzungen von § 3a Abs. 2 Nr. 2 und 3 AsylG eine schutzauslösende Verfolgungshandlung dar. Diese drohe dem Kläger aber nicht. Nach der jüngeren Rechtsprechung des türkischen Kassationsgerichtshofs müsse für die Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation (hier FETÖ/PDY) ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden, die auf Grundlage fester, verbindlicher Kriterien bewertet werde. Insoweit sehe der Kassationshof sieben Hierarchie-Ebenen der Organisation vor und verlange eine Differenzierung dahingehend, in welcher Hierarchie-Ebene die betreffende Person anzusiedeln und ob die Person in die politischen, terroristischen Zielsetzungen der Organisation eingebunden gewesen sei und diese gekannt habe oder nicht. Sowohl der Kassationsgerichtshof als auch das türkische Berufungsgericht hätten in diesem Zusammenhang mittlerweile eine Reihe von Verurteilungen aufgehoben. Eine Verurteilung von Menschen aus der ersten und zweiten Hierarchie-Ebene erfordere den Nachweis darüber, dass diese Menschen gewusst hätten, dass es sich nicht um eine religiöse Gemeinschaft (cemaat) handelt, sondern um eine politische bzw. terroristische Organisation (örgüt). (Erst) für die Zeit nach dem 15. Juli 2016 könne man nach dem Kassationsgerichtshof von der positiven Kenntnis ausgehen, weil die Umstände, die die Organisation zur terroristischen Organisation machten, bekannt geworden wären und nicht mehr hätten verheimlicht werden können.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (Bl. 140, 300 d. GA) und durch den Berichterstatter (Bl. 3, 99 d. GA) einverstanden erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung und durch den Berichterstatter entscheiden, weil sich die Parteien hiermit einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 sowie § 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist mit dem Hauptantrag begründet. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Kläger in Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamts vom 1. Februar 2021 sowie die Ablehnung der Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte in Ziffer 2 des Bescheids ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (hierzu I.) sowie Anerkennung als Asylberechtigte nach § 16a des Grundgesetzes (GG; hierzu II.).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Eine Verfolgung i. S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32; BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32; BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Diese Vermutung kann aber wiederlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5.09 –, juris, Rn. 23; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 37/18 –, juris, Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45.90 –, juris, Rn. 2; OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris, Rn. 35.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Grundsätzen konnte der Berichterstatter bereits auf Grundlage der Akten die Überzeugung gewinnen, dass den Klägern bei Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, namentlich der Gülen-Bewegung, droht. Das Bundesamt ist auf Grundlage des nunmehrigen Sach- und Erkenntnisstands im Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) im Ergebnis zu Unrecht davon ausgegangen, dass sich eine begründete Verfolgungsfurcht im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nicht feststellen lasse. Vielmehr besteht nach Überzeugung des Berichterstatters eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger zu 1. wegen seiner Nähe zur Gülen-Bewegung „ins Visier“ der türkischen Behörden/Justiz geraten ist und ihm deshalb bei Rückkehr in die Türkei eine verfolgungsrelevante Strafverfolgung nebst Verurteilung zu einer Haftstrafe und anschließende Vollstreckung dieser Strafe droht (hierzu 1.). Ausgehend hiervon droht auch der Klägerin zu 2. sowie den Klägern zu 3. und 4. eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung. (hierzu 2.)</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die vom islamischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs- und Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte, um die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Staatsanwälte und Richter, die der Gülen-Bewegung zugerechnet wurden, Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die Gülen-Bewegung, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ nennt („Fethullahistische Terrororganisation/Parallele Staatliche Struktur“), als terroristische Organisation eingestuft. Nachdem in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 in der Türkei ein Putschversuch stattfand, bei dem mindestens 282 Personen ums Leben kamen, machten Staatspräsident Erdoğan und die Regierung noch in der Putschnacht ausschließlich die Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich. Nach dem Putschversuch 2016 leitete die Regierung sog. „Säuberungsmaßnahmen“ gegen Individuen und Institutionen ein, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. insgesamt Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3. Juni 2021 (im Folgenden: AA Lagebericht 2021), Seite 4; außerdem Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 10. März 2022, Version 5 (BFA Länderinformation Türkei), Seite 11, 14 ff.; vgl. auch Bundesamt, Länderreport 47 Türkei, Stand: 12/2021 (Bundesamt, Länderreport Türkei), Seite 22 f.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Nach Einschätzung des Auswärtigen Amts dauert die „systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung“ an.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA Lagebericht 2021, Seite 7; siehe auch BFA Länderinformation Türkei, Seite 16.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Siehe BFA Länderinformation Türkei, Seite 16 ff., mit verschiedenen Beispielen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Dabei sind die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft vage. In der Regel reicht das Vorliegen eines der vorliegenden Indizien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten:</p>
<span class="absatzRechts">58</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Nutzung der verschlüsselten Kommunikations-App <em>ByLock</em>;</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Geldeinlage bei der Bank Aysa nach dem 25. Dezember 2013;</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman;</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Spenden an den Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen;</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder;</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen (inkl. abhängige Beschäftigte);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Eine Verurteilung setzt nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert habe, dass für die Feststellung einer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden müsse.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA Lagebericht 2021, Seite 8; siehe auch Siehe BFA Länderinformation Türkei, Seite 19</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Im Zuge der beschriebenen „Säuberungsmaßnahmen“ wurden nach den vom Auswärtigen Amt widergegebenen Angaben des türkischen Justizministeriums und des Innenministeriums gegen knapp 600.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet und über 25.000 mutmaßliche „Gülenisten“ verbüßen entweder eine rechtskräftige Haftstrafe oder befinden sich in Untersuchungshaft. Über 150.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden aus dem Dienst entlassen, darunter auch etwa 30.000 Militärangehörige. Diese Maßnahmen richten sich nach Aussage des Auswärtigen Amts nicht nur gegen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt werden, sondern auch gegen solche, denen eine kaum definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA Lagebericht 2021, Seite 4.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Auf Grundlage der vorstehend zusammengefassten Erkenntnisse und unter Berücksichtigung der vom Kläger zu 1. vorgelegten Unterlagen ist nach Auffassung des Berichterstatters bereits auf Grundlage des Akteninhalts davon auszugehen, dass der Kläger zu 1. von den türkischen Behörden als „Gülenist“ angesehen wird und hierdurch in verfolgungsrelevanter Weise „in das Visier“ der türkischen Justiz geraten ist. Der Kläger zu 1. erfüllt zunächst bereits mehrere der zuvor zusammengefassten Kriterien, die zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens führen. So hat er bereits beim Bundesamt vorgetragen und durch Vorlage entsprechender Konto-/Kreditkarten nachgewiesen, ein Konto bei der Bank ASYA zu unterhalten. Zudem hat er erläutert, dass seine Kinder (die Kläger zu 3. und 4.) Gülen-Schulen besucht hätten und er für der Gülen-Bewegung zugehörige Vereine, namentlich die Vereine KHK-Tarih Ve Kultür Arastirmalari Demegi und Basari Muhendisler Platformu Demegi, gearbeitet habe, die der türkischen Regierung auch als solche bekannt gewesen und demzufolge mit dem ebenfalls vorgelegten Dekret Nr. 667 geschlossen worden seien. Es sei zudem bereits zu einer Hausdurchsuchung durch die türkische Polizei gekommen, die auf seine Nähe zur Gülen-Bewegung zurückzuführen sei.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Es bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, an diesen Aussagen zu zweifeln. Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. haben entsprechende Angaben in ihrer jeweiligen Befragung durch das Bundesamt im Wesentlichen übereinstimmend gemacht und auch die Geschehnisse in der Türkei sowie in der Ukraine weitgehend übereinstimmend geschildert. Dabei zeigen sich die Schilderungen insbesondere frei von Übertreibungen; insbesondere haben sowohl der Kläger zu 1. als auch die Klägerin zu 2. ihre Angst vor sie betreffenden staatlichen Maßnahmen überzeugend erläutert, gleichzeitig jedoch darauf hingewiesen, dass ihnen bisher selbst sowohl in der Türkei als auch der Ukraine nichts passiert sei. Insbesondere erscheint auch die Angst vor einer Festnahme/Entführung in der Ukraine, die in die weitere Ausreise nach Deutschland mündete, nachvollziehbar. Nach Auskunft des Auswärtigen Amts könne davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere (auch vermeintliche) Gülen-Anhänger im Ausland ausspähen. Seit dem Putschversuch seien Fälle von unfreiwilligem Verschwinden im zweistelligen Bereich bekannt geworden. Betroffen hiervon seien ausschließlich Personen, gegen die wegen einer Mitgliedschaft in der „Gülen-Bewegung“ ermittelt wurde, gewesen. Diese Opfer seien auch aus dem Ausland entführt worden.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">AA Lagebericht 2021, Seite 15, 19.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Das Bundesamt für Fremdenwesen beschreibt hierzu, dass über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (MİT) im Ausland – u. a. auch der Ukraine – entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht worden seien.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">BFA Länderinformation Türkei, Seite 23, 44.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Soweit das Bundesamt gegen die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Klägers zu 1. bzw. der Klägerin zu 2. vorbringt, dass sich deren Schilderungen in Bezug auf die erlebte Hausdurchsuchung unterschieden, kann dem bereits mit Blick auf die Niederschriften der Anhörungen nicht gefolgt werden. Der vom Bundesamt angenommene Widerspruch ist den Angaben des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. nicht zu entnehmen. Anders als vom Bundesamt angenommen, beschränkte sich die Angabe der Klägerin zu 2. in der Befragung gerade nicht darauf, es seien <span style="text-decoration:underline">lediglich</span> die Ausweisdokumente ihres Mannes überprüft worden. Vielmehr gab die Klägerin zu 2. ergänzend an: „Ansonsten haben sie die Wohnung nur oberflächlich durchsucht“ (Bl. 205 BA 1). Dies stimmt jedoch gerade auch mit der Angabe des Klägers zu 1. überein, der in der Befragung darauf hinwies: „Sie haben die Wohnung nicht so detailliert durchsucht“ (Bl. 190 BA 1). Auch haben sowohl der Kläger zu 1. als auch die Klägerin zu 2. übereinstimmend angegeben, dass die Polizisten etwa eine bis anderthalb Stunden in der Wohnung bzw. (anschließend) vor dem Haus gewesen seien.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Schließlich bestätigen die vom Kläger beim Bundesamt sowie im Laufe des Gerichtsverfahrens vorgelegten Dokumente, dass er als „Gülenist“ „im Visier“ der türkischen Justiz stand und steht, gegen ihn mehrere Ermittlungsverfahren wegen „Mitgliedschaft in der Terrororganisation FETÖ/PDY“/“Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation FETÖ/PDY“ geführt werden und wohl sogar bereits ein Haftbefehl gegen ihn ergangen ist. Es besteht keine Veranlassung, hieran zu zweifeln. Zwar handelt es sich bei den vorgelegten Unterlagen weitgehend lediglich um abfotografierte Bildschirmaufnahmen aus dem UYAP-System/Justizsystem. Der Kläger zu 1. hat jedoch wiederholt und nachvollziehbar vorgetragen, wie er (illegal) an die Dokumente gelangt sei und dass er keine legal erlangten, offiziellen Dokumente vorlegen könne. Insbesondere hat er seinen entsprechenden Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren im gerichtlichen Verfahren umfassend und detailliert durch Vorlage des Schreibens seines in der Türkei beauftragten Rechtsanwalts nebst dessen Korrespondenz mit den türkischen Gerichten bestätigt und vertieft. In dem Schreiben bestätigt der beauftragte Rechtsanwalt des Klägers zu 1., dass erstens gegen den Kläger durch die Oberstaatsanwaltschaft in J. Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation FETÖ/PDY eingeleitet worden seien und zweitens auch er keinen Zugriff auf die Unterlagen habe erhalten können, weil insoweit ein – trotz nachgewiesener Intervention des Rechtsanwalts rechtskräftiger – Beschränkungsbeschluss existiere. Gründe, die Zweifel an dieser Darlegung wecken könnten, sind mit Blick auf die eingereichten Dokumente, deren Detailgrad sowie vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Erkenntnisse nicht ersichtlich. Die Beklagte zieht die Inhalte des Schreibens des Rechtsanwalts aus der Türkei soweit ersichtlich auch selbst nicht (mehr) in Zweifel. Auch das Auswärtige Amt beschreibt zudem in seinem Lagebericht, dass Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung häufig als geheim eingestuft würden, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen könnten.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">AA Lagebericht 2021, Seite 12; siehe auch BFA Länderinformation Türkei, Seite 47 f.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Schließlich ergibt sich aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen, dass Beschuldigte oder sonstige Dritte grundsätzlich keinen Zugriff auf Ermittlungsakten haben, auch nicht über das UYAP-System.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Auswärtiges Amt, Schreiben vom 1. Juli 2022 an das VG Wiesbaden, Anfragebeantwortung zum Schreiben vom 17. März 2022 im Verfahren 3 K 960/19.WI.A.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Dass es infolge der Ermittlungsverfahren bereits zu einer Anklage gegen den Kläger zu 1. gekommen wäre, die über das UYAP-System abrufbar sein müsste, ist nicht vorgetragen oder ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Infolge des Ermittlungsverfahrens droht dem Kläger zu 1. nach Überzeugung des Berichterstatters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine verfolgungsrelevante Verurteilung zu einer Haftstrafe nebst deren Vollstreckung, weil ein rechtsstaatliches Verfahren wegen der Nähe des Klägers zu 1. zur Gülen-Bewegung nicht vorausgesetzt werden kann. Zudem ist das gegen den Kläger zu 1. geführte Ermittlungsverfahren bereits als solches verfolgungsrelevant (hierzu noch unten).</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Es ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass die türkischen Gerichte im Hinblick auf politisierte Strafverfahren, wozu u. a. Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zählen, keine Unabhängigkeit besitzen und ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Verfahren bzw. eine faire Prozessführung nicht gewährleistet ist.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Siehe insgesamt AA Lagebericht 2021, Seite 12 ff.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Ausweislich der Länderinformation der Staatendokumentation Türkei des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl existiert vor allem bei Fällen von (vermeintlichem) Terrorismus und organisierter Kriminalität eine Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und es kommt zu einer sehr lockeren Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen, was zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür führt, der das Wesen des Rechtsstaats gefährdet.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">BFA Länderinformation Türkei, Seite 43.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit von Richter*innen in der Ausübung ihrer Ämter wird danach tatsächlich durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter*innen und Staatsanwälte*innen) unterlaufen.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">BFA Länderinformation Türkei, Seite 45.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">So wurden nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts einzelne Richter nach kontroversen Entscheidungen suspendiert oder (straf-)versetzt, woraufhin andere Richter gegen die gleichen Angeklagten zum politisch opportunen Ergebnis kamen.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">AA Lagebericht 2021, Seite 12; vgl. auch BFA Länderinformation Türkei, Seite 46.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">In Bezug auf die konkrete Entscheidungsfindung bestehen darüber hinaus erhebliche Defizite. So kommt es nach der Zusammenfassung des BFA zu einer „schablonenhaften Entscheidungsfindung“ ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall. Entscheidungen in massenhaft abgewickelten Verfahren betreffend Terrorismus-Vorwürfen leiden häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem werden danach teilweise Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">BFA Länderinformation Türkei, Seite 47.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Häufig fehlt es auch an einer Erörterung des subjektiven Tatbestands, der als gegeben unterstellt wird, und ein individueller Tatbeitrag wird allenfalls kursorisch dargestellt.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">AA Lagebericht 2021, Seite 13; BFA Länderinformation Türkei, Seite 48.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beklagte dennoch vorträgt, dass eine Verurteilung des Klägers zu 1. mangels ausreichender Bindung an die Gülen-Bewegung (= keine Zugehörigkeit zu den vom Kassationshof als relevant angesehenen Hierarchie-Ebenen) nicht drohe bzw. der Kläger zu 1. jedenfalls im Ergebnis die Aufhebung einer etwaigen Verurteilung erwirken könnte, vermag dies die vorstehende Bewertung nicht zu ändern. Es ist bereits unklar, ob der Kläger zu 1. aufgrund seiner vorgetragenen engen Bindung zur Gülen-Bewegung von der türkischen Justiz tatsächlich nicht einer entsprechenden Hierarchie-Ebene zugeordnet würde. Hierüber bedarf es jedoch keiner Entscheidung, denn unabhängig von der konkreten Einordnung des Klägers zu 1. besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er verurteilt würde. Zwar weist auch das BFA auf die vom Kassationshof aufgestellten Hierarchie-Ebenen/Gruppen sowie darauf hin, dass zwar jeder mit einem Gülen-Hintergrund verfolgt werden könne, jedoch eine Priorisierung zu bestehen scheine, wonach Armee-, Polizei- und Angehörige des diplomatischen Corps, gefolgt von Juristen, stärker ins Visier genommen würden, als beispielsweise Mitarbeiter im Medien- oder Bildungsbereich.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">BFA Länderinformation Türkei, Seite 20.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Gleichwohl ist – auch mit Blick auf die vom Kläger umfassend vorgetragenen Unsicherheiten in Bezug auf die Übertragung der Rechtsprechung des Kassationshofs auf den konkreten Einzelfall und deren einheitliche Anwendung – anzunehmen, dass der Ausgang von Strafverfahren in der Türkei mit Bezug zur Gülen-Bewegung willkürlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">BFA Länderinformation Türkei, Seite 20.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">So tendieren nach den vorliegenden Erkenntnissen zwar moderate Richter dazu, zwischen „passiven“ und „aktiven“ Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner indes keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Zudem gibt es in der Türkei Probleme sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">BFA Länderinformation Türkei, Seite 48.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass die türkische Rechtsprechung für eine Verurteilung zwar in der Regel den Nachweis eines gewissen Bindungsgrades an die Organisation verlange. Wenn dieser nicht vorliegt, könne es aber auch bei niederschwelligen Kontakten zur Organisation in Einzelfällen zu langjährigen Strafverfahren kommen, die benachteiligende Maßnahmen wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren mit sich bringen können.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Auswärtiges Amt, Schreiben vom 7. Juli 2022 an das VG Wiesbaden, Anfragebeantwortung zum Schreiben vom 7. März 2022 im Verfahren 2 K 285/19.WI.A.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist außerdem festzuhalten, dass sich bereits ein Straf- bzw. Ermittlungsverfahren aufgrund Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung – auch ohne Verurteilung – mit erheblicher Wahrscheinlichkeit als verfolgungsrelevante Handlung darstellt. Denn ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amts werden bereits im Rahmen von Ermittlungen noch vor formeller Anklageerhebung gezielt weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren erwirkt, gestützt auf pauschale Behauptungen, ohne diese mit einem konkreten und individualisierten Tatvorwurf zu unterlegen. Dies ist auch deshalb besonders einschneidend, weil die Justiz überlastet ist und Verfahren sich dadurch häufig lange hinziehen, was sich durch die Entlassungen in der Justiz nach dem Putschversuch verschärft hat.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">AA Lagebericht 2021, Seite 12.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Es ist zudem auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der vom Kläger zu 1. bei Rückkehr in die Türkei bereits am Flughafen identifiziert und festgenommen würde. Denn bei der Einreise in die Türkei besteht eine allgemeine Personenkontrolle und es wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Siehe AA Lagebericht 2021, Seite 23; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 2. Juli 2013 – 8 A 2632/06.A –, juris, Rn. 104 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. August 2013 – A 12 S 2023/11 –, juris, Rn. 31.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Lediglich der Vollständigkeit halber bleibt festzuhalten, dass dem Kläger zu 1. auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht, denn die beschriebenen Maßnahmen werden landesweit praktiziert und die Justiz sowie die Sicherheitskräfte haben Zugriff auf das gesamte Staatsgebiet.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">AA Lagebericht 2021, Seite 12</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Aus den zuvor umfassend beschriebenen Gründen besteht eine Verfolgungsgefahr auch in Bezug auf die Klägerin zu 2. sowie die Kläger zu 3. und 4. Auch der Klägerin zu 2. droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, als „Gülenist“ wahrgenommen zu werden und damit in der Türkei staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein. Die Klägerin hat erstens relevante eigene Bezugspunkte zur Gülen-Bewegung vorgetragen. So habe sie als freiwilliges und ehrenamtliches Mitglied u. a. bei der Hilfsorganisation Kimse Yokmu, einer Einrichtung der Gülen-Bewegung, gearbeitet. Auch hat die Klägerin zu 2. in ihrer Anhörung selbst angegeben, sie habe Angst gehabt, dass sie festgenommen werde. Die Klägerin zu 2. muss vor dem Hintergrund der dargestellten Situation auch nicht erst abwarten, bis sie persönlich bedroht oder sonstige Maßnahmen gegen sie ergriffen wurden. Auch ohne konkrete Bedrohungshandlungen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin wegen einer ihr zugeschriebenen Nähe zur Gülen-Bewegung Opfer von Verfolgungsmaßnahmen seitens des türkischen Staates wird. Insoweit ist erneut festzuhalten, dass für die Zuordnung einer Person zur Gülen-Bewegung und jedenfalls die Aufnahme von Ermittlungen bereits deren persönliche Beziehung zu einem (ggf. vermeintlichen) Mitglied der Bewegung ausreicht. Wird also – wie hier – der Ehemann der Klägerin zu 2. von den türkischen Behörden der Gülen-Bewegung zugeordnet, ergibt sich bereits aus der Ehe, dass auch die Klägerin zu 1. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ins Blickfeld der türkischen Strafverfolgungsbehörden geraten wird. Nach den zuvor beschriebenen Erkenntnissen kann entgegen der Auffassung des Bundesamts nicht sicher angenommen werden, dass ausschließlich Personen mit exponierter Stellung innerhalb der Gülen-Bewegung Verfolgung droht; vielmehr richten sich Ermittlungen und ggf. hierauf beruhende Verurteilungen auch gegen Personen, denen eine kaum definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vgl. erneut AA Lagebericht 2021, Seite 4 sowie auch Auswärtiges Amt, Schreiben vom 7. Juli 2022 an das VG Wiesbaden, Anfragebeantwortung zum Schreiben vom 7. März 2022 im Verfahren 2 K 285/19.WI.A.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Klarstellend weist das Gericht darauf hin, dass die vorstehenden Ausführungen entsprechend auch für die Söhne des Klägers zu 1., den Kläger zu 3. sowie den noch minderjährigen Kläger zu 4., gelten. Der Kläger zu 3. ist 19 und der Kläger zu 4. ist 15 Jahre alt. Beide sind demnach bereits strafmündig. In der Türkei werden Haftanstalten für Kinder und Jugendliche in der Altersgruppe von 12 bis 21 Jahren betrieben, wobei ein großer Teil der rechtskräftig verurteilten oder in Untersuchungshaft befindlichen minderjährigen Personen in Erwachsenen-Haftanstalten untergebracht ist.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA Lagebricht 2021, Seite 19.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Aus den unter I. ausgeführten Gründen steht den Klägern auch der geltend gemachte Anspruch, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, zu. Die Gründe, die die Flüchtlingseigenschaft der Kläger begründen, führen auch zu der Feststellung, dass die Kläger politisch verfolgt sind im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG. Einer Anerkennung als Asylberechtigte steht auch nicht entgegen, dass die Kläger nicht aus der Türkei, sondern aus der Ukraine in die Bundesrepublik eingereist sind. Denn bei der Ukraine handelt es sich nicht um einen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften und die Kläger sind auch nicht über das Gebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften eingereist, denn sie sind mit dem Flugzeug von der Ukraine nach Deutschland geflogen. Auch handelt es sich bei der Ukraine nicht um einen Drittstaat i. S. d Art. 16a Abs. 2 GG i. V. m. Anlage I des AsylG. Lediglich ergänzend bleibt festzuhalten, dass es den Klägern auch nicht zuzumuten wäre, in die Ukraine zurückzukehren. Dies ergibt sich zum einen aus der aktuellen kriegerischen Situation in der Ukraine und zum anderen daraus, dass nach den unter I. beschriebenen Erkenntnissen für vom türkischen Staat verfolgte Personen mit Nähe zur Gülen-Bewegung grundsätzlich auch in der Ukraine eine Festnahme bzw. eine Entführung drohen.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl. AA Lagebericht 2021, Seite 12, BFA Länderinformation Türkei, Seite 23, 44.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Schließlich hätten die Klägerin zu 2. als Ehefrau des Klägers zu 1. gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, Satz 2 Alt. 1 AsylG und die Kläger zu 2. und 3. als im Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährige ledige Kinder des Klägers zu 1. gemäß § 26 Abs. 2, Abs. 5 Satz 1, Satz 2 Alt. 1 AsylG nach Unanfechtbarkeit dieses Urteils in Bezug auf den Kläger zu 1. zudem einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Anerkennung als Asylberechtigte im Wege des Familienasyls.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Da den Klägern nach dem zuvor Gesagten ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind zudem aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">122</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,292 | vg-gelsenkirchen-2022-07-21-12-k-191022 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 12 K 1910/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-24T10:01:14 | 2022-10-17T11:09:25 | Beschluss | ECLI:DE:VGGE:2022:0721.12K1910.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erklärt den zu ihm beschrittenen Rechtsweg für unzulässig und verweist den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 17a Abs. 2 GVG an das Landgericht Köln.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren ist gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) an das Landgericht Köln zu verweisen, da der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht eröffnet ist.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Hier ergibt sich eine ausdrückliche Zuweisung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit aus § 104 Satz 1 Urheberrechtsgesetz (UrhG). Danach ist die Zuständigkeit zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten, durch die ein Anspruch aus einem der im Urheberrechtsgesetz geregelten Rechtsverhältnisse geltend gemacht wird (Urheberrechtsstreitsachen), den ordentlichen Gerichten zugewiesen. Die Verwaltungsgerichte sind nach § 104 Satz 2 UrhG nur für Urheberrechtsstreitsachen aus Dienstverhältnissen zuständig, die ausschließlich Ansprüche auf Leistung einer vereinbarten Vergütung zum Gegenstand haben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zweck der Konzentration von Urheberrechtsstreitsachen auf den ordentlichen Rechtsweg ist die besondere Sachkunde des auf Urheberrechtsstreitigkeiten spezialisierten Gerichts,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2016 – I ZB 44/15 –, juris Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Urheberrecht ist eine Spezialmaterie, mit der solche Richterinnen und Richter betraut werden sollen, die häufig über urheberrechtliche Fragen zu entscheiden haben und auf diese Weise entsprechende Erfahrungen gewinnen konnten. Außerdem sollen uneinheitliche richterliche Entscheidungen vermieden werden. Diese Vereinheitlichung strebt der Gesetzgeber dadurch an, dass er Streitigkeiten auf dem Gebiet des Urheberrechts gemäß § 104 UrhG den ordentlichen Gerichten zuweist und den Ländern mit § 105 UrhG die Möglichkeit eröffnet, spezielle Landgerichte und Amtsgerichte für Urheberrechtsstreitsachen zu bestimmen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. Beck/OK UrhR/Reber, 33. Ed. 15.01.2022, § 104 UrhG, Rn. 1.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf diese Zwecksetzung ist der Begriff der Urheberrechtsstreitsache weit auszulegen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Unter den Begriff fallen alle Streitigkeiten, bei denen urheberrechtlichen Rechtsquellen zumindest eine mittelbare Relevanz zukommt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2016 – I ZB 44/15 –, juris Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Kommen mehrere Anspruchsgrundlagen oder Verletzungshandlungen in Betracht, genügt es, dass der Anspruch zusätzlich auch auf das Urheberrecht gestützt werden kann. Es bleibt eine Urheberrechtsstreitsache.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. Dreier/Schulze/Schulze, 2. Aufl. 2022, § 104 UrhG, Rn. 6f.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nach diesem Maßstab eine Urheberrechtsstreitsache, da die Klägerin einen Anspruch auf Vergütung wegen Urheberrechtsverletzung gegen das Bundesministerium für Gesundheit aus §§ 2, 11, 14, 15, 97 UrhG geltend macht. Für Ansprüche dieser Art ist gemäß § 104 Satz 1 UrhG der ordentliche Rechtsweg eröffnet.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Den Schriftsätzen der Klägerin vom 23. Mai 2022, 6. Juni 2022, 17. Juni 2022 und 12. Juli 2022, die nach der gerichtlichen Anhörung zur beabsichtigten Verweisung eingegangen sind, kann kein Vortrag entnommen werden, der eine abweichende Würdigung begründen würde.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Gemäß §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG, §§ 12, 17, 32 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 1 der Verordnung über die Zusammenfassung von Designstreitsachen, Kennzeichenstreitsachen und Urheberrechtsstreitsachen sowie Streitigkeiten nach dem Olympiamarkenschutzgesetz ist sachlich und örtlich das Landgericht Köln zuständig.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten (§ 17b Abs. 2 GVG).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, zu.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
|
346,273 | vg-munster-2022-07-21-3-k-275820 | {
"id": 846,
"name": "Verwaltungsgericht Münster",
"slug": "vg-munster",
"city": 471,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 K 2758/20 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-23T10:01:06 | 2022-10-17T11:09:22 | Urteil | ECLI:DE:VGMS:2022:0721.3K2758.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das Verfahren wird hinsichtlich der Ziffer V der Ordnungsverfügung der Beklagten vom 27. 10. 2020 eingestellt; im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist O. Staatsangehöriger. Er war im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels/EU aus J. und reiste am 6. 2. 2012 in die Bundesrepublik ein. Er erhielt am 10. 2. 2012 erstmals eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38 a AufenthG, die in der Folgezeit bis zum 6. 6. 2019 verlängert wurde. Am 15. 4. 2019 beantragte der Kläger die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. In Münster hatte er die B. GmbH, einen Imbiss mit asiatischem Speiseangebot mit verschiedenen Filialen und einem Lieferdienst, gegründet und war von 2013 bis Sommer 2019 alleiniger Geschäftsführer. Mit Urteil vom 23. 12. 2019 verurteilte das Landgericht N. ihn wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 60 Fällen und Steuerhinterziehung in 52 Fällen im Zeitraum von April 2014 bis März 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von zwei Jahren und neun Monaten.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 27. 10. 2020 wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus und befristete das aus der Ausweisung folgende Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Jahre ab der Ausreise bzw. Abschiebung. Außerdem lehnte die Beklagte den Verlängerungsantrag des Klägers ab und drohte ihm die Abschiebung nach O1. oder in ein anderes aufnahmebereites Land an. Sie führte zur Begründung aus, der weitere Aufenthalt des Klägers stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, da ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliege. Der Kläger sei zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden. Demgegenüber liege ein (nur) schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vor, das schon seiner gesetzlichen Einordnung nach bei einer Abwägung unterliege. Der besondere Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3 AufenthG komme dem Kläger nicht zugute, weil er nicht in Deutschland, sondern in J. die Rechtsstellung des Inhabers einer Daueraufenthaltserlaubnis/EU besitze. Auch die familiären Beziehungen im Bundesgebiet führten nicht zu einem Überwiegen von Bleibeinteressen. Seiner in Deutschland lebenden Ehefrau sei zuzumuten, mit ihm nach O1. zurückzukehren, und der Kontakt zu seinen volljährigen, teilweise nicht einmal in Deutschland, sondern in anderen EU-Staaten wohnenden Kindern sei rechtlich nicht schützenswert. Die Ausweisung sei auch verhältnismäßig, weil sie aus spezialpräventiven und generalpräventiven Gründen geboten sei, da die Taten des Klägers eine gewisse Nachhaltigkeit und Unbelehrbarkeit erkennen und damit eine Wiederholungsgefahr vermuten ließen. Unter Berücksichtigung dieser Abwägung sei ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von sechs Jahren festgesetzt worden. Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis werde abgelehnt, weil der Kläger aufgrund der Verurteilung nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfülle.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 3. 12. 2020 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt vor, die Verurteilung sei relativ geringfügig ausgefallen. Aufgrund der Umstände der Tat sei von einem einmaligen Fehlverhalten des Klägers auszugehen. Ansonsten habe er sich beanstandungsfrei in Deutschland aufgehalten. Seit seiner Entlassung aus der Strafhaft arbeite er auch wieder und sei bei der Firma O2. seit dem 23. 9. 2021 unbefristet beschäftigt. Bei einem Vermögensdelikt, das im Einzelfall ‑ auch nach den Feststellungen des Strafgerichts ‑ allenfalls eine Geldstrafe wert gewesen sei, bestehe ohnehin keine besondere Vermutung der Wiederholung. Es sei auch zu berücksichtigten, dass ihm die Begehung der Taten durch die Umstände erleichtert worden sei. Er könne zudem schwerwiegende Bleibeinteressen geltend machen, da es in seinem Kulturkreis schützenswerte Begegnungsinteressen der gesamten Großfamilie und nicht nur die enge Beziehung zwischen Eltern und minderjährigen Kindern gebe. Außerdem könne er sich nicht von seiner Ehefrau trennen, die sich in Deutschland einen Lebensmittelpunkt aufgebaut habe und im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38 a AufenthG sei. Schließlich sei das an die Ausweisung geknüpfte Einreise- und Aufenthaltsverbot mit sechs Jahren zu hoch bemessen; die Argumente seines Prozessbevollmächtigten hätten nicht zu seinen Ungunsten in die Ermessenserwägungen zur Fristbestimmung einfließen dürfen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Beklagte die Ziffer V der Ordnungsverfügung vom 27. 10. 2020 in der mündlichen Verhandlung aufgehoben hat, haben die Beteiligten das Verfahren insoweit für erledigt erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt nunmehr,</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">die Ziffern I bis IV des Bescheids der Beklagten vom 27. 10. 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Sie bezieht sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Begründung des angefochtenen Bescheids.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der Ziffer V des Bescheids der Beklagten vom 27. 10. 2020 war das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, nachdem die Beteiligten das Verfahren insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt haben.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Ziffern I bis IV des Bescheids der Beklagten vom 27. 10. 2020 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Ausweisung und die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sind rechtmäßig und der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage der in Ziffer I verfügten Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. 7. 2013 – 1 C 9.12 –, juris, Rdn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Für den Kläger greift kein besonderer Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG ein. Weder steht ihm nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zu, noch besitzt er eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt/EU im Sinne der Vorschrift. Der zweite Fall betrifft entgegen der Ansicht des Klägers nur den Besitz einer in Deutschland ausgestellten Erlaubnis zum Daueraufenthalt/EU nach § 9 a AufenthG, nicht aber eine in einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgestellte Erlaubnis zum Daueraufenthalt/EU, mit der der Ausländer nach Deutschland weitergereist ist.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Aus Art. 22 Abs. 1 Buchstabe a, Abs. 2 <a href="https://www.juris.testa-de.net/r3/document/jcg-32003L0109/format/xsl/part/B?oi=Y87BF8M5kF&${__hash__}38;sourceP=%7B%22source%22%3A%22Link%22%7D">der Richtlinie 2003/109/EG</a> lässt sich schließen, dass eine Ausweisung mit dem Ziel der Aufenthaltsbeendigung in den ersten Mitgliedstaat, in dem der Ausländer die langfristige Aufenthaltsberechtigung erworben hat, nur voraussetzt, dass der Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne des Art. 17 <a href="https://www.juris.testa-de.net/r3/document/jcg-32003L0109/format/xsl/part/B?oi=Y87BF8M5kF&${__hash__}38;sourceP=%7B%22source%22%3A%22Link%22%7D">der Richtlinie 2003/109/EG</a> ist. Nach Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie hat der zweite Mitgliedstaat bei seiner Entscheidung lediglich die Schwere oder die Art des vom langfristig Aufenthaltsberechtigten begangenen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit bzw. die von der betroffenen Person ausgehende Gefahr zu berücksichtigen; die Entscheidung darf nach Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie nicht aus wirtschaftlichen Gründen getroffen werden. Die ‑ gegenüber Art. 12 <a href="https://www.juris.testa-de.net/r3/document/jcg-32003L0109/format/xsl/part/B?oi=Y87BF8M5kF&${__hash__}38;sourceP=%7B%22source%22%3A%22Link%22%7D">der Richtlinie 2003/109/EG</a> ‑ abgesenkte Anforderung erklärt sich daraus, dass das Aufenthaltsrecht des ersten Mitgliedstaats unberührt bleibt und dieser den Ausländer nach Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie rückübernehmen muss. Dementsprechend gilt die Privilegierung nach § 53 Abs. 3 AufenthG nicht für in die Bundesrepublik Deutschland weitergewanderte Drittstaatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe der Richtlinie 2003/109/EG in einem anderen Mitgliedstaat erhalten haben, für den Fall ihrer Ausweisung aus dem Bundesgebiet.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 12. 4. 2019 – 10 ZB 19.275 –, juris, Rdn. 9; Bauer/Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl., 2018, § 53 AufenthG, Rdn. 66.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier. Dem Kläger wurde die Erlaubnis zum Daueraufenthalt/EU in J. ausgestellt; in Deutschland hat er nur Aufenthaltserlaubnisse nach § 38 a AufenthG besessen. Anhaltspunkte für eine entsprechende Anwendung des § 53 Abs. 3 AufenthG auf Daueraufenthaltsberechtigte, die ein Daueraufenthaltsrecht zunächst nicht im Bundesgebiet, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der EU erlangt haben, sieht das Gericht nach dem oben Gesagten mangels vergleichbarer Interessenlage nicht.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Eine Gefährdung der zu schützenden Rechtsgüter durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist unter anderem dann anzunehmen, wenn die von dem Ausländer ausgehende, durch die Verwirklichung eines Tatbestands nach § 54 AufenthG dokumentierte Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (Spezialprävention). Eine spezialpräventiv motivierte Ausweisung setzt die Feststellung einer Wiederholungsgefahr voraus. Bei dieser Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 21. 5. 2021 – 19 CS 20.2977 –, juris, Rdn. 13 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran ist das Gericht bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles davon überzeugt, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorliegt und vom Kläger weiterhin eine Wiederholungsgefahr ausgeht, die Ausweisung also bereits aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt ist.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, weil ein Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt. Der Kläger ist wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden. Mit Urteil vom 23. 12. 2019 verurteilte das Landgericht N. ihn wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 60 Fällen und Steuerhinterziehung in 52 Fällen im Zeitraum von April 2014 bis März 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von zwei Jahren und neun Monaten.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Aus dem strafrechtlich relevanten Verhalten des Klägers lässt sich auf eine hinreichende Wahrscheinlichkeit weiterer Straffälligkeit und damit der Verletzung der deutschen Rechtsordnung und der durch die Strafrechtsnormen geschützten Rechtsgüter schließen. Entgegen der Ansicht des Klägers handelte es sich nicht um ein einmaliges Fehlverhalten ohne die Gefahr der Wiederholung. Dagegen spricht die erhebliche Anzahl von Einzelstraftaten, bei denen der Kläger Daten nicht gemeldet und das Kassensystem manipuliert hat. Um die von ihm zu zahlenden Steuern und Abgaben zu senken, hat er über einen langen Zeitraum hinweg und wiederholt gegenüber seinem Steuerberatungsbüro bewusst falsche Angaben gemacht und dabei eine erhebliche Menge krimineller Energie gezeigt, wie auch das Landgericht im Strafurteil festgestellt hat. Dabei spielt es keine Rolle, dass es ihm, wie er in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, durch die äußeren Umstände und die gesetzlichen Regelungen erleichtert worden sei, die Taten zu begehen. In erster Linie resultiert die Tatbegehung aus seiner inneren Einstellung und seinem geplanten Vorgehen. Dass die Tatbegehung ihm möglicherweise leicht gemacht wurde, ändert nichts am Tatentschluss, der am Beginn steht und den er allein zu verantworten hat. Denn die gesetzlichen Bestimmungen waren ihm bekannt. Das Hauptzollamt N. hat im Rahmen seiner Ermittlungen darauf hingewiesen, dass der Kläger insbesondere nach der Betriebsprüfung durch das Finanzamt N. im Jahr 2016 bei der Schlussbesprechung am 24. 1. 2017 eingehend über die gesetzlichen Anforderungen in Kenntnis gesetzt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Es kann auch keine Rede davon sein, dass das Landgericht N. , wie der Kläger vorträgt, die Taten für sich einzeln genommen nur als geldstrafenwürdig bezeichnet hat und die Gesamtstrafe deshalb von minderer Bedeutung ist. Das Gegenteil ergibt sich aus den Gründen des Strafurteils. Zwar sind die meisten Einzelstraftaten der Steuerhinterziehung wegen der relativ geringen Schadenssumme nur mit Geldstrafen als Einzelstrafen ausgewiesen. Beim Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt stellt es sich aber völlig anders dar. Für 42 der 60 Einzelstraftaten hat das Landgericht hier eine Freiheitsstrafe von sechs oder neun Monaten für angemessen erachtet.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Auch die Schadenssumme ist enorm. Insgesamt handelt es sich um einen aus verkürzten Sozialabgaben und hinterzogener Lohn- und Umsatzsteuer bestehenden Betrag von mindestens Euro. Auch wenn der Kläger ansonsten in der Vergangenheit noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, lässt seine Einstellung insgesamt weitere Straftaten befürchten. Dabei spielt der Einwand des Klägers, den hier begangenen Vermögensdelikten wohne nicht automatisch die Gefahr der Wiederholung inne, keine Rolle. Es leuchtet schon nicht ein, warum nicht auch Vermögensdelikten generell die Gefahr der wiederholten Begehung innewohnen sollte. Der Kläger hat durch sein Geschäftsgebaren über einen langen Zeitraum hinweg gezeigt, dass er zur Optimierung seines geschäftlichen Gewinns durchaus in wiederholtem Maße kriminell tätig geworden ist. Dabei ist vor allem von Bedeutung, dass er sich durch zunächst festgestellte Verstöße u. a. gegen die Stundenaufzeichnungspflicht und die Meldepflicht zur Sozialversicherung nicht hat beeindrucken lassen, sondern in der Folgezeit weiterhin seine Einnahmen weiterhin nicht korrekt dem Finanzamt mitgeteilt hat. Aus dem aus den Verwaltungsvorgängen ersichtlichen Schlussbericht der Ermittlungen des Hauptzollamts N. vom 23. 7. 2019 ist zu entnehmen, dass der Kläger zuvor zwar keine Straftaten begangen hat, aber in Bezug auf die Führung seiner Geschäfte wiederholt gegen Rechtsvorschriften verstoßen hat, die zu Ordnungswidrigkeitsverfahren geführt haben. So hat er Stundenaufzeichnungen entgegen § 17 Abs. 1 MiLoG nicht ordnungsgemäß geführt. Bei einer ersten Prüfung im Jahr 2014 wurde bei ihm ein Arbeitnehmer angetroffen, der nicht zur Sozialversicherung gemeldet war. Im Jahr 2016 hat er in drei Fällen den Beginn der Beschäftigung von Arbeitnehmern nicht rechtzeitig der Datenstelle der Rentenversicherung gemeldet. Insgesamt sind gegen den Kläger zu dieser Zeit bereits vier Geldbußen von insgesamt Euro festgesetzt worden. Eine weitere Geldbuße in Höhe von Euro resultierte daraus, dass er einen Arbeitnehmer ohne zur Beschäftigung berechtigenden Aufenthaltstitel beschäftigt hat (Strafbefehl der Staatsanwaltschaft N. ) und Urteil des Amtsgerichts N. vom 26. 9. 2018). Davon hat er sich offensichtlich nicht beeindrucken lassen, sondern hat bis März 2019 seine Taten fortgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Auch Hinweise seiner Angestellten haben ihn nicht veranlasst, sein Verhalten zu ändern. So ergibt sich aus der Vernehmung der Frau C1. durch das Hauptzollamt, dass sie darauf hingewiesen hat, die bisherige Praxis zu beenden, weil sie sich als Mitarbeiterin unwohl fühle. Auch ein weiterer Mitarbeiter hatte betont, es solle demnächst „alles sauber“ werden. Trotzdem hat der Kläger seine Straftaten weiter fortgeführt. Dass er nach seiner Verurteilung einen nicht unerheblichen Teil des Schadens wiedergutgemacht hat, lässt eine Wiederholungsgefahr nicht entfallen, da eine Einsicht des Klägers bisher nicht offen zutage getreten ist.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Aus dem landgerichtlichen Urteil ergeben sich eher weitere Hinweise auf die Annahme einer Wiederholungsgefahr. Die hohe kriminelle Energie, auf die auch die Strafkammer im Urteil Bezug nimmt, leitet das Gericht aus der planmäßigen und auf Dauer angelegten Tatbegehung her. Durch den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen den Einzeltaten hat die Strafkammer zwar zu seinen Gunsten angenommen, dass die Hemmschwelle für die Begehung immer neuer Taten während des langen Begehungszeitraums gesunken sei. Dies spricht aber gerade dagegen, dass die Wiederholungsgefahr schon jetzt, ein Jahr nach seiner Entlassung aus der Strafhaft, zu verneinen ist. Dafür, dass der Kläger in seiner Strafhaft nunmehr geläutert ist und weitere Straftaten – auch bei geringer Hemmschwelle – nicht mehr begehen wird, hat das erkennende Gericht keine greifbaren Anhaltspunkte zugunsten des Klägers. Allein die von ihm verneinte, plakative Frage seines Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, ob er weitere Straftaten begehen wolle, vermochte keine glaubhafte Sinnesänderung des Klägers zu vermitteln. Auch in der Haft hat der Kläger keine konkreten Äußerungen getätigt oder Hinweise geliefert, so dass die Vollzugsanstalt auch nicht die vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft befürwortet hatte. Der Kläger hat – wohl auch wegen der sprachlichen Schwierigkeiten – in der Haft an keinen Behandlungsangeboten teilnehmen und so keine Handlungsstrategien entwickeln können. Auch wenn die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts B1. dies in ihrem Beschluss vom 15. 7. 2021 nicht als ausreichend angesehen hat, um die vorzeitige Entlassung des Klägers zu verhindern, zeigt es doch, dass der Kläger zumindest aktiv keine Hinweise für seine künftige Straffreiheit geliefert hat.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Daneben besteht zusätzlich auch ein generalpräventives Interesse an der Ausweisung, da diese nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, um andere Ausländer zur Vermeidung der ihnen sonst ebenfalls drohenden Ausweisung zu einem ordnungsgemäßen Verhalten im Bundesgebiet anzuhalten. Dass die vorliegenden Taten derart singuläre Züge aufweisen, dass die beabsichtigte Abschreckungswirkung nicht eintritt, kann nicht angenommen werden. Die Tilgungsfrist des § 46 BZRG, die für eine generalpräventiv motivierte Ausweisung im Falle abgeurteilter Straftaten eine absolute Obergrenze bildet, ist auch noch nicht abgelaufen. Sie beträgt im Fall der Verurteilung des Klägers nach § 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG fünfzehn Jahre.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Den einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird durch den Gesetzgeber in den §§ 54, 55 AufenthG von vornherein durch die Unterscheidung zwischen „besonders schwerwiegenden“ und „schwerwiegenden“ Interessen ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Ergänzend sind bei der Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht als abschließend zu verstehen.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. 2. 2017 – 1 C 3.16 –, juris, Rdn. 24 f.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran ist zunächst festzustellen, dass das Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, da der Kläger wegen einer vorsätzlichen Straftat rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Das Ausweisungsinteresse ist derzeit auch noch aktuell, wie oben erörtert wurde. Es besteht nach dem oben Gesagten auch im Rahmen der Abwägung kein Grund, das Ausweisungsinteresse abweichend von der Typisierung als nicht besonders schwerwiegend einzustufen. Dass die Verurteilung zu der Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren weniger schwerwiegend erscheinen könnte, indem ein atypischer Fall anzunehmen ist, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht. Wie oben gezeigt, kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, die Einzelstraftaten seien nur von geringem Gewicht gewesen und hätten für sich genommen bei Einzelverurteilungen im Wesentlichen nur zu Geldstrafen geführt. Zum einen ist eine wesentliche Anzahl von Einzelstraftaten auch mit Freiheitsstrafen bewertet worden, zum anderen schließt auch die enorme Anzahl an Einzelstraftaten die Annahme eines atypischen Falles aus.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber ist das Bleibeinteresse des Klägers bereits nach der gesetzlichen Wertung weniger schwer zu gewichten, denn es wiegt gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nur schwer. Der Kläger besaß bis zum Erlass des Bescheids eine Aufenthaltserlaubnis und hielt sich seit 2012 und damit seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet auf. Ein Fall des besonders schwer wiegenden Bleibeinteresses nach § 55 Abs. 1 AufenthG liegt hingegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Auch die im Übrigen sich an § 53 Abs. 2 AufenthG orientierende und alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigende Abwägung fällt zugunsten des Ausweisungsinteresses aus.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Interessen des Klägers auf Wahrung der Familieneinheit und des Rechts auf Privatleben vermögen das öffentliche Interesse an der Ausweisung nicht hinter dem Interesse des Klägers zurückstehen zulassen. Die Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG greifen weder hinsichtlich seiner Ehefrau noch hinsichtlich seiner Kinder ein. Der Kläger wird von seiner Ehefrau nicht getrennt werden. Ihr kann vielmehr zugemutet werden, mit dem Kläger zusammen Deutschland wieder zu verlassen, um die eheliche Lebensgemeinschaft außerhalb des Bundesgebiets zu führen. Der Kläger ist mit einer O4. verheiratet, die erst am 1. 6. 2020 in die Bundesrepublik eingereist ist und dann erst die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38 a AufenthG beantragt hat. Weder kann sie sich auf eine bereits in Deutschland erfolgte Integration noch auf ein langjähriges Aufenthaltsrecht in Deutschland berufen. Insofern kann nicht die Rede davon sein, dass sie sich bereits einen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik aufgebaut hat, den sie nicht mehr zumutbarerweise verlassen kann. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 38 a AufenthG allein führt nicht zur Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise. Es kommt hinzu, dass die Ehefrau des Klägers in J. , dem Land der Schutzgewährung, das Zielstaat der voraussichtlichen Rückführung wäre, deutlich stärker verwurzelt ist als in Deutschland. Die Ehefrau des Klägers hat in J. mehrere Jahre gewohnt und dort ein Restaurant betrieben.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Auch wenn sich der volljährige Sohn des Klägers in Deutschland aufhält, der Kläger regelmäßig mit ihm in Kontakt steht und er seinem Vortrag nach eine tiefgehende Beziehung zu ihm hat, sind diese Bindungen nicht derart intensiv, dass sie einer Ausweisung entgegenstehen. Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern entfalten aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen nur unter der Voraussetzung, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, bzw. wenn über die sonst üblichen Bindungen hinaus zusätzliche Merkmale einer Abhängigkeit vorhanden sind.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. 7. 2017 – 18 A 2735/15 –, juris, Rdn. 90 f.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Für ein solches Abhängigkeitsverhältnis bestehen keine Anhaltspunkte. Die beiden weiteren – ebenfalls volljährigen – Kinder des Klägers halten sich nicht in Deutschland, sondern in J. und C2. auf, so dass insofern ohnehin das Verlassen des Bundesgebiets keine Trennung hervorriefe.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Auch die Schutzwirkungen des Art. 8 Abs. 1 EMRK führen nicht zu einem Überwiegen des Bleibeinteresses. Denn der Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die Ausweisung ist nicht unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Der Kläger hält sich seit inzwischen fast zehn Jahren in Deutschland auf und hat hier erkennbar auch wirtschaftlich Fuß gefasst. Gegen eine gelungene Integration sprechen allerdings die bereits erörterten zahlreichen – auch nicht mit dem Urteil vom 23. 12. 2019 strafrechtlich geahndeten – Verstöße gegen die deutsche Rechtsordnung und zudem die für einen Aufenthalt von zehn Jahren unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts B1. hat in ihrem Beschluss vom 15. 7. 2021 bereits darauf hingewiesen, dass Behandlungsangebote während der Haftzeit aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse des Klägers nicht zielführend und nicht realisierbar gewesen seien. Einen Deutschkurs hat er während der Haft begonnen, aber aufgrund seiner vorzeitigen Entlassung nicht abschließen können. Auch in der mündlichen Verhandlung konnte er das Gericht nicht davon überzeugen, dass seine Deutschkenntnisse bereits ein solches Niveau erreicht haben, dass sie als Manifestation gelungener Integration in Deutschland zu seinen Gunsten in die Abwägung einzustellen sind.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Außerdem ist der Kläger weder in seinem Heimatland noch in dem Land seines Daueraufenthaltsrechts (J. ) entwurzelt. In O1. ist er Eigentümer einer Immobilie, er ist in einer Vereinigung von im Ausland lebenden O5. aktiv und unterhält fortlaufende Kontakte nach O1. . Während seine Ehefrau noch in J. wohnte, besuchte der Kläger sie vor seiner Inhaftierung etwa alle zwei Wochen für ein bis zwei Tage in S. . In S. betrieb seine Ehefrau auch ein Restaurant, in dem ebenfalls die gemeinsame Tochter tätig ist.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Auch unter dem Gesichtspunkt des Zusammenlebens mit seiner gesamten Familie, d. h. auch mit der Familie seines volljährigen Sohnes in Deutschland, erweist sich die Ausweisung nicht als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Dass der Kläger meint, in der Kultur seines Heimatlandes spiele die Zusammengehörigkeit der Großfamilie eine größere Rolle als in Deutschland, ist dabei rechtlich nicht von Bedeutung, da das Recht auf Familienleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nach den Maßstäben der Europäischen Menschenrechtskonvention und nicht nach O. Gewohnheiten auszulegen ist. Danach kommt dem Interesse an einem Zusammenleben zwischen erwachsenen Personen nur ein geringes Gewicht zu. Denn Art. 8 EMRK gibt im Hinblick auf den Schutz von Ehe und Familie keinen weitergehenden Schutz als Art. 6 Abs. 1 GG.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. 12. 1997 – 1 C 19.96 –, juris, Rdn. 30.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Zudem hat der Kläger selbst eingeräumt, dass es um bloße Begegnungsinteressen der Großfamilie gehe. Diese können auch ohne die zwingende ständige Anwesenheit des Klägers in Deutschland, sei es durch Besuche in Deutschland oder aber auch durch Treffen in J. , im Staat der Schutzgewährung, verwirklicht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Tochter des Klägers ohnehin in J. wohnt und ein anderer Sohn in C2. , so dass das Zusammenleben der Großfamilie in einem gemeinsamen Staat auch bei einem Verbleib des Klägers in Deutschland nicht ohne weiteres realisiert würde.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Weitere Anhaltspunkte, die für eine nachhaltige Integration des Klägers in der Bundesrepublik sprechen und ein Überwiegen der Bleibeinteressen rechtfertigen könnten, sind weder ersichtlich noch sonst vorgetragen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Unter diesen Umständen wiegt der Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben deutlich weniger stark. Außerdem stellt sich die drohende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit – nicht nur von der gesetzlichen Wertung her – damit auch in der Einzelfallbetrachtung als schwerwiegender dar.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung der beantragten Verlängerung des Aufenthaltstitels begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Denn bei Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist auch die Ablehnung des Aufenthaltstitels rechtmäßig.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels scheitert insbesondere daran, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht vorliegt. Aufgrund der Straffälligkeit des Klägers besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, das nach dem oben Gesagten noch aktuell ist. Anhaltspunkte, die einen Ausnahmefall annehmen lassen könnten, liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist auch die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Bezug auf die Ausweisung rechtmäßig. Sie beruht auf § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bereits mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Frist von sechs Jahren stellt sich nicht als ermessensfehlerhaft dar. Gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten. Gemäß § 11 Abs. 5 AufenthG soll sie zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist. Da der Kläger wegen der Verurteilung durch das Landgericht N. vom 23. 12. 2019 ausgewiesen worden ist, ist der Fristrahmen bis zu zehn Jahren eröffnet. Die gewählte Frist von sechs Jahren bewegt sich in diesem Rahmen. Die Beklagte durfte den Rahmen vollständig ausschöpfen, hat sich aber bei der Festsetzung noch für den mittleren Bereich entschieden. Insofern ist nicht nachvollziehbar, warum der Kläger meint, die Beklagte hätte nicht über fünf Jahre hinausgehen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Ein Ermessensfehlgebrauch ist bei der Bestimmung der Frist nicht zu erkennen. Dass der Kläger meint, die Argumente seines Prozessbevollmächtigten hätten nicht zu seinen Ungunsten in die Ermessensausübung einbezogen werden dürfen, zumal dies die einzigen Erwägungen gewesen seien, ist schon vom rechtlichen Ansatz her nicht nachvollziehbar und trifft auch inhaltlich nicht zu. Die Behörde hat ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben (vgl. § 40 VwVfG NRW) und dabei im Rahmen ihrer Ermessensausübung alle für und gegen den Kläger sprechenden Umstände abzuwägen, egal von wem sie vorgetragen wurden. Inhaltlich ist dies im konkreten Fall nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat berücksichtigt, dass keine maßgeblichen familiären, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen in Deutschland bestehen und es aufgrund des spezial- und generalpräventiven Zwecks der Ausweisung eines besonderen darauf bezogenen Einreise- und Aufenthaltsverbots bedarf. Die bestehende Wiederholungsgefahr und die Art und Schwere der Straffälligkeit hat die Beklagte ebenso einbezogen wie die Abschreckungswirkung im Rahmen der Generalprävention. Außerdem hat die Beklagte dies mit den – fehlenden – rechtlich berücksichtigungsfähigen Bindungen im Bundesgebiet angemessen abgewogen und ist damit zu einer nicht zu beanstandenden Frist von sechs Jahren gekommen, die sich – wie erwähnt – immer noch im Mittelfeld der zulässigen Frist bewegt.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Kosten werden dem Kläger trotz seines Teilerfolgs vollständig auferlegt, weil er nur zu einem geringen Teil gewinnt. Sein Erfolg bezieht sich allein auf die Entscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO hinsichtlich des erledigten Teils. Insoweit entspricht es billigem Ermessen, der Beklagten die Kosten aufzuerlegen, weil sie – in Ansehung der Rechtslage – von sich aus die Ziffer V des angefochtenen Bescheids aufgehoben und dem Kläger damit insoweit sein Rechtsschutzbedürfnis genommen hat. Hinsichtlich des streitig zu entscheidenden Teils trägt der Kläger als Unterlegener gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens. Da sich der erledigte Teil mit Kostentragung durch die Beklagte mit der Abschiebungsandrohung auf einen Teil der Ordnungsverfügung bezieht, der sich in Bezug auf den Streitwert nicht auswirkt, unterliegt die Beklagte zu einem so geringen Teil, dass das Gericht es als angemessen erachtet, gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO die Kosten dem Kläger insgesamt aufzuerlegen.</p>
|
346,259 | olgham-2022-07-21-5-ws-16322 | {
"id": 821,
"name": "Oberlandesgericht Hamm",
"slug": "olgham",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 5 Ws 163/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-20T10:01:20 | 2022-10-17T11:09:21 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0721.5WS163.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten (§ 473 Abs. 1 StPO) aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet verworfen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Zusatz:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">1)</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die kleine Strafvollstreckungskammer in der Besetzung mit einer Richterin war gem. § 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG für die hier zu treffende Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gem. § 57 Abs. 1 StGB zuständig. Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass im Falle der Reststrafaussetzung über die Aussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 67c Abs. 1 StGB zu entscheiden gewesen wäre, zu welcher die Strafvollstreckungskammer gem. § 78b Abs. 1 Nr. 1 GVG in der Besetzung mit drei Richtern berufen gewesen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Senat tritt der in Literatur und Rechtsprechung vorherrschenden Auffassung bei, dass sich jedenfalls dann keine Zuständigkeit aufgrund des Sachzusammenhangs zwischen den beiden zu treffenden Entscheidungen ergibt, wenn das Ende der Strafvollstreckung nicht absehbar ist (Veh, in: MünchKomm, 4. Aufl. 2020, § 67c StGB Rn. 26; Schmitt, in: Meyer-Goßner, 65. Aufl. 2022, § 78b GVG Rn. 5; Beschluss des hiesigen 3. Strafsenats vom 26.05.2020 – III 3 Ws 173/20; einschränkend Beschluss des hiesigen 4. Strafsenats vom 21.06.2016 – III 4 Ws 166/17 (soweit keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass auch eine weitergehende Entscheidung bzgl. der Maßregel der Sicherungsverwahrung ernsthaft in Betracht kommt)). Die gegenteilige Auffassung (OLG Hamburg NStZ-RR 2012, 158) lässt sich weder mit dem eindeutigen Gesetzestext noch mit dem gesetzgeberischen Willen vereinbaren (Veh, in MünchKomm, a.a.O.l, § 67c StGB Rn. 26).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Zutreffend weist der hiesige 3. Strafsenat überdies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Entscheidung über die Vollziehung der Maßregel nach § 67c Abs. 1 StGB erst „vor dem Ende des Vollzugs der Strafe“ zu erfolgen hat (Beschluss vom 26.05.2020 – III 3 Ws 173/20). Das Strafende ist vorliegend jedoch erst auf den 22.09.2024 und damit in mehr als zwei Jahren notiert. Die stets gegebene Möglichkeit der vorzeitigen bedingten Entlassung nach § 57 Abs. 1 StGB genügt nicht, um bereits im jetzigen Zeitpunkt von einem nahenden Vollzugsende auszugehen, so dass eine Prüfungspflicht nach § 67c Abs. 1 StGB vorliegend noch nicht bestand.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">2)</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ferner war eine (mündliche) Anhörung des den Verurteilten in der Sozialtherapie A betreuenden Psychologen C durch die Strafvollstreckungskammer aufgrund des Gebots der bestmöglichen Sachaufklärung nicht geboten. Die Stellungnahme des Leiters der JVA Werl vom 15.12.2021 gibt den Fachbeitrag des Psychologen C aus Juni in wesentlichen Teilen und aussagekräftig wieder. Im Hinblick darauf, dass der Verurteilte bereits am 09.08.2021 in die JVA Werl zurückverlegt wurde, waren für den Folgezeitraum keine grundlegend neuen Erkenntnisse seitens des Therapeuten zu erwarten. Zudem hat das Landgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass ihm im Entscheidungszeitpunkt auch der Vollzugsplan der JVA Siegburg vom 27.07.2021 vorlag.</p>
|
346,238 | olgk-2022-07-21-18-u-13921 | {
"id": 822,
"name": "Oberlandesgericht Köln",
"slug": "olgk",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 18 U 139/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-19T10:01:33 | 2022-10-17T11:09:18 | Urteil | ECLI:DE:OLGK:2022:0721.18U139.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufungen der Parteien gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 15.07.2021 werden zurückgewiesen.</p>
<p>Die Kosten der Berufungen werden gegeneinander aufgehoben.</p>
<p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die jeweils andere Partei gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die die Zwangsvollstreckung betreibende Partei zuvor Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wendet sich im Wege der Beschlussanfechtungsklage gegen jeweils zwei Beschlüsse, die die Gesellschafter der Beklagten am 17.12.2019 und 05.06.2020 gegen seine Stimme gefasst haben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Im Jahr 1998 wurde die Beklagte von den Herren A, B und C gegründet. Alle drei Gesellschafter waren als Geschäftsführer tätig. Der Kläger erwarb im Jahr 2008 den Geschäftsanteil des Herrn C und übernahm gleichzeitig das Amt eines weiteren Geschäftsführers der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Gesellschaftsvertrag (Anlage 4 zum Schriftsatz des Klägers vom 30.06.2020; Bl. 6 ff. AnlH II) hat u.a. folgenden Inhalt:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">„§ 7 – Gesellschafterversammlung</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">6. Die Gesellschafterversammlung wird von einem aus ihrer Mitte zu wählenden Versammlungsleiter geleitet, der für eine ordnungsgemäße Protokollierung der Beschlüsse Sorge zu tragen hat.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">7. Je DM 500,- der übernommenen Stammeinlagen gewähren eine Stimme.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">8. Die Gesellschafterbeschlüsse werden, soweit nicht im Gesetz oder nach dieser Satzung andere Mehrheiten vorgesehen ist, mit einfacher Mehrheit des vertretenen stimmberechtigten Kapitals gefasst.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">9. Soweit das Gesetz nicht entgegensteht, ist die Beschlussfassung auch im schriftlichen, telefonischen oder fernschriftlichen Verfahren möglich.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">10. Sämtliche Gesellschafterbeschlüsse sind -soweit keine notarielle Beurkundung stattzufinden hat- schriftlich zu fassen und von dem Versammlungsleiter bzw. außerhalb von Gesellschafterversammlungen von den Geschäftsführern zu unterschreiben und den Gesellschaftern abschriftlich per Einschreiben zu übersenden oder mit Empfangsquittung zu übergeben.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">§ 8 - Jahresabschluss, Gewinnverwendung, Steuerklausel</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">[...]</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">3. Jeder Gesellschafter nimmt am Gewinn der Gesellschaft entsprechend dem Verhältnis der Geschäftsanteile zueinander teil.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">4. Die Gesellschafterversammlung stellt innerhalb von 8 Monaten seit Schluss des Geschäftsjahres den Jahresabschluss fest und beschließt nach freiem Ermessen und mit 3/4 Mehrheit des stimmberechtigten Kapitals über die Verwendung des jährlichen Reingewinns, insbesondere bei einer Einstellung von Beträgen in Gewinnrücklägen oder über einen Gewinnvortrag oder über eine Ausschüttung an die Gesellschafter. Sollte kein mehrheitlicher Gewinnverwendungsbeschluss zustande kommen, so wird der Steuerbilanzgewinn vor Ertragssteuern und Tantiemen wie folgt verwendet: 50 % dieses Betrages wird als Tantiemen an die Geschäftsführer ausgeschüttet, der verbleibende Betrag wird zu 50% an die Gesellschafter als Gewinn ausgeschüttet und 50% verbleibt als Gewinnrücklage der Gesellschaft.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">5. Soweit, aus welchen Gründen auch immer, verdeckte Gewinnausschüttungen durch die Finanzbehörde festgestellt werden, sind die begünstigten Gesellschafter verpflichtet, die auf die verdeckte Gewinnausschüttung entfallende Körperschaftssteuer an die Gesellschaft zu erstatten. Die anteilige Körperschaftssteuer ergibt sich aus der Differenz zwischen der vereinbarten und der angemessenen Vergütung durch die daraus zu viel erteilte Steuergutschrift. Der Anspruch gegen den begünstigten Gesellschafter wird mit Rechtskraft des entsprechenden Körperschaftssteuerbescheides zur Zahlung festgelegt und ist nach Ablauf eines Monats von diesem Zeitpunkt an mit 2% über dem jeweiligen Bundesdiskontsatz jährlich zu verzinsen."</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Geschäftsführeranstellungsverträge der Geschäftsführer-Gesellschafter B und A beinhalteten einen Anspruch auf Geschäftsführergehalt in Höhe von 169.000,00 EUR jährlich zuzüglich Zahlung einer Tantieme; der Kläger wurde für seine Tätigkeit als Geschäftsführer entsprechend entlohnt. Im Jahr 2013 wurde die Tantieme für das Geschäftsjahr 2014 auf 50.000 €/Gesellschafter-Geschäftsführer beschränkt (Anlage 12 zum Schriftsatz des Klägers vom 30.06.2020; Bl. 56 AnlH II), wobei es auch in den folgenden Jahren geblieben ist.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Kläger teilte den Mitgesellschaftern am 25.01.2019 mit, dass er beabsichtige, das Unternehmen der Beklagten zu verlassen. Der Kläger und die übrigen Gesellschafter führten mehrere Gespräche bezüglich seines Ausscheidens, deren Gegenstand auch der Verkauf seiner Gesellschaftsbeteiligung war, ohne dass es zu einer Einigung kam. Am 29.06.2019 legte der Kläger sein Geschäftsführeramt aus wichtigem Grund nieder. Im August 2020 wurde dann zwischen den Parteien ein Aufhebungsvertrag zum Geschäftsführervertrag mit Wirkung zum 30.06.2019 geschlossen (Anlage 5 zum Schriftsatz des Klägers vom 30.06.2020; Bl. 18 ff. AnlH II), in dem u. a. ein Tantiemeanspruch des Klägers für das Geschäftsjahr 2018 in Höhe von 50.000 € festgeschrieben und ein weitergehender Vergütungsanspruch des Klägers ausgeschlossen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 22.11.2019 (Anlage 6 zum Schriftsatz des Klägers vom 30.06.2020; Bl. 22f. AnlH II) luden die Geschäftsführer der Beklagten zu einer ordentlichen Gesellschafterversammlung zum 17.12.2019 ein. Mit diesem Einladungsschreiben wurde dem Kläger der Jahresabschluss vom 31.12.2018 übersandt. In der Gesellschafterversammlung wurden ausweislich des Protokolls (Anlage 7 zum Schriftsatz des Klägers vom 30.06.2020; Bl. 24 ff. AnlH II) u. a. gegen den Widerspruch des durch Rechtsanwalt D vertretenen Klägers folgende Beschlüsse gefasst:</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">2. … Die Anstellungsverträge der Geschäftsführer A und B werden wie folgt geändert: Ab dem 01.01.2019 wird die Festvergütung auf jeweils 290.000 Euro brutto p.a. angehoben. Kosten der Gesellschaft für eine Altersversorgung des jeweiligen Geschäftsführers werden auf die Vergütung angerechnet. Wird ein Dienstwagen nicht in Anspruch genommen, so erfolgt zusätzlich eine Ausgleichszahlung in Höhe der tatsächlich bei dem anderen Geschäftsführer entstandenen Kosten des Dienstwagens, dessen Nettokaufpreis maximal 60.000 Euro betragen darf. Auf Tantiemen ab dem 01.01.2018 finden die Regelungen des Gesellschaftsvertrages Anwendung. [...]</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">3. … Der Jahresabschluss zum 31.12.2018 in der der Einladung als Anlage beigefügten Fassung wird festgestellt.“</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 11.05.2020 (Anlage 10 zum Schriftsatz des Klägers vom 30.06.2020; Bl. 51f. AnlH II) wurde zur Fassung von Gesellschafterbeschlüssen in Textform eingeladen. Die Gesellschafter hielten unter dem 04.06.2020 hierauf bezogen eine Telefonkonferenz ab. Die privatschriftliche Niederschrift über die in Textform gefassten Beschlüsse vom 05.06.2020 (Anlage 1 zum Schriftsatz des Klägers vom 30.06.2020; Bl. 1 AnlH II) lautet wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">„Die Stimmabgabe ergab folgende Ergebnisse:</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">1. Beschlussfeststellungskompetenz von Herrn A Dafür haben die Gesellschafter A und B, dagegen hat Herr E gestimmt. Damit wird das Zustandekommen des Beschlusses festgestellt.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">2. Vorsorgliche erneute Feststellung des Jahresabschlusses zum 31.12.2018Dafür haben die Gesellschafter A und B, dagegen hat Herr E gestimmt. Damit ist der Jahresabschluss festgestellt".</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist der Auffassung, die vorstehend zitierten Beschlüsse vom 17.12.2019 und 05.06.2020 seien nichtig, jedenfalls aber anfechtbar, weil sich die Mitgesellschafter durch die rückwirkende Erhöhung ihrer Geschäftsführervergütung einen unberechtigten Vorteil verschafft hätten und ihm der für die Beschlussfassung über den Jahresabschluss erforderliche Einblick in die Gesellschaftsunterlagen nicht gewährt worden sei. Eine Beschlussfeststellungskompetenz des Versammlungsleiters könne nur durch die Satzung oder einstimmigen Beschluss begründet werden. Der Jahresabschluss 2018 sei aufgrund der darin enthaltenen unberechtigten Rückstellungen sowie der Nichterfüllung von Auskunftsansprüchen unwirksam. Wegen des weiteren Vortrags der Parteien in erster Instanz und der dort gestellten Anträge wird auf das angefochtene Urteil (Bl. 8 ff. d. eA.) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat die Klage hinsichtlich der Beschlüsse vom 17.12.2019 für begründet gehalten. Trotz des erklärten Austritts des Klägers aus der Gesellschaft zum 31.12.2020 fehle diesem nicht die Anfechtungsbefugnis. Diese sei regelmäßig aufgrund der Gesellschafterstellung gegeben und entfalle erst, wenn der Anfechtende nicht mehr als Inhaber eines Geschäftsanteils in der Gesellschafterliste eingetragen ist, wofür es aber derzeit keine Anhaltspunkte gebe. Die Klage sei in Bezug auf die Beschlüsse der Gesellschafterversammlung vom 17.12.2019 zu TOP 2 und TOP 3 dahingehend begründet, dass diese zwar nicht nichtig, aber anfechtbar seien. Die Beschlüsse vom 05.06.2020 seien dagegen rechtlich nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Hiergegen wenden sich die Parteien mit ihren jeweils form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufungen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist der Auffassung, dass einem etwaigen Versammlungsleiter Beschlussfeststellungskompetenz nur durch Satzungsregelung oder einstimmigen Gesellschafterbeschluss zugewiesen werden könne. Hinsichtlich des Jahresabschlusses 2018 habe das Landgericht nicht berücksichtigt, dass die darin zu Unrecht enthaltenen Rückstellungen den verteilungsfähigen Gewinn der Beklagten zu seinen Lasten schmälerten.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Er beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">32</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">1. unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts Köln vom 15.07.2021, Az. – 83 0 1/21 – wird festgestellt, dass der in Textform von den Gesellschaftern der A B E Gesellschaft für aktuarielle Beratung, AG Köln, HRB X1, (vermeintlich) zu 1. gefasste Beschluss, dem Geschäftsführer und Gesellschafter A für die Beschlussfassung zu den nachfolgenden Beschlussgegenständen zu 2. Beschlussfeststellungskompetenz zu verleihen (protokolliert durch privatschriftliche Niederschrift vom 05.06.2020, Anlage F 1 zum erstinstanzlichen Schriftsatz (Klageschrift) vom 30.06.2020), nichtig ist; hilfsweiseunter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts Köln vom 15.07.2021, Az. - 83 0 1/21 wird in Textform von den Gesellschaftern der A B E Gesellschaft für aktuarielle Beratung, AG Köln, HRB X1, (vermeintlich) zu 1. gefasste Beschluss, dem Geschäftsführer und Gesellschafter A für die Beschlussfassung zu den nachfolgenden Beschlussgegenständen zu 2. Beschlussfeststellungskompetenz zu verleihen (protokolliert durch privatschriftliche Niederschrift vom 05.06.2020, Anlage F 1 zum erstinstanzlichen Schriftsatz (Klageschrift) vom 30.06.2020), für nichtig erklärt;</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">34</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">2. unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts Köln vom 15.07.2021, Az. – 83 0 1/21 –, wird festgestellt, dass der in Textform von den Gesellschaftern der A B E Gesellschaft für aktuarielle Beratung, AG Köln, HRB X1, (vermeintlich) zu 2. gefasste Beschluss, den Jahresabschluss der A B E Gesellschaft für aktuarielle Beratung mbH zum 31.12.2018 (Anlage F 1 zum Schriftsatz (Klageschrift) vom 14.02.2020) festzustellen (protokolliert durch privatschriftliche Niederschrift vom 05.06.2020, Anlage F 1), nichtig ist; hilfsweise:unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts Köln vom 15.07.2021, Az. - 83 0 1/21 -, wird der in Textform von den Gesellschaftern der A B E Gesellschaft für aktuarielle Beratung, AG Köln, HRB X1, (vermeintlich) zu 2. gefasste Beschluss, den Jahresabschluss der A B E Gesellschaft für aktuarielle Beratung mbH zum 31.12.2018 (Anlage F 1 zum Schriftsatz (Klageschrift) vom 14.02.2020) festzustellen (protokolliert durch privatschriftliche Niederschrift vom 05.06.2020, Anlage F 1), für nichtig erklärt.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">37</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">1. die Berufung des Klägers zurückzuweisen und</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">2. unter Abweisung des Urteils des Landgerichts Köln vom 15. Juli 2021 (Az. 83 O 1/21) die Klage insgesamt abzuweisen.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung, soweit sie ihr günstig ist. Im Übrigen vertritt sie die Auffassung, dass die Beschlüsse vom 17.12.2019 wirksam seien. Das Landgericht habe in Bezug auf den Beschluss zur Anhebung der Vergütung den gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz rechtsfehlerhaft zur Anwendung gebracht. Sie behauptet, gemessen an ihrer Größe und Ertragskraft sei eine jährliche Festvergütung in Höhe von 290.000,00 EUR schon zum 1. Januar 2019 angemessen gewesen. Der Kläger sei durch den streitgegenständlichen Gesellschafterbeschluss auch nicht in seinem Recht auf Gleichbehandlung beschnitten worden. Vielmehr habe es ihm freigestanden, bei der Gesellschafterversammlung am 17. Dezember 2019 ebenfalls eine rückwirkende Gehaltsanpassung für sich (für den Zeitraum 1. Januar bis 30. April 2019) zu beantragen. Zumindest liege keine willkürliche Ungleichbehandlung vor. Selbst wenn man einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz annehmen würde, so würde dieser nicht zwangsläufig zur Unwirksamkeit des Beschlusses zu TOP 2 führen. Allenfalls könne Teilunwirksamkeit dieses Beschlusses angenommen werden. Ebenfalls rechtsfehlerhaft habe das Landgericht die Feststellung getroffen, der Gesellschafterbeschluss vom 17. Dezember 2019 zu TOP 3 (Feststellung des Jahresabschlusses 2018) sei unwirksam. Insbesondere habe der Kläger den Personalbereich im Jahr 2018 selbst verantwortet. Daher seien ihm die Gründe der Kostensteigerung für Gehälter im Jahr 2018 bestens bekannt gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Kläger verteidigt das Urteil des Landgerichts, soweit dieses die Beschlüsse vom 17.12.2019 für unwirksam erklärt hat und beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Berufungen der Parteien sind zulässig. In der Sache haben jedoch beide Berufungen keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">1. Die Berufung des Klägers betrifft die angegriffenen Beschlüsse der Gesellschafter der Beklagten vom 05.06.2020. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, weil diese Beschlüsse formell ordnungsgemäß getroffen wurden und inhaltlich nicht zu beanstanden sind.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">a) Der Beschluss betreffend die Zuweisung der Beschlussfeststellungskompetenz an den Gesellschafter A begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, sodass die innerhalb der Frist des § 7 Nr. 11 des Gesellschaftsvertrages – dort ist eine Anfechtungsfrist von zwei Monaten nach Absendung bzw. nach Übergabe der Abschrift des Gesellschafterbeschlusses vorgesehen – erhobene Anfechtungsklage ohne Erfolg bleiben muss.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Beantwortung der Frage, ob einem Gesellschafter/Versammlungsleiter durch einfachen Gesellschafterbeschluss die Beschlussfeststellungskompetenz zugewiesen werden kann, ist allerdings umstritten. Nach einer in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassung, soll dies nur durch die Satzung oder einem einstimmig gefassten Beschluss aller Gesellschafter möglich sein, weil anderenfalls ein Missbrauch durch einen Mehrheitsgesellschafter zu befürchten sei (OLG Frankfurt, Beschluss vom 06.11.2008 – 20 W 385/08 -, FGPrax 2009, 81, 82; Noack in: Noack/Servatius/Haas, GmbHG 23. Aufl. 2022, § 48 Rn. 17a) bzw. es sich hierbei um eine echte Delegation der Organkompetenz der Gesellschafterversammlung handele (Altmeppen, GmbHG 10. Aufl. 2021, § 48 Rn. 23; Noack, GmbHR 2017, 792, 796). Nach der Gegenauffassung hat der Versammlungsleiter schon aufgrund dieser Funktion die Kompetenz, den Beschluss festzustellen, weil dies der Rechtssicherheit aller Gesellschafter diene (OLG Brandenburg, Urteil vom 05.01.2017- 6 U 21/14 -, ZIP 2017, 1417 Rn. 55; Drescher in: MünchKommGmbHG, 3. Aufl. 2019, § 47 Rn. 55; BeckOK/Schindler GmbHG § 48 Rn. 44).</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Senat teilt die zweitgenannte Auffassung. Die Beschlussfeststellung durch den Versammlungsleiter hat zunächst einmal nur deklaratorische Bedeutung in dem Sinne, dass ein bestimmtes Abstimmungsergebnis und damit einhergehend die Annahme oder Ablehnung des Beschlussantrages im Sinne einer Tatsache festgestellt wird. Daraus folgt nicht, dass diese Tatsachenfeststellung zu Recht erfolgt ist und die Abstimmung tatsächlich das festgestellte Ergebnis hatte. Dies im Streitfall zu klären ist vielmehr Aufgabe der Gerichte im Rahmen einer Beschlussanfechtungs- oder -feststellungsklage. Die Beantwortung der Frage, ob ein Gesellschafter eine solche Klage erheben soll, hängt aber davon ab, ob ein Beschluss mit einem bestimmten Inhalt gefasst wurde, oder eben nicht gefasst wurde. Dies wird für alle Gesellschafter durch eine entsprechende Beschlussfeststellung des Versammlungsleiters erkennbar, sodass sie sich hieran orientieren können. Andernfalls bliebe bei einem Streit über die Frage, ob ein Antrag angenommen, oder abgelehnt worden ist, allen Gesellschaftern nur die Möglichkeit, rein vorsorglich entweder eine Beschlussanfechtungsklage, oder eine positive Beschlussfeststellungsklage zu erheben, wobei von vorneherein feststünde, dass nur eine dieser Klagen Erfolg haben kann.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Im Fall der Beklagten spricht für eine Beschlussfeststellungskompetenz des Versammlungsleiters darüber hinaus die Fristenregelung in § 7 Nr. 11 des Gesellschaftsvertrages, die folgenden Inhalt hat:</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">„Die Anfechtung von Gesellschafterbeschlüssen durch Klageerhebung ist nur innerhalb einer Frist von 2 Monaten nach Absendung bzw. nach Übergabe der Abschrift des Gesellschafterbeschlusses zulässig.“</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Anknüpfung der Klagefrist an die Absendung des Gesellschafterbeschlusses impliziert, dass es jemanden geben muss, der den Beschluss feststellt. Die Auffassung der Gegenansicht, dass dies die Gesellschafterversammlung sei, führt im Ergebnis nicht weiter. Es wäre dann nämlich erforderlich, dass die Gesellschafterversammlung nach der Abstimmung über den Beschlussantrag - zumindest im Streitfall – ein weiteres Mal abstimmt, um das erste Abstimmungsergebnis festzustellen. Aber auch das Ergebnis dieser Abstimmung müsste von irgendjemandem festgestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Zuweisung der Beschlussfeststellungskompetenz an den Versammlungsleiter durch bloßen Mehrheitsbeschluss begründet für die Gesellschafterminderheit keine erheblichen Nachteile oder Risiken. Auch die Minderheit hat den Vorteil, dass auch für sie durch die Beschlussfeststellung des Versammlungsleiters das Ergebnis der Beschlussfassung – jedenfalls vorläufig – festgestellt ist. Diese Gesellschafter brauchen also nicht Klagen „ins Blaue hinein“ zu erheben, nur weil möglicherweise ein Beschluss gefasst wurde, den sie nicht akzeptieren wollen, sondern können sich auf die Fälle beschränken, in denen ein ihnen nicht genehmer Beschluss als gefasst festgestellt worden ist. Der Umstand, dass sie jedenfalls in diesen Fällen Klage erheben müssen, um den Beschluss nicht bestandskräftig werden zu lassen, stellt sich nicht als Nachteil dar, denn ihre Situation wäre keine andere, wenn keine Beschlussfeststellung erfolgt wäre, unter den Gesellschaftern aber Streit über das Ergebnis der Beschlussfassung besteht. Für den Rechtsstreit über den Beschluss selbst hat dessen Feststellung durch den Versammlungsleiter keine präjudizielle Bedeutung, hier kommt es nur darauf an, ob der Beschluss tatsächlich mit der erforderlichen Mehrheit gefasst worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">b) Die wiederholte Feststellung des Jahresabschlusses 2018 ist entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung nicht deswegen anfechtbar, weil darin in erheblichem Umfang Rückstellungen für Ansprüche der beiden Mitgesellschafter des Klägers auf Tantiemezahlungen für das Jahr 2018 enthalten sind, wie sie sich aus dem entsprechenden Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 17.12.2019 ergeben würden. Dabei ist es unerheblich, dass auch der Senat diesen Beschluss aufgrund der wirksamen Anfechtung durch den Kläger aus den sogleich (II.2.a)) noch darzulegenden Gründen für unwirksam hält. Die vom Kläger als Begründung für seine Anfechtung angeführte Gefahr, „dass mit der Einstellung der Rückstellung in den Jahresabschluss und dessen Feststellung das angebliche Bestehen dieser vermeintlichen Ansprüche im Verhältnis der Gesellschafter untereinander und im Verhältnis der Gesellschafter-Geschäftsführer zur Gesellschaft für das Jahr 2018 als verbindlich festgestellt gilt“ (S. 3 der Berufungsbegründung; Bl. 142 d. eA.), besteht tatsächlich nicht.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Forderungen, wie sie von den beiden Mitgesellschaftern des Klägers aufgrund des Tantieme-Beschlusses vom 17.12.2019 gegen die Beklagte geltend gemacht werden (können), können auf zwei unterschiedliche Weisen im Jahresabschluss der Gesellschaft erfasst werden: Zum einen können sie als Verbindlichkeiten erfasst werden, zum anderen aber auch als Rückstellungen. Die Erfassung als Verbindlichkeit ist nur möglich, wenn am Abschlussstichtag Gewissheit sowohl über das Bestehen als auch über die Höhe einer Verpflichtung gegenüber einem Dritten besteht (vgl. Reiner in MünchKommHGB, 4. Aufl. 2020, § 266 Rn. 105). Diese Voraussetzung war hier schon aufgrund der bei Aufstellung der Bilanz bereits anhängigen Klage gegen die Beschlüsse vom 17.12.2019 nicht gegeben, denn die Höhe des Tantiemeanspruchs hängt vom Ausgang dieses Rechtsstreits ab. Gerade deswegen war aber gemäß § 249 HGB eine Rückstellung für diese ungewisse Verbindlichkeit zu bilden.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger befürchtete Folge einer verbindlichen Feststellung des Jahresabschlusses mag für den Fall, dass die Tantiemeforderung als Verbindlichkeit in die Bilanz eingestellt ist, berechtigt sein. In dem hier gegebenen Fall, dass lediglich eine Rückstellung wegen einer noch ungewissen Verbindlichkeit gebildet wird, droht diese Konsequenz jedoch nicht. Durch den Beschluss wird gerade nicht festgestellt, dass die Forderung berechtigt ist, sondern es wird nur bilanzielle Vorsorge für den Fall getroffen, dass sich die Forderung in einem späteren Zeitpunkt als berechtigt erweisen sollte. Nach § 249 HGB stand die Bildung dieser Rückstellung auch nicht im Belieben der Beklagten, sondern war zwingend („… sind … zu bilden“).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Vornahme der Rückstellung selbst begründet auch keinen dauerhaften Nachteil für den Kläger. Zwar erhöht diese zunächst die Passiva der Gesellschaft und vermindert damit den ausschüttungsfähigen Gewinn. Die Rückstellung ist jedoch nach Klärung der Berechtigung der Forderungen, für die sie erfolgt ist, zwingend aufzulösen (vgl. Ballwieser in MünchKommHGB, a. a. O., § 249 Rn. 85). Entweder muss die Forderung – weil berechtigt – dann erfüllt werden, oder die Auflösung der Rückstellung vermindert die Passiva der Gesellschaft, was sich im entsprechenden Jahr gewinnerhöhend auswirkt und damit auch dem Kläger zugutekommt. Für den Fall, dass der Kläger zwischen der Bildung der Rückstellung und ihrer Auflösung aus der Gesellschaft ausscheidet, sodass er an einer nachfolgenden gewinnwirksamen Auflösung der Rückstellung nicht mehr partizipiert, kann die Rückstellung für die Ermittlung eines Kaufpreis- oder Abfindungsanspruchs unter Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeit des Zahlungsfalles adäquat berücksichtigt werden.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">2. Auch die Berufung der Beklagten erweist sich als unbegründet, weil das Landgericht die Beschlüsse der Gesellschafter vom 17.12.2019 zu Recht infolge der fristgerecht erhobenen Anfechtungsklage als unwirksam angesehen hat.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">a) Die rückwirkende Erhöhung der Vergütung der beiden Mitgesellschafter A und B für ihre Geschäftsführertätigkeit erfolgte unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung; auf die Klärung der zwischen den Parteien streitigen Frage, ob diese Anhebung der Vergütung angemessen ist, kommt es deshalb nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">aa) Es ist zunächst einmal nachvollziehbar und nicht zu beanstanden, dass die Gesellschafter A und B nach dem Ausscheiden des Klägers als Geschäftsführer eine Anpassung ihrer seit Jahren konstant gebliebenen Geschäftsführervergütung für geboten hielten. Bis zum Ausscheiden des Klägers als Geschäftsführer war die Höhe der Geschäftsführervergütung (Festgehalt und Tantieme) für die drei Gesellschafter eher von untergeordneter Bedeutung, weil sie auch aufgrund ihrer Gesellschafterstellung an dem von ihnen durch ihre jeweiligen Geschäftsführeraktivitäten gleichermaßen erwirtschafteten Erfolg der Beklagten über die Gewinnausschüttungen gleichermaßen partizipierten. Dies änderte sich durch das Ausscheiden des Klägers als Geschäftsführer unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gesellschafterstellung deutlich. Zum einen kam aufgrund des Ausscheidens des Klägers als Geschäftsführer auf die beiden verbliebenen Gesellschafter-Geschäftsführer eine entsprechende Erhöhung ihrer Arbeit und Verantwortung zu. Zum anderen kam der wirtschaftliche Erfolg ihnen jetzt nur noch zum Teil über die Gewinnausschüttungen zugute, weil diese teilweise auch dem nicht mehr in der Geschäftsführung aktiven Kläger zufließen.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">bb) Die konkrete Umsetzung des legitimen Wunsches, die Geschäftsführervergütung den geänderten Verhältnissen anzupassen, begegnet aber durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil damit ersichtlich der Zweck verfolgt wurde, durch rückwirkende die Erhöhung der Geschäftsführervergütung den Gewinn der Gesellschaft und damit die auch an den Kläger erfolgende Gewinnausschüttung auf ein Minimum zu reduzieren. Es wurde nicht nur das Fixgehalt der beiden verbliebenen Geschäftsführer von 169.000 €/Jahr auf 290.000 €/Jahr, also um über 71 %, erhöht. Zugleich ist die Gesellschaft auch von ihrer seit 2014 geübten Praxis abgewichen, die Tantieme für die Geschäftsführer auf jeweils 50.000 € zu beschränken; in die Gewinn- und Verlustrechnung der Beklagten für das Jahr 2018 (Anlage 1 zum Schriftsatz des Klägers vom 14.02.2020, S. 9; Bl. 9 AnlH I) wurden dementsprechend Rückstellungen in Höhe von 778.500 € eingestellt. Nach Abzug der im Aufhebungsvertrag insoweit festgelegten Tantieme des Klägers in Höhe von 50.000 € entfielen demnach auf die beiden anderen Geschäftsführer jeweils ([778.500 € - 50.000 €] : 2 =) 364.500 €. Daraus folgt für die Geschäftsführer A und B für das Jahr 2018 eine Gesamtvergütung von (169.000 € + 364.500 € =) 533.500 € und für den Kläger in Höhe von lediglich (169.000 € + 50.000 € =) 219.000 €, sodass Vergütung der Geschäftsführer A und B um 314.500 €, das sind 143 %, über der des Klägers lag. Für das Jahr 2019 ergibt die Anhebung des Fixgehaltes für die Gesellschafter A und B eine monatliche Vergütung in Höhe von (290.000 €/Jahr : 12 Monate =) 24.166, 67 € gegenüber einer Vergütung des Klägers in Höhe von (169.000 €/Jahr : 12 Monate =) 14.083,33 €, womit bereits die fixe Geschäftsführervergütung der Mehrheitsgesellschafter 71,6 % über der des Klägers liegt. Diese Vergütungsanhebung wirkt sich wirtschaftlich allein zu Lasten des Klägers aus, weil durch den erhöhten Vergütungsaufwand der Beklagten, der auf ihn entfallende Gewinn verringert wird, während das wirtschaftliche Ergebnis für die beiden anderen Gesellschafter neutral ist: Die Verringerung ihres Gewinnanspruchs wird durch die Anhebung ihrer Geschäftsführervergütung voll kompensiert.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtfertigung für dieses Ergebnis ist nicht ansatzweise zu erkennen. Selbst wenn man davon ausgehen würde, die Anhebung des Fixgehaltes sei angemessen und die Höhe der Tantieme entspreche der Regelung in § 8 Nr. 4 des Gesellschaftsvertrages, vermöchte das die getroffenen Regelungen allein für die Zeit nach der Beendigung des Geschäftsführeranstellungsvertrages des Klägers, also ab dem 30.06.2019, zu rechtfertigen. Die Regelung gilt aber auch gerade für die Zeit davor, in der der Kläger noch als Geschäftsführer der Beklagten tätig war und zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg beigetragen hat, nämlich hinsichtlich der Tantieme für das Geschäftsjahr 2018 und hinsichtlich der Vergütung auch schon für das gesamte erste Halbjahr 2019. Diese evidente Gerechtigkeitslücke lässt sich auch weder damit rechtfertigen, dass in dem Aufhebungsvertrag zum Geschäftsführeranstellungsvertrag eine Regelung bzgl. der Tantieme 2018 und etwaiger weiterer Vergütungsansprüche getroffen wurde, noch damit, dass es dem Kläger frei gestanden hätte, in der Gesellschafterversammlung für sich selbst eine entsprechende Regelung vorzuschlagen.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">(1) Die Regelungen im Aufhebungsvertrag, dass die Tantieme des Klägers für 2018 „verbindlich in Höhe 50.000,00 € festgeschrieben“ wurde sowie der Ausschluss weiterer Vergütungsansprüche erfolgten ersichtlich auf der Grundlage der langjährigen Praxis, dass die Tantieme auf 50.000 € begrenzt ist, und der bislang gezahlten Fixgehälter von 169.000 €/Jahr. Der Kläger musste bei Abschluss dieses Vertrages nicht damit rechnen, dass es rückwirkend zu einer massiven Erhöhung dieser Zahlungen lediglich an die verbliebenen Geschäftsführer kommen würde und er hätte sich hierauf billigerweise auch nicht einlassen müssen. Jedenfalls waren die Gesellschafter auch in Ansehung der im Aufhebungsvertrag getroffenen Regelungen nicht gehindert, dem Kläger zur Wahrung der Gerechtigkeit dieselbe Erhöhung zugutekommen zu lassen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">(2) Der weitere Einwand der Beklagten, der Kläger selbst hätte in der Gesellschafterversammlung einen entsprechenden Antrag stellen können, geht fehl. Angesichts der deutlich erkennbar gewordenen Intention, den Anteil des Klägers am wirtschaftlichen Erfolg der Beklagten durch Anhebung der Vergütung der verbliebenen Geschäftsführer weitgehend zu reduzieren, hätte er schon kaum erwarten können, dass zumindest einer der beiden Mitgesellschafter einem solchen Antrag zustimmen würde. Unabhängig davon war es aber auch nicht Aufgabe des Klägers dem gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßenden Beschlussvorschlag der Gesellschaftermehrheit durch einen entsprechenden eigenen Antrag zur Rechtmäßigkeit zu verhelfen. Vielmehr konnte er sich darauf beschränken, diesen Antrag – wie geschehen – unter Hinweis auf das eklatante Gerechtigkeitsdefizit abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">b) Zu Recht ist das Landgericht auch davon ausgegangen, dass die Feststellung des Jahresabschlusses 2018 der Anfechtung unterliegt, weil die Beklagte dem berechtigten Informationsbegehren des Klägers nicht nachgekommen ist. Der Kläger hatte in der Gesellschafterversammlung ausweislich des Protokolls um Aufschlüsselung der Kosten unter Vorlage entsprechender Belege gebeten, was jedoch nicht geschehen ist. Das Auskunftsverlangen war gerechtfertigt. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum selbst Geschäftsführer der Beklagten gewesen ist, sodass er die Kosten teilweise selbst zu verantworten bzw. er jedenfalls Einblick in die maßgeblichen Unterlagen gehabt hatte. Insoweit ist nämlich zu bedenken, dass der Kläger mit seinem Ausscheiden aus der Geschäftsführung alle Unterlagen der Gesellschaft an diese herausgeben musste, was ausdrücklich auch in Nr. 6.1 des Aufhebungsvertrages geregelt ist. Ohne derartige Unterlagen, allein aus der Erinnerung heraus ist aber eine sachgerechte Bewertung von einzelnen Kostenpositionen, selbst wenn man diese im Vorjahr als Geschäftsführer selbst zu verantworten hatte, schlechterdings nicht möglich.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 97, 708 Nr. 10, § 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">IV.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Revision erfolgt im Hinblick auf den Beschluss vom 05.06.2020, mit dem dem Gesellschafter A die Beschlussfeststellungskompetenz zugewiesen worden ist. Die hier maßgebliche Rechtsfrage ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten; eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dieser Frage liegt bislang nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">V.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 40.000,00 € festgesetzt.</p>
|
346,192 | lsgbw-2022-07-21-l-6-vs-93322 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 6 VS 933/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-13T10:02:09 | 2022-10-17T17:55:59 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 8. März 2022 wird zurückgewiesen.</p><p>Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt – im zweiten Überprüfungsverfahren – die Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) aufgrund einer behaupteten Schädigung während des Militärdienstes in der T.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Er ist 1972 geboren und hat vom August 1998 bis Februar 2000 Militärdienst beim türkischen Militär in H in der ostanatolischen Provinz T1 geleistet. Nach seinen Angaben war in der Region zu dieser Zeit Krieg, er habe in den Bergen bei Wind, Kälte und Nässe gegen die PKK gekämpft. Er leidet an einer chronischen Lungenerkrankung, die er auf diese Verhältnisse zurückführt. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt. Seit dem Jahr 2000 lebt er in der Bundesrepublik Deutschland. In der Bundesrepublik Deutschland war er bis Oktober 2008 bei der Firma D GmbH, B, beschäftigt, bezog danach Arbeitslosengeld I und steht seit 2010 im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 17. Februar 2012 beantragte er bei dem Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – die Gewährung einer Beschädigtenrente und machte geltend, aufgrund der militärischen türkischen Dienstverrichtung an einem Bronchialasthma, chronischer obstruktiver Lungenerkrankung und einer Lungenfunktionseinschränkung zu leiden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Das Landesversorgungsamt leitete den Antrag an den Landkreis K – Amt für Versorgung und Rehabilitation – weiter, der weitere Unterlagen, insbesondere eine Einverständniserklärung zur Beiziehung von Unterlagen des Instituts für Wehrmedizinalstatistik sowie den Wehrpass, anforderte. Hierzu machte der Kläger geltend, dass er von 1998 bis 2003 in H/T1 eingesetzt gewesen sei. Im Zeitraum von 1992 bis 2003 sei der Kriegszustand ausgerufen gewesen, sodass andere Gesetze gegolten hätten. Im Gegensatz zum normalen Zeitsoldat habe er 12 Stunden Wache halten müssen. Diese Wache sei dauerhaft gewesen, er sei nicht abgelöst worden. Aus diesen langen Wachzeiten bei starkem Wind, Kälte und Nässe resultiere seine Krankheit. Weiter legte er eine Bescheinigung der Republik T vor, wonach er seinen Militärdienst beendet habe und entlassen worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Mit Bescheid vom 11. Juli 2012 lehnte das Landratsamt K (LRA) den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab. Der Kläger begehre eine Versorgung nach dem SVG aufgrund seines Militärdienstes in der T, sodass er nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis zähle.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, dass Deutschland und die T NATO-Staaten seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 6. November 2012 zurück. Eine Beschädigtenversorgung nach dem SVG sei nur für Soldaten der Bundeswehr vorgesehen. Nachdem der Kläger seinen Militärdienst in der T abgeleistet habe, bestehe schon deshalb kein Versorgungsanspruch für eventuell erlittene Gesundheitsschäden. Die hiergegen beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobene Klage blieb erfolglos (Gerichtsbescheid vom 6. März 2013 [S 13 SB 4406/12]).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Den ersten Überprüfungsantrag vom 24. März 2014 lehnte das LRA mit Bescheid vom 25. September 2014 ab, da die Voraussetzungen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht gegeben seien. Der Kläger erfülle die Anspruchsvoraussetzungen nach dem SVG nicht, neue Gesichtspunkte oder Tatsachen seien nicht vorgebracht worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, dass nicht berücksichtigt worden sei, dass er an einem Bronchialasthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung und einer Lungenfunktionseinschränkung leide. Weiter sei nicht entschieden worden, ob der Dienst bei dem Militär in der T aufgrund der NATO-Zugehörigkeit der T mit dem Dienst der Bundesrepublik Deutschland gleichzusetzen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Die nunmehr zuständige Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2015 zurück.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Am 24. Februar 2021 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem SVG beim LRA, welches den Antrag an die Beklagte weiterleitete. Diese lehnte den – als Überprüfungsantrag ausgelegten – Antrag mit Bescheid vom 11. März 2021 erneut ab, da die Rücknahme des Bescheides vom 11. Juli 2012 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht beansprucht werden könne. Es sei bereits mehrfach dargelegt worden, dass die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt seien. Der Bescheid sei daher im Zeitpunkt seines Erlasses nicht rechtswidrig gewesen und daher nicht zurückzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. April 2021 zurück. § 1 SVG gelte für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen, der Kläger habe seinen Wehrdienst jedoch in der T absolviert. Die Begründung, dass sowohl Deutschland als auch die T Mitglieder der NATO seien, führe zu keiner anderen Beurteilung. § 80 SVG setze ausdrücklich ein Wehrdienstverhältnis bei der Bundeswehr voraus, für eine entsprechende Anwendung auf Wehrdienstverhältnisse, welche in anderen NATO-Mitgliedstaaten abgeleistet würden, fehle es an einer Regelung im SVG. Bei Erteilung des Bescheides vom 11. Juli 2012 sei weder das Recht unrichtig angewandt, noch von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden, sodass eine Rücknahme des Bescheides nach § 44 SGB X nicht in Betracht komme.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Am 22. April 2021 hat der Kläger erneut Klage beim SG erhoben, welches mit Beschluss vom 5. Juli 2021 Prozesskostenhilfe gewährt hat. Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 8. März 2022 abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 44 SGB X lägen nicht vor, da der Anwendungsbereich des § 80 SVG nicht eröffnet sei. Dieser setze einen Wehrdienst bei der deutschen Bundeswehr voraus, den der Kläger nicht geleistet habe. Für die vom Kläger begehrte entsprechende Anwendung auf Wehrdienstverhältnisse, die in anderen NATO-Mitgliedstaaten abgeleistet würden, fehle es an einer Regelung im SVG. Ebenso sei ein Anspruch nach § 1 BVG nicht gegeben, da keiner der Tatbestände des § 7 Abs. 1 BVG erfüllt sei. Ein Anspruch nach § 1 OEG scheide ebenfalls aus, da die mögliche Schädigung nicht im Geltungsbereich des OEG, der Bundesrepublik Deutschland, eingetreten sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Am 23. März 2022 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="16"/>den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 8. März 2022 sowie den Bescheid vom 11. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Rücknahme des Bescheides vom 11. Juli 2012 Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, zu gewähren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="18"/>die Berufung des Klägers zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe hat der Senat mit Beschluss vom 5. Juli 2022 abgelehnt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) sowie form-und fristgerecht erhoben (§ 151 SGG), nachdem durch die Vorlage des Gerichtsbescheides erkennbar geworden ist, gegen welche Entscheidung sich die Berufung richten soll. Da § 151 Abs. 3 SGG eine bloße Sollvorschrift darstellt, muss dies nicht innerhalb der Berufungsfrist feststehen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 151 Rz. 11b). Sie ist auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 8. März 2022, mit dem die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Aufhebung des Bescheides vom 11. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 9. April 2021 sowie unter Rücknahme des Bescheides vom 11. Juli 2012 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung des Antrages nach § 44 SGB X ist die damalige Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht („geläuterte Rechtsauffassung“ vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 30. Januar 2020 – B 2 U 2/18 R –, juris, Rz. 16; Steinwedel in: KassKomm 117. EL 2021, SGB X, § 45 Rz. 38).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 11. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Beklagte hat es – zum wiederholten Male – zu Recht abgelehnt, den Bescheid vom 11. Juli 2012 zurückzunehmen und dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem SVG zu gewähren, da dieser die Anspruchsvoraussetzungen offensichtlich nicht erfüllt. Das SG hat die Klage daher ebenfalls zu Recht abgewiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Rechtsgrundlage des Bescheides ist § 44 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, nachdem es die Beklagte zu Recht abgelehnt hat, dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem SVG zu gewähren. Der Bescheid vom 11. Juli 2012 ist rechtmäßig und deshalb nicht zurückzunehmen. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es für die Rechtmäßigkeit des Bescheides ohne Belang, dass beim Erstantrag das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – den Antrag an das seinerzeit zuständige Landratsamt abgegeben und den Kläger hierüber informiert hat (vgl. die Widerspruchsbegründung des Klägers, Bl. 93 ff. VerwAkte). Aus der Tatsache, dass eine – andere – Behörde für die Entscheidung über einen Antrag zuständig ist, wie hier (seinerzeit) das Landratsamt K, kann in keiner Weise der Rückschluss gezogen werden, dass diese Behörde auch eine materielle Leistungspflicht trifft. Vielmehr hat diese Behörde den Anspruch nur zu prüfen und ablehnend zu bescheiden, wenn die Anspruchsvoraussetzungen, wie hier, nicht gegeben sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, nach Beendigung seines Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Wehrdienstbeschädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit in diesem Gesetz nichts Abweichendes bestimmt ist. § 1 Abs. 1 SVG bestimmt zum persönlichen Geltungsbereich des SVG, dass dieses Gesetz für die früheren Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen gilt, soweit im Einzelfall nichts anderes bestimmt ist. Rechtstheoretischer Hintergrund für die Gewährung der Versorgungsansprüche nach dem SVG ist – vergleichbar wie insbesondere in der Kriegsopferversorgung –, das besondere Opfer, dass der Soldat im Dienste und im Interesse des deutschen Staates erbringt (sog. Aufopferungsgedanke – vgl. Lilienfeld in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Vor §§ 80 ff SVG, Rz. 3 unter Verweis auf BT-Drs. 2/2504 S. 31).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Dem persönlichen Geltungsbereich des SVG unterfällt der Kläger, der zu keinem Zeitpunkt Dienst in der Bundeswehr geleistet hat, somit nicht. Auch Sinn und Zweck der Vorschriften rechtfertigen seine Versorgung nicht, nachdem dieser eben gerade nicht als Soldat im Dienste des deutschen Staates für diesen ein besonderes Opfer erbracht hat, welches unter dem Gesichtspunkt des Aufopferungsgedankens eine staatliche Leistungspflicht begründet. Er ist vielmehr in einem Dienstverhältnis zum türkischen Staat gestanden und hat für diesen Militärdienst geleistet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Zu keinem anderen Ergebnis führt, entgegen der vom Kläger nachhaltig vertretenen Rechtsauffassung, dass sowohl die T als die Bundesrepublik NATO-Staaten sind. Der Kläger hat noch nicht einmal behauptet, an einem NATO-Einsatz überhaupt beteiligt gewesen zu sein. Dies kann aber schon deshalb dahinstehen, da sich selbst durch die Teilnahme an einem NATO-Einsatz allein keine Änderung des Dienstherrn ergibt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Eine analoge Anwendung der Vorschriften scheidet aus. Denn eine solche kommt nicht in Betracht, wenn sie zu dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch tritt. Die Bindung des Richters an das Gesetz verbietet eine Auslegung, die den normativen Gehalt eines nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetzes grundlegend neu bestimmt. Im Besoldungs- und Versorgungsrecht der Beamten kommt dem Gesetzeswortlaut wegen der strikten Gesetzesbindung besondere Bedeutung zu. Das gilt in gleichem Maße für den Bereich des Soldatenversorgungsrechts, für den § 1a SVG eine ebenso strikte Gesetzesbindung festlegt. Daher sind auch hier die Vorschriften, die die gesetzlich vorgesehene Versorgung der Soldaten begrenzen oder reduzieren, einer ausdehnenden Anwendung in aller Regel ebenso wenig zugänglich wie versorgungserhöhende Bestimmungen. Die Natur des geltenden Versorgungsrechts zieht einer ausdehnenden Auslegung enge Grenzen (vgl. Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 27. Januar 2011 – 2 C 25.09 –, juris, Rz. 11). Sinn und Zweck des SVG bestehen, wie oben dargelegt, darin, eine staatliche Leistungspflicht unter dem Aufopferungsgedanken zu begründen, wofür aber keine Veranlassung besteht, wenn, wie im Falle des Klägers, gerade kein besonderes Opfer im Dienste des deutschen Staates erbracht worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Das folgt im Übrigen auch aus grundsätzlichen Überlegungen. Zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehört das Alimentationsprinzip, dass den Dienstherrn verpflichtet, Beamten und ihren Familien lebenslang – in Form von Dienstbezügen sowie einer Alters- und Hinterbliebenenversorgung – einen nach ihrem Dienstrang, nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit angemessenen Lebensunterhalt entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards zu gewähren. Das Versorgungsrecht der Beamten geht dabei grundsätzlich vom Typus des öffentlichen Bediensteten aus, der sein ganzes Arbeitsleben in den Dienst des Staates stellt. Besoldung und Versorgung des Beamten und seiner Familien haben ihre gemeinsamen Wurzeln im öffentlichen Dienst- und Treueverhältnis und müssen immer im Zusammenhang mit der Dienstverpflichtung des Beamten oder Soldaten gesehen werden. Diese Wechselwirkung entfällt aber, wenn als Folge der Gewährung von Sonderurlaub ohne Dienstbezüge und Entsendung in ein fremdes Besoldungs-, Versorgungs- und Dienstleistungssystem einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung, wie der NATO, eine unmittelbare Dienstleistung für den nationalen Dienstherrn nicht mehr erbracht wird. Den Gesetzgeber trifft daher grundsätzlich keine verfassungsrechtlich zwingende Verpflichtung, diese Zeiten überhaupt als ruhegehaltsfähig einzustufen. Im Rahmen seines Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber durch Anrechnungs- und Ruhensvorschriften das Ziel verfolgen, eine Doppel- oder Überversorgung eines Beamten zu vermeiden (vgl. zu § 55b SVG: Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 23. Mai 2017 – 2 BvL 10/11 –, juris, Rz. 80 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Rechtsprechung des BVerfG verdeutlicht somit, dass die Alimentationspflicht auf das Verhältnis zwischen dem jeweiligen Dienstherrn und dem Beamten/Soldaten bezogen ist und sich auf die Zeit für die unmittelbare Dienstleistung zu Gunsten des nationalen Dienstherrn beschränkt. Eine Leistungspflicht zu Gunsten eines fremden Dienstherrn besteht gerade nicht. Nichts anderes beansprucht der Kläger indessen, wenn er meint, Entschädigungsleistungen vom deutschen Staat für den zugunsten des türkischen Staates geleisteten Militärdienst beanspruchen zu können. Die Tatsache, dass bei einer Tätigkeit in einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung, wie der NATO, die Besoldungs- und Versorgungssysteme dieser Einrichtung eingreifen und nicht die Alimentationspflicht des nationalen Dienstherrn fortbesteht, zeigt, dass es darauf ankommt, für welchen Dienstherrn die Tätigkeit erbracht wird. Der Kläger geht mithin rechtsirrig davon aus, aus der reinen NATO-Mitgliedschaft zweier Staaten auf eine (wechselseitige) Eintrittspflicht schließen zu können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Soweit das SG Ansprüche nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) erörtert hat, weist der Senat klarstellend darauf hin, dass solche nicht Streitgegenstand gewesen sind, nachdem die Beklagte hierüber weder entschieden hat noch für eine solche Entscheidung überhaupt zuständig gewesen wäre. Unabhängig davon, dass es schon an jeglichen Anhaltspunkten für einen rechtswidrigen tätlichen Angriff (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG) fehlt, dürften materiell-rechtlich Ansprüche wegen vermeintlicher Taten im Ausland an § 3a Abs. 1 Nr. 2 OEG scheitern, da der Kläger nach eigenem Bekunden den Militärdienst jedenfalls von 1998 bis 2000 verrichtet und sich damit mehr als sechs Monate außerhalb des Geltungsbereichs des OEG aufgehalten hat. Ein Anspruch nach dem BVG kommt aus den vom SG aufgezeigten Gründen ebenfalls nicht in Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Letztlich kann dahinstehen, wie plausibel es ist, dass die vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen auf Einwirkungen während des Militärdienstes zurückgeführt werden können, wobei auch darauf hinzuweisen ist, dass nach einem Dienstbeginn im August 2008 bereits in den Krankenunterlagen aus März 2009 ein Bronchialasthma beschrieben worden ist, also schon nach einer erst gut halbjährigen Tätigkeit.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Die Kostenentscheidung folgt aus §193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) sowie form-und fristgerecht erhoben (§ 151 SGG), nachdem durch die Vorlage des Gerichtsbescheides erkennbar geworden ist, gegen welche Entscheidung sich die Berufung richten soll. Da § 151 Abs. 3 SGG eine bloße Sollvorschrift darstellt, muss dies nicht innerhalb der Berufungsfrist feststehen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 151 Rz. 11b). Sie ist auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 8. März 2022, mit dem die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Aufhebung des Bescheides vom 11. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 9. April 2021 sowie unter Rücknahme des Bescheides vom 11. Juli 2012 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung des Antrages nach § 44 SGB X ist die damalige Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht („geläuterte Rechtsauffassung“ vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 30. Januar 2020 – B 2 U 2/18 R –, juris, Rz. 16; Steinwedel in: KassKomm 117. EL 2021, SGB X, § 45 Rz. 38).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 11. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Beklagte hat es – zum wiederholten Male – zu Recht abgelehnt, den Bescheid vom 11. Juli 2012 zurückzunehmen und dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem SVG zu gewähren, da dieser die Anspruchsvoraussetzungen offensichtlich nicht erfüllt. Das SG hat die Klage daher ebenfalls zu Recht abgewiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Rechtsgrundlage des Bescheides ist § 44 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, nachdem es die Beklagte zu Recht abgelehnt hat, dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem SVG zu gewähren. Der Bescheid vom 11. Juli 2012 ist rechtmäßig und deshalb nicht zurückzunehmen. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es für die Rechtmäßigkeit des Bescheides ohne Belang, dass beim Erstantrag das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – den Antrag an das seinerzeit zuständige Landratsamt abgegeben und den Kläger hierüber informiert hat (vgl. die Widerspruchsbegründung des Klägers, Bl. 93 ff. VerwAkte). Aus der Tatsache, dass eine – andere – Behörde für die Entscheidung über einen Antrag zuständig ist, wie hier (seinerzeit) das Landratsamt K, kann in keiner Weise der Rückschluss gezogen werden, dass diese Behörde auch eine materielle Leistungspflicht trifft. Vielmehr hat diese Behörde den Anspruch nur zu prüfen und ablehnend zu bescheiden, wenn die Anspruchsvoraussetzungen, wie hier, nicht gegeben sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, nach Beendigung seines Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Wehrdienstbeschädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit in diesem Gesetz nichts Abweichendes bestimmt ist. § 1 Abs. 1 SVG bestimmt zum persönlichen Geltungsbereich des SVG, dass dieses Gesetz für die früheren Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen gilt, soweit im Einzelfall nichts anderes bestimmt ist. Rechtstheoretischer Hintergrund für die Gewährung der Versorgungsansprüche nach dem SVG ist – vergleichbar wie insbesondere in der Kriegsopferversorgung –, das besondere Opfer, dass der Soldat im Dienste und im Interesse des deutschen Staates erbringt (sog. Aufopferungsgedanke – vgl. Lilienfeld in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Vor §§ 80 ff SVG, Rz. 3 unter Verweis auf BT-Drs. 2/2504 S. 31).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Dem persönlichen Geltungsbereich des SVG unterfällt der Kläger, der zu keinem Zeitpunkt Dienst in der Bundeswehr geleistet hat, somit nicht. Auch Sinn und Zweck der Vorschriften rechtfertigen seine Versorgung nicht, nachdem dieser eben gerade nicht als Soldat im Dienste des deutschen Staates für diesen ein besonderes Opfer erbracht hat, welches unter dem Gesichtspunkt des Aufopferungsgedankens eine staatliche Leistungspflicht begründet. Er ist vielmehr in einem Dienstverhältnis zum türkischen Staat gestanden und hat für diesen Militärdienst geleistet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Zu keinem anderen Ergebnis führt, entgegen der vom Kläger nachhaltig vertretenen Rechtsauffassung, dass sowohl die T als die Bundesrepublik NATO-Staaten sind. Der Kläger hat noch nicht einmal behauptet, an einem NATO-Einsatz überhaupt beteiligt gewesen zu sein. Dies kann aber schon deshalb dahinstehen, da sich selbst durch die Teilnahme an einem NATO-Einsatz allein keine Änderung des Dienstherrn ergibt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Eine analoge Anwendung der Vorschriften scheidet aus. Denn eine solche kommt nicht in Betracht, wenn sie zu dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch tritt. Die Bindung des Richters an das Gesetz verbietet eine Auslegung, die den normativen Gehalt eines nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetzes grundlegend neu bestimmt. Im Besoldungs- und Versorgungsrecht der Beamten kommt dem Gesetzeswortlaut wegen der strikten Gesetzesbindung besondere Bedeutung zu. Das gilt in gleichem Maße für den Bereich des Soldatenversorgungsrechts, für den § 1a SVG eine ebenso strikte Gesetzesbindung festlegt. Daher sind auch hier die Vorschriften, die die gesetzlich vorgesehene Versorgung der Soldaten begrenzen oder reduzieren, einer ausdehnenden Anwendung in aller Regel ebenso wenig zugänglich wie versorgungserhöhende Bestimmungen. Die Natur des geltenden Versorgungsrechts zieht einer ausdehnenden Auslegung enge Grenzen (vgl. Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 27. Januar 2011 – 2 C 25.09 –, juris, Rz. 11). Sinn und Zweck des SVG bestehen, wie oben dargelegt, darin, eine staatliche Leistungspflicht unter dem Aufopferungsgedanken zu begründen, wofür aber keine Veranlassung besteht, wenn, wie im Falle des Klägers, gerade kein besonderes Opfer im Dienste des deutschen Staates erbracht worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Das folgt im Übrigen auch aus grundsätzlichen Überlegungen. Zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehört das Alimentationsprinzip, dass den Dienstherrn verpflichtet, Beamten und ihren Familien lebenslang – in Form von Dienstbezügen sowie einer Alters- und Hinterbliebenenversorgung – einen nach ihrem Dienstrang, nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit angemessenen Lebensunterhalt entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards zu gewähren. Das Versorgungsrecht der Beamten geht dabei grundsätzlich vom Typus des öffentlichen Bediensteten aus, der sein ganzes Arbeitsleben in den Dienst des Staates stellt. Besoldung und Versorgung des Beamten und seiner Familien haben ihre gemeinsamen Wurzeln im öffentlichen Dienst- und Treueverhältnis und müssen immer im Zusammenhang mit der Dienstverpflichtung des Beamten oder Soldaten gesehen werden. Diese Wechselwirkung entfällt aber, wenn als Folge der Gewährung von Sonderurlaub ohne Dienstbezüge und Entsendung in ein fremdes Besoldungs-, Versorgungs- und Dienstleistungssystem einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung, wie der NATO, eine unmittelbare Dienstleistung für den nationalen Dienstherrn nicht mehr erbracht wird. Den Gesetzgeber trifft daher grundsätzlich keine verfassungsrechtlich zwingende Verpflichtung, diese Zeiten überhaupt als ruhegehaltsfähig einzustufen. Im Rahmen seines Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber durch Anrechnungs- und Ruhensvorschriften das Ziel verfolgen, eine Doppel- oder Überversorgung eines Beamten zu vermeiden (vgl. zu § 55b SVG: Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 23. Mai 2017 – 2 BvL 10/11 –, juris, Rz. 80 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Rechtsprechung des BVerfG verdeutlicht somit, dass die Alimentationspflicht auf das Verhältnis zwischen dem jeweiligen Dienstherrn und dem Beamten/Soldaten bezogen ist und sich auf die Zeit für die unmittelbare Dienstleistung zu Gunsten des nationalen Dienstherrn beschränkt. Eine Leistungspflicht zu Gunsten eines fremden Dienstherrn besteht gerade nicht. Nichts anderes beansprucht der Kläger indessen, wenn er meint, Entschädigungsleistungen vom deutschen Staat für den zugunsten des türkischen Staates geleisteten Militärdienst beanspruchen zu können. Die Tatsache, dass bei einer Tätigkeit in einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung, wie der NATO, die Besoldungs- und Versorgungssysteme dieser Einrichtung eingreifen und nicht die Alimentationspflicht des nationalen Dienstherrn fortbesteht, zeigt, dass es darauf ankommt, für welchen Dienstherrn die Tätigkeit erbracht wird. Der Kläger geht mithin rechtsirrig davon aus, aus der reinen NATO-Mitgliedschaft zweier Staaten auf eine (wechselseitige) Eintrittspflicht schließen zu können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Soweit das SG Ansprüche nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) erörtert hat, weist der Senat klarstellend darauf hin, dass solche nicht Streitgegenstand gewesen sind, nachdem die Beklagte hierüber weder entschieden hat noch für eine solche Entscheidung überhaupt zuständig gewesen wäre. Unabhängig davon, dass es schon an jeglichen Anhaltspunkten für einen rechtswidrigen tätlichen Angriff (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG) fehlt, dürften materiell-rechtlich Ansprüche wegen vermeintlicher Taten im Ausland an § 3a Abs. 1 Nr. 2 OEG scheitern, da der Kläger nach eigenem Bekunden den Militärdienst jedenfalls von 1998 bis 2000 verrichtet und sich damit mehr als sechs Monate außerhalb des Geltungsbereichs des OEG aufgehalten hat. Ein Anspruch nach dem BVG kommt aus den vom SG aufgezeigten Gründen ebenfalls nicht in Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Letztlich kann dahinstehen, wie plausibel es ist, dass die vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen auf Einwirkungen während des Militärdienstes zurückgeführt werden können, wobei auch darauf hinzuweisen ist, dass nach einem Dienstbeginn im August 2008 bereits in den Krankenunterlagen aus März 2009 ein Bronchialasthma beschrieben worden ist, also schon nach einer erst gut halbjährigen Tätigkeit.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Die Kostenentscheidung folgt aus §193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,191 | lsgbw-2022-07-21-l-6-vs-216521 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 6 VS 2165/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-13T10:02:09 | 2022-10-17T17:55:59 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Mai 2021 wird zurückgewiesen.</p><p>Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Gewährung von weiterem Versorgungskrankengeld nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) i. V. m. dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) bis zum Renteneintritt aufgrund einer 1975 beim Dienstsport erlittenen Wehrdienstbeschädigung an den Knien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Er ist 1954 geboren und hat nach der Hauptschule eine Schreinerlehre abgeschlossen. Danach hat er ein Praktikum in der Landwirtschaft absolviert und vom 1. April 1974 bis 31. März 1976 Wehrdienst in der Bundeswehr geleistet. Nach Arbeitslosigkeit hat er die Berufsaufbauschule besucht und eine mit der erworbenen Fachhochschulreife begonnene Weiterbildung an der Fachhochschule K nicht abgeschlossen. Anschließend war er als LKW-Fahrer und als Schreiner tätig. Von 1994 bis 1996 ist er zu Lasten des Landeswohlfahrtverbandes zum Holztechniker umgeschult worden und hat diese Tätigkeit bis 2009 als Selbstständiger ausgeübt. Anschließend bezog er Sozialleistungen und war seit Mai 2012 mit „Dienstleistungen am Bau und Montagetätigkeiten“ wieder selbstständig tätig. Seit dem 1. April 2020 bezieht er Altersrente von der gesetzlichen Rentenversicherung. Er ist verheiratet und hat drei Kinder (vgl. Anamnese R).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Im April 1975 zog sich der Kläger beim Dienstsport einen Innenmeniskusschaden am rechten Knie mit Lockerung des Innenbandes und einen leichten Meniskusschaden links zu. Nach dem Entlassungsbericht der Fachklinik Z über die stationäre Behandlung vom 24. Juni bis 19. August 1975 sei der postoperative Verlauf regelrecht und bei Entlassung das Kniegelenk frei beweglich gewesen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Bescheid vom 22. Februar 1977 wurden eine Entfernung des Innenmeniskus, eine leichte Bandlockerung des rechten Kniegelenkes, eine Entfernung des Innen- und Außenmeniskus sowie eine leichte Bandlockerung links als Folgen einer Wehrdienstbeschädigung anerkannt und ein Ausgleich nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE – jetzt Grad der Schädigungsfolgen [GdS]) von 30 vom Hundert (v. H.) ab dem 21. April 1975 bis zum 1. Dezember 1975 gewährt, mit Abhilfebescheid vom 11. Juli 1977 für die Zeit der Zugehörigkeit zur Bundeswehr.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Im Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 20. Mai 2009 wurde ausgeführt, dass der Kläger gelernter Schreiner mit Weiterbildung zum Holztechniker sei. In diesem Beruf habe er zunächst für zwei Firmen gearbeitet. Seit 1981 sei er selbstständig im Holzhandel und Innenausbau. Das Gewerbe sei zum jetzigen Zeitpunkt angemeldet. Wegen der Kniegelenksbeschwerden könne er diese Tätigkeit jedoch nicht vollschichtig verrichten. Er führe aber gelegentlich Aufträge durch, wenn keine Zeitbeschränkung seitens des Auftraggebers bestehe. Als Nebentätigkeit betreibe er den Verkauf von Wasserstaubsaugern. Dieser erfolge überwiegend im Rahmen von Fachmessen. Die Auftragslage sei schlecht, man könne davon – so der Kläger – nicht leben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Es seien langjährige Kniegelenksbeschwerden bekannt, mit multiplen Voroperationen an beiden Kniegelenken. Aktuell werde wegen zunehmender Ruhe- und Belastungsschmerzen im linken Kniegelenk eine orthopädische Behandlung durchgeführt. Aus sozialmedizinischer Sicht sei eine wesentliche Besserung der Kniegelenksbeschwerden nicht zu erwarten, mit fortschreitenden arthrotischen Veränderungen müsse gerechnet werden. Aktuell bestehe ein positives Leistungsbild für leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten. Kniende Tätigkeiten sowie Tätigkeiten mit ständigem Tragen und Heben von schweren Lasten seien zu vermeiden. Auf der Grundlage der Aussagen des Klägers sei nicht eindeutig klar, auf welche Bezugstätigkeit abzustellen sei. Dieses sei im Zweifelsfall von der Kasse zu klären. Sollte sich ergeben, dass die Tätigkeit im Innenausbau maßgeblich zu Grunde zu legen sei, dann könne von einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden. Sollte die Nebentätigkeit maßgeblich sein, sei ab sofort keine Grundlage für eine Arbeitsunfähigkeit mehr zu erkennen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit Bescheid vom 22. September 2009 stellte das Landratsamt K (LRA) in Ausführung eines vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) geschlossenen Vergleichs als Folgen der Wehrdienstbeschädigung eine Lockerung des Kniebandapparates beidseits, eine Kniearthrose links nach operativer Behandlung, einen Knorpelschaden sowie eine Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenks fest und gewährte eine Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 30 ab dem 1. März 2004.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>In der Folge sprach der Kläger persönlich beim LRA vor und machte geltend, zwar keine Arbeiten im Holzfachhandel und keine schweren Arbeiten mehr durchführen zu können. Leichte und mittelschwere Arbeiten seien ihm aber noch möglich, eine Arbeitsunfähigkeit bestehe nicht. Er könne jegliche leichte oder mittelschwere Arbeit verrichten, wenn er eine solche bekomme, die ihn und seine Familie ernähre. In seinem Alter sei dies aber nahezu unmöglich. Das Regierungspräsidium habe ihm untersagt, während einer Arbeitsunfähigkeitszeit eine Umschulung zum Energieberater durchzuführen und für einen Monat an einer Weinlese teilzunehmen. Er falle in ein finanzielles Loch, wenn er kein Versorgungskrankengeld mehr erhalte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Mit Bescheid vom 8. Juli 2011 stellte das LRA fest, dass in der derzeitigen Arbeitsunfähigkeit ein Dauerzustand eingetreten sei, sodass die Gewährung von Versorgungskrankengeld mit Ablauf des 25. Juli 2011 ende. Der Kläger sei die letzten drei Jahre mehr als 78 Wochen krank gewesen, es müsse davon ausgegangen werden, dass diese Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen sei. Der Kläger habe bei der Begutachtung durch den MDK selbst auf die Tätigkeit im Holzhandel und Innenausbau abgehoben, die damit verbundenen knienden Tätigkeiten sowie Tätigkeiten mit ständigem Tragen und Heben von schweren Lasten verursachten nach den Feststellungen des MDK eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit. Dies entspreche dem Gutachten des W vom 10. Dezember 2008, wonach keine Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten ausgeführt werden könnten. Inzwischen seien nur noch sehr kurze Zeiträume nicht mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen belegt, sodass nicht wirklich von einer Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden könne. Eine Arbeitsunfähigkeit sei auch dann gegeben, wenn die Tätigkeit nur unter der Gefahr einer Verschlimmerung des Krankheitsbildes ausgeübt werde. Eine tatsächliche Besserung des Gesundheitszustandes im Sinne einer Arbeitsfähigkeit in dem Hauptberuf habe in diesen sehr kurzen Zeiträumen, in denen keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eingereicht worden seien, nicht vorgelegen. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 2. August 2011 zurückgewiesen. Die dagegen beim SG erhobene Klage wurde zuletzt unter dem Aktenzeichen S 6 VS 2302/12 geführt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Mit Bescheid vom 12. Dezember 2011 lehnte das LRA die Gewährung von Berufsschadensausgleich (BSA) ab. Der Kläger führe im Wesentlichen aus, dass ein solcher Anspruch deshalb bestehe, weil er aufgrund der Wehrdienstbeschädigung in seiner selbstständigen Tätigkeit als Holztechniker mit Innenausbau, die er jedoch zum 1. Juli 2009 aufgegeben habe, einen schädigungsbedingten Einkommensverlust erlitten habe. Der Kläger habe den Beruf des Schreiners erlernt und in der Zeit vom 1. April 1974 bis 31. März 1976 Wehrdienst geleistet. Dabei habe er eine Wehrdienstbeschädigung erlitten. Weil er seine Tätigkeit als Schreiner nicht mehr habe ausüben können, sei von 1994 bis 1996 eine Umschulung zum staatlich geprüften Holztechniker erfolgt und erfolgreich abgeschlossen worden. In diesem Beruf sei der Kläger von 1987 bis 2009 selbstständig tätig gewesen. Daneben sei eine selbstständige Tätigkeit mit dem Handel von Reinigungsprodukten ausgeübt worden, zum 1. Juli 2009 habe der Kläger seine gesamte selbstständige Tätigkeit beendet. Er habe durch die Rehabilitationsmaßnahme (Umschulung) die Qualifikation für einen sozial mindestens gleichwertigen Beruf erlangt, den er bis Mai 2009 ausgeübt habe. Wenn und solange Rehabilitationsmaßnahmen erfolgversprechend und zumutbar seien, bestehe kein Anspruch auf BSA. Dies gelte auch, wenn diese Maßnahmen nicht zum völligen Ausgleich des beruflichen Schadens geführt hätten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Mit Bescheid vom 5. Juli 2012 lehnte das LRA den Antrag auf Gewährung von Versorgungskrankengeld ab, da mit Bescheid vom 21. Juli 2011 (richtig: 8. Juli 2011) die laufende Zahlung von Versorgungskrankengeld für die schädigungsbedingte Arbeitsunfähigkeit mit Ablauf des 25. Juli 2011 wegen der Feststellung des Dauerzustandes nach § 18a Abs. 7 BVG eingestellt worden sei. Dadurch werde kein neuer Dreijahreszeitraum in Kraft gesetzt, noch sei von einer starren, sich fortlaufend wiederholenden Rahmen- und Blockfrist in analoger Anwendung des § 48 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) auszugehen. Nach § 18a Abs. 7 Satz 7 BVG sei auf Zeiten der Arbeitsunfähigkeit abzuheben, welche vor Eintritt der gegenwärtigen Arbeitsunfähigkeit lägen. Durch die Feststellung des Dauerzustandes sei berücksichtigt, dass die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen sei. Eine schädigungsbedingte Arbeitsunfähigkeit, die zu einer bereits bestehenden Arbeitsunfähigkeit wegen anderer Gesundheitsstörungen hinzutrete, begründe keinen neuen Anspruch auf Gewährung von Versorgungskrankengeld. Die bereits bestehende Arbeitsunfähigkeit werde durch eine hinzutretende Arbeitsunfähigkeit nicht verdrängt. Für die im maßgeblichen Dreijahreszeitraum liegenden Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen derselben Krankheit sei bereits mehr als 78 Wochen Versorgungskrankengeld gezahlt worden, sodass an der Feststellung des Dauerzustandes weiterhin festgehalten werden müsse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 12. Dezember 2011 (BSA) wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 2012 zurück. Es bestünden keine Hinweise für eine schädigungsbedingte Minderung des Einkommens. Die hiergegen beim Sozialgericht Konstanz (SG – S 6 VS 1597/12) erhobene Klage wurde mit Urteil vom 20. Mai 2015 abgewiesen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Den erneuten Antrag auf Versorgungskrankengeld vom 20. August 2012 lehnte das LRA mit Bescheid vom 13. September 2012 ab, ebenso die weiteren Anträge vom 15. November 2012 (vgl. Bescheid vom 30. November 2012) und vom 19. Dezember 2012 (vgl. Bescheid vom 29. Januar 2013).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Am 11. Dezember 2012 richtete der Kläger eine Anfrage an das LRA, ab wann er wieder Versorgungskrankengeld beanspruchen könne. Seit Mai 2012 habe er wieder eine selbstständige Tätigkeit mit Dienstleistungen am Bau und Montagetätigkeiten aufgenommen, damit er der Allgemeinheit nicht zur Last falle, auch wenn seine Gesundheit darunter leide.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die erneuten Anträge auf Versorgungskrankengeld vom 12. Februar 2013, 18. März 2013, 30. Juli 2013, 22. September 2013, 16. Januar 2014, 6. Mai 2014 und 11. September 2014 wurden vom LRA jeweils durch Bescheid abgelehnt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Nach dem Zuständigkeitsübergang lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 9. Januar 2015 auf Versorgungskrankengeld mit Bescheid vom 3. März 2015 ab und verwies auf die Feststellung des Dauerzustandes vom 21. Juli 2011 (richtig: 8. Juli 2011). Für die im maßgeblichen Drei-Jahres-Zeitraum liegenden Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen derselben Krankheit seien bereits mehr als 78 Wochen Versorgungskrankengeld gezahlt worden, sodass an der Feststellung weiter festzuhalten sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Im Widerspruchsverfahren gelangten der Einkommenssteuerbescheid 2013 (Einkünfte Ehemann 21.421 EUR) und die Einnahme-Überschuss-Rechnung der Steuerberaterin des Klägers zum 31. Dezember 2014 zu den Akten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Im Klageverfahren S 6 VS 2302/12 erhob das SG das Sachverständigengutachten des R aufgrund ambulanter Untersuchung vom 26. November 2015. Dieser führte aus, dass sich beim Gang eine harmonische Mitbewegung des Kopfes, Rumpfes und der Arme gezeigt habe. Beim Laufen sei eine regelhafte und harmonische Lastenübernahme beider Beine, eine regelrechte Abfolge der Stand-/Spielbeinphase und ein regelrechtes Abrollverhalten gegeben gewesen. Zum Zeitpunkt des 2. August 2011 sei die Prognoseentscheidung eines Dauerzustandes wegen der verbliebenen Veränderungen beider Kniegelenke in den Jahren 2009 bis 2011 nach den eigenen Angaben des Klägers zutreffend gewesen, da dieser an 1017 Tagen arbeitsunfähig gewesen sei. Die Funktionseinschränkungen und Beschwerden an beiden Kniegelenken beruhten auf der anerkannten Wehrdienstbeschädigung an beiden Kniegelenken, diese seien nicht ausgeheilt und würden auch in Zukunft nicht ausheilen. Es liege daher dieselbe Krankheit vor. Unter rein medizinischer Betrachtung sei die Prognose gerechtfertigt. Beim Kläger hätten damals links fortgeschrittene, rechts mäßig verbildete Kniegelenksveränderungen bei Lockerung der Kniebandführung beidseits bestanden und er beklage daraus nachvollziehbare bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen in beiden Kniegelenken, was eine Tätigkeit im Trockenbau zumindest erheblich beeinträchtige.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Am 29. Mai 2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung einer Badekur.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Nach einer Besprechung mit dem Kläger am 16. Dezember 2016 (vgl. Protokoll vom gleichen Tag, Bl. 389 VerwAkte) ging die Beklagte davon aus, dass die Arbeitsunfähigkeit bis 27. September 2013 als letzter Zeitpunkt zu sehen sei, der noch in die Bindungsfrist des Bescheides über die Feststellung eines Dauerzustands falle. Die Daten belegten, dass der Kläger sich ab diesem Zeitpunkt wieder verstärkt beruflich betätigt habe und die dann eingetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten seltener und kürzer geworden seien. Insofern bestehe die Möglichkeit, neu in die Prüfung einzusteigen und ab diesem Zeitpunkt erneut Versorgungskrankengeld zu gewähren. Rückwirkend würden deshalb alle ab 27. September 2013 nachgewiesenen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit mit Versorgungskrankengeld ausgeglichen. Sofern der Kläger erneut schädigungsbedingt arbeitsunfähig werde, seien die Zeiten über Versorgungskrankengeld abgesichert. Der Kläger sei ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht worden, dass mit Eintritt in das Rentenalter unabhängig vom Ergebnis der zur Zeit anstehenden Überprüfung ein neuer Antrag auf Gewährung von BSA zu stellen sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Der Kläger reichte sodann Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 12. bis 27. November 2015, 21. Januar bis 5. Februar 2016, 12. bis 27. Mai 2016, 19. September 2016 bis 3. Oktober 2016, 14. Dezember 2016 bis 10. Januar 2017 zur Akte und machte geltend, dass nach dem Gesprächsvermerk kurze Zeiten der Arbeitsunfähigkeit erstattet würden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Mit Bescheid vom 25. Januar 2017 gewährte die Beklagte (rückwirkend) Versorgungskrankengeld für die Zeiten vom</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt" class="Rsp">
<tr>
<th colspan="1" rowspan="1"><rd nr="23"/></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">5. Januar bis 14. Februar 2015</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">21. Mai bis 27. Juni 2015</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">12. November bis 27. November 2015</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">21. Januar bis 5. Februar 2016</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">12. Mai bis 27. Mai 2016</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">19. September bis 3. Oktober 2016</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">14. Dezember bis 31. Dezember 2016</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1. Januar bis 7. Februar 2017</td></tr></table>
</td>
</tr>
</table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>und erteilte entsprechende Zahlaufträge an die Krankenkasse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Am 3. Mai 2017 erteilte die Beklagte einen Zahlauftrag für Versorgungskrankengeld für die Zeit vom 16. März bis 19. Mai 2017.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Weiter gelangte der Einkommenssteuerbescheid für 2015 (Einkünfte Ehemann 41.606 EUR) zur Akte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Klage im Verfahren S 6 VS 2302/12 wies das SG mit Urteil vom 13. Dezember 2017 ab, da zutreffend der Eintritt eines Dauerzustandes festgestellt worden sei, wie das Sachverständigengutachten des R bestätige.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Auf die weiteren Anträge des Klägers wurde Versorgungskrankengeld vom 21. Juli bis 3. September 2017 und vom 2. Oktober 2018 bis 18. März 2018 gewährt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg teilte auf Anfrage der Beklagten mit, dass im Versicherungskonto des Klägers seit 1. Januar 2013 keine rentenrechtlichen Zeiten gespeichert seien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Am 12. Juni 2018 beantragte der Kläger die Gewährung von Versorgungskrankengeld für die Zeit vom 2. bis 17. Juni 2018. Vorgelegt wurde der Einkommenssteuerbescheid 2016 (Einkünfte Ehemann 42.814 EUR).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Am 24. Juni 2018 wurde die Gewährung von Versorgungskrankengeld vom 18. bis 24. Juni 2018 beantragt und mitgeteilt, dass er ab 25. Juni 2018 wieder arbeite.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Auf Nachfrage der Beklagten teilte der S in seinem Befundschein mit, dass die Diagnose Z98.8G auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung versehentlich angegeben worden sei. Der Kläger sei fortwährend wegen der posttraumatischen Gonathrose arbeitsunfähig erkrankt. Er habe deshalb die Bescheinigung verlängern müssen. In einem weiteren Schreiben wurde die Genehmigung extrabudgetärer Leistungen beantragt, da sich bei dem Kläger eine Verschlechterung der posttraumatischen Gonarthrose zeige. Dies werde durch die Röntgenaufnahmen bestätigt. Letztendlich zeige vor allem die Klinik nunmehr eine Streckhemmung. Daneben bestehe eine belastungsabhängige Schmerzhaftigkeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>In einem weiteren Schreiben vom 19. Juli 2018 wird ausgeführt, dass die Röntgenuntersuchung vom 16. Juli 2018 eine erhebliche Unruhe im Bereich der äußeren Oberschenkelrolle sowie in Relation auch im Bereich des äußeren Schienbeinplateaus mit gut erkennbar vorhandenen Bohrkanälen gezeigt habe. Die seitliche Projektion weise vor allem erheblich veränderte Gleitflächen im retropattellaren Raum auf. Links sei eine Streckhemmung von 0-10-115° festzustellen, das rechte Knie sei derzeit blande. Die Untersuchungsunterlagen aus den letzten zwei Jahren sollten eigentlich vorliegen, würden aber beigefügt. Es werde der schriftliche Befund der Kernspintomographie (MRT) des linken Knies vom 18. April 2017 und der Bericht aus der ambulanten Operation vom 8. November 2017 vorgelegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Am 24. Juli 2018 beantragte der Kläger Versorgungskrankengeld für die Zeit vom 16. Juli bis 17. August 2018. Die Beklagte erteilte entsprechende Zahlaufträge an die Krankenkasse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Mit Bescheid vom 13. August 2018 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für eine Hyaluronsäurenspritzenserie ab, da der Nutzen der Therapie umstritten und ein möglicher Schaden dadurch nicht auszuschließen sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Auf die weiteren Anträge gewährte die Beklagte Versorgungskrankengeld vom 17. September 2018 bis 18. Januar 2019 und vom 25. Januar bis 8. Februar 2019.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Nach dem Aktenvermerk vom 9. Januar 2019 stellte die Beklagte fest, dass in den letzten drei Jahren bereits Arbeitsunfähigkeitszeiten von 78 Wochen bestanden hätten, wobei die aktuelle Arbeitsunfähigkeit andauere. Die Feststellung des Dauerzustandes sei während der laufenden Arbeitsunfähigkeit nicht zulässig, aber bei der Nächsten auf jeden Fall zu prüfen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die Beklagte veranlasste sodann die Prüfung eines Dauerzustandes im Sinne des § 18a BVG durch den MDK und gewährte vom 5. März bis 5. April 2019 erneut Versorgungskrankengeld.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Am 8. April 2019 beantragte der Kläger die Gewährung einer Badekur und reichte den Einkommenssteuerbescheid 2017 (Einkommen Ehemann 14.100 EUR).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Im Fragebogen der Beklagten gab der Kläger an, unmittelbar bis vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit in seiner Tätigkeit „Dienstleistungen am Bau“ selbstständig tätig gewesen zu sein und produktiv mitgearbeitet zu haben. Er beschäftige keine weiteren Personen im Betrieb, dieser ruhe während seiner Arbeitsunfähigkeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Mit Bescheid vom 29. März 2018 lehnte die Beklagte die Erhöhung des GdS – sinngemäß die Gewährung einer höheren Beschädigtengrundrente – ab, da eine besondere berufliche Betroffenheit nicht vorliege. Ebenso bestehe kein Anspruch auf BSA. Mit Schreiben vom 27. November 2017 und 22. Februar 2018 sei geltend gemacht worden, dass der Kläger seiner beruflichen Tätigkeit nicht mehr oder nur noch unter Schmerzen nachkommen könne. Der rentenrechtliche Grundsatz, dass sich der Versicherte immer auf einen Umschulungsberuf verweisen lassen müsse, gelte auch im Versorgungsrecht. Aufgrund der erfolgten Umschulung zum Holztechniker könnten die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 und 3 BVG nur in dem umgeschulten Beruf erfüllt werden. In den Schreiben vom 27. November 2017 und 22. Februar 2018 werde das Aufgabengebiet und die Tätigkeit als selbstständiger Montage-Schreiner beschrieben. Nach dem Vergleich der Darstellung der selbstständigen Tätigkeit mit einer Tätigkeitsbeschreibung eines Holztechnikers sei festgestellt worden, dass der Kläger einer anderen Tätigkeit als dem Umschulungsberuf nachgehe. Der Kläger übe einen Beruf aus, der deutlich mehr körperliche Betätigung abverlange, als es für den Beruf eines Holztechnikers vorgesehen sei. Da diese Berufswahl in keinem kausalen Zusammenhang zur Wehrdienstbeschädigung stehe, könne in diesem Beruf keine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit gewährt werden. Des Weiteren habe der Kläger angegeben, sich in letzter Zeit ohne Erfolg bei mehreren Firmen beworben zu haben. Eine besondere berufliche Betroffenheit ergebe sich aber nicht schon daraus, dass es nach einer Umschulung zu Arbeitslosigkeit gekommen sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Mit Schreiben vom 5. August 2019 führte der Kläger aus, dass er davon ausgehe, dass ab dem 8. Februar 2019 ein Dauerzustand geprüft werden solle. Im Dreijahreszeitraum seien aber nur 541 und keine 546 Tage Arbeitsunfähigkeit gegeben, der Zeitraum vom 12. Januar 2016 bis 5. Februar 2016 liege außerhalb des Zeitraumes.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>H sah versorgungsärztlich keinen kausalen Zusammenhang zwischen der anerkannten Schädigungsfolge „Lockerung des Kniebandapparates“ und der Gonarthrose. Gestützt hierauf lehnte die Beklagte die Gewährung von Versorgungskrankengeld mit Bescheid vom 8. August 2019 ab.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>In einem Aktenvermerk vom 8. August 2019 wurde ausgeführt, dass mangels Kausalzusammenhang Versorgungskrankengeld nicht habe gewährt werden dürfen. Die Dauerzustandsprüfung sei noch nicht abgeschlossen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Zur Prüfung des Antrages auf die Badekur holte die Beklagte das Gutachten des S ein. Danach sei der Kläger 2017, 2018 und 2019 wiederholt bei ihm in Behandlung gewesen sei. Mit der Zeit habe sich die Gelenksituation beider Kniegelenke verschlechtert. Zuletzt seien Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bis einschließlich Februar 2019 und der hier dann einsetzenden Aussteuerung über die 78. Woche hinaus erfolgt. Bei einer im Spätsommer 2018 neu eingetretenen Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenks (Streckhemmung) sei eine Röntgenuntersuchung veranlasst worden, die Pangonarthrosen beidseits ergeben habe. Die letzte funktionelle Untersuchung vom 12. Oktober 2018 habe ein Bewegungsausmaß beider Knie von Streckung/Beugung 0-10-120° aufgewiesen. Die Bänder seien jeweils einfach positiv aufklappbar ohne echten Anschlag. Rechtsseitig finde sich eine sagittale Instabilität im Sinne einer Kreuzbandinsuffizienz. Sonstige Veränderungen zu den Vorjahren hätten sich allerdings nicht im wesentlichen Umfang eingestellt. Der subjektive Erfolg der letzten Kurbehandlung (2016) habe in einer mäßigen Besserung der Schmerzsymptomatik und einer milden Verbesserung der Gesamtsymptomatik bestanden. Unregelmäßig sei Physiotherapie mit Kältetherapie durchgeführt worden. Für eine vorzeitige Badekur sehe er keine Notwendigkeit und habe eine solche auch nicht empfohlen. Der Antrag sei vom Kläger selbst gestellt worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Der MDK, W1, führte in seinem Gutachten vom 19. März 2019 die Arbeitsunfähigkeitszeiten aus, hinsichtlich derer ein innerer Zusammenhang zu früheren Arbeitsunfähigkeitszeiträumen anzunehmen sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Der Kläger legte das fachärztliche Attest des S vor. Danach sei die Instabilität vor allem auf der linken Seite deutlich. Die Kniearthrose sei selbstverständlich, vor allem, da ja die primäre Wehrdienstbeschädigung anerkannt worden sei, eben dieser zuzuordnen. Er gehe davon aus, dass die ärztliche Stellungnahme nicht auf der Basis einer körperlichen Untersuchung erfolgt sei. Aus rein medizinischer Sicht sei begrüßenswert, dass der Kläger wieder arbeitsfähig und zu erwarten sei, dass in absehbarer Zeit eine Prothesenversorgung an den Knien anstehe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>H führte versorgungsärztlich aus, dass die Arbeitsunfähigkeit des Klägers in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen sei, sondern aller Voraussicht nach ein Dauerzustand bestehe, der sich nicht beheben lasse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der M für die Zeit vom 3. September 2019 bis 15. September 2019 gewährte die Beklagte weiteres Versorgungskrankengeld.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Mit Schreiben vom 17. September 2019 hörte die Beklagte den Kläger zur Feststellung eines Dauerzustandes im Sinne des § 18a Abs. 7 BVG an. Es sei beabsichtigt, einen Bescheid über die Feststellung eines Dauerzustandes zu erteilen und die Auszahlung von Versorgungskrankengeld zu versagen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Hierzu machte der Kläger geltend, dass ein Dauerzustand nur für die Zukunft, nicht aber rückwirkend festgestellt werden könne. Die letzten Arbeitsunfähigkeitszeiten seien vom 11. März bis 5. April 2019 und vom 3. bis 15. September 2019 gewesen. Er habe heute einen Antrag auf ein „Fallmanagement“ gestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Zu dem Antrag auf ein „Fallmanagement“ teilte die Beklagte mit, dass hierfür keine Notwendigkeit erkannt werden könne. Über den Antrag auf die Badekur werde in Kürze entschieden, der Widerspruch gegen den Bescheid vom 8. September 2019 befinde sich noch in Prüfung. Zu weiteren Fragen hinsichtlich der Versorgung stehe der Sozialdienst der Bundeswehr zur Verfügung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Mit Bescheid vom 27. September 2019 stellte die Beklagte das Bestehen eines Dauerzustandes fest und die Zahlung von Versorgungskrankengeld mit Ablauf des 18. Oktober 2019 ein. Ein Dauerzustand sei gegeben, wenn die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen sei. Die Feststellung sei ausgeschlossen, solange dem Berechtigten stationäre Behandlungsmaßnahmen gewährt würden oder er nicht seit mindestens 78 Wochen ununterbrochen arbeitsunfähig sei. Zeiten einer vorausgehenden, auf derselben Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit seien auf diese Frist anzurechnen, soweit sie in den letzten drei Jahren vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit lägen. Der Wegfall des Versorgungskrankengeldes trete mit Ablauf von zwei Wochen nach Feststellung des Dauerzustandes ein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 10. Oktober 2019 Widerspruch und machte geltend, dass der Bescheid nicht aufzeige, wann der 3-Jahres-Zeitraum beginne und wann die 78 Wochen erreicht seien. Es sei keine Erhöhung des GdS, kein Berufsschadensausgleich und keine Ausgleichsrente geprüft worden. Die Feststellung eines Dauerzustandes könne nur erfolgen, wenn eine Arbeitsunfähigkeit vorliege. Er arbeite seit dem 16. September 2019 aber wieder. Ein Bescheid über die Nachzahlung des Versorgungskrankengeldes solle endlich erfolgen. Nur das Amt könne Bescheide erlassen und habe die Pflicht aufzuklären, auf ein beratendes Amt lasse er sich nicht verweisen. Die Grundrente sei um 10 % zu erhöhen und über Rentenminderungs-BSA oder eine Ausgleichsrente zu entscheiden. Der Antrag vom 8. April 2019 auf eine Rehabilitationsmaßnahme sei endlich zu entscheiden, da bereits sechs Monate vergangen seien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Mit Bescheid vom 11. Oktober 2019 gewährte die Beklagte eine stationäre Behandlung in einer Kureinrichtung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, im Antrag die H-Klinik A genannt zu haben. Nach § 8 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) habe er das Recht, eine fachliche Kureinrichtung auszusuchen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>W2 legte am 28. Oktober 2019 versorgungsärztlich dar, dass als Ursache einer Arthrose in erster Linie alters- und abnutzungsbedingte Veränderungen anzunehmen seien. Die Entwicklung von Arthrosen an den Gelenken des kontralateralen Beines im Sinne eines Überlastungsschadens würden in der wissenschaftlichen Literatur nicht anerkannt. Die Anerkennung einer Arthrose als Unfallfolge setze ein direktes Betroffensein des erkrankten Gelenks voraus. Bei anerkannter Lockerung des Knie-Kapsel-Band-Apparates rechts sei davon auszugehen, dass sich aufgrund dieser Lockerung eine Arthrose des Femoro-Tibial-Gelenkes gebildet habe. Die Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen M 17.9 G R und M 17.1 G R sollten als wehrdienstbedingt anerkannt werden. R sei bereits 2016 zu dem Ergebnis gekommen, dass die zur Auszahlung des Versorgungskrankengeldes im § 18a BVG genannte Frist weit überschritten sei. Dieser Beurteilung sei nichts hinzuzufügen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Mit Abhilfebescheid vom 4. November 2019 hob die Beklagte den Bescheid vom 8. August 2019 auf und gewährte Versorgungskrankengeld für die Zeit vom 25. Januar bis 8. Februar 2019 und vom 11. März bis 5. April 2019 in Höhe von 122,33 EUR täglich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Am 25. Oktober 2019 beantragte der Kläger unter Vorlage einer erneuten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des S die Gewährung von Versorgungskrankengeld vom 16. Oktober bis 16. November 2019.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Mit Bescheid vom 7. November 2019 gewährte die Beklagte Versorgungskrankengeld vom 16. bis 18. Oktober 2019 auf Grundlage des Einkommensteuerbescheides 2017 und führte zur Begründung aus, dass die Zahlung des Versorgungskrankengeldes mit Bescheid vom 27. September 2019 mit Ablauf des 18. Oktober 2019 eingestellt worden sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Mit Abhilfebescheid vom 19. November 2019 hob die Beklagte den Bescheid vom 11. Oktober 2019 auf und gewährte eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der V Rehaklinik A.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Am 22. November 2019 fand ein weiteres Gespräch statt. Nach dem Protokoll (vgl. Bl. 26 ff. VerwAkte) wurde darauf hingewiesen, dass wegen des Renteneintritts zum 1. April 2020 eine Arbeitsfähigkeit über mindestens 78 Wochen hinaus nicht positiv feststellbar sei. Dem Kläger sei empfohlen worden, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen, um den Zeitraum bis zum gewünschten Renteneintritt am 1. April 2020 finanziell zu überbrücken. Rentenbeiträge könnten nach § 22 Abs. 2 BVG nicht erstattet werden, da der Kläger solche nicht gezahlt habe. Es werde unter dem Gesichtspunkt eines Härtefalles geprüft, ob die Beiträge noch nachgezahlt werden könnten. Hinsichtlich der Badekur sei darauf hingewiesen worden, dass eine Zusage für die ursprünglich beantragte Klinik in A erfolgen werde. Unabhängig von einem Dauerzustand liege ein Versorgungskrankengeldanspruch für diesen Zeitraum nicht vor, wenn zwischenzeitlich der empfohlene Erwerbsminderungsrentenantrag gestellt werde. Hierüber sei der Kläger unzufrieden gewesen. Ihm sei eine Vorschusszahlung bezüglich der Reisekosten für die Badekur bei entsprechendem Antrag zugesagt worden. Der Kläger habe angegeben, bei fehlender Versorgungskrankengeldzahlung die Kur nicht antreten zu wollen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Zum BSA sei ausgeführt worden, dass aufgrund der erfolgreichen Umschulung eine Zahlung aktuell nicht erfolgen können. Ein Leistungseintritt könne aber geprüft werden, wenn der Kläger tatsächlich in Rente gehe und sich hierbei durch die anerkannte Wehrdienstbeschädigung geringere Zahlungen ergäben. Es werde zeitnah durch Bescheid über die aktuellen und auch mit Urteil des SG bereits abschlägig beschiedenen Leistungen erneut rechtsmittelfähig entschieden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Am 13. November 2019 bescheinigte S eine weitere Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis 14. Dezember 2019 und stellte – durchgehend – Folgebescheinigungen bis 31. März 2020 aus.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2020 zurück. Für die anerkannten Schädigungsfolgen bestehe ein Anspruch auf Heilbehandlung, der Anspruch auf Gewährung von Versorgungskrankengeld ende unter anderem mit dem Eintritt eines Dauerzustandes nach § 18a Abs. 7 BVG. Ein Dauerzustand sei gegeben, wenn die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen sei (§ 18a Abs. 7 Satz 2 BVG). Die Feststellung eines Dauerzustandes sei ausgeschlossen, solange dem Berechtigten stationäre Behandlungsmaßnahmen gewährt würden oder solange er nicht seit mindestens 78 Wochen ununterbrochen arbeitsunfähig sei. Zeiten einer vorausgehenden, auf derselben Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit seien auf diese Frist anzurechnen, soweit diese in den letzten drei Jahren vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit lägen. Betrachtungszeitpunkt sei der Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 3. September 2019. Der rücklaufende Dreijahreszeitraum sei somit vom 2. September 2019 bis 3. September 2016 zu bilden. In diesen Zeitraum fielen folgende Arbeitsunfähigkeitszeiten:</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt" class="Rsp">
<tr>
<th colspan="1" rowspan="1"><rd nr="66"/></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">14.12.2016 bis 07.02.2017</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">16.03.2017 bis 19.05.2017</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">21.07.2017 bis 03.09.2017</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">02.10.2017 bis 18.03.2018</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">04.06.2018 bis 24.06.2018</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">16.07.2018 bis 17.08.2018</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">17.09.2018 bis 18.01.2019</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">25.01.2019 bis 08.02.2019</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">11.03.2019 bis 05.04.2019.</td></tr></table>
</td>
</tr>
</table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit sei der Kläger bereits länger als 78 Wochen innerhalb des Dreijahreszeitraums erkrankt gewesen. Er habe sich nicht in einer Badekur oder einer stationären Maßnahme befunden. Nach der versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 29. August 2019 sei aller Voraussicht nach ein Dauerzustand im Sinne des § 18a BVG eingetreten, welcher in den nächsten 78 Wochen nicht zu beheben sei. Nach § 18a Abs. 7 Satz 4 BVG werde bei Eintritt eines Dauerzustandes das Versorgungskrankengeld, sofern es laufend gewährt werde, bis zum Ablauf von zwei Wochen nach Feststellung des Dauerzustandes gezahlt. Der Bescheid vom 27. September 2019 sei am 30. September 2019 zur Post gegeben worden. Nach § 37 Abs. 2 i. V. m. § 65 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gelte der Bescheid am 4. Oktober 2019 als bekanntgegeben, sodass die Zahlung mit Ablauf des 18. Oktober 2019 einzustellen gewesen sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Am 2. März 2020 hat der Kläger erneut Klage beim SG erhoben. Er sei nicht 78 Wochen ununterbrochen arbeitsunfähig gewesen und erfülle nicht die Voraussetzungen der Blockfrist. Die Beklagte sei ihren Pflichten nicht nachgekommen und habe alle 26 Wochen den Gesundheitszustand prüfen müssen, was sie unterlassen habe. Auf Seite 2 des Vermerks vom 16. Dezember 2016 stehe, dass wenn er erneut schädigungsbedingt arbeitsunfähig werde, die Zeiten über das Versorgungskrankengeld abgesichert seien. Die von ihm am 29. Mai 2016 beantragte Rehabilitationsmaßnahme sei erst am 19. November 2019 genehmigt worden, sodass die Genehmigung zweieinhalb Jahre gedauert habe. Ferner sei kein Antrag zu BSG, Urteil vom 30. September 2009 – B 9 VS 3/09 R – gestellt worden. Nach der Aufstellung der Beklagten vom 6. Februar 2020 seien nur 511 Tage Arbeitsunfähigkeit gegeben und die 78 Wochen damit nicht erreicht. Die Beklagte habe den Rehabilitationsantrag nicht zügig bearbeitet und er warte derzeit auf einen Termin für die Reha. Weiter habe die Beklagte eine Ermessensentscheidung vornehmen müssen, da es nur um gut fünf Monate Verletztengeld bis zur Rente gehe. Aus der Rechtsprechung folge, dass derjenige, der Anspruch auf Heilbehandlung habe, auch Versorgungskrankengeld beanspruchen könne.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Auf ausdrückliche Nachfrage des SG zu den im Zeitraum von 2016 bis 2019 verrichteten Tätigkeiten führte der Kläger aus, dass in dem Urteil des SG Konstanz vom 20. Mai 2015 stehe, dass er in der Lage sei, seinen Umschulungsberuf auszuüben. Dafür spreche auch, dass er seit dem 10. Januar 2012 einen Betrieb für Dienstleistungen am Bau und Montagetätigkeiten betreibe und aktuell auf einer Großbaustelle für die Bezugsfertigkeit der Wohnungen sorge und Schreinertätigkeiten ausübe. Auf dieser Großbaustelle habe es zwischen 2016 und 2019 immer wieder kleine Aufträge gegeben und er habe noch andere kleine Aufträge erledigt. Dieses Arbeiten hätten aus Überwachen von anderen Handwerkern sowie der Beratung von Kunden und diverser Arbeiten bestanden. Seit dem 1. April 2020 beziehe er Regelaltersrente. Da diese nicht sehr hoch ausfalle, müsse er weiter nach Aufträgen schauen und diese auch ausführen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Die Beklagte hat – nach rechtlichem Hinweis des SG – ausgeführt, dass die Feststellung eines Dauerzustandes auch in Betracht komme, wenn kein ununterbrochener Zeitraum von 78 Wochen der Arbeitsunfähigkeit vorliege. Durch § 18a Abs. 7 Satz 7 BVG komme zum Ausdruck, dass kein ununterbrochener Zeitraum von 78 Wochen der Arbeitsunfähigkeit vorliegen müsse, da sich dieser auch aus der Anrechnung der Arbeitsunfähigkeitszeiten in den letzten drei Jahren ergeben könne. Diese Anrechnung sei in den Bescheiden berücksichtigt worden. Die Lücken innerhalb der drei Jahre seien für die Feststellung des Dauerzustandes unschädlich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Danach hat das SG zur weiteren Sachaufklärung sachverständige Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte erhoben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>M hat mitgeteilt, den Kläger seit 2015 regelmäßig untersucht zu haben. Da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht von ihr ausgestellt worden seien, könne keine definitive Beurteilung erfolgen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>S hat ausgeführt, dass er die Praxis seines Vorgängers K1 am 1. Oktober 2016 übernommen und den Kläger erstmals am 11. Januar 2017 behandelt habe. Sowohl vor dem 3. September 2019 als auch danach seien die Beschwerden des Klägers im rechten und linken Kniegelenk immer gleich gewesen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Klinisch habe bei freier Funktion des rechten Kniegelenks in der passiven Durchbewegung linksseitig eine Streckhemmung von 5 bis 10° bestanden, des Weiteren sei die Aufklappbarkeit auf der Kniegelenkinnenseite rechts und die beginnende Aufklappbarkeit in der Pfeilebene links als Residuum einer ehemaligen Kreuzbandverletzung festzustellen. Der letzte Kontakt sei am 21. August 2019 gewesen. Wie aus dem (beigefügten) Schreiben vom 11. Dezember 2018 hervorgehe, habe er den M in R mitgeteilt, dass bis auf regelhafte verlängerte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen jeweils mit der gleichen Diagnose einer bekannten Gonarthrose beidseits bis einschließlich Februar 2019 keine Weiterungen zu erwarten gewesen seien. Am 19. September 2019 sei noch eine MRT des linken Kniegelenks erfolgt, welche die Diagnose einer Pangonarthrose erhärtet und etwaige OP-Indikationen zum Beispiel bei freien Gelenkkörpern ausgeschlossen habe. Die Arbeitsunfähigkeit sei offensichtlich jeweils wegen der Kniegelenkerkrankungen attestiert worden. Er habe in seinem Schreiben vom 18. Juli 2018 die einmalige (falsche) Diagnose Z98.8 G zurückgenommen und darauf verwiesen, dass eine posttraumatische Gonarthrose dauerhaft bestehe und es dadurch immer wieder zu erwartende temporäre Arbeitsunfähigkeitsphasen bestünden. Als berufliche Tätigkeit des Klägers sei ihm die eines Schreiners im Trockenbau bekannt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Die sicherlich temporär immer wieder auftretende Arbeitsunfähigkeit angesichts des desolaten Kniegelenkbefunden beidseits bei vorhandenen Kniearthrosen und bereits anerkanntem Wehrdienstschaden sei sämtlich nicht zu beseitigen. Dies gelte sowohl für die 78 Wochen vor dem 3. September 2019 als auch danach. Es handele sich schlicht um einen Dauerzustand, die Möglichkeit einer Wiedereingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt sehe er nicht. Dies werde reaktiv bei entsprechender Krankheitsbewertung durch den Kläger so unterstützt. Mittlerweile habe dieser das Rentenalter erreicht, sodass sich vieles hoffentlich erledige. Mit der Notwendigkeit einer prothetischen Versorgung sei zu rechnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>Mit Bescheid vom 29. Juli 2020 hat die Beklagte den Antrag auf Leistungsgewährung in besonderen Fällen nach § 89 BVG i. V. m. dem SVG abgelehnt. Es bestehe Anspruch auf Heilbehandlung für die anerkannten Schädigungsfolgen und Versorgungskrankengeld sei bis zur Feststellung des Dauerzustandes mit Bescheid vom 27. September 2019 zuletzt bis 18. Oktober 2019 gezahlt worden. Es werde unter Verweis auf das Urteil des BSG (B 9 VS 3/09 R) die Weitergewährung bis zum Renteneintritt ab dem 1. April 2020 begehrt. Das genannte Urteil beziehe sich auf die Verlängerung eines Heilbehandlungsanspruchs nach § 82 SVG und finde deshalb keine Anwendung. Versorgungskrankengeld diene dem Ausgleich für eine Minderung des Arbeitseinkommens durch Arbeitsunfähigkeit. Das Versorgungskrankengeld ende unter anderem dann, wenn ein Dauerzustand eingetreten sei, weil damit dem Leistungszweck, einen Ausgleich für eine vorübergehende Minderung des Arbeitseinkommens zu schaffen, nicht mehr erfüllt werden könne. Im Rahmen der Besprechung vom 14. November 2019 sei mehrfach darauf hingewiesen worden, dass ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen sei, um den Zeitraum bis zum Renteneintritt zu überbrücken. Eine besondere Härte liege daher nicht vor, ein Härteausgleich nicht möglich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>Gegen den Bescheid hat der Kläger Widerspruch erhoben und geltend gemacht, dass er Anspruch auf Heilbehandlung habe und das Versorgungskrankengeld hiervon nicht abgekoppelt werden dürfe. Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente bestehe nicht, da er in der Lage sei, sechs Stunden zu arbeiten. Ob und welche Arbeit spiele bei der Betrachtung der Rentenversicherung keine Rolle. Auch schreibe H versorgungsärztlich nur, dass es sich aller Voraussicht nach um einen Dauerzustand handele. Der Bescheid nach § 18a Abs. 7 BVG sei noch nicht rechtskräftig. Da es sich nur um einen begrenzten Zeitraum von sechs Monaten handele, sei ein Härteausgleich möglich. Im Übrigen habe die Kur zu einer Besserung der Gesundheit beigetragen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Den Widerspruch hat die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. September 2020 zurückgewiesen. Versorgungskrankengeld könne keines gewährt werden, da es hierdurch zu einer Missachtung der §§ 16 ff. BVG komme. Es handele sich nicht um einen besonderen Einzelfall, welcher vom Gesetzgeber übersehen oder nicht vorausgehen worden sei. Es entstehe durch die Versagung kein Missverhältnis zwischen der Anwendung der §§ 16 ff. BVG und dem Recht der Kriegsopferversorgung. Versorgungskrankengeld stelle eine Entgeltersatzleistung dar. Das Sozialrecht nach dem Sozialgesetzbuch und seinen Nebengesetzen umfasse auch andere Entgeltersatzleistungen von anderen Sozialleistungsträgern, welche ggf. in diesem Zeitraum zu gewähren seien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Auf erneuten rechtlichen Hinweis des SG hat der Kläger ausgeführt, dass das BVG ein eigenständiges Gesetz sei, welches der Ausgestaltung des konkreten Rechts im individuellen Fall diene. In dem Gespräch vom 16. Dezember 2016 habe die Beklagte eine Entscheidung dahingehend getroffen, dass bei einer erneut auftretenden Arbeitsunfähigkeit die Zeiten durch Versorgungskrankengeld abgesichert würden. Die Beklagte habe alle 26 Wochen den Gesundheitszustand prüfen müsse, was nicht erfolgt sei. Sie habe vor der Feststellung eines Dauerzustandes unter dem Gesichtspunkt des zu erwartenden Gesundheitszustand prüfen müssen, wie von anderen Stellen die künftigen Dauerleistungen anstelle des Versorgungskrankengeldes geregelt würden. Dabei müsse die besondere Verpflichtung bestehen, alle möglichen medizinischen und beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen ausgeschöpft zu haben, bevor ein Dauerzustand festgestellt werde. Diese am 16. Dezember 2016 getroffene Ermessensentscheidung sei bis heute nicht widerrufen worden und es werde ihm weiterhin Heilbehandlung gewährt. Bei einer klassischen Arbeitsunfähigkeit sei von der zuletzt ausgeführten Tätigkeit auszugehen. Beim BVG sei zu prüfen, ob er noch einer gewinnbringenden Tätigkeit nachgehen könne. Es sei eine wesentliche Änderung im Sinne des Gewerbebetriebs ab dem 10. Januar 2012 eingetreten. Der Bescheid datiere vom 27. September 2019 und das Versorgungskrankengeld habe am 18. Oktober 2019 geendet. In der ärztlichen Auswertung vom 28. August 2019 stehe, dass die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen sei. Ein Dauerzustand könne nur bei einer aktuellen Arbeitsunfähigkeit festgestellt werden, von diesem Zeitpunkt aus würden die drei Jahre gerechnet, wie sich aus § 48 Abs. 1 SGB V ergäbe. Weder zum Zeitpunkt des Anhörungsschreibens vom 17. September 2019 noch am 29. September 2019 habe eine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen und ein Datum sei nicht genannt worden, sodass der Bescheid falsch und hinfällig sei. Eine rückwirkende Feststellung des Dauerzustandes ohne bestehende Arbeitsunfähigkeit sei rechtswidrig. Das SG setze als Datum den 3. September 2019 fest, die Beklagte nenne dieses Datum nirgends. Also sei der 3. September 2019 auch nur ein fiktives Datum und er habe ja schon am 16. September 2019 wieder gearbeitet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 27. Mai 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Dem Kläger stehe im Zeitraum vom 19. Oktober 2019 bis 31. März 2020 kein Anspruch auf Versorgungskrankengeld zu. Zwar gehe die Kammer von einer Arbeitsunfähigkeit des Klägers aus, jedoch sei der Anspruch nach § 18a Abs. 7 BVG bei Eintritt eines Dauerzustandes ausgeschlossen. Ein solcher sei gegeben, wenn die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen sei. Aus der Formulierung folge, dass es sich um eine Prognoseentscheidung handele. Nach den überzeugenden Ausführungen des H sowie des sachverständigen Zeugen S habe beim Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt am 3. September 2019 ein Dauerzustand vorgelegen. Letzterer habe die Beeinträchtigungen der Kniegelenke des Klägers anschaulich dargestellt und darauf hingewiesen, dass die Kniearthrosen nicht mehr zu beseitigen seien, was sowohl für die 78 Wochen vor dem 3. September 2019 als auch danach gelte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Der bloße Anspruch auf stationäre Behandlungsmaßnahmen genüge zum Ausschluss der Feststellung eines Dauerzustandes nicht. Der Kläger möge die Bearbeitung seines Antrages auf Gewährung einer Kur durch die Beklagte als sehr (beziehungsweise zu) lang erachtet haben. Belastbare Anhaltspunkte für eine bewusst vorsätzliche Verschleppung der Antragsbearbeitung seitens der Beklagten seien jedoch weder klägerseitig substantiiert vorgetragen, noch sonst ersichtlich. Er habe auch keine juristischen Schritte unternommen, eine schnellere Bearbeitung und Entscheidung der Beklagten herbeizuführen. Die letztendliche Gewährung vom 19. November 2019 habe sich auf den Antrag vom 8. April 2019 bezogen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>Unzutreffend gehe der Kläger davon aus, dass die erforderlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten in der Vergangenheit – mithin vor dem 3. September 2019 – nicht die zeitlich vorgeschriebene Grenze von 78 Wochen erreicht hätten. Mit 553 Tagen der Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum vom 3. September 2016 bis 2. September 2019 habe er die Grenze von 78 Wochen überschritten, die Arbeitsunfähigkeitszeiten hätten auch alle auf derselben Krankheit beruht. Der Einwand des Klägers, die Feststellung eines Dauerzustandes löse keine neue Drei-Jahres-Frist aus, sei untauglich. Es gehe nicht um das Auslösen einer „neuen“ Drei-Jahres-Frist aufgrund der Feststellung eines Dauerzustandes, sondern um die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben des § 18a Abs. 7 BVG. Komme die Behörde, wie vorliegend, zum Eintritt eines Dauerzustandes, sei sie im Hinblick auf die Gewährung von Versorgungskrankengeld im Lichte des § 18a Abs. 7 Satz 7 BVG gehalten, etwaige Sperrgründe für eine Einstellung des Versorgungskrankengeldes zu überprüfen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Aus dem Gesprächsvermerk vom 16. Dezember 2016 lasse sich ein Anspruch ebenfalls nicht herleiten, da dieser die Anforderungen an eine Zusicherung im Sinne des § 34 SGB X nicht erfülle. Jedenfalls sei es der Behörde aber untersagt, eine Zusicherung im Hinblick auf den Erlass eines rechtswidrigen Bescheides zu erlassen. Eines Widerrufs dieser Entscheidung habe es daher nicht bedurft.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>Der Verweis auf die Entscheidung des BSG vom 30. September 2009 (B 9 VS 3/09 R) führe nicht weiter. Diese betreffe § 82 BVG, sodass keine vergleichbare Konstellation vorliege. Eines Benehmens mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales habe es nicht bedurft.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="85"/>Soweit die Beklagte davon ausgegangen sei, dass die Leistung mit Ablauf des 18. Oktober 2019 geendet habe, liege hierin ein Rechtsirrtum, der sich zu Gunsten des Klägers auswirke. Die Bekanntgabe sei bereits am 3. Oktober 2019 erfolgt, da die Regelungen über Feiertage nicht anzuwenden seien. Die Einstellung des Versorgungskrankengeldes habe daher bereits mit Ablauf des 17. Oktober 2019 erfolgen müssen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="86"/>Am 28. Juni 2021 hat der Kläger Berufung beim LSG eingelegt. Zum Zeitpunkt des Schreibens vom 27. September 2019 sei er einer gewinnbringenden Tätigkeit nachgegangen und es habe keine aktuelle Arbeitsunfähigkeit vorgelegen. Er sei vom 6. April 2019 bis 2. September 2019 circa fünf Monate einer gewinnbringenden Tätigkeit nachgegangen. Er habe in der Vergangenheit z.B. an einer Kasse sitzen und Eintrittskarten verkaufen oder kontrollieren können. Es sei bei der Abwägung egal, ob es für die Tätigkeiten einen Arbeitsplatz gebe oder nicht. Auch sei der Beruf als Holztechniker nicht nur an eine praktische Tätigkeit gebunden. Seit dem 1. April 2021 unterstütze er einen Handwerksbetrieb, der Messtechnik von Techem einbaue. Auch führe er kleinere Schreinerarbeiten aus und beziehe nebenbei Altersrente.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="87"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="88"/>das Urteil des Sozialgerichts Konstanz 27. Mai 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 6. Februar 2020 aufzuheben und die Beklagte, unter Abänderung des Bescheides vom 7. November 2019 zu verurteilen, ihm Versorgungskrankengeld vom 19. Oktober 2019 bis 31. März 2020 zu gewähren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="89"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="90"/>die Berufung des Klägers zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="91"/>Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung und führt ergänzend aus, dass der Verweis auf eine Präsensbegutachtung nicht überzeuge, da S als behandelnder Arzt den Gesundheitszustand des Klägers kenne und auch nur als sachverständiger Zeuge angehört worden sei. Die Beurteilung durch den Versorgungsarzt erfolge regelhaft nach Aktenlage. Hierzu werde auf die Dokumentation der aussagekräftigen medizinischen Befunde, die durch die behandelnden Fachärzte erstellt wurden, abgestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="92"/>Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="93"/>Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG) ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>95 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="95"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 27. Mai 2021, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Versorgungskrankengeld unter Aufhebung des Bescheides vom 27. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 6. Februar 2020 abgewiesen worden ist. Nach § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens ist der Bescheid vom 7. November 2019 geworden, da dieser eine konkrete Leistungsentscheidung über das beantragte Versorgungskrankengeld trifft, dieses für zwei Tage gewährt und den Anspruch im Übrigen ablehnt, sodass die Ablehnung konkretisiert worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>96 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="96"/>Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der Leistungsklage zwar grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), bei Prognoseentscheidungen ist jedoch der Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, also der Erlass des Widerspruchsbescheides maßgeblich (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 54 Rz. 34a; BSG, Urteil vom 3. August 2016 – B 6 KA 20/15 –, juris, Rz. 24). Daraus folgt, dass für die Leistungsansprüche selbst zwar der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung entscheidend ist, nicht aber für die Überprüfung der Prognoseentscheidung der Beklagten. Insofern kommt es auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2020 an.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>97 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="97"/>Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid nur über die Feststellung eines Dauerzustandes und die Gewährung von Versorgungskrankengeld entschieden hat, sodass das Vorbringen des Klägers im Widerspruchsverfahren, dass eine Entscheidung zu einer besonderen beruflichen Betroffenheit, des BSA und einer Ausgleichsrente habe ergehen müssen, fehl geht. Über derartige Ansprüche ist im Ausgangsbescheid nicht entschieden worden und sie waren daher nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>98 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="98"/>Nicht Gegenstand des Verfahrens ist weiter der Bescheid vom 29. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2020, mit dem die Gewährung eines Härteausgleichs nach § 89 BVG abgelehnt worden ist, da hierdurch der streitgegenständliche Bescheid weder abgeändert noch ersetzt wird (vgl. § 96 SGG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>99 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="99"/>Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 27. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Er kann auch nach Überzeugung des Senats die Gewährung weiteren Versorgungskrankengeldes nicht beanspruchen, sodass das SG die Klage zu Recht abgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>100 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="100"/>Anspruchsgrundlage für die Gewährung von Versorgungskrankengeld ist § 16 Abs. 1a BVG, auf den § 80 Abs. 1 Satz 1 SVG verweist. Danach wird Versorgungskrankengeld nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Beschädigten gewährt, wenn sie wegen einer Gesundheitsstörung, die als Folge einer Schädigung anerkannt ist oder durch eine anerkannte Schädigungsfolge verursacht ist, arbeitsunfähig im Sinne der Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung werden. Als arbeitsunfähig nach § 16 Abs. 2 BVG ist auch der Berechtigte anzusehen, der wegen der Durchführung einer stationären Behandlungsmaßnahme der Heil- oder Krankenbehandlung bzw. einer Badekur oder ohne arbeitsunfähig zu sein, wegen einer anderen Behandlungsmaßnahme der Heil- oder Krankenbehandlung, ausgenommen die Anpassung und die Instandsetzung von Hilfsmitteln, keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>101 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="101"/>Bei dem Kläger sind mit Bescheid vom 22. Februar 1977 bindend (§ 77 SGG) Folgen einer Wehrdienstbeschädigung am rechten und linken Knie anerkannt worden, sodass dem Grunde nach bei einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Versorgungskrankengeld bestehen kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>102 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="102"/>Ein solcher ist für den streitigen Zeitraum vom 19. Oktober 2019 bis 31. März 2020 aber nicht gegeben, da das Versorgungskrankengeld nach § 18a Abs. 7 BVG durch den Eintritt eines Dauerzustandes geendet hat. Nach § 18a Abs. 7 BVG endet das Versorgungskrankengeld mit dem Wegfall der Voraussetzungen für seine Gewährung, dem Eintritt eines Dauerzustands, der Bewilligung einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder der Zahlung von Vorruhestandsgeld (Satz 1). Ein Dauerzustand ist gegeben, wenn die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen ist (Satz 2). Versorgungskrankengeld wird bei Wegfall der Voraussetzungen für seine Gewährung bis zu dem Tag gewährt, an dem diese Voraussetzungen entfallen (Satz 3). Bei Eintritt eines Dauerzustands oder Bewilligung einer Altersrente wird Versorgungskrankengeld, sofern es laufend gewährt wird, bis zum Ablauf von zwei Wochen nach Feststellung des Dauerzustands, bei Altersrentenbewilligung bis zu dem Tag gewährt, an dem der Berechtigte von der Bewilligung Kenntnis erhalten hat (Satz 4). Wird Versorgungskrankengeld nicht laufend gewährt, so wird es bis zu dem Tag der Feststellung des Dauerzustands oder des Beginns der Altersrente gewährt (Satz 6). Die Feststellung eines Dauerzustands ist ausgeschlossen, solange dem Berechtigten stationäre Behandlungsmaßnahmen gewährt werden oder solange er nicht seit mindestens 78 Wochen ununterbrochen arbeitsunfähig ist; Zeiten einer vorausgehenden, auf derselben Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit sind auf diese Frist anzurechnen, soweit sie in den letzten drei Jahren vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit liegen (Satz 7).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>103 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="103"/>Danach endet das Versorgungskrankengeld u. a. nach 78 Wochen ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit, wenn die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen und somit ein Dauerzustand eingetreten ist. Eine ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit kann zum einen dann gegeben sein, wenn sie über sich aneinander anschließende 78 Wochen besteht, zum anderen aber auch dann, wenn Arbeitsunfähigkeit während mehrerer Zeitabschnitte vorlag, die aus den letzten drei Jahren vor Eintritt der gegenwärtigen Arbeitsunfähigkeit zusammengerechnet 78 Wochen ergeben, wobei es sich auch hier, bezogen auf die einzelnen Abschnitte, um Arbeitsunfähigkeit immer wegen derselben Krankheit handeln muss (vgl. Fehl in: Fehl/Förster/Leisner/Sailer, Soziales Entschädigungsrecht – Kommentar – 7. Auflage 1992, § 18a Rz. 22).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>104 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="104"/>Diese Voraussetzungen sind beim Kläger auch zur Überzeugung des Senats erfüllt, sodass die Beklagte zu Recht einen Dauerzustand festgestellt und Versorgungskrankengeld versagt hat. Sie hat der Zeitraum zur Bestimmung der Arbeitsunfähigkeitszeiten richtig vom 3. September 2016 bis 2. September 2019 bestimmt, da nach § 18 Abs. 7 Satz 6 BVG an die aktuelle Arbeitsunfähigkeit angeknüpft wird. Anders als der Kläger glauben machen will, handelt es sich bei dem 3. September 2019 nicht um ein fiktives Datum, sondern die Beklagte hat ausgehend von dem Antrag auf Versorgungskrankengeld ab dem 3. September 2019 die Prüfung eines Dauerzustandes vorgenommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>105 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="105"/>Die Beklagte ist zwar unzutreffend davon ausgegangen, dass das Versorgungskrankengeld als Dauerleistung gewährt worden und der Dauerzustand zunächst durch Bescheid festzustellen ist. Beschwert ist der Kläger dadurch indessen nicht, da er mehr Versorgungskrankengeld erhalten hat, als er beanspruchen konnte. Eine gesonderte Feststellung eines Dauerzustandes ist naheliegend, wenn bereits eine Leistungsgewährung erfolgt ist, da bestandskräftige Dauerleistungen nur durch Bescheid nach § 44 SGB X aufgehoben werden können (vgl. LSG für das Land NRW, Urteil vom 18. September 2020 – L 13 VG 65/15 –, juris, Rz. 54 ff.; Revision anhängig unter B 9 V 2/21 R) und § 18a Abs. 7 BVG gibt für einen solchen feststellenden Verwaltungsakt eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage, auf die sich die streitige Entscheidung somit stützen kann. Zwingend vorgeschrieben ist eine solche Feststellung indessen nicht, sodass die Leistungen auch unmittelbar hätten abgelehnt werden können. Die gesetzliche Formulierung ist nämlich dahingehend eindeutig, dass das Versorgungskrankengeld mit dem Eintritt eines Dauerzustandes endet und nicht – erst – mit dessen Feststellung. Dementsprechend hat die Beklagte die Leistungen mit dem angefochtenen Bescheid ebenfalls abgelehnt („versagt“). Der Kläger geht somit fehl in der Annahme, allein dadurch, dass er den Eintritt der Bestandskraft des Bescheides hindert, Leistungsansprüche erwerben zu können. Ebenso rechtsirrig ist die Annahme, dass dem Antrag auf eine Badekur allein eine anspruchsbegründende Wirkung hinsichtlich des Versorgungskrankengeldes zukommt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>106 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="106"/>In dem maßgeblichen Zeitraum ergeben sich folgende Arbeitsunfähigkeitszeiten, die anhand von ärztlichen Bescheinigungen belegt sind, sich jeweils auf dieselbe Krankheit, nämlich die Einschränkungen an den Knien bezogen haben und für die die Beklagte tatsächlich Versorgungskrankengeld geleistet hat, wie sich aus den einzelnen Zahlaufträgen an die Krankenkasse ebenso ergibt, wie – zusammenfassend – aus der Meldung an den Rentenversicherungsträger (vgl. Bl. 895 ff. VerwAkte):</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>107 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt" class="Rsp"><tr><th colspan="4" rowspan="1"><rd nr="107"/></th></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">19. September 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">3. Oktober 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 15 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">14. Dezember 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">31. Dezember 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 18 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">1. Januar 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">7. Februar 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 37 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">16. März 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">19. Mai 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 65 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">21. Juli 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">3. September 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 44 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">2. Oktober 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">31. Dezember 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 90 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">1. Januar 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">18. März 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right">78 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">2. Juni 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">24. Juni 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 23 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">16. Juli 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">17. August 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 33 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">17. September 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">31. Dezember 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right">104 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">1. Januar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">18. Januar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 18 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">25. Januar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">5. Februar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 12 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">11. März 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">5. April 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 26 Tage</td></tr></table></td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>108 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="108"/>Insgesamt ergeben sich somit 563 Tage, sodass die Grenze von 78 Wochen (entsprechend [78x7] 546 Tagen) deutlich überschritten ist. Entgegen der Darlegungen der Beklagten und ihr folgend dem SG ist neben den im Widerspruchsbescheid aufgeführten Zeiten auch die Zeit vom 19. September 2016 bis 3. Oktober 2016 in die Berechnung einzubeziehen. Die Beklagte hat hier tatsächlich Versorgungskrankengeld gezahlt und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des K1 vom 19. September 2016 führt, wie die nachfolgenden Bescheinigungen auch, die Diagnose M17.3 auf (vgl. Bl. 401 VerwAkte), sodass die Arbeitsunfähigkeit auch wegen derselben Krankheit bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>109 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="109"/>Dem Vorbringen des Klägers, dass die Feststellung eines Dauerzustandes das Bestehen aktueller Arbeitsunfähigkeit voraussetze, liegt die unzutreffende Vorstellung zu Grunde, dass die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit allein anhand von bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeiten zu erfolgen hat. Zwar muss die Arbeitsunfähigkeit in der Regel ärztlich festgestellt werden, daraus allein, dass eine solche Feststellung nicht erfolgt ist, kann aber nicht auf eine Arbeitsfähigkeit geschlossen werden. Darauf kommt es vorliegend aber schon deshalb nicht an, weil die Beklagte die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung zu Grunde zu legen hat und jedenfalls bei Erlass des Widerspruchsbescheides bereits seit geraumer Zeit wieder (bescheinigte) Arbeitsunfähigkeit bestanden hat. Diese ist im Übrigen schon kurz nach dem Widerspruch vom 10. Oktober 2019 gegen den Bescheid vom 27. September 2019 attestiert worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>110 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="110"/>Dies kann aber auch deshalb dahinstehen, da die Beklagte die Leistungen erst mit Ablauf des 18. Oktober 2019 versagt hat, nachdem sie unzutreffend davon ausgegangen ist, dass das Versorgungskrankengeld als Dauerleistung gewährt worden ist (vgl. oben). Zutreffend ist vielmehr, dass abschnittsweise Bewilligungen anhand der einzelnen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erfolgt sind. Werden das Versorgungskrankengeld und die Beihilfe aber nicht laufend gezahlt, so werden diese Leistungen nur bis zum Tag der Feststellung des Dauerzustands oder des Beginns der Altersrente gewährt. Die Anwendung des Abs. 7 Satz 4 kommt dann nicht in Betracht (vgl. Fehl in: Fehl/Förster/Leisner/Sailer, a. a. O., § 18a Rz. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>111 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="111"/>Unabhängig davon hätte die Beklagte – ausgehend vom Rechtsstandpunkt des Klägers – im Widerspruchsverfahren aber jedenfalls die erneute Arbeitsunfähigkeit ab dem 16. Oktober 2019 berücksichtigen müssen. Dadurch hätte sich zwar der 3-Jahres-Zeitraum auf den 16. Oktober 2016 bis 15. Oktober 2019 verschoben und wäre die Zeit vom 19. September 2016 bis 3. Oktober 2016 außerhalb des relevanten Zeitraumes. Abzüglich dieser 15 Tage verblieben immer noch 548 Tage und damit mehr als 78 Wochen, abgesehen davon, dass die 14 Tage für den Zeitraum vom 2. bis 15. September 2019 zu addieren wären, da auch diese Arbeitsunfähigkeit wegen Beschwerden an den Kniegelenken festgestellt wurde, sodass 562 Tage der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen wären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>112 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="112"/>Anders als der Kläger meint, hindert sein Antrag auf eine Badekur nicht an der Feststellung eines Dauerzustandes, da eine entsprechende Maßnahme zum Feststellungszeitpunkt gerade nicht durchgeführt worden ist. Soweit der Kläger moniert, über seinen Antrag hätte schneller entschieden werden müssen, greift auch diese Argumentation nicht durch. Zum einen hat die Beklagte über den Antrag aus April 2019 mit Bescheid vom 11. Oktober 2019 positiv entschieden, und damit die reguläre Entscheidungsfrist (vgl. § 88 SGG), wenn überhaupt nur minimal überschritten, zum anderen hat in der durchgeführten Sachaufklärung ein Grund für die Entscheidungsdauer gelegen. Diese Sachaufklärung hat ergeben, dass eine Verkürzung des 3-Jahres-Zeitraumes nicht aus medizinischen Gründen angezeigt gewesen ist. S, dessen Gutachten der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), hat überzeugend dargelegt, dass es nach der durchgeführten Maßnahme 2016 zu einer subjektiven Besserung gekommen ist, er aber keine Gründe für die medizinische Notwendigkeit einer vorzeitigen weiteren Leistungserbringung sieht. Der Antrag auf eine Badekur sei von ihm daher nicht empfohlen, sondern vom Kläger selbst gestellt worden. Eine frühere Entscheidung der Beklagten hätte damit aller Voraussicht nach mit einer Leistungsablehnung einhergehen müssen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>113 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="113"/>Ebenso wie das SG ist auch der Senat davon überzeugt, dass eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers in den fraglichen Zeiträumen bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>114 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="114"/>Eine Legaldefinition für den Begriff der „Arbeitsunfähigkeit“ findet sich in den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht. Nach dem Wortsinn muss der Versicherte durch eine Erkrankung gehindert sein, seine Arbeit weiterhin zu verrichten. Hat der Versicherte im Beurteilungszeitpunkt einen Arbeitsplatz inne, kommt es darauf an, ob er die dort an ihn gestellten gesundheitlichen Anforderungen noch erfüllen kann. Verliert er den Arbeitsplatz, bleibt die frühere Tätigkeit als Bezugspunkt erhalten; allerdings sind nicht mehr die konkreten Verhältnisse am früheren Arbeitsplatz maßgebend, sondern es ist nunmehr abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen (vgl. BSG, Urteile vom 8. Februar 2000, SozR 3-2500 § 49 Nr. 4, vom 14. Februar 2001, SozR 3-2500 § 44 Nr. 9 sowie vom 19. September 2002, SozR 3-2500 § 44 Nr. 10; Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VG 4352/13 –, juris, Rz. 44 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>115 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="115"/>Bezugsberuf ist davon ausgehend somit die Tätigkeit als Schreiner/Holztechniker und deren gesundheitliche Anforderungen der Prüfung der Arbeitsunfähigkeit zugrunde zu legen, allerdings nicht in einer konkreten Tätigkeit, weil der Kläger seit Mai 2012 im Dienstleistungsbereich tätig ist. Dieser erfordert eine körperliche Fitness, da überwiegend im Stehen, aber auch Knien gearbeitet wird und das gelegentliche Heben und Tragen von Lasten damit verbunden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>116 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="116"/>S hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass der Kläger aufgrund der Beeinträchtigungen an den Knien nicht mehr in der Lage gewesen ist, den beruflichen Anforderungen zu entsprechen, sodass er ihm entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt hat, wobei er zutreffend von einer Tätigkeit als Schreiner ausgegangen ist. Seinen Befundberichten entnimmt der Senat dazu weiter, dass sich der Befund 2018 sogar noch verschlechtert hat und S keine Besserungsmöglichkeiten gesehen hat. Die entspricht den Ergebnissen des Vorgutachtens des R und wird durch die versorgungsärztliche Stellungnahme des W2, der ausdrücklich herausgestellt hat, dass die genannten Fristen zur Auszahlung von Versorgungskrankengeld schon 2016 überschritten gewesen sind, bestätigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>117 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="117"/>Der Senat lässt in diesem Zusammenhang offen, ob der Beurteilung der Beklagten überhaupt gefolgt werden kann, dass nach Feststellung eines Dauerzustandes wieder erneutes Versorgungskrankengeld zu gewähren ist. Zum einen kennt das BVG gerade keine sich aneinanderreihenden Blockfristen, wie sie das SGB V vorsieht, zum anderen findet sich keine dem § 48 Abs. 2 SGB V vergleichbare Regelung dazu, unter welchen Voraussetzungen erneut Versorgungskrankengeld zu gewähren ist. Ebenso existiert keine dem § 48 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) entsprechende Regelung zu Wiedererkrankungen. Es spricht somit einiges dafür, dass es für ein Wiederaufleben des Anspruchs auf Versorgungskrankengeld schon an einer Rechtsgrundlage fehlt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>118 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="118"/>Ebenfalls offen lässt der Senat, ob der Bescheid über die Feststellung des Dauerzustandes vom 8. Juli 2011, der nach der Abweisung der Klage durch das SG mit Urteil vom 13. Dezember 2017 bestandskräftig geworden ist, wirksam aufgehoben worden ist, oder weiterhin eine bindende Feststellung des Dauerzustands enthält, da auch in diesem Fall Klage und Berufung unbegründet wären. Daraus, dass die Beklagte der Rechtsauffassung gewesen ist, ab 2013 wieder Versorgungskrankengeld gewähren zu können und tatsächlich wieder Leistungen gewährt hat, kann der Kläger ebenso wenig weitere Rechte herleiten, wie daraus, dass sich dem Aktenvermerk entnehmen lässt, dass kürzere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit wieder mit Versorgungskrankengeld abgedeckt würden. Die Beklagte hat dem Kläger nämlich tatsächlich weitere Leistungen erbracht, was aber nichts daran ändert, dass nach den eindeutigen gesetzlichen Vorgaben nur unter engen Voraussetzungen Leistungen für mehr als 78 Wochen in drei Jahren erbracht werden sollen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>119 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="119"/>Die Prognose der Beklagten, dass mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist, ist nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>120 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="120"/>Hinsichtlich der Prüfung eines Dauerzustandes verlangt der Gesetzgeber von der Versorgungsverwaltung eine Prognose der Entwicklung des gesundheitlichen Zustandes des Leistungsempfängers in Bezug auf die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit. Ob Prognoseentscheidungen von Verwaltungsträgern nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar sind und der Behörde hier ein nicht zu überprüfender Beurteilungsspielraum einzuräumen ist (so z. B. BSG SozR 3-4460 § 10 Nr. 2 zur Frage, ob eine berufliche Bildungsmaßnahme unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig ist) oder ob die geforderte hypothetische Betrachtung einer uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt (so z. B. BSG SozR 4-4300 § 324 Nr. 2 bzgl. der Förderungsbedürftigkeit des Arbeitnehmers bei Eingliederungszuschüssen) richtet sich im Wesentlichen danach, ob die prognostische Einzelbeurteilung tatsächlichen Feststellungen im gerichtlichen Verfahren mit gleicher Sicherheit zugänglich ist wie im Verwaltungsverfahren (BSG a. a. O.). Da es für die Frage der Perpetuierung der Arbeitsunfähigkeit maßgeblich auf den Gesundheitszustand und somit auf medizinische Fakten ankommt und weder eine wertende noch eine Zweckmäßigkeitsentscheidung der Verwaltung vorgeschaltet ist, ist ein der gerichtlichen Überprüfung entzogener Entscheidungsfreiraum der Behörde hier nicht zu begründen. Weder rechtliche noch faktische Anhaltspunkte, die eine Ausnahme von der nach Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) prinzipiell gewährleisteten vollständigen Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen rechtfertigen (vgl. BVerfGE 64, 261, 279; 78, 214, 226; 84, 34, 49 ff.; 84, 59, 77 ff.), sind hier gegeben (vgl. BSG SozR 4-4300 § 324 Nr. 2). Mithin unterliegt die Prognoseentscheidung („voraussichtlich“) des Beklagten der vollen gerichtlichen Überprüfung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>121 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="121"/>Maßgebend sind dabei die Verhältnisse zur Zeit der Prognoseentscheidung (vgl. oben), sodass Grundlage nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, also spätestens bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erkennbare Umstände sein können. Zu diesem Zeitpunkt müssen die Grundlagen für die Prognose richtig festgestellt und alle in Betracht kommenden Umstände hinreichend und sachgerecht gewürdigt sein (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 3 KS 4/13 R –, juris, 28 ff.), was vorliegend zur Überzeugung des Senats der Fall ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>122 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="122"/>Die Beklagte hat zunächst – auch zur Prüfung der 78 Wochen – die Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers ausgewertet und – im Rahmen der Prüfung der Badekur – das Gutachten des S eingeholt, der, auch für den Senat überzeugend, dargelegt hat, dass sich an den Knien jedenfalls seit 2018 keine wesentlichen Änderungen ergeben haben und dass insbesondere keine Veranlassung für die vorzeitige Erbringung einer Badekur besteht, was die fehlende therapeutische Beeinflussbarkeit der Beschwerden anschaulich unterstreicht. Auf dieser Tatsachengrundlage hat H versorgungsärztlich nachvollziehbar ausgeführt, dass die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich nicht zu beseitigen ist und deshalb von einem Dauerzustand ausgegangen werden muss. Diese Einschätzung wird durch den weiteren Verlauf bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides dadurch untermauert, dass der Kläger ab dem 15. Oktober 2019 durchgängig arbeitsunfähig gewesen ist und damit am 6. Februar 2020 schon wieder fast vier Monate. Bereits am 7. Februar 2020 hat S eine weitere Arbeitsunfähigkeit bis 6. März 2020 bescheinigt, die bis 31. März 2020 verlängert worden ist, was die Annahme eines Dauerzustandes zusätzlich stützt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>123 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="123"/>Die sachverständige Zeugenaussage des S im Klageverfahren hat die Richtigkeit dieser Feststellung nochmals bestätigt. Darin hat dieser – für den Senat überzeugend – dargelegt, dass der desolate Kniebefund beidseits bei vorhandene Kniearthrosen sämtlich nicht zu beseitigen ist und es sich schlicht um einen Dauerzustand handelt, sodass schon am 3. September 2019 keine Möglichkeit einer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>124 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="124"/>In tatsächlicher Hinsicht wird dies dadurch unterstrichen, dass der Einkommenssteuerbescheid 2018 beim Kläger ein Einkommen von 18.621 EUR ausweist, er jedoch 9.324,90 EUR, 2.749,65 EUR, 3.945,15 EUR, 12.433,20 EUR, somit insgesamt 28.452,90 EUR, Versorgungskrankengeld erhalten hat, mithin das Einkommen aus Entgeltersatzleistung das reguläre Einkommen deutlich überstiegen hat. 2017 standen Zahlungen von 3.002,40 EUR, 8.788,00 EUR, 5.948,80 EUR und 12.168,00 EUR, insgesamt 29.907,20 EUR, aus Versorgungskrankengeld einem Einkommen von nur 14.100 EUR gegenüber. Deutlich erkennbar ist daher, dass der Kläger in den genannten Jahren seinen Lebensunterhalt nicht aus eigener Tätigkeit, sondern in erster Linie als den Zahlungen der Beklagten bestritten hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>125 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="125"/>Hieran ändert sich, entgegen der Auffassung des Klägers, nichts dadurch, dass im Laufe des Prognosezeitraumes ein anderer Beendigungstatbestand für das Versorgungskrankengeld, hier in Form der Altersrente, eintritt. Der Kläger verkennt hier, dass § 18a Abs. 7 BVG, ebenso wie § 48 Abs. 2 SGB V, dem Zweck dient, Versorgungskrankengeld nicht als rentenähnliche Dauerleistung beziehen zu können. Der Gesetzgeber ist nämlich nicht verpflichtet, eine Lücke im Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung durch die lebenslange Gewährung von Krankengeld zu schließen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 24. März 1998 – 1 BvL 6/92 –, juris, Rz. 30). Nichts anderes beansprucht der Kläger letztlich indessen, wenn er meint, dass das Versorgungskrankengeld seine Versorgungslücke bis zur Regelaltersrente schließen müsse. Wenn seine Auffassung zutreffen würde, könnte faktisch 78 Wochen vor dem – prognostischen – Rentenbeginn grundsätzlich keine Beendigung des Versorgungskrankengeldes eintreten, was dem Sinn und Zweck des Versorgungskrankengeldes erkennbar entgegenlaufen würde. Demgemäß geht auch sein Vorbringen fehl, die Beklagte habe vor der Feststellung des Dauerzustandes andere Sozialleistungen prüfen müssen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>126 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="126"/>Zu keiner anderen Beurteilung führt es, dass der Kläger nunmehr glauben machen will, seine selbstständige berufliche Tätigkeit beschränke sich seit 2012 nur noch auf leichte Tätigkeiten und zwischen 2016 und 2019 sei er überwiegend überwachend tätig gewesen. Selbst wenn dieses Vorbringen zutreffen würde, wäre dann jedenfalls keine Arbeitsunfähigkeit zu begründen, da schon im Sachverständigengutachten des R überzeugend herausgearbeitet worden ist, dass der Kläger leichte Tätigkeiten verrichten kann. Diesem gegenüber hat der Kläger angegeben, dass er selbstständig als Schreiner im Innenausbau ist. Er baue Türen ein- und aus, verrichte Trockenbauarbeiten, stelle Fenster ein, vertusche Toleranzen und helfe dem Parkettleger. Es handele sich um eine Feinarbeit mit Geduld. Bezogen hierauf hat R dargelegt, dass aufgrund der Wehrdienstbeschädigung bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen bestehen, die eine Tätigkeit im Trockenbau erheblich beeinträchtigen. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten folgt hieraus aber nicht. Für eine solche hat S im Übrigen auch keine Arbeitsunfähigkeit bestätigt, sondern diese ausgehend von der Tätigkeit als Schreiner beurteilt. Dies wird im Übrigen durch das eigene Vorbringen des Klägers bestätigt, dass er sechs Stunden am Tag arbeiten könne und deshalb keine Erwerbsunfähigkeit nach den Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherung vorliege. Ohne schädigungsbedingte Arbeitsunfähigkeit käme indessen auch kein Anspruch auf Versorgungskrankengeld in Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>127 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="127"/>Unabhängig davon ist das Vorbringen des Klägers aber schon deshalb nicht glaubhaft, da er parallel Ansprüche auf eine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit verfolgt hat und die Beklagte mit dem – ablehnenden – Bescheid vom 29. März 2018 dezidiert aufgezeigt hat, aus welchen Gründen die vom Kläger als nicht mehr auszuübend beschriebene Tätigkeit nicht mehr den Leistungsanforderungen im Beruf des Holztechnikers korrespondiert, auf die der Kläger erfolgreich umgeschult worden ist. Dabei verkennt der Kläger auch, dass der Versicherte zur Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit nicht nur dann unfähig ist, wenn sie ihm überhaupt nicht mehr möglich ist, sondern auch dann, wenn er sie nur noch auf die Gefahr hin verrichten kann, den Leidenszustand zu verschlimmern (vgl. BSG, Urteil vom 17. August 1982 – 3 RK 28/81 –, juris, Rz. 15). Dass die selbstständige Tätigkeit zu Lasten seiner Gesundheit geht, hat der Kläger 2012 bereits selbst dargelegt. Genau eine solche Verschlimmerung durch eine nicht leidensgerechte Tätigkeit ergibt sich jedoch sowohl aus dem Sachverständigengutachten des R und ist von S überzeugend nochmal bestätigt worden. Ebenso verkennt der Kläger, dass es bei der Frage nach der Arbeitsfähigkeit um die Fähigkeit geht, einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, sodass es nicht ausreicht, dass „kleinere Aufträge“ erledigt worden sei sollen. Auch bei Selbstständigen liegen Sinn und Zweck des Versorgungskrankengeldes nicht darin, Ausfallleistungen für Auftragslücken zu sein. Warum die Beklagte im Übrigen gehalten sein sollte, wie der Kläger meint, alle 26 Wochen seinen Gesundheitszustand zu überprüfen, erschließt sich dem Senat nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>128 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="128"/>Ebenso rechtsirrig ist die Auffassung des Klägers, dass mit dem Anspruch auf Heilbehandlung ein Anspruch auf Versorgungskrankengeld verbunden ist. Dass diese Argumentation nicht verfangen kann, ergibt sich schon daraus, dass dies im Umkehrschluss bedeuten würde, dass arbeitsfähige Beschädigte keinen Heilbehandlungsanspruch haben könnten, was erkennbar absurd ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>129 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="129"/>Letztlich geht der Verweis auf § 82 SVG fehl. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SVG erhalten ehemaliger Soldaten wegen einer Gesundheitsstörung, die bei Beendigung des Wehrdienstverhältnisses heilbehandlungsbedürftig ist, Leistungen in entsprechender Anwendung des § 10 Abs. 1 und 3 sowie der §§ 11, 11a und 13 bis 24a des BVG. Die Leistungen nach Abs. 1 werden bis zur Dauer von drei Jahren nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses gewährt (§ 82 Abs. 2 Satz 1 SVG). Wird vor Ablauf dieses Zeitraums ein Anspruch nach § 80 anerkannt, so werden sie nur bis zum Zeitpunkt der Anerkennung gewährt (§ 82 Abs. 2 Satz 2 SVG). Nachdem der Kläger seinen Wehrdienst bereits 1976 beendet hat und jedenfalls seit dem 1. März 2004 Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 30 erhält (vgl. Bescheid des LRA vom 22. September 2009), und damit Leistungen nach § 80 SVG, verbleibt für eine Anwendung des § 82 SVG kein Raum.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>130 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="130"/>Nachdem die Beklagte zu Recht einen Dauerzustand festgestellt und die Gewährung weiteren Versorgungskrankengeldes abgelehnt hat, konnte die Berufung keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>131 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="131"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>132 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="132"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG) ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>95 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="95"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 27. Mai 2021, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Versorgungskrankengeld unter Aufhebung des Bescheides vom 27. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 6. Februar 2020 abgewiesen worden ist. Nach § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens ist der Bescheid vom 7. November 2019 geworden, da dieser eine konkrete Leistungsentscheidung über das beantragte Versorgungskrankengeld trifft, dieses für zwei Tage gewährt und den Anspruch im Übrigen ablehnt, sodass die Ablehnung konkretisiert worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>96 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="96"/>Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der Leistungsklage zwar grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), bei Prognoseentscheidungen ist jedoch der Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, also der Erlass des Widerspruchsbescheides maßgeblich (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 54 Rz. 34a; BSG, Urteil vom 3. August 2016 – B 6 KA 20/15 –, juris, Rz. 24). Daraus folgt, dass für die Leistungsansprüche selbst zwar der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung entscheidend ist, nicht aber für die Überprüfung der Prognoseentscheidung der Beklagten. Insofern kommt es auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2020 an.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>97 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="97"/>Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid nur über die Feststellung eines Dauerzustandes und die Gewährung von Versorgungskrankengeld entschieden hat, sodass das Vorbringen des Klägers im Widerspruchsverfahren, dass eine Entscheidung zu einer besonderen beruflichen Betroffenheit, des BSA und einer Ausgleichsrente habe ergehen müssen, fehl geht. Über derartige Ansprüche ist im Ausgangsbescheid nicht entschieden worden und sie waren daher nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>98 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="98"/>Nicht Gegenstand des Verfahrens ist weiter der Bescheid vom 29. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2020, mit dem die Gewährung eines Härteausgleichs nach § 89 BVG abgelehnt worden ist, da hierdurch der streitgegenständliche Bescheid weder abgeändert noch ersetzt wird (vgl. § 96 SGG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>99 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="99"/>Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 27. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Er kann auch nach Überzeugung des Senats die Gewährung weiteren Versorgungskrankengeldes nicht beanspruchen, sodass das SG die Klage zu Recht abgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>100 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="100"/>Anspruchsgrundlage für die Gewährung von Versorgungskrankengeld ist § 16 Abs. 1a BVG, auf den § 80 Abs. 1 Satz 1 SVG verweist. Danach wird Versorgungskrankengeld nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Beschädigten gewährt, wenn sie wegen einer Gesundheitsstörung, die als Folge einer Schädigung anerkannt ist oder durch eine anerkannte Schädigungsfolge verursacht ist, arbeitsunfähig im Sinne der Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung werden. Als arbeitsunfähig nach § 16 Abs. 2 BVG ist auch der Berechtigte anzusehen, der wegen der Durchführung einer stationären Behandlungsmaßnahme der Heil- oder Krankenbehandlung bzw. einer Badekur oder ohne arbeitsunfähig zu sein, wegen einer anderen Behandlungsmaßnahme der Heil- oder Krankenbehandlung, ausgenommen die Anpassung und die Instandsetzung von Hilfsmitteln, keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>101 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="101"/>Bei dem Kläger sind mit Bescheid vom 22. Februar 1977 bindend (§ 77 SGG) Folgen einer Wehrdienstbeschädigung am rechten und linken Knie anerkannt worden, sodass dem Grunde nach bei einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Versorgungskrankengeld bestehen kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>102 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="102"/>Ein solcher ist für den streitigen Zeitraum vom 19. Oktober 2019 bis 31. März 2020 aber nicht gegeben, da das Versorgungskrankengeld nach § 18a Abs. 7 BVG durch den Eintritt eines Dauerzustandes geendet hat. Nach § 18a Abs. 7 BVG endet das Versorgungskrankengeld mit dem Wegfall der Voraussetzungen für seine Gewährung, dem Eintritt eines Dauerzustands, der Bewilligung einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder der Zahlung von Vorruhestandsgeld (Satz 1). Ein Dauerzustand ist gegeben, wenn die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen ist (Satz 2). Versorgungskrankengeld wird bei Wegfall der Voraussetzungen für seine Gewährung bis zu dem Tag gewährt, an dem diese Voraussetzungen entfallen (Satz 3). Bei Eintritt eines Dauerzustands oder Bewilligung einer Altersrente wird Versorgungskrankengeld, sofern es laufend gewährt wird, bis zum Ablauf von zwei Wochen nach Feststellung des Dauerzustands, bei Altersrentenbewilligung bis zu dem Tag gewährt, an dem der Berechtigte von der Bewilligung Kenntnis erhalten hat (Satz 4). Wird Versorgungskrankengeld nicht laufend gewährt, so wird es bis zu dem Tag der Feststellung des Dauerzustands oder des Beginns der Altersrente gewährt (Satz 6). Die Feststellung eines Dauerzustands ist ausgeschlossen, solange dem Berechtigten stationäre Behandlungsmaßnahmen gewährt werden oder solange er nicht seit mindestens 78 Wochen ununterbrochen arbeitsunfähig ist; Zeiten einer vorausgehenden, auf derselben Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit sind auf diese Frist anzurechnen, soweit sie in den letzten drei Jahren vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit liegen (Satz 7).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>103 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="103"/>Danach endet das Versorgungskrankengeld u. a. nach 78 Wochen ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit, wenn die Arbeitsunfähigkeit in den nächsten 78 Wochen voraussichtlich nicht zu beseitigen und somit ein Dauerzustand eingetreten ist. Eine ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit kann zum einen dann gegeben sein, wenn sie über sich aneinander anschließende 78 Wochen besteht, zum anderen aber auch dann, wenn Arbeitsunfähigkeit während mehrerer Zeitabschnitte vorlag, die aus den letzten drei Jahren vor Eintritt der gegenwärtigen Arbeitsunfähigkeit zusammengerechnet 78 Wochen ergeben, wobei es sich auch hier, bezogen auf die einzelnen Abschnitte, um Arbeitsunfähigkeit immer wegen derselben Krankheit handeln muss (vgl. Fehl in: Fehl/Förster/Leisner/Sailer, Soziales Entschädigungsrecht – Kommentar – 7. Auflage 1992, § 18a Rz. 22).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>104 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="104"/>Diese Voraussetzungen sind beim Kläger auch zur Überzeugung des Senats erfüllt, sodass die Beklagte zu Recht einen Dauerzustand festgestellt und Versorgungskrankengeld versagt hat. Sie hat der Zeitraum zur Bestimmung der Arbeitsunfähigkeitszeiten richtig vom 3. September 2016 bis 2. September 2019 bestimmt, da nach § 18 Abs. 7 Satz 6 BVG an die aktuelle Arbeitsunfähigkeit angeknüpft wird. Anders als der Kläger glauben machen will, handelt es sich bei dem 3. September 2019 nicht um ein fiktives Datum, sondern die Beklagte hat ausgehend von dem Antrag auf Versorgungskrankengeld ab dem 3. September 2019 die Prüfung eines Dauerzustandes vorgenommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>105 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="105"/>Die Beklagte ist zwar unzutreffend davon ausgegangen, dass das Versorgungskrankengeld als Dauerleistung gewährt worden und der Dauerzustand zunächst durch Bescheid festzustellen ist. Beschwert ist der Kläger dadurch indessen nicht, da er mehr Versorgungskrankengeld erhalten hat, als er beanspruchen konnte. Eine gesonderte Feststellung eines Dauerzustandes ist naheliegend, wenn bereits eine Leistungsgewährung erfolgt ist, da bestandskräftige Dauerleistungen nur durch Bescheid nach § 44 SGB X aufgehoben werden können (vgl. LSG für das Land NRW, Urteil vom 18. September 2020 – L 13 VG 65/15 –, juris, Rz. 54 ff.; Revision anhängig unter B 9 V 2/21 R) und § 18a Abs. 7 BVG gibt für einen solchen feststellenden Verwaltungsakt eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage, auf die sich die streitige Entscheidung somit stützen kann. Zwingend vorgeschrieben ist eine solche Feststellung indessen nicht, sodass die Leistungen auch unmittelbar hätten abgelehnt werden können. Die gesetzliche Formulierung ist nämlich dahingehend eindeutig, dass das Versorgungskrankengeld mit dem Eintritt eines Dauerzustandes endet und nicht – erst – mit dessen Feststellung. Dementsprechend hat die Beklagte die Leistungen mit dem angefochtenen Bescheid ebenfalls abgelehnt („versagt“). Der Kläger geht somit fehl in der Annahme, allein dadurch, dass er den Eintritt der Bestandskraft des Bescheides hindert, Leistungsansprüche erwerben zu können. Ebenso rechtsirrig ist die Annahme, dass dem Antrag auf eine Badekur allein eine anspruchsbegründende Wirkung hinsichtlich des Versorgungskrankengeldes zukommt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>106 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="106"/>In dem maßgeblichen Zeitraum ergeben sich folgende Arbeitsunfähigkeitszeiten, die anhand von ärztlichen Bescheinigungen belegt sind, sich jeweils auf dieselbe Krankheit, nämlich die Einschränkungen an den Knien bezogen haben und für die die Beklagte tatsächlich Versorgungskrankengeld geleistet hat, wie sich aus den einzelnen Zahlaufträgen an die Krankenkasse ebenso ergibt, wie – zusammenfassend – aus der Meldung an den Rentenversicherungsträger (vgl. Bl. 895 ff. VerwAkte):</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table><blockquote/></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>107 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt" class="Rsp"><tr><th colspan="4" rowspan="1"><rd nr="107"/></th></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">19. September 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">3. Oktober 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 15 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">14. Dezember 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">31. Dezember 2016</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 18 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">1. Januar 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">7. Februar 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 37 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">16. März 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">19. Mai 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 65 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">21. Juli 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">3. September 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 44 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">2. Oktober 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">31. Dezember 2017</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 90 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">1. Januar 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">18. März 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right">78 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">2. Juni 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">24. Juni 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 23 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">16. Juli 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">17. August 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 33 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">17. September 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">31. Dezember 2018</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right">104 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">1. Januar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">18. Januar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 18 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">25. Januar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">5. Februar 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 12 Tage</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">11. März 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">bis </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:left">5. April 2019</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table style="margin-left:3pt" width="100%"><tr><td style="text-align:right"> 26 Tage</td></tr></table></td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>108 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="108"/>Insgesamt ergeben sich somit 563 Tage, sodass die Grenze von 78 Wochen (entsprechend [78x7] 546 Tagen) deutlich überschritten ist. Entgegen der Darlegungen der Beklagten und ihr folgend dem SG ist neben den im Widerspruchsbescheid aufgeführten Zeiten auch die Zeit vom 19. September 2016 bis 3. Oktober 2016 in die Berechnung einzubeziehen. Die Beklagte hat hier tatsächlich Versorgungskrankengeld gezahlt und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des K1 vom 19. September 2016 führt, wie die nachfolgenden Bescheinigungen auch, die Diagnose M17.3 auf (vgl. Bl. 401 VerwAkte), sodass die Arbeitsunfähigkeit auch wegen derselben Krankheit bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>109 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="109"/>Dem Vorbringen des Klägers, dass die Feststellung eines Dauerzustandes das Bestehen aktueller Arbeitsunfähigkeit voraussetze, liegt die unzutreffende Vorstellung zu Grunde, dass die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit allein anhand von bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeiten zu erfolgen hat. Zwar muss die Arbeitsunfähigkeit in der Regel ärztlich festgestellt werden, daraus allein, dass eine solche Feststellung nicht erfolgt ist, kann aber nicht auf eine Arbeitsfähigkeit geschlossen werden. Darauf kommt es vorliegend aber schon deshalb nicht an, weil die Beklagte die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung zu Grunde zu legen hat und jedenfalls bei Erlass des Widerspruchsbescheides bereits seit geraumer Zeit wieder (bescheinigte) Arbeitsunfähigkeit bestanden hat. Diese ist im Übrigen schon kurz nach dem Widerspruch vom 10. Oktober 2019 gegen den Bescheid vom 27. September 2019 attestiert worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>110 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="110"/>Dies kann aber auch deshalb dahinstehen, da die Beklagte die Leistungen erst mit Ablauf des 18. Oktober 2019 versagt hat, nachdem sie unzutreffend davon ausgegangen ist, dass das Versorgungskrankengeld als Dauerleistung gewährt worden ist (vgl. oben). Zutreffend ist vielmehr, dass abschnittsweise Bewilligungen anhand der einzelnen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erfolgt sind. Werden das Versorgungskrankengeld und die Beihilfe aber nicht laufend gezahlt, so werden diese Leistungen nur bis zum Tag der Feststellung des Dauerzustands oder des Beginns der Altersrente gewährt. Die Anwendung des Abs. 7 Satz 4 kommt dann nicht in Betracht (vgl. Fehl in: Fehl/Förster/Leisner/Sailer, a. a. O., § 18a Rz. 28).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>111 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="111"/>Unabhängig davon hätte die Beklagte – ausgehend vom Rechtsstandpunkt des Klägers – im Widerspruchsverfahren aber jedenfalls die erneute Arbeitsunfähigkeit ab dem 16. Oktober 2019 berücksichtigen müssen. Dadurch hätte sich zwar der 3-Jahres-Zeitraum auf den 16. Oktober 2016 bis 15. Oktober 2019 verschoben und wäre die Zeit vom 19. September 2016 bis 3. Oktober 2016 außerhalb des relevanten Zeitraumes. Abzüglich dieser 15 Tage verblieben immer noch 548 Tage und damit mehr als 78 Wochen, abgesehen davon, dass die 14 Tage für den Zeitraum vom 2. bis 15. September 2019 zu addieren wären, da auch diese Arbeitsunfähigkeit wegen Beschwerden an den Kniegelenken festgestellt wurde, sodass 562 Tage der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen wären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>112 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="112"/>Anders als der Kläger meint, hindert sein Antrag auf eine Badekur nicht an der Feststellung eines Dauerzustandes, da eine entsprechende Maßnahme zum Feststellungszeitpunkt gerade nicht durchgeführt worden ist. Soweit der Kläger moniert, über seinen Antrag hätte schneller entschieden werden müssen, greift auch diese Argumentation nicht durch. Zum einen hat die Beklagte über den Antrag aus April 2019 mit Bescheid vom 11. Oktober 2019 positiv entschieden, und damit die reguläre Entscheidungsfrist (vgl. § 88 SGG), wenn überhaupt nur minimal überschritten, zum anderen hat in der durchgeführten Sachaufklärung ein Grund für die Entscheidungsdauer gelegen. Diese Sachaufklärung hat ergeben, dass eine Verkürzung des 3-Jahres-Zeitraumes nicht aus medizinischen Gründen angezeigt gewesen ist. S, dessen Gutachten der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), hat überzeugend dargelegt, dass es nach der durchgeführten Maßnahme 2016 zu einer subjektiven Besserung gekommen ist, er aber keine Gründe für die medizinische Notwendigkeit einer vorzeitigen weiteren Leistungserbringung sieht. Der Antrag auf eine Badekur sei von ihm daher nicht empfohlen, sondern vom Kläger selbst gestellt worden. Eine frühere Entscheidung der Beklagten hätte damit aller Voraussicht nach mit einer Leistungsablehnung einhergehen müssen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>113 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="113"/>Ebenso wie das SG ist auch der Senat davon überzeugt, dass eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers in den fraglichen Zeiträumen bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>114 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="114"/>Eine Legaldefinition für den Begriff der „Arbeitsunfähigkeit“ findet sich in den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht. Nach dem Wortsinn muss der Versicherte durch eine Erkrankung gehindert sein, seine Arbeit weiterhin zu verrichten. Hat der Versicherte im Beurteilungszeitpunkt einen Arbeitsplatz inne, kommt es darauf an, ob er die dort an ihn gestellten gesundheitlichen Anforderungen noch erfüllen kann. Verliert er den Arbeitsplatz, bleibt die frühere Tätigkeit als Bezugspunkt erhalten; allerdings sind nicht mehr die konkreten Verhältnisse am früheren Arbeitsplatz maßgebend, sondern es ist nunmehr abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen (vgl. BSG, Urteile vom 8. Februar 2000, SozR 3-2500 § 49 Nr. 4, vom 14. Februar 2001, SozR 3-2500 § 44 Nr. 9 sowie vom 19. September 2002, SozR 3-2500 § 44 Nr. 10; Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VG 4352/13 –, juris, Rz. 44 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>115 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="115"/>Bezugsberuf ist davon ausgehend somit die Tätigkeit als Schreiner/Holztechniker und deren gesundheitliche Anforderungen der Prüfung der Arbeitsunfähigkeit zugrunde zu legen, allerdings nicht in einer konkreten Tätigkeit, weil der Kläger seit Mai 2012 im Dienstleistungsbereich tätig ist. Dieser erfordert eine körperliche Fitness, da überwiegend im Stehen, aber auch Knien gearbeitet wird und das gelegentliche Heben und Tragen von Lasten damit verbunden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>116 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="116"/>S hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass der Kläger aufgrund der Beeinträchtigungen an den Knien nicht mehr in der Lage gewesen ist, den beruflichen Anforderungen zu entsprechen, sodass er ihm entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt hat, wobei er zutreffend von einer Tätigkeit als Schreiner ausgegangen ist. Seinen Befundberichten entnimmt der Senat dazu weiter, dass sich der Befund 2018 sogar noch verschlechtert hat und S keine Besserungsmöglichkeiten gesehen hat. Die entspricht den Ergebnissen des Vorgutachtens des R und wird durch die versorgungsärztliche Stellungnahme des W2, der ausdrücklich herausgestellt hat, dass die genannten Fristen zur Auszahlung von Versorgungskrankengeld schon 2016 überschritten gewesen sind, bestätigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>117 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="117"/>Der Senat lässt in diesem Zusammenhang offen, ob der Beurteilung der Beklagten überhaupt gefolgt werden kann, dass nach Feststellung eines Dauerzustandes wieder erneutes Versorgungskrankengeld zu gewähren ist. Zum einen kennt das BVG gerade keine sich aneinanderreihenden Blockfristen, wie sie das SGB V vorsieht, zum anderen findet sich keine dem § 48 Abs. 2 SGB V vergleichbare Regelung dazu, unter welchen Voraussetzungen erneut Versorgungskrankengeld zu gewähren ist. Ebenso existiert keine dem § 48 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) entsprechende Regelung zu Wiedererkrankungen. Es spricht somit einiges dafür, dass es für ein Wiederaufleben des Anspruchs auf Versorgungskrankengeld schon an einer Rechtsgrundlage fehlt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>118 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="118"/>Ebenfalls offen lässt der Senat, ob der Bescheid über die Feststellung des Dauerzustandes vom 8. Juli 2011, der nach der Abweisung der Klage durch das SG mit Urteil vom 13. Dezember 2017 bestandskräftig geworden ist, wirksam aufgehoben worden ist, oder weiterhin eine bindende Feststellung des Dauerzustands enthält, da auch in diesem Fall Klage und Berufung unbegründet wären. Daraus, dass die Beklagte der Rechtsauffassung gewesen ist, ab 2013 wieder Versorgungskrankengeld gewähren zu können und tatsächlich wieder Leistungen gewährt hat, kann der Kläger ebenso wenig weitere Rechte herleiten, wie daraus, dass sich dem Aktenvermerk entnehmen lässt, dass kürzere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit wieder mit Versorgungskrankengeld abgedeckt würden. Die Beklagte hat dem Kläger nämlich tatsächlich weitere Leistungen erbracht, was aber nichts daran ändert, dass nach den eindeutigen gesetzlichen Vorgaben nur unter engen Voraussetzungen Leistungen für mehr als 78 Wochen in drei Jahren erbracht werden sollen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>119 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="119"/>Die Prognose der Beklagten, dass mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist, ist nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>120 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="120"/>Hinsichtlich der Prüfung eines Dauerzustandes verlangt der Gesetzgeber von der Versorgungsverwaltung eine Prognose der Entwicklung des gesundheitlichen Zustandes des Leistungsempfängers in Bezug auf die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit. Ob Prognoseentscheidungen von Verwaltungsträgern nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar sind und der Behörde hier ein nicht zu überprüfender Beurteilungsspielraum einzuräumen ist (so z. B. BSG SozR 3-4460 § 10 Nr. 2 zur Frage, ob eine berufliche Bildungsmaßnahme unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig ist) oder ob die geforderte hypothetische Betrachtung einer uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt (so z. B. BSG SozR 4-4300 § 324 Nr. 2 bzgl. der Förderungsbedürftigkeit des Arbeitnehmers bei Eingliederungszuschüssen) richtet sich im Wesentlichen danach, ob die prognostische Einzelbeurteilung tatsächlichen Feststellungen im gerichtlichen Verfahren mit gleicher Sicherheit zugänglich ist wie im Verwaltungsverfahren (BSG a. a. O.). Da es für die Frage der Perpetuierung der Arbeitsunfähigkeit maßgeblich auf den Gesundheitszustand und somit auf medizinische Fakten ankommt und weder eine wertende noch eine Zweckmäßigkeitsentscheidung der Verwaltung vorgeschaltet ist, ist ein der gerichtlichen Überprüfung entzogener Entscheidungsfreiraum der Behörde hier nicht zu begründen. Weder rechtliche noch faktische Anhaltspunkte, die eine Ausnahme von der nach Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) prinzipiell gewährleisteten vollständigen Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen rechtfertigen (vgl. BVerfGE 64, 261, 279; 78, 214, 226; 84, 34, 49 ff.; 84, 59, 77 ff.), sind hier gegeben (vgl. BSG SozR 4-4300 § 324 Nr. 2). Mithin unterliegt die Prognoseentscheidung („voraussichtlich“) des Beklagten der vollen gerichtlichen Überprüfung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>121 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="121"/>Maßgebend sind dabei die Verhältnisse zur Zeit der Prognoseentscheidung (vgl. oben), sodass Grundlage nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, also spätestens bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erkennbare Umstände sein können. Zu diesem Zeitpunkt müssen die Grundlagen für die Prognose richtig festgestellt und alle in Betracht kommenden Umstände hinreichend und sachgerecht gewürdigt sein (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 3 KS 4/13 R –, juris, 28 ff.), was vorliegend zur Überzeugung des Senats der Fall ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>122 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="122"/>Die Beklagte hat zunächst – auch zur Prüfung der 78 Wochen – die Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers ausgewertet und – im Rahmen der Prüfung der Badekur – das Gutachten des S eingeholt, der, auch für den Senat überzeugend, dargelegt hat, dass sich an den Knien jedenfalls seit 2018 keine wesentlichen Änderungen ergeben haben und dass insbesondere keine Veranlassung für die vorzeitige Erbringung einer Badekur besteht, was die fehlende therapeutische Beeinflussbarkeit der Beschwerden anschaulich unterstreicht. Auf dieser Tatsachengrundlage hat H versorgungsärztlich nachvollziehbar ausgeführt, dass die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich nicht zu beseitigen ist und deshalb von einem Dauerzustand ausgegangen werden muss. Diese Einschätzung wird durch den weiteren Verlauf bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides dadurch untermauert, dass der Kläger ab dem 15. Oktober 2019 durchgängig arbeitsunfähig gewesen ist und damit am 6. Februar 2020 schon wieder fast vier Monate. Bereits am 7. Februar 2020 hat S eine weitere Arbeitsunfähigkeit bis 6. März 2020 bescheinigt, die bis 31. März 2020 verlängert worden ist, was die Annahme eines Dauerzustandes zusätzlich stützt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>123 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="123"/>Die sachverständige Zeugenaussage des S im Klageverfahren hat die Richtigkeit dieser Feststellung nochmals bestätigt. Darin hat dieser – für den Senat überzeugend – dargelegt, dass der desolate Kniebefund beidseits bei vorhandene Kniearthrosen sämtlich nicht zu beseitigen ist und es sich schlicht um einen Dauerzustand handelt, sodass schon am 3. September 2019 keine Möglichkeit einer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>124 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="124"/>In tatsächlicher Hinsicht wird dies dadurch unterstrichen, dass der Einkommenssteuerbescheid 2018 beim Kläger ein Einkommen von 18.621 EUR ausweist, er jedoch 9.324,90 EUR, 2.749,65 EUR, 3.945,15 EUR, 12.433,20 EUR, somit insgesamt 28.452,90 EUR, Versorgungskrankengeld erhalten hat, mithin das Einkommen aus Entgeltersatzleistung das reguläre Einkommen deutlich überstiegen hat. 2017 standen Zahlungen von 3.002,40 EUR, 8.788,00 EUR, 5.948,80 EUR und 12.168,00 EUR, insgesamt 29.907,20 EUR, aus Versorgungskrankengeld einem Einkommen von nur 14.100 EUR gegenüber. Deutlich erkennbar ist daher, dass der Kläger in den genannten Jahren seinen Lebensunterhalt nicht aus eigener Tätigkeit, sondern in erster Linie als den Zahlungen der Beklagten bestritten hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>125 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="125"/>Hieran ändert sich, entgegen der Auffassung des Klägers, nichts dadurch, dass im Laufe des Prognosezeitraumes ein anderer Beendigungstatbestand für das Versorgungskrankengeld, hier in Form der Altersrente, eintritt. Der Kläger verkennt hier, dass § 18a Abs. 7 BVG, ebenso wie § 48 Abs. 2 SGB V, dem Zweck dient, Versorgungskrankengeld nicht als rentenähnliche Dauerleistung beziehen zu können. Der Gesetzgeber ist nämlich nicht verpflichtet, eine Lücke im Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung durch die lebenslange Gewährung von Krankengeld zu schließen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 24. März 1998 – 1 BvL 6/92 –, juris, Rz. 30). Nichts anderes beansprucht der Kläger letztlich indessen, wenn er meint, dass das Versorgungskrankengeld seine Versorgungslücke bis zur Regelaltersrente schließen müsse. Wenn seine Auffassung zutreffen würde, könnte faktisch 78 Wochen vor dem – prognostischen – Rentenbeginn grundsätzlich keine Beendigung des Versorgungskrankengeldes eintreten, was dem Sinn und Zweck des Versorgungskrankengeldes erkennbar entgegenlaufen würde. Demgemäß geht auch sein Vorbringen fehl, die Beklagte habe vor der Feststellung des Dauerzustandes andere Sozialleistungen prüfen müssen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>126 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="126"/>Zu keiner anderen Beurteilung führt es, dass der Kläger nunmehr glauben machen will, seine selbstständige berufliche Tätigkeit beschränke sich seit 2012 nur noch auf leichte Tätigkeiten und zwischen 2016 und 2019 sei er überwiegend überwachend tätig gewesen. Selbst wenn dieses Vorbringen zutreffen würde, wäre dann jedenfalls keine Arbeitsunfähigkeit zu begründen, da schon im Sachverständigengutachten des R überzeugend herausgearbeitet worden ist, dass der Kläger leichte Tätigkeiten verrichten kann. Diesem gegenüber hat der Kläger angegeben, dass er selbstständig als Schreiner im Innenausbau ist. Er baue Türen ein- und aus, verrichte Trockenbauarbeiten, stelle Fenster ein, vertusche Toleranzen und helfe dem Parkettleger. Es handele sich um eine Feinarbeit mit Geduld. Bezogen hierauf hat R dargelegt, dass aufgrund der Wehrdienstbeschädigung bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen bestehen, die eine Tätigkeit im Trockenbau erheblich beeinträchtigen. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten folgt hieraus aber nicht. Für eine solche hat S im Übrigen auch keine Arbeitsunfähigkeit bestätigt, sondern diese ausgehend von der Tätigkeit als Schreiner beurteilt. Dies wird im Übrigen durch das eigene Vorbringen des Klägers bestätigt, dass er sechs Stunden am Tag arbeiten könne und deshalb keine Erwerbsunfähigkeit nach den Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherung vorliege. Ohne schädigungsbedingte Arbeitsunfähigkeit käme indessen auch kein Anspruch auf Versorgungskrankengeld in Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>127 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="127"/>Unabhängig davon ist das Vorbringen des Klägers aber schon deshalb nicht glaubhaft, da er parallel Ansprüche auf eine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit verfolgt hat und die Beklagte mit dem – ablehnenden – Bescheid vom 29. März 2018 dezidiert aufgezeigt hat, aus welchen Gründen die vom Kläger als nicht mehr auszuübend beschriebene Tätigkeit nicht mehr den Leistungsanforderungen im Beruf des Holztechnikers korrespondiert, auf die der Kläger erfolgreich umgeschult worden ist. Dabei verkennt der Kläger auch, dass der Versicherte zur Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit nicht nur dann unfähig ist, wenn sie ihm überhaupt nicht mehr möglich ist, sondern auch dann, wenn er sie nur noch auf die Gefahr hin verrichten kann, den Leidenszustand zu verschlimmern (vgl. BSG, Urteil vom 17. August 1982 – 3 RK 28/81 –, juris, Rz. 15). Dass die selbstständige Tätigkeit zu Lasten seiner Gesundheit geht, hat der Kläger 2012 bereits selbst dargelegt. Genau eine solche Verschlimmerung durch eine nicht leidensgerechte Tätigkeit ergibt sich jedoch sowohl aus dem Sachverständigengutachten des R und ist von S überzeugend nochmal bestätigt worden. Ebenso verkennt der Kläger, dass es bei der Frage nach der Arbeitsfähigkeit um die Fähigkeit geht, einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, sodass es nicht ausreicht, dass „kleinere Aufträge“ erledigt worden sei sollen. Auch bei Selbstständigen liegen Sinn und Zweck des Versorgungskrankengeldes nicht darin, Ausfallleistungen für Auftragslücken zu sein. Warum die Beklagte im Übrigen gehalten sein sollte, wie der Kläger meint, alle 26 Wochen seinen Gesundheitszustand zu überprüfen, erschließt sich dem Senat nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>128 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="128"/>Ebenso rechtsirrig ist die Auffassung des Klägers, dass mit dem Anspruch auf Heilbehandlung ein Anspruch auf Versorgungskrankengeld verbunden ist. Dass diese Argumentation nicht verfangen kann, ergibt sich schon daraus, dass dies im Umkehrschluss bedeuten würde, dass arbeitsfähige Beschädigte keinen Heilbehandlungsanspruch haben könnten, was erkennbar absurd ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>129 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="129"/>Letztlich geht der Verweis auf § 82 SVG fehl. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SVG erhalten ehemaliger Soldaten wegen einer Gesundheitsstörung, die bei Beendigung des Wehrdienstverhältnisses heilbehandlungsbedürftig ist, Leistungen in entsprechender Anwendung des § 10 Abs. 1 und 3 sowie der §§ 11, 11a und 13 bis 24a des BVG. Die Leistungen nach Abs. 1 werden bis zur Dauer von drei Jahren nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses gewährt (§ 82 Abs. 2 Satz 1 SVG). Wird vor Ablauf dieses Zeitraums ein Anspruch nach § 80 anerkannt, so werden sie nur bis zum Zeitpunkt der Anerkennung gewährt (§ 82 Abs. 2 Satz 2 SVG). Nachdem der Kläger seinen Wehrdienst bereits 1976 beendet hat und jedenfalls seit dem 1. März 2004 Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 30 erhält (vgl. Bescheid des LRA vom 22. September 2009), und damit Leistungen nach § 80 SVG, verbleibt für eine Anwendung des § 82 SVG kein Raum.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>130 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="130"/>Nachdem die Beklagte zu Recht einen Dauerzustand festgestellt und die Gewährung weiteren Versorgungskrankengeldes abgelehnt hat, konnte die Berufung keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>131 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="131"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>132 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="132"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,190 | lsgbw-2022-07-21-l-6-sb-169621 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 6 SB 1696/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-13T10:02:08 | 2022-10-17T17:55:59 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13. April 2021 abgeändert.</p><p>Der Beklagte wird verpflichtet, unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 sowie unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 2013, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 60 seit dem 4. April 2019 festzustellen.</p><p>Die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen hat der Beklagte zu tragen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die höhere Neufeststellung des Grades der Behinderung mit mehr als 40.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Er ist 1957 geboren, hat nach dem Abitur ein Maschinenbaustudium abgeschlossen und war nach einer Tätigkeit bei der P AG seit 1993 als Berufsschullehrer tätig. Zwischenzeitlich ist er pensioniert. Er lebt von seiner Ehefrau getrennt, hat zwei volljährige Kinder und bewohnt alleine ein Eigenheim, das von ihm selbst versorgt wird (Anamnese BG N Reha-Klinik).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 22. April 2013 beantragte er bei dem Landratsamt K (LRA) erstmals die Feststellung des GdB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Das LRA zog den Entlassungsbericht der BG N Reha-Klinik über die stationäre Behandlung vom 8. November bis 6. Dezember 2012 bei (Diagnosen: V. a. leichte depressive Episode, HWS-Syndrom bei Z. n. Bandscheibenvorfall, LWS-Syndrom bei Bandscheibenvorwölbung, Tinnitus aurium, V. a. psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Der W gab in seinem Befundschein an, den Kläger zuletzt 2011 behandelt zu haben, nachdem dieser angegeben habe, durch ein extrem lautes Geräusch eines Schlagbohrers eine Hörminderung erlitten zu haben. Es sei eine Infusion mit 250 mg Prednisolut in absteigender Dosis durchgeführt worden, im Anschluss sei keine Wiedervorstellung erfolgt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Nachdem H versorgungsärztlich nur Funktionseinschränkungen sah, die mit Teil-GdB von je 10 zu bewerten seien, lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 5. August 2013 ab, da kein GdB von wenigstens 20 vorliege.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Im Widerspruchsverfahren erhob das LRA den Befundschein des L. Dieser beschrieb eine mit Ängsten verbundene depressive Symptomatik. Diese verstärke sich mit erheblichen Schlafstörungen, Atemproblemen, Unruhe, Übelkeit und psychosomatischen Beschwerden, vor allem dann, wenn der Kläger seine Tätigkeit als Lehrer an der Berufsschule ausübe. Seit einigen Monaten komme ein Gefühl eines inneren Ausgelaugtseins und Niedergeschlagenheit hinzu. Die Beschwerden hätten im Laufe der Psychotherapie zwar nachgelassen, bestünden aber in etwas verminderter Form weiter fort. Der Kläger lebe allein, habe Kontakt zu seinen beiden Kindern. Insgesamt erscheine er ausreichend sozial integriert, wenn es auch immer wieder zu Phasen von Rückzug komme. Die ambulante psychotherapeutische Behandlung finde im wöchentlichen Rhythmus statt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>S führte hierzu versorgungsärztlich aus, dass nunmehr von einer stärker behindernden Störung ausgegangen werden könne, die mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Mit Teilabhilfe-Bescheid vom 2. Dezember 2013 stellte das LRA dem folgend einen GdB von 30 seit dem 1. September 2012 fest.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Den Widerspruch im Übrigen wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2014 zurück.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Am 4. April 2019 beantragte der Kläger bei dem LRA die Neufeststellung des GdB und legte das Attest des L vor. Dieser gab an, dass der Kläger an einer depressiven Symptomatik leide, die mit wechselnd starken Ängsten verbunden sei. Wesentlich für das jetzt verstärkte Auftreten der Beschwerden sei ein hereditäres Angioödem (Haut- und Schleimhautschwellungen in unterschiedlichen Körperregionen), eine seltene Erbkrankheit. Hierdurch werde die vorbestehende rezidivierende Depression, wegen der 2018 eine stationäre psychosomatische Behandlung stattgefunden habe, verstärkt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Das LRA zog den Entlassungsbericht der Klinik J über die in der Zeit vom 8. bis 30. März 2018 durchgeführte stationäre Rehabilitation bei. Darin wurde zum Entlassungsbefund ausgeführt, dass sich unter der stationären Behandlung die depressive Symptomatik deutlich reduziert habe, die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sei nahezu remittiert. Die Stimmung habe sich aufgehellt und sei stabil, der Kläger sei affektiv besser schwingungsfähig und emotional ausgeglichener gewesen. Körperlich habe ein weiterhin harmonisches Gangbild ohne sensomotorische Ausfälle bestanden, die gesamte Wirbelsäulenbeweglichkeit sei frei gewesen, der Finger-Boden-Abstand habe bei 0 cm gelegen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Der Entlassungsbericht des Städtischen Klinikums K über die stationäre Behandlung vom 19. bis 21. Oktober 2019 beschrieb eine placebokontrollierte Provokationstestung bei geklagter zunehmender Zungen- und Rachenschwellung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Z führte versorgungsärztlich aus, dass nur eine Tenorerweiterung empfohlen und zusätzlich eine somatoforme Schmerzstörung anerkannt werden könne. Das hereditäre Angioödem führe zu keinem Teil-GdB von wenigstens 10. Eine wesentliche oder anhaltende Verschlechterung der bekannten Behinderungen lasse sich nicht begründen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Den Neufeststellungsantrag lehnte das LRA daraufhin mit Bescheid vom 23. Juli 2019 ab, da eine wesentliche Änderung, die eine Höherbewertung des GdB rechtfertige, nicht vorliege.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger den Bericht des B, Johannes-Gutenberg-Universität M, über seine ambulante Vorstellung am 19. Juni 2018 vor. Dieser führte aus, dass bei dem Kläger ein hereditäres Angioödem bestehe, das jedoch nicht durch einen C1-Inhibitor-Mangel bedingt sei. Die genetische Untersuchung habe eine HAE-spezifische Mutation im Plasminogen-Gen ergeben. Zur Behandlung dieser seltenen Krankheit seien Antihistaminika und sicherlich auch Kortikosteroide nicht wirksam. Da es sich um ein Bradykinin-vermitteltes Angioödem handele, sei „Firazyr“ zur Behandlung akuter Schwellungen außerordentlich wirksam. Bei Atemwegsbeteiligung oder isoliertem Larynxödem sei eine klinisch-stationäre Überwachung des Klägers trotzdem erforderlich. Zu meiden seien ACE-Hemmer, da diese eine Verstärkung der Symptomatik erwarten ließen. Um Patienten mit einem Risiko dieser unberechenbaren und potentiell lebensbedrohlichen Krankheit zu identifizieren, sei eine Untersuchung von Blutsverwandten durchzuführen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>S1 führte versorgungsärztlich aus, dass zusätzlich eine psychovegetative Störung aufgenommen werde. Das hereditäre Angioödem werde mit einem Teil-GdB von 20 neu tenoriert, beides ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2019 zurück. Als weitere Funktionsbeeinträchtigung liege ein hereditäres Angioödem vor, das einen Teil-GdB von 20 bedinge. Hierdurch komme es zu keiner wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, sodass sich kein höherer Gesamt-GdB ergebe. Die psychische Erkrankung sei als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bewertet worden, eine schwere Störung, die eine höhere Einstufung erlaube, liege nicht vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Am 20. Januar 2020 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung sachverständige Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte eingeholt hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>F hat mitgeteilt, dass eine wesentliche Verschlimmerung des Quincke-Ödems eingetreten sei. Dieses müsse ebenso höher bewertet werden wie die Hyperurikämie mit rezidivierender Gelenkschwellung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>L hat bekundet, dass der Kläger an einer depressiven Symptomatik leide, die mit wechselnd starken Ängsten verbunden sei. Wesentlich für das verstärkte Wiederauftreten sei das bestehende hereditären Angioödem. Der Kläger leide unter einer Form, die zu lebensbedrohlichen Schwellungen im Bereich der oberen Atemwege führen könne. Solche Attacken, die im Durchschnitt zweimal pro Monat aufträten, führten zu einem hohen Grad an Verunsicherung, es komme zu Panikattacken. Weiterhin bestehe ein Tinnitus, der vor in allem in depressiven Phasen eine quälende Qualität habe. Im psychischen Befund wesentlich seien immer wieder auftretende Stimmungsschwankungen, Konzentrations-, Aufmerksamkeits- wie Schlafstörungen, aggressive Durchbrüche mit selbstverletzenden Aktionen, die in labilen Phasen nur schwer zu kontrollieren seien. Der versorgungsärztlichen Einschätzung sei nicht zu folgen, der GdB müsse höher eingeschätzt werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>K1 hat beschrieben, dass es im Verlauf der Behandlung bei dem Kläger zu einer Schmerzzunahme sowohl lumbal als auch zu einer zunehmenden Bewegungseinschränkung der HWS sowie des Schultergelenks rechts gekommen sei. Das chronische Schmerzsyndrom sei mit einem GdB von 30 zu bewerten, ebenso die Depression und die Veränderungen der Wirbelsäule. Sowohl der psychovegetative Gesamtbefund als auch das Ausmaß der chronifizierten Schmerzsymptomatik mit dem Stadium II nach Gerbershagen hätten eine richtungsgebende Verschlimmerung erfahren. Ergänzend hat er den Befundbericht über die MRT der HWS und BWS vom 14. Juli 2018 (K2) und der MRT der LWS vom 19. Dezember 2017 (K3) sowie den Befundbericht des D über die ambulante Untersuchung vom 25. Juli 2018 (kein sicherer Hinweis für ein Karpaltunnelsyndrom links) vorgelegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat die versorgungsärztliche Stellungnahme des H vorgelegt. Dieser hat ausgeführt, dass sich der orthopädische GdB-Vorschlag von 30 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule im obersten Bereich des Ermessenspielraums befinde, da die dokumentierten objektivierbaren Funktionsbehinderungen allenfalls gering bis mittelgradig erschienen. Nach Aktenlage sei eine Einstufung des hereditären Angioödems nur schwer vorzunehmen. Diese könne am ehesten nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 erfolgen, wonach für das chronisch-rezidivierende Quincke-Ödem bei häufiger auftretenden Schüben und schwer vermeidbaren Noxen ein GdB von 20 bis 30 angegeben werde. Die Häufigkeit werde beim Kläger im psychotherapeutischen Bericht mit circa zweimal pro Monat beschrieben. Der Hausarzt beschreibe ein Auftreten zum Teil zweimal wöchentlich, teilweise mit der Notwendigkeit einer Kliniküberwachung. Die Berichte über die stationären Krankenhausaufenthalte seien beizuziehen, da von Interesse sei, wie oft stationäre Überwachungsmaßnahmen notwendig gewesen seien, sich der jeweilige klinische Befund dargestellt habe und welche therapeutischen Maßnahmen notwendig geworden seien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Das Klinikum K hat auf Anfrage des SG mitgeteilt, dass keine weiteren Behandlungsberichte übersandt werden könnten, da der Kläger seit Februar 2019 nicht mehr behandelt worden sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 13. April 2021, in der der Kläger persönlich angehört worden ist (vgl. Protokoll vom gleichen Tag), hat das SG den Bescheid vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 abgeändert und den Beklagten verpflichtet, einen GdB von 40 seit dem 4. April 2019 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ leide der Kläger unter einer rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Episode und einer chronischen Schmerzstörung. Außerdem sei auch der Tinnitus diesem Funktionssystem zuzuordnen. Der Kläger sei in seiner Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit erheblich eingeschränkt, zeige ein inadäquates Stressverhalten. Wie sich aus dem Entlassungsbericht der Rehaklinik F1 vom 13. April 2018 ergebe, sei der Kläger zunächst seiner Tätigkeit als Lehrer nachgegangen, zwischenzeitlich sei er pensioniert. Das Verhältnis zu seinen beiden Kindern und seiner ehemaligen Ehefrau sei gut gewesen, seit der Scheidung sei er auch mehrere partnerschaftliche Beziehungen eingegangen. Ein sozialer Rückzug sei nicht erkennbar, der sich aus dem Bericht ergebende psychische Befund sei weitestgehend unauffällig. Am Ende der stationären Behandlung habe sich die depressive Symptomatik deutlich reduziert, die chronische Schmerzstörung sei nahezu remittiert gewesen. Der Kläger habe angegeben, seit seiner Pensionierung mit der Situation besser zurecht zu kommen. Es finde derzeit keine Psychotherapie statt und der Kläger nehme keine psychopharmazeutische Medikation ein. Ein höherer Teil-GdB als 30 sei daher nicht gerechtfertigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Im Funktionssystem „Haut“ betrage der Teil-GdB ebenfalls 30, nachdem der Kläger unter einem hereditären Angioödem Typ III leide. Diese Erkrankung werde durch die VG nicht ausdrücklich geregelt und müsse daher mit Hilfe einer analogen Anwendung bewertet werden. Die Beschwerden träten wiederkehrend auf und seien von unterschiedlich langen beschwerdefreien Intervallen unterbrochen. Ein Angioödem entwickele sich meist innerhalb einiger Stunden und klinge dann im Verlauf von zwei bis fünf Tagen wieder ab. Es gleiche daher in seinen Einschränkungen dem Quincke-Ödem. Bei dem Kläger trete die Erkrankung vermehrt seit 2019 in Erscheinung. Die Anfälle fänden in unregelmäßigen Abständen statt, nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung seien diese nicht mit einer akuten Luftnot verbunden. Ein Krankenhaus habe der Kläger zuletzt 2019 aufgesucht, im Bedarfsfall spritze er sich das Enzym „Firazyr“, das gut anschlage. Von einem schweren, über Jahre sich hinziehenden Verlauf könne daher nicht ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung des zuletzt als gut beschriebenen Allgemeinzustandes, der fehlenden Begleiterscheinungen und der guten Wirksamkeit des Medikaments im Bedarfsfall auf der einen Seite und der Tatsache, dass die im Gesicht auftretenden Ödeme für den Kläger eine entstellende Wirkung aufwiesen, auf der anderen Seite, sei zwar von häufiger auftretenden Schüben auszugehen, die jedoch gut und schnell behandelbar seien, sodass der Teil-GdB nicht mit mehr als 30 zu bewerten sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Der Teil-GdB im Funktionssystem „Rumpf“ betrage 20. Die Beweglichkeit der HWS sei zwar eingeschränkt, neurologisch bestünden aber keine Paresen. Eine Bewegungseinschränkung der LWS sei nicht objektiviert.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Aus den Teil-GdB von 30, 30 und 20 sei ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden, wobei berücksichtigt werden müsse, dass der Teil-GdB für das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bereits großzügig bemessen sei. Weitere zu bewertende Funktionseinschränkungen bestünden nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Am 14. Mai 2021 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Schon ausgehend von dem Rechtsstandpunkt des SG zu den Teil-GdB habe dieses zu einem Gesamt-GdB von 50 gelangen müssen, da Überschneidungen nicht bestünden. Im Übrigen sei für das Angioödem ein Teil-GdB von 40 bis 50 anzusetzen, da ein langjähriges und medikamentös praktisch nicht beherrschbares Leiden bestehe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="31"/>das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13. April 2021 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 sowie unter teilweiser weiterer Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 2013 einen Grad der Behinderung von 60 seit dem 4. April 2019 festzustellen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="33"/>die Berufung des Klägers zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Er verweist auf die angefochtene Entscheidung. Die Entscheidung des SG sei im Ergebnis vertretbar, allerdings müsse berücksichtigt werden, dass sich die psychische Erkrankung – nicht zuletzt durch die Pensionierung – eher gebessert habe und fraglich sei, ob ein Teil-GdB von 30 noch voll ausgefüllt sei. Der Kläger habe insbesondere angegeben, dass die Psychotherapie derzeit ruhe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat das Sachverständigengutachten des B, Universitäts-Haut-Klinik M, aufgrund ambulanter Untersuchung vom 16. November 2021 erhoben. Dieser hat zum Krankheitsbild des hereditären Angioödem ausgeführt, dass die klinischen Symptome aus unregelmäßig wiederkehrenden Hautschwellungen sowie potentiell lebensbedrohlichen Zungenschwellungen bestünden, also Zungenschwellungen, deren Verlauf unvorhersehbar sei und von denen jede einzelne zu einem Verschluss der oberen Luftwege mit nachfolgender Erstickung führen könne.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Die Hautschwellungen träten bei dem Kläger im Gesicht, vorwiegend als Lippenschwellungen und am Hals, auf. Das Ausmaß reiche von monströser bis entstellender bis zu milder Ausprägung. Die Hautschwellungen dauerten im Durchschnitt jeweils 2 Tage. Sie seien immer von einem Spannungsgefühl begleitet, außerdem seien sie in der Regel 12 Stunden mäßig bis erheblich schmerzhaft, bedingt durch den rasch entstehenden Flüssigkeitsdruck im Gewebe. Die Hälfte der Lippenschwellungen beginne tagsüber, die andere Hälfte nachts. Die meisten Schwellungen entstünden spontan, ohne erkennbare Ursache, ein anderer Teil werde durch psychische Belastungen ausgelöst. Eine medikamentöse Behandlung verursache hohe Kosten und sei vom Kläger bislang nicht durchgeführt worden, da die Schwellungen nicht lebensbedrohlich seien und sich von selbst zurückbildeten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Zungenschwellungen seien in den letzten sechs Monaten zehnmal aufgetreten, sodass mit einer Häufigkeit von etwa 20 Mal pro Jahr in Zukunft zu rechnen sei. Die Dauer betrage bis zu 36 Stunden, die häufigsten hätten nachts begonnen, sodass er mit Zungenschwellungen aufgewacht sei. Ein Teil der Schwellungen sei einseitig, sie seien schmerzhaft und mit einem Spannungsgefühl verbunden. In etwa 10 Fällen sei es zu einer Atemnot gekommen, einem Zeichen für einen fortgeschrittenen partiellen Verschluss der oberen Luftwege und akuter Erstickungsgefahr. Die Atemnot habe etwa 20 Minuten gedauert. Die meisten Zungenschwellungen seien ohne erkennbaren Auslöser entstanden, ein Teil auch in der Folge von psychischem Stress. Während der Schwellung könne die Zunge den gesamten Mundraum ausfüllen, dabei sei die Sprache von kloßig bis unverständlich verändert. Eine notfallmäßige Krankenhausbehandlung sei einmal stationär und dreimal ambulant erfolgt, viermal habe er vor dem Krankenhaus umgedreht, da sich die Schwellungen zurückgebildet hätten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Wegen der Erstickungsgefahr sei der Kläger stark belastet, das Aufwachen in der Nacht durch eine Zungenschwellung erzeuge Ängstlichkeit und Angst, da er nicht wisse, ob sich eine lebensbedrohliche Situation entwickeln könne.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Die Angaben des Klägers zu der Krankheitssymptomatik seien absolut glaubwürdig und stimmten mit den Kriterien der Krankheit überein, ebenso die Häufigkeit der verschiedenen Attacken zueinander und die Abläufe der Attacken. Durch die Gesamtheit der Einzelattacken und deren Folgen in der symptomfreien Intervallzeit sei der Kläger physisch und psychisch erheblich eingeschränkt. Der Kläger lebe ständig mit der Angst vor einer neuen Schwellungsattacke. Die teilweise monströsen und schmerzhaften Schwellungen der Lippen führten zu Einschränkungen bei der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Die physischen Symptome seien entstellend, sodass Kontakte gemieden würden. Die Beeinträchtigungen durch die klinischen Symptome seien zwar auf die jeweilige Schwellung beschränkt, diese aber unvorhersehbar. Hinzu komme die Ängstlichkeit, dass die nächste Schwellung „unpassend“ auftrete. Ungleich größer seien die Beeinträchtigungen durch die Zungenschwellungen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Einschätzung des GdB habe zum einen anhand der Vorgaben für das Quincke-Ödem zu erfolgen, welches bei einen schweren chronischen, sich über Jahre hinziehenden Verlauf mit einem GdB von 40 bis 50 zu bewerten sei. Weiter könne eine systemische Beteiligung, wie vorliegend durch die Zungenschwellungen, mit oder ohne Beteiligung der Atemwege zusätzlich berücksichtigt werden. Für die Zungenschwellungen selbst gebe es keine Bewertungsvorgabe, diese könnten aber entsprechend den Bauchfellverwachsungen mit häufiger rezidivierenden Ileuserscheinungen bewertet werden. Die daneben bestehe psychische Beeinträchtigung sei mit einem GdB von 20 zu bewerten. Der Kläger lebe mit der ständigen Sorge vor einer Kehlkopfzuschwellung mit Erstickungsrisiko. Der Gesamt-GdB sei auf 60 einzuschätzen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Unter der Bezeichnung „Angioödem“ oder „Quincke-Ödem“ würden verschiedene erworbene oder ererbte Krankheiten zusammengefasst, die sich in vielem unterschieden, auch in den klinischen Symptomen. In vielen Fällen seien Angioödeme mit einer Urtikaria verbunden, die hereditären Angioödem-Formen seien jedoch in Symptomatik und Verlauf andersartig, schwerer und durch das Auftreten von ausschließlich tiefen Schwellungen der Haut und auch vor allem innerer Organe gekennzeichnet. Die Krankheit des Klägers gehöre zu den erheblichen Formen, sei extrem selten und erst 2018 beschrieben sowie hinsichtlich der klinischen Symptome charakterisiert worden. Insofern habe sie in den Vorberichten nicht in ihren Eigenschaften dokumentiert und adäquat bewertet werden können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Der Beklagte ist dem Sachverständigengutachten unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des H entgegengetreten. Dieser hat ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass sich die Häufigkeit der angegebenen Zungenschwellungen auf den Zeitraum seit Beginn der Erkrankung beziehe. Die Bewertung der Gesichtsschwellungen könne nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 erfolgen. Hier werde bei häufig auftretenden Schüben bei schwer vermeidbaren Noxen ein GdB von 20 bis 30 vorgeschlagen. Ein schwerer chronischer Verlauf liege nicht vor, da bisher keine Behandlung der Lippenschwellungen notwendig geworden sei. Zusätzlich seien die Zungenschwellungen, die im Einzelfall zu Atemnot führen könnten, zu bewerten. Aufgrund der Atemnot könne eine Analogie zur Einstufung des Bronchialasthmas nach den VG, Teil B, Nr. 8.5 gezogen werden. Da insgesamt seit Erkrankungsbeginn nur viermal eine Notfallbehandlung wegen Atemnot notwendig gewesen sei, sei von seltenen Anfällen (GdB 0 bis 20) auszugehen. Insgesamt sei bei nicht behandlungsbedürftigen Lippenschwellungen sowie Zungenschwellungen, die nur selten eine Notfallbehandlung erforderten, ein Teil-GdB von 30 anzunehmen. Die seelische Störung sei in einem gesonderten Tenor bewertet worden. Somit müsse sich, anders als im Gutachten des B angenommen, der Teil-GdB für das hereditäre Angioödem durch die psychische Belastung nicht weiter erhöhen. Andernfalls wären bei der Gesamt-GdB-Bildung Überschneidungen zu beachten. Zusammenfassend werde der Gesamt-GdB von 40 weiter für zutreffend erachtet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Der Berichterstatter hat mit Verfügung vom 12. Mai 2022 darauf hingewiesen, dass nach vorläufiger Prüfung die rechtlichen Ausführungen des H zur Bildung der Teil- und des Gesamt-GdB so nicht überzeugen dürften.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Der Beklagte hat unter Vorlage einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme des H ein Anerkenntnis auf Feststellung eines GdB von 50 seit dem 4. April 2019 abgegeben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 13. April 2021, soweit damit die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB unter Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 18. Dezember 2019 sowie – sinngemäß – unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 2013 abgewiesen worden ist. Nachdem der Beklagte ein Anerkenntnis auf Feststellung eines GdB von 50 abgegeben hat, das vom Kläger nicht angenommen wurde, steht bindend fest, dass der GdB mit mindestens 50 festzustellen ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Die Begründetheit der Berufung folgt aus der weiteren Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 ist in weiterem Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG), als es das SG bereits angenommen hat. Er kann nach Überzeugung des Senats – über das Anerkenntnis des Beklagten hinaus – die höhere Neufeststellung des GdB mit 60 beanspruchen, wie ihn auch der nach § 109 SGG gehörte Sachverständige gesehen hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn diese einen um wenigstens 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, wie schon durch die rechtskräftige (vgl. oben) Verpflichtung zur Feststellung eines höheren GdB durch das SG sowie das (Teil-)Anerkenntnis des Beklagten feststeht. Gegenüber dem maßgebenden Vergleichsbescheid vom 2. Dezember 2013 ist eine wesentliche Änderung eingetreten, die zu einer Höherbewertung des GdB führt. Dies ergibt sich bereits aus den versorgungsärztlichen Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren. Nachdem Z zusätzlich eine somatoforme Schmerzstörung angenommen wie S1 zum einen weiter eine psychovegetative Störung und zum anderen einen Teil-GdB von 20 für das Angioödem gesehen hat, überzeugt es nicht, wenn davon ausgegangen worden ist, dass sich die Gesamtbeeinträchtigung nicht erhöht haben soll, insbesondere nachdem unterschiedliche Funktionssysteme betroffen sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist der erkennende Senats in Auswertung der medizinischen Unterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesamt-GdB ab dem Zeitpunkt des Verschlechterungsantrages 60 beträgt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Die vorwiegenden Funktionseinschränkungen des Klägers bestehen nunmehr im Funktionssystem „Haut“, welches mit einem Teil-GdB von 50 zu bewerten ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 ist eine chronische rezidivierende Urtikaria/Quincke-Ödem selten, bis zu zweimal im Jahr auftretend, mit leicht vermeidbaren Noxen oder Allergenen mit einem GdB von 0 bis 10, bei häufiger auftretenden Schüben bei schwer vermeidbaren Noxen oder Allergenen mit einem GdB von 20 bis 30 sowie bei einem schweren chronischen, sich über Jahre hinzuziehenden Verlauf mit einem GdB von 40 bis 50 zu bewerten. Eine systemische Beteiligung z. B. des Gastrointestinaltraktes oder des Kreislaufs ist ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Bei dem Kläger ist im Juni 2018 ein Angioödem, ein dem Quincke-Ödem vergleichbares Krankheitsbild, diagnostisch gesichert worden, welches durch Schwellungen der Lippen und der Zunge klinisch manifest wird, wobei die Schwellung der Zunge mit akuter Atemnot, die potentiell lebensbedrohlich ist, einhergehen kann, wie B erläuternd dargelegt hat. Die Zungenschwellungen treten im Durchschnitt zweimal monatlich auf, wie der Senat der sachverständigen Zeugenauskunft des L entnimmt und was durch den Sachverständigen B, der von circa 20 Anfällen pro Jahr ausgeht, in etwa dem gleichen Umfang erhoben worden ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Zu den Haut- bzw. Lippenschwellungen hat der Sachverständige ausgeführt, dass diese im Ausmaß von milden bis monströser und entstellender Ausprägung bestehen, im Durchschnitt zwei Tage anhalten und mit einem schmerzhaften Spannungsgefühl einhergehen. Der Kläger hat dies im Übrigen bereits durch Fotos im erstinstanzlichen Verfahren belegt. Nachdem vorwiegend die Lippen betroffen sind und die Schwellungen damit deutlich äußerlich sichtbar in Erscheinung treten, ist für den Senat nachvollziehbar, wenn der Sachverständige eine entstellende Wirkung der Schwellungen sieht und daraus Einschränkungen an der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ableitet. Dies korrespondiert mit der Rechtsprechung des BSG, wonach für eine Entstellung nicht jede körperliche Abnormität genügt, sondern es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln muss, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier und Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und zu vereinsamen droht, sodass letztlich die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Dabei kommt es nicht auf die subjektive oder persönliche Einschätzung an, sondern es ist ein objektiver Maßstab anzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R – juris, Rz. 16). Damit einhergehend hat der Kläger einen sozialen Rückzug beschrieben, da die Schwellungen unvermittelt auftreten können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Daneben ist vom Kläger schlüssig beschrieben worden, dass ihn Schwellungen der Lippen insbesondere beim Essen und Trinken beeinträchtigen, was erst Recht bei Schwellungen der Zunge nachvollziehbar ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Nachdem der GdB das Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens ist (vgl. VG, Teil A, Nr. 2a), überzeugt es nicht, wenn versorgungsärztlich allein aus der Nichtinanspruchnahme stationärer Krankenhausbehandlung darauf geschlossen wird, dass kein schwerer chronischer Verlauf der Erkrankung vorliege. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass der Kläger notfallmäßig einmal stationär und dreimal ambulant im Krankenhaus behandelt wurde, wie der Sachverständige B dargelegt hat. Daneben besteht die bisherige medikamentöse Behandlung in subkutanen Injektionen von Icatibant, einem Bradykinin-Rezeptorblocker, oder mit intravenösen Kortison-Infusionen. Außerdem hat der Kläger mit einer Zungenschwellung viermal vor dem Krankenhaus gewartet ohne es zu betreten, da es zu einer Rückbildung der Zungenschwellung kam.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Vor diesem Hintergrund rechtfertigt der stark progrediente Verlauf aus Sicht des Senats, von einem schweren chronischen Ausmaß der Erkrankung auszugehen. Dieser ist aufgrund der entstellenden Wirkung der Lippenschwellungen einerseits und der lebensbedrohlichen Zungenschwellungen andererseits am oberen Ende des Bewertungsrahmens einzuschätzen. Dabei sind die Zungenschwellungen bei der Begründung der Schwere des Verlaufs bereits berücksichtigt und nicht als systemische Auswirkungen noch zusätzlich zu bewerten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Zu keiner anderen Beurteilung gelangt der Senat indessen, wenn den versorgungsärztlichen Ausführungen des H gefolgt wird. Dieser hat sich dem Ansatz des B angeschlossen, dass die Lippen- und Zungenschwellungen getrennt zu bewerten sind, sieht aber lediglich häufiger auftretende Schübe im Sinne der VG, Teil B, Nr. 17.2. Im Hinblick auf das beschriebene Ausmaß der Lippenschwellungen muss indessen auch bei dieser Sichtweise eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens erfolgen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Daneben schätzt H die Zungenschwellungen analog zum Bronchialasthma ein. Nach den VG, Teil B, Nr. 8.5 führt ein Bronchialasthma ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion bei einer Hyperreagibilität mit seltenen (saisonalen) und/oder leichten Anfällen zu einem GdB von 0 bis 20, eine Hyperreagibilität mit häufigen (mehrmals pro Monat auftretenden) und/oder schweren Anfällen zu einem GdB von 30 bis 40 und eine Hyperreagibilität mit Serien schwerer Anfälle zu einem Gdb von 50. Eine dauernde Einschränkung der Lungenfunktion ist zusätzlich zu berücksichtigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Ausgehend von der beschriebenen Häufigkeit und dem Ausmaß der auftretenden Zungenschwellungen (vgl. oben) lässt sich eine Einordnung als bloße „seltene/saisonale“ Anfälle nicht begründen, vielmehr muss von einem mehrmals monatlichen Auftreten ausgegangen werden. Schwere Anfälle werden dabei von den VG nicht vorausgesetzt, sondern diese werden alternativ (und/oder) genannt. Dementsprechend wäre der Bewertungsrahmen von 30 bis 40 eröffnet, was es rechtfertigt, den Teil-GdB von 30 im Funktionssystem „Haut“ aufgrund des Vergleichs der Zungenschwellungen mit dem Funktionssystem „Atmung“ ebenfalls auf 50 zu erhöhen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Jedenfalls wäre aber, dem Ansatz von B folgend, nach den Vorgaben der VG, Teil B, Nr. 17.2 eine Erhöhung wegen der systemischen Beteiligung anzunehmen, was den Teil-GdB von 50 ebenfalls rechtfertigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist ein Teil-GdB von 20 begründet, ein solcher von 30 wird entgegen der vorangegangenen versorgungsärztlichen Einschätzung nicht mehr erreicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Krankenversicherung) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Dezember – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Nach diesen Maßstäben ist ergibt sich aus der Aktenlage, dass L zunächst eine mit Ängsten verbundene depressive Symptomatik beschrieben hat, die zu erheblichen Schlafstörungen, Atemproblemen und Unruhe, vor allem im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit führte. Während der stationären Rehabilitation im März 2018 konnte die depressive Symptomatik indessen therapeutisch deutlich gebessert werden und das chronische Schmerzsyndrom wird als remittiert beschrieben. Die Entlassung erfolgte in schwingungsfähigem und emotional ausgeglichen Zustand, was für eine Besserung des Gesundheitszustandes spricht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Dies ändert aber nichts daran, dass L für den Senat überzeugend dargelegt hat, dass die rezidivierenden Depressionen sich durch die im Zusammenhang mit dem Angioödem, welches B erstmals anlässlich der ambulanten Untersuchung am 19. Juni 2018 und damit zeitlich nach der Rehabilitation diagnostiziert hat, zusätzlich aufgetretenen Angstzustände vor Atemnot wieder verstärkt haben. Weiterhin hat er einen Tinnitus beschrieben, der vor allem in depressiven Phasen eine quälende Qualität hat, mit immer wieder auftretenden Stimmungsschwankungen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen wie aggressiven Durchbrüchen mit selbstverletzenden Aktionen, die in labilen Phasen nur schwer zu kontrollieren sind. Daneben hat Z versorgungsärztlich zuvor bereits eine chronische Schmerzstörung ausgehend von der Wirbelsäule gesehen, die von dem K ebenfalls beschrieben worden ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Auch wenn durch die Pensionierung die berufliche Belastung des Klägers weggefallen ist und derzeit keine medikamentöse Therapie erfolgt, ist immer noch eine leichtere psychische Störung objektiviert, die an der oberen Grenze des Bewertungsrahmens mit 20 zu bewerten ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Im Funktionssystem „Rumpf“ lässt sich ein Teil-GdB hingegen nicht begründen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung und Minderbelastbarkeit) sowie die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu werten (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 j). Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der Wirbelsäule (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen. Bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz-dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Teil-GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 vorgesehen. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen - oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose - sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>Nach diesen Maßstäben sind wenigstens mittelgradige Funktionseinschränkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt nicht objektiviert, sondern lediglich geringe, wie H versorgungsärztlich letztlich dargelegt hat. Soweit K1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft auf ein chronisches Schmerzsyndrom hinweist, ist dies bei der Bewertung im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bereits berücksichtigt worden. Dabei kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Klinik J 2018 bei seinerzeit bereits beklagten erheblichen Schmerzen im Bereich des Rückens einen Finger-Boden-Abstand von 0 cm sowie eine freie Beweglichkeit der HWS und der Rumpfrotation schon im Aufnahmebefund beschrieben hat, mithin keine Bewegungseinschränkung objektivieren konnte. Eine solche beschreibt K1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft ebenfalls nicht hinreichend. Soweit er die HWS-Rotation als auf 55-0-50° limitiert angibt, folgen hieraus noch keine mittelgradigen Funktionseinschränkungen. Neurologische Ausfallerscheinungen hat der Orthopäde nämlich gerade verneint, auch wenn die radiologische Aufnahmen Einengungen der Neuroforamia an der HWS gezeigt haben. An der LWS ist radiologisch hingegen eine hinreichende Weite der Spinalkanäle beschrieben worden, Bandscheibenvorfälle wurden jeweils ausgeschlossen. Die vom Kläger angegebene Schmerzsymptomatik allein begründet einen Teil-GdB, entgegen der Auffassung des K1, nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Ebenso lassen sich dessen Ausführungen keine Anhaltspunkte für einen Teil-GdB im Funktionssystem „Arme“ entnehmen. Eine nach den VG, Teil B, Nr. 18.13 mit einem Teil-GdB von wenigstens 10 zu bewertende nur bis 120° mögliche Armhebung mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit der Schulter ist von ihm in keiner Weise beschrieben worden, vielmehr ist eine solche bis 150° dokumentiert. Aus Schmerzangaben allein lässt sich auch hier kein Teil-GdB begründen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Aus den Teil-GdB von 50 im Funktionssystem „Haut“ und 20 im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist ein Gesamt-GdB von 60 zu bilden, nachdem die Einschränkungen im Funktionssystem „Haut“ die Einschränkungen im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ eher verstärken, wie L dargelegt haben, jedenfalls aber, entgegen der Darlegungen des H, keine Überschneidungen gegeben sind. Es handelt sich auch nicht lediglich um leichtere Störungen, die eine Erhöhung des Gesamt-GdB nicht rechtfertigen (vgl. VG, Teil A, Nr. 3 d ee).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>Auf die Berufung des Klägers war daher das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe abzuändern und der Beklagte zur Feststellung eines Gdb von 60 seit dem 4. April 2019 zu verpflichten. Einer Zurückweisung der Berufung im Übrigen bedurfte es nicht, da der Kläger im Berufungsverfahren nur noch einen GdB von 60 beantragt und mit diesem Begehren obsiegt hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 13. April 2021, soweit damit die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB unter Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 18. Dezember 2019 sowie – sinngemäß – unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 2013 abgewiesen worden ist. Nachdem der Beklagte ein Anerkenntnis auf Feststellung eines GdB von 50 abgegeben hat, das vom Kläger nicht angenommen wurde, steht bindend fest, dass der GdB mit mindestens 50 festzustellen ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Die Begründetheit der Berufung folgt aus der weiteren Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 ist in weiterem Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG), als es das SG bereits angenommen hat. Er kann nach Überzeugung des Senats – über das Anerkenntnis des Beklagten hinaus – die höhere Neufeststellung des GdB mit 60 beanspruchen, wie ihn auch der nach § 109 SGG gehörte Sachverständige gesehen hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn diese einen um wenigstens 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, wie schon durch die rechtskräftige (vgl. oben) Verpflichtung zur Feststellung eines höheren GdB durch das SG sowie das (Teil-)Anerkenntnis des Beklagten feststeht. Gegenüber dem maßgebenden Vergleichsbescheid vom 2. Dezember 2013 ist eine wesentliche Änderung eingetreten, die zu einer Höherbewertung des GdB führt. Dies ergibt sich bereits aus den versorgungsärztlichen Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren. Nachdem Z zusätzlich eine somatoforme Schmerzstörung angenommen wie S1 zum einen weiter eine psychovegetative Störung und zum anderen einen Teil-GdB von 20 für das Angioödem gesehen hat, überzeugt es nicht, wenn davon ausgegangen worden ist, dass sich die Gesamtbeeinträchtigung nicht erhöht haben soll, insbesondere nachdem unterschiedliche Funktionssysteme betroffen sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist der erkennende Senats in Auswertung der medizinischen Unterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesamt-GdB ab dem Zeitpunkt des Verschlechterungsantrages 60 beträgt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Die vorwiegenden Funktionseinschränkungen des Klägers bestehen nunmehr im Funktionssystem „Haut“, welches mit einem Teil-GdB von 50 zu bewerten ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 ist eine chronische rezidivierende Urtikaria/Quincke-Ödem selten, bis zu zweimal im Jahr auftretend, mit leicht vermeidbaren Noxen oder Allergenen mit einem GdB von 0 bis 10, bei häufiger auftretenden Schüben bei schwer vermeidbaren Noxen oder Allergenen mit einem GdB von 20 bis 30 sowie bei einem schweren chronischen, sich über Jahre hinzuziehenden Verlauf mit einem GdB von 40 bis 50 zu bewerten. Eine systemische Beteiligung z. B. des Gastrointestinaltraktes oder des Kreislaufs ist ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Bei dem Kläger ist im Juni 2018 ein Angioödem, ein dem Quincke-Ödem vergleichbares Krankheitsbild, diagnostisch gesichert worden, welches durch Schwellungen der Lippen und der Zunge klinisch manifest wird, wobei die Schwellung der Zunge mit akuter Atemnot, die potentiell lebensbedrohlich ist, einhergehen kann, wie B erläuternd dargelegt hat. Die Zungenschwellungen treten im Durchschnitt zweimal monatlich auf, wie der Senat der sachverständigen Zeugenauskunft des L entnimmt und was durch den Sachverständigen B, der von circa 20 Anfällen pro Jahr ausgeht, in etwa dem gleichen Umfang erhoben worden ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Zu den Haut- bzw. Lippenschwellungen hat der Sachverständige ausgeführt, dass diese im Ausmaß von milden bis monströser und entstellender Ausprägung bestehen, im Durchschnitt zwei Tage anhalten und mit einem schmerzhaften Spannungsgefühl einhergehen. Der Kläger hat dies im Übrigen bereits durch Fotos im erstinstanzlichen Verfahren belegt. Nachdem vorwiegend die Lippen betroffen sind und die Schwellungen damit deutlich äußerlich sichtbar in Erscheinung treten, ist für den Senat nachvollziehbar, wenn der Sachverständige eine entstellende Wirkung der Schwellungen sieht und daraus Einschränkungen an der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ableitet. Dies korrespondiert mit der Rechtsprechung des BSG, wonach für eine Entstellung nicht jede körperliche Abnormität genügt, sondern es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln muss, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier und Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und zu vereinsamen droht, sodass letztlich die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Dabei kommt es nicht auf die subjektive oder persönliche Einschätzung an, sondern es ist ein objektiver Maßstab anzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R – juris, Rz. 16). Damit einhergehend hat der Kläger einen sozialen Rückzug beschrieben, da die Schwellungen unvermittelt auftreten können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Daneben ist vom Kläger schlüssig beschrieben worden, dass ihn Schwellungen der Lippen insbesondere beim Essen und Trinken beeinträchtigen, was erst Recht bei Schwellungen der Zunge nachvollziehbar ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Nachdem der GdB das Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens ist (vgl. VG, Teil A, Nr. 2a), überzeugt es nicht, wenn versorgungsärztlich allein aus der Nichtinanspruchnahme stationärer Krankenhausbehandlung darauf geschlossen wird, dass kein schwerer chronischer Verlauf der Erkrankung vorliege. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass der Kläger notfallmäßig einmal stationär und dreimal ambulant im Krankenhaus behandelt wurde, wie der Sachverständige B dargelegt hat. Daneben besteht die bisherige medikamentöse Behandlung in subkutanen Injektionen von Icatibant, einem Bradykinin-Rezeptorblocker, oder mit intravenösen Kortison-Infusionen. Außerdem hat der Kläger mit einer Zungenschwellung viermal vor dem Krankenhaus gewartet ohne es zu betreten, da es zu einer Rückbildung der Zungenschwellung kam.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Vor diesem Hintergrund rechtfertigt der stark progrediente Verlauf aus Sicht des Senats, von einem schweren chronischen Ausmaß der Erkrankung auszugehen. Dieser ist aufgrund der entstellenden Wirkung der Lippenschwellungen einerseits und der lebensbedrohlichen Zungenschwellungen andererseits am oberen Ende des Bewertungsrahmens einzuschätzen. Dabei sind die Zungenschwellungen bei der Begründung der Schwere des Verlaufs bereits berücksichtigt und nicht als systemische Auswirkungen noch zusätzlich zu bewerten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Zu keiner anderen Beurteilung gelangt der Senat indessen, wenn den versorgungsärztlichen Ausführungen des H gefolgt wird. Dieser hat sich dem Ansatz des B angeschlossen, dass die Lippen- und Zungenschwellungen getrennt zu bewerten sind, sieht aber lediglich häufiger auftretende Schübe im Sinne der VG, Teil B, Nr. 17.2. Im Hinblick auf das beschriebene Ausmaß der Lippenschwellungen muss indessen auch bei dieser Sichtweise eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens erfolgen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Daneben schätzt H die Zungenschwellungen analog zum Bronchialasthma ein. Nach den VG, Teil B, Nr. 8.5 führt ein Bronchialasthma ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion bei einer Hyperreagibilität mit seltenen (saisonalen) und/oder leichten Anfällen zu einem GdB von 0 bis 20, eine Hyperreagibilität mit häufigen (mehrmals pro Monat auftretenden) und/oder schweren Anfällen zu einem GdB von 30 bis 40 und eine Hyperreagibilität mit Serien schwerer Anfälle zu einem Gdb von 50. Eine dauernde Einschränkung der Lungenfunktion ist zusätzlich zu berücksichtigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Ausgehend von der beschriebenen Häufigkeit und dem Ausmaß der auftretenden Zungenschwellungen (vgl. oben) lässt sich eine Einordnung als bloße „seltene/saisonale“ Anfälle nicht begründen, vielmehr muss von einem mehrmals monatlichen Auftreten ausgegangen werden. Schwere Anfälle werden dabei von den VG nicht vorausgesetzt, sondern diese werden alternativ (und/oder) genannt. Dementsprechend wäre der Bewertungsrahmen von 30 bis 40 eröffnet, was es rechtfertigt, den Teil-GdB von 30 im Funktionssystem „Haut“ aufgrund des Vergleichs der Zungenschwellungen mit dem Funktionssystem „Atmung“ ebenfalls auf 50 zu erhöhen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Jedenfalls wäre aber, dem Ansatz von B folgend, nach den Vorgaben der VG, Teil B, Nr. 17.2 eine Erhöhung wegen der systemischen Beteiligung anzunehmen, was den Teil-GdB von 50 ebenfalls rechtfertigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist ein Teil-GdB von 20 begründet, ein solcher von 30 wird entgegen der vorangegangenen versorgungsärztlichen Einschätzung nicht mehr erreicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Krankenversicherung) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Dezember – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Nach diesen Maßstäben ist ergibt sich aus der Aktenlage, dass L zunächst eine mit Ängsten verbundene depressive Symptomatik beschrieben hat, die zu erheblichen Schlafstörungen, Atemproblemen und Unruhe, vor allem im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit führte. Während der stationären Rehabilitation im März 2018 konnte die depressive Symptomatik indessen therapeutisch deutlich gebessert werden und das chronische Schmerzsyndrom wird als remittiert beschrieben. Die Entlassung erfolgte in schwingungsfähigem und emotional ausgeglichen Zustand, was für eine Besserung des Gesundheitszustandes spricht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Dies ändert aber nichts daran, dass L für den Senat überzeugend dargelegt hat, dass die rezidivierenden Depressionen sich durch die im Zusammenhang mit dem Angioödem, welches B erstmals anlässlich der ambulanten Untersuchung am 19. Juni 2018 und damit zeitlich nach der Rehabilitation diagnostiziert hat, zusätzlich aufgetretenen Angstzustände vor Atemnot wieder verstärkt haben. Weiterhin hat er einen Tinnitus beschrieben, der vor allem in depressiven Phasen eine quälende Qualität hat, mit immer wieder auftretenden Stimmungsschwankungen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen wie aggressiven Durchbrüchen mit selbstverletzenden Aktionen, die in labilen Phasen nur schwer zu kontrollieren sind. Daneben hat Z versorgungsärztlich zuvor bereits eine chronische Schmerzstörung ausgehend von der Wirbelsäule gesehen, die von dem K ebenfalls beschrieben worden ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Auch wenn durch die Pensionierung die berufliche Belastung des Klägers weggefallen ist und derzeit keine medikamentöse Therapie erfolgt, ist immer noch eine leichtere psychische Störung objektiviert, die an der oberen Grenze des Bewertungsrahmens mit 20 zu bewerten ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Im Funktionssystem „Rumpf“ lässt sich ein Teil-GdB hingegen nicht begründen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung und Minderbelastbarkeit) sowie die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu werten (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 j). Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der Wirbelsäule (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen. Bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz-dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Teil-GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 vorgesehen. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen - oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose - sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>Nach diesen Maßstäben sind wenigstens mittelgradige Funktionseinschränkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt nicht objektiviert, sondern lediglich geringe, wie H versorgungsärztlich letztlich dargelegt hat. Soweit K1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft auf ein chronisches Schmerzsyndrom hinweist, ist dies bei der Bewertung im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bereits berücksichtigt worden. Dabei kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Klinik J 2018 bei seinerzeit bereits beklagten erheblichen Schmerzen im Bereich des Rückens einen Finger-Boden-Abstand von 0 cm sowie eine freie Beweglichkeit der HWS und der Rumpfrotation schon im Aufnahmebefund beschrieben hat, mithin keine Bewegungseinschränkung objektivieren konnte. Eine solche beschreibt K1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft ebenfalls nicht hinreichend. Soweit er die HWS-Rotation als auf 55-0-50° limitiert angibt, folgen hieraus noch keine mittelgradigen Funktionseinschränkungen. Neurologische Ausfallerscheinungen hat der Orthopäde nämlich gerade verneint, auch wenn die radiologische Aufnahmen Einengungen der Neuroforamia an der HWS gezeigt haben. An der LWS ist radiologisch hingegen eine hinreichende Weite der Spinalkanäle beschrieben worden, Bandscheibenvorfälle wurden jeweils ausgeschlossen. Die vom Kläger angegebene Schmerzsymptomatik allein begründet einen Teil-GdB, entgegen der Auffassung des K1, nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Ebenso lassen sich dessen Ausführungen keine Anhaltspunkte für einen Teil-GdB im Funktionssystem „Arme“ entnehmen. Eine nach den VG, Teil B, Nr. 18.13 mit einem Teil-GdB von wenigstens 10 zu bewertende nur bis 120° mögliche Armhebung mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit der Schulter ist von ihm in keiner Weise beschrieben worden, vielmehr ist eine solche bis 150° dokumentiert. Aus Schmerzangaben allein lässt sich auch hier kein Teil-GdB begründen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Aus den Teil-GdB von 50 im Funktionssystem „Haut“ und 20 im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist ein Gesamt-GdB von 60 zu bilden, nachdem die Einschränkungen im Funktionssystem „Haut“ die Einschränkungen im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ eher verstärken, wie L dargelegt haben, jedenfalls aber, entgegen der Darlegungen des H, keine Überschneidungen gegeben sind. Es handelt sich auch nicht lediglich um leichtere Störungen, die eine Erhöhung des Gesamt-GdB nicht rechtfertigen (vgl. VG, Teil A, Nr. 3 d ee).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>Auf die Berufung des Klägers war daher das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe abzuändern und der Beklagte zur Feststellung eines Gdb von 60 seit dem 4. April 2019 zu verpflichten. Einer Zurückweisung der Berufung im Übrigen bedurfte es nicht, da der Kläger im Berufungsverfahren nur noch einen GdB von 60 beantragt und mit diesem Begehren obsiegt hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,181 | ovgnrw-2022-07-21-6-a-209220 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 A 2092/20 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-13T10:02:00 | 2022-10-17T17:55:57 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.6A2092.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das angefochtene Urteil wird geändert.</p>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht das beklagte Land vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger steht als Polizeikommissar im Dienst des beklagten Landes.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 1.12.2016 wurde der Kläger bei Ausübung seines Dienstes durch den am 12.12.2018 verstorbenen Herrn P. T. verletzt. Dieser trat den Kläger und schlug mehrfach mit den Fäusten gegen dessen Kopf. Der Kläger erlitt eine Schädelprellung mit zwei Prellmarken und Schwellungen sowie eine Knieprellung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 24.1.2017 forderte der Kläger von Herrn T. die Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 400,00 Euro. Mangels Reaktion des Herrn T. beantragte der Kläger beim Amtsgericht Hagen (Az.: 17-1819783-0-2) den Erlass eines Mahnbescheids, der unter dem 3.3.2017 erging. Am 30.3.2017 erließ das Amtsgericht Hagen einen am 5.5.2017 zugestellten Vollstreckungsbescheid über eine Gesamtsumme von 613,26 Euro (400,00 Euro Schmerzensgeld, 83,54 Euro vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten, 128,39 Euro Verfahrenskosten und 1,33 Euro Zinsen). In der Folgezeit führte der Kläger einen Vollstreckungsversuch durch, der erfolglos blieb.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 20.6.2018, ergänzt durch ein Schreiben vom 18.2.2019, beantragte der Kläger beim beklagten Land die Übernahme des Schmerzensgeldes durch den Dienstherrn. Der Antrag war auf die Übernahme eines Gesamtbetrags in Höhe von 660,76 Euro gerichtet, der die Verzugszinsen bis zum 18.2.2019 umfasste.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Zum 1.9.2018 wurde der Kläger vom Polizeipräsidium E. zum Polizeipräsidium N. versetzt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 2.5.2019 übersandte das Polizeipräsidium E. dem Landesamt für Zentrale polizeiliche Dienste Nordrhein-Westfalen (LZPD) die vom Kläger vorgelegten Dokumente zwecks Entscheidung über den Antrag auf Zahlung des Schmerzensgeldes durch den Dienstherrn und fügte eine (eigene) Stellungnahme zur Genehmigungsfähigkeit und die Anregung bei, dem Antrag stattzugeben.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das LZPD teilte dem Polizeipräsidium E. mit Schreiben vom 7.6.2019 mit, dass der Antrag auf Übernahme des Schmerzensgeldanspruchs nach § 82a LBG NRW abgelehnt werde, weil der Anspruch nur durch einen Vollstreckungsbescheid tituliert sei. Ein solcher erfülle nicht die Voraussetzungen des § 82a LBG NRW. Ein Vollstreckungsbescheid könne weder einem in der Norm genannten Endurteil noch einem Vergleich gleichgestellt werden. Ein Vollstreckungsbescheid ergehe in einem automatisierten Verfahren ohne richterliche Prüfung des Anspruchs der Höhe und dem Grunde nach. Aufgrund der fehlenden richterlichen Prüfung sei dieses Verfahren für Manipulationen und/oder die Titulierung unangemessen hoher Schmerzensgeldbeträge anfällig. Zudem blieben anders als bei einem Vergleich eventuelle Einwendungen der schädigenden Person mangels Beteiligung am Verfahren unberücksichtigt. Gemäß Erlass des Ministeriums des Innern des Landes NRW vom 3.6.2019 (403-42.01.19) seien Anträge, wenn der Schmerzensgeldanspruch durch einen Vollstreckungsbescheid tituliert werde, aus diesen Gründen abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 13.6.2019 - dem Kläger als Anlage zum Schreiben vom 11.9.2019 übersandt und am 22.9.2019 zugegangen - lehnte das Polizeipräsidium E. den Antrag des Klägers aufgrund der negativen Entscheidung des LZPD ab und wiederholte zur Begründung dessen Ausführungen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 22.10.2019 Klage zum Verwaltungsgericht E. erhoben, welches das Verfahren mit Beschluss vom 12.11.2019 - 23 K 7653/19 - an das Verwaltungsgericht N. verwiesen hat. Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen, er habe einen Anspruch auf Übernahme der titulierten Schmerzensgeldforderung durch das beklagte Land, weil ein rechtskräftiger Vollstreckungsbescheid von dem in § 82a LBG NRW genannten rechtskräftigen Endurteil umfasst sei. Denn der Vollstreckungsbescheid stehe einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Versäumnisurteil gleich. Ein Versäumnisurteil wiederum sei ein Endurteil. Der vom beklagten Land angeführten Gefahr des Missbrauchs bei einem im Mahnverfahren erwirkten Titel könne durch die Ermessensvorschrift des § 82a LBG NRW begegnet werden. Nach § 82a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW stehe zudem ein vollstreckbarer Vergleich über die Zahlung eines Schmerzensgeldes einem Endurteil gleich, wenn er angemessen sei. Liege also ein vollstreckbarer Vergleich vor, auf dessen Grundlage ein Beamter eine Entschädigung nach § 82a Abs. 1 LBG NRW beantrage, habe der Dienstherr gleichfalls zu prüfen, ob das vereinbarte Schmerzensgeld der Höhe nach angemessen sei. Auch vor diesem Hintergrund sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund ein Vollstreckungsbescheid per se von § 82a LBG NRW nicht umfasst sein solle. In seinem Fall handele es sich in Ansehung der erlittenen Verletzungen erkennbar nicht um einen übersetzten Vollstreckungsbescheid. Die Geltendmachung eines Schmerzensgeldanspruchs in einem Mahnverfahren sei zudem die kostengünstigste Variante, einen entsprechenden Titel zu erwirken. Nur für die Kosten der günstigsten Rechtsverfolgung stehe auch der Dienstherr ein (vgl. Runderlass des Innenministeriums - 24-1.42-2/08 - und des Finanzministeriums - IV-B 1110-85.4-IV A 2 - vom 7.7.2008), sodass es unschlüssig sei, den in diesem Verfahren erwirkten Titel von § 82a LBG NRW auszuschließen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheids des Polizeipräsidiums E. vom 13.6.2019 zu verpflichten, in Bezug auf die Übernahme des Schmerzensgeldes aus dem Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts I. gegen P. T. eine neue Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu treffen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat es ausgeführt, ein Vollstreckungsbescheid könne einem in § 82a LBG NRW unter anderem vorausgesetzten Endurteil nicht gleichgestellt werden. Schon dem Wesen des Mahnverfahrens nach handele es sich hierbei um ein automatisiertes gerichtliches Verfahren, in dem ohne richterliche Überprüfung der Höhe und dem Grunde nach eine große Menge an vermeintlichen Ansprüchen abgearbeitet werde. Dabei diene das automatisierte Verfahren der Vereinfachung. So sei es ein Leichtes, auf Grundlage eines Mahnbescheides ohne Widerspruch und Einspruch einen Vollstreckungsbescheid und damit einen Titel zu erwirken. Gerade diese fehlende richterliche Überprüfung unterscheide den Vollstreckungsbescheid von einem Endurteil. Ein Vollstreckungsbescheid sei auch nicht mit einem gerichtlichen Vergleich vergleichbar. Ein Vergleich solle die Parteien durch gegenseitiges Nachgeben zu einer für beide Parteien zufriedenstellenden Lösung des Rechtsstreits bewegen. So liege es beim automatisierten Mahnverfahren nicht. Der Kläger lasse zudem bei seiner Argumentation, es handele sich bei dem Mahnverfahren um das kostengünstigste und damit nach der Erlasslage anzustrebende Verfahren, sodass dieses nicht aus dem Anwendungsbereich des § 82a LBG NRW ausgeschlossen werden dürfe, die Möglichkeit der Einleitung eines Adhäsionsverfahrens außer Acht. Auf diese Weise könne er seine Ansprüche auf Schmerzensgeld völlig kostenfrei geltend machen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Durch Urteil vom 15.6.2020 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid vom 13.6.2019 aufgehoben und das beklagte Land verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Antrag des Klägers vom 20.6.2018 auf Übernahme des Schmerzensgeldes in Höhe von 400,00 Euro zu entscheiden. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage sei als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO zulässig. Vor Erhebung der Klage habe es nach § 68 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 VwGO i. V. m. § 103 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW auch nicht der Durchführung eines Vorverfahrens bedurft. Die Klage sei ferner begründet. Der Kläger könne sein Begehren auf § 82a Abs. 1 LBG NRW stützen. § 82a LBG NRW sei anwendbar, auch wenn das den Schmerzensgeldanspruch begründende schädigende Ereignis bereits am 1.12.2016 stattgefunden habe und die Norm erst mit Wirkung vom 22.4.2017 in Kraft getreten sei. Denn die anspruchsbegründenden Voraussetzungen seien erst nach Inkrafttreten der Norm am 5.5.2017 durch den Erlass des rechtskräftigen Vollstreckungsbescheides entstanden. Es seien auch die Anspruchsvoraussetzungen der Norm erfüllt. Insbesondere sei der vom Kläger gegen den Schädiger erwirkte Vollstreckungsbescheid einem in § 82a Abs. 1 LBG NRW genannten Endurteil gleichzustellen. Dies ergebe sich aufgrund einer an gesetzlicher Systematik, Gesetzeshistorie sowie Sinn und Zweck der Norm orientierten Auslegung. Der auf der Grundlage eines Mahnbescheids ergangene (rechtskräftige) Vollstreckungsbescheid sei ebenso wie das (rechtskräftige) Endurteil eine instanzabschließende Endentscheidung eines Gerichts und der formellen sowie materiellen Rechtskraft fähig. Darüber hinaus sei der Vollstreckungsbescheid ein Vollstreckungstitel, der dem Versäumnisurteil gleichgestellt werde (§ 700 Abs. 1 ZPO). Das Versäumnisurteil wiederum sei ein nach § 331 ZPO der Rechtskraft fähiges Endurteil. Die Gleichstellung von Endurteil und Vollstreckungsbescheid im Rahmen des § 82a Abs. 1 LBG NRW entspreche auch der Gesetzeshistorie sowie dem Sinn und Zweck des § 82a LBG NRW. Die Norm sei Ausdruck der Fürsorgepflicht des Dienstherrn und diene der Entlastung des Beamten. Dem entspreche es, dem Beamten das kostengünstige Mahnverfahren zwecks Titelerlangung zu eröffnen und ihn nicht auf das kosten- und zeitintensivere Prozessverfahren zu verweisen, zumal er in einem solchen Fall den Verlust der Unterstützung seines Dienstherrn bei der Gewährung von Rechtsschutz in Zivilsachen riskieren würde. Abweichendes ergebe sich nicht aus dem Einwand des beklagten Landes, dass es beim Erlass eines Vollstreckungsbescheids an der Prüfung der Berechtigung des geltend gemachten Anspruchs durch das Gericht fehle. Denn auch im zivilgerichtlichen Verfahren, das zum Erlass eines Endurteils führe, werde gerichtlich gegebenenfalls lediglich die Schlüssigkeit des Klagevorbringens geprüft. In Anbetracht des im Zivilprozess geltenden Verhandlungs- bzw. Beibringungsgrundsatzes sei überdies selbst die Schlüssigkeitsprüfung als Schutzmechanismus zugunsten des Dienstherrn vor einem kollusiven Zusammenwirken zwischen dem Beamten und dem Dritten nicht geeignet. Schließlich liege auch dem vollstreckbaren Vergleich, der nach dem Willen des Gesetzgebers den Anspruch nach § 82a LBG NRW begründen könne, keine gerichtliche Sachprüfung zugrunde. Hinsichtlich titulierter, aber überzogener Schmerzensgeldansprüche oder solcher, denen kollusives Zusammenwirken von Beamten und Schädiger zugrunde liege, stehe dem Dienstherrn im Rahmen seiner Ermessensentscheidung („soll“) auf der Grundlage des § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW eine Kontrollmöglichkeit zur Verfügung, mit der er einer etwaigen Missbrauchsgefahr begegnen könne.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls sei § 82a Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 LBG NRW analog anzuwenden. Würde der Vollstreckungsbescheid nicht unmittelbar von der Norm erfasst, läge eine planwidrige Regelungslücke vor. Anhaltspunkte dafür, dass der Landesgesetzgeber den rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid bewusst vom Anwendungsbereich des § 82a LBG NRW habe ausschließen wollen, bestünden nicht. Ebenso sei die Interessenlage vergleichbar. Es entspreche dem Fürsorgecharakter der Norm, sie auf den vorliegenden Sachverhalt zu erstrecken.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land hat am 27.7.2020 - einem Montag - gegen das ihm am 25.6.2020 zugestellte Urteil die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und diese am 21.8.2020 und 3.12.2020 begründet. Unter Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens führt es ergänzend im Wesentlichen aus: Der Wortlaut des § 82a LBG NRW sei eindeutig und erfasse entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nur ein gerichtliches Endurteil und keinen Vollstreckungsbescheid. Zudem handele es sich bei der Norm um eine Ausnahmevorschrift, weil diese eine vom Grundsatz, dass der Beamte sich an den Schädiger wenden müsse, abweichende Bestimmung treffe. Die Tatsache, dass der Vollstreckungsbescheid auch ein Vollstreckungstitel sei, der nach § 700 Abs. 1 ZPO einem Versäumnisurteil gleichgestellt werden könne, sorge noch nicht für die Gleichstellung des Vollstreckungsbescheids mit einem Endurteil. Erst die weitere Heranziehung des § 331 ZPO stelle klar, dass das Versäumnisurteil auch ein Endurteil sei. Diese Verweisungskette sei nicht geeignet, den eindeutigen Wortlaut des § 82a LBG NRW zu umgehen, der Grenze jeder Auslegung sei. Entscheidend gegen die Gleichsetzung spreche, dass der Gesetzgeber neben dem Endurteil gezielt eine weitere Konstellation in § 82a LBG NRW aufgenommen habe, die die Übernahmepflicht auslösen könne, nämlich den gerichtlichen Vergleich. Hätte der Gesetzgeber eine solche Einstandspflicht auch für den Fall des Vollstreckungsbescheides erreichen wollen, hätte er dies ebenso in § 82a LBG NRW regeln können. Eine analoge Anwendung des § 82a LBG NRW komme angesichts dieser (abschließenden) Aufzählung möglicher Titel in der Norm mangels planwidriger Regelungslücke ebenfalls nicht in Betracht. Unabhängig davon fehle es auch an einer unbilligen Härte im Sinne des § 82a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 LBG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Er wiederholt zur Begründung seine erstinstanzlichen Ausführungen und nimmt Bezug auf die Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts. Ergänzend trägt er vor: Eine Gleichstellung eines Vollstreckungsbescheids und eines Endurteils sei mit dem Wortlaut der Norm vereinbar. Einer gesonderten Aufzählung des Vollstreckungsbescheids in der Norm habe es nicht bedurft, weil jener bereits aufgrund dieser Gleichstellung erfasst sei. Anders verhalte es sich bei dem Vergleich, der einem Endurteil nicht gleichstehe, so dass es seiner Nennung in der Norm zur Einbeziehung bedurft habe. Unabhängig davon sei jedenfalls die vom Verwaltungsgericht hilfsweise angeführte Analogie zu bejahen. Es liege insbesondere keine enumerative (abschließende) Aufzählung der erfassten Vollstreckungstitel in § 82a LBG NRW vor, die einer analogen Anwendung entgegenstehe. Auch die Interessenlage der Beteiligten spreche dafür, dass der Gesetzgeber entweder davon ausgegangen sei, dass der Vollstreckungsbescheid ohnehin einem Endurteil gleichstehe und damit unter die Norm falle, oder er an die Möglichkeit der Erlangung eines Vollstreckungsbescheides nicht gedacht habe. Einer Missbrauchsgefahr könne durch die im Rahmen des Ermessens eröffnete Angemessenheitsprüfung der Höhe des Schmerzensgeldes begegnet werden. Dass eine solche Angemessenheitsprüfung nur für den vollstreckbaren Vergleich und nicht für Endurteile explizit geregelt sei, stehe dem nicht entgegen. Denn in Bezug auf ein Anerkenntnisurteil habe der Gesetzgeber eine solche Regelung ebenfalls nicht getroffen. Bei einem Anerkenntnisurteil könne die titulierte Schmerzensgeldsumme jedoch auch von der Einschätzung des Gerichts abweichen und gegebenenfalls eine Angemessenheitsprüfung des Dienstherrn im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens erfordern.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung des beklagten Landes ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig (I.), aber unbegründet (II).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">1. Sie ist als Verpflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO statthaft. Denn das Begehren des Klägers ist auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet. Zwar handelt es sich bei der Zahlung des Schmerzensgeldes durch den Dienstherrn um einen Realakt. Allerdings ist diesem nach dem Wortlaut in § 82a Abs. 2 und Abs. 3 Satz 4 LBG NRW „Die Entscheidung trifft...“ und „Der Dienstherr kann Leistungen... ablehnen...“ eine im (intendierten) Ermessen des Dienstherrn stehende Entscheidung über die Übernahme der Schmerzensgeldzahlung vorgeschaltet. Bei dieser - von dem Kläger begehrten - Entscheidung über die Übernahme der Schmerzensgeldzahlung handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, juris Rn. 16; VG N. , Urteil vom 15.6.2020 - 5 K 2861/19 -, juris Rn. 15; zur insoweit gleichlautenden bundesgesetzlichen Regelung in § 78a BBG: VG Karlsruhe, Urteil vom 13.7.2021 - 12 K 5170/20 -, DVBl 2022, 617 = juris Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">2. Es bedurfte vor Erhebung der Klage, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, auch nicht der Durchführung eines Vorverfahrens. Nach § 68 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 VwGO, § 54 Abs. 2 Sätze 1, 3 BeamtStG i .V. m. § 103 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW findet unter anderem für Klagen der Beamtinnen und Beamten</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">aus dem Beamtenverhältnis ein Widerspruchsverfahren nicht statt. Dies gilt nach § 103 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW nicht für Maßnahmen, denen die Bewertung einer Leistung im Rahmen einer berufsbezogenen Prüfung zugrunde liegt, sowie für Maßnahmen in besoldungs-, versorgungs-, beihilfe-, heilfürsorge-, reisekosten-, trennungsentschädigungs- und umzugskostenrechtlichen Angelegenheiten. Der Gesetzgeber hat die Maßnahmen in letzteren Angelegenheiten vom grundsätzlichen Ausschluss des Widerspruchsverfahrens ausgenommen, um einen schnellen und kostengünstigen Rechtsbehelf für diese Gegenstände der Massenverwaltung zu eröffnen, die mit einer gewissen systemimmanenten Fehleranfälligkeit verbunden sind.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 17; VG N. , Urteil vom 15.6.2020 - 5 K 2861/19 -, a. a. O. Rn. 16; Schrapper/Günther, LBG NRW, 3. Aufl. 2021, § 103 Rn. 2.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dem Bescheid vom 13.6.2019 liegt kein eine Ausnahme nach § 103 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW begründender Sachverhalt, insbesondere keine versorgungsrechtliche Angelegenheit, zugrunde. § 82a LBG NRW stellt nach der Gesetzesbegründung eine Ergänzung zu dem bereits im Rahmen der Unfallfürsorge bestehenden umfassenden Ausgleich für besonders gelagerte Fälle dar.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/13702, S. 122.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dies macht § 82a LBG NRW jedoch nicht selbst zu einer Regelung der Unfallfürsorge. Die Norm, die der Gesetzgeber in das Landesbeamtengesetz und nicht in das Landesbeamtenversorgungsgesetz eingefügt hat, stellt eine sonstige Leistung des Dienstherrn mit Fürsorgecharakter dar, die weder zur Besoldung noch zur Versorgung gehört, vgl. § 79 Abs. 1 und 2 LBG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schütz/Maiwald, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, 32. UPD Oktober 2021, § 82a LBG NRW, Rn. 13; LT-Drs. 16/13702, S. 122.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">§ 82a LBG NRW erfasst auch keine Sachverhalte, die Gegenstände der Massenverwaltung sind. Vielmehr ist die Norm schon ausweislich der Gesetzesbegründung als Sondertatbestand für Einzelfälle konzipiert, in denen Beamte in einem dienstlichen Zusammenhang einen Schaden erleiden, die Regelungen der Unfallfürsorge als Ausgleich für die eingetretenen materiellen und immateriellen Schäden nicht ausreichen und die Uneinbringlichkeit des Schmerzensgeldes wegen Vermögenslosigkeit des Schädigers zu einer unbilligen Härte führt.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/13702, S. 122; zum Vorstehenden insgesamt VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 - 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 17 ff.; VG N. , Urteil vom 15.6.2020 - 5 K 2861/19 -, a. a. O. Rn. 16 ff.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">3. Die Klagefrist des § 74 Abs. 2, 1 Satz 2 VwGO ist gewahrt, da der ablehnende Bescheid des beklagten Landes vom 13.6.2019 dem Kläger erst am 22.9.2019 zugegangen ist und er innerhalb eines Monats nach dieser Bekanntgabe am 22.10.2019 Klage erhoben hat.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">II. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung des beklagten Landes zur erneuten Entscheidung über seinen Antrag vom 20.6.2018 auf Übernahme des Schmerzensgeldes in Höhe von 400,00 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts ergibt sich ein solcher Anspruch des Klägers nicht aus der insoweit allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Nach § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW soll der Dienstherr, wenn ein Dritter durch rechtskräftiges Endurteil eines deutschen Gerichts verurteilt wird, an einen Beamten wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld (Schmerzensgeld) zu zahlen, diese Entschädigung auf Antrag ganz oder teilweise bewirken, sofern 1. der Schaden entstanden ist, weil der Dritte den Körper, die Gesundheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung des Beamten schuldhaft und im dienstlichen Zusammenhang verletzt hat, 2. trotz des Versuchs der Vollstreckung in das Vermögen des Dritten die Schmerzensgeldforderung des Beamten noch in Höhe von mindestens 250 Euro besteht, 3. dem Endurteil kein Verfahren nach §§ 592 bis 600 ZPO zugrunde liegt und 4. dies zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Norm ist im vorliegenden Fall anwendbar (1), jedoch liegen ihre materiellen Anspruchsvoraussetzungen nicht vor (2).</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">1. § 82a LBG NRW findet auf den vorliegenden Fall Anwendung, auch wenn das den Schmerzensgeldanspruch begründende schädigende Ereignis am 1.12.2016 und damit vor Inkrafttreten der Norm am 22.4.2017 (GV. NRW. S. 414) eingetreten ist. Denn § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW knüpft maßgeblich nicht an das schädigende Ereignis, sondern das Vorliegen eines rechtkräftigen Endurteils gegen einen Dritten an, sodass es für die Annahme der Anwendbarkeit der Norm ausreicht, wenn jedenfalls die rechtskräftige Titulierung des Schmerzensgeldanspruchs nach Inkrafttreten der Regelung erfolgt ist. Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, die ausweislich der Gesetzesbegründung über diesen sich aus dem Wortlaut ergebenden zeitlichen Anwendungsbereich noch hinausgeht. Seinem Willen entsprechend sollen auch vor Inkrafttreten der Norm festgestellte Schmerzensgeldansprüche vorbehaltlich der Wahrung der Ausschlussfrist gegenüber dem Dienstherrn geltend gemacht werden können.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/13702, S. 122; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 - 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 28; VG N. , Urteil vom 15.6.2020 - 5 K 2861/19 -, a. a. O. Rn. 30 ff.; Dünchheim in: BeckOK, Beamtenrecht NRW, 1.5.2022, § 82a Rn. 2; a. A. Schrapper/Günther, LBG NRW, 3. Aufl. 2021, § 82a Rn. 9; Günther, Die ersatzweise Schmerzensgeldzahlung durch Dienstherrn am Beispiel von NRW, NVwZ 2022, 690.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Im Streitfall ist die Rechtskraft des Vollstreckungsbescheids mit Ablauf des 19.5.2017 und damit nach Inkrafttreten der Norm eingetreten, sodass es auf die Frage nicht ankommt, ob der dargestellte, dem gesetzgeberischen Willen entsprechende weite zeitliche Anwendungsbereich Niederschlag in der Regelung gefunden hat oder es zur Erfassung der in der Gesetzesbegründung genannten Sachverhalte einer Übergangsvorschrift bedurft hätte.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">2. Dem Anspruch des Klägers steht jedoch entgegen, dass er kein rechtskräftiges Endurteil, sondern lediglich einen Vollstreckungsbescheid über seine Schmerzensgeldforderung erwirkt hat. Dieser Fall wird weder unmittelbar von § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW erfasst (a) noch ist die Vorschrift analog auf ihn anwendbar (b).</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">a) Der Schädiger als Dritter wurde nicht durch rechtskräftiges Endurteil eines deutschen Gerichts im Sinne der Norm verurteilt, an den Kläger Schmerzensgeld zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">aa) Der von dem Kläger erwirkte rechtskräftige Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts I. vom 30.3.2017 (17-1819783-0-2) ist in § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW nicht ausdrücklich als möglicher die Einstandspflicht des Dienstherrn begründender Titel genannt.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">bb) Der rechtskräftige Vollstreckungsbescheid ist auch nicht im Wege der Auslegung unter das in § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW genannte Tatbestandsmerkmal des rechtskräftigen Endurteils zu fassen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Ebenso VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 - 1 K 426/20 -, a. a. O.; zu § 78a BBG: VG Karlsruhe, Urteil vom 13.7.2021 - 12 K 5170/20 -, a. a. O. sowie Badenhausen-Fähnle, BeckOK Beamtenrecht Bund, Stand 1.2.2022, § 78a Rn. 5; a. A.: Schrapper/Günther, LBG NRW, 3. Aufl. 2021, § 82a Rn. 2; May in Schütz/Maiwald, Beamtenrecht - Kommentar, Stand Juli 2021, § 82a Rn. 22.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">(1) Der Wortlaut der Norm legt mit der Verwendung des rechtstechnischen Begriffs „Endurteil“ durch den Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Verurteilung eines Dritten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes den Schluss nahe, dass von § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW ausschließlich Endurteile eines deutschen Gerichts im Sinne von § 300 ZPO erfasst werden. Denn der Begriff des Endurteils wird durch die sich im 2. Buch, Abschnitt 1, Titel 2 („Urteil“) findenden Bestimmung des § 300 Abs. 1 ZPO charakterisiert: Durch ein solches Urteil wird der Rechtsstreit bei Entscheidungsreife abschließend für die Instanz erledigt. In der sich in Buch 8, Abschnitt 1 findenden Norm des § 704 ZPO wird der Begriff „Endurteil“ aufgegriffen. Nach dieser Vorschrift findet die Zwangsvollstreckung statt aus Endurteilen, die rechtskräftig oder für vorläufig vollstreckbar erklärt sind. Bei einem Vollstreckungsbescheid handelt es sich jedoch gerade nicht um ein solches Endurteil. Dieser wird vielmehr nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 RPflG ohne richterliche Mitwirkung und Prüfung gemäß § 699 Abs. 1 Satz 1 ZPO (dort im 7. Buch) auf der Grundlage des vorausgehenden Mahnbescheids erlassen und unterliegt auch im Übrigen einem anderen Regelungsregime. Außerdem wird er in § 794 Abs. 1 Nr. 4 ZPO als weiterer Vollstreckungstitel aufgezählt. § 794 Abs. 1 ZPO, wonach die Vollstreckung „ferner“ aus den aufgezählten Titeln stattfindet, ergänzt die Regelung in § 704 ZPO und zeigt im Umkehrschluss, dass nach der Konzeption der Zivilprozessordnung gerade keine Identität zwischen einem Endurteil und den dort aufgeführten Titeln besteht.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 13.7.2021 - 12 K 5170/20 -, a. a. O. Rn. 32.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">(2) Nichts anderes ergibt sich aus §§ 700 Abs. 1, 331, 330 ZPO. Nach § 700 Abs. 1 ZPO steht ein Vollstreckungsbescheid einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Versäumnisurteil gleich. Dieses stellt wiederum ein Endurteil dar. Durch die Gleichstellung des Vollstreckungsbescheids mit einem vorläufig vollstreckbaren - nicht aber einem rechtskräftigen - Versäumnisurteil wird die Funktion des Vollstreckungsbescheids als Vollstreckungstitel bereits vor Eintritt der Rechtskraft verdeutlicht (§ 794 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) und auf den Rechtsbehelf des Einspruchs nach §§ 338 ff. ZPO verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schüler in: Münchener Kommentar, ZPO, 6. Aufl. 2020, § 700 Rn. 1.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Eine weitergehende Bedeutung dahingehend, dass es sich bei dem Vollstreckungsbescheid um ein (Versäumnis-)Urteil handelt, folgt daraus gerade nicht.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 36; VG Karlsruhe, Urteil vom 13.7.2021 - 12 K 5170/20 -, a. a. O. Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">(3) Der Blick auf die Gesetzeshistorie bestätigt das Ergebnis.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Gesetzgebungsmaterialien zu § 82a LBG NRW verhalten sich zur Frage der Gleichstellung des Vollstreckungsbescheides zum Endurteil zwar nicht. Die Gesetzesbegründung erweist sich insoweit als unergiebig. Insbesondere kann aus den vom Verwaltungsgericht zitierten Ausführungen in der Gesetzesbegründung „Für die gerichtliche Verfolgung der Ansprüche können die Beamtinnen und Beamten Rechtsschutz durch den Dienstherrn in Anspruch nehmen. Die spätere Vollstreckung des erwirkten Titels kann jedoch an der fehlenden Liquidität des Schädigers scheitern“,</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">vgl. LT-Drs. 16/13702, S. 122,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">nicht geschlossen werden, dass mit der Norm sämtliche Vollstreckungstitel umfasst werden sollten. Es ist vielmehr gleichfalls möglich und liegt nach Wortlaut und Historie nahe, dass mit dieser Formulierung ebenso wie in der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Gesetzesbegründung zu § 78a BBG lediglich die in der Norm geregelten Titel in Form des Endurteils und des vollstreckbaren gerichtlichen Vergleichs unter einem Oberbegriff zusammengefasst worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 47 ff.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Jedoch ergeben sich aus dem Verlauf des Gesetzgebungsprozesses gewichtige Anhaltspunkte für eine bewusste Wahl des engen, auf Endurteile beschränkten Regelungsinhalts. Denn bereits im August 2015 hatte die CDU-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag einen ersten Entwurf zur Einführung einer Einstandspflicht des Dienstherrn für Schmerzensgeldforderungen nach dem Vorbild des am 1.1.2015 in Bayern in Kraft getretenen Art. 97 BayBG eingebracht. Der Entwurf sah - ebenso wie Art. 97 BayBG weiterhin - auf Tatbestandsseite einen „rechtskräftig festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten“ ‑ mithin keine Beschränkung auf Endurteile - und eine freie Ermessensausübung („kann“) des Dienstherrn auf Rechtsfolgenseite vor. Im Plenum wurde insbesondere die Frage diskutiert, welche Vollstreckungstitel aufgrund dieser Formulierung von dem Regelungsentwurf erfasst würden. Unter anderem zur Klärung dieser Frage wurde ein Sachverständigengespräch durchgeführt, zu der auch ein Vertreter des bayrischen Staatsministeriums der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat hinzugezogen wurde, um von den Erfahrungen mit der entsprechenden Vorschrift in Bayern zu berichten. Im Rahmen der Sachverständigenanhörung und der Plenumsdiskussion wurde mehrfach die Titulierung des Schmerzensgeldanspruchs durch Vollstreckungsbescheid thematisiert und insbesondere die Problematik angesprochen, dass ein solcher ohne gerichtliche Prüfung des geltend gemachten Anspruchs ergehe. In diesem Zusammenhang wurden auch die Schwierigkeiten des Dienstherrn erörtert, in einem solchen Fall eine Prüfung der Angemessenheit der Höhe der titulierten Schmerzensgeldforderung vorzunehmen, und Überlegungen angestellt, dass es zur Vermeidung eines mit einer Angemessenheitsprüfung einhergehenden erhöhten Verwaltungsaufwands möglich und sinnvoll sei, die Erfüllungsübernahme generell auf bestimmte Titel wie Endurteile nach § 300 ZPO und Versäumnisurteile nach § 331 ZPO zu beschränken.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stellungnahme von Ministerialrat Dr. Findeisen, Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat, vom 3.3.2016, Stellungnahme 16/3573, S. 4; Ausschussprotokolle APr 16/1199, S. 9 ff. und APr 16/1268, S. 57 ff.; Plenarprotokoll 16/117, 12120 ff.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Den Gesetzentwurf der CDU-Fraktion, der unverändert zur Abstimmung gestellt wurde, lehnten die Regierungsfraktionen unter anderem aufgrund der vorstehend dargestellten Bedenken ab. Dagegen fand der weniger als sechs Monate nach dieser Ablehnung von der Landesregierung eingebrachte, an der bundesgesetzlichen Regelung des § 78a BBG orientierte Vorschlag zur Aufnahme des § 82a LBG NRW, der eine Verurteilung des Schädigers „durch ein rechtskräftiges Endurteil eines deutschen Gerichts“ zur Grundlage für die Schmerzensgeldübernahme machte, eine parlamentarische Mehrheit.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. ausführlich zur Gesetzgebungshistorie Schütz/Maiwald, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, 32. UPD Oktober 2021, § 82a LBG NRW, Rn. 6 ff.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Dabei waren dem Landesgesetzgeber bei Erlass der streitbefangenen Regelung die bereits zuvor in Kraft getretenen landes- und bundesgesetzlichen Vorschriften bekannt, die die Einstandspflicht des Dienstherrn unterschiedlich ausgestaltet haben.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. Plenarprotokoll 16/117, 12121.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Nach Art. 97 BayBG ist - wie bereits dargestellt - ebenso wie nach der zum 29.5.2015 in Kraft getretenen Bestimmung des § 83a BG SH die Einstandspflicht auf Tatbestandsebene an das Vorliegen eines „rechtskräftig festgestellten Anspruchs auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten“ geknüpft; nach der zum 29.12.2015 in Kraft getretenen Vorschrift des § 81a HBG sowie nach der zum 23.11.2016 in Kraft getretenen Vorschrift des § 83a HmbBG ist (nur) ein „Vollstreckungstitel über einen Anspruch auf Schmerzensgeld“ bzw. ein „Vollstreckungstitel über einen Anspruch auf Ersatz eines immateriellen Schadens nach § 253 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (Schmerzensgeld)“ erforderlich.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Am 28.10.2016 trat die davon abweichende Regelung des § 78a BBG in Kraft,</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">eingefügt durch Gesetz vom 19.10.2016 (BGBl. I. S. 2362).</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Diese entspricht bis auf redaktionelle Änderungen der vorliegenden landesrechtlichen Regelung des § 82a LBG NRW. Insbesondere macht sie einen „durch ein rechtskräftiges Endurteil eines deutschen Gerichts festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld“ zur Voraussetzung der Schmerzensgeldübernahme. Damit lagen dem Landesgesetzgeber Vorbilder für Regelungsvarianten, die sämtliche Vollstreckungstitel im Sinne von § 794 Abs. 1 ZPO erfassen, ebenso vor wie die vom Wortlaut her enger gefasste Bundesvorschrift.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Diese Umstände lassen den Schluss zu, dass die Abkehr von der weiter gefassten Formulierung auf Tatbestandsseite, kombiniert mit der Möglichkeit einer freien Ermessenausübung, hin zu der engeren Anknüpfung an ein „rechtskräftiges Endurteil“, dafür aber auf Rechtsfolgenseite kombiniert mit einer im Regelfall eintretenden Einstandspflicht, bewusst erfolgt ist, um andere Titel auszuschließen, bei denen - wie bei einem Vollstreckungsbescheid - eine gerichtliche Prüfung des Schmerzensgeldanspruchs in der Regel nicht erfolgt. Es ist insbesondere angesichts der vorstehend dargestellten Diskussion über die Reichweite des ersten, an die bayerische Regelung angelehnten Gesetzentwurfs der CDU-Fraktion und der Kenntnis der weiteren landes- und bundesgesetzlichen Regelungen fernliegend, dass der Landesgesetzgeber eine erkennbar engere Formulierung als diejenige in den Beamtengesetzen Bayerns, Schleswig-Holsteins, Hessens und Hamburgs gewählt hat, um dennoch einen diesen in seiner Reichweite entsprechenden Regelungsgehalt festzulegen. Die Anlehnung an die enger gefasste Formulierung der bundesgesetzlichen Regelung legt - wie dargestellt - vielmehr den Rückschluss nahe, dass der Landesgesetzgeber mit § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW entsprechend dem Wortlaut tatsächlich nur Endurteile, nicht aber rechtskräftige Vollstreckungsbescheide erfassen wollte, zumal den Gesetzesmaterialien kein Anhalt dafür zu entnehmen ist, dass der Gesetzgeber die zuvor ausführlich diskutierten Bedenken im Hinblick auf durch Vollstreckungsbescheide titulierte Forderungen aufgegeben hätte. Die in der Frage des vollstreckbaren Titels weitergehenden Regelungen in den oben genannten Landesgesetzen sehen - im Gegensatz zum intendierten Ermessen der Bundes- und nordrhein-westfälischen Regelung - überdies auf Rechtsfolgenseite ein einfaches „Kann-Ermessen“ vor. Es ist besonders wenig eingängig, dem Gesetzgeber zu unterstellen, dass er trotz der Wahl der engeren Tatbestandsformulierung den Vollstreckungsbescheid mitgemeint haben, dies aber zusätzlich mit der den Dienstherrn stärker bindenden Soll-Vorschrift kombiniert haben sollte.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 63 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">(4) Auch (weitere) gesetzessystematische Überlegungen streiten dafür, einen Vollstreckungsbescheid nicht als Endurteil im Sinne des § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW anzusehen.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">(a) In systematischer Hinsicht stützt § 82a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW die Auslegung, dass der Gesetzgeber mit dem in Satz 1 genannten „Endurteil“ nur durch Urteil festgestellte Schmerzensgeldansprüche erfassen wollte.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die Regelung stellt unter bestimmten Bedingungen einen Vergleich nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO einem rechtskräftigen Endurteil im Sinne von § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW gleich. Vergleiche können - wie dies auch bei Vollstreckungsbescheiden der Fall ist - auch ohne richterliche Inhaltskontrolle geschlossen werden, sie können aber nicht in (materielle) Rechtskraft erwachsen. Insofern enthält § 82a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW eine Abweichung zu dem in Satz 1 enthaltenen Tatbestandsmerkmal des durch ein „rechtskräftiges Endurteil“ festgestellten Schmerzensgeldanspruchs. Diese - begrenzte - Tatbestandserweiterung des § 82a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW auf einen Titel, der nicht (materiell) rechtskraftfähig ist und nicht zwingend einer gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegt, lässt aber nicht den Rückschluss zu, von § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW seien alle rechtskraftfähigen Titel erfasst unabhängig davon, ob der ihnen zugrundeliegende Anspruch einer gerichtlichen Prüfung unterzogen worden ist oder nicht.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 76 ff. m. w N.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist selbst bei Vergleichen nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO stets die Mitwirkung eines Richters oder zumindest eines unparteiischen Schlichters erforderlich und damit jedenfalls eine nichtförmliche Einflussnahme des Richters beziehungsweise des Schlichters möglich. Es liegt etwa im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob und in welchem Umfang es eine über den Streitgegenstand hinausgehende Einigung protokolliert. Bei gerichtlichen Vergleichen findet also zumindest noch eine gewisse richterliche Überprüfung statt (siehe auch die richterliche Hinweispflicht nach § 139 ZPO). Zudem kann der beklagte Schädiger anspruchsmindernde Einwendungen vorbringen. An beidem mangelt es, wie vorstehend dargestellt, bei Vollstreckungsbescheiden vollständig.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 83.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Durch § 82a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW wird zudem deutlich, dass der gerichtliche Vergleich als Vollstreckungstitel, der tatbestandlich nicht von § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW erfasst ist, nur unter der zusätzlichen Bedingung der Angemessenheit für die Erfüllungsübernahme ausreichen soll. Eben dies trägt dem Umstand Rechnung, dass bei einem solchen Vergleich eine richterliche Kontrolle der Höhe des titulierten Schmerzensgeldes nicht gegeben ist und der Dienstherr keinen Einfluss auf das Ergebnis der gütlichen Einigung hat. Gerade diese Zielrichtung des § 82a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW, der Satz 1 in Bezug auf dessen Wortlaut auf Tatbestandsseite erweitert und gleichzeitig wiederum die Ausweitung auf Vergleiche begrenzt, die bestimmten inhaltlichen Bedingungen genügen, zeigt, dass der Dienstherr nicht für solche Schmerzensgeldansprüche Adressat sein soll, die in der Regel ohne jegliche Form einer inhaltlichen (Angemessenheits-)Kontrolle tituliert werden.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 84 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">(b) Das hier gefundene Ergebnis stützt weiterhin § 82a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 LBG NRW, wonach bereits tatbestandlich solche Schmerzensgeldansprüche von der Erfüllungsübernahme ausgeschlossen sein sollen, bei denen das Endurteil im Wege des Urkundenprozesses nach den §§ 592 bis 600 ZPO ergangen ist. Der Grund dafür sind die nur auf den Urkundsbeweis und die Parteivernehmung beschränkten Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts und daran anknüpfend die für eine Zahlung aus öffentlichen Kassen unzureichende Sachverhaltsaufklärung.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 13.7.2021 - 12 K 5170/20 -, a. a. O. Rn. 42, VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 - 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 89; Grigoleit, in: Battis, BBG, 6. Aufl. 2022, § 78a, Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Diese Überlegung lässt sich auf den ohne Sachverhaltsaufklärung ergehenden Vollstreckungsbescheid ohne weiteres übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">(5) Es bestehen zudem sachliche Gründe dagegen, einen Vollstreckungsbescheid als Endurteil im Sinne des § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW aufzufassen.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Denn während beim Vollstreckungsbescheid aufgrund der unterschiedlichen Erlassvoraussetzungen eine gerichtliche Prüfung der Anspruchsberechtigung, insbesondere der Angemessenheit der Forderung fehlt, findet bei einem Endurteil im Regelfall eine gerichtliche Prüfung des geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs dem Grunde und der Höhe nach statt. Auch ein Versäumnisurteil darf gemäß § 331 Abs. 1, 2 ZPO nur erlassen werden, wenn die Klage schlüssig ist. Die Prüfung der Schlüssigkeit erfolgt von Amts wegen (§ 331 Abs. 2 Halbs. 1 ZPO). Eine Klage ist schlüssig, wenn das Gericht die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen ohne weitere tatsächliche Überprüfung im Sinne des Klageantrages unter eine Anspruchsgrundlage subsumieren kann und nach dem Tatsachenvortrag des Klägers auch keine Gegenrechte eingreifen, wenn mit anderen Worten der Tatsachenvortrag, seine Richtigkeit unterstellt, geeignet ist, den Klageantrag sachlich zu rechtfertigen. Dabei ist auch dem Kläger ungünstiges Klagevorbringen zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl. Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 331 Rn. 7.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">In diesem Rahmen kann das Gericht insbesondere auch überprüfen, ob die vom Beamten eingeforderte Schmerzensgeldsumme in Relation zu den erlittenen Verletzungen angemessen ist.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Festsetzung der Höhe des Betrags durch das Gericht in einem Versäumnisurteil selbst bei unbezifferten Klageanträgen: Prütting in: Münchener Kommentar, ZPO, 6. Aufl. 2020, § 331 Rn. 22.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Eine solche gerichtliche Prüfung des geltend gemachten Anspruchs - wenn auch nur im Rahmen einer Schlüssigkeitsprüfung - erscheint insbesondere bei Schmerzensgeldansprüchen, zu deren Erfüllung der Dienstherr nach § 82a LBG NRW verpflichtet werden soll, aufgrund der Unbestimmtheit des § 253 Abs. 2 BGB, wonach wegen immaterieller Schäden eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden kann, auch in besonderem Maße geboten. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „billigen Entschädigung“ meint sowohl nach dem Wortlaut als auch nach systematischer, historischer und teleologischer Auslegung eine angemessene Entschädigung, bei deren Bemessung der Tatrichter alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen darf. Das Schmerzensgeld hat eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden und diejenige Lebenshemmung, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet. Bei den unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zu berücksichtigenden Umständen bildet die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen stets das ausschlaggebende Moment. Daneben können aber auch alle anderen Umstände berücksichtigt werden, die dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, wie der Grad des Verschuldens des Schädigers, im Einzelfall aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten oder diejenigen des Schädigers. Ein allgemein geltendes Rangverhältnis aller anderen zu berücksichtigenden Umstände lässt sich nicht aufstellen, weil diese Umstände ihr Maß und Gewicht für die Höhe der billigen Entschädigung erst durch ihr Zusammenwirken im Einzelfall erhalten.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Zum Ganzen BGH Vereinigte Große Senate, Beschluss vom 16.9.2016 - VGS 1/16 -, BGHZ 212, 48 = juris Rn. 30, 48 ff.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Angesichts dieser Unschärfe kommt es in gerichtlichen Schmerzensgeldverfahren nicht selten vor, dass dem Kläger im Endurteil nur noch ein (Bruch-)Teil des ursprünglich geforderten Schmerzensgeldes zugesprochen wird. Häufig bestehen in solchen Verfahren sogar derart erhebliche Unsicherheiten im Hinblick auf die Angemessenheit der Forderung, dass unbezifferte Klageanträge gestellt werden. Dieses Vorgehen, das nicht nur die Angemessenheitsprüfung, sondern schon die erstmalige Bezifferung des Schmerzensgeldes in die Hände des Gerichts legt, wird seit jeher als zulässig angesehen und bietet sich aus anwaltlicher Vorsicht an, um eine Teilabweisung mit entsprechender Kostenfolge zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Vgl. Doukoff in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand: 11.4.2022, § 253 BGB Rn. 164 m. w. N.; ferner VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 - 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 38; VG Karlsruhe, Urteil vom 13.7.2021 ‑ 12 K 5170/20 -, a. a. O. Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Davon unterscheidet sich das Mahnverfahren bereits nach seiner grundsätzlichen gesetzlichen Konzeption. Im Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids ist die Forderung gemäß § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zu beziffern, ohne dass das Korrektiv einer gerichtlichen Prüfung vor dem Erlass eines Vollstreckungsbescheids zum Tragen kommt. Vielmehr handelt es sich um ein automatisiertes Verfahren, in dem der geltend gemachte Anspruch vor Erlass des Vollstreckungsbescheids nicht einmal einer gerichtlichen Schlüssigkeitsprüfung unterzogen wird, sodass die Schmerzensgeldforderung sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach ohne jegliche richterliche Inhaltskontrolle und ohne etwaige berechtigte Einwendungen des Antragsgegners in Rechtskraft erwachsen kann.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Der Tragfähigkeit dieser aus den Unterschieden zwischen Prozess- und Mahnverfahren abgeleiteten Erwägung kann der Kläger nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass auch die bei einem Versäumnisurteil durchgeführte Schlüssigkeitsprüfung als Schutzmechanismus zugunsten des Dienstherrn vor einem kollusiven Zusammenwirken zwischen dem Beamten und Dritten nicht umfassend schütze und bei einem Anerkenntnisurteil, das ebenfalls ein Endurteil darstelle, keine gerichtliche Prüfung des anerkannten Anspruchs erfolge.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Insoweit trifft es zu, dass ein lückenloser Schutz vor kollusivem Zusammenwirken des Beamten und des Schädigers auch bei einem im Prozessverfahren erwirkten Urteil nicht besteht und der Gesetzgeber dem Dienstherrn für diesen (atypischen) Fall durch die Eröffnung eines Ermessensspielraums ermöglicht hat, die Übernahme des Schmerzensgeldanspruchs abzulehnen.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/13702, S. 122.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Diese auch im Prozessverfahren nicht gänzlich auszuschließende Missbrauchsgefahr ändert hingegen nichts an dem Umstand, dass in diesem eine gerichtliche Prüfung des geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs dem Grunde und der Höhe nach den Regelfall darstellt und im Fall des Versäumnisurteils zumindest noch eine Schlüssigkeitsprüfung erfolgt. Im Mahnverfahren ist eine solche gerichtliche Prüfung des Anspruchs - wie ausgeführt - hingegen in keinem Fall vorgesehen und damit die Missbrauchsgefahr ungleich höher. Hierbei muss nicht einmal auf die - vermutlich nur selten vorkommenden - Fälle des kollusiven Zusammenwirkens des Beamten und des Schädigers abgehoben werden. Vielmehr kann auch eine überhöhte Einschätzung des Beamten zur Angemessenheit der Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB die Grundlage einer übersetzten - und ggfs. in der Folge titulierten - Forderung sein; ebenso ist denkbar, dass der Beamte resp. sein Prozessbevollmächtigter aufgrund des bisherigen Verhaltens bzw. der Verhältnisse des Schädigers darauf setzen, dass dieser sich gegen den Mahnbescheid nicht wehren wird und der Dienstherr letztlich nach § 82a LBG NRW die Erfüllung wird übernehmen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Zum Fall einer überhöhten Schmerzensgeldforderung ohne kollusives Zusammenwirken VG Magdeburg, Urteil vom 13.11.2020 - 8 A 299/19 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Der Hinweis auf das Anerkenntnisurteil, bei dem nicht einmal die Schlüssigkeit der Forderung richterlich überprüft wird, zwingt ebenfalls nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Einerseits kommen derartige Urteile ohnehin vergleichsweise selten vor; überdies erfordert die Titulierung einer unangemessen überhöhten Forderung auf diesem Weg tatsächlich ein (kollusives) Mitwirken des Schädigers, der diese anerkennen muss. Derartige Konstellationen dürften, wie erwähnt, die Ausnahme bilden und können im Rahmen des Ermessens als atypischer Fall ausgeschieden werden.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Zugleich verlangt die Überprüfung, ob eine übersetzte Schmerzensgeldforderung vorliegt - unabhängig davon, ob der Dienstherr eine solche bei der Tatbestandsvariante der Titulierung der Schmerzensgeldforderung durch ein Endurteil überhaupt vornehmen dürfte -,</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">vgl. dies aufgrund der expliziten Nennung bei vollstreckbaren Vergleichen im Fall des Endurteils verneinend: Bay. VGH, Urteil vom 16.12.2020 - 3 B 20.1553 -, juris Rn. 24; Schütz/Maiwald, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, 32. UPD Oktober 2021, § 82a LBG NRW Rn. 24,</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">beim Vollstreckungsbescheid dem Dienstherrn deutlich höheren Aufwand ab als bei durch Urteil, auch durch Versäumnisurteil oder einen gerichtlichen Vergleich titulierten Ansprüchen, da es bereits an dem Vorliegen einer Klagebegründung fehlt, die Grundlage für eine Angemessenheitsprüfung sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">(6) Auch die in § 82a Abs. 1 Satz 1 LBG NRW zum Ausdruck kommende Fürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet es nicht, die Norm abweichend vom Vorstehenden dahingehend auszulegen, dass die Einstandspflicht des Dienstherrn für Schmerzensgeldforderungen sich auf solche Titel erstreckt, die keiner vorherigen gerichtlichen Überprüfung unterlagen. Die Norm soll ausweislich der Gesetzesmaterialien Abhilfe in Fällen schaffen, in denen Beamte im Dienst oder aufgrund ihrer dienstlichen Stellung Opfer von Gewalt werden und Härten im Sinne eines erheblichen Sonderopfers für die Allgemeinheit erleiden, die mit den vorhandenen Leistungstatbeständen nicht angemessen abgedeckt werden.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/13702, 122.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Dieses Ziel würde umfassender erreicht, wenn auch die im Mahnverfahren titulierten Ansprüche übernommen würden; zudem handelt es sich beim Mahnverfahren, wie der Kläger zu Recht geltend macht, um ein - auch für den Dienstherrn - kostengünstiges und damit prozessökonomisch sinnvolles Verfahren zur Titelerlangung. Allerdings kommt - wie die in den Einzelheiten unterschiedlichen Regelungen in Bund und Ländern verdeutlichen -,</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu Klingspor in BeckOK Beamtenrecht Hessen, Stand 1.5.2022, § 81a HBG Rn. 2 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Erfüllungsübernahme ein weiter Gestaltungsspielraum zu, weil es sich um eine freiwillige zusätzliche Leistung des Dienstherrn handelt.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Stellungnahme von Ministerialrat Dr. Findeisen, Bayerisches Staatsministeriums der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat vom 3.3.2016, a. a. O. S. 2.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Daher kann er auch unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks der Norm einen Ausschluss von vollstreckbaren Titeln vornehmen, die - wie oben dargestellt - in der Regel keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegen, und somit im Wege einer Abwägung die Zielsetzung für gewichtiger halten, die Verpflichtung zur Übernahme überhöhter Forderungen soweit möglich auszuschließen.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Der Einwand des Klägers, der Beamte riskiere im Fall der Wahl des Prozessverfahrens die Unterstützung seines Dienstherrn bei der Gewährung von Rechtsschutz in Zivilsachen, wonach nur zur Bestreitung der notwendigen Kosten der Rechtsverteidigung ein Vorschuss oder zinsloses Darlehen gewährt werden kann (vgl. III. 1. des Gemeinsamen Runderlasses des Innenministeriums - 24-1.42-2/08 - und des Finanzministeriums - IV-B 1110-85.4-IV A 2 - vom 7. Juli 2008), führt ebenso wenig zu einem anderen Ergebnis: Im Gegenteil wäre zu erwägen, dem Beamten die Kosten des letztgenannten Verfahrens als „notwendige Kosten“ zuzugestehen, wenn das Mahn- und Vollstreckungsverfahren eben nicht zur Rechtsverteidigung hinreicht, da es dem Prozessverfahren nicht gleichsteht.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Vorstehenden: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 - 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 57 f.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">b) Auch eine analoge Anwendung von § 82a Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 LBG NRW auf Vollstreckungsbescheide kommt nicht in Betracht. Die analoge Anwendung der von einer Norm angeordneten Rechtsfolge auf Sachverhalte, die dieser Norm nicht unterfallen, setzt eine vergleichbare Interessenlage sowie eine planwidrige Regelungslücke voraus. Der Anwendungsbereich der Norm muss wegen eines versehentlichen, mit dem Normzweck unvereinbaren Regelungsversäumnisses des Normgebers unvollständig sein.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.1.2016 - 2 B 17.15 -, juris Rn. 8, und Urteil vom 28.6.2012 ‑ 2 C 13.11 -, BVerwGE 143, 230 = juris Rn. 24.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Dies ist nicht der Fall. Es liegt keine planwidrige Regelungslücke vor.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">aa) Der Gesetzgeber hat sich, wie dem dargestellten Gesetzgebungsprozess entnommen werden kann, bewusst für eine enge Formulierung des Tatbestandes entschieden und damit beabsichtigt, sich von den auf Tatbestandsebene weiter gefassten Regelungen der Landesbeamtengesetze Bayerns, Schleswig-Holsteins, Hessens und Hamburgs abzusetzen. Der damit zum Ausdruck gebrachte Wille, dass andere als die in der Norm genannten Titel nicht zur Begründung einer Einstandspflicht des Dienstherrn ausreichen sollen, steht der Annahme einer planwidrigen Regelungslücke bereits entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">bb) Ebenfalls gegen das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke spricht, dass § 82a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW ausdrücklich § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und damit gerichtliche Vergleiche in den Blick nimmt, nicht jedoch den in Nr. 4 geregelten Vollstreckungsbescheid.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Anders etwa § 71a Abs. 1 Satz 2 RhPflBG, wonach die Vollstreckungstitel nach § 794 Abs. 1 Nr. 1, 4, 4a und 5 ZPO einem rechtskräftigen Urteil unter näher bestimmten Voraussetzungen gleichstehen.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Angesichts des Zusammenhangs in der Aufzählung in § 794 Abs. 1 ZPO kann nicht angenommen werden, dass dessen Nr. 4 unbeabsichtigt übersehen worden wäre.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 ‑ 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 87 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">cc) Gegen eine analoge Anwendung streitet überdies, dass es sich bei der Norm um einen Ausnahmetatbestand handelt.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Der Gesetzgeber hat bei Schaffung des § 82a LBG NRW sowohl im Wortlaut der Norm selbst als auch in der Gesetzesbegründung hinreichend verdeutlicht, dass ihm an der Schaffung eines Ausnahmetatbestandes gelegen war. Dieses Ergebnis stützt die teleologische Betrachtung der Norm: Seinem Sinn und Zweck nach soll § 82a LBG NRW eine Ergänzung für solche Fälle sein, in denen die im Landesbeamtenversorgungsgesetz NRW normierte Unfallfürsorge als ansonsten umfassender Ausgleich der durch einen Dienstunfall eingetretenen materiellen und immateriellen Schäden keine angemessene Abdeckung von besonderen Härten bietet. Nach § 82a Abs. 2 LBG NRW kann der Dienstherr die Zahlung ablehnen, wenn aufgrund desselben Sachverhalts eine einmalige Unfallentschädigung, eine einmalige Entschädigung oder ein Unfallausgleich gezahlt wird.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Dies gilt insbesondere für den Schmerzensgeldanspruch, der einen immateriellen Schaden betrifft und auch im Zivilrecht eine Sonderstellung einnimmt, da ihm vor allem eine Genugtuungsfunktion zukommt. Grundsätzlich soll es der Beamte selbst sein, welcher den Schmerzensgeldanspruch gegenüber dem Schädiger geltend macht. So fordert § 82a LBG NRW - seinem subsidiären Charakter Ausdruck verleihend - grundsätzlich einen erfolglosen Vollstreckungsversuch des Beamten: Der Dienstherr soll nicht prinzipiell erster Adressat für eine gegen einen Dritten gerichtete Schmerzensgeldforderung sein, sondern erst nach umfassenden und fruchtlosen Eigenbemühungen des Beamten gegenüber seinem Schädiger. Dem dargestellten Ausnahmecharakter der Norm kann der Kläger auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass der Gesetzgeber bei Eintritt dieses Ausnahmefalls die Übernahme des Schmerzensgelds als Regelfall ausgestaltet hat.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.11.2021 - 1 K 426/20 -, a. a. O. Rn. 72 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen der §§ 132 VwGO, 127 BRRG nicht vorliegen.</p>
|
346,180 | vg-aachen-2022-07-21-5-k-64422a | {
"id": 840,
"name": "Verwaltungsgericht Aachen",
"slug": "vg-aachen",
"city": 380,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 5 K 644/22.A | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-13T10:01:59 | 2022-10-17T17:55:57 | Urteil | ECLI:DE:VGAC:2022:0721.5K644.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. März 2022 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p>
<p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die Abschiebungsanordnung nach Ungarn (Bescheid nach der Dublin III-VO).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.0000 in L. /Aserbaidschan geborene Kläger zu 1., seine Ehefrau, die am 00.00.0000 in Z. /Aserbaidschan geborene Klägerin zu 2. sowie die gemeinsamen Kinder, die am 00.00.0000 in V. /Aserbaidschan geborene Klägerin zu 3. und die am 00.00.0000 in V. /Aserbaidschan geborene Klägerin zu 4. sind aserbaidschanische Staatsangehörige schiitischer Religionszugehörigkeit.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Nach eigenen Angaben verließen sie ihr Heimatland mit dem Flugzeug am 19. Januar 2022 und reisten am 20. Januar 2022 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 31. Januar 2022 stellten sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach dem vom Bundesamt am 1. Februar 2022 durchgeführten Abgleich im Europäischen Visa-Informationssystem (VIS) waren die Kläger zu 1. und 2. im Besitz von Schengen Visa, ausgestellt von der Ungarischen Botschaft in V. am 29. Dezember 2021, gültig vom 13. Januar bis 2. Februar 2022 für einen Aufenthalt von sechs Tagen; gleiches gilt für die Klägerinnen zu 3. und 4. Im Auszug aus dem VIS - Antragsauskunft - ist als Beschäftigung des Klägers zu 1. "Angestellte(r)" und als Name des Arbeitgebers: "architecture and town building head office" registriert, für die Klägerin zu 2. ist "Lehrkraft" und als Name des Arbeitgebers "V. State University" angegeben.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Anhörungen zur Zulässigkeit des Asylantrags und zu den Asylgründen erklärten die Kläger zu 1. und zu 2. am 7. Februar 2022 beim Bundesamt im Wesentlichen:</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ihr Ziel sei von Anfang an Deutschland gewesen, da hier die Menschenrechte beachtet und Schutzanträge nicht ohne Prüfung einfach abgewiesen würden. Die Verhältnisse in Ungarn seien ihnen nicht bekannt. Sie hätten dort nur eine Nacht verbracht, weil es nicht möglich gewesen sei, ein Visum für Deutschland zu bekommen. Die aserbaidschanischen Reisepässe hätten sie vernichtet, weil sie nicht dorthin abgeschoben werden wollten. Sie hätten deshalb nur noch die Personalausweise. Erkrankungen lägen keine vor; die älteste Tochter, die Klägerin zu 3. trage allerdings eine Brille, weil sie schiele.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin zu 2. habe die Schule bis zur mittleren Reife besucht und sei Hausfrau. Der Kläger zu 1. sei gelernter Möbelbauer und habe abwechselnd für unterschiedliche Werkstätten gearbeitet.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Sie hätten ihr Heimatland verlassen, weil der Kläger zu 1. verfolgt werde. Er habe eine Person namens M. D. unterstützt. Dieser habe an den Demonstrationen in der Stadt J. teilgenommen und sei deshalb ermordet worden. Der Kläger zu 1. sei zweimal festgenommen und schwer misshandelt worden. Die ganze Familie sei bedroht worden.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Unter dem 8. Februar 2022 richtete das Bundesamt ein Aufnahmegesuch nach der Dublin III-VO an Ungarn. Die ungarische Dublin Coordination Unit erklärte am 9. Februar 2022 in zwei getrennten Schreiben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO das Einverständnis für die Überstellung des Klägers zu 1. sowie für die Klägerinnen zu 2. bis 4. zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") und bestätigte, dass die ungarische Botschaft in V. für die Kläger ein Schengen Visum Typ C am 29. Dezember 2021 zu touristischen Zwecken ausgestellt habe; aus diesem Grunde akzeptiere Ungarn die Verantwortung für die Übernahme der Antragsteller ("accepts responsibility for taking charge of the applicants"). Unter dem 2. März 2022 remonstrierte das Bundesamt gemäß Art. 5 Abs. 2 Durchführungsverordnung Dublin III-VO mit dem Zusatz, im Falle einer positiven Entscheidung ersuche Deutschland die ungarischen Behörden um eine Zusicherung, dass die oben genannten Personen in Übereinstimmung mit der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU untergebracht und die Anträge auf internationalen Schutz nach der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) behandelt würden.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 4. März 2022, zugestellt am 11. März 2022, lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nicht vorliegen (Ziffer 2.), ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 3.) und befristete das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Es führte aus, dass Ungarn auf Grund der ausgestellten Visa für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Die mit der Remonstration vom 2. März 2022 erbetene Zusicherung, dass die Unterbringung der Kläger in Übereinstimmung mit der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU erfolge und die Anträge auf internationalen Schutz nach der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) behandelt würden, sei von den ungarischen Behörden nicht übersandt worden. Diese Zusicherung werde im Rahmen des Überstellungsprozesses eingeholt. Abschiebungsverbote lägen nicht vor, insbesondere bestünden keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn. Diese Auffassung werde in einem aktuellen Beschluss des Verwaltungsgerichts Halle bestätigt (VG Halle, Beschluss vom 19.04.2021, Az.: 4 B 254/21 HAL). Kernargument der Annahme von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren seien die Aufnahmebedingungen in den Zeiträumen gewesen, in denen die Asylverfahrenspraxis unter dem Eindruck der Transitzonen gestanden habe. Allerdings seien diese im zweiten Quartal 2020 geschlossen und ein neues Asylzugangsverfahren etabliert worden. Diese Entwicklungen spiegelten sich in der aktuellen Rechtsprechung noch nicht wider. In Ungarn sei seit dem 09.03.2016 ein Regierungsdekret mit dem Titel „Krisensituation aufgrund einer Masseneinwanderung“ in Kraft. Dieses Dekret gestatte der Polizeibehörde unter anderem die Zurückweisung von illegal Eingereisten sowie illegal aufhältigen Asylsuchenden hinter die ungarische Grenze (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16). Das Dekret werde seit dem Inkrafttreten alle sechs Monate verlängert, zuletzt im September 2021 (Kafkadesk, Hungary extends migration state of emergency for fifth year, https://t1p.de/6zoq, abgerufen am 12.10.2021). Die Zahl der Asylsuchenden sei seit 2015 kontinuierlich und deutlich gesunken von 177.135 im Jahr 2015 auf nur noch 117 im Jahr 2020 (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 27). Bestimmungen, nach denen Anträge von illegal Eingewanderten ausschließlich an den grenznahen Transitzonen gestellt werden dürften, seien seit dem 26.05.2020 aufgehoben. Es sei ein Regierungsdekret (Government Decree 233/2020 (V. 26.)) sowie seit dem 18.06.2020 ein Gesetz in Kraft getreten, welches neue Vorschriften für das Asylverfahren vorsehe. Hintergrund dieser Anpassung im Asylverfahren sei der geltende Notstand (state of danger) zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Um ins reguläre Verfahren zu gelangen, müssten Schutzsuchende, die in Ungarn Asyl beantragen möchten, zunächst eine persönliche „Absichtserklärung zum Zweck der Antragstellung“ in der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew abgeben. Diese Erklärung werde dann dem Nationalen Generaldirektorat der Fremdenpolizei (NDGAP) überreicht, welcher innerhalb von 60 Tagen eine Entscheidung darüber treffen müsse, ob Asylsuchenden eine einmalige Einreiseerlaubnis für die förmliche Antragstellung erteilt werde (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16 – 17). Falls die Erlaubnis erteilt werde, müssten die Asylsuchenden innerhalb von 30 Tagen eigenständig nach Ungarn einreisen und sich unmittelbar zu den Grenzschutzbeamten begeben. Die Grenzschutzbeamten müssten die Asylsuchenden innerhalb von 24 Stunden zur Asylbehörde befördern. Dort könnten die Asylsuchenden dann formal ihre Asylanträge stellen und einreichen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, 22). Sowohl der seit 2016 verhängte Krisenzustand als auch der skizzierte erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn. Diese Maßnahmen adressierten nicht die Dublin-Rückkehrenden, sondern diejenigen, die eigenständig nach Ungarn einreisten oder sich illegal in Ungarn aufhielten. Auch das Verwaltungsgericht Halle stelle in der zitierten Entscheidung fest, dass sich die Entscheidung des EuGH vom 17. Dezember 2020 (C 808/18) über den eingeschränkten Zugang zum Asylverfahren lediglich auf diejenigen Asylsuchenden beziehe, die aus Serbien nach Ungarn einreisten.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Helsinki-Komitee weise zwar darauf hin, dass Dublin-Rückkehrende nicht ohne Weiteres Erst- und Folgeanträge in Ungarn stellen könnten, da diese im Zuge des geltenden Asylgesetzes und des Botschaftsverfahrens nicht zu den Ausnahmen zählten, denen es erlaubt sei, einen Antrag innerhalb Ungarns zu stellen; auch auf den Ausschluss der Folgeantragstellenden von den Aufnahmebedingungen werde hingewiesen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 45-46). Den genannten Punkten stehe allerdings entgegen, dass das Bundesamt Überstellungen gemäß der Dublin III-VO nur dann durchführe, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit einer Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, nachdem diese bei ihrer Ankunft ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten (EASO, EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97).</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Im Dublin-Verfahren müsse bei der Bewertung, ob Asylsuchenden im zu überstellenden Mitgliedstaat eine Situation extremer materieller Not drohe, ein erweiterter zeitlicher Horizont nach der Rückkehr in den Blick genommen werden. Für Ungarn sei festzustellen, dass die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus ausreichend seien. In Ungarn herrschten keine derart eklatanten Missstände, welche die Annahme rechtfertigten, dass international Schutzberechtigte einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK ausgesetzt würden. Dies werde auch durch die deutsche Rechtsprechung bestätigt. International Schutzberechtigte seien in Ungarn den Inländern grundsätzlich rechtlich gleichgestellt. Sie würden durch NGOs wie z.B. Menedék oder Kalunba unterstützt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben am 17. März 2022 Klage erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Das Gericht hat mit Beschluss vom 24. März 2022 im Verfahren gleichen Rubrums 5 L 199/22.A die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Ziffer 3. des angegriffenen Bescheides vom 4. März 2022 verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn angeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Kläger nehmen Bezug auf ihren Vortrag im Verwaltungsverfahren und führen weiter aus: Über die im Eilbeschluss des Gerichts genannten Gründe hinaus begegne ihre Überstellung nach Ungarn weiteren rechtsstaatlichen Bedenken. Aufgrund der geographischen Nähe Ungarns zur Ukraine, die sich nach aktuellem Stand in unveränderter kriegerischer Auseinandersetzungen mit Russland befinde, sei in Ungarn mit einem erhöhten Flüchtlingsaufkommen und damit einer zusätzlichen Belastung des dortigen Asylsystems zu rechnen. In der Folge wäre vor einer etwaigen Überstellung der Familie nach Ungarn ohnehin vorab durch die Beklagte abschließend zu klären gewesen, inwieweit aufgrund der aktuellen Entwicklungen die Ausübung eines Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik gem. Art. 17 Dublin-III-VO in Frage käme oder ob die aktuelle Lage im Zielstaat jedenfalls jetzt zur Annahme systemischer Mängel des dortigen Asylsystems zwinge. Eine solche Aufklärung der offenen Fragen habe durch die Beklagte bisher nicht stattgefunden, sodass sich schon aus diesem Grunde die Überstellung verbiete.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kläger beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2022 (wörtlich vom 8. März 2022, insoweit handelt es sich um eine offensichtliche Verschreibung) aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Sie nimmt Bezug auf die Begründung des angegriffenen Bescheides und führt aus, dass sie auch mit Blick auf den stattgebenden Beschluss im Eilverfahren an ihrer Entscheidung festhalte.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 28. März 2022 hat die Kammer Prozesskostenhilfe bewilligt und das Verfahren auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte einschließlich der Akte des Eilverfahrens gleichen Rubrums 5 L 199/22.A und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Einzelrichterin kann im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, vgl. § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">A. Die Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. ist als Anfechtungsklage statthaft. Denn im Fall eines Bescheids, mit dem das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) Asylgesetz (AsylG) als unzulässig abgelehnt hat, ist allein die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO die statthafte Klageart. Eine gerichtliche Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung hat zur Folge, dass das Bundesamt, wenn kein erneutes Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen nachrangig zuständigen Mitglied- oder Vertragsstaat in Betracht kommt, das Verfahren fortführen und eine Sachentscheidung treffen muss.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 9. Januar 2019 - 1 C 36.18 -, juris Rn. 12.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist sie innerhalb der Wochenfrist des §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG erhoben. Der angegriffene Bescheid vom 4. März 2022 wurde den Klägern in der Zentralen Unterbringungseinrichtung U. am 11. März 2022 ausgehändigt; die Klage ist am 17. März 2022 und damit fristgemäß bei Gericht eingegangen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">B. Die Klage ist begründet, denn der Bescheid des Bundesamts vom 4. März 2022 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat die Asylanträge der Kläger zu Unrecht als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG abgelehnt (Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids). Damit sind auch die in den Ziffern 2 bis 4 getroffenen Nebenentscheidungen zu Unrecht ergangen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">I. Rechtsgrundlage für die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des Bundesamtsbescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der sog. Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist). Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß der Dublin III‑VO hat grundsätzlich auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge (vgl. Art. 7 bis 15 Dublin III‑VO) gilt. Stimmt allerdings ein Mitgliedstaat der (Wieder‑)Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe eines der in der Dublin III‑VO genannten Kriterien zu, so ist dieser verpflichtet, den Asylbewerber aufzunehmen; der Asylbewerber hat keinen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">1. Die Dublin III-VO ist anwendbar, da die Kläger ihre Asylanträge nach dem 1. Januar 2014 gestellt haben (vgl. Art. 49 Dublin III-VO).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">2. Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser insbesondere im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Nach Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO finden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in der in Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung. Dabei wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt, Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben vorliegend erstmals am 31. Januar 2022 einen Asylantrag gestellt und zwar nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war das ungarische Schengenvisum, das bis zum 2. Februar 2022 gültig war, noch nicht abgelaufen. Damit bestimmt sich die Zuständigkeit für den Asylantrag nach Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO (vgl. für den Fall, dass das Visum seit weniger als sechs Monaten abgelaufen ist: Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO). Nach dieser Vorschrift ist grundsätzlich der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Entsprechend hat die ungarische Dublin Coordination Unit auf das unter dem 8. Februar 2022 an sie gerichtete Aufnahmegesuch des Bundesamts nach Art. 21 Dublin III-VO am 9. Februar 2022 bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO (in zwei getrennten Erklärungen) das Einverständnis für die Überstellung des Klägers zu 1. sowie für die Klägerinnen zu 2. bis 4. erteilt.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">3. Eine abweichende Zuständigkeit ist auch nicht aufgrund eines vorrangig zu prüfenden Kriteriums des Kapitels III der Dublin III-VO begründet.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Nach Art. 18 Abs. 1 a) Dublin III-VO ist Ungarn damit grundsätzlich verpflichtet, die Kläger nach Maßgabe der Art. 21, 22 und 29 Dublin-III-VO aufzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">4. Die Zuständigkeit Ungarns ist zwischenzeitlich auch nicht entfallen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte ist nicht nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO oder Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags der Antragsteller auf internationalen Schutz zuständig (geworden). Nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, zuständig, wenn er den anderen Mitgliedstaat nicht innerhalb der Fristen des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO um die Aufnahme des Antragstellers ersucht; einschlägig ist hier die Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem das Ersuchen beim Empfänger eingeht, wobei sich dieser regelmäßig aus dem vom "DubliNET"-System ausgestellten Empfangsbekenntnis ergibt,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Beschluss vom 6. September 2017 - 11 A 1810/15.A - juris, Rn. 18 ff.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Das Aufnahmegesuch des Bundesamts, aufgrund dessen die ungarischen Behörden sich bereit erklärt haben, die Kläger aufzunehmen, ist ausweislich des "DubliNET Proof of Delivery" am 8. Februar 2022 und damit innerhalb der frühestens mit Äußerung des Asylbegehrens am 25. Januar 2022 laufenden Dreimonatsfrist bei den ungarischen Behörden eingegangen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Überstellungfrist des Art. 29 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen. Die sechsmonatige Frist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist zwar mit der Erklärung der ungarischen Behörden vom 9. Februar 2022, die Kläger zur Durchführung des Asylverfahrens (wieder) aufzunehmen, in Lauf gesetzt worden. Durch den am 17. März 2022 innerhalb der Wochenfrist des § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz (5 L 199/22.A) ist die Frist aber unterbrochen worden und nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn mit Beschluss des Gerichts vom 24. März 2022 nicht erneut angelaufen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 27. April 2016 - 1 C 22.15 -, juris Rn 20ff und Urteil vom 26. Mai 2016 - 1 c 15.15 -, juris Rn 11f.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Auch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO kann nicht gefolgert werden, dass die Beklagte für die Prüfung der Anträge der Kläger zuständig geworden ist. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beklagte beschlossen hat, die Anträge unter Berufung auf Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu prüfen. Dazu genügt insbesondere nicht, dass sie die Kläger zu 1. und zu 2. nach § 25 AsylG - zusätzlich zur Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit der gestellten Asylanträge - vorsorglich auch zu ihrem Verfolgungsschicksal angehört hat,</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 4 A 759/18.A –, juris.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">5. Die damit grundsätzlich zu Recht von der Beklagten vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat erweist sich allerdings nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III‑VO als rechtswidrig. Nach dieser Vorschrift setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat - hier Ungarn - zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und (bzw. genauer: oder) die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC; ABl. C 83 vom 30. März 2010, S. 389) mit sich bringen. Artikel 4 GRC, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf, hat gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 2010 II, S. 1198).</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. grundlegend zum Begriff der systemischen Mängel: BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - BVerwG 10 B 6.14 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">In diesem Fall kann der Antrag nicht als unzulässig abgelehnt werden, sondern der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat hat weiter zu prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann oder er wird - wie hier - selbst der zuständige Mitgliedstaat, Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 1 und 2 Dublin III-VO.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Für die zu treffende Gefahrenprognose gilt anknüpfend an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK Folgendes:</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des EuGH zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt, Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. grundlegend Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 15. April 2014 - 10 B 17/14 -, juris, Rn. 3 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Gleichgültig ist, ob eine Verletzung des Art. 4 EU-GRCharta zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht. Systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen jedoch nur dann unter Art. 4 EU-GRCharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Die Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Auch kann der bloße Umstand, dass im Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren,</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 ‑ C-163/17 - juris, Rn. 88 ff. und C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - juris, Rn. 81 ff.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben ist die von der Beklagten nach der Dublin III-VO vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat rechtswidrig, weil es sich gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer als unmöglich erweist, die Kläger nach Ungarn zu überstellen. Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage ist die Kammer der Überzeugung, dass den Klägern infolge der angeordneten Abschiebung nach Ungarn dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens (a) und der Aufnahmebedingungen (b) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(a) Systemische Mängel des Asylverfahrens liegen vor, wenn der grundsätzliche Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht gewährleistet ist oder das Asylverfahren selbst so ausgestaltet ist, dass eine inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens nicht gewährleistet ist und diese Mängel den Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Ungarn auch selbst treffen könnten.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris, Rn. 33 ff, 39; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 87ff; Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Systemische Mängel des Asylverfahrens setzen nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie sich nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern objektiv voraussehbar auswirken. Ein systemischer Mangel kann daneben auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem - mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis - faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 89ff.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Nach den vorliegenden Erkenntnissen führen sowohl die asylrechtlichen Regelungen als auch ihre Anwendung in der Praxis dazu, dass Schutzsuchenden mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Zugang zum ungarischen Asylverfahren gewährt wird.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Zum Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 104.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben bislang in Ungarn keinen Asylantrag gestellt. Nach der aktuellen ungarischen Gesetzeslage und den vorliegenden Erkenntnissen wird es ihnen im Rahmen der beabsichtigten Rückführung nach der Dublin III-VO nicht möglich sein, in Ungarn einen Asylerstantrag zu stellen. Es droht vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung ins Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag. Art. 33 Nr. 1 GK enthält das Verbot, einen Flüchtling i.S. des Art. 1 der Konvention "auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde". Im Kontext des Zurückweisungsverbots des Art. 33 GK umfasst der Flüchtlingsbegriff nicht nur diejenigen, die bereits als Flüchtling anerkannt worden sind, sondern auch diejenigen, die die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling erfüllen.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 22. September 2011, Rechtssache C-411/50 -, S. 42, Fn. 48.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich zur Vermeidung einer Verletzung der in der GRC gewährleisteten Rechte auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der GFK und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10, C-493/10 -, Rn. 75, juris und vom 5. September 2012 - C-71/11, C-99/11 -, Rn. 47, juris.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend verpflichtet Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) die Mitgliedstaaten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Nachdem der EuGH die Unterbringung von Asylsuchenden in Transitzonen an der ungarischen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, erließ die ungarische Regierung einen Erlass, mit dem sie ein neues Asylsystem einführte (Government Decree 233/2020), das sogenannte "Botschaftsverfahren". Dieses neue System wurde später in das Übergangsgesetz aufgenommen, das am 18. Juni 2020 in Kraft trat, zunächst bis zum 31. Dezember 2020 befristet war, mittlerweile aber verlängert wurde.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6; Pro Asyl, Pushbacks an der rumänisch-serbischen EU-Außengrenze, 08.02.2022, abgerufen unter https//www.proasyl.de/news am 21.02.2022.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Kernstück des neuen Systems ist als zwingende Voraussetzung für die Stellung eines Asylantrags in Ungarn die Abgabe einer "Absichtserklärung" ("declaration of intent" - DoI) bei der ungarischen Botschaft in Belgrad/Serbien oder Kiew/Ukraine, wobei derzeit kaum etwas dazu bekannt ist, wie sich der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und die andauernden kriegerischen Handlungen auf das "Botschaftsverfahren" auswirken.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, 12.04.2022, S.1 sowie zur aktuellen Situation: Council of Europe, 10.06.2022, Letter by the Council of Europe Commissioner for Human Rights to Sándor Pintér, Minister of the Interior of Hungary, on the long-term protection perspective of third-country nationals and stateless persons while they are unable to return to their country of origin; OMCT - World Organisation Against Torture, 09.05.2022, Article on assistance provided by the Hungarian Helsinki Committee (HHC) to Ukrainian refugees arriving in Hungary; Hungary: Civil society rallies to help refugees from Ukraine.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Nach dem neuen System müssen Personen, die in Ungarn Asyl beantragen wollen, mit Ausnahme einiger weniger Fallgruppen (siehe dazu unten) folgende Schritte durchlaufen, bevor sie ihren Asylantrag registrieren lassen können:</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">- Persönliche Einreichung eines "DoI" bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">- Das "DoI" muss an die Asylbehörde, die NDGAP (National Directorate-General for Aliens Policing), weitergeleitet werden, die es innerhalb von 60 Tagen prüft.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">- Die NDGAP schlägt der Botschaft vor, eine spezielle, einmalige Einreiseerlaubnis</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">für die Einreise nach Ungarn zum Zwecke der Stellung eines Asylantrags zu erteilen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">- Wird die Erlaubnis erteilt, muss die Person allein nach Ungarn reisen und sich nach ihrer Ankunft sofort bei den Grenzbeamten melden.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">- Die Grenzbeamten müssen die Person dann der NDGAP vorstellen.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">- Die Person kann dann ihren Asylantrag bei der NDGAP formell registrieren lassen und damit das offizielle Asylverfahren einleiten.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Je nach Genehmigung des "DoI" erhält der potenzielle Asylbewerber eine spezielle Reiseerlaubnis ausgestellt, die es ihm ermöglicht, nach Ungarn zu reisen und einen Asylantrag zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Nur Personen, die zu den folgenden Kategorien gehören, müssen das oben beschriebene Verfahren nicht durchlaufen:</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">- Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird und die sich in Ungarn aufhalten.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">- Familienangehörige von Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die sich in Ungarn aufhalten.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">- Personen, die Zwangsmaßnahmen, Maßnahmen oder Strafen unterworfen sind, die die persönliche Freiheit beeinträchtigen, außer wenn sie Ungarn auf "illegale" Weise durchquert haben.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Folglich kann kein Schutzsuchender, der an der ungarischen Grenze ankommt oder illegal nach Ungarn einreist oder sich legal in Ungarn aufhält und nicht zu den drei oben genannten Kategorien gehört, in Ungarn Asyl beantragen.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Die Kriterien, nach denen eine Einreiseerlaubnis zum Zwecke der Asylantragstellung von der NDGAP zu erteilen ist, werden nicht benannt.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Fragen, die im Rahmen des "DoI" zu beantworten sind: HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 3.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Das Ungarische Helsinki Komitee berichtet, dass Personen regelmäßig abgewiesen und darüber informiert würden, dass sie auf eine nicht näher definierte "Warteliste" gesetzt seien, um einen Termin zur Abgabe der Absichtserklärung zu erhalten. Einige warteten über 2 Monaten auf diesen Termin. Einige verpassten auch den Termin, da sie kein Englisch sprechen und die Informationen über den Termin per E-Mail auf Englisch verschickt würden, oder weil sie es nicht gewohnt seien, mit E-Mails umzugehen, oder weil sie nicht in der Lage gewesen seien, die Reise zum Termin zu organisieren, da sie in einem Aufnahmezentrum weiter weg von Belgrad untergebracht worden seien. Das Formular "Absichtserklärung" ("DoI") müsse in Englisch oder Ungarisch ausgefüllt werden, ohne dass ein Dolmetscher oder Rechtsbeistand zur Verfügung stehe. Die Entscheidung der NDGAP erfolge ohne Begründung und das Gesetz sehe keinen Rechtsbehelf vor.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.5; HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020; ebenso:.AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 21f, S. 45.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Antragsteller haben in der Phase des "Botschaftsverfahrens" keinen Anspruch auf Einhaltung der in der RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) geregelten (Mindest)Bedingungen für die Aufnahme von Asylsuchenden und sie genießen keinen Schutz; das bedeutet, sie können von den serbischen oder ukrainischen Behörden inhaftiert, ausgewiesen oder abgeschoben werden.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.7.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Nach einem Bericht von Pro Asyl vom 19. November 2021 sind seit der Einführung des sogenannten Botschaftssystems im Mai 2020 drei iranische Familien, bestehend aus zwölf Personen, mit einer Reisegenehmigung der Botschaft in Belgrad nach Ungarn eingereist.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl. Pro Asyl, Ungarn: "Es lohnt sich, den Kampf anzunehmen", abgerufen am 17. Februar 2022 unter <span style="text-decoration:underline">https://www.proasyl.de/news.</span></p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Die Kläger fallen als Dublin-Rückkehrer offensichtlich nicht unter die oben genannten Ausnahmegruppen, die in Ungarn ohne vorheriges "Botschaftsverfahren" einen Asylantrag stellen können. Darauf verweist der AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen vom 01. April 2021 ausdrücklich, und zwar auf S. 45 unter Ziffer 2.7.; dort wird ausgeführt: Wenn eine Person, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt hat, nach der Dublin-Verordnung zurückgeschickt wird, muss er/sie nach der Rückkehr einen Asylantrag stellen, aber die derzeit geltenden Rechtsvorschriften lassen diese Möglichkeit nicht zu. "Dublin-Rückkehrer" zählen nicht zu den Ausnahmen, die im ungarischen Hoheitsgebiet einen Asylantrag stellen dürfen.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Soweit das Bundesamt unter Bezugnahme auf den Beschluss des VG Halle</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">vgl. Beschluss vom 19. April 2021 - 4 B 254/21 HAL -, juris,</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">die Auffassung vertritt, der erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn, ist dies durch die vorliegenden Erkenntnisse widerlegt. Der vom Bundesamt zitierte Beschluss des VG Halle stützt sich im Übrigen auf den AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember <span style="text-decoration:underline">2019</span>, der das am 18. Juni 2020 erstmals in Kraft getretene Botschaftsverfahren noch nicht berücksichtigen konnte.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember <span style="text-decoration:underline">2019</span>, dort die - noch anders lautenden - Ausführungen auf S. 42 unter 2.7. zur Situation der Dublin-Rückkehrer.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Auch das von der ungarischen Dublin Coordination Unit auf das Aufnahmegesuch des Bundesamts unter dem 9. Februar 2022 erklärte Einverständnis zur Überstellung der Kläger führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn die ungarischen Behörden haben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO nur das Einverständnis für die Überstellung der Antragsteller zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") bzw. die Verantwortung für die Übernahme der Antragsteller ("accepts responsibility for taking charge of the applicants") erklärt. Eine belastbare Zusicherung, dass die Kläger den Asylantrag in Ungarn stellen können und dieser unter Einhaltung der einschlägigen europarechtlichen Regelungen während des Aufenthalts der Kläger in Ungarn geprüft wird, beinhaltet diese Erklärung nicht.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Das Bundesamt weist zwar unter Bezugnahme auf den EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97 darauf hin, zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit zur Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, wenn diese nach der Dublin-Überstellung ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten. Es erschließt sich dem Gericht allerdings nicht, ob dies tatsächlich bedeutet, dass Dublin-Überstellte in Ungarn untergebracht werden und das Asylverfahren dort durchgeführt wird oder ob "nur" das Botschaftsverfahren in Gang gesetzt wird. Offensichtlich hält jedenfalls selbst das Bundesamt diese Stellungnahme nur für eingeschränkt belastbar, denn es erläutert im angegriffenen Bescheid, dass Überstellungen gemäß der Dublin-III-VO nur dann durchgeführt würden, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Eine solche Zusicherung ist auf die Remonstration des Bundesamtes vom 2. März 2022 aber im vorliegenden Fall gerade nicht erfolgt. Vielmehr hat die ungarische Dublin Coordination Unit - ausschließlich - für den Kläger zu 1. unter dem 3. März 2022 darauf hingewiesen, dass bereits unter dem 9. Februar 2022 das Übernahmegesuch akzeptiert worden sei; sodann folgt nochmals - wörtlich mit der Erklärung vom 9. Februar 2022 übereinstimmend - die Übernahmeerklärung. Die Frage, ob grundsätzlich der Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz gewährleistet ist, ist entscheidend für die Beurteilung systemischer Mängel des Asylverfahrens</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">und ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Sie kann nicht - wie die Beklagte im angegriffenen Bescheid ausführt - "im Rahmen des Überstellungsprozesses" geklärt werden.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Auch wenn keine Erkenntnisse zu den Auswirkungen des Ukrainekrieges auf das Botschaftsverfahren vorliegen, steht aufgrund der aktuellen Auskunftslage zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich die Lage in Ungarn für Flüchtlinge, die keine ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen, deutlich verschlechtert hat. Ungarn hat zwar in Umsetzung des Beschlusses des Europäischen Rates vom 4. März 2022 angesichts des Massenzustroms von Menschen, die wegen des Krieges aus der Ukraine geflohen sind, einen vorübergehenden Schutz zu gewähren, seine Grenzen für ukrainische Flüchtlinge geöffnet. Das Ungarische Helsinki-Komitee (HHC) berichtet jedoch, dass von den über 600.000 aus der Ukraine nach Ungarn geflüchteten Menschen u.a. wegen des Mangels an Informationen und Unterstützung durch die ungarischen Behörden weniger als 20.000 einen Antrag auf vorübergehenden Schutz gestellt hätten. Weiter berichtet das HHC, dass sich die Situation für Flüchtlinge ohne ukrainische Staatsangehörigkeit verschlechtert habe. Insbesondere könnten sie aufgrund des nicht funktionierenden Asylsystems keinen Antrag auf internationalen Schutz stellen. Die relative Offenheit gegenüber der Ukraine habe nichts an der ungarischen Politik gegenüber anderen Flüchtlingen und Asylbewerbern geändert. Das ungarische Asylsystem sei nach wie vor lückenhaft. Die Grenze zu Serbien, wo es im Jahr 2021 72.000 Zurückweisungen gegeben habe, sei nach wie vor geschlossen. Es sei als ob es sich um zwei verschiedene Welten handle.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. OMCT - World Organisation Against Torture, 09.05.2022, Article on assistance provided by the Hungarian Helsinki Committee (HHC) to Ukrainian refugees arriving in Hungary; Hungary: Civil society rallies to help refugees from Ukraine.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Der Menschenrechtskommissar des Europarates wandte sich mit Blick auf die aktuelle Situation unter dem 10. Juni 2022 an den ungarischen Innenminister Pintér. Er zeigte sich zutiefst besorgt über die Situation von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die von der Regelung des vorübergehenden Schutzes ausgeschlossen seien. Aufgrund des in Ungarn seit September 2015 geltenden Ausnahmezustandes - der sogenannten "Krisensituation wegen Massenmigration" - gebe es keine Möglichkeit, in Ungarn internationalen Schutz oder Asyl zu beantragen. Die Situation zeige die Unzulänglichkeit und Unhaltbarkeit des Rahmens, der derzeit in Ungarn für den Asylbereich gelte. Allein zwischen Januar und März 2022 habe die ungarische Grenzpolizei fast 19.3000 Abschiebungen (sog. Pushbacks) von Personen nach Serbien gemeldet. Obwohl die meisten von ihnen aus kriegsgebeutelten Ländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammten, hätten die Zurückgeschobenen keine Möglichkeit, ihre Abschiebung anzufechten oder in Ungarn internationalen Schutz zu beantragen. Die anhaltende Rhetorik von Regierungsvertretern, Ukrainer als "echte Flüchtlinge" zu bezeichnen und diejenigen, die vor Gräueltaten und Krieg in anderen Ländern fliehen, als Wirtschaftsmigranten darzustellen, sei bedauerlich und besonders problematisch, da es in Ungarn kein faires und wirksames Asylverfahren gebe, das gerade die Aufgabe hätte, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Schutzbedürfnis bestehe.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Vgl. Council of Europe, 10.06.2022, Letter by the Council of Europe Commissioner for Human Rights to Sándor Pintér, Minister of the Interior of Hungary, on the long-term protection perspective of third-country nationals and stateless persons while they are unable to return to their country of origin</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von dem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch das ungarische Asylrecht ausgeschlossenen Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz dürfte das neue Asylsystem auch die vom EuGH bereits hinsichtlich der Transitzonen gerügte Praxis der automatischen und rechtswidrigen Inhaftierung von Schutzsuchenden fortsetzen,</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">vgl. insoweit vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19 PPU, C-925/19 PPU -, juris Rn 267ff,</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">denn es sieht vor, dass die Asylbehörde nach der Registrierung des Asylantrags (nach der Ankunft des Asylbewerbers in Ungarn, nachdem ihm aufgrund seiner "Absichtserklärung" ein spezielles einmaliges Einreisedokument erteilt wurde) eine Entscheidung über die Unterbringung des Antragstellers "in einer geschlossenen Einrichtung" trifft. Ähnlich wie bei den Unterbringungsentscheidungen in den - nach dem Urteil des EuGH geschlossenen - Transitzonen gibt es gegen die gesetzlich festgelegte besondere Art der Entscheidung (ungarisch: végzés) über die automatische Unterbringung der Antragsteller "in einer geschlossenen Einrichtung" keinen Rechtsbehelf. Der automatische vierwöchige Gewahrsam betrifft auch unbegleitete Minderjährige unter vierzehn Jahren.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Vgl. HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 5.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellte Antragsteller nicht "in einer geschlossenen Einrichtung" untergebracht werden.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">(b) Schließlich steht nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage zur Überzeugung der Kammer fest, dass den Klägern in Ungarn darüber hinaus aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen würde. Nach der Rechtsprechung des EuGH</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">vgl. Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">ist insoweit bereits im Dublin-Verfahren grundsätzlich auch die Situation eines Antragstellers im Falle des Abschlusses des Asylverfahrens durch Zuerkennung von internationalem Schutz zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Für die anerkannt Schutzberechtigten hat die Kammer bereits entschieden, dass jedenfalls für die Situation der Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs in aller Regel nicht davon auszugehen ist, dass sie die für die Schaffung adäquater, menschenwürdiger Lebensverhältnisse in Ungarn erforderliche besondere Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit aufbringen und ihren Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau für den zugrunde zulegenden zeitlich erweiterten Prognosespielraum durch Arbeit sicherstellen können werden.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Vgl. Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris mit Nachweisen zur Erkenntnislage.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich ist dabei eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls um das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl. BayVGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 - 20 ZB 19.31553 -, juris Rn 10.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Zum vorliegend in den Blick zu nehmenden Familienverband</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 15; ebenso Bay VGH, Beschluss vom 3. Februar 2020 - 13a ZB 19.33975 -, juris, Rn. 4</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">der Kläger zu 1. bis 4. gehören vulnerable Personen und zwar die fünfjährige Klägerin zu 3. und die dreijährige Klägerin zu 4. Für die Beurteilung der Frage, ob ein Antragsteller der Gruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen ist, kann Art. 20 Abs. 3 der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) als Orientierungshilfe herangezogen werden. Danach sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, zu berücksichtigen. Auch dabei kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalls an.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Nach der Erkenntnislage steht fest, dass die Suche nach einer geeigneten menschenwürdigen Unterkunft für eine vierköpfige Familie - nach zu unterstellender Gewährung von internationalem Schutz - ohne staatliche Hilfe und ohne Einkommen überaus schwierig bis aussichtslos sein wird. Es fehlt an der notwendigen Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geforderten Niveau, da weder staatliche Unterbringungs- oder Unterstützungsleistungen noch hinreichend gesicherte Leistungen privater Organisationen für anerkannt Schutzberechtigte zur Verfügung stehen. Die Familie wäre also völlig auf sich selbst gestellt. Nach Auswertung der aktuell zur Verfügung stehenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die in Ungarn noch tätigen NGOs und sonstigen Hilfsorganisationen allenfalls alleinstehenden Männern und in Ausnahmesituationen alleinstehenden Frauen eine vorübergehende Unterbringungsmöglichkeit bieten können, aber nicht Familien und Paaren mit Kindern. Mit den ihnen aktuell noch zur Verfügung stehenden Mitteln können die zivilen Organisationen nach den vorliegenden Erkenntnissen den Bedarf der aktuell in Ungarn befindlichen anerkannten Schutzberechtigten nicht mehr decken. Gleiches gilt für die Sicherung des Lebensunterhalts. Aufgrund der geringen Zahl von Langzeitzuwanderern in Ungarn haben sich auch keine Zuwanderergemeinschaften gebildet, jedenfalls keine muslimisch geprägten, von denen die Kläger Unterstützung erhalten könnten und die das in Ungarn für eine soziale Absicherung wichtige - Schutzberechtigten typischerweise fehlende - familiäre Netzwerk ersetzen könnten. Irgendwelche Kontakte der Kläger zu in Ungarn befindlichen Personen, die sie unterstützen könnten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn es gelingen sollte, die Familie für eine gewisse Übergangszeit vorübergehend unterzubringen und zu versorgen und dies mit Blick auf die beiden Kleinkinder im Alter von fünf und drei Jahren für ausreichend und zumutbar erachtet würde - was nicht der Fall sein dürfte -, ist es zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es den Klägerin zu 1. und zu 2. gelingen wird, für den in den Blick zu nehmenden erweiterten Prognosespielraum</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40; VG Dresden, Beschluss vom 7. September 2021 - 12 L 893/20.A - juris, Bl. 8f.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">den Lebensunterhalt der vierköpfigen Familie zumindest auf einem Niveau sicher zu stellen, das eine existenzielle Notlage ausschließen wird. Da nach den dargelegten Erkenntnissen weder bedarfssichernde Sozialleistungen des ungarischen Staates existieren bzw. erreichbar sind noch hinreichend gesicherte Leistungen von NGOs bzw. kirchlichen Organisationen,</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu im Einzelnen: Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">wird die Familie den Lebensunterhalt ausschließlich durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen müssen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und zu 2. eine Arbeit finden werden, aus deren Einkünften dieser ‑ schon allein wegen der Notwendigkeit einer kindgerechten Unterbringung ihrer Töchter im Alter von drei und fünf Jahren deutlich erhöhte - Bedarf der Familie im Sinne eines absoluten Existenzminimums gedeckt werden kann. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Kläger zu 1. und 2. allein aufgrund der Sprachprobleme auf dem coronabedingt veränderten und angespannten ungarischen Arbeitsmarkt in naher Zukunft keine Chance haben werden, ein Einkommen zu erwirtschaften, das die menschenwürdige Unterbringung und die Versorgung der vierköpfigen Familie sicherstellen könnte. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der mittlerweile u.a. infolge des Ukrainekrieges zu verzeichnenden Inflation, die für Ungarn derzeit mit 11,67 % angegeben wird.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Vgl. Angabe für Juni 2022, abgerufen unter <span style="text-decoration:underline">www.global-rates.com</span>, Inflation auf der Grundlage des Verbraucherpreisindex, kurz VPI onder CPI genannt. Der ungarische VPI gibt eine Preisentwicklung eines Standardpakets an Waren und Dienstleistungen, die ungarische Haushalte zu Konsumzwecken anschaffen, wieder.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin zu 2. wird aufgrund ihrer Sprachschwierigkeiten, ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit und ihrer eingeschränkten Einsatzfähigkeit als Mutter von zwei Kleinkindern, nicht auf dem Arbeitsmarkt bestehen können, zumindest nicht in den Bereichen, die anerkannt Schutzberechtigten in erster Linie offenstehen (Baugewerbe, Gastronomie und Tourismus).</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den - aufgrund der soziokulturellen Unterschiede im Vergleich zu ungarischen Frauen - schlechteren Chancen geflüchteter Frauen, einen Arbeitsplatz zu finden: NIEM Policy Briefs 2: Vulnerabilität und Diskriminierung bei der Beschäftigung von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 14; zur Auswirkung der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie: NIEM Policy Briefs 6: Ressourcen und Strategien für die erfolgreiche soziale Integration von muslimischen Frauen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Auch der Kläger zu 1. wird allenfalls im untersten Lohnsektor etwa im Baugewerbe eine Arbeit finden können, die es ihm sicher nicht ermöglichen wird, den erhöhten Mindestunterhalt der Familie zu decken.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus wird den Klägern zu 1. und zu 2. die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wegen der erforderlichen Betreuung der zwei minderjährigen Kinder, für die im ungarischen Bildungssystem - wenn überhaupt - nur sehr eingeschränkte Kapazitäten zur Verfügung stehen, nur in beschränktem zeitlichem Umfang möglich sein.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Betreuungssituation schulpflichtiger Kinder (also Kinder zwischen 6 und 16 Jahren): AIDA, Country Report: Hungary, 01. April 2021, S. 129; RESPOND, Paper 2020/43, S. 25; danach ist kaum eine Schule bereit, die spezielle Betreuung und Unterstützung anzubieten, die Flüchtlingskinder benötigen; wegen der wachsenden flüchtlingsfeindlichen Stimmung und aus Angst Eltern oder Spender zu verlieren, akzeptieren einige Schulen Kinder von Migranten nur in getrennten Klassen, ohne ein sinnvolles pädagogisches Programm und nur für zwei Stunden pro Tag im Gegensatz zu ungarischen Kindern, die fünf bis sieben Stunden pro Tag in der Schule verbringen.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Angesichts der dargestellten Schwierigkeiten für die Familie der Kläger, ihre elementaren Grundbedürfnisse durch eigene Erwerbstätigkeit auf Dauer zu sichern, kann eine Überstellung nach Ungarn ohne belastbare individuelle längerfristige Versorgungszusicherung des ungarischen Staates nicht erfolgen. Eine solche Zusicherung liegt hier nicht vor. Eine Unterstützung seitens NGOs oder kirchlicher Organisationen in einem entsprechenden Umfang und mit gesicherter, längerfristiger Perspektive ist in Ungarn aktuell nicht (mehr) gewährleistet.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Nach allem ist die in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids getroffene Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">II. Die unter Ziffer 2. des Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist bei Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung jedenfalls verfrüht ergangen. Das Bundesamt ist vorliegend zunächst verpflichtet, die Asylanträge der Kläger materiell zu prüfen, denn ein erneutes Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen nachrangig zuständigen Mitglied- oder Vertragsstaat kommt hier ersichtlich nicht in Betracht. Eine Entscheidung über Abschiebungsverbote kann sachgemäß erst nach Abschluss der Asylverfahren erfolgen und insoweit auch nur in Bezug auf den (Heimat-)Staat, in den abgeschoben werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris, Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">III. Die unter Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids verfügte Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 Sätze 1 und 3 AsylG ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt u.a. dann, wenn ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, ohne vorherige Androhung und Fristsetzung die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Da aus den oben genannten Gründen Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig ist, lässt sich auch die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nicht auf § 34 a Abs. 1 AsylG stützen.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">IV. Schließlich ist die in Ziffer 4. des Bundesamtsbescheids enthaltene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG nach alledem gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.</p>
|
346,090 | ovgnrw-2022-07-21-7-a-115921 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 A 1159/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-06T10:01:07 | 2022-10-17T17:55:42 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7A1159.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 20.003,45 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das fristgemäße Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Festsetzung des Zwangsgeldes in Höhe von 10.000,00 Euro vorgelegen hätten.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht verwechsele die Grundverfügung mit der Zwangsgeldfestsetzung, mit der Versiegelung des Hauses X.-straße 46a seit dem 4.11.2020 hätte sich die Festsetzungsverfügung erledigt, die Beugefunktion der angefochtenen Verfügung sei entfallen, der mit ihr verfolgte Zweck erreicht, das Zwangsgeld werde zu einer reinen Sanktion, was nach dem Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13.8.2015 - 5 K 4117/14 -, juris, unzulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Rüge greift nicht durch. Bei einem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot kann ein Zwangsgeld auch dann festgesetzt und beigetrieben werden, wenn eine weitere Zuwiderhandlung wegen Fristablaufs oder Erledigung der Verfügung nicht mehr möglich ist. Entscheidend ist allein, dass der Verstoß gegen die vollziehbare Ordnungsverfügung nach der Androhung und während der Zeit, in der das Verbot noch galt, erfolgt ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.9.1992 - 4 A3840/91 -, NVwZ-RR 1993, 671 = juris, m. w. N; Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.; Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 13 Rn. 121.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier der Fall. Der Kläger ist der ihm mit bestandskräftiger Ordnungsverfügung vom 16.1.2014 aufgegebenen Verpflichtung, jegliche Nutzung des Gebäudes X.-straße 46a zu unterlassen, innerhalb der ihm eingeräumten Frist nicht nachgekommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Festsetzungsverfügung hänge von der Auslegung des Begriffs "Gestattung der gebotenen Handlung" in § 60 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz VwVG NRW ab. § 60 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz VwVG NRW schränkt den ersten Halbsatz ein und bestimmt, dass ein Zwangsgeld (jedoch) beizutreiben ist, wenn der Duldungs- oder Unterlassungspflicht zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgeldes erreicht werden sollte. Mit der Einfügung des zweiten Halbsatzes in § 60 Abs. 3 Satz 2 VwVG NRW sollte klarstellend die schon zuvor bestehende ständige Rechtsprechung bestätigt werden, nach der ein Zwangsgeld auch dann noch festgesetzt und beigetrieben werden konnte, wenn gegen ein Unterlassungsgebot mit Zwangsgeldandrohung verstoßen wurde, ein weiterer Verstoß gegen die Ordnungsverfügung aber nicht mehr möglich war.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand, das Zwangsgeld sei das falsche Zwangsmittel, dies ergebe sich aus dem Senatsbeschluss vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20 -, in dem das Oberverwaltungsgericht ausgeführt habe, der wegen des unzureichenden Brandschutzes bestehenden akuten Gefahr für Leib und Leben der sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen könne "nur durch die Räumung des Gebäudes begegnet werden", greift ebenso wenig durch. Ein Zwangsgeld ist nicht erst dann geeignet, wenn es mit Sicherheit den Willen des Pflichtigen beugt und ihn dazu bringt, das ihm Aufgegebene zu tun. Erst wenn bei objektiver Betrachtung unter keinen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass es den Betroffenen zu dem verlangten Tun, Dulden oder Unterlassen bewegen wird, ist es ungeeignet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 9 Rn. 42, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Zwangsgeldfestsetzung vom 17.9.2019 durfte die Beklagte (noch) davon ausgehen, dass der Kläger sich durch diese beeindrucken lassen und zukünftig pflichtgemäß verhalten wird. Streitgegenstand des Senatsbeschlusses vom 2.11.2020 war die spätere Festsetzung unmittelbaren Zwangs in Form der Versiegelung der Räumlichkeiten und des Austauschs der Schlösser/Schließanlage des Gebäudes X.-straße 46a mit Bescheid der Beklagten vom 22.10.2020, nachdem der Kläger - trotz der hier angefochtenen Festsetzungsverfügung vom 17.9.2019 - seiner Verpflichtung aus der Nutzungsuntersagungsverfügung nicht nachgekommen war. Das Verwaltungsgericht hat sich mit seinem Urteil deshalb auch nicht von der Rechtsprechung des Senats "distanziert".</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen, die Nutzungsuntersagungsverfügung sei nicht nur auf die formelle Illegalität gestützt, ihre Durchsetzung sei unverhältnismäßig, es werde auch die genehmigte Nutzung des Gebäudes als Schule untersagt, wegen der durch die Beklagte arglistig erschlichenen Bestandskraft sei die Nutzungsuntersagungsverfügung zwingend nichtig, das untragbare Verhalten der Beklagten sei stets von einer rechtswidrigen Aneignungsabsicht geleitet gewesen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auf die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung kommt es im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht an; Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung (vgl. § 44 VwVfG NRW) hat der Kläger nicht im Sinne des Gesetzes dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen rechtfertigt das Vorbringen des Klägers auch nicht die Annahme, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Der Kläger hat keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist auch nicht wegen einer Divergenz i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Aus den vorstehenden Gründen ist nicht i. S. d. Gesetzes dargelegt, dass das angegriffene Urteil auf einer Abweichung von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20, 7 B 1649/20, 7 B 1650/20, 7 B 1651/20, 7 B 1652/20 sowie 7 B 1653/20 - beruht.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht sei wegen einer fehlenden Inaugenscheinnahme nicht in der Lage gewesen, anhand der lückenhaften Akte festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Gebäude um die mit dem Bauschein (vom 17.7.1958) genehmigte Nähschule handele, mit der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages habe das Verwaltungsgericht den Verfahrensfehler unvollständiger Aufklärung des Sachverhaltes begangen, das Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensfehler, hätte das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme durchgeführt, hätte es erkannt, dass die Durchsetzung der Nutzungsuntersagung unverhältnismäßig sei. Es bedurfte hier indes keiner Beweiserhebung. Die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung ist - wie ausgeführt - nicht Streitgegenstand dieses Verfahrens. Ungeachtet dessen ist eine etwa mit Bauschein vom 17.7.1958 genehmigte Nutzung als "Nähschule mit Wirtschaftsraum" durch die Wohnnutzung erloschen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung des Beweisantrages, der darauf gerichtet war, zur Genehmigungsfähigkeit der streitgegenständlichen Nutzung - insbesondere zur Brandsicherheit - ein Sachverständigengutachten einzuholen, begründet ebenfalls keinen Verfahrensfehler. Die materielle Genehmigungsfähigkeit einer Wohnnutzung ist für die streitgegenständliche Zwangsgeldfestsetzung aus den vorstehenden Gründen irrelevant.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p>
|
346,089 | ovgnrw-2022-07-21-6-a-259920 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 A 2599/20 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-06T10:01:06 | 2022-10-17T17:55:42 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.6A2599.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das angefochtene Urteil wird geändert.</p>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht das beklagte Land vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger steht als Polizeioberkommissar im Dienst des beklagten Landes und ist bei der Polizeiwache M. im Wechselschichtdienst tätig. Ferner war und ist er Ratsherr im Rat der Stadt C. .</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 15.12.2015 beantragte der Kläger bei dem beklagten Land eine Stundengutschrift für seine Tätigkeit als Ratsherr im Rat der Stadt C. nach dem Gesetz zur Stärkung des kommunalen Ehrenamtes, von welchem er erst kürzlich Kenntnis erlangt habe. Seine langjährige Ratstätigkeit sei bei der Kreispolizeibehörde M1. bekannt. Wie in dem Schreiben angekündigt, reichte er im Juni 2016 eine Auflistung der für das Ratsmandat in den Jahren 2013 bis 2015 aufgewendeten Zeiten von insgesamt 71,45 Stunden nach. Bei dieser Auflistung habe er nur Mandatstätigkeiten bis maximal 20.00 Uhr berücksichtigt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Im September 2016 und im August 2018 erkundigte sich der Kläger nach dem Stand des Verfahrens. Gleichzeitig legte er eine Auflistung der Stunden vor, die er in den Jahren 2016 und 2017 für sein Ehrenamt jeweils bis 20.00 Uhr aufgewendet habe. Für das Jahr 2016 gab er 38,00 Stunden und für 2017 47,55 Stunden an.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 20.11.2018 lehnte das beklagte Land den Antrag des Klägers auf Stundengutschrift ab. Zur Begründung führte es aus, dass das Gesetz zur Stärkung des kommunalen Ehrenamtes vom 18.9.2012 unter anderem den § 44 GO NRW geändert habe, sodass den Mandatsträgern, die innerhalb eines vorgegebenen Arbeitszeitrahmens über Lage und Dauer der individuellen Arbeitszeit selbst entscheiden könnten, die Zeit der Ausübung des Mandats innerhalb dieses Arbeitszeitrahmens zur Hälfte auf die Arbeitszeit anzurechnen sei. Mit Erlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales (MIK) vom 29.1.2013 sei darauf hingewiesen worden, dass Mandatstätigkeiten, soweit diese im Rahmen der flexiblen, individuell bestimmbaren Arbeitszeit innerhalb des entsprechend § 14 Abs. 2 AZVO jeweils festgelegten Arbeitszeitrahmens ausgeübt würden, zur Hälfte auf die Arbeitszeit durch Gutschrift auf dem Arbeitszeitkonto anzurechnen seien. Das MIK habe auf Nachfrage ergänzend ausgeführt: „Schichtarbeit ist Festarbeitszeit, keine Gleitzeit. Im Unterschied zur normalen Festarbeitszeit wechseln die Arbeitszeiten im Wochenrhythmus. Fallen Ratssitzungen in die Schicht, gibt es einen Freistellungsanspruch. Führt dies dazu, dass zwangsläufig und objektiv unvermeidbar die gesamte Schicht versäumt wird, erfasst der Verdienstausfall auch diese Zeiten. Insofern gibt es keinen Unterschied zu anderen Arbeitnehmern mit festen Arbeitszeiten.“ In der Drucksache 16/48 des Landtages NRW zu dem Gesetz zur Stärkung des kommunalen Ehrenamtes vom 13.6.2012 werde ausgeführt, dass der Gesetzentwurf eine abschließende Ausgleichsregelung für alle Formen von Arbeitsverhältnissen mit unregelmäßigen Arbeitszeiten wie z. B. Schichtdienst nicht enthalte. Zudem habe der Petitionsausschuss entschieden, dass die Gewährung eines Stundenausgleichs für die Wahrnehmung eines kommunalen Ehrenamtes für Bedienstete, die im Schichtdienst tätig seien, rechtswidrig sei. Ausnahmen gebe es nur für sehr kurzfristige Mandatstermine, die innerhalb der bereits verbindlich geplanten Schicht anfielen. Im Übrigen gelte nach wie vor der Erlass zum dezentralen Schichtdienstmanagement (DSM) des Innenministeriums NRW vom 25.6.2002 (41.2 – 3025). Hiernach hätten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wachdienstes der Polizei, die zugleich politische Mandate inne hätten, die Möglichkeit, ihre persönliche Dienstzeit den Erfordernissen des Mandats entsprechend vorzuplanen. Die beantragte Stundengutschrift werde daher abgelehnt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 17.12.2018 Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, er habe einen Anspruch auf Anrechnung der Zeit der Ausübung des Mandats zur Hälfte auf seine Arbeitszeit gemäß § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW. Das Gesetz verlange nicht, dass die begünstigten Beamten der Arbeitszeitregelung des § 14 Abs. 2 AZVO unterfielen. Vielmehr sei nur erforderlich, dass die Mandatsträger innerhalb eines vorgegebenen Arbeitszeitrahmens über Lage und Dauer der individuellen Arbeitszeit selbst entscheiden könnten. Das sei bei ihm der Fall. Er plane seine Dienste im dezentralen Schichtdienstmanagement. Das bedeute, er könne selbst planen, ob er an einem gewissen Tag Früh-, Spät- oder Nachtschicht versehe. Der vorgegebene Arbeitszeitrahmen, innerhalb dessen er seine Arbeitszeit flexibel einteilen könne, sei der ganze Tag, von 0:00 bis 24:00 Uhr, weil die drei Schichten zusammen genommen den gesamten Tag abdeckten. Ihm seien nur die Dauer der Früh-, Spät- und Nachtschicht vorgegeben. Auch nach Sinn und Zweck der Regelung sei seine Tätigkeit von § 44 GO NRW erfasst. Grundsätzlich seien Ratsmitglieder von der Arbeit freizustellen, soweit es die Ausübung des Mandates erfordere. Dieser Freistellungsanspruch laufe aber bei Tätigkeiten mit flexiblen Arbeitszeiten ins Leere, weil der Beamte seine Arbeitszeit so wählen müsse, dass die Ratstätigkeit nicht in die Arbeitszeit falle. In diesem Fall habe der Beamte keine Möglichkeit, einen Freistellungsanspruch geltend zu machen. Er müsse vielmehr seine Arbeitsverpflichtung im Voraus erbringen oder sie nachholen. § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW sei gerade geschaffen worden, um diese Benachteiligung auszugleichen. Er, der Kläger, befinde sich in einer solchen von der Norm in den Blick genommenen Situation. Er könne und müsse seine Dienste in Kenntnis der Ratstermine planen. Daher könne er nur sehr eingeschränkt von dem Freistellungsanspruch profitieren. Dies sei nur möglich, wenn ein Ratstermin erst nach verbindlicher Planung der Schicht bekannt werde. Seiner Klagebegründung hat der Kläger eine um 81,23 Stunden ergänzte Auflistung von Zeiten seiner Mandatsausübung im Zeitraum 2013 bis 2017 beigefügt, die nunmehr auch solche Zeiten der Mandatstätigkeiten nach 20.00 Uhr umfasse.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides des Landrats als Kreispolizeibehörde M1. vom 20.11.2018 zu verpflichten, seinem Arbeitszeitkonto für Zeiten, die er für die Ausübung seines Mandats als Ratsmitglied der Stadt C. in den Jahren 2013 bis 2017 aufgewandt habe, 119,5 Stunden gutzuschreiben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat es die Gründe des ablehnenden Bescheides wiederholt und ergänzend ausgeführt, die Vorschrift des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW sei im Fall des Klägers nicht anwendbar. Dieser arbeite nicht innerhalb eines vorgegebenen Arbeitszeitrahmens, sondern in einem Schichtmodell mit grundsätzlich festgelegten Schichtzeiten. Im Übrigen sei eine pauschale Anrechnung der Zeiten der Mandatsausübung auf die Arbeitszeit auch nicht Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Durch Urteil vom 13.8.2020 hat das Verwaltungsgericht das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheids vom 20.11.2018 verpflichtet, von der Zeit, die der Kläger in den Jahren 2013 bis 2017 für die Ausübung seines Mandats aufgewandt hat, 119,5 Stunden auf seine Arbeitszeit anzurechnen. Der Anspruch des Klägers auf hälftige Anrechnung der Zeit der Ausübung des Mandates auf seine Arbeitszeit ergebe sich aus § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW. Der Kläger sei Mandatsträger und könne sich auch als Beamter auf die Vorschrift berufen. Dem stehe insbesondere nicht § 72 Abs. 3 LBG NRW entgegen, weil es sich insoweit um keine abschließende vorrangige Spezialregelung handele. § 72 Abs. 3 LBG NRW und § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW regelten unterschiedliche Sachverhalte, sodass die Normen nebeneinander anwendbar seien. Ebenso seien die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der Anrechnungsnorm erfüllt. Der Kläger könne, wie in § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW vorgesehen, innerhalb eines vorgegebenen Arbeitszeitrahmens über Lage und Dauer der individuellen Arbeitszeit selbst entscheiden. Der Kläger sei im Schichtdienst im Sinne des § 2 Nr. 5 AZVOPol tätig. Danach seien über einen Zeitraum von vier Monaten unter Beachtung der Vorgaben aus § 19 der Verordnung Schichtdienste so zu leisten, dass sich im Durchschnitt eine wöchentliche Arbeitszeit von 41 Stunden ergebe. Der Arbeitszeitrahmen ergebe sich aus diesem Viermonatsturnus. Bei der Gestaltung der Schichtpläne werde offensichtlich Rücksicht auf die Wünsche der Beamten genommen, sodass auch ein Mitentscheidungsrecht über Lage und Dauer der individuellen Arbeitszeit zu bejahen sei. Soweit das beklagte Land unter Bezugnahme auf den Erlass des MIK vom 29.1.2013 ausgeführt habe, dass sich der in § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW genannte Arbeitszeitrahmen aus § 14 Abs. 2 AZVO ergebe und zwischen 6.30 Uhr und 20.00 Uhr liege, finde sich eine entsprechende Einschränkung im Wortlaut der Norm nicht wieder. Lediglich in dem Erlass, der den Anwendungsbereich des Parlamentsgesetzes nicht einschränken könne, werde Bezug auf die AZVO genommen, die überdies für den Kläger keine Anwendung finde. Im Übrigen sprächen auch Sinn und Zweck der Vorschrift für eine großzügige Auslegung des Tatbestandsmerkmals. Ziel der im Jahr 2012 erfolgten Gesetzesänderung sei die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung kommunaler Ehrenämter gewesen. Auch aus der Gesetzesbegründung ergebe sich, dass der Gesetzgeber alle Arbeitnehmer mit regelmäßiger Arbeitszeit in den Genuss der hälftigen Anrechnung der für das Mandat aufgewendeten Zeit habe kommen lassen wollen. Zu diesen Arbeitnehmern gehörten auch Polizeivollzugsbeamte, die im Schichtdienst tätig seien. Dem Anspruch stünden auch keine Einwendungen entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land hat am 21.9.2020 gegen das ihm am 25.8.2020 zugestellte Urteil die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und diese am 26.10.2020 - einem Montag - und 3.8.2021 begründet. Es wiederholt sein erstinstanzliches Vorbringen und trägt ergänzend im Wesentlichen vor: Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Zeitgutschrift nach § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW. Die Norm diene dazu, Beschäftigten, die in einem Gleitzeitrahmen arbeiteten, einen gewissen Ausgleich für die verlorene Flexibilität zukommen zu lassen. Ein Beschäftigter, der, wie der Kläger, im Schichtdienst arbeite, möge im Rahmen der Dienstplanaufstellung gewisse Mitentscheidungsbefugnisse haben, sodass der Eindruck von flexibler Arbeitszeit entstehen könnte. Faktisch seien die konkreten täglichen Arbeitszeiten jedoch vorgegeben. Es stehe fest, wann der Früh-, Spät- und Nachtdienst beginne und ende. Einen Gleitzeitrahmen gebe es nicht. Bei dem in § 2 Nr. 6 AZVOPol definierten Wechselschichtdienst handele es sich um einen Schichtdienst nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in wechselnden Arbeitsschichten vorsehe, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet werde. Beamte im Wechselschichtdienst müssten nach den Vorgaben des Landes ihren Dienst in drei zeitlich festgelegten Schichten versehen, die Teil einer 24-stündigen Einsatzbereitschaft seien. Die planmäßige Dauer der jeweiligen Schicht betrage für den Spät- und Nachtdienst 8,5 Stunden und für den Frühdienst ca. 6 Stunden. Die jeweiligen Beamten würden zu jeder Schicht herangezogen. In Abgrenzung dazu nenne § 2 Nr. 12 AZVOPol als weitere Form der möglichen Arbeitsleistung die flexible Arbeitszeit, bei der die Polizeivollzugsbeamten innerhalb eines vorgegebenen Arbeitszeitrahmens über Lage und Dauer der individuellen täglichen Arbeitszeit selbst entscheiden könnten. Bereits aus der Systematik der Verordnung sei erkennbar, dass flexible Arbeitszeit etwas anderes sei als Schichtdienst. Dies werde durch § 16 Abs. 1 AZVOPol bestätigt, wonach § 23 AZVOPol, welcher auf die Normen der AZVO zur flexiblen Arbeitszeit verweise, auf diejenigen Polizeivollzugsbeamten nicht anwendbar sei, die im Schichtdienst ihren Dienst verrichteten. Dementsprechend gebe es entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auch eine § 14 Abs. 1 und 2 AZVO entsprechende Regelung in der AZVOPol. Darüber hinaus sei es keineswegs so, dass die von den Polizeivollzugsbeamten geäußerten Wünsche über die individuelle Lage der zu leistenden Arbeitsschichten vollumfänglich umgesetzt würden. Vielmehr könne dies nur einzelne Schichten im Ausnahmefall betreffen, da der Dienstbetrieb als solcher aufrechterhalten werden müsse.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Er führt zur Begründung aus, entgegen der Darstellung des beklagten Landes könne er nicht nur in Bezug auf einzelne Schichten, sondern in aller Regel frei bestimmen, in welcher Schicht er den Dienst versehen wolle. Zwar müsse der Dienstbetrieb aufrechterhalten werden. Allerdings gelinge dies im Regelfall dadurch, dass die Beamten einer Dienstgruppe sich für unterschiedliche Dienste eintrügen. Gerade dann, wenn ein Beamter wegen der Ausübung eines Ratsmandates eine bestimmte Schicht besetzen oder an einem Tag dienstfrei haben wolle, werde den entsprechenden Wünschen stets entsprochen. Dazu dürfte der Dienstherr bereits aufgrund des Fürsorgeprinzips verpflichtet sein. Zudem würde es dem Dienstherrn nichts bringen, ihn bei Unterbesetzung einer Schicht zu verpflichten, die Schicht wahrzunehmen, weil er aufgrund seiner Ratstätigkeit einen Freistellungsanspruch hätte. Würde es ausreichen, dass alleine die Möglichkeit bestehe, Einschränkungen bei der Arbeitszeitgestaltung vorzunehmen, so hätte § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW keinen Anwendungsbereich, weil eine entsprechende Möglichkeit bei zwingenden dienstlichen/arbeitstechnischen Gründen grundsätzlich für den Arbeitgeber/Dienstherrn bestehe. Entscheidend sei daher, wie sich die Arbeitszeit/Dienstzeit im Regelfall gestalte. Im Regelfall könne er, wie dargestellt, über die Lage seiner Schichten frei verfügen. Da die Schichten eine unterschiedliche Dauer aufwiesen, könne er durch die Wahl der Schicht auch über die Dauer seiner Arbeitszeit entscheiden. Damit sei sein Fall sowohl vom Wortlaut der Norm, der entgegen der Ausführungen des beklagten Landes nicht zwischen Schichtdienst und flexibler Arbeitszeit unterscheide, als auch dessen Zweck, die Mandatsübernahme durch die Möglichkeit entsprechender Zeitgutschriften attraktiver zu machen, umfasst. In gleicher Weise, wie es für einen in Gleitzeit beschäftigten Mitarbeiter einen - durch § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW auszugleichenden - Nachteil darstelle, seine Arbeitszeit im Rahmen der Gleitzeit aufgrund der Mandatstätigkeit nicht mehr völlig frei festlegen zu können, stelle es für ihn - den Kläger - einen Nachteil dar, dass er aufgrund seiner Mandatstätigkeit die Wahl seiner dienstfreien Tage und die Wahl der Schichten, in denen er arbeite, nicht mehr frei vornehmen könne.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung des beklagten Landes ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung des beklagten Landes, ihm 119,5 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto für Zeiten gutzuschreiben, die er für die Ausübung seines Mandats als Ratsmitglied der Stadt C. in den Jahren 2013 bis 2017 aufgewandt hat.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">I. Ein Anspruch des Klägers auf eine entsprechende Zeitgutschrift ergibt sich nicht aus § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 GO NRW sind unter anderem Ratsmitglieder für die Zeit der Ausübung des Mandats von ihrer Tätigkeit freizustellen. Nach Satz 4 der Norm ist bei Mandatsträgern, die innerhalb eines vorgegebenen Arbeitszeitrahmens über Lage und Dauer der individuellen Arbeitszeit selbst entscheiden können, die Zeit der Ausübung des Mandats innerhalb dieses Arbeitszeitrahmens zur Hälfte auf ihre Arbeitszeit anzurechnen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Anwendung des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW steht zwar nicht bereits entgegen, dass der Kläger Beamter des beklagten Landes ist (1). Die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm liegen jedoch nicht vor (2).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">1. Der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW erfasst auch Beamte. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs auf Arbeitnehmer in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis lässt sich weder dem Wortlaut der Norm, dessen Sinn und Zweck noch den Gesetzesmaterialien oder der Gesetzessystematik entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Wortlaut selbst nimmt in personeller Hinsicht keine Einschränkungen vor, sondern erfasst alle kommunalen Mandatsträger, die in einem vorgegebenen Arbeitszeitrahmen über ihre Arbeitszeit flexibel entscheiden können, unabhängig davon, ob dies in einem privatrechtlichen Arbeits- oder öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der sich aus den Gesetzesmaterialien ergebende Sinn und Zweck der Norm spricht ebenfalls für deren Anwendbarkeit auf beamtete Mandatsträger. Sinn und Zweck der Norm ist es, die Benachteiligung von Mandatsträgern mit flexiblen Arbeitszeiten in einem Gleitzeitrahmen auszugleichen, die sich anders als Mandatsträger mit festen Arbeitszeiten auf den Freistellungsanspruch nach § 44 Abs. 2 Satz 1 GO NRW bei Mandatstätigkeiten außerhalb der Kernarbeitszeiten nicht berufen können. Hintergrund für das Regelungsbedürfnis waren nach der Gesetzesbegründung insbesondere gerichtliche Entscheidungen, die einen Freistellungsanspruch für die in die Gleitzeit fallende Mandatstätigkeit sowohl bei privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen als auch im Bereich des öffentlichen Dienstes verneint haben, weil während der Gleitzeit keine Arbeitsverpflichtung bestehe, von der der Mandatsträger freigestellt werden könne. Die Rechtsprechung ging zudem davon aus, dass bei flexiblen Arbeitszeiten die Verpflichtung bestehe, das Mandat außerhalb der Kernarbeitszeit zu erledigen, weil es sich bei der Mandatstätigkeit um eine ehrenamtliche Tätigkeit handele, der grundsätzlich in der Freizeit nachzugehen sei.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/48, S. 30 unter Verweis auf BAG, Urteil vom 16.12.1993 - 6 A ZR 236/93 -, NZA 1994, 854 f., beck-online, und OVG NRW, Beschluss vom 5.10.2010 - 15 A 79/10 -, NVwZ-RR 2011, 245 = juris; weitere Nachweise bei Bender in: Kleerbaum/Palmen, Gemeindeordnung NRW, 3. Aufl. 2018, § 44 S. 14.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dies hatte zur Folge, dass Mandatsträger mit flexiblen Arbeitszeiten ihre beruflichen Arbeitsverpflichtungen im Voraus erbringen oder aber nachholen mussten. Die bei gleitender Arbeitszeit eröffnete Möglichkeit, flexibel auf den jeweiligen Arbeitsanfall oder persönliche und familiäre Umstände reagieren zu können und auch durch Mehrarbeit ein Überstundenkonto aufzubauen, seien - so die Gesetzesbegründung - dem/der Mandatsträger/in</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">durch die Ausübung der ehrenamtlichen Tätigkeit während der Gleitzeit genommen. Dies habe zur Benachteiligung derjenigen geführt, die gerne ein Ehrenamt ausüben würden, jedoch auf die Flexibilität gleitender Arbeitszeit angewiesen seien. Diese Benachteiligung, die durch die Norm ausgeglichen werden soll, kann Arbeitnehmer und Beamte gleichermaßen betreffen.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Gesetzesbegründung lässt sich zudem der gesetzgeberische Wille entnehmen, dass Arbeitnehmer und Beamte von der Norm gleichrangig erfasst werden sollten. Denn diese verweist darauf, dass, soweit durch die Regelung Beamtenrecht berührt werde, die erforderliche Gesetzgebungskompetenz vorliege. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers beansprucht mithin § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW auch Geltung für Beamte.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/48, S. 32.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend bestätigt der Erlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales des Landes NRW vom 29.1.2013 (24-42.01.14-02.1) die Anwendbarkeit der Norm auf Beamte des Landes NRW und gibt Hinweise zur Umsetzung der Regelung im Beamtenbereich.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Anwendung des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW ist für Beamte des Landes NRW auch nicht aufgrund der Regelung des § 72 Abs. 3 LBG NRW in der Fassung vom 14.6.2016 (GV. NRW 2016, S. 310) bzw. zuvor des § 74 Abs. 3 LBG NRW (GV. NRW 2009, S. 224) versperrt (nachfolgend nur § 72 Abs. 3 LBG NRW). Nach § 72 Abs. 3 LBG NRW ist der Beamtin oder dem Beamten zur Ausübung eines Mandats in der Vertretung einer Gemeinde oder eines Gemeindeverbandes oder einer Bezirksvertretung sowie für die Tätigkeit als Mitglied eines nach Kommunalverfassungsrecht gebildeten Ausschusses der erforderliche Urlaub unter Belassung der Leistungen des Dienstherrn zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Danach haben § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW und § 72 Abs. 3 LBG NRW einen eigenständigen Anwendungsbereich und normieren bei Vorliegen ihrer jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen unterschiedliche Rechtsfolgen, so dass sie nebeneinander bestehen können. Während § 72 Abs. 3 LBG NRW - vergleichbar mit § 44 Abs. 2 Satz 1 GO NRW - auf eine Regelung bei einer Kollision der Pflicht zur Ausübung des Mandats und einer konkreten Dienstverpflichtung beschränkt ist und für diesen Fall einen Urlaubsanspruch gewährt, bestimmt § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW die (hälftige) Anrechnung der Zeiten der Mandatsausübung beim Gleitzeitanteil im Rahmen flexibler Arbeitszeit.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Schütte, NWVBl. 2014, 245 (248).</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Ob § 72 Abs. 3 LBG NRW bei einem beamteten Mandatsträger den Freistellungsanspruch nach § 44 Abs. 2 Satz 1 GO NRW verdrängt, bedarf hier keiner Klärung, da der Kläger einen solchen Anspruch nicht geltend macht.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass es sich bei § 72 Abs. 3 LBG NRW um eine abschließende, spezialgesetzliche Regelung im Hinblick auf Mandatstätigkeiten von Beamten handelt und damit die in der Norm nicht geregelte Anrechnung von Zeiten der Mandatsausübung auf flexible Dienstzeiten ausschließt. Hiergegen spricht insbesondere, dass sich der Landesgesetzgeber nach dem Vorstehenden über die möglichen Auswirkungen des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW auf das Beamtenrecht bewusst war und eine entsprechende Regelungskompetenz auch für Beamte angenommen hat. Daraus ergibt sich ferner, dass für den Gesetzgeber aufgrund der dem § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW in personeller Hinsicht beigemessenen Reichweite keine Veranlassung für eine Anpassung des § 72 Abs. 3 LBG NRW bestand. Mithin kann aus dem Umstand, dass dieser unverändert geblieben ist, nicht der Schluss gezogen werden, für Beamte bestehe weiterhin ausschließlich der in § 72 Abs. 3 LBG NRW geregelte Beurlaubungsanspruch.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. eine Anwendbarkeit von § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW auf Beamte des Landes NRW bejahend: Frenzen in: BeckOK, Kommunalrecht NRW, 20. Ed. 1.6.2022, § 44 Rn. 8; Schütte, NWVBl. 2014, 245 (248); für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes ArbG Solingen, Urteil vom 4.10.2018 - 3 Ca 935/18 lev -, juris Rn. 19 ff.; die Frage offen lassend: Bender in: Kleerbaum/ Palmen, Gemeindeordnung NRW, 3. Aufl. 2018, § 44 S. 11; verneinend: Rehn/Cronauge/ von Lennep/Knirsch, Gemeindeordnung NRW, 52. Erg. 01/2021, § 44 Rn. 20; jedenfalls kritisch: Wansleben in: Held/Winkel/Wansleben, Kommunalverfassungsrecht NRW, 12/2014, § 44 S. 3.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob Bundesbeamte von § 44 Abs. 2 GO NRW erfasst werden, stellt sich im Streitfall nicht.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">2. Einem Anspruch auf Zeitgutschrift steht allerdings entgegen, dass der im Wechselschichtdienst tätige Kläger nicht, wie in § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW gefordert, in einem vorgegebenen Arbeitszeitrahmen (a) über Lage und Dauer der individuellen Arbeitszeit selbst entscheiden kann (b).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist im Wechselschichtdienst im Sinne des § 2 Nr. 6 AZVOPol tätig. Nach dieser Vorschrift ist Wechselschichtdienst ein Schichtdienst nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in wechselnden Arbeitsschichten vorsieht, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet wird. Die Polizeivollzugsbeamten im Wechselschichtdienst versehen ihren Dienst in drei zeitlich festgelegten Schichten, die Teil einer 24-stündigen Einsatzbereitschaft sein sollen. Zum Ausgleich der mit der Dienstleistung im Wechselschichtdienst verbundenen Belastungen wird gemäß § 20 Erschwerniszulagenverordnung eine Zulage gewährt. Ein solches Arbeitszeitmodell unterfällt dem Anrechnungstatbestand des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW nicht.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">a) Es fehlt bereits an dem vom Wortlaut des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW vorausgesetzten Arbeitszeitrahmen, der bei flexibler Arbeitszeit, nicht aber beim (Wechsel-)Schichtdienst besteht. Hierfür muss bereits begriffsnotwendig eine Begrenzung des frühestmöglichen Beginns und des spätestmöglichen Endes der täglichen Arbeitszeit vorliegen. Werden feste Arbeitszeiten vorgegeben oder ist die tägliche Arbeitszeit gänzlich freigegeben, gibt es keinen „vorgegebenen Arbeitszeitrahmen“ i. S. v. § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW. Die Regelung erfasst damit nicht alle bestehenden Arbeitszeitmodelle, insbesondere nicht den Schicht- bzw. Wechselschichtdienst.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Ebenso Bender in: Kleerbaum/Palmen, Gemeindeordnung NRW, 3. Aufl. 2018, § 44 S. 8; Frenzen in: BeckOK, Kommunalrecht NRW, 20. Ed. 1.6.2022, § 44 Rn. 14; LT-Drs. 16/48, S. 30.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Dies bestätigen systematische Überlegungen sowie die Gesetzesbegründung. Der Wortlaut des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW lehnt sich an die Begriffsbestimmungen flexibler Arbeitszeit an, wie sie sich etwa in § 14 Abs. 1 AZVO oder § 2 Nr. 12 AZVOPol finden. Die genannten Vorschriften definieren flexible Arbeitszeit übereinstimmend als diejenige Arbeitszeit, bei der die Beamten innerhalb eines vorgegebenen Arbeitszeitrahmens über Lage und Dauer der individuellen täglichen Arbeitszeit selbst entscheiden. Dabei darf der vorgegebene Arbeitszeitraum den 24-Stunden-Tag nicht vollständig abdecken, da das Tatbestandsmerkmal sonst überflüssig wäre. Schon die - offensichtliche - Übernahme der Begrifflichkeit legt nahe, dass der Gesetzgeber auch mit § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW nur die Mandatsträger mit einer flexiblen Arbeitszeit in diesem Sinne erfassen wollte. Der Wechselschichtdienst - das Arbeitszeitmodell des Klägers - wird hingegen - wie erwähnt - in § 2 Nr. 6 AZVOPol beschrieben; darüber hinaus verdeutlicht auch § 16 Abs. 1, 3 AVZOPol, dass sich flexible Arbeitszeit (mit Arbeitszeitrahmen) und Schichtdienst im Polizeivollzugsdienst unterscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dem entspricht es, dass in der Gesetzesbegründung für die Anrechnungsmöglichkeit lediglich die nicht zur Kernarbeitszeit gehörende Gleitzeit im Rahmen flexibler Arbeitszeiten in den Blick genommen ist,</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">vgl. LT-Drs. 16/48, S. 2, 30,</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">und der Schichtdienst demgegenüber ausdrücklich als ein Arbeitszeitmodell genannt wird, welches von der Regelung des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW nicht umfasst wird. Es heißt dort: „Eine abschließende Ausgleichsregelung für alle Formen von Arbeitsverhältnissen mit ‚unregelmäßigen Arbeitszeiten‘, wie z.B. Schichtarbeit oder Arbeit auf Abruf enthält der Gesetzentwurf nicht. “</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/48, S. 30.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht demnach erfolglos geltend, in seinem Fall sei ein den ganzen Tag von 0:00 bis 24:00 Uhr umfassender Arbeitszeitrahmen gegeben, weil die drei Schichten des Wechselschichtdienstes zusammen genommen den gesamten Tag abdeckten. Steht ihm der ganze Tag zur Ableistung seines Dienstes zur Verfügung, unterliegt er gerade keinem vorgegebenen Arbeitszeitrahmen im Sinne der für ihn geltenden Verordnung nach § 23 AZVOPol i. V. m. § 14 AZVO. Nach § 14 Abs. 2 AZVO kann der Arbeitszeitrahmen innerhalb eines Zeitrahmens von 06.30 Uhr bis 20.00 Uhr festgelegt werden. Danach und wegen des Bezugsrahmens des Tages kann der „vorgegebene Arbeitszeitrahmen“ im Sinne des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW erst recht nicht, wie vom Verwaltungsgericht angenommen, in dem in §§ 3 Abs. 2 Satz 2, 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. § 22 Abs. 1 AZVOPol geregelten vier- oder sechsmonatigen Bezugszeitraum zur Berechnung des Durchschnitts der wöchentlichen Höchstarbeitszeit gesehen werden.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">b) Der Kläger kann auch nicht über Lage und Dauer der individuellen Arbeitszeit selbst entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht hierfür geltend, er könne in aller Regel frei darüber entscheiden, welche Schicht er wahrnehme. Den diesbezüglichen Wünschen werde regelmäßig entsprochen. Damit bezieht sich seine Entscheidungsfreiheit schon von vornherein nicht auf die Dauer der täglichen Arbeitszeit, die ihm - ebenso wie der Beginn und das Ende der jeweiligen Schicht - auch nach eigenem Vorbringen vorgegeben ist. Insoweit kann der Kläger auch nicht mit Erfolg einwenden, er könne durch die Wahl der Schicht über die Dauer seiner Arbeitszeit entscheiden, da die Frühschicht nur ca. 6 Stunden umfasse, die Spät- und Nachschicht dagegen 8,5 Stunden. Unabhängig davon, dass dem Kläger - wie nachfolgend noch darzustellen ist - schon keine Entscheidungshoheit über die konkret zu verrichtende Schicht zukommt, kommt ihm nicht deshalb die Entscheidungsbefugnis über die Dauer der individuellen täglichen Arbeitszeit zu, weil die vom Dienstherrn bestimmte Länge der Schichten differiert. Denn dies ändert nichts daran, dass die Dauer der Schichten dem Kläger mit etwa 6 bzw. 8,5 Stunden ebenso wie deren Beginn und Ende - wie vorstehend ausgeführt und von dem Kläger nicht in Abrede gestellt - stets vorgegeben ist, sodass es an der von § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW vorausgesetzten Flexibilität und Dispositionsmöglichkeit über die tägliche Arbeitszeit gerade fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Der Kläger kann auch nicht über die Lage seiner täglichen Arbeitszeit entscheiden. Insoweit reicht es nicht aus, dass der Beamte Wünsche äußern kann, denen - wenn auch in aller Regel - entsprochen wird. Maßgeblich ist, dass dem Dienstherrn die Letztentscheidung der Schichtplanung obliegt.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Auch aus dem zwischenzeitlich aufgehobenen Erlass vom 29.2.2000 (IV C 2 – 3025) und dem seit dem 5.3.2019 geltenden Erlass (403-42.02.07) zum dezentralen Schichtdienstmanagement des Innenministeriums bzw. Ministeriums des Innern des Landes NRW ergibt sich nicht, dass der Kläger, vergleichbar mit einem in Gleitzeit tätigen Mandatsträger, über Lage und Dauer seiner Arbeitszeit verfügen könnte. Den Erlassen ist zwar zu entnehmen, dass die Arbeitszeit flexibilisiert werde; dazu soll nach Ziffer 2.1 des Erlasses vom 29.2.2000 den Mitarbeitern sowie den Polizeibehörden weitgehende Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeit ermöglicht werden. Allerdings führt dies auch nach dem Vorbringen des Klägers nicht dazu, dass er seine Schichten selbst verbindlich festlegen kann. Vielmehr trägt er selbst vor, lediglich seine Wünsche in das Schichtdienstsystem einzutragen, denen in der Regel entsprochen werde. Es bleibt damit dabei, dass die Entscheidung über die Lage und Dauer seiner Arbeitszeit nicht der Kläger trifft.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Dem kann der Kläger nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass für einen Ausschluss des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW nicht allein die Möglichkeit des Arbeitgebers bzw. des Dienstherrn ausreichen könne, Einschränkungen bei der Arbeitszeitgestaltung vorzunehmen, weil eine entsprechende Möglichkeit bei zwingenden Gründen dem Arbeitgeber bzw. Dienstherrn grundsätzlich eröffnet sei. Insoweit verkennt er, dass in seinem Arbeitszeitmodell dem Dienstherrn stets das Letztbestimmungsrecht über die Verteilung der Schichten zukommt. Damit ist ein struktureller Unterscheid zum Modell der flexiblen Arbeitszeit gegeben, in dem dem Beamten bzw. Arbeitsnehmer - in einem gewissen Rahmen - die Entscheidung über Lage und Dauer seiner täglichen Arbeitszeit - normativ abgesichert - überlassen und eine Einschränkung der Arbeitszeitgestaltung nur ausnahmsweise aufgrund zwingender Gründe zugelassen ist.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">c) Entgegen der Auffassung des Klägers und des Verwaltungsgerichts ist angesichts des eindeutigen Wortlauts, der Gesetzesbegründung und der Systematik auch kein Raum für eine "großzügige Auslegung" des Freistellungs- und Anrechnungstatbestands. Hiergegen spricht vielmehr zusätzlich, dass es sich um - eng aufzufassende - Ausnahmen von dem Grundsatz handelt, wonach ehrenamtliche Tätigkeiten, zu der die Mandatswahrnehmung gehört, in der Freizeit zu erfolgen haben.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. Schrapper/Günther, Landesbeamtengesetz Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl. 2021, § 72 Rn. 4; Frenzen in: BeckOK, Kommunalrecht NRW, 20. Ed. 1.6.2022, § 44 Rn. 13.1; Tiedemann in: Schütz/Maiwald, Beamtenrecht, 464/196. AL 03/2021, Urlaub zur Ausübung eines Mandats (Abs. 3), Rn. 85; Gutachten des Parlamentarischen Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NRW zu: Zur Anwendung der Freistellungsverpflichtung aus § 44 Abs. 2 Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen auf Anfahrtszeiten, 31.5.2017, S. 13.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Es besteht angesichts des oben Ausgeführten kein Anhalt dafür, dass der Gesetzgeber diesen Grundsatz mit der Neufassung des § 44 GO NRW durch das Gesetz zur Stärkung des kommunalen Ehrenamtes vom 18.9.2012 (GV. NRW 2012, 421) vollständig aufgegeben hat. Ohnehin ist mit § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW eine im Vergleich zu anderen Bundesländern bereits weitreichende Anrechnungsregelung vorgesehen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW kann dementsprechend auch nicht im Wege einer Analogie auf den Wechselschichtdienst erstreckt werden. Die analoge Anwendung der von einer Norm angeordneten Rechtsfolge auf Sachverhalte, die dieser Norm nicht unterfallen, setzt eine vergleichbare Interessenlage sowie eine planwidrige Regelungslücke voraus. Der Anwendungsbereich der Norm muss wegen eines versehentlichen, mit dem Normzweck unvereinbaren Regelungsversäumnisses des Normgebers unvollständig sein.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.1.2016 - 2 B 17.15 -, ZTR 2016, 230 = juris Rn. 8, und Urteil vom 28.6.2012 - 2 C 13.11 -, BVerwGE 143, 230 = juris Rn. 24.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Dies ist nicht der Fall. Insoweit verkennt der Senat nicht, dass die von dem Kläger dargelegte Interessenlage eines im Wechselschichtdienst tätigen Mandatsträgers und eines solchen mit flexiblen Arbeitszeiten im Sinne des § 2 Nr. 12 AZVOPol durchaus insoweit vergleichbar ist, als beiden nur sehr eingeschränkt der Freistellungsanspruch nach § 44 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GO NRW bzw. der Beurlaubungsanspruch nach § 72 Abs. 3 LBG NRW zugutekommt. Dabei unterliegt der Kläger ebenfalls Flexibilitätseinschränkungen, weil er - unter anderem nach dem Erlass des Innenministeriums des Landes NRW vom 25.6.2002 zum dezentralen Schichtdienstmanagement bei der Polizei NRW - gehalten ist, seine Schichten so zu planen, dass sie nicht mit der Mandatstätigkeit kollidieren. Gegen eine vergleichbare Interessenlage spricht indessen, dass der Kläger, folgte man seiner Ansicht, bessergestellt wäre als die in flexibler Arbeitszeit tätigen Mandatsträger, deren vorgegebener Arbeitszeitrahmen (etwa auf 20.00 Uhr) begrenzt ist. Denn da der Kläger als Arbeitszeitrahmen den ganzen Tag begreift, würde er - anders als diese - seine Mandatstätigkeit nie in seiner Freizeit ausüben; die Tätigkeit würde daher immer einen (hälftigen) Anrechnungsanspruch auslösen. Dem entspricht es, dass er mit der Klage seine Forderung auf die Zeiten nach 20.00 Uhr hinaus ausgedehnt und gegenüber derjenigen im Verwaltungsverfahren um mehr als 81 Stunden und damit um zwei Drittel erhöht hat. Eine solche den ehrenamtlichen Charakter der Mandatsausübung unterlaufende Regelung hat der Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt und die Fallgruppe des Schichtdienstes - wie erwähnt - ausdrücklich ungeregelt gelassen.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund liegt - erst recht - keine planwidrige Regelungslücke vor. Dass ein im Wechselschichtdienst tätiger Beamter - wie der Kläger - verpflichtet ist, das Ehrenamt in der Regel in seiner Freizeit auszuüben, hat der Gesetzgeber gerade als zumutbar hingenommen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/48, S. 30; Bender in: Kleerbaum/Palmen, Gemeindeordnung NRW, 3. Aufl. 2018, § 44 S. 8.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Dem kann der Kläger auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, der Gesetzgeber habe bei der Regelung nicht die Form des dezentralen Schichtdienstmanagements im Blick gehabt, sondern den Schichtbetrieb, wie er vor Einführung des DSM üblich gewesen sei. Seinerzeit seien die Beamten in Dienstgruppen organisiert gewesen und jede Dienstgruppe habe einen festen Schichtplan gehabt, sodass keine Einflussnahme der Beamten auf die zu verrichtende Schicht möglich gewesen sei. Der Tragfähigkeit dieser - in keiner Weise belegten - Behauptung steht bereits entgegen, dass der Grunderlass zur Einführung des dezentralen Schichtdienstmanagement aus dem Jahr 2000 datiert, mithin zwölf Jahre vor der streitgegenständlichen Norm in Kraft getreten ist. Darüber hinaus hat er bis 2012 mehrfach (nämlich in den Jahren 2001, 2003, 2005 und 2011) Änderungen zur weiteren Ausdifferenzierung der Regelungen zur bereits im Grunderlass vorgesehenen Flexibilisierung der Arbeitszeitgestaltung der Beamten erfahren. Auch der Umstand, dass sich das Innenministerium bereits 2002 in einem Erlass mit den Auswirkungen des dezentralen Schichtdienstmanagements auf Mandatstätigkeiten von Beamten beschäftigt hat, spricht gegen die Annahme, bei dem im dezentralen System organisierten Schichtdienst habe es sich um eine derart neue Erscheinungsform der Arbeitsorganisation gehandelt, dass dem Gesetzgeber diese bei Erlass der streitgegenständlichen Norm im Jahr 2012 nicht bekannt und daher mit dem in der Gesetzesbegründung genannten - von der Regelung ausgeschlossenen - Schichtdienst nicht gemeint gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">II. Einen Anspruch auf Zeitgutschrift kann der Kläger auch nicht aus dem allgemeinen, in § 44 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GO NRW verankerten Behinderungs- und Benachteiligungsverbot herleiten. Danach darf niemand gehindert werden, sich um ein Mandat als Ratsmitglied zu bewerben, es anzunehmen oder auszuüben. Ebenso sind Benachteiligungen am Arbeitsplatz im Zusammenhang mit der Bewerbung, der Annahme oder der Ausübung eines Mandats unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Abgesehen von dem systematischen Bedenken, das in einer Heranziehung des allgemeinen Behinderungs- und Benachteiligungsverbots anstelle der speziellen Anrechnungsregelung des § 44 Abs. 2 Satz 4 GO NRW läge, greift § 44 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GO NRW nicht ein. Das allgemeine Behinderungsverbot untersagt jede Maßnahme oder Handlung, mit der das Ziel verfolgt wird, jemanden an der Bewerbung, der Annahme oder Ausübung eines kommunalen Mandats zu hindern. § 44 Abs. 1 Satz 1 GO NRW verbietet jedes Androhen oder Inaussichtstellen von wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen, persönlichen oder sonstigen Nachteilen. Die Vorschrift untersagt hingegen nicht alles, was der Ausübung des Mandats hinderlich ist. Verboten ist lediglich die zielgerichtete beabsichtigte Erschwernis. Nicht ausreichend ist, dass die Erschwernis nur mittelbare Folge einer Maßnahme ist.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bender in: Kleerbaum/Palmen, Gemeindeordnung NRW, 3. Aufl. 2018, § 44 S. 4; Rehn/Cronauge/von Lennep/Knirsch, Gemeinde-ordnung NRW, 52. Erg. 01/2021, § 44 Rn. 2, jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Eine solche zielgerichtete Behinderung oder Benachteiligung stellt bereits die im Fall des Klägers bestehende Obliegenheit, sein Ehrenamt dem Grundsatz entsprechend in der Freizeit auszuüben und seine beruflichen Verpflichtungen daran angepasst zu planen, nicht dar. Noch weniger liegt eine solche in dem Fehlen einer Stundengutschrift für Mandatstätigkeit bei flexibler Arbeit.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes folgt schließlich nicht aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 28.7.2011 - 2 C 45.09 -. In dieser hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, einem ehrenamtlichen Richter müssten Zeiten der Tätigkeit, die während der Gleitzeit angefallen sind, dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden, wenn sie mehr als drei Stunden pro Kalenderwoche betragen, da § 45 Abs. 1a Satz 1 Alt. 2 DRiG eine Schlechterstellung aufgrund des Ehrenamtes ohne sachlichen Grund untersage. Die in dieser Entscheidung angestellten Erwägungen zur Herleitung eines Anrechnungsanspruchs aus dem für ehrenamtliche Richter ebenfalls normierten - allerdings mit § 44 Abs. 1 Satz 1 GO NRW nicht wortgleichen - Benachteiligungsverbot sind auf den Streitfall nicht übertragbar. Bereits das unterschiedliche Schutzbedürfnis eines ehrenamtlichen Richters und eines Ratsmitglieds steht einer Übertragbarkeit der Erwägungen entgegen. Denn bei der Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter handelt es sich um eine staatsbürgerliche Pflicht, das heißt, der Bürger ist grundsätzlich zur Übernahme und Ausübung der damit einhergehenden Aufgaben verpflichtet. Dies hebt das Amt des ehrenamtlichen Richters von anderen öffentlichen und privaten Ehrenämtern und damit auch der freiwilligen Übernahme einer Ratstätigkeit ab mit der Folge, dass der Gesetzgeber - so das Bundesverwaltungsgericht - nachteiligen Konsequenzen aus einem solchen verpflichtenden Ehrenamt mit einem weitreichenden Schutzgebot begegne, das insbesondere berufliche Nachteile verhindern und zugleich das Ansehen der ehrenamtlichen Richter in der Öffentlichkeit stärken soll. Aus diesem weitreichenden Schutzgebot hat das Bundesverwaltungsgericht abgeleitet, dass jedenfalls die begrenzte Möglichkeit einer Anrechnung von Zeiten der Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter, die während der Gleitzeit anfallen, bestehen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.7.2011 - 2 C 45.09 -, BVerwGE 140, 178 = juris Rn. 21 f.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Eine vergleichbare Schutzbedürftigkeit des freiwillig ehrenamtlich Tätigen ist nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen der §§ 132 VwGO, 127 BRRG nicht vorliegen.</p>
|
346,088 | ovgnrw-2022-07-21-7-b-66622 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 B 666/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-06T10:01:06 | 2022-10-17T17:55:42 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7B666.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der angegriffene Beschluss wird geändert.</p>
<p>Der Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 18.8.2020 wird abgelehnt.</p>
<p>Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge einschließlich der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Beschwerdevorbringen führt zur Änderung des angegriffenen Beschlusses. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragsteller (8 K 4149/21) gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 18.8.2020 hat danach keinen Erfolg. Die nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen fällt zulasten der Antragsteller aus. Im Rahmen der vorliegend gebotenen summarischen Beurteilung geht der Senat davon aus, dass die Erfolgsaussichten der Klage nicht als positiv, sondern allenfalls als offen zu beurteilen sind (dazu 1.) und dass bei der allgemeinen folgenorientierten Interessenabwägung das öffentliche Interesse und das Interesse des Beigeladenen an der Vollziehung der Baugenehmigung ein höheres Gewicht haben als das Interesse der Antragsteller an der Aussetzung der Vollziehung (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">1. Es erscheint nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Klage 8 K 4149/21 Erfolg hat; vielmehr erscheint es eher fernliegend, aber allenfalls als offen, dass die Baugenehmigung gegen öffentlich-rechtliche Normen verstößt, die auch dem Schutz der Antragsteller dienen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Dies gilt auch mit Blick auf die Frage, ob hier eine ausreichende faktische Anbausicherung vorliegt und gemäß dem Vorrang des Bauplanungsrechts nach § 6 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 BauO NRW 2018 das Erfordernis einer Abstandsfläche gegenüber dem Grundstück der Antragsteller entfällt und dort an die Grenze gebaut werden darf. Voraussichtlich dürfte die bestehende grenzständige Bebauung auf dem Grundstück der Antragsteller als faktische Anbausicherung im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 BauO NRW 2018 genügen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Ausreichend für eine faktische Anbausicherung ist das Vorhandensein eines legalen Gebäudes ohne Grenzabstand, das geeignet ist, die Funktion der Grenzbebauungsverpflichtung zu übernehmen; das bestehende Gebäude und der Neubau müssen sich auf einer nennenswerten Länge überdecken, sodass von einer gemeinsamen Grenzbebauung gesprochen werden kann und es muss vom Fortbestand des Gebäudes ausgegangen werden können.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.4.2019 - 10 A 1693/17 - , juris sowie Beschluss vom 27.2.2019 - 7 B 1816/18 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Bebauungstiefe erscheint hier bei einer Gesamtlänge des Vorhabens von ca. 18 m und einer - wie mit der Beschwerdeerwiderung vorgetragen - Bestandsbebauung an der Grenze von ca. 10,8 m nicht von vornherein ungeeignet, um eine Anbausicherung zu gewährleisten.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller mit der Beschwerdeerwiderung geltend machen, die genehmigte Bebauung umfasse eine einseitig grenzständige Bebauung, deren Tiefe mit 7,2 m mehr als die Hälfte der (10,8 m tiefen) beidseitig grenzständigen Bebauung betrage, dies sei nach der Senatsentscheidung vom 27.2.2019 - 7 B 1816/18 -, a. a. O., unzulässig, verkennen sie, dass der Senat damit keine "Obergrenze" festgesetzt hat, sondern lediglich feststellte, dass die Anbausicherung im seinerzeitigen Fall von nennenswerter Länge war. Die weitere zitierte Entscheidung des Senats vom 26.6.2014 - 7 A 2725/12 -, BRS 82 Nr. 95 = BauR 2014, 1919, betrifft die Beurteilung der Doppelhauseigenschaft und gibt für die Beantwortung der in Rede stehenden Frage nichts her.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragsteller geltend machen, es sei zu berücksichtigen, dass sie im rückwärtigen Bereich mit Grenzabstand gebaut hätten, kann dahin stehen, inwieweit es auf diesen Aspekt bei einer wertenden Gesamtbetrachtung ankäme. Denn eine solche Gesamtbetrachtung rechtfertigte hier keine andere Würdigung, weil die dem Beigeladenen genehmigte Bebauung auf den Gebäudebestand der Antragsteller Rücksicht nimmt, indem sie den hinteren Grundstücksbereich ausspart. Dass sich hier aus den Schutzzielen des Abstandsrechts eine abweichende Beurteilung ergeben könnte, wie die Antragsteller meinen, vermag der Senat nicht zu erkennen; Anhaltspunkte für eine andere Bewertung sind weder hinreichend aufgezeigt noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Schließlich sieht der Senat in dem Bereich, wo die Bebauung einseitig grenzständig genehmigt ist, auch mit Blick auf die angegebenen Wandhöhen nicht den - von den Antragstellern befürchteten - Verstoß gegen das planungsrechtliche Rücksichtnahmegebot unter dem Aspekt einer "erdrückenden Wirkung".</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">2. Die - von den Erfolgsaussichten unabhängige - allgemeine Folgenabwägung fällt zulasten der Antragsteller aus.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Hierbei berücksichtigt der Senat die gesetzliche Wertung des § 212a Abs. 1 BauGB; nach dieser Bestimmung hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Dass dem hinreichend gewichtige Nachteile für die Antragsteller infolge der Vollziehung der angegriffenen Baugenehmigung während des Hauptsacheverfahrens gegenüber stehen könnten, ist weder aufgezeigt noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 162 Abs. 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
|
346,069 | ovgnrw-2022-07-21-4-b-192120 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 B 1921/20 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-05T10:01:16 | 2022-10-17T17:55:39 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.4B1921.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das Verfahren wird eingestellt.</p>
<p>Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 19.11.2020 ist mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung wirkungslos.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 15.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung der §§ 87a Abs. 1 und 3, 92 Abs. 3 Satz 1, 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO einzustellen. Der angefochtene Beschluss ist entsprechend § 173 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung für wirkungslos zu erklären.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Billigem Ermessen im Sinne dieser Vorschrift entspricht es, die Kosten des Verfahrens beider Instanzen dem Antragsteller aufzuerlegen, weil dieser ohne den – aufgrund der nunmehr durch ihn erfolgten Begleichung streitgegenständlicher Forderungen und der in der Folge seitens der Antragsgegnerin ausgesprochenen Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ordnungsverfügung vom 27.8.2020 erfolgten – Eintritt der Erledigung voraussichtlich unterlegen gewesen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hatte den sinngemäßen Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 19 K 3688/20 (VG Gelsenkirchen) gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 27.8.2020 wiederherzustellen,</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, der auf § 15 Abs. 2 i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GastG gestützte Widerruf der Gaststättenerlaubnis sei rechtmäßig. Die Antragsgegnerin sei gemäß § 30 GastG und § 2 GewRV i. V. m. Ziffer 3 der Anlage zur GewRV zuständig, § 361 Abs. 4 AO stehe dem nicht entgegen. Der Antragsteller sei angesichts seiner Steuerrückstände beim Finanzamt C. -Süd und seinen weiteren öffentlich-rechtlichen Zahlungsverbindlichkeiten zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufs gaststättenrechtlich unzuverlässig. Unerheblich sei mit Blick auf den für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt auch die Absicht des Antragstellers, zwei Eigentumswohnungen zu veräußern, um seine Steuerrückstände bezahlen zu können. An der Verwertung der Mitteilungen des Finanzamtes sei die Antragsgegnerin nicht gehindert.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Diese Einschätzung wurde durch das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nicht erschüttert.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Einwände des Antragstellers, dass nicht die Antragsgegnerin, sondern die Finanzbehörde für den Erlass der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung mit Blick auf § 361 Abs. 4 AO zuständig sei und der Klage gemäß § 361 Abs. 4 AO von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukomme, sowie, dass die Information bzw. Übermittlung der Steuerrückstände durch das Finanzamt an den Antragsgegner gegen das Steuergeheimnis und die Datenschutz-Grundverordnung verstoße, hätten nach gefestigter – auch höchstrichterlicher – Rechtsprechung, wonach die allgemeine Ordnungsbehörde und nicht die Finanzbehörde zuständig ist und wonach die Information bzw. Übermittlung der Steuerrückstände durch das Finanzamt an die allgemeine Ordnungsbehörde nicht gegen das Steuergeheimnis verstößt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.4.2021 – 4 B 1168/20 –, juris, Rn. 6 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">nicht durchgegriffen. Es fehlte an jedem Anhalt dafür, dass die Weitergabe der Daten seitens der Finanzverwaltung gegen § 3 Abs. 1 DSG NRW verstoßen haben könnte, der ‒ insoweit wortgleich mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. e DSGVO ‒ die Verarbeitung personenbezogener Daten durch öffentliche Stellen zulässt, wenn sie in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Soweit der Antragsteller ein Überwiegen seiner privaten Interessen gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse angenommen hat, wäre er voraussichtlich hiermit ebenfalls nicht durchgedrungen. Das private Interesse des Antragstellers an der weiteren gewerblichen Tätigkeit im Gaststättengewerbe im Rahmen seiner Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG steht hinter dem öffentlichen Vollzugsinteresse zurück.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.4.2020 ‒ 4 B 21/20 ‒, juris, Rn. 20 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Für einen Verstoß gegen das Übermaßverbot war angesichts dessen nichts ersichtlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 39 Abs. 1, 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.</p>
|
346,068 | ovgnrw-2022-07-21-4-e-33622 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 E 336/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-05T10:01:16 | 2022-10-17T17:55:39 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.4E336.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Anhörungsrügeverfahren wird abgelehnt.</p>
<p>Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den seine Beschwerde gegen den seine Erinnerung gegen die</p>
<p>erstinstanzliche Kostenfestsetzung zurückweisenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 24.2.2022 zurückweisenden Beschluss des Senats vom 7.4.2022 – 4 E 196/22 – wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<h1> </h1><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen jedenfalls keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">2. Der Senat hat nach § 152a Abs. 2 Satz 4, Abs. 4 Satz 2 VwGO in seiner regulären Besetzung über die Anhörungsrüge gemäß § 152a VwGO zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.6.2012 – 16 A 1127/12 –, juris, Rn. 1 ff., m. w. N.; BVerfG, Beschluss vom 18.2.2020 – 1 BvR 1750/19 –, juris, Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Anhörungsrüge ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat in dem Beschluss vom 7.4.2022 den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht im Sinne von § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO in entscheidungserheblicher Weise verletzt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass ein Verfahrensbeteiligter Einfluss auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens und dessen Ausgang nehmen kann. Zu diesem Zweck muss er Gelegenheit erhalten, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können. Zwar korrespondiert mit diesem Äußerungsrecht keine umfassende Frage-, Aufklärungs- und Hinweispflicht des Gerichts. Vielmehr kann regelmäßig erwartet werden, dass die Beteiligten von sich aus erkennen, welche Gesichtspunkte Bedeutung für den Fortgang des Verfahrens und die abschließende Sachentscheidung des Gerichts erlangen können, und entsprechend vortragen. Jedoch verlangt der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung, dass das Gericht nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.6.2019 – 7 B 25.18 –, juris, Rn. 14 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg bleibt die Rüge des Klägers, ein Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ergebe sich bereits insoweit, „wie es die nicht ersichtliche Zuständigkeit“ der sachentscheidenden Richter betreffe. Der Kläger rügt damit der Sache nach die fehlende Namhaftmachung der zur Entscheidung berufenen Richter. Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG legt er damit nicht dar.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Wie sich aus dem Rechtsgedanken des § 24 Abs. 3 StPO ergibt, gebietet weder der Anspruch auf ein faires Verfahren noch der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs anlasslos und ohne ein entsprechendes Verlangen des Betroffenen, die zur Mitwirkung bei der Entscheidung berufenen Gerichtspersonen namhaft zu machen. Die Geltendmachung eines Gehörsverstoßes erfordert daher die Darlegung, dass nach dem Gebot eines fairen Verfahrens im Einzelfall die Besetzung des Gerichts hätte mitgeteilt werden müssen und bei rechtzeitiger Mitteilung jedenfalls die Anbringung tauglicher Ablehnungsgründe gelungen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.6.2007 ‒ 2 BvR 746/07 ‒, juris, Rn. 16 ff.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat bereits die Namhaftmachung der zur Entscheidung berufenen Richter nicht verlangt, obwohl er im zugrundeliegenden Verfahren 4 E 196/22 Gelegenheit dazu hatte. Auch hat der Kläger nicht dargelegt, dass er bei rechtzeitiger Namhaftmachung der Besetzung des Gerichts taugliche Ablehnungsgründe hätte anbringen können. Vielmehr leitet der Kläger Gründe für die Besorgnis der Befangenheit der sachentscheidenden Richter allein aus dem ergangenen Beschluss vom 7.4.2022 im Verfahren 4 E 196/22 ab.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Soweit er rügt, vor der Entscheidung des Senats zu den den Ausfall einer Richterin begründenden Umständen nicht angehört worden zu sein, hat er bereits nicht dargetan, was er bei vorheriger Mitteilung des Hinderungsgrundes im Hinblick darauf vorgetragen hätte. Vielmehr hat er selbst auf die ihm später übermittelte Bescheinigung der Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts für das das Land Nordrhein-Westfalen vom 5.5.2022, wonach Frau Richterin am Oberverwaltungsgericht T. im Entscheidungszeitpunkt dienstunfähig erkrankt war, lediglich „die gerichtliche Stellungnahme beantragt, was konkret mit der zuvor unter Bezug genommenen Bescheinigung in rechtlicher Hinsicht als nachgewiesen/belegt angesehen werden“ solle, obgleich das Vorliegen einer wegen Dienstunfähigkeit die Vertretung erforderlich machenden Erkrankung bescheinigt worden war.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Auch bleibt die Rüge des Klägers, ein Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs folge aus der „kurzerhand“ getroffenen Feststellung in dem in Bezug genommenen Beschluss vom 5.4.2022 – 4 E 229/22 –, tatsächlich habe der Beitragsrückstand am 30.11.2019 bei über 74.000,00 Euro gelegen, erfolglos. Die Höhe dieses aktenkundigen Beitragsrückstands war dem Kläger seit Herbst 2019 bekannt, wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 21.6.2022 in diesem Verfahren über das Befangenheitsgesuch des Klägers näher ausgeführt hat. Ungeachtet dessen hat der Senat auf diesen Wert nicht entscheidungserheblich abgestellt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß den §§ 152 Abs. 1, 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO unanfechtbar.</p>
|
346,067 | ovgnrw-2022-07-21-7-a-115721 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 A 1157/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-05T10:01:16 | 2022-10-17T17:55:39 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7A1157.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.003,45 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das fristgemäße Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Festsetzung des Zwangsgeldes in Höhe von 5.000,00 Euro vorgelegen hätten.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht verwechsele die Grundverfügung mit der Zwangsgeldfestsetzung, mit der Versiegelung des Hauses X.-straße 46a seit dem 4.11.2020 hätte sich die Festsetzungsverfügung erledigt, die Beugefunktion der angefochtenen Verfügung sei entfallen, der mit ihr verfolgte Zweck erreicht, das Zwangsgeld werde zu einer reinen Sanktion, was nach dem Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13.8.2015 - 5 K 4117/14 -, juris, unzulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Rüge greift nicht durch. Bei einem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot kann ein Zwangsgeld auch dann festgesetzt und beigetrieben werden, wenn eine weitere Zuwiderhandlung wegen Fristablaufs oder Erledigung der Verfügung nicht mehr möglich ist. Entscheidend ist allein, dass der Verstoß gegen die vollziehbare Ordnungsverfügung nach der Androhung und während der Zeit, in der das Verbot noch galt, erfolgt ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.9.1992 - 4 A3840/91 -, NVwZ-RR 1993, 671 = juris, m. w. N; Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.; Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 13 Rn. 121.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier der Fall. Der Kläger ist der ihm mit vollziehbarer Ordnungsverfügung vom 25.4.2018 (vgl. Senatsbeschluss vom 16.11.2018 - 7 B 1290/18) aufgegebenen Verpflichtung, jegliche Nutzung des Gebäudes X.-straße 46a zu unterlassen, innerhalb der ihm eingeräumten Frist nicht nachgekommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Festsetzungsverfügung hänge von der Auslegung des Begriffs "Gestattung der gebotenen Handlung" in § 60 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz VwVG NRW ab. § 60 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz VwVG NRW schränkt den ersten Halbsatz ein und bestimmt, dass ein Zwangsgeld (jedoch) beizutreiben ist, wenn der Duldungs- oder Unterlassungspflicht zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgeldes erreicht werden sollte. Mit der Einfügung des zweiten Halbsatzes in § 60 Abs. 3 Satz 2 VwVG NRW sollte klarstellend die schon zuvor bestehende ständige Rechtsprechung bestätigt werden, nach der ein Zwangsgeld auch dann noch festgesetzt und beigetrieben werden konnte, wenn gegen ein Unterlassungsgebot mit Zwangsgeldandrohung verstoßen wurde, ein weiterer Verstoß gegen die Ordnungsverfügung aber nicht mehr möglich war.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand, das Zwangsgeld sei das falsche Zwangsmittel, dies ergebe sich aus dem Senatsbeschluss vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20 -, in dem das Oberverwaltungsgericht ausgeführt habe, der wegen des unzureichenden Brandschutzes bestehenden akuten Gefahr für Leib und Leben der sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen könne "nur durch die Räumung des Gebäudes begegnet werden", greift ebenso wenig durch. Ein Zwangsgeld ist nicht erst dann geeignet, wenn es mit Sicherheit den Willen des Pflichtigen beugt und ihn dazu bringt, das ihm Aufgegebene zu tun. Erst wenn bei objektiver Betrachtung unter keinen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass es den Betroffenen zu dem verlangten Tun, Dulden oder Unterlassen bewegen wird, ist es ungeeignet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 9 Rn. 42, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Zwangsgeldfestsetzung vom 17.9.2019 durfte die Beklagte (noch) davon ausgehen, dass der Kläger sich durch diese beeindrucken lassen und zukünftig pflichtgemäß verhalten wird. Streitgegenstand des Senatsbeschlusses vom 2.11.2020 war die spätere Festsetzung unmittelbaren Zwangs in Form der Versiegelung der Räumlichkeiten und des Austauschs der Schlösser/Schließanlage des Gebäudes X.-straße 46a mit Bescheid der Beklagten vom 22.10.2020, nachdem der Kläger - trotz der hier angefochtenen Festsetzungsverfügung vom 17.9.2019 - seiner Verpflichtung aus der Nutzungsuntersagungsverfügung nicht nachgekommen war. Das Verwaltungsgericht hat sich mit seinem Urteil deshalb auch nicht von der Rechtsprechung des Senats "distanziert".</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen, die Nutzungsuntersagungsverfügung sei nicht nur auf die formelle Illegalität gestützt, ihre Durchsetzung sei unverhältnismäßig, es werde auch die genehmigte Nutzung des Gebäudes als Schule untersagt, wegen der durch die Beklagte arglistig erschlichenen Bestandskraft sei die Nutzungsuntersagungsverfügung zwingend nichtig, das untragbare Verhalten der Beklagten sei stets von einer rechtswidrigen Aneignungsabsicht geleitet gewesen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auf die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung kommt es im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht an; Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung (vgl. § 44 VwVfG NRW) hat der Kläger nicht im Sinne des Gesetzes dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen rechtfertigt das Vorbringen des Klägers auch nicht die Annahme, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Der Kläger hat keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist auch nicht wegen einer Divergenz i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Aus den vorstehenden Gründen ist nicht i. S. d. Gesetzes dargelegt, dass das angegriffene Urteil auf einer Abweichung von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20, 7 B 1649/20, 7 B 1650/20, 7 B 1651/20, 7 B 1652/20 sowie 7 B 1653/20 - beruht.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht sei wegen einer fehlenden Inaugenscheinnahme nicht in der Lage gewesen, anhand der lückenhaften Akte festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Gebäude um die mit dem Bauschein (vom 17.7.1958) genehmigte Nähschule handele, mit der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages habe das Verwaltungsgericht den Verfahrensfehler unvollständiger Aufklärung des Sachverhaltes begangen, das Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensfehler, hätte das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme durchgeführt, hätte es erkannt, dass die Durchsetzung der Nutzungsuntersagung unverhältnismäßig sei. Es bedurfte hier indes keiner Beweiserhebung. Die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung ist - wie ausgeführt - nicht Streitgegenstand dieses Verfahrens. Ungeachtet dessen ist eine etwa mit Bauschein vom 17.7.1958 genehmigte Nutzung als "Nähschule mit Wirtschaftsraum" durch die Wohnnutzung erloschen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung des Beweisantrages, der darauf gerichtet war, zur Genehmigungsfähigkeit der streitgegenständlichen Nutzung - insbesondere zur Brandsicherheit - ein Sachverständigengutachten einzuholen, begründet ebenfalls keinen Verfahrensfehler. Die materielle Genehmigungsfähigkeit einer Wohnnutzung ist für die streitgegenständliche Zwangsgeldfestsetzung aus den vorstehenden Gründen irrelevant.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p>
|
346,066 | ovgnrw-2022-07-21-4-a-62320 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 A 623/20 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-05T10:01:15 | 2022-10-17T17:55:39 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.4A623.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 21.1.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 4.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Ihr Vorbringen weckt keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.10.2020 – 2 BvR 2426/17 –, juris, Rn. 34, m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 – 7 AV 4.03 –, juris, Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Rücknahmeverfügung der Beklagten vom 25.10.2018 mit der Begründung abgewiesen, die nach § 48 Abs. 1 VwVfG NRW erfolgte Rücknahme der gemäß § 33c Abs. 3 GewO erteilten Geeignetheitsbestätigung vom 20.6.2013 sei rechtmäßig. Es hat unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid ausgeführt: Das in der H.--------straße 13-15 in T. neben einer Spielhalle von der Klägerin betriebene Bistro hätte von Anfang an nicht den für die Aufstellung von Geldspielgeräten in einer Schank- und Speisewirtschaft maßgeblichen Voraussetzungen entsprochen. Nach den §§ 33c Abs. 3 Satz 1, 33f Abs. 1 Nr. 1 GewO i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 SpielV dürfe ein Geldspielgerät unter anderem nur in Räumen von Schank- oder Speisewirtschaften, in denen Getränke oder zubereitete Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle verabreicht würden, aufgestellt werden. Ein Gaststättenbetrieb im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 SpielV sei nur dann gegeben, wenn die gewerblichen Räume durch den Schank- und Speisebetrieb geprägt seien und nicht überwiegend einem anderen Zweck dienten. Die Beklagte habe sowohl ihr Rücknahmeermessen ordnungsgemäß ausgeübt, als auch die Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG NRW eingehalten.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die gegen diese Wertung erhobenen Einwände der Klägerin führen nicht zur Zulassung der Berufung.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zugrunde zu legen. Der für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts maßgebliche Zeitpunkt richtet sich nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht. Regelmäßig ist bei Anfechtungsklagen der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich, es sei denn, das materielle Recht regelt etwas Abweichendes.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.6.2006 – 6 C 19.06 –, BVerwGE 126, 149 = juris, Rn. 33, m. w. N; OVG NRW, Urteil vom 6.6.2019 ‒ 4 A 804/16 ‒, juris, Rn. 27 ff., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">So liegt es hier, wovon bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. konkret bezogen auf eine Rücknahmeentscheidung: BVerwG, Urteil vom 18.3.2021 – 7 C 1.20 –, juris, Rn. 16; siehe ferner BVerwG, Urteil vom 19.9.2018 – 8 C 16.17 –, BVerwGE 163, 102 = juris, Rn. 18 und 25, unter Bezugnahme auf OVG NRW, Urteil vom 10.11.2016 – 4 A 466/14 –, juris, Rn. 37.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das seinerzeit bereits absehbare Inkrafttreten einer Änderung der Spielverordnung ändert daran schon deshalb nichts, weil diese Neuregelung im behördlichen Entscheidungszeitpunkt noch nicht zum geltenden materiellen Recht gehörte. Sie war damit für den von der Beklagten auf der Grundlage des seinerzeit geltenden Rechts zu entscheidenden Sachverhalt unerheblich.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das Zulassungsvorbringen der Klägerin setzt der Annahme des Verwaltungsgerichts, die Räumlichkeit sei nicht durch den Schank- und Speisebetrieb geprägt und die Aufstellung von Geldspielgeräten stelle ihren Hauptzweck dar, nichts Durchgreifendes entgegen. Insbesondere greift der Einwand nicht durch, dem Verwaltungsgericht habe es an einem eigenen Eindruck von der Örtlichkeit gefehlt, es habe keine Ausführungen zu dessen Prägung gemacht, sondern sich ausschließlich den Feststellungen der Beklagten angeschlossen. Das Verwaltungsgericht hat sich vielmehr anhand der im Verwaltungsvorgang befindlichen Beschreibung der Örtlichkeit bei der Kontrolle durch Mitarbeiter der Beklagten am 17.7.2018 und der gefertigten Lichtbilder einen eigenen Eindruck von dem Bistro verschaffen können. Auf dieser Grundlage hat es nicht nur die Feststellungen der Beklagten bestätigt, sondern auf entsprechenden Einwand der Klägerin seine eigene Einschätzung ergänzend dargestellt (Urteilsabdruck, Seite 5, zweiter und dritter Absatz).</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen vermag das Zulassungsvorbringen mit Blick auf den optischen Schwerpunkt des Raums, eine typische Bistrogröße sowie das als umfangreich bewertete Getränke- und Speisenangebot nicht den Eindruck zu vermitteln, dass die Räumlichkeit ‒ unabhängig davon, ob zwei oder drei Geldspielgeräte aufgestellt sind ‒ die erforderliche Prägung einer Schank- und Speisewirtschaft aufweisen könnte. Der optischen Außen- und Innengestaltung der Räumlichkeit, der spärlichen Einrichtung, die aus drei Barhockern an einer Theke sowie zwei Barhockern an einem Stehtisch besteht, dem Vorhandensein eines Kaffeevollautomaten, einem Mikrowellengrill, einer Filterkaffeemaschine und einem Kühlschrank sowie einem über reine Snacks hinausgehenden Getränke- und Speisenangebot lässt sich kein schlüssiger Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass in diesem Raum der – tagsüber wegen fehlenden eigenen Personals ausschließlich durch das Personal der benachbarten Spielhalle ermöglichte – Verkauf und Verzehr von Getränken und Speisen im Vordergrund stehen könnte. Dies hatte die Beklagte bereits im streitgegenständlichen Bescheid vom 25.10.2018 ausführlich dargestellt (Seite 2, vierter bis letzter Absatz), ohne dass die Klägerin dem inhaltlich umfassend entgegen getreten wäre. In der Anhörung hatte sie die Feststellungen zum tagsüber fehlenden eigenen Personal sogar mittelbar dadurch bestätigt, dass sie angegeben hatte, für die Zeit von 01:00 Uhr bis 05:00 Uhr sei eigenständiges Personal im Café. Im Übrigen hat sie nur die Beschreibung der fotografisch dokumentierten und unstreitigen Bistroeinrichtung wiederholt sowie darauf hingewiesen, dass der Zuschnitt ihres Bistros demjenigen heute üblicher kleiner Bistrobetriebe entspreche. Auch insoweit ist sie auf die Argumentation des Verwaltungsgerichts, dass auch solchen üblichen Bistrobetrieben die Eignung zur Aufstellung von Geldspielgeräten fehle, wenn sie überwiegend einem anderen Zweck dienten, weder eingegangen noch erst recht dieser entgegengetreten. Eine andere Einschätzung ist insbesondere nicht deshalb geboten, weil sich der Schwerpunkt der Prägung der Räumlichkeit durch die auf die Gesetzesänderung hin nach Erlass des angegriffenen Bescheides erfolgte Verringerung von drei auf zwei Geldspielgeräten verlagert haben könnte. Abgesehen davon, dass es ‒ wie oben ausgeführt ‒ auf den Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung ankommt, zu dem noch drei Geldspielgeräte in dem Bistro der Klägerin vorhanden waren, stellt die Abschaffung eines Geldspielgeräts die Einschätzung, die Räumlichkeit sei schon wegen fehlender eigenständiger Bedienung zu den üblichen Besuchszeiten eines Bistros nicht durch den Schank- und Speisebetrieb geprägt, sondern durch den vom Personal der benachbarten Spielhalle mitbeaufsichtigten Spielbetrieb, nicht in Frage.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Weiter greift der Einwand der Klägerin nicht durch, § 48 Abs. 1 VwVfG NRW biete allein keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Geeignetheitsbestätigung, vielmehr hätten auch die Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 geprüft werden müssen. Dies hat die Beklagte jedoch getan, ohne die entsprechenden Absätze zu benennen. Sie hat den sich aus § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG NRW ergebenden Vertrauensschutz inhaltlich geprüft, was anhand der entsprechenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid (Seite 3, vorletzter Absatz, bis Seite 4, zweiter Absatz) ersichtlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Ebenso wenig gibt das Zulassungsvorbringen Durchgreifendes dafür her, die Beklagte habe ihre Ermessensentscheidung fehlerhaft getroffen, insbesondere weil sie von einem auf die Rücknahme intendierten Ermessen ausgegangen sei.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Ermessenserwägungen der Beklagten genügen den Anforderungen des § 48 Abs. 1 i. V. m. § 40 VwVfG NRW. Zwar sprechen sie die Frage des Vertrauensschutzes nur knapp an (Seite 4, zweiter Absatz des Bescheids vom 25.10.2018). Darin lässt sich aber erkennen, dass die Beklagte das Vertrauen der Klägerin auf das Fortbestehen der Geeignetheitsbestätigung und ihr wirtschaftliches Interesse daran berücksichtigt hat, das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 SpielV und an einem wirksamen Kinder-, Jugend- und Spielerschutz aber für vorrangig hielt. Diese Gewichtung trägt dem Zweck des § 48 Abs. 1 VwVfG NRW Rechnung und hält sich innerhalb der rechtlichen Grenzen des Ermessens.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.9.2018 – 8 C 16.17 –, BVerwGE 163, 102 = juris, Rn. 27.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Da die Klägerin keine über rein wirtschaftliche Interessen hinausgehenden Interessen geltend gemacht hat, die einen Vertrauensschutz über die Ausgleichsregelung nach § 48 Abs. 3 Satz 1 VwVfG NRW hinaus rechtfertigen könnten,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 20.3.1990 ‒ 9 C 12.89 ‒, BVerwGE 85, 79 ff. = juris, Rn. 26 f.; BT- Drs. 7/910, S. 71; OVG NRW, Beschluss vom 4.2.2019 – 4 B 1137/18 –, juris, Rn. 21 f., m. w. N.,</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">führt auch die Annahme, das Ermessen sei „intendiert“, angesichts der insgesamt ausreichenden Ermessensausübung nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils. Ermessensrelevante Gesichtspunkte, die aufgrund dieser Annahme unberücksichtigt geblieben sein könnten, hat die Klägerin weder aufgezeigt noch sind solche sonst ersichtlich. Solche ergeben sich insbesondere nicht aus der seit Erteilung der Geeignetheitsbestätigung unveränderten Sachlage, die bereits als ursprüngliche Rechtswidrigkeit Tatbestandsvoraussetzung für die Rücknahme ist.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.9.2018 – 8 C 16.17 –, BVerwGE 163, 102 = juris, Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Auch die seinerzeit absehbare Rechtsänderung, nach der nur noch zwei statt zuvor drei Geldspielgeräte in Gaststätten aufgestellt werden durften, änderte, wie ausgeführt, nichts an der Prägung durch den Spielbetrieb und war im Übrigen als noch nicht geltendes Recht nach dem Zweck der Ermächtigung noch nicht zu berücksichtigen. Ein über wirtschaftliche Interessen hinausgehender Vertrauensschutz ist auch insoweit nicht aufgezeigt.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">2. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten liegen dann vor, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9.12.2020 ‒ 4 A 74/19 ‒, juris, Rn. 20 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das ist hier nicht der Fall. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass sich die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen bereits im Zulassungsverfahren klären lassen. Insbesondere vermag der Verweis auf die durch die Änderung der Spielverordnung erfolgte Reduzierung der zulässigen Geldspielgeräte angesichts der hiervon unabhängigen Notwendigkeit der Prägung der Räumlichkeit durch den Schank- und Speisebetrieb keine rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">3. Schließlich ist die Berufung nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 5 Nr. 5 VwGO). Die von der Klägerin erhobene Aufklärungsrüge in Bezug auf die Prägung des von ihr betriebenen Bistros greift nicht durch. Zur Beurteilung, ob die Ausgabe von Speisen und Getränken eine maßgebliche oder aber untergeordnete Rolle in dem Bistro spielt, bedurfte es angesichts des bereits oben angeführten Kontrollberichts sowie der gefertigten Lichtbilder keiner Inaugenscheinnahme der Örtlichkeit durch das Gericht. Die Klägerin hat auch nicht dargelegt, dass sich die Örtlichkeit tatsächlich anders als von der Beklagten und dem Verwaltungsgericht beschrieben darstellen könnte. Ihr Hinweis darauf, dass das Bistro maßgeblich durch ein gastronomisches Angebot sowie ein gastrotypisches Mobiliar geprägt werde, gibt ausschließlich ihre persönliche Einschätzung wieder.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG. Das Interesse der Klägerin am Fortbestand der Geeignetheitsbestätigungen nach § 33c Abs. 3 GewO beurteilt sich nach der Zahl der in Rede stehenden Geldspielgeräte. Dabei berücksichtigt der Senat, dass es der Klägerin im zweitinstanzlichen Verfahren ausweislich ihres Zulassungsvorbringens ausschließlich noch um die Beibehaltung der seit November 2019 zulässigen zwei Geldspielgeräte in ihrem Bistro geht, für die jeweils ein Betrag von 2.000,00 € zugrunde gelegt wird.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5.6.2020 – 4 B 230/20 –, juris, Rn. 16, und vom 18.1.2017 ‒ 4 A 1998/14 ‒, juris, Rn. 21 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.</p>
|
346,051 | ovgnrw-2022-07-21-7-a-115821 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 A 1158/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-04T10:00:57 | 2022-10-17T17:55:37 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7A1158.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 20.003,45 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das fristgemäße Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Festsetzung des Zwangsgeldes in Höhe von 10.000,00 Euro vorgelegen hätten.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht verwechsele die Grundverfügung mit der Zwangsgeldfestsetzung, mit der Versiegelung des Hauses X.-straße 46a seit dem 4.11.2020 hätte sich die Festsetzungsverfügung erledigt, die Beugefunktion der angefochtenen Verfügung sei entfallen, der mit ihr verfolgte Zweck erreicht, das Zwangsgeld werde zu einer reinen Sanktion, was nach dem Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13.8.2015 - 5 K 4117/14 -, juris, unzulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Rüge greift nicht durch. Bei einem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot kann ein Zwangsgeld auch dann festgesetzt und beigetrieben werden, wenn eine weitere Zuwiderhandlung wegen Fristablaufs oder Erledigung der Verfügung nicht mehr möglich ist. Entscheidend ist allein, dass der Verstoß gegen die vollziehbare Ordnungsverfügung nach der Androhung und während der Zeit, in der das Verbot noch galt, erfolgt ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.9.1992 - 4 A3840/91 -, NVwZ-RR 1993, 671 = juris, m. w. N; Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.; Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 13 Rn. 121.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier der Fall. Die Klägerin ist der ihr mit bestandskräftiger Ordnungsverfügung vom 17.1.2014 aufgegebenen Verpflichtung, jegliche Nutzung des Gebäudes X.-straße 46a zu unterlassen, innerhalb der ihr eingeräumten Frist nicht nachgekommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Festsetzungsverfügung hänge von der Auslegung des Begriffs "Gestattung der gebotenen Handlung" in § 60 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz VwVG NRW ab. § 60 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz VwVG NRW schränkt den ersten Halbsatz ein und bestimmt, dass ein Zwangsgeld (jedoch) beizutreiben ist, wenn der Duldungs- oder Unterlassungspflicht zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgeldes erreicht werden sollte. Mit der Einfügung des zweiten Halbsatzes in § 60 Abs. 3 Satz 2 VwVG NRW sollte klarstellend die schon zuvor bestehende ständige Rechtsprechung bestätigt werden, nach der ein Zwangsgeld auch dann noch festgesetzt und beigetrieben werden konnte, wenn gegen ein Unterlassungsgebot mit Zwangsgeldandrohung verstoßen wurde, ein weiterer Verstoß gegen die Ordnungsverfügung aber nicht mehr möglich war.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand, das Zwangsgeld sei das falsche Zwangsmittel, dies ergebe sich aus dem Senatsbeschluss vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20 -, in dem das Oberverwaltungsgericht ausgeführt habe, der wegen des unzureichenden Brandschutzes bestehenden akuten Gefahr für Leib und Leben der sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen könne "nur durch die Räumung des Gebäudes begegnet werden", greift ebenso wenig durch. Ein Zwangsgeld ist nicht erst dann geeignet, wenn es mit Sicherheit den Willen des Pflichtigen beugt und ihn dazu bringt, das ihm Aufgegebene zu tun. Erst wenn bei objektiver Betrachtung unter keinen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass es den Betroffenen zu dem verlangten Tun, Dulden oder Unterlassen bewegen wird, ist es ungeeignet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 9 Rn. 42, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Zwangsgeldfestsetzung vom 17.9.2019 durfte die Beklagte (noch) davon ausgehen, dass die Klägerin sich durch diese beeindrucken lassen und zukünftig pflichtgemäß verhalten wird. Streitgegenstand des Senatsbeschlusses vom 2.11.2020 war die spätere Festsetzung unmittelbaren Zwangs in Form der Versiegelung der Räumlichkeiten und des Austauschs der Schlösser/Schließanlage des Gebäudes X.-straße 46a mit Bescheid der Beklagten vom 22.10.2020, nachdem die Klägerin - trotz der hier angefochtenen Festsetzungsverfügung vom 17.9.2019 - ihrer Verpflichtung aus der Nutzungsuntersagungsverfügung nicht nachgekommen war. Das Verwaltungsgericht hat sich mit seinem Urteil deshalb auch nicht von der Rechtsprechung des Senats "distanziert".</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen, die Nutzungsuntersagungsverfügung sei nicht nur auf die formelle Illegalität gestützt, ihre Durchsetzung sei unverhältnismäßig, es werde auch die genehmigte Nutzung des Gebäudes als Schule untersagt, wegen der durch die Beklagte arglistig erschlichenen Bestandskraft sei die Nutzungsuntersagungsverfügung zwingend nichtig, das untragbare Verhalten der Beklagten sei stets von einer rechtswidrigen Aneignungsabsicht geleitet gewesen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auf die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung kommt es im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht an; Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung (vgl. § 44 VwVfG NRW) hat die Klägerin nicht im Sinne des Gesetzes dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen rechtfertigt das Vorbringen der Klägerin auch nicht die Annahme, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Die Klägerin hat keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist auch nicht wegen einer Divergenz i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Aus den vorstehenden Gründen ist nicht i. S. d. Gesetzes dargelegt, dass das angegriffene Urteil auf einer Abweichung von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20, 7 B 1649/20, 7 B 1650/20, 7 B 1651/20, 7 B 1652/20 sowie 7 B 1653/20 - beruht.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht sei wegen einer fehlenden Inaugenscheinnahme nicht in der Lage gewesen, anhand der lückenhaften Akte festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Gebäude um die mit dem Bauschein (vom 17.7.1958) genehmigte Nähschule handele, mit der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages habe das Verwaltungsgericht den Verfahrensfehler unvollständiger Aufklärung des Sachverhaltes begangen, das Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensfehler, hätte das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme durchgeführt, hätte es erkannt, dass die Durchsetzung der Nutzungsuntersagung unverhältnismäßig sei. Es bedurfte hier indes keiner Beweiserhebung. Die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung ist - wie ausgeführt - nicht Streitgegenstand dieses Verfahrens. Ungeachtet dessen ist eine etwa mit Bauschein vom 17.7.1958 genehmigte Nutzung als "Nähschule mit Wirtschaftsraum" durch die Wohnnutzung erloschen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung des Beweisantrages, der darauf gerichtet war, zur Genehmigungsfähigkeit der streitgegenständlichen Nutzung - insbesondere zur Brandsicherheit - ein Sachverständigengutachten einzuholen, begründet ebenfalls keinen Verfahrensfehler. Die materielle Genehmigungsfähigkeit einer Wohnnutzung ist für die streitgegenständliche Zwangsgeldfestsetzung aus den vorstehenden Gründen irrelevant.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p>
|
346,050 | ovgnrw-2022-07-21-7-a-115621 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 A 1156/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-04T10:00:57 | 2022-10-17T17:55:37 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7A1156.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 20.003,45 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das fristgemäße Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Festsetzung des Zwangsgeldes in Höhe von 10.000,00 Euro vorgelegen hätten.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht verwechsele die Grundverfügung mit der Zwangsgeldfestsetzung, mit der Versiegelung des Hauses X.-straße 46a seit dem 4.11.2020 hätte sich die Festsetzungsverfügung erledigt, die Beugefunktion der angefochtenen Verfügung sei entfallen, der mit ihr verfolgte Zweck erreicht, das Zwangsgeld werde zu einer reinen Sanktion, was nach dem Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13.8.2015 - 5 K 4117/14 -, juris, unzulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Rüge greift nicht durch. Bei einem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot kann ein Zwangsgeld auch dann festgesetzt und beigetrieben werden, wenn eine weitere Zuwiderhandlung wegen Fristablaufs oder Erledigung der Verfügung nicht mehr möglich ist. Entscheidend ist allein, dass der Verstoß gegen die vollziehbare Ordnungsverfügung nach der Androhung und während der Zeit, in der das Verbot noch galt, erfolgt ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.9.1992 - 4 A3840/91 -, NVwZ-RR 1993, 671 = juris, m. w. N; Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.; Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 13 Rn. 121.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier der Fall. Die Klägerin ist der ihr mit bestandskräftiger Ordnungsverfügung vom 17.1.2014 aufgegebenen Verpflichtung, jegliche Nutzung des Gebäudes X.-straße 46a zu unterlassen, innerhalb der ihr eingeräumten Frist nicht nachgekommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Festsetzungsverfügung hänge von der Auslegung des Begriffs "Gestattung der gebotenen Handlung" in § 60 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz VwVG NRW ab. § 60 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz VwVG NRW schränkt den ersten Halbsatz ein und bestimmt, dass ein Zwangsgeld (jedoch) beizutreiben ist, wenn der Duldungs- oder Unterlassungspflicht zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgeldes erreicht werden sollte. Mit der Einfügung des zweiten Halbsatzes in § 60 Abs. 3 Satz 2 VwVG NRW sollte klarstellend die schon zuvor bestehende ständige Rechtsprechung bestätigt werden, nach der ein Zwangsgeld auch dann noch festgesetzt und beigetrieben werden konnte, wenn gegen ein Unterlassungsgebot mit Zwangsgeldandrohung verstoßen wurde, ein weiterer Verstoß gegen die Ordnungsverfügung aber nicht mehr möglich war.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand, das Zwangsgeld sei das falsche Zwangsmittel, dies ergebe sich aus dem Senatsbeschluss vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20 -, in dem das Oberverwaltungsgericht ausgeführt habe, der wegen des unzureichenden Brandschutzes bestehenden akuten Gefahr für Leib und Leben der sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen könne "nur durch die Räumung des Gebäudes begegnet werden", greift ebenso wenig durch. Ein Zwangsgeld ist nicht erst dann geeignet, wenn es mit Sicherheit den Willen des Pflichtigen beugt und ihn dazu bringt, das ihm Aufgegebene zu tun. Erst wenn bei objektiver Betrachtung unter keinen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass es den Betroffenen zu dem verlangten Tun, Dulden oder Unterlassen bewegen wird, ist es ungeeignet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 9 Rn. 42, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Zwangsgeldfestsetzung vom 17.9.2019 durfte die Beklagte (noch) davon ausgehen, dass die Klägerin sich durch diese beeindrucken lassen und zukünftig pflichtgemäß verhalten wird. Streitgegenstand des Senatsbeschlusses vom 2.11.2020 war die spätere Festsetzung unmittelbaren Zwangs in Form der Versiegelung der Räumlichkeiten und des Austauschs der Schlösser/Schließanlage des Gebäudes X.-straße 46a mit Bescheid der Beklagten vom 22.10.2020, nachdem die Klägerin - trotz der hier angefochtenen Festsetzungsverfügungen vom 17.9.2019 - ihrer Verpflichtung aus den Nutzungsuntersagungsverfügungen nicht nachgekommen war. Das Verwaltungsgericht hat sich mit seinem Urteil deshalb auch nicht von der Rechtsprechung des Senats "distanziert".</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen, die Nutzungsuntersagungsverfügung sei nicht nur auf die formelle Illegalität gestützt, ihre Durchsetzung sei unverhältnismäßig, es werde auch die genehmigte Nutzung des Gebäudes als Schule untersagt, wegen der durch die Beklagte arglistig erschlichenen Bestandskraft sei die Nutzungsuntersagungsverfügung zwingend nichtig, das untragbare Verhalten der Beklagten sei stets von einer rechtswidrigen Aneignungsabsicht geleitet gewesen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auf die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung kommt es im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht an; Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung (vgl. § 44 VwVfG NRW) hat die Klägerin nicht im Sinne des Gesetzes dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen rechtfertigt das Vorbringen der Klägerin auch nicht die Annahme, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Die Klägerin hat keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist auch nicht wegen einer Divergenz i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Aus den vorstehenden Gründen ist nicht i. S. d. Gesetzes dargelegt, dass das angegriffene Urteil auf einer Abweichung von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20, 7 B 1649/20, 7 B 1650/20, 7 B 1651/20, 7 B 1652/20 sowie 7 B 1653/20 - beruht.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht sei wegen einer fehlenden Inaugenscheinnahme nicht in der Lage gewesen, anhand der lückenhaften Akte festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Gebäude um die mit dem Bauschein (vom 17.7.1958) genehmigte Nähschule handele, mit der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages habe das Verwaltungsgericht den Verfahrensfehler unvollständiger Aufklärung des Sachverhaltes begangen, das Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensfehler, hätte das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme durchgeführt, hätte es erkannt, dass die Durchsetzung der Nutzungsuntersagungen unverhältnismäßig sei. Es bedurfte hier indes keiner Beweiserhebung. Die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügung ist - wie ausgeführt - nicht Streitgegenstand dieses Verfahrens. Ungeachtet dessen ist eine etwa mit Bauschein vom 17.7.1958 genehmigte Nutzung als "Nähschule mit Wirtschaftsraum" durch die Wohnnutzung erloschen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung des Beweisantrages, der darauf gerichtet war, zur Genehmigungsfähigkeit der streitgegenständlichen Nutzung - insbesondere zur Brandsicherheit - ein Sachverständigengutachten einzuholen, begründet ebenfalls keinen Verfahrensfehler. Die materielle Genehmigungsfähigkeit einer Wohnnutzung ist für die streitgegenständliche Zwangsgeldfestsetzung aus den vorstehenden Gründen irrelevant.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p>
|
346,049 | ovgnrw-2022-07-21-7-a-115421 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 A 1154/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-04T10:00:57 | 2022-10-17T17:55:36 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7A1154.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.510,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das fristgemäße Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Festsetzung des Zwangsgeldes in Höhe von jeweils 2.500,00 Euro vorgelegen hätten und zur Begründung im Wesentlichen auf seinen Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - 10 L 1088/18 - (bestätigt durch Senatsbeschluss vom 16.11.2018 - 7 B 1291/18 -) verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Kläger rügen, das Verwaltungsgericht verwechsele die Grundverfügungen mit den Zwangsgeldfestsetzungen, mit der Versiegelung des Hauses X.-straße 46a seit dem 4.11.2020 hätten sich die Festsetzungsverfügungen erledigt, die Beugefunktion der angefochtenen Verfügungen sei entfallen, der mit ihnen verfolgte Zweck erreicht, das Zwangsgeld werde zu einer reinen Sanktion, was nach dem Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13.8.2015 - 5 K 4117/14 -, juris, unzulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Rüge greift nicht durch. Bei einem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot kann ein Zwangsgeld auch dann festgesetzt und beigetrieben werden, wenn eine weitere Zuwiderhandlung wegen Fristablaufs oder Erledigung der Verfügung nicht mehr möglich ist. Entscheidend ist allein, dass der Verstoß gegen die vollziehbare Ordnungsverfügung nach der Androhung und während der Zeit, in der das Verbot noch galt, erfolgt ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.9.1992 - 4 A3840/91 -, NVwZ-RR 1993, 671 = juris, m. w. N; Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.; Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 13 Rn. 121.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier der Fall. Die Kläger sind der ihnen mit bestandskräftigen Ordnungsverfügungen vom 16./17.1.2014 aufgegebenen Verpflichtung, jegliche Nutzung des Gebäudes X.-straße 46a zu unterlassen, innerhalb der ihnen eingeräumten Frist nicht nachgekommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Festsetzungsverfügungen hänge von der Auslegung des Begriffs "Gestattung der gebotenen Handlung" in § 60 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz VwVG NRW ab. § 60 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz VwVG NRW schränkt den ersten Halbsatz ein und bestimmt, dass ein Zwangsgeld (jedoch) beizutreiben ist, wenn der Duldungs- oder Unterlassungspflicht zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgeldes erreicht werden sollte. Mit der Einfügung des zweiten Halbsatzes in § 60 Abs. 3 Satz 2 VwVG NRW sollte klarstellend die schon zuvor bestehende ständige Rechtsprechung bestätigt werden, nach der ein Zwangsgeld auch dann noch festgesetzt und beigetrieben werden konnte, wenn gegen ein Unterlassungsgebot mit Zwangsgeldandrohung verstoßen wurde, ein weiterer Verstoß gegen die Ordnungsverfügung aber nicht mehr möglich war.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand, das Zwangsgeld sei das falsche Zwangsmittel, dies ergebe sich aus dem Senatsbeschluss vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20 -, in dem das Oberverwaltungsgericht ausgeführt habe, der wegen des unzureichenden Brandschutzes bestehenden akuten Gefahr für Leib und Leben der sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen könne "nur durch die Räumung des Gebäudes begegnet werden", greift ebenso wenig durch. Ein Zwangsgeld ist nicht erst dann geeignet, wenn es mit Sicherheit den Willen des Pflichtigen beugt und ihn dazu bringt, das ihm Aufgegebene zu tun. Erst wenn bei objektiver Betrachtung unter keinen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass es den Betroffenen zu dem verlangten Tun, Dulden oder Unterlassen bewegen wird, ist es ungeeignet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 9 Rn. 42, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Zwangsgeldfestsetzungen vom 7.5.2018 durfte die Beklagte (noch) davon ausgehen, dass die Kläger sich durch diese beeindrucken lassen und zukünftig pflichtgemäß verhalten werden. Streitgegenstand des Senatsbeschlusses vom 2.11.2020 war die spätere Festsetzung unmittelbaren Zwangs in Form der Versiegelung der Räumlichkeiten und des Austauschs der Schlösser/Schließanlage des Gebäudes X.-straße 46a mit Bescheid der Beklagten vom 22.10.2020, nachdem die Kläger - trotz der hier angefochtenen Festsetzungsverfügungen vom 7.5.2018 - ihrer Verpflichtung aus den Nutzungsuntersagungsverfügungen nicht nachgekommen waren. Das Verwaltungsgericht hat sich mit seinem Urteil deshalb auch nicht von der Rechtsprechung des Senats "distanziert".</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen, die Nutzungsuntersagungsverfügungen seien nicht nur auf die formelle Illegalität gestützt, ihre Durchsetzung sei unverhältnismäßig, es werde auch die genehmigte Nutzung des Gebäudes als Schule untersagt, wegen der durch die Beklagte arglistig erschlichenen Bestandskraft seien die Nutzungsuntersagungsverfügungen zwingend nichtig, das untragbare Verhalten der Beklagten sei stets von einer rechtswidrigen Aneignungsabsicht geleitet gewesen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auf die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügungen kommt es im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht an; Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügungen (vgl. § 44 VwVfG NRW) haben die Kläger nicht im Sinne des Gesetzes dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen rechtfertigt das Vorbringen der Kläger auch nicht die Annahme, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Die Kläger haben keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist auch nicht wegen einer Divergenz i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Aus den vorstehenden Gründen ist nicht i. S. d. Gesetzes dargelegt, dass das angegriffene Urteil auf einer Abweichung von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20, 7 B 1649/20, 7 B 1650/20, 7 B 1651/20, 7 B 1652/20 sowie 7 B 1653/20 - beruht.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Kläger machen geltend, das Verwaltungsgericht sei wegen einer fehlenden Inaugenscheinnahme nicht in der Lage gewesen, anhand der lückenhaften Akte festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Gebäude um die mit dem Bauschein (vom 17.7.1958) genehmigte Nähschule handele, mit der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages habe das Verwaltungsgericht den Verfahrensfehler unvollständiger Aufklärung des Sachverhaltes begangen, das Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensfehler, hätte das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme durchgeführt, hätte es erkannt, dass die Durchsetzung der Nutzungsuntersagungen unverhältnismäßig sei. Es bedurfte hier indes keiner Beweiserhebung. Die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügungen ist - wie ausgeführt - nicht Streitgegenstand dieses Verfahrens. Ungeachtet dessen ist eine etwa mit Bauschein vom 17.7.1958 genehmigte Nutzung als "Nähschule mit Wirtschaftsraum" durch die Wohnnutzung erloschen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung des Beweisantrages, der darauf gerichtet war, zur Genehmigungsfähigkeit der streitgegenständlichen Nutzung - insbesondere zur Brandsicherheit - ein Sachverständigengutachten einzuholen, begründet ebenfalls keinen Verfahrensfehler. Die materielle Genehmigungsfähigkeit einer Wohnnutzung ist für die streitgegenständlichen Zwangsgeldfestsetzungen aus den vorstehenden Gründen irrelevant.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p>
|
346,048 | ovgnrw-2022-07-21-7-a-115521 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 A 1155/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-04T10:00:56 | 2022-10-17T17:55:36 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7A1155.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 35.013,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das fristgemäße Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Festsetzung der Zwangsgelder in Höhe von jeweils 5.000,00 Euro hinsichtlich der Kläger zu 1. - 3. und in Höhe von 2.500,00 Euro hinsichtlich des Klägers zu 4. vorgelegen hätten und zur Begründung im Wesentlichen auf seinen Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - 10 L 304/19 - (bestätigt durch Senatsbeschluss vom 15.8.2019 - 7 B 969/19 -) verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Kläger rügen, das Verwaltungsgericht verwechsele die Grundverfügungen mit den Zwangsgeldfestsetzungen, mit der Versiegelung des Hauses X.-straße 46a seit dem 4.11.2020 hätten sich die Festsetzungsverfügungen erledigt, die Beugefunktion der angefochtenen Verfügungen sei entfallen, der mit ihnen verfolgte Zweck erreicht, das Zwangsgeld werde zu einer reinen Sanktion, was nach dem Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13.8.2015 - 5 K 4117/14 -, juris, unzulässig sei.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Diese Rüge greift nicht durch. Bei einem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot kann ein Zwangsgeld auch dann festgesetzt und beigetrieben werden, wenn eine weitere Zuwiderhandlung wegen Fristablaufs oder Erledigung der Verfügung nicht mehr möglich ist. Entscheidend ist allein, dass der Verstoß gegen die vollziehbare Ordnungsverfügung nach der Androhung und während der Zeit, in der das Verbot noch galt, erfolgt ist.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.9.1992 - 4 A3840/91 -, NVwZ-RR 1993, 671 = juris, m. w. N; Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.; Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 13 Rn. 121.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier der Fall. Die Kläger zu 1. - 3. sind der ihnen mit bestandskräftigen Ordnungsverfügungen vom 16./17.1.2014 und hinsichtlich des Klägers zu 4. mit vollziehbarer Ordnungsverfügung vom 25.4.2018 (vgl. Senatsbeschluss vom 16.11.2018 - 7 B 1290/18) aufgegebenen Verpflichtung, jegliche Nutzung des Gebäudes X.-straße 46a zu unterlassen, innerhalb der ihnen eingeräumten Frist nicht nachgekommen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Festsetzungsverfügungen hänge von der Auslegung des Begriffs "Gestattung der gebotenen Handlung" in § 60 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz VwVG NRW ab. § 60 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz VwVG NRW schränkt den ersten Halbsatz ein und bestimmt, dass ein Zwangsgeld (jedoch) beizutreiben ist, wenn der Duldungs- oder Unterlassungspflicht zuwidergehandelt worden ist, deren Erfüllung durch die Androhung des Zwangsgeldes erreicht werden sollte. Mit der Einfügung des zweiten Halbsatzes in § 60 Abs. 3 Satz 2 VwVG NRW sollte klarstellend die schon zuvor bestehende ständige Rechtsprechung bestätigt werden, nach der ein Zwangsgeld auch dann noch festgesetzt und beigetrieben werden konnte, wenn gegen ein Unterlassungsgebot mit Zwangsgeldandrohung verstoßen wurde, ein weiterer Verstoß gegen die Ordnungsverfügung aber nicht mehr möglich war.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.3.2019 - 4 B 71/19 -, juris, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitere Einwand, das Zwangsgeld sei das falsche Zwangsmittel, dies ergebe sich aus dem Senatsbeschluss vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20 -, in dem das Oberverwaltungsgericht ausgeführt habe, der wegen des unzureichenden Brandschutzes bestehenden akuten Gefahr für Leib und Leben der sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen könne "nur durch die Räumung des Gebäudes begegnet werden", greift ebenso wenig durch. Ein Zwangsgeld ist nicht erst dann geeignet, wenn es mit Sicherheit den Willen des Pflichtigen beugt und ihn dazu bringt, das ihm Aufgegebene zu tun. Erst wenn bei objektiver Betrachtung unter keinen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass es den Betroffenen zu dem verlangten Tun, Dulden oder Unterlassen bewegen wird, ist es ungeeignet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sadler/Tillmanns in Sadler Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Auflage, 2020, § 9 Rn. 42, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Zwangsgeldfestsetzungen vom 17.1.2019 durfte die Beklagte (noch) davon ausgehen, dass die Kläger sich durch diese beeindrucken lassen und zukünftig pflichtgemäß verhalten werden. Streitgegenstand des Senatsbeschlusses vom 2.11.2020 war die spätere Festsetzung unmittelbaren Zwangs in Form der Versiegelung der Räumlichkeiten und des Austauschs der Schlösser/Schließanlage des Gebäudes X.-straße 46a mit Bescheid der Beklagten vom 22.10.2020, nachdem die Kläger - trotz der hier angefochtenen Festsetzungsverfügungen vom 17.1.2019 - ihrer Verpflichtung aus den Nutzungsuntersagungsverfügungen nicht nachgekommen waren. Das Verwaltungsgericht hat sich mit seinem Urteil deshalb auch nicht von der Rechtsprechung des Senats "distanziert".</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen, die Nutzungsuntersagungsverfügungen seien nicht nur auf die formelle Illegalität gestützt, ihre Durchsetzung sei unverhältnismäßig, es werde auch die genehmigte Nutzung des Gebäudes als Schule untersagt, wegen der durch die Beklagte arglistig erschlichenen Bestandskraft seien die Nutzungsuntersagungsverfügungen zwingend nichtig, das untragbare Verhalten der Beklagten sei stets von einer rechtswidrigen Aneignungsabsicht geleitet gewesen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auf die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügungen kommt es im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich nicht an; Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügungen (vgl. § 44 VwVfG NRW) haben die Kläger nicht im Sinne des Gesetzes dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen rechtfertigt das Vorbringen der Kläger auch nicht die Annahme, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Die Kläger haben keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist auch nicht wegen einer Divergenz i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Aus den vorstehenden Gründen ist nicht i. S. d. Gesetzes dargelegt, dass das angegriffene Urteil auf einer Abweichung von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2.11.2020 - 7 B 1648/20, 7 B 1649/20, 7 B 1650/20, 7 B 1651/20, 7 B 1652/20 sowie 7 B 1653/20 - beruht.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Kläger machen geltend, das Verwaltungsgericht sei wegen einer fehlenden Inaugenscheinnahme nicht in der Lage gewesen, anhand der lückenhaften Akte festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Gebäude um die mit dem Bauschein (vom 17.7.1958) genehmigte Nähschule handele, mit der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages habe das Verwaltungsgericht den Verfahrensfehler unvollständiger Aufklärung des Sachverhaltes begangen, das Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensfehler, hätte das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme durchgeführt, hätte es erkannt, dass die Durchsetzung der Nutzungsuntersagungen unverhältnismäßig sei. Es bedurfte hier indes keiner Beweiserhebung. Die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagungsverfügungen ist - wie ausgeführt - nicht Streitgegenstand dieses Verfahrens. Ungeachtet dessen ist eine etwa mit Bauschein vom 17.7.1958 genehmigte Nutzung als "Nähschule mit Wirtschaftsraum" durch die Wohnnutzung erloschen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Ablehnung des Beweisantrages, der darauf gerichtet war, zur Genehmigungsfähigkeit der streitgegenständlichen Nutzung - insbesondere zur Brandsicherheit - ein Sachverständigengutachten einzuholen, begründet ebenfalls keinen Verfahrensfehler. Die materielle Genehmigungsfähigkeit einer Wohnnutzung ist für die streitgegenständlichen Zwangsgeldfestsetzungen aus den vorstehenden Gründen irrelevant.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p>
|
346,047 | olgham-2022-07-21-2-uf-8821 | {
"id": 821,
"name": "Oberlandesgericht Hamm",
"slug": "olgham",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 2 UF 88/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-04T10:00:56 | 2022-10-17T17:55:36 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0721.2UF88.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1. Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen zu 1 und 2 wird der am 01.04.2021 erlassene Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Marl, unter Zurückweisung der Beschwerde im Übrigen, zu Ziffer 1. seines Tenors abgeändert und wie folgt neu gefasst:</p>
<p>a) Der Antragsgegner wird verpflichtet, für die Antragstellerin zu 1) Kindesunterhalt wie folgt zu zahlen:</p>
<p>Rückständigen Unterhalt in Höhe von 3.399 € für die Zeit vom 01.02.2019 bis zum 30.06.2022 an das Land Nordrhein-Westfalen, vertr. durch die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A, sowie</p>
<p>laufenden Unterhalt an die Antragstellerin zu 1) in Höhe von 159 € monatlich ab Juli 2022.</p>
<p>b) Der Antragsgegner wird verpflichtet, für die Antragstellerin zu 2) Kindesunterhalt wie folgt zu zahlen:</p>
<p>Rückständigen Unterhalt in Höhe von 3.279 € für die Zeit vom 01.02.2019 bis zum 30.06.2022 an das Land Nordrhein-Westfalen, vertr. durch die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A, sowie</p>
<p>laufenden Unterhalt an die Antragstellerin zu 2) in Höhe von 128 € monatlich ab Juli 2022.</p>
<p>2. Soweit die Antragstellerinnen zu 1) und 2) die Beschwerde hinsichtlich des Monats Januar 2019 zurückgenommen haben, werden sie des Rechtsmittels für verlustig erklärt.</p>
<p>3. Hinsichtlich der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens bleibt es bei der amtsgerichtlichen Entscheidung. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen der Antragsgegner zu 1/5 und die Antragstellerinnen zu 1) und 2) zu 4/5 als Gesamtschuldnerinnen.</p>
<p>4. Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 7.138 € festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die am 00.00.2010 geborene Antragstellerin zu 1) und die am 00.00.2012 geborene Antragstellerin zu 2) nehmen den Antragsgegner auf Zahlung von Kindesunterhalt in Anspruch.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerinnen sind als leibliche Kinder aus der im Jahr 2017 geschiedenen Ehe des Antragsgegners mit ihrer gesetzlichen Vertreterin hervorgegangen. Sie leben im Haushalt ihrer Mutter, die neben dem Kindergeld Leistungen der Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A bezieht, welche sich im Jahr 2019 jeweils auf monatlich 202 €, im Jahr 2020 auf monatlich 220 €, im Jahr 2021 auf monatlich 223 € und von Januar bis April 2022 auf jeweils 236 € beliefen; seit Mai 2022 beträgt die UVG-Leistung für die Antragstellerin zu 1) 314 € und für die Antragstellerin zu 2) weiterhin 236 €.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Weiteres eheliches Kind ist der Sohn B, geboren am 00.00.2007, der im Haushalt des Antragsgegners lebt und für den die Mutter, die keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und ein weiteres, 5-jähriges Kind aus einer anderen Beziehung betreut, keinen Unterhalt zahlt. Der Antragsgegner bezieht für B neben dem Kindergeld Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die sich von Februar bis Juni 2019 auf 418,62 € monatlich und ab Juli 2019 auf 408,62 € monatlich beliefen und die im Jahr 2020 der Höhe nach weitgehend unverändert fortgezahlt wurden. Seit 2021 beträgt die Zahlung monatlich 478,27 €.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der am 00.00.1965 geborene Antragsgegner stammt aus C und lebt seit 1987 in Deutschland. Er hat eine Ausbildung zum Landwirtschaftstechniker, Schwerpunkt (..), in C absolviert, diesen Beruf in Deutschland aber nie ausgeübt. Nach seiner Einreise war er zunächst als Produktionsmitarbeiter tätig und hat etwa ab 1991 eine Schulung zum Autolackierer absolviert. Anschließend war er als Selbständiger mit einer Immobilienfirma, einer Transportfirma, im Bereich der Qualitätskontrolle für die Auto- und High-Tech-Industrie und im Börsenhandel erwerbstätig, wobei er seinen Angaben zufolge zeitweise bis zu 5.000 € monatlich verdient hat. Seine Erwerbstätigkeit hat er spätestens 2012 aufgegeben. Bereits während der Ehe bezogen die Beteiligten Leistungen des Jobcenters.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner leidet seit Ende der 1990-iger Jahre an einer degenerativen Veränderung der unteren Lendenwirbelsäule. Von August 2018 bis Februar 2019 war er wegen eines Darmtumors in Behandlung.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Erstinstanzlich haben die Antragstellerinnen mit dem am 29.01.2019 rechtshängig gewordenen Antrag zunächst die Erteilung von Auskünften über das Einkommen und Vermögen und zuletzt die Zahlung von Unterhalt in Höhe von jeweils 100 % des Mindestunterhalts der Düsseldorfer Tabelle, abzgl. des hälftigen Kindergeldes, ab Februar 2019 begehrt, wobei Rückstände in Höhe der bezogenen UVG-Leistungen für die Jahre 2019 und 2020 jeweils an das Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A, zu zahlen sind. Der Antragsgegner hat die Zurückweisung der Anträge beantragt und behauptet, aufgrund des Schadens an der Wirbelsäule, der Tumorerkrankung, der Folgen der Chemotherapie mit Schäden an den Nerven an Händen und Füßen sowie der derzeitigen Arbeitsmarktsituation zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht in der Lage zu sein.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat den Antragsgegner zur Zahlung eines Unterhalts in Höhe von monatlich 17 € je Kind für die Zeit vom 01.01.2019 bis zum 31.12.2019, zu zahlen an die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A, verpflichtet, wobei es für den Monat Januar 2019 über den erstinstanzlich gestellten Antrag hinausgegangen ist. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass dem Antragsgegner – angesichts der jahrelangen Lücke in seiner Erwerbsbiographie – ein fiktives Bruttoeinkommen auf der Grundlage von 173,99 Std. zum Mindestlohn von 9,19 €/Std. zuzurechnen sei. An die selbständige Tätigkeit, die er Jahre vor der Trennung aufgegeben habe, könne er nicht anknüpfen; aus dem „Börsenhandel“ seien ausweislich von Unterlagen, die in weiteren familiengerichtlichen Verfahren vorgelegt worden seien, keine nennenswerten Einkünfte erzielt worden. Nach Abzug von 5 % berufsbedingter Aufwendungen verbleibe ein fiktives Nettoeinkommen in Höhe von 1.135,25 €. Einkünfte aus einer Nebentätigkeit seien dem Antragsgegner nicht hinzuzurechnen, da ihm eine solche im Hinblick auf sein Alter und seine Erkrankung nicht zumutbar sei. Nach Abzug des Selbstbehalts von 1.080 € im Jahr 2019 stünden dem Antragsgegner 55,25 € zur Verfügung, die unter Berücksichtigung des Bedarfs für B (379 €), Antragstellerin zu 1) und Antragstellerin zu 2) (je 309 €) zu verteilen seien, wobei auf die Antragstellerinnen je 17 € entfielen. Aufgrund der Erhöhung des Selbstbehalts ab dem 01.01.2020 auf 1.160 € sei der Antragsgegner mangels Leistungsfähigkeit nicht mehr zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Hiergegen wenden sich die Antragstellerinnen mit der fristgerecht eingelegten Beschwerde, mit der sie beanstanden, dass das Familiengericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass der Antragsgegner bei Erfüllung der unterhaltsrechtlichen Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen und seine Arbeitsfähigkeit so gut wie möglich einzusetzen, nur Einkünfte nach Maßgabe des gesetzlichen Mindestlohns erzielen könne. Ihm sei – obwohl er bereits seit mehreren Jahren öffentliche Leistungen in Anspruch nehme – die Aufnahme einer seiner beruflichen Qualifikation entsprechenden vollschichtigen Tätigkeit zumutbar, wobei er objektiv nicht auf unqualifizierte und lediglich mit einem Mindestlohn honorierte Tätigkeiten beschränkt sei. Als Fahrer eines Kleintransporters – eine Tätigkeit, die er selbst als zumutbar erachte, ohne indes Erwerbsbemühungen darzulegen – könne er durchschnittlich einen Bruttostundenlohn von 15-17 € erzielen und hätte bei einem Nettolohn von 1.800 € nach Abzug des Selbstbehalts von 1.160 € unterhaltsrechtlich eine Verteilungsmasse von 640 € zur Verfügung.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerinnen zu 1) und 2) haben zunächst beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Beschlusses den Antragsgegner zu verpflichten, beginnend ab 01.01.2019 an sie als Teilbetrag jeweils einen monatlichen Unterhalt in Höhe von 100 € zu zahlen mit der Maßgabe, dass Rückstände an die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A zu erbringen sind und sich ausdrücklich eine Beschwerdeerweiterung nach Maßgabe ihrer erstinstanzlich gestellten Anträge vorbehalten.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat haben sie ihre Beschwerde – nach Hinweis des Senats – in Bezug auf den Monat Januar 2019 zurückgenommen und klargestellt, dass rückständiger Unterhalt erst ab dem Monat Februar 2019 begehrt werde. Im Übrigen haben sie ihre Beschwerde erweitert.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Sie beantragen nunmehr,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">den Antragsgegner unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses zu verpflichten, Kindesunterhalt beginnend ab Februar 2019 in Höhe von jeweils 100 % des Mindestunterhalts der Düsseldorfer Tabelle, abzgl. des hälftigen Kindergeldes zu zahlen, mit der Maßgabe, dass die Rückstände insgesamt an die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A und der laufende Unterhalt an die Antragstellerinnen zu leisten ist.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Antragsgegner beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"> die Beschwerde zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Er behauptet, aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen sei er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr, jedenfalls nicht über den Mindestlohn-Sektor hinaus, einsetzbar. Erwerbsbemühungen könne er nicht vorweisen, solche wären – gerade wegen der Pandemie – sowieso fruchtlos gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat Beweis erhoben über die Frage der krankheitsbedingten Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Antragsgegners durch Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens. Hinsichtlich des Ergebnisses wird auf das schriftliche Gutachten des D vom 08.03.2022, wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Rücknahme der Beschwerde zum Kindesunterhalt für den Monat Januar 2019, die zugleich einen Verzicht auf den zu Unrecht titulierten Unterhalt für diesen Monat enthält, führt zum teilweisen Verlust des Rechtsmittels der Antragstellerinnen zu 1) und 2) (vgl. §§ 117 Abs. 2 S. 1 FamFG, 516 Abs. 3 ZPO) und hat zur Folge, dass der Senat nur über die Beschwerde betreffend ihren Unterhalt ab Februar 2019 zu entscheiden hat.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Insoweit hat die zulässige Beschwerde teilweise Erfolg. Der Antragstellerin zu 1) steht gegen den Antragsgegner ein Anspruch auf Zahlung von laufendem Kindesunterhalt ab Juli 2022 in Höhe von monatlich 159 €, der Antragstellerin zu 2) ein solcher in Höhe von monatlich 128 € zu. Für die Zeit von Februar 2019 bis Juni 2022 sind rückständige Beträge in tenorierter Höhe an das Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A, zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch der Antragstellerinnen folgt aus den §§ 1601 ff, 1610, 1612a BGB. Für die Zeit ab Rechtshängigkeit – mithin ab Februar 2019 – sind sie gemäß den §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, 265 Abs. 2 S. 1 ZPO berechtigt, das Verfahren als Verfahrensstandschafterinnen zu führen, wobei sie zutreffend hinsichtlich der gemäß § 7 UVG bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung auf das Land Nordrhein-Westfalen übergegangenen Ansprüche die Zahlung an die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt A fordern (vgl. Klinkhammer in Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 8 Rn. 108, 109; Schneider in Rahm/Künkel, Handbuch Familien- und Familienverfahrensrecht, 82. Lieferung 09.2021, F. Unterhaltsverfahrensrecht, Rn. 357).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Da die minderjährigen Antragstellerinnen nur den Mindestunterhalt nach § 1612a Abs. 1 BGB verlangen, müssen sie ihren Bedarf nicht weiter darlegen. Vielmehr hat der barunterhaltspflichtige Elternteil darzulegen und zu beweisen, dass er trotz der gebotenen Anstrengungen nicht in der Lage ist, Unterhalt in dieser Höhe zu zahlen (Klinkhammer in Wendl/Dose, a. a. O., § 2 Rn. 379 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 06.02.2002 – XII ZR 20/00 – FamRZ 2002, 536).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Soweit sich der Antragsgegner – als barunterhaltspflichtiger Elternteil – auf eine Leistungsunfähigkeit gemäß § 1603 Abs. 1 BGB beruft, lag eine solche zur Überzeugung des Senats bis Juni 2019 vor. Seit Juli 2019 ist der Antragsgegner in der Lage und verpflichtet, den Unterhalt der Antragstellerinnen zu 1) und 2) teilweise sicherzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">a) Nach § 1603 Abs. 1 BGB sind Eltern nicht unterhaltspflichtig, wenn sie bei Berücksichtigung ihrer sonstigen Verpflichtungen außerstande sind, den Unterhalt ohne Gefährdung ihres eigenen angemessenen Unterhalts zu gewähren. Gegenüber minderjährigen Kindern besteht eine verschärfte Unterhaltspflicht (§ 1603 Abs. 2 S. 1 BGB). Leistungsunfähigkeit liegt nicht bereits vor, wenn der Unterhaltspflichtige keine ausreichenden Einkünfte erzielt, sondern nur, wenn er nicht in der Lage ist, die zur Bestreitung des Unterhalts notwendigen Mittel zu erwirtschaften. Verfügt er über keine Einkünfte, trifft ihn unterhaltsrechtlich die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen, insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einzusetzen und eine einträgliche Erwerbstätigkeit auszuüben. Insbesondere legt ihm die gesteigerte Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern eine erhöhte Arbeitspflicht unter gesteigerter Ausnutzung seiner Arbeitskraft auf. Kommt er dieser Erwerbsobliegenheit nicht nach, muss er sich so behandeln lassen, als ob er ein Einkommen, das er bei gutem Willen erzielen könnte, auch tatsächlich erzielt hätte (Klinkhammer in Wendl/Dose, a. a. O., § 2 Rn. 9, 243, 244).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Trotz der nach § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern muss die Anrechnung fiktiver Einkünfte aber stets die Grenze des Zumutbaren beachten. Voraussetzung einer Zurechnung fiktiver Einkünfte ist, dass der Unterhaltspflichtige die ihm zumutbaren Anstrengungen, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden, nicht oder nicht ausreichend unternommen hat und dass bei genügenden Bemühungen eine reale Beschäftigungschance bestanden hätte (BGH, Urteil vom 03.12.2008 – XII ZR 182/06 – juris, Rn. 21; BGH, Urteil vom 20.02.2008 – XII ZR 101/05 – juris Rn. 21), was von den persönlichen Voraussetzungen des Unterhaltspflichtigen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiografie und Gesundheitszustand sowie dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt (BVerfG, Beschluss vom 11.03.2010 – 1 BvR 3031/08 – FamRZ 2010, 793, 794).</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">b) Nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen, denen der Senat folgt, bestehen Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit des Antragsgegners lediglich aufgrund einer Minderbelastbarkeit bei degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule. Die im Jahr 2018 diagnostizierte Tumorerkrankung mit ambulanter Chemotherapie bis Februar 2019 führte etwa ab Juni 2019 nicht mehr zu einer wesentlichen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit des Antragsgegners. Danach ist der Antragsgegner spätestens seit Juni 2019 der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten ohne Zwangshaltungen mit der Möglichkeit des zwischenzeitlichen Lagewechsels vollschichtig auszuüben, wobei dauerndes Stehen und Gehen durch sitzende Körperhaltung unterbrochen und schweres Heben und Tragen vermieden werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">c) Zur Überzeugung des Senats war der Antragsgegner bereits vor der vollständigen Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit verpflichtet, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen. Er hatte Kenntnis von seiner Unterhaltsverpflichtung und war im November 2018 zur Auskunftserteilung aufgefordert worden, weshalb seine Obliegenheit, sich zur Erfüllung seiner gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber den minderjährigen Antragstellerinnen um eine Erwerbstätigkeit zu bemühen, spätestens seit April 2019 bestand (vgl. Viefhues in jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 1603 Rn. 559). Hinreichende Erwerbsbemühungen hat er weder substantiiert vorgetragen noch belegt. Für die Zurechnung eines fiktiven Einkommens billigt der Senat dem Antragsgegner unter Berücksichtigung seines Alters, der Minderbelastbarkeit und der Schwere der überstandenen Erkrankung eine Übergangsfrist als Orientierungs- und Bewerbungsfrist zu (vgl. dazu Viefhues, a. a. O., Rn. 725, 726) und geht davon aus, dass es ihm bei genügenden Anstrengungen ab Juli 2019 möglich gewesen wäre, eine Arbeitsstelle zu finden. Zu dieser Zeit lagen pandemiebedingte Einschränkungen des Arbeitsmarkts nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">d) Zum Umfang der Erwerbsobliegenheit folgt der Senat der Auffassung des Familiengerichts, das eine Vollzeitstelle mit 173,9 Std. monatlich angesetzt und eine Nebentätigkeit für nicht zumutbar gehalten hat. In die insoweit anzustellende Zumutbarkeitsprüfung waren – neben dem Alter und der körperlichen Konstitution des Antragsgegners – auch die Interessen des von ihm betreuten Kindes B einzustellen (vgl. Hammermann in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 1603 Rn. 163-165 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 11.01.1984 – IVb ZR 10/82 – juris Rn. 26). Die Wertung des Familiengerichts haben die Beteiligten im Übrigen nicht angegriffen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">e) Da der Antragsgegner sowohl eine Ausbildung im landwirtschaftlichen Bereich als auch eine Umschulung als Autolackierer absolviert und jahrelang in verschiedenen Branchen in Vollzeit gearbeitet hat, hält es der Senat für realistisch, dass er nach einem beruflichen Einstieg im Juli 2019 zum damaligen Mindestlohn von 9,19 €/Std. in der Lage gewesen wäre, sein Einkommen auf brutto 10 €/Std. ab Januar 2020, 11 €/Std. ab Januar 2021 bis zu 12,99 €/Std. ab Januar 2022 zu steigern, wobei letzteres dem Tariflohn eines ungelernten gewerblichen Arbeitnehmers in der untersten Lohngruppe nach dem Tarifvertrag der Speditions-, Logistik- und Transportwirtschaft entspricht. Der heute 57 Jahre alte Antragsgegner hat aufgrund seiner vorangegangenen – vorwiegend selbstständigen – Tätigkeiten berufliche Erfahrungen im Logistikbereich. Er hat eine Immobilien- und eine Transportfirma betrieben und längere Zeit selbstständig in der Qualitätskontrolle für die Autoindustrie gearbeitet. Unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen ist ihm nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen D, denen der Senat folgt, auch eine Tätigkeit im Transport (z.B. als Fahrer) zuzumuten, soweit die Tätigkeit mit der Auslieferung von Kleinteilen verbunden ist und das Heben und Tragen schwerer Lasten vermieden werden kann. Einen darüber hinausgehenden Stundenlohn hält der Senat dagegen nicht für erzielbar. Insbesondere scheint die Aufnahme einer Vollzeiterwerbstätigkeit des Antragsgegners im Kfz-Gewerbe, zum Beispiel als Autolackierer, nicht realistisch, weil die diesbezügliche Schulung bereits rund 30 Jahre zurückliegt und der Antragsgegner danach nicht in dem Beruf gearbeitet hat.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">4.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Das ermittelte unterhaltsrechtliche Einkommen ist für die Zeit bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung quotenmäßig auf den Bedarf der Antragstellerinnen zu 1) und 2) zu verteilen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner grundsätzlich auch für den Barunterhalt des bei ihm lebenden gemeinsamen Sohnes B aufzukommen hat, da die unterhaltspflichtige Mutter des Kindes zur Leistung des Barunterhalts nicht in der Lage ist (vgl. Hammermann in Erman, a. a. O., § 1606 Rn. 16a, 17, § 1607 Rn. 3 m. w. N.). Dies führt – entgegen der Auffassung des Familiengerichts – jedoch nicht dazu, dass sein Bedarf nach der 3. Altersstufe mit einem Zahlbetrag von – zunächst – 379 € bis zuletzt 423,50 € bei der Quotenbildung für den Kindesunterhalt uneingeschränkt zu berücksichtigen ist. Denn vorliegend besteht die Besonderheit, dass B Leistungen nach dem SGB II bezogen hat, die seinen Bedarf nach der 1. Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle durchgehend überstiegen haben.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Zwar handelt es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um nachrangige sozialstaatliche Zuwendungen ohne Einkommensersatzfunktion, die lediglich der vorübergehenden Unterhaltssicherung dienen und daher nicht bedarfsdeckend auf den Unterhalt anzurechnen sind (vgl. Dose in Wendl/Dose, a. a. O., § 1 Rn. 664). Der allgemeine Grundsatz, dass Leistungen nach dem SGB II nachrangig erbracht werden, gilt im Ausgangspunkt auch in den Fällen, in denen ausnahmsweise der nach § 33 SGB II vorgesehene Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Träger der Leistungen ausgeschlossen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 18.03.2020 – XII ZB 213/19 – juris Rn. 18).</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Gleichwohl kann im Einzelfall gemäß § 242 BGB eine Anrechnung subsidiärer Sozialleistungen auf den Unterhaltsanspruch geboten sein, wenn ein Unterhaltsberechtigter in einem vergangenen Unterhaltszeitraum nicht rückzahlbare Sozialleistungen vereinnahmt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 18.03.2020 – XII ZB 213/19 –, a. a. O., Rn. 20; BGH, Beschluss vom 08.07.2015 – XII ZB 56/14 – juris Rn. 45). So liegen die Dinge hier. Der Antragsgegner hat für den bei ihm lebenden Sohn B Leistungen nach dem SGB II erhalten, die – jedenfalls für die Vergangenheit – nicht zurückgezahlt werden müssen, weil die Möglichkeit der Erzielung fiktiver Einkünfte durch die unterhaltsverpflichteten Eltern keinen Einfluss auf die Höhe der zu gewährenden Sozialhilfeleistungen hat und auch nicht zu einem Anspruchsübergang auf den Sozialhilfeträger gem. § 33 Abs. 2 SGB II führt (vgl. BGH, Beschluss v. 23.10.2013 – XII ZB 570/12 – juris, Rn. 23; Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 33 Rn. 73 m. w. N.). Gegenüber dem Antragsgegner ist ein Rückgriff auch deshalb ausgeschlossen, weil er mit dem unterhaltsberechtigten Sohn B in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB II. Würden die für B bereits geflossenen Leistungen nach dem SGB II daher bei der Quotenbildung im Rahmen der Mangelverteilung unberücksichtigt bleiben, würde dies zu einer nicht gerechtfertigten Entlastung des Antragsgegners führen, da er infolge der für seinen Sohn bezogenen, nicht zurückzahlbaren Sozialleistungen tatsächlich nicht für dessen Barunterhalt aufzukommen hatte. Die damit einhergehende Reduzierung des Unterhalts der Antragstellerin würde sich als evident treuwidrig darstellen. Das rechtfertigt es, dass sich der Antragsgegner – jedenfalls für die Vergangenheit – gegenüber den Antragstellerinnen nicht auf seine Ausfallhaftung für den Barunterhalt des bei ihm lebenden Sohnes B berufen kann (vgl. Knittel, FamRZ 2020, 1891, 1894; Klinkhammer in Wendl/Dose, a. a. O., § 8 Rn. 128). Für die Zukunft – ab Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Senat – ist dagegen die Haftung des Antragsgegners für den ausgefallenen Barunterhalt des bei ihm lebenden Sohnes zu berücksichtigen, weil die Zurechnung fiktiver Einkünfte zulasten des Antragsgegners die Obliegenheit zur Ausübung einer tatsächlichen vollschichtigen Erwerbstätigkeit beinhaltet, die im Falle ihrer – weiterhin möglichen – Erfüllung zum Wegfall der Sozialleistungen zugunsten einer vom Antragsgegner vorzunehmenden Bedarfsdeckung für B führen würde.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">5.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Höhe nach bemisst sich der Anspruch der Antragstellerinnen zu 1) und 2) für den zurückliegenden Zeitraum von Februar 2019 bis Juni 2022 nach Zeitabschnitten gestaffelt wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">a) Februar bis Juni 2019</span></p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Es verbleibt bei dem vom Familiengericht titulierten Unterhalt in Höhe von monatlich 17 € je Antragstellerin. Eine Erhöhung kommt aufgrund fehlender Arbeitsfähigkeit des Antragsgegners nicht in Betracht. Eine Reduzierung des erstinstanzlich titulierten Betrages erfolgt nicht, weil der Antragsgegner den Beschluss nicht angegriffen hat.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">b) Juli bis Dezember 2019</span></p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">(1) Anzusetzen ist ein fiktives Einkommen aus einer Vollzeiterwerbstätigkeit zum Mindestlohn mit 173,9 Stunden à 9,19 €, entsprechend einem Bruttomonatseinkommen von 1.598,14 €, das einem Nettolohn von</p>
<span class="absatzRechts">45</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Fiktives Bruttoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 1.598,14 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Lohnsteuer (Steuerklasse II / 1,5)</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 56,25 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Krankenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 127,05 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Rentenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 148,63 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Arbeitslosenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 19,98 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Pflegeversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 24,37 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Fiktives Nettoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 1.221,86 €</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">entspricht. Nach Abzug der Pauschale für berufsbedingte Aufwendungen in Höhe von 5 % seines Nettoeinkommens (61,09 €) und des Selbstbehalts des Antragsgegners in Höhe von 1.080 € (Ziffer 21.2 der Leitlinien des Oberlandesgerichts Hamm zum Unterhaltsrecht - kurz: HLL -; Stand: 01.01.2019) verbleibt ein Betrag von 80,77 €, der für den Unterhalt der beiden Antragstellerinnen zur Verfügung steht.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">(2) Der Bedarf der Antragstellerinnen zu 1) und 2) ist nach der 1. Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle, 2. Altersstufe zu bemessen und beträgt für die Antragstellerin zu 1) 304 € und für die Antragstellerin zu 2), für die die gesetzliche Vertreterin Kindergeld für ein drittes Kind bezieht, 301 €, insgesamt 605 € monatlich.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">(3) Bei einer Mangelquote von (80,77 € / 605 € =) rd. 13,35 % beläuft sich der zu monatlich zahlende Unterhalt für die Antragstellerin zu 1) auf gerundet 41 € und für die Antragstellerin zu 2) auf 40 €.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">c) Januar bis Dezember 2020</span></p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Das fiktive Einkommen des Antragsgegners steigt bei einem Stundenlohn von brutto 10 € auf</p>
<span class="absatzRechts">51</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Fiktives Bruttoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 1.739,00 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Lohnsteuer (Steuerklasse II / 1,5)</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 79,50 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Krankenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 138,25 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Rentenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 161,73 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Arbeitslosenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 20,87 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Pflegeversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 26,52 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Fiktives Nettoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 1.312,13 €.</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Nach Abzug der pauschalen berufsbedingten Aufwendungen (65,61 €) und unter Berücksichtigung eines Selbstbehalts von nunmehr 1.160 € (vgl. Ziffer 21.2 HLL; Stand: 01.01.2020) verbleiben unterhaltsrechtlich 86,52 €, die auf den Bedarf der Antragstellerin zu 1) von 322 € und der Antragstellerin zu 2) von 319 €, insgesamt 641 €, zu verteilen sind, was bei einer Quote von rd. 13,50 % einem Anspruch beider Antragstellerinnen in Höhe von gerundet je 43 € entspricht.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">d) Januar bis Dezember 2021</span></p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ab Januar 2021 ist bei einem Bruttostundenlohn von 11 € von einem Nettoeinkommen wie folgt auszugehen:</p>
<span class="absatzRechts">55</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Fiktives Bruttoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 1.912,90 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Lohnsteuer (Steuerklasse II / 1,5)</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 106,66 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Krankenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 152,08 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Rentenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 177,90 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Arbeitslosenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 22,95 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Pflegeversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 29,17 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Fiktives Nettoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 1.424,14 €.</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Nach Abzug der pauschalen berufsbedingten Aufwendungen (71,21 €) und des Selbstbehalts von 1.160 € stehen nunmehr 192,93 € monatlich für den unterhaltsrechtlichen Bedarf der Antragstellerin zu 1) von 341,50 € und der Antragstellerin zu 2) von 338,50 €, insgesamt 680 €, zur Verfügung. Bei einer Mangelquote von rd. 28,37 % errechnet sich ein Unterhaltsanspruch der Antragstellerin zu 1) in Höhe von 97 € und der Antragstellerin zu 2) in Höhe von 96 €.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">e) Januar bis April 2022</span></p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Ab Januar 2022 geht der Senat bei einem Bruttostundenlohn von 12,99 € von einem Nettoeinkommen wie folgt aus:</p>
<span class="absatzRechts">59</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Fiktives Bruttoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 2.258,96 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Lohnsteuer (Steuerklasse II / 1,5)</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 117,83 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Krankenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 179,59 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Rentenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 210,08 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Arbeitslosenversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 27,11 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Pflegeversicherung</p>
</td>
<td></td>
<td><p>- 34,45 €</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Fiktives Nettoeinkommen</p>
</td>
<td></td>
<td><p> 1.689,90 €.</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Nach Abzug der pauschalen berufsbedingten Aufwendungen (84,50 €) und des dem Antragsgegner zu belassenden notwendigen Selbstbehalts verbleibt ein Betrag von 445,40 € für den Unterhalt der beiden Antragstellerinnen. Dem steht ein Bedarf der Antragstellerin zu 1) von 345,50 € und ein solcher der Antragstellerin zu 2) von 342,50 €, insgesamt 688 € gegenüber, woraus sich bei einer Mangelquote von rd. 64,74 % ein Anspruch der Antragstellerin zu 1) von 224 € und ein Anspruch der Antragstellerin zu 2) von 222 € monatlich errechnet.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">f) Mai und Juni 2022</span></p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Von dem fiktiven Nettoeinkommen des Antragsgegners stehen unverändert 445,40 € für den Unterhalt zur Verfügung, denen nunmehr ein Bedarf der Antragstellerin zu 1) nach der 3. Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle in Höhe von 423,50 € und für die Antragstellerin zu 2) unverändert in Höhe von 342,50 €, insgesamt 766 €, gegenüber steht. Bei einer Quote von rd. 58,15 % errechnet sich ein Unterhaltsanspruch der Antragstellerin zu 1) in Höhe von 246 € und der Antragstellerin zu 2) in Höhe von 199 €.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">6.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Der vom Antragsgegner zu zahlenden Gesamtrückstand für die Monate Februar 2019 bis Juni 2022 errechnet sich danach wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Antragstellerin zu 1):</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">5 x 17 € + 6 x 41 + 12 x 43 € + 12 x 97 € + 4 x 224 € + 2 x 246 € = 3.399 €;</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Antragstellerin zu 2):</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">5 x 17 € + 6 x 40 + 12 x 43 € + 12 x 96 € + 4 x 222 € + 2 x 199 € = 3.279 €.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Da der monatlich geschuldete Unterhalt den Betrag der Leistungen der Unterhaltsvorschusskasse jeweils nicht erreicht, sind die Ansprüche beider Antragstellerinnen auf rückständigen Unterhalt gemäß § 7 UVG insgesamt auf das Land Nordrhein-Westfalen übergegangen.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">7.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Für den laufenden Unterhalt ab Juli 2022 geht das Gericht weiter von einem Nettoeinkommen des Antragsgegners von 1.605,40 € (nach Abzug der berufsbedingten Aufwendungen) aus, welches im Falle seiner tatsächlichen Erwirtschaftung den zukünftigen Bezug von SGB II-Leistungen für B ausschließen würde. Da B keinen Unterhalt von seiner Mutter erhält, ist sein Bedarf nach der 1. Einkommensgruppe, 3. Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle mit 423,50 € im Wege der Ausfallhaftung beim Antragsgegner zu berücksichtigen. Zusammen mit den Bedarfen der Antragstellerin zu 1) in Höhe von 423,50 € und der Antragstellerin zu 2) in Höhe von 342,50 € errechnet sich ein Bedarf aller drei Kinder in Höhe von 1.189,50 €, dem ein über dem Selbstbehalt liegendes Einkommen des Antragsgegners in Höhe von 445,40 € gegenüber steht. Bei einer Mangelquote von rd. 37,44 % ergibt sich ein Unterhaltsanspruch der Antragstellerin zu 1) in Höhe von monatlich 159 € und ein solcher der Antragstellerin zu 2) in Höhe von 128 €.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 243 FamFG, wobei der Senat den teilweisen Erfolg der Antragstellerinnen im Beschwerdeverfahren berücksichtigt hat (§ 243 Abs. 1 Nr. 1 FamFG). Die durch die teilweise Beschwerderücknahme entstandenen Kosten (vgl. §§ 117 Abs. 2 S. 1 FamFG, 516 Abs. 3 ZPO) fallen demgegenüber nicht ins Gewicht.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks"><strong>IV.</strong></p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über den Gegenstandswert der Beschwerde beruht auf den §§ 40 Abs.1, 51 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 FamGKG.</p>
|
346,023 | ovgnrw-2022-07-21-7-a-115321 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 A 1153/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-02T10:00:54 | 2022-10-17T17:55:32 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.7A1153.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 2.600,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seines klageabweisenden Urteils im Wesentlichen ausgeführt: Die Ordnungsverfügung vom 25.4.2018 und der Gebührenbescheid vom 26.4.2018 seien rechtmäßig. Die Beklagte sei zu Recht von der formellen Illegalität der Wohnnutzung des Gebäudes X.-straße 46a in E. ausgegangen, eine Baugenehmigung für die Wohnnutzung existiere nicht. Den beiden Beweisanträgen zur Genehmigungslage habe es nicht nachgehen müssen. Die Baugenehmigung vom 17.7.1958 für "die Errichtung eines Hintergebäudes (Nähschule mit Wirtschaftsraum) auf dem Grundstück L. Nr. 23a (Gemarkung E., Flur …, Flurstück Nr. …)" habe kein allgemeines Wohnen erlaubt. Zudem sei diese Baugenehmigung durch die Wohnnutzung erloschen. Der auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Prüfung der Genehmigungsfähigkeit der Wohnnutzung gerichtete Beweisantrag ziele auf die rechtliche Beurteilung der Situation. Zudem sei die Ordnungsverfügung allein auf die formelle Illegalität der Nutzung gestützt worden. Diese rechtfertige die angeordnete Nutzungsuntersagung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das dagegen gerichtete Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Einwand, dem Verwaltungsgericht könne nicht gefolgt werden, soweit es davon ausgehe, dass die angefochtene Ordnungsverfügung vom 25.4.2018 alleine auf die formelle Illegalität gestützt sei, da die Beklagte in den Parallelverfahren ernstliche Bedenken gegen den Brandschutz geltend mache, greift nicht durch. Die hier angefochtene Verfügung vom 25.4.2018 stellt ausschließlich auf die formelle Illegalität der Wohnnutzung ab.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger rügt, der vom Verwaltungsgericht zur Begründung des Urteils in Bezug genommene Beschluss vom 17.7.2014 - 10 L 507/14 - sei überholt, der seinerzeit von der Kammer gesuchte Bauschein für die Nähschule sei aufgefunden worden, deshalb dürfe das Verwaltungsgericht nicht länger von einem Schwarzbau ausgehen, da das Haus als Schule genehmigt worden sei, müsse eine Nutzung als Wohnung erst Recht genehmigt werden, greift auch diese Rüge nicht durch. Mit diesem Vorbringen hat der Kläger schon nicht dargelegt, dass die in Bezug genommene Baugenehmigung eine allgemeine Wohnnutzung legalisiert. Durch die tatsächliche Nutzung zu Wohnzwecken ist zudem eine etwa mit Bauschein vom 17.7.1958 genehmigte Nutzung als "Nähschule mit Wirtschaftsraum" erloschen. Der durch eine Baugenehmigung vermittelte Bestandsschutz erlischt u. a. dann, wenn eine Nutzungsänderung der baulichen Anlage erfolgt. Der tatsächliche Beginn einer anderen Nutzung, die außerhalb der Variationsbreite der bisherigen Nutzungsart liegt und erkennbar nicht nur vorübergehend ausgeübt werden soll, unterbricht den Zusammenhang und lässt den Bestandsschutz, der lediglich die Fortsetzung der bisherigen, einmal rechtmäßig ausgeübten Nutzung gewährleisten soll, entfallen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.9.2020 - 7 B 912/20 -, juris, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Entgegen dem Vorbringen des Klägers ist auch die mit der angefochtenen Ordnungsverfügung angeordnete Untersagung jeglicher Nutzung des Gebäudes, also auch einer Nutzung als Nähschule, nicht zu beanstanden und führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ordnungsverfügung. Dies ergibt sich aus obigen Ausführungen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dass das angegriffene Urteil i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO auf einer Abweichung von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen beruhen könnte, hat der Kläger mit seinem Vorbringen, das Urteil beruhe auf dem - vom Oberverwaltungsgericht für Nordrhein-Westfalen bestätigten - Beschluss der 10. Kammer vom 17.7.2014, der materiell überholt sei, nicht dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Schließlich greift auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger rügt die Ablehnung der Beweisanträge und macht geltend, das Verwaltungsgericht sei wegen einer fehlenden Inaugenscheinnahme nicht in der Lage gewesen, anhand der lückenhaften Akte festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Gebäude um die mit dem Bauschein (vom 17.7.1958) genehmigte Nähschule handele, mit der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages habe das Verwaltungsgericht den Verfahrensfehler unvollständiger Aufklärung des Sachverhaltes begangen, das Urteil beruhe auch auf diesem Verfahrensfehler, hätte das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme durchgeführt, hätte es erkannt, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu seinen Gunsten ausgefallen wäre. Damit hat der Kläger keinen durchgreifenden Verfahrensmangel dargelegt. Das Urteil kann schon wegen des - oben aufgezeigten - Erlöschens der Baugenehmigung vom 17.7.1958 nicht auf diesem behaupteten Verfahrensfehler beruhen. Auch die Ablehnung des Beweisantrages, der darauf gerichtet war, zur Genehmigungsfähigkeit der Wohnnutzung - insbesondere zur Brandsicherheit - ein Sachverständigengutachten einzuholen, begründet keinen Verfahrensfehler im Sinne des Gesetzes. Aus obigen Gründen ist die materielle Genehmigungsfähigkeit einer Wohnnutzung für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ordnungsverfügung irrelevant, so dass das Urteil auch nicht auf diesem behaupteten Aufklärungsmangel beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Soweit das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, die Androhung des Zwangsgeldes und der Gebührenbescheid vom 26.4.2018 seien nicht zu beanstanden, ist der Kläger dem mit seinem Vorbringen im Zulassungsverfahren nicht entgegen getreten.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
|
346,022 | vg-munster-2022-07-21-3-k-247820 | {
"id": 846,
"name": "Verwaltungsgericht Münster",
"slug": "vg-munster",
"city": 471,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 K 2478/20 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-08-02T10:00:54 | 2022-10-17T17:55:32 | Urteil | ECLI:DE:VGMS:2022:0721.3K2478.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Bescheid des beklagten Versorgungswerks vom 5. 10. 2020 wird aufgehoben.</p>
<p>Das beklagte Versorgungswerk wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Weitergewährung seiner Berufsunfähigkeitsrente ab dem 1. 10. 2020 bis zum 31. 12. 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden; im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger und das beklagte Versorgungswerk tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte.</p>
<p>Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td></td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist Pharmazeut und war vom 18. 5. 1992 bis zum 31. 7. 2015 Mitglied des beklagten Versorgungswerks. Zuletzt war er bis zum 28. 7. 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am N. in H. beschäftigt und ist daher seit 2015 Mitglied der Apothekerversorgung O. . Nachdem der Kläger bereits seit 2014 wegen einer psychischen Erkrankung dienstunfähig war, beantragte er bei der Apothekerversorgung O. am 22. 1. 2018 eine Berufsunfähigkeitsrente. Am 9. 3. 2018 wandte er sich an das beklagte Versorgungswerk und beantragte dort am 3. 4. 2018 ebenfalls eine Berufsunfähigkeitsrente. Am 9. 5. 2018 erstellte der von der Apothekerversorgung O. beauftragte Gutachter P. von der Klinik Q. ein fachpsychiatrisches Gutachten, in dem er beim Kläger eine schwere depressive Episode und eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. Er führte aus, dass der Kläger berufsunfähig sei, die Erkrankung aber im Rahmen einer stationären psychosomatischen Behandlung erfolgversprechende Verbesserungen erbringen könnte. Eine Nachbegutachtung solle nach zwei Jahren erfolgen. Auch der von der ambulanten Psychotherapeutin T. empfohlene Psychiater L. habe dem Gutachter gegenüber telefonisch erklärt, dass er eine psychopharmakologische Behandlung präferiert hätte. Der Kläger lehne aber eine solche Medikation bis auf homöopathische Präparate ab, weil er ähnliche wesensverändernde Reaktionen wie bei seinem Bruder vermute, der nach dem Suizid seines Sohnes aggressive Reaktionen gezeigt habe, weil er wohl auch Psychopharmaka eingenommen habe.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Aufgrund des Gutachtens bewilligte das beklagte Versorgungswerk dem Kläger mit Rentenbescheid vom 5. 7. 2018 die begehrte Berufsunfähigkeitsrente befristet vom 1. 2. 2018 bis zum 31. 1. 2020 und wies in der Begründung darauf hin, dass man dringend die Vornahme einer psychotherapeutischen sowie einer antidepressiven psychopharmakologischen Behandlung empfehle. Die Apothekerversorgung O. bewilligte mit Bescheid vom 16. 7. 2018 ebenfalls nur eine bis zum 31. 12. 2019 befristete Berufsunfähigkeitsrente, da prognostisch eine zumindest partielle Wiederherstellung der pharmazeutischen Berufsfähigkeit nicht ausgeschlossen sei.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 13. 9. 2019 beantragte der Kläger beim beklagten Versorgungswerk und bei der Apothekerversorgung O. die Weitergewährung seiner Berufsunfähigkeitsrenten, da er weiterhin berufsunfähig sei. Der Kläger reichte dazu ein ärztliches Attest des Facharztes L. ein, wonach durch weitere medizinische Maßnahmen die Berufsunfähigkeit nicht wiedererlangt werden könne. In den Jahren 2018/2019 habe über ein halbes Jahr ein traumaspezifische psychotherapeutische Behandlung stattgefunden, die zu keiner Stabilisierung geführt habe und deshalb auch nicht habe intensiviert werden können und zunächst abgebrochen worden sei. Bezüglich einer psychopharmakologischen Medikation beständen beim Kläger weiterhin erhebliche Vorbehalte. Die eingesetzte anthroposophisch-homöopathische Medikation sei in der Lage, die Symptomatik nur geringfügig abzuschwächen. Der von der Apothekerversorgung O. erneut beauftragte Gutachter P. von der Klinik für Q. erstellte am 11. 12. 2019 ein neues fachpsychiatrisches Gutachten. Bei im Wesentlichen gleicher Diagnose wie zuvor stellte er die Berufsunfähigkeit des Klägers seit Juli 2017 fest, führte aber auch aus, dass der Kläger einen einmal im Monat stattfindenden Gesprächskontakt mit Herrn L. habe und eine bei Frau T. begonnene psychotraumatologisch orientierte Psychotherapie nach zwei Sitzungen abgebrochen habe. Insofern sei es im Vergleich zur Vorbegutachtung nicht zu einer Symptomverbesserung, sondern eher zu einer Chronifizierung der Symptomatik gekommen. Eine psychotherapeutische Behandlung im tiefenpsychologischen Setting, idealerweise eine stationäre Behandlung, sei aus psychiatrischer Sicht dringend indiziert. Diese habe der Kläger bisher wegen des Gefühls, sich nicht von seiner Familie trennen zu können, abgelehnt. Ob der Kläger den Apothekerberuf in anderer Form zukünftig wieder ausüben könne, könne erst nach einer erfolgten psychotherapeutischen Behandlung beurteilt werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Auf der Grundlage dieses Gutachtens gewährte das beklagte Versorgungswerk dem Kläger mit Rentenbescheid vom 16. 4. 2020 eine weitere Berufsunfähigkeitsrente und befristete sie bis zum 30. 9. 2020. Zur Begründung führte es aus, man rate dem Kläger dringend, eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen. Nach § 25 Abs. 12 der Satzung des beklagten Versorgungswerks habe er sich einer Heilbehandlung zu unterziehen, wenn aus ärztlicher Sicht zu erwarten sei, dass diese eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustands herbeiführe oder eine Verschlechterung verhindere. Das gelte nicht, soweit die Heilbehandlung aus wichtigem Grund unzumutbar sei. Außerdem wies das beklagte Versorgungswerk den Kläger auf die Folgen einer unterlassenen Heilbehandlung hin. Die Apothekerversorgung O. gewährte dem Kläger hingegen eine Berufsunfähigkeitsrente befristet bis zum 31. 12. 2021.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 11. 5. 2020 beantragte der Kläger die Weitergewährung seiner Berufsunfähigkeitsrente ab dem 1. 10. 2020. Dazu legte er ein ärztliches Attest des Herrn L. vom 27. 4. 2020 vor, in dem auf die unveränderte Diagnose und Berufsunfähigkeit für die nächsten drei Jahre Bezug genommen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach Anhörung des Klägers lehnte das beklagte Versorgungswerk mit Bescheid vom 5. 10. 2020 den Antrag auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitsrente ab. Zur Begründung führte es aus, trotz der eindringlichen Hinweise zur Therapie in den letzten Rentenbescheiden und der Mahnung seiner behandelnden Therapeuten werde vom Kläger jegliche medikamentöse, psychotherapeutische und stationäre Akut- und Reha-Therapie verweigert und nicht wahrgenommen. Auch mit seinem erneuten Rentenantrag seien keine neu aufgenommenen Behandlungsansätze nachgewiesen worden.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 30. 10. 2020 Klage erhoben und trägt vor, er sei weiterhin berufsunfähig im Sinne der Satzung des beklagten Versorgungswerks. Dies hätten die Ärzte festgestellt. Er sei auch in fachärztlicher Behandlung bei Herrn L. und habe sich seit November 2017 dort regelmäßig etwa quartalsweise vorgestellt; darüber hinaus habe es insbesondere während der Corona-Pandemie zusätzliche Kontakte per Telefon oder E-Mail gegeben. Die Behandlung mit Heilmitteln aus dem Bereich der anthroposophischen Medizin sei eine anerkannte Therapiemethode und habe sich auch bei Patienten mit psychischen Erkrankungen in Verbindung mit unterstützenden Gesprächen bewährt. Zuvor habe es bei Frau T. eine regelmäßige Behandlung mit insgesamt etwa zwanzig Terminen gegeben. Die stationäre Therapie in T1. habe wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden können und hätte zu einer Retraumatisierung, zur Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands und möglicherweise zu akuter Suizidalität geführt. Außerdem habe die Apothekerversorgung O. als federführendes Versorgungswerk und mit in den wesentlichen Punkten identischer Satzung auf der Grundlage derselben Gutachten und Atteste eine Berufsunfähigkeitsrente bis zum 31. 12. 2021 gewährt. Dies müsse das beklagte Versorgungswerk auch tun.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">den Bescheid des beklagten Versorgungswerks vom 5. 10. 2020 aufzuheben und es zu verpflichten, ihm eine weitere Berufsunfähigkeitsrente bis zum 31. 12. 2021 zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Versorgungswerk beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Versorgungswerk bezieht sich zur Begründung auf die Begründung des angefochtenen Bescheids und des Gutachtens des Herrn P. . Es ergänzt, der Kläger sei bereits im Bescheid vom 16. 4. 2020 darauf hingewiesen worden, dass ohne die Fortsetzung einer therapeutischen Behandlung eine weitere Berufsunfähigkeitsrente nicht gewährt werden könne. Dass die Apothekerversorgung O. die weitere Berufsunfähigkeitsrente gewähre, sei für das beklagte Versorgungswerk nicht bindend. Beim Kläger fehle jede zumutbare Mitwirkung. Er sei nicht austherapiert, da er es ablehne, antidepressive Medikamente einzunehmen und sich einer stationären Behandlung zu unterziehen. Dass eine stationäre Behandlung eine sichere Verschlechterung der gesundheitlichen Situation nach sich ziehe und zu einer möglichen akuten Suizidalität führe, sei medizinisch unplausibel. Die ambulante Psychotherapie sei bereits nach zwei Kontakten abgebrochen worden und weder mit einem anderen Psychotherapieverfahren noch mit einem anderen Behandler wieder aufgenommen worden. Gleichzeitig werde von Herrn L. über drei Jahre eine anhaltende schwere depressive Episode ohne Besserungstendenz bescheinigt. Im Widerspruch zur fehlenden medizinischen Therapie seien nichtmedizinische Maßnahmen als stabilisierend oder sogar den Zustand verbessernd dargestellt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Klägers zur Sache verhandeln und entscheiden, weil der Kläger in der ordnungsgemäßen Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO darauf hingewiesen worden ist, dass auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig, aber nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der ablehnende Bescheid des beklagten Versorgungswerks vom 5. 10. 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit er die weitere Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente vollständig ablehnt, denn der Kläger hat zumindest einen Anspruch auf Neubescheidung seines Weitergewährungsantrags, soweit er den begehrten Zeitraum vom 1. 10. 2020 bis 31. 12. 2021 betrifft (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Hingegen hat er keinen gebundenen Anspruch auf die weitere Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente für diesen konkreten Zeitraum.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat für den konkret begehrten Zeitraum keinen Anspruch auf weitere Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente aus § 25 Abs. 1 der Satzung des beklagten Versorgungswerks vom 7. 12. 1994 in der seit dem 1. 1. 2021 gültigen Fassung. Danach hat jedes Mitglied des Versorgungswerkes, das die Regelaltersgrenze nach § 24 Abs. 1 der Satzung noch nicht erreicht und nach § 10 der Satzung für mindestens einen Monat den satzungsgemäßen Beitrag entrichtet hat, mit Beginn des Monats, der dem Monat folgt, in dem der Versorgungsfall eingetreten ist, Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente. Der Versorgungsfall ist eingetreten, wenn die Berufsunfähigkeit voraussichtlich auf Dauer oder vorübergehend eingetreten, die gesamte pharmazeutische Tätigkeit eingestellt und der Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente gestellt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">§ 25 Abs. 3 der Satzung unterscheidet aber zwischen der dauerhaften und der vorübergehenden Berufsunfähigkeit. Nach Satz 1 besteht die Berufsunfähigkeit voraussichtlich auf Dauer, wenn nach ärztlicher Feststellung keine begründete Aussicht besteht, dass mit der Wiedererlangung der Berufsfähigkeit vor Ablauf eines Zeitraumes von drei Jahren gerechnet werden kann. Nach Satz 2 liegt vorübergehende Berufsunfähigkeit vor, wenn die Berufsfähigkeit für mehr als sechs aufeinander folgende Monate vollständig entfallen ist, die Wiedererlangung der Berufsfähigkeit vor Ablauf von drei Jahren aber möglich ist. Da der Kläger ausdrücklich nur eine Berufsunfähigkeitsrente bis zum 31. 12. 2021 begehrt, macht er allein eine vorübergehende Berufsunfähigkeit geltend, denn nach § 25 Abs. 9 der Satzung wird allein bei vorübergehender Berufsunfähigkeit die Rente auf Zeit geleistet. Nach § 25 Abs. 9 Satz 2 der Satzung erfolgt die Befristung für längstens drei Jahre. Weitere Vorgaben macht die Satzung nicht, so dass ansonsten die Bestimmung der konkreten Frist im Ermessen des beklagten Versorgungswerks liegt. Der Kläger beantragt eine auf 15 Monate befristete Berufsunfähigkeitsrente. Dass ein Anspruch auf genau diese Länge besteht, kann nicht anhand einer Ermessensreduzierung auf Null festgestellt werden. Hierfür gibt es keine Anhaltspunkte, auch wenn das Gericht nicht verkennt, dass eine Reduktion der Dauer namentlich aus den Gründen des § 25 Abs. 12 Satz 3 der Satzung nunmehr nach Ablauf der Geltungsdauer der rückwirkend festzusetzenden Berufsunfähigkeitsrente aus praktischen Gründen nur noch eingeschränkt möglich sein dürfte. Trotzdem bleibt es dem beklagten Versorgungswerk grundsätzlich unbenommen, aus sachlichen Gründen den mit der Bescheidung festzulegenden Rentenbezugszeitraum, z.B. unter dem Eindruck noch zu gewinnender weiterer Erkenntnisse oder Überlegungen noch zu verkürzen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat aber einen Anspruch darauf, dass das beklagte Versorgungswerk über seinen Antrag auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitsrente über den 1. 10. 2020 hinaus bis zum 31. 12. 2021 erneut entscheidet; insoweit ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach § 25 Abs. 1 der Satzung hat jedes Mitglied des Versorgungswerkes, das die Regelaltersgrenze nach § 24 Abs. 1 der Satzung noch nicht erreicht und nach § 10 der Satzung für mindestens einen Monat den satzungsgemäßen Beitrag entrichtet hat, mit Beginn des Monats, der dem Monat folgt, in dem der Versorgungsfall eingetreten ist, Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente. Der Versorgungsfall ist eingetreten, wenn die Berufsunfähigkeit voraussichtlich auf Dauer oder vorübergehend eingetreten, die gesamte pharmazeutische Tätigkeit eingestellt und der Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente gestellt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen dieser Norm liegen dem Grunde nach vor. Der 55-jährige Kläger ist (ruhendes) Mitglied des beklagten Versorgungswerks, hat die Regelaltersgrenze nach § 24 Abs. 1 der Satzung noch nicht erreicht und für mindestens einen Monat den satzungsgemäßen Beitrag entrichtet. Der Versorgungsfall ist eingetreten, weil nach den Feststellungen des Gutachtens von P. vom 11. 12. 2019 die vorübergehende Berufsunfähigkeit derzeit eingetreten ist. Es steht fest, dass die Berufsfähigkeit für mehr als sechs aufeinander folgende Monate vollständig entfallen ist, die Wiedererlangung der Berufsfähigkeit vor Ablauf von drei Jahren aber möglich ist. Herr P. hat festgestellt, dass die Erkrankung zur Zeit chronifiziert und mit einer starken depressiv-regressiven Symptomatik behaftet ist. Die Prognose, ob der Kläger die ausgeübte Tätigkeit zukünftig wieder ausüben könne, sei schwierig, aber in einem Zeitraum von zwei Jahren und nach der Durchführung der vorgeschlagenen Therapiemaßnahmen solle nochmals eine Nachbegutachtung stattfinden. Das zeigt, dass die Wiedererlangung der Berufsfähigkeit vor Ablauf von drei Jahren möglich ist. Die empfohlenen Therapiemaßnahmen lassen dabei nicht die Berufsunfähigkeit auf Zeit entfallen. Zwar kann, wie das beklagte Versorgungswerk zu Recht anführt, eine Berufsunfähigkeit auf Dauer nicht festgestellt werden, solange nicht alle zumutbaren Maßnahmen, die nach ärztlichem Urteil zur Wiederherstellung der Berufsfähigkeit in einem überschaubaren Zeitraum nicht von vornherein ungeeignet erscheinen, ohne Erfolg ergriffen worden sind. Das erschließt sich aus dem Gedanken der Solidargemeinschaft und dem Grundsatz „Heilung vor Rente“.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. 9. 2012 – 17 A 1373/09 –, juris, Rdn. 34 ff. m. w. N., und Urteil vom 22. 6. 2010 – 17 A 346/07 –, juris, Rdn. 43 ff.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Das betrifft aber nur die Berufsunfähigkeit auf Dauer, nicht die hier in Rede stehende Berufsunfähigkeit auf Zeit. Die Berufsunfähigkeitsrente auf Zeit beseitigt zugunsten der Mitglieder des beklagten Versorgungswerkes das ansonsten bestehende "Alles-oder-Nichts-Prinzip" in Bezug auf eine allein normierte Dauerrente. Führt die Berufsunfähigkeitsrente auf Zeit jedoch zu einer differenzierteren Absicherung der Mitglieder des beklagten Versorgungswerkes, spricht auch dies gerade dafür, dass sich (nur) das um Dauerrente nachsuchende Mitglied bereits auf eine mögliche Therapie mit nicht völlig zu vernachlässigender Erfolgschance verweisen lassen muss. Denn im Falle der objektiv gegebenen Therapiemöglichkeit wird das nicht dauerhafte, sondern auf absehbare Zeit berufsunfähige Mitglied mit einer Berufsunfähigkeitsrente auf Zeit wirtschaftlich adäquat abgesichert.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteil vom 22. 6. 2010 – 17 A 346/07 –, juris, Rdn. 47.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die möglichen Therapiemaßnahmen sind im vorliegenden Fall gerade Begründung dafür, dass keine Berufsunfähigkeit auf Dauer, sondern nur auf Zeit vorliegt. Nach der Systematik des § 25 der Satzung wird bei der Definition der Berufsunfähigkeit in Absatz 3 gerade nicht an die Möglichkeit einer Therapie angeknüpft, sondern die Therapie in Abs. 12 nur als eine Obliegenheit gekennzeichnet, an deren Verletzung nach § 25 Abs. 12 Satz 3 der Satzung eigene Sanktionen geknüpft werden können. In § 25 Abs. 12 der Satzung findet der Begriff der Berufsunfähigkeit hingegen keine Erwähnung mehr.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu einer ähnlichen Satzungsregelung OVG NRW, Urteil vom 22. 6. 2010 – 17 A 346/07 –, juris, Rdn. 34.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat ferner am 28. 7. 2017 seine gesamte pharmazeutische Tätigkeit eingestellt und am 11. 5. 2020 einen Antrag auf Weitergewährung seiner Berufsunfähigkeitsrente gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch auf Neubescheidung der Weitergewährung ist auch nicht nach § 25 Abs. 12 Satz 3 der Satzung ausgeschlossen. Nach § 25 Abs. 12 Satz 1 der Satzung hat sich das Mitglied, das einen Antrag auf Berufsunfähigkeitsrente gestellt hat oder das bereits Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente hat, auf Verlangen des Versorgungswerkes einer Heilbehandlung zu unterziehen, wenn aus ärztlicher Sicht zu erwarten ist, dass diese eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes herbeiführt oder eine Verschlechterung verhindert. Das gilt nicht, soweit die Heilbehandlung aus wichtigem Grund unzumutbar ist (§ 25 Abs. 12 Satz 2 der Satzung). Kommt das Mitglied der Mitwirkungspflicht nicht nach, kann das Versorgungswerk nach § 25 Abs. 12 Satz 3 der Satzung die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkungshandlung ganz oder teilweise versagen oder entziehen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">In formeller Hinsicht ist dafür nach § 25 Abs. 12 Satz 4 der Satzung erforderlich, dass das Mitglied auf die Folge des Satzes 3 schriftlich hingewiesen worden und der Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Diesen Voraussetzungen hat das beklagte Versorgungswerk nicht genügt.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Es fehlt schon an einem „Verlangen“ des beklagten Versorgungswerks, dass der Kläger sich einer Heilbehandlung unterziehen sollte. Verlangen bedeutet in diesem Zusammenhang „Wunsch, Begehren“ bzw. „ausdrücklicher Wunsch, Forderung“.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band XII, I (1956), Sp. 717, Z. 38; Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 28. Aufl., 2020.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Versorgungswerk hat hingegen ausdrücklich formuliert: „Wir raten Ihnen dringend, eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen.“ Dies hat eine abgeschwächte und leicht andere Bedeutung, denn „raten“ bedeutet Rat geben oder beraten und bezieht sich auf alles, was mit der Fürsorge jeder Art zusammenhängt.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band VIII (1893), Sp. 173, Z. 62.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dadurch kommt nicht das Begehren und die Forderung zum Ausdruck, sich einer Heilbehandlung zu unterziehen, die die Obliegenheit begründet, die der Kläger erfüllen muss, um nicht den Sanktionen des § 25 Abs. 12 Satz 3 der Satzung ausgesetzt zu werden. Gerade weil sich Sanktionen an das „Verlangen“ knüpfen, muss für den Adressaten deutlich erkennbar sein, dass ihn überhaupt eine Obliegenheit trifft und dass sich daraus bei Nichterfüllung die rechtliche Folge ergibt, dass die begehrte Leistung versagt werden kann. Dies wird schon nicht durch die Formulierung „raten“ deutlich, die den objektiven Empfänger eher auf eine aus Fürsorge empfundene Empfehlung schließen lässt. Darauf, dass eine Empfehlung nicht ausreicht, hatte der Prozessbevollmächtigte des beklagten Versorgungswerks intern bereits in einer E-Mail vom 4. 3. 2020 hingewiesen. Gleichwohl hat das beklagte Versorgungswerk mit dem Verb „raten“ eine ähnliche Formulierung gewählt, die nicht eindeutig das „Verlangen“ im Sinne der Satzung ausdrückt.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Dies wiegt umso schwerer, als im Bescheid die unmittelbare Verknüpfung des „Rats“ mit dem Hinweis auf die Satzungsregelung in § 25 Abs. 12 Satz 3 nicht eindeutig hergestellt wird. Die Belehrung über die Folgen des Satzes 3, die nach § 25 Abs. 12 Satz 4 der Satzung schriftlich erfolgen muss, ist von dem „dringenden Rat“, eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen, durch weitere Hinweise auf das Ende der Rentenzahlung nach Ablauf der Bewilligungsfrist, die Möglichkeit der Beantragung der Weiterbewilligung und die Anzeigepflicht der Wiederaufnahme einer pharmazeutischen Tätigkeit durch mehrere Absätze getrennt. In der Belehrung über § 25 Abs. 12 der Satzung werden dann nur die Sätze 1 bis 3 des § 25 Abs. 12 der Satzung zitiert, ohne dass daraufhin noch eine Subsumtion erfolgt oder zumindest auf den zuvor erteilten „Rat“ zur psychotherapeutischen Behandlung Bezug genommen wird. Gerade weil der „dringende Rat“ – wie oben erörtert – begrifflich schon nicht dem „Verlangen“ aus § 25 Abs. 12 Satz 1 der Satzung entspricht, wird dem objektiven Empfänger dadurch der Zusammenhang zwischen dem „dringenden Rat“ und der Folge der möglichen Leistungsversagung nicht hinreichend deutlich. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Rentenbescheid sich an einen akademisch gebildeten Menschen wie den Kläger richtet. Auch von diesem, der zumindest nicht juristisch vorgebildet ist, ist nicht ohne weiteres zu erwarten, dass er rechtliche Zusammenhänge von sich aus erkennt und herstellt. Vielmehr sollen von der Satzung vorgeschriebene rechtliche Hinweise aus sich heraus verständlich und für den vorgesehenen Empfänger eindeutig erkennbar sein.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Weiterhin hat das beklagte Versorgungswerk keine Frist für die Erfüllung der Obliegenheit gesetzt. Nach § 25 Abs. 12 Satz 4 der Satzung ist neben dem schriftlichen Hinweis auf die Folgen der Verletzung der Obliegenheit erforderlich, dass der Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer gesetzten angemessenen Frist nachgekommen worden ist. An einer Fristsetzung fehlt es völlig, so dass auch nicht festgestellt werden kann, ob die Frist angemessen war.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Setzung einer separaten Frist war auch nicht deshalb entbehrlich, weil das beklagte Versorgungswerk die Berufsunfähigkeitsrente nicht während der Bewilligungsdauer, sondern erst im Rahmen des Verlängerungsantrags versagt hat. Darauf, dass die Frist mit Ablauf des Bewilligungszeitraums am 30. 9. 2020 enden soll, hat das beklagte Versorgungswerk im Bescheid vom 16. 4. 2020 nicht ausdrücklich hingewiesen. Es kann auch nicht angenommen werden, dass diese Frist konkludent gesetzt worden ist. Die Frist für die Erfüllung der Mitwirkungspflicht kann nicht automatisch mit der Geltungsdauer der Bewilligung bis zum 30. 9. 2020 als längstmöglicher Frist gleichgesetzt werden. Denn die Entscheidung über die Verlängerung mit der dann möglichen Ablehnung konnte auch schon vor dem 30. 9. 2020 getroffen werden können, zumal der Kläger seinen Antrag auf Weitergewährung bereits am 11. 5. 2020 gestellt hatte. So hat der Vorstand des beklagten Versorgungswerks auch tatsächlich intern bereits am 25. 8. 2020 den Beschluss gefasst, den Antrag auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitsrente abzulehnen. Es hätte aus Gründen der Rechtssicherheit eines konkreten Fristdatums bedurft, ab dem der Kläger mit dem Eintritt der rechtlichen Folgen des § 25 Abs. 12 Satz 3 der Satzung rechnen musste.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
|
345,986 | lg-koln-2022-07-21-14-o-15219 | {
"id": 812,
"name": "Landgericht Köln",
"slug": "lg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 14 O 152/19 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-07-29T10:01:02 | 2022-10-17T17:55:26 | Urteil | ECLI:DE:LGK:2022:0721.14O152.19.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1. Das Versäumnisurteil des Amtsgerichts Köln vom 22. November 2018 zum Az. 137 C 254/18 wird aufgehoben.</p>
<p>2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 745,40 EUR nebst jährlicher Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6 Mai 2014 zu zahlen.</p>
<p>3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin einen weiteren Betrag über 249,- € nebst jährlicher Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6 Mai 2014 zu zahlen.</p>
<p>4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>5. Die Gerichtskosten tragen die Klägerin zu 91 % und die Beklagten zu 1.) – 3.) als Rechtsnachfolger des früheren Beklagten zu 1.) zu je 9 %. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Beklagten zu 1.) – 3.) als Rechtsnachfolger des früheren Beklagten zu 1.) zu 18 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1.) – 3.) als Rechtsnachfolger des früheren Beklagten zu 1.) trägt die Klägerin zu 82 %. Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2.) trägt die Klägerin.</p>
<p>6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Alle Parteien können die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i. H. v. 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit i. H. v. 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin nimmt einerseits den während des Verfahrens verstorbenen ehemaligen Beklagten zu 1), Herrn I, als Internetanschlussinhaber, nunmehr dessen Erben als Rechtsnachfolger wegen Urheberrechtsverletzung über den Internetanschluss an dem Computerspiel „T S 0“ durch sogenanntes Filesharing wegen zweier behaupteter Verstöße am 22.02.2014 um 16:50:24 Uhr und um 18:30:00 Uhr (Bl. 19 d.A.) auf Erstattung vorgerichtlicher Abmahnkosten und Schadensersatz in Anspruch. Andererseits nimmt sie den Beklagten zu 2) als unmittelbaren Täter der vorgenannten Verstöße in Anspruch.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Umverpackung des Computerspiels „T S 0“ enthält folgenden Hinweis: „© 2013 and published by L N GmbH“. Es enthält auch das Logo „E T1“, das ein Label der Klägerin ist. Die Klägerin trägt ausführlich und unter Vorlage von Verträgen zur Rechtekette vor. Das Spiel „T S 0“ erschien im November 2011.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beauftragt regelmäßig Unternehmen mit der Ermittlung von Urheberrechtsverstößen im Internet mittels sogenannter Filesharing-Software, auch bezüglich des streitgegenständlichen Spiels. Das Unternehmen U ermittelte durch einen ihrer Mitarbeiter zwei entsprechende Verstöße am 22.02.2014 um 16:50:24 Uhr und um 18:30:00 Uhr, ausgehend von der IP-Adresse 00.000.00.00. Die Klägerin ließ beim Landgericht Köln ein entsprechendes Auskunftsverfahren durchführen (vgl. LG Köln, Az. 215 O 7/14), woraufhin der verstorbene Herr I als Inhaber des fraglichen Internetanschlusses ermittelt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin mahnte Herrn I mit anwaltlichem Schreiben vom 24.04.2014 wegen Urheberrechtsverletzung durch Bereithaltung der Datei „T S 0“ mit dem Hashwert 00000 zum Download über die IP-Adresse 00.000.00.00 ab und forderte ihn zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungsverpflichtungserklärung sowie zur Zahlung unter Fristsetzung bis zum 05.05.2014 auf. Herr I gab eine Unterlassungserklärung ab, weitere Ansprüche wurden nicht erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin macht klageweise Aufwendungsersatz in Höhe von 984,60 EUR nach einem Gegenstandswert von 20.000,00 EUR und Schadensersatz in Höhe von zuletzt 4.590,00 EUR geltend. Den Schadensersatz berechnet sie aus dem Faktor 250 des behaupteten Einzelpreises des streitgegenständlichen Spiels zum Stichtag der Rechtsverletzung in Höhe von 18,36 EUR.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist im Wesentlichen der Ansicht, der Beklagte zu 2) sei der Täter der ermittelten Rechtsverletzungen. Dies ergebe sich schon daraus, dass der Beklagte zu 2) eingeräumt habe, das Spiel aus einem Trailer-Video zu kennen. Bei diesem Video handele es sich eigentlich um eine Anleitung zum Download über P2P-Börsen, was der Beklagte zu 2) dann auch in die Tat umgesetzt habe. Der Verstorbene hafte im Übrigen nach § 832 BGB wegen mangelnder Belehrung.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Sache war zunächst beim AG Köln zum Az. 137 C 254/18 und nur gegen den verstorbenen Herrn I anhängig. Dort erging zunächst Versäumnisurteil gegen die Klägerin. Vor dem Versäumnisurteil teilte der damalige Beklagte zu 1.) in der Klageerwiderung mit, dass sein Anschluss ein Familienanschluss sei und von ihm, seiner Ehefrau und seinen beiden minderjährigen Kindern (Tochter N E1, geb. 00.00.0000, und Sohn N1 E1, geb. 00.00.0000) genutzt werde. Dem Sohn, also dem Beklagten zu 2.), sei das Spiel aus einem Trailer-Video bekannt, was er nach Befragung durch die Eltern erklärt habe. Im Übrigen haben alle Familienmitglieder die Tat abgestritten.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Nach dem Versäumnisurteil erhob die Klägerin Einspruch und erweiterte die Klage in subjektiver Hinsicht auf den Beklagten zu 2.). Nach gerichtlichen Hinweisen in der Verhandlung über den Einspruch erweiterte die Klägerin die Klage der Höhe nach, sodass die Zuständigkeitsschwelle zum LG erreicht wurde.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Nach weiterer mündlicher Verhandlung vor der erkennenden Kammer ist ein Beweisbeschluss ergangen. Nach Erlass des Beweisbeschlusses ist der frühere Beklagte zu 1.) verstorben. Auf Antrag seines Vertreters wurde der Rechtsstreit insoweit ausgesetzt nach § 246 ZPO. Unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung am 28.04.2022 erklärten die Ehefrau und die Kinder als Rechtsnachfolger des Beklagten zu 1) die Aufnahme des Rechtsstreits.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Prozessbevollmächtigte des Beklagten 2) ist im Termin zur mündlichen Verhandlung am 28.04.2022 trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">1. Das Versäumnisurteil des Amtsgerichts Köln v. 22. November 2018 zum Az. 137 C 254/18 wird aufgehoben.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 984,80 EUR nebst jährlicher Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6 Mai 2014 zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin einen weiteren Betrag über 4.590,00 EUR nebst jährlicher Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6 Mai 2014 zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt außerdem,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"> gegen den Beklagten zu 2.) den Erlass eines Versäumnisurteil.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten zu 1.) – 3.) als Rechtsnachfolger des verstorbenen Herrn I beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"> die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte zu 2.) stellte im eigenen Namen mangels rechtsanwaltlicher Vertretung im Termin zur mündlichen Verhandlung am 28.04.2022 keinen Antrag.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte zu 2.) wies zuvor schriftsätzlich seine Haftung zurück. Er sei nicht passivlegitimiert und die Klägerin komme ihrer uneingeschränkten Darlegungs- und Beweislast nicht nach.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten behaupten, das gegenständliche Computerspiel sei zum Zeitpunkt der ermittelten Zurverfügungstellung für nur 2,49 € als PC Download zu erwerben gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsnachfolger des Beklagten zu 1.) halten eine Haftung für ausgeschlossen, weil der Beklagte zu 1.) seiner sekundären Darlegungslast genügt habe. Er hafte auch nicht wegen nicht erfüllter Aufsichtspflicht der zur Tatzeit minderjährigen Kinder. Die Kinder seien hinreichend zur Nutzung des Internets und zum Verbot der Nutzung von Filesharingsoftware aufgeklärt worden.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten insgesamt meinen, der geltend gemachte Lizenzschadensersatz sei überzogen, weil im Jahr 2014 das gegenständliche Computerspiel, das bereits seit 2011 auf dem Markt ist, bereits für Ramschpreise an Verbraucher angeboten worden sei. Die Abmahnkosten dürften nur aus dem nach § 97a Abs. 3 UrhG reduzierten Gegenstandswert berechnet werden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung am 28.04.2022 die Beklagte zu 1.) und den Beklagten zu 2.) persönlich angehört.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage hat nur in geringem Umfang Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">I. Soweit das Verfahren als Einspruch gegen das Versäumnisurteil des Amtsgerichts Köln vom 22.11.2018 zum Az. 137 C 254/18 geführt wird, d.h. im Verhältnis der Klägerin zu den Rechtsnachfolgern des früheren Beklagten zu 1.), Herrn I, also den nunmehrigen Beklagten zu 1.) – 3.), so ist der Einspruch zulässig. Er ist form- und fristgerecht am 18.12.2018 durch Fax (Bl. 83 GA) erhoben worden, nachdem das Versäumnisurteil der Klägerin am 04.12.2018 zugestellt worden ist (Bl. 81 GA).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">II. Die zulässige Klage ist teilweise begründet.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">1. Nachdem der Rechtsstreit im Verhältnis der Klägerin zum verstorbenen früheren Beklagten zu 1.) nach §§ 239, 246 ZPO ausgesetzt war, haben die nunmehrigen Beklagten zu 1.) – 3.) den Rechtsstreit gem. §§ 239 Abs. 1, 246 Abs. 2, 250 ZPO aufgenommen. Die Rechtsnachfolge ist unbestritten, im Übrigen durch Erbschein belegt. Die Aufnehmenden sind demnach an die Stelle des Verstorbenen getreten und Parteien des Rechtsstreits geworden, wobei zu beachten ist, dass der Beklagte zu 2.) bereits zuvor Partei war.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">2. Ein Versäumnisurteil gegen den Beklagten zu 2.) kommt nicht in Betracht. Da der Beklagte zu 2.) schon vor der Aufnahme der Rechtsnachfolger seines Vaters Partei des Rechtsstreits war, kommt ihm nach der Aufnahme eine „Doppelfunktion“ zu, da er einerseits als Rechtsnachfolger seines Vaters und andererseits im eigenen Namen in Anspruch genommen wird. Dies hat primär Folgen für die materiell-rechtliche Beurteilung. Vorliegend ist jedoch der vor Erklärung der Rechtsnachfolge für den Beklagten zu 2.) bestellte Prozessbevollmächtigte zum Termin nicht erschienen, weshalb die Klägerin des Erlass eines Versäumnisurteils beantragt. Zugleich war der Prozessbevollmächtigte des früheren Beklagten zu 1.) anwesend und stellte für die Rechtsnachfolger des Verstorbenen einen Sachantrag. Da der Beklagte zu 2.) auch Rechtsnachfolger ist, wurde auch für ihn ein solcher Sachantrag gestellt und zwar sowohl zu der Aufrechterhaltung des Versäumnisurteils als auch der Klageabweisung. Vor diesem Hintergrund kommt kein Erlass eines (Teil-) Versäumnisurteils gegen den Beklagten zu 2.) in Betracht, weil dieser nicht zugleich säumig sein kann und zugleich einen Sachantrag stellen kann. Eine derartige Aufspaltung des Beklagten zu 2.) hat in prozessualer Hinsicht keine Grundlage.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">3. Ein Versäumnisurteil gegen den Beklagten zu 2.) scheidet auch aus materiellen Gründen aus. Die Klage ist insoweit nicht schlüssig. Den Anspruch gegen den Beklagten zu 2.) stützt die Klägerin auf den Vorwurf unmittelbarer Täterschaft. Sie beruft sich hierzu auf die Mitteilungen des Verstorbenen im Rahmen dessen sekundärer Darlegungslast, wonach der Beklagte zu 2.) das streitgegenständliche Computerspiel kenne. Ohne weitere Begründung folgert die Klägerin hieraus, dass der Beklagte zu 2.) das Spiel über eine Filesharing Software heruntergeladen und zum Abruf durch Dritte bereitgehalten habe. Dies genügt für einen schlüssigen Sachvortrag nach Ansicht der Kammer jedoch deshalb nicht, weil ausweislich der Mitteilungen des Verstorbenen im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast auch die Schwester des Beklagten zu 2.), die nunmehrige Beklagte zu 3.) grundsätzlich Zugriff auf den Internetanschluss hatte. Die Klägerin bleibt aber jeglichen Vortrag dazu schuldig, wieso die Beklagte zu 3.) nicht als Täterin in Betracht komme, sondern allein der Beklagte zu 2.). Es verbleiben demnach, selbst wenn man an dieser Stelle eine Säumnis unterstellt und den klägerischen Vortrag als zugestanden ansieht, Zweifel an der Täterschaft des Beklagten zu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">4. Die Klage gegen die Beklagten als Rechtsnachfolger des Verstorbenen ist teilweise begründet.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin stehen gegen die Beklagten die geltend gemachten Ansprüche auf Ersatz vorgerichtlicher Abmahnkosten (Klageantrag zu 2.) zu in Höhe von 745,40 € gemäß § 97a Abs. 1 Satz 2 UrhG (in der bis zum 01.12.2020 geltenden Fassung; im Folgenden: a.F.; siehe dazu nachfolgende Ausführungen unter lit. b.) und auf Schadenersatz (Klageantrag zu 3.) gemäß § 832 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 97 Abs. 2 UrhG i.V.m. §§ 19a, 69c Nr. 4 UrhG in Höhe von 249,- € zu (siehe dazu die nachfolgenden Ausführungen lit. a.).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">a) Schadensersatz</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch folgt aus § 832 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 97 Abs. 2 UrhG i.V.m. §§ 19a, 69c Nr. 4 UrhG.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">aa) Die Bereitstellung eines Computerspiels – hier des streitgegenständlichen „T S 0“ – zum Herunterladen über eine Internettauschbörse verletzt das Recht zur öffentlichen Zugänglichmachung gemäß §§ 19a, 69c Nr. 4 UrhG (vgl. BGH, GRUR-RR 2017, 484 Rn. 10 – Ego-Shooter, mwN; BGH, GRUR 2018, 1044 Rn. 10 – Dead Island). Soweit der Beklagte pauschal bestreitet, das streitgegenständliche Computerspiel sei über eine seinem Internetanschluss zugeordnete IP-Adresse zum Download angeboten worden, ist dies unbeachtlich. Die Klägerin hat detailliert unter Beweisangebot zu den Ermittlungen der U GmbH vorgetragen. Konkrete Anhaltspunkte, die etwa für eine Fehlzuordnung oder fehlerhafte Ermittlungen sprächen, zeigt der Beklagte nicht auf.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">bb) Die Klägerin ist als Inhaberin der ausschließlichen Nutzungs- und Verwertungsrechte an dem Computerspiel „T S 0“ aktivlegitimiert. Soweit der Beklagte die Rechteinhaberschaft lediglich pauschal bestreitet, dringt er damit nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat unter Beweisantritt vorgetragen, dass die ausschließlichen Rechte des hier streitgegenständlichen Computerspiels „T S 0“ von ihr von den Entwicklern, der Fa. U Inc., erworben worden ist. Der Copyright-Vermerk auf den Umverpackungen des streitgegenständlichen Spiels weist nach dem insoweit vom Beklagten in der Sache unbestrittenen Vortrag der Klägerin auf die Klägerin hin und weist das Logo von „E T1“ auf, das ebenfalls der Klägerin zuzuordnen ist. Ein Nachweis der Urheberschaft und der Inhaberschaft an ausschließlichen Verwertungsrechten kann außerhalb des Anwendungsbereichs der in § 10 UrhG niedergelegten Vermutungsregeln auch durch einen Indizienbeweis erbracht werden, bei dem selbst mittelbare Tatsachen die Grundlage für die Annahme der Rechtsinhaberschaft liefern (BGH, GRUR 2016, 1280, 1281 Rn. 26 – Everytime we touch). Die Klägerin hat die Rechtekette lückenlos unter ausführlicher Darlegung und Belegung mit Vertragsdokumenten sowie einer entsprechenden Benennung in öffentlich zugänglichen Handelsquellen in Fachmedien der Spielebranche belegt. Der Beklagte hat dagegen keine erheblichen Einwendungen erhoben und auch nicht dargelegt, wem die Rechte anderweitig zustehen sollten.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">cc) Die Beklagten als Rechtsnachfolger des Herrn I haften auch für diese Verletzung.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Wird ein urheberrechtlich geschütztes Werk oder eine urheberrechtlich geschützte Leistung der Öffentlichkeit von einer IP-Adresse aus zugänglich gemacht, die zum fraglichen Zeitpunkt einer bestimmten Person zugeteilt ist, so spricht nach der Rechtsprechung des BGH eine tatsächliche Vermutung dafür, dass diese Person für die Rechtsverletzung verantwortlich ist. Da der Verstorbene Inhaber des Internetanschlusses zum maßgeblichen Zeitpunkt war, über den das Computerspiel in Tauschbörsen öffentlich zugänglich gemacht wurde, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass er für die von der Klägerin behauptete Verletzung ihrer Rechte verantwortlich ist. Diese tatsächliche Vermutung kann entkräftet werden, wenn die Gegenpartei Tatsachen darlegt und gegebenenfalls beweist, aus denen sich eine ernsthafte Möglichkeit eines vom gewöhnlichen abweichenden Geschehensablaufs ergibt.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen wird der Sachvortrag des früheren Beklagten zu 1.) insofern gerecht, als er dargelegt hat, dass es sich um einen Familienanschluss gehandelt hat und neben ihm seine Ehefrau und die beiden zur Tatzeit minderjährigen Kinder Zugriff auf das Internet hatten. Er führte auch zu den Kenntnissen und Nutzungsgewohnheiten seiner Familienmitglieder und seiner selbst aus.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Auf dieser Grundlage sowie auf Grundlage der Anhörung der Beklagten zu 1.) ist die Kammer der Überzeugung, dass zunächst die Beklagte zu 1.) als Täterin nicht in Betracht kommt. Die Kammer ist außerdem auf Grundklage des Sach- und Streitstandes überzeugt, dass der Verstorbene, Herr I, selbst nicht Täter der Rechtsverletzung war. Dies folgt zunächst aus seinem Vortrag in der Klageerwiderung, in welcher er unter anderem ausführen ließ, dass er das streitgegenständliche Spiel vor Abmahnung nicht gekannt habe und den Internetanschluss nicht für "Online-Spiel" nutzte, während dies seine beiden Kinder beide taten. Auch aus der Anhörung der Beklagten zu 1.) und 2.) ergeben sich keinerlei Hinweise, dass der Verstorbene selbst als Spieler des streitgegenständlichen oder eines anderen Computerspiels in Betracht käme. Hingegen ist die Kammer überzeugt, dass die Rechtsverletzung über den Anschluss des Verstorbenen erfolgt ist und zwar durch eines der beiden Kinder, also der Beklagten zu 2. oder 3.), einzeln oder von ihnen gemeinsam. Dafür sprechen nach den obigen Ausführungen, dass ausweislich der Klageerwiderung beide Kinder durchschnittliche Computeranwenderkenntnisse hatten und "Online-Spiele" spielten. Bei dieser Kenntnis- und Interessenlage ist eine Nutzung von Tauschbörsen mit Blick auf Computerspiele jedenfalls möglich. Wie oben bereits ausgeführt, ist es jedoch nicht ersichtlich, dass nur der Beklagte zu 2.) als Täter in Betracht kommt, während seine Schwester, die Beklagte zu 3.), als Täterin auszuscheiden habe. Es ist nichts dafür vorgetragen oder ersichtlich, dass die Beklagte zu 3.) weder die Kenntnisse, noch die Möglichkeiten, noch das Interesse hatte, das streitgegenständliche Spiel über eine Tauschbörse herunterzuladen und zugleich zum Upload zur Verfügung zu stellen. Dass die Klägerin die Beklagte zu 3.) ggf. nicht zur Zielgruppe des streitgegenständlichen Spiels zählt, führt nicht zum Ausschluss als potentielle Täterin.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Diese Umstände entlasten die Beklagtenseite jedoch nicht, da der Verstorbene seine Aufsichtspflicht gem. § 832 BGB gegenüber beiden Kindern verletzt hat. Der Verstorbene war kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über seine damals 17-jährige Tochter und seinen 12-jähirgen Sohn verpflichtet (§§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB). Gemäß § 832 Abs. 1 S. 1 BGB ist, wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die – hier – wegen Minderjährigkeit der Beaufsichtigung bedarf, zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Der Aufsichtspflichtige hat im Rahmen des § 832 BGB umfassend und konkret darzulegen und zu beweisen, was er zur Erfüllung der Aufsichtspflicht unternommen hat. Den Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass der Verstorbene seine nach Überzeugung der Kammer als Täter in Betracht kommenden Kinder vor dem streitgegenständlichen Vorfall über das Verbot einer rechtswidrigen Teilnahme an Internettauschbörsen ausreichend belehrt hat. Wer der beiden Kinder konkret die Rechtsverletzung begangen hat, kann dabei offenbleiben, weil mangels hinreichender Belehrung beider Kinder sowohl eine Rechtsverletzung des Sohnes als auch der Tochter als auch beider zusammen der Anknüpfungspunkt der Haftung nach § 832 BGB gegeben ist. In jedem Fall ist die Rechtsverletzung zur Überzeugung der Kammer in seiner Sphäre geschehen und seine unterbliebene Aufklärung ist kausal hierfür.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Eltern sind verpflichtet, die Internetnutzung ihres minderjährigen Kindes zu beaufsichtigen, um eine Schädigung Dritter durch das Kind zu verhindern. Dazu zählt die Verhinderung der Urheberrechte verletzenden Teilnahme des Kindes an Tauschbörsen. Allerdings genügen Eltern ihrer Aufsichtspflicht über ein normal entwickeltes Kind, das ihre grundlegenden Gebote und Verbote befolgt, regelmäßig bereits dadurch, dass sie das Kind über die Rechtswidrigkeit einer Teilnahme an Internettauschbörsen belehren und ihm eine Teilnahme daran verbieten. Eine Verpflichtung der Eltern, die Nutzung des Internets durch das Kind zu überwachen, den Computer des Kindes zu überprüfen oder dem Kind den Zugang zum Internet (teilweise) zu versperren, besteht grundsätzlich nicht. Zu derartigen Maßnahmen sind Eltern erst verpflichtet, wenn sie konkrete Anhaltspunkte dafür haben, dass das Kind dem Verbot zuwiderhandelt (BGH GRUR 2016, 184 – Tauschbörse II; GRUR 2013, 511 – Morpheus).</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Anforderungen an die Aufsichtspflicht, insbesondere die Pflicht zur Belehrung und Beaufsichtigung von Kindern, richten sich nach der Vorhersehbarkeit des schädigenden Verhaltens. Dabei hängt es hauptsächlich von den Eigenheiten des Kindes und seinem Befolgen von Erziehungsmaßahmen ab, in welchem Umfang allgemeine Belehrungen und Verbote ausreichen oder deren Beachtung auch überwacht werden muss (vgl. BGH, NJW 2009, 1952 Rn. 17; BGH, NJW 2009, 1954 Rn. 14).</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Diesen Maßstäben ist der Verstorbene vorliegend nicht gerecht geworden. Dabei hat die Kammer ihre Überzeugung auf Grundlage der persönlichen Anhörung der Beklagten zu 1.), der Ehefrau des Verstorbenen, und des Beklagten zu 2.), dem Sohn des Verstorbenen, gebildet. Der Beklagte zu 2.) gab von sich aus keine Aussage zu etwaigen Belehrungen. Er wurde insoweit nicht befragt. Er konnte sich aber auch zu einer Ansprache nach Zugang der Abmahnung schon nicht erinnern, sodass nicht davon auszugehen ist, dass er sich an einen noch früher zurückliegenden Zeitraum zuverlässig erinnern kann. Die Beklagte zu 1.) führte zwar aus, dass die Kinder im Zusammenhang mit der Nutzung des Internets über gewissen Verhaltensweisen belehrt worden ist. Sie bleibt aber insgesamt in Ihren Ausführungen vage, hat zum Teil keine eigenen Wahrnehmungen, soweit es ihren Ehemann betrifft, und sie widerspricht sich teilweise. So stellt sie einleitend klar, dass hauptsächlich der Verstorbene die Kinder belehrt haben soll. Zu den Inhalten der Belehrungen durch Ihren Ehemann kann sie aber nichts sagen. Sodann verweist sie wiederholt darauf, dass anlassbezogen belehrt worden sei, wenn im Fernsehen über entsprechenden Themen berichtet worden ist. Dabei sei es sicherlich auch um Filesharing bzw. Tauschbörsen gegangen. Zugleich weist sie darauf hin, dass für sie das Thema Filesharing unbekannt war, sie in diesem Zusammenhang „unbeleckt“ gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Auf dieser Grundlage kann die Kammer nicht erkennen, dass die Kinder durch den Verstorbenen oder die Beklagte zu 1.) hinreichend deutlich über die Rechtswidrigkeit der Teilnahme an Tauschbörsen bzw. an Filesharing belehrt worden sind. Schon gar nicht ist erkennbar, dass diese Belehrung vor dem Tatzeitpunkt erfolgt ist. Es ist zur Überzeugung der Kammer unrealistisch, dass eine hinreichende Belehrung erfolgen kann, wenn man selbst die Problematik nicht erfasst und versteht. Dass der Verstorbene hier bessere Kenntnisse hatte und auf dieser Grundlage hinreichend und rechtzeitig belehrte, kann dem Sach- und Streitstand nicht entnommen werden.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">dd) § 832 BGB begründet eine Haftung für vermutetes Verschulden. Hingegen kommt es auf ein Verschulden des Aufsichtsbedürftigen nicht an. Vermutet wird ferner, dass zwischen der Verletzung der Aufsichtspflicht und dem entstandenen Schaden ein ursächlicher Zusammenhang besteht (vgl. Urteil der Kammer v. 17.5.2018 – 14 S 34/16, GRUR-RR 2018, 505). Nach den obigen Ausführungen gelingt der Beklagtenseite keine Exkulpation.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">ee) Der geltend gemachte Anspruch auf Schadensersatz ist der Höhe nach nur in Höhe von 249,- € begründet.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Höhe der zu zahlenden Lizenzgebühr hat der Tatrichter gemäß § 287 ZPO unter Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls nach seiner freien Überzeugung zu bemessen (vgl. BGH ZUM-RD 2010, 529 – Restwertbörse I; ZUM 2016, 173 – Tauschbörse I). Nicht entscheidend ist hingegen, ob der Verletzte überhaupt beabsichtigte, eine Lizenzierung vorzunehmen – die Zuerkennung einer angemessenen Lizenzgebühr kommt selbst dann in Betracht, wenn die vorherige Erteilung der Zustimmung als schlechthin undenkbar erscheint (vgl. BGH GRUR 1993, 55 – Tchibo/Rolex II) – oder ob der Verletzer selbst bereit gewesen wäre, für seine Benutzungshandlungen eine Vergütung zu zahlen (vgl. BGH NJW-RR 1995, 1320, 1321). Zur Ermittlung der angemessenen Lizenzgebühr ist zu fragen, was ein vernünftiger Lizenzgeber und ein vernünftiger Lizenznehmer anstelle der Parteien für die Übertragung des Rechts auf den Beklagten vereinbart hätten, infolge dessen dieser das streitgegenständliche Computerspiel im Internet im Rahmen eines Netzwerks für eine Vielzahl von Teilnehmern zum Download bereithalten durfte.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Für den Schadensersatzanspruch ist als Anhaltspunkt für die Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO auf die Beträge abzustellen, die für vergleichbare Nutzungsarten vereinbart werden. Der Kammer ist aus einer Reihe von Fällen gerichtsbekannt, dass bereits für die zeitlich und räumlich beschränkte Lizenz zum Anbieten einer Musiksingle im Internet Lizenzgebühren im vierstelligen Euro-Bereich vereinbart werden. Auch aus diesem Grund setzt die Kammer in ständiger Rechtsprechung für das Angebot von Musikaufnahmen über Filesharingnetzwerke im Internet für den Regelfall jeweils 200,00 EUR pro Musiktitel als angemessenen Schadensersatz an. Dies entspricht der obergerichtlichen (vgl. etwa OLG Köln, Urteil vom 06.02.2015 – 6 U 209/13; OLG Hamburg, Urteil vom 05.11.2013 – 5 U 222/10; OLG Frankfurt, Urteil vom 15.07.2014 – 11 U 115/13; Urteil vom 16.12.2014 – 11 U/14) und auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGH, Urteile vom 11.06.2015 zu I ZR 7/14, I ZR 19/14 und I ZR 75/14 – Tauschbörse I-III; Urteil vom 12.05.2016 – I ZR 48/15 – Everytime we touch).</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vorliegend macht die Klägerin wegen der Zugänglichmachung des streitgegenständlichen Computerspiels am 22.02.2014 um 16:50:24 Uhr und um 18:30:00 Uhr über die IP-Adresse 00.000.00.00 einen Anspruch auf Lizenzschadensersatz i.H.v. 4.590,00 EUR geltend. Diesen Betrag erachtet die Kammer gemäß § 287 ZPO aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles als Lizenzschadensersatz für übersetzt. Streitgegenständlich ist die zweifache öffentliche Zugänglichmachung des Computerspiels „T S 0“ im Rahmen einer Filesharing-Tauschbörse. Rechtsverletzungen wurden am 22.02.2014 um 16:50:24 Uhr und um 18:30:00 Uhr zu zwei verschiedenen Zeitpunkten unter der gleichen IP-Adresse ermittelt.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Zu berücksichtigen ist daneben auch der konkrete Zeitpunkt der Rechtsverletzungen. Die streitgegenständlichen Rechtsverletzungen erfolgten zu einem Zeitpunkt als das streitgegenständliche Computerspiel sich unstreitig nicht mehr auf dem Höhepunkt seines kommerziellen Ersterfolgs befand, sondern bereits der Nachfolger der Serie „T S 01“ erschienen war. Das streitgegenständliche „T S 0“ hingegen befand sich zur Tatzeit bereits ca. 2 ½ Jahre nach Erstveröffentlichung in einer nachgelagerten Verwertungsphase, in der das Spiel zum Teil zu erheblich reduzierten Preisen im Vergleich zum Preis bei Veröffentlichung von ca. 50 € zu erwerben war – nach Vortrag der Klägerin etwa als „Full Package“ für 18,36 € am 21.02.2014. Die öffentliche Zugänglichmachung eines Werkes in einer Filesharing-Tauschbörse und der damit verbundene Eingriff in die urheberrechtlich geschützten Verwertungsrechte stellt die kommerzielle Auswertung des Werks insgesamt in Frage (BGH, Urteil vom 12.05.2016, I ZR 1/15 - Tannöd, Juris Rn. 41). Das illegale Upload-Angebot im Rahmen einer Filesharing-Tauschbörse war vorliegend in besonderem Maße geeignet, die der Klägerin zustehenden Verwertungsrechte der öffentlichen Zugänglichmachung und auch des Vertriebs wirtschaftlich zu beeinträchtigen. Wegen der zeitlich weit entfernten Erstveröffentlichung und der zwischenzeitlichen Veröffentlichung des Nachfolgespiels hat die rechtswidrige öffentliche Zugänglichmachung der Klägerin die weitere wirtschaftliche Verwertung des Computerspieles zwar erschwert, dies aber nur in begrenztem Umfang. Denn durch die unstreitige erhebliche Reduzierung des Spielpreises auf zwischenzeitlich mindestens ca. 18 € ist eindeutig, dass die Nachfrage am Markt auch ohne die Beeinträchtigung durch Filesharing erheblich vermindert war.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vernünftige Vertragspartner anstelle der Parteien hätten diese Umstände bei der Bemessung der Lizenzgebühr für die von dem Beklagten in Anspruch genommene Nutzung berücksichtigt und im Hinblick auf die fehlende Aktualität des Computerspiels eine moderate Lizenzgebühr vereinbart. Der von der Klägerin angesetzte Lizenzschadensersatz i.H.v. 4.590,00 EUR, welcher wertmäßig dem Betrag entspricht, den die Klägerin für 250 Exemplare des am Tattag zum Einzelhandelspreis von (behaupteten) 18,36 EUR vertriebenen Computerspiels erzielen konnte, ist vor diesem Hintergrund zu hoch bemessen. Dabei ist zwar die ständige Rechtsprechung der Kammer zu berücksichtigen, dass auch ohne konkrete Kenntnis von der Zahl der Teilnehmer der Filesharing-Tauschbörse zu den jeweiligen Tatzeitpunkten eine Zahl von (mindestens) 400 möglichen Zugriffen auf ein in einer solchen Tauschbörse zum Download angebotenes, aktuelles Werk durchaus realistisch und zur Grundlage der Bemessung eines Anspruchs auf Lizenzschadensersatz geeignet ist (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 08.05.2013, 6 W 256/12, juris Rn. 9; OLG Frankfurt, Urteil vom 15.07.2014, 11 U 115/13; OLG Köln, Urteil vom 06.02.2015; 6 U 209/13; nicht beanstandet von BGH, Urteil vom 12.05.2016, I ZR 48/15 – Everytime we touch, juris Rn. 56). Bei einem nicht mehr aktuellen Titel unter den Umständen des Einzelfalls lässt sich dies jedoch nicht auf den Streitfall übertragen. Im hiesigen Einzelfall erachtet die Kammer vielmehr den Faktor 100 des Handelspreises des streitgegenständlichen Computerspiels für angemessen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Dabei ist jedoch entgegen der Ausführungen der Klägerin nicht von einem Verkaufspreis von 18,36 € auszugehen, sondern wie die Beklagtenseite zutreffend vorträgt von 2,49 €. Beide Parteien legen zur Substantiierung ihres Vortrags Ausdrucke aus dem Preismonitor der Webseite h.de vor. Jedoch ergibt sich aus dem klägerischen Screenshot (Anlage K6, Bl. 250 GA), dass hier der Preisverlauf für das Produkt „T S 0 – Full Package deutsch“ wiedergegeben ist. Aus dem Screenshot der Beklagtenseite (S. 2 des Schriftsatzes der RAe X C T2 v. 03.08.2020, Bl. 385 GA) ergibt sich für das Produkt „T S 0 – Download PC“ ein Preis am 22.02.2014 von 2,49 €. Letzteren Preis konnte das Gericht durch Einsichtnahme der Webseite h.de zum konkret genannten Produkt nachvollziehen. Ausweislich der Ermittlungen war die betroffene Datei bezeichnet als „T S 0“. Dass hiermit ein „Full Package“ betroffen war, vermag die Klägerin als Auftraggeberin der Ermittlungen nicht nachvollziehbar vorzutragen. Demnach ist davon auszugehen, dass nur die Standard-PC Version in der Datei enthalten war.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Auf dieser Grundlage errechnet sich also ein Schadensersatz in Höhe von 249,- € (2,49 € x 100). Dieser Betrag ist angemessen und ausreichend, um den konkreten Schaden der Klägerin abzubilden.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">ff) Die Beklagten zu 1.) - 3.) haften als Erben in Erbengemeinschaft jeweils als Gesamtschuldner, § 2058 BGB.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">b) Abmahnkosten</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Abmahnkosten in Höhe von 745,40 € gemäß § 97a Abs. 4 Satz 1 UrhG a.F. in der vom 09.10.2013 bis zum 02.12.2020 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) zu.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">aa) Die Abmahnung vom 24.04.2014 war berechtigt, da der Klägerin gegen den Beklagten ein Unterlassungsanspruch gemäß §§ 97 Abs. 1, 69c Nr. 4 UrhG i.V.m. § 832 BGB wegen der unberechtigten öffentlichen Zugänglichmachung des streitgegenständlichen Computerspiels zustand (s.o. zu den Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs, die ebenso für den Unterlassungsanspruch gelten).</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">bb) Die Abmahnung vom 24.04.2014 war berechtigt und entsprach den Anforderungen des § 97a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 UrhG a.F. Der Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten ist nicht gemäß § 97a Abs. 3 Satz 2 UrhG a.F. (wortgleich mit neuer, aktueller Fassung) auf den Ersatz der erforderlichen Aufwendungen hinsichtlich der gesetzlichen Gebühren auf Gebühren nach einem Gegenstandswert für den Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch von 1.000,00 EUR beschränkt. Insoweit greift vorliegend § 97a Abs. 3 Satz 4 UrhG, wonach § 97a Abs. 3 Satz 2 UrhG nicht gilt, wenn der genannte Wert nach den besonderen Umständen des Einzelfalles unbillig ist. § 97a Abs. 3 UrhG ist im Lichte des Unionsrechts auszulegen. Danach kann vorliegend die Deckelung des Ersatzes der Abmahnkosten nicht zur Anwendung gelangen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">(1) Art. 14 der Richtlinie 2004/48 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45, berichtigt im ABl. 2004, L 195, S. 16) ist dahin auszulegen, dass die Kosten, die einem Inhaber von Rechten des geistigen Eigentums für seine Vertretung durch einen Beistand im Hinblick auf die außergerichtliche Durchsetzung dieser Rechte entstanden sind, wie z. B. die mit einer Abmahnung verbundenen Kosten, unter den Begriff „sonstige Kosten“ im Sinne dieser Bestimmung fallen (EuGH, Urteil vom 28. April 2022 – C-559/20 –, juris, Rn. 45).</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Art. 14 der Richtlinie 2004/48 besagt, dass die Prozesskosten und sonstigen Kosten der obsiegenden Partei in der Regel, soweit sie zumutbar und angemessen sind, von der unterlegenen Partei getragen werden. Zum anderen sieht Art. 14 der Richtlinie 2004/48 vor, dass die Prozesskosten und sonstigen von der unterlegenen Partei zu tragenden Kosten „angemessen“ sein müssen (EuGH, Urteil vom 28. April 2022 – C-559/20 –, juris, Rn. 48, 51). Aus dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/48 ergibt sich zwar, dass die Voraussetzung, dass die Rechtsverletzungen, um in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie zu fallen, in gewerblichem Ausmaß vorgenommen sein müssen, nur für Maßnahmen in Bezug auf Beweismittel, für Maßnahmen in Bezug auf das Auskunftsrecht und für einstweilige Maßnahmen und Sicherungsmaßnahmen gemäß Kapitel II der Richtlinie gilt, wobei die Mitgliedstaaten unbeschadet davon solche Maßnahmen auch bei nicht in gewerblichem Ausmaß vorgenommenen Rechtsverletzungen anwenden können (EuGH, Urteil vom 17. Juni 2021 – C-597/19 –, juris, Rn. 88). Diese Voraussetzung gilt aber nicht für die „Prozesskosten“ und die „sonstigen Kosten“ nach Art. 14 der Richtlinie 2004/48. Nach dieser Bestimmung kann somit auch gegenüber einzelnen Verletzern – also auch gegenüber einer Privatperson wie vorliegend – angeordnet werden, dass sie dem Inhaber von Rechten des geistigen Eigentums diese Kosten vollständig zu erstatten haben, sofern sie zumutbar und angemessen sind.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Art. 14 der Richtlinie 2004/48 sieht neben einer Prüfung der Zumutbarkeit und Angemessenheit der erstattungsfähigen Kosten vor, dass die allgemeine Regel der Aufteilung dieser Kosten keine Anwendung findet, wenn Billigkeitsgründe es verbieten, der unterlegenen Partei die Kosten der obsiegenden Partei aufzuerlegen, selbst wenn diese zumutbar und angemessen sind (EuGH, Urteil vom 28. April 2022 – C-559/20 –, juris, Rn. 58). Billigkeitsgründe können indes einen allgemeinen und bedingungslosen Ausschluss der Erstattung von Kosten, die eine bestimmte Obergrenze überschreiten, nicht rechtfertigen (EuGH, Urteil vom 28. Juli 2016 – C-57/15 –, juris, Rn. 31).</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Art. 14 der Richtlinie 2004/48 steht einer Regelung wie der des § 97a Abs. 3 UrhG nicht entgegen, da sie sicherstellen soll, dass die von der unterlegenen Partei zu tragenden Kosten zumutbar und angemessen sind, soweit sie dem Gericht, dem die Kostenentscheidung obliegt, die Möglichkeit gibt, in jedem Einzelfall dessen spezifische Merkmale zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 28. April 2022 – C-559/20 –, juris, Rn. 64).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">(2) Gemäß § 97a Abs. 3 Satz 2 UrhG führt die Deckelung auf erstattungsfähige Gebühren nach einem Gegenstandswert von 1.000,00 EUR auf Grundlage eines 1,3-fachen Gebührensatzes zu einem Nettobetrag von lediglich 104,00 EUR. Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat in § 97a Abs. 3 Satz 4 UrhG für den Fall, dass der Abgemahnte eine natürliche, nicht gewerblich oder beruflich handelnde Person ist, das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 14 Enforcement-RL umgekehrt. Nach dem Wortlaut des § 97a Abs. 3 Satz 4 UrhG a.F. kommt bei Beteiligung einer solchen natürlichen Person ein voller Kostenersatz nur dann in Betracht, wenn sonst das Ergebnis unbillig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">§ 97a Abs. 3 Satz 4 UrhG muss daher unionsrechtskonform so verstanden werden, dass der Streitwertdeckel in der Regel entfällt und nur gilt, wenn sonst das Ergebnis zum Nachteil des Verletzers unbillig wäre. Die nach dem Wortlaut von § 97 Abs. 3 Satz 4 UrhG zur vollen Kostenerstattung führende besondere Unbilligkeit ist bereits dann anzunehmen, wenn die Begrenzung des Gegenstandswertes dazu führen würde, dass der Verletzer nur einen geringen Teil der tatsächlichen Anwaltskosten des Rechteinhabers tragen muss. In der Konsequenz muss der Verletzer sich auf eine Unbilligkeit im Einzelfall berufen und die Darlegungs- und Beweislast für deren Vorliegen tragen. Denn nur dies ermöglicht dem Gericht den spezifischen Merkmalen jedes Falles hinreichend Rechnung zu tragen.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">(3) Vorliegend hat der abgemahnte Verstorbene zwar als natürliche Person gehandelt und das streitgegenständliche Computerspiel weder für eine gewerbliche noch für eine selbständige berufliche Tätigkeit verwendet; auch ist er nicht durch Vertrag, aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung oder einer einstweiligen Verfügung zur Unterlassung verpflichtet. Die Beschränkung des Ersatzes der erforderlichen Aufwendungen auf Gebühren nach einem Gegenstandswert in Höhe von 1.000,00 EUR erweist sich jedoch jedenfalls nach § 97a Abs. 3 Satz 4 UrhG als unbillig.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Bei der öffentlichen Zugänglichmachung eines aktuellen, durchschnittlich erfolgreichen Computerspieles im Rahmen einer Filesharing-Tauschbörse ist regelmäßig von einem Gegenstandswert für den Unterlassungsanspruch von nicht unter 15.000,00 € auszugehen (BGH, ZUM-RD 2017, 25 Rn. 48). Bei einem überaus populären, kommerziell sehr erfolgreichen und mit hohem Marketingaufwand herausgebrachten Computerspiel – wie dem hier streitgegenständlichen – aber einer Rechtsverletzung erst ca. 2 ½ Jahre nach Erscheinen des Spiels erscheint ein Gegenstandswert von 10.000,00 EUR angemessen. Die obigen Ausführungen zur Schadenshöhe gelten entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Könnte der Beklagte hier nur zur Erstattung eines geringen Teils der zumutbaren Anwaltskosten verurteilt werden, welche der Klägerin entstandenen sind, würde die abschreckende Wirkung eines Verfahrens wegen Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums, entgegen der allgemeinen Verpflichtung aus Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/48 und dem mit dieser Richtlinie verfolgten Hauptziel, ein hohes Schutzniveau für geistiges Eigentum im Binnenmarkt zu gewährleisten, das ausdrücklich im zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannt wird und im Einklang mit Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union steht, erheblich geschwächt. Dem ist entgegenzuwirken, mit der Folge, dass die Abmahnkosten hier nach dem vollen Gegenstandwert von 10.000,00 EUR ersatzfähig sind (vgl. auch das Kammerurteil vom 24.05.2022, 14 O 244/20, unveröffentlicht).</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">cc) Wie oben bereits beschrieben ist hier ein Gegenstandswert für den Unterlassungsanspruch aus einem Gegenstandswert von 10.000 € angemessen, nicht aber wie von der Klägerin angesetzt 20.000 €. Dadurch reduziert sich der geschuldete Kostenbetrag auf eine 1,3 Geschäftsgebühr Nr. 2300 VV RVG in Höhe von 725,40 € zzgl. 20,- € Kostenpauschale Nr. 7300 VV RVG, mithin 745,40 €. Umsatzsteuer macht die Klägerin nicht geltend.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">c) Die Zinsansprüche folgen aus §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Der Beklagte hat vorgerichtlich jede Zahlung verweigert. Die Abmahnung vom 24.04.2014 und die damit verbundene Zahlungsaufforderung erfolgten unter Fristsetzung bis zum 05.05.2014, sodass der Zinslauf in gesetzlicher Höhe sowohl für den Schadensersatzanspruch als auch für die zu erstattenden vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten mit dem 06.05.2014 zu laufen begann.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">III. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf § 92 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Bei der Kostenentscheidung war – anders als bei der Bewertung der Säumnis des Beklagten zu 2.) – zu beachten, dass im Verhältnis der Klägerin zum Beklagten zu 2.) schon vor dem Versterben des Herrn I und der Rechtsnachfolge sowie Aufnahme des Rechtsstreits durch die Rechtsnachfolger ein Prozessrechtsverhältnis begründet worden ist und der Beklagte zu 2.) sich deshalb eines Rechtsanwalts bedienen musste. Diese Kosten sind bereits vor der Aufnahme durch die Rechtsnachfolger entstanden. Hingegen hat sich durch die Aufnahme des Rechtsstreits im isoliert zu betrachtenden Prozessrechtsverhältnis der Klägerin zum früheren Beklagten zu 1.) in kostenrechtlicher Hinsicht kein maßgeblicher Unterschied ergeben. Demnach war für die Kostenentscheidung von einer einfachen Streitgenossenschaft der Rechtsnachfolger des Herrn I einerseits und des Beklagten zu 2.) andererseits auszugehen. Somit war die Kostenentscheidung auf Grundlage der Baumbach’schen Formel und dem anteiligen Unterliegen der Parteien zu fassen. Angesichts des überwiegenden Unterliegens der Klägerin liegen die Kosten weitestgehend wie tenoriert bei dieser. Eine Anwendung von § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO kam hingegen nicht in Betracht, weil das teilweise Obsiegen der Klägerin im Verhältnis zum einfachen Streitwert mehr als 10% beträgt.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">IV. Der Streitwert wird auf 5.574,60 EUR festgesetzt.</p>
|
345,985 | ovgnrw-2022-07-21-1-a-392919 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 A 3929/19 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-07-29T10:01:01 | 2022-10-17T17:55:26 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0721.1A3929.19.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird auf Kosten des Klägers abgelehnt.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungs-verfahren auf 18.821,24 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">I. Das Verwaltungsgericht hat die Klage, mit der der Kläger sich gegen die teilweise Rückforderung der Zulage für Beamte und Soldaten in fliegerischer Verwendung wendet, mit der folgenden Begründung abgewiesen: Der Rückforderungsbescheid vom 16. August 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2018 sei rechtmäßig. Der Kläger sei nach § 12 Abs. 2 Satz 1 BBesG zur Herausgabe der überzahlten Zulage für Beamte und Soldaten in fliegerischer Verwendung gemäß Nr. 6 Abs. 2 Satz 3 der Vorbemerkungen zu Anlage I BBesG (sog. Fliegerzulage) verpflichtet. Er habe die Zulage im Zeitraum vom 21. Oktober 2007 bis zum 31. März 2017 ohne rechtlichen Grund nicht nur zur Hälfte, sondern in voller Höhe erhalten. Der Kläger könne sich nicht auf den Wegfall der Bereicherung berufen, weil er nach § 12 Abs. 2 Satz 2 BBesG i. V. m. §§ 818 Abs. 4, 819 BGB verschärft hafte. Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 BBesG stehe es im Fall der Rückforderung überzahlter Bezüge der Kenntnis des Mangels des rechtlichen Grundes gleich, wenn der Mangel so offensichtlich gewesen sei, dass der Empfänger ihn hätte erkennen müssen (§ 12 Abs. 2 Satz 2 BBesG). Offensichtlichkeit liege vor, wenn dem Beamten oder Soldaten aufgrund seiner Kenntnisse auffallen müsse, dass die ausgewiesenen Beträge nicht stimmen könnten. Zu den Sorgfaltspflichten eines Beamten oder Soldaten gehöre es aufgrund der dienstrechtlichen Treuepflicht auch, Besoldungsmitteilungen und vergleichbare Schreiben bei besoldungsrelevanten Änderungen im dienstlichen oder persönlichen Bereich auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und auf Überzahlungen zu achten. Der Beamte oder Soldat dürfe sich insbesondere dann, wenn er ohne erkennbaren Grund höhere Leistungen erhalte, nicht ohne weiteres auf die Rechtmäßigkeit der Zahlung verlassen. Für die Frage, ob er den Mangel erkennen müsse, komme es auf seine individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten an; von jedem Beamten und Soldaten sei zu erwarten, dass er über Grundkenntnisse zu den ihm zustehenden Besoldungstatbeständen verfüge. Solche Grundkenntnisse hätten im Falle des Klägers ausgereicht, um die Überzahlung zu erkennen. Dem Kläger sei auf Grund der „Feststellung der Voraussetzungen“ der Stellenzulage für Soldaten und Beamte als fliegendes Personal der Bundeswehr vom 20. März 2002 bekannt gewesen, dass die Fliegerzulage trotz Beendigung seiner fliegerischen Verwendung weiter gewährt worden sei, weil seine Verpflichtung zur Erhaltung des fliegerischen Könnens angeordnet worden sei. Im Nachgang hierzu sei diese Verpflichtung mit Ablauf des 31. Januar 2003 aufgehoben worden, so dass sich dem Kläger hätte aufdrängen müssen, nach den Folgerungen für die Gewährung der vollen Zulage ab Februar 2003 zu fragen. Dem habe er sich verschlossen, indem er nach seinen eigenen Angaben davon ausgegangen sei, dass die Reduzierung der Zulage nach fünf Jahren allein Berufssoldaten betreffe. Der Beamte oder Soldat dürfe sich in solchen Fällen aufgrund der Treuepflicht nicht auf die Rechtmäßigkeit der Zahlung verlassen, sondern sei gehalten, sich bei Unklarheiten und Zweifeln durch Rückfragen bei der auszahlenden Kasse oder der anweisenden Stelle Gewissheit darüber zu verschaffen, ob eine Zahlung zu Recht erfolgt sei. Habe er dies unterlassen, könne er sich regelmäßig auf eine Entreicherung nicht mehr berufen. Vor diesem Hintergrund könne offen bleiben, ob dem Vortrag des Klägers gefolgt werden könne, er habe immer nur die erste Seite der dienstlichen Schreiben erhalten. Dieser habe er quittiert, die anliegende Seite mit den wichtigen Hinweisen u.a. auf die Verringerung der Stellenzulage um 50 v. H. jedoch nicht. Auch im Gespräch mit Kollegen sei die Kürzung der Zulage auf die Hälfte nie Thema gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Rückforderungsanspruch sei auch nicht verjährt. Die Verjährungsfrist von drei Jahren habe erst mit Ablauf des Jahres 2017 begonnen; zu diesem Zeitpunkt sei der Rückforderungsbescheid bereits erlassen worden. Der Rückforderungsanspruch sei ferner nicht verwirkt. Es fehle bereits an dem notwendigen Zeitmoment, weil der Rückforderungsbescheid noch vor Beginn der Verjährungsfrist erlassen worden sei. Der Kläger könne auch nicht verlangen, dass die Beklagte in sich wiederholenden Zeiträumen alle Zahlvorgänge überprüfe. Eine solche Pflicht existiere nicht. Ihrem Mitverschulden an der Überzahlung habe die Beklagte im Rahmen der Billigkeitsentscheidung nach § 12 Abs. 2 Satz 3 BBesG Rechnung getragen, indem sie den Rückforderungsbetrag im Widerspruchsverfahren um 30 % auf 18.821,24 Euro reduziert habe.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">II. Die Berufung hiergegen ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013– 1 A 106/12 –, juris, Rn. 2 m. w. N.; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran rechtfertigt das Zulassungsvorbringen die Zulassung der Berufung aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">1. Soweit der Kläger zur Begründung seines Zulassungsbegehrens zunächst pauschal auf sein gesamtes Vorbringen im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren erster Instanz Bezug nimmt, stellt dies ersichtlich keine hinreichende Darlegung im o. g. Sinne dar, weil es insoweit an jeglicher Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. März 2022– 1 A 1982/20 –, juris, Rn. 7 f., und vom 13. November 2014 – 1 A 1143/13 –, juris, Rn. 5 f., jeweils m. w. N.; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 198 f.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">2. Das weitere Zulassungsvorbringen greift ebenfalls nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">a) Die Berufung kann zunächst nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Der Rechtsmittelführer muss darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus seiner Sicht unrichtig ist. Dazu muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen und konkret aufzeigen, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen sie ernstlichen Zweifeln begegnen. Er muss insbesondere die konkreten Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art benennen, die er mit seiner Rüge angreifen will. Diesen Darlegungsanforderungen wird (beispielsweise) nicht genügt, wenn und soweit sich das Vorbringen in einer Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags erschöpft, ohne im Einzelnen auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung einzugehen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2018 – 1 A 249/16 –, juris, Rn. 2 ff.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">aa) Der Kläger bringt zunächst vor: Im Rahmen der Offensichtlichkeit des Mangels i. S. d. § 12 Abs. 2 Satz 2 BBesG gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dem Kläger habe sich aufdrängen müssen, nach den Folgerungen der Aufhebung der Verpflichtung zur Inübunghaltung für die Zulagengewährung zu fragen. Er sei angesichts von Unklarheiten und Zweifeln gehalten gewesen, sich bei der Beklagten Gewissheit darüber zu verschaffen, ob die Zahlung zu Recht erfolgt sei. Das Verwaltungsgericht habe zwar die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. April 2012– 2 C 4.11 – zitiert, aber die darin enthaltene wesentliche und von der bisherigen Rechtsprechung abweichende Auffassung nicht beachtet. Danach müsse sich der Fehler dem Soldaten in der Besoldungsmitteilung aufdrängen. Zweifel, die Anlass zur Nachfrage gäben, genügten gerade nicht. Der Kläger sei entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts gutgläubig gewesen und könne sich auf den Wegfall der Entreicherung berufen. Er habe sich nach Aufhebung seiner Verpflichtung zur Inübunghaltung gerade nicht einer sich aufdrängenden Frage nach den Folgerungen für die (Weiter-)Gewährung der Fliegerzulage verschlossen. Aufgrund seiner damaligen besoldungsrechtlichen Kenntnisse über die Fliegerzulage, die ihm in der Fliegenden Staffel vermittelt worden seien, sei er davon ausgegangen, die Stellenzulage werde ihm nach fünfjährigem Bezug auch nach Beendigung der fliegerischen Verwendung dauerhaft zu 100 v. H. gewährt. Seine Aussage, es sei in der Fliegenden Staffel nicht über eine Reduzierung der Fliegerzulage gesprochen worden, habe er vor dem Hintergrund getroffen, dass die Soldaten der Fliegenden Staffel – ebenso wie er zu der Zeit – Zeitsoldaten gewesen seien, für die eine Weitergewährung der Fliegerzulage nicht in Betracht gekommen sei und demnach auch keine Relevanz gehabt habe. Eine Reduzierung der Fliegerzulage habe er daher weder im Jahr 2003 mit dem Ende seiner Pflicht zur Erhaltung seines fliegerischen Könnens noch im Oktober 2007 erwartet. Zudem habe er sich bereits im Februar 2003 in Form einer Beschwerde an den „Fliegenden Verband“ gewandt und um Bereinigung der Aktenlage gebeten, damit es zu keinen weiteren Überzahlungen im Zusammenhang mit seiner fliegerischen Verwendung komme. Nachdem er in seinen darauffolgenden Besoldungsmitteilungen erkannt habe, dass die Stellenzulage von „aktiv“ auf „passiv“ umgestellt worden sei, sei er davon ausgegangen, alle Maßnahmen getroffen zu haben, um weitere Überzahlungen zu verhindern. Er habe außerdem – anders als von dem Verwaltungsgericht ausgeführt – nicht vorgetragen, immer nur die erste Seite der dienstlichen Schreiben erhalten zu haben, die er quittiert habe. Dies sei vielmehr eine Behauptung der Beklagten gewesen, der er entgegengetreten sei. Die Darstellung im verwaltungsgerichtlichen Urteil entspreche nicht seinem erstinstanzlichen Vortrag und impliziere, dass das Verwaltungsgericht ihm nicht geglaubt habe.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Dieses Vorbringen stellt die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger hafte verschärft nach § 12 Abs. 2 Satz 2 BBesG, weil die Überzahlung offensichtlich gewesen sei, nicht ernstlich in Zweifel.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">(1) Der Mangel des rechtlichen Grundes ist offensichtlich i. S. v. § 12 Abs. 2 Satz 2 BBesG, wenn der Empfänger die Überzahlung nur deshalb nicht bemerkt hat, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße außer Acht gelassen hat oder – mit anderen Worten – er den Fehler etwa durch Nachdenken oder logische Schlussfolgerung hätte erkennen müssen. Für das Erkennenmüssen der Überzahlung kommt es auf die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten (z.B. Vor- und Ausbildung, dienstliche Tätigkeit) des Beamten an. Dabei ist von jedem Beamten zu erwarten, dass er die Grundprinzipien des Beamtenrechts, sein eigenes statusrechtliches Amt nebst besoldungsrechtlicher Einstufung sowie die ihm zustehenden Besoldungsbestandteile wie Grundgehalt, Familienzuschlag und sonstige ihm zustehende Zulagen kennt. Von juristisch vorgebildeten oder mit Besoldungsfragen befassten Beamten sind weitergehende Kenntnisse zu erwarten. Letztlich ist die Überzahlung dann offensichtlich, wenn sie für den Empfänger aufgrund seiner Kenntnisse ohne weiteres erkennbar ist; nicht ausreichend ist, wenn Zweifel bestehen und es einer Nachfrage bedarf. Nicht erforderlich ist hingegen, dass die konkrete Höhe der Überzahlung offensichtlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">So st. Rspr., etwa BVerwG, Urteile vom 16. Juli 2020 – 2 C 7.19 –, juris, Rn. 17 und vom 26. April 2012 – 2 C 4.11 –, juris, Rn. 10 f., jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">(2) Nach diesen Maßgaben hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, die Überzahlung sei im Falle des Klägers offensichtlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">(a) Der Kläger hätte die Überzahlung nach den von ihm individuell zu erwartenden Kenntnissen und Fähigkeiten erkennen müssen. Dass er sich die von ihm zu erwartenden Kenntnisse nicht angeeignet hat und aufgrund dessen – nach eigenen Angaben – die Überzahlung nicht erkannt hat, ist eine schwere Sorgfaltspflichtverletzung. Zwar war von ihm als mit Besoldungsangelegenheiten dienstlich nicht befasstem Soldaten nicht mehr als ein beamten- und besoldungsrechtliches Grundwissen zu verlangen. Zu diesem gehört aber auch die Kenntnis der ihm zustehenden besoldungsrechtlichen Zulagen wie der Fliegerzulage. Dem Kläger ist dabei auch abzuverlangen, sich – in Grundzügen – die Kenntnis der Besonderheiten der Fliegerzulage, insbesondere der Modalitäten der Weitergewährung nach Abschluss der fliegerischen Verwendung, zu verschaffen. Das gilt insbesondere für den Kläger als einen nach seinem Dienstgrad herausgehobenen Soldaten, der zudem in langjähriger fliegerischer Verwendung als Berufssoldat gewesen ist. Der Kläger ist seit dem 7. September 1987 nur mit einer etwa dreimonatigen Unterbrechung bis zum Beginn seiner Inübunghaltung am 1. April 2002 insgesamt fast 14 Jahre – davon fast 13 Jahre als Berufssoldat – fliegerisch verwendet worden und hat eine Fliegerzulage erhalten. Er hat mindestens seit März 1999 bereits den Dienstgrad eines Majors (Besoldungsgruppe A 13 nach Anlage 1 BBesG) innegehabt und ist mit Ernennungsurkunde vom 18. Februar 2004 zum Oberstleutnant (Besoldungsgruppe A 14 nach Anlage 1 BBesG) befördert worden. Von dem Kläger wäre – wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat – demnach auch zu erwarten gewesen, zu wissen, dass sich aus der Aufhebung seiner Verpflichtung zur Erhaltung des fliegerischen Könnens rechtliche Folgen im Hinblick auf die Fliegerzulage ergeben und sich diese – gerade im Hinblick auf eine etwaige Weitergewährung – konkret vor Augen zu führen. Nach Maßgabe dessen wäre für den Kläger, der seine Einsatzzeiträume kennt, auch ohne weiteres erkennbar gewesen, dass die Fliegerzulage ihm nach Oktober 2007 zu Unrecht weiterhin in voller Höhe gewährt wurde. Mit Blick auf die danach von ihm zu erwartenden Kenntnisse kann der Kläger sich auch nicht mit dem Vorbringen entlasten, er sei nach einer „Beschwerde“ im Februar 2003 und nachfolgender Umstellung der Stellenzulage von „aktiv“ auf „passiv“ in darauffolgenden Besoldungsmitteilungen davon ausgegangen, alle Maßnahmen getroffen zu haben, um weitere Überzahlungen zu verhindern. Auch welche Kenntnisse der Kläger – etwa aufgrund von Formblättern/Hinweisen der Beklagten oder Gesprächen in der Fliegenden Staffel – tatsächlich gehabt hat oder haben will, ist nach alldem nicht von Relevanz.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">(b) Soweit das Verwaltungsgericht angenommen hat, es hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, nach den rechtlichen Folgen der Aufhebung seiner Verpflichtung zur Erhaltung des fliegerischen Könnens zu fragen, ist es – anders als der Kläger meint – nicht von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 4.11 – seine Rechtsprechung nicht geändert, sondern präzisiert.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Es trifft zwar zu, dass das Bundesverwaltungsgericht in früheren Entscheidungen,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2006 – 2 C 12.05 –, juris, unter „2.“ m. w. N.,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">noch ausdrücklich ausgeführt hat, der Kenntnis des Mangels des rechtlichen Grundes der Zahlung stehe es gleich, wenn der Mangel so offensichtlich gewesen sei, dass der Empfänger ihn etwa durch Nachdenken, logische Schlussfolgerung oder sich aufdrängende Erkundigungen hätte erkennen müssen. Im Urteil vom 26. April 2012 hat das Bundesverwaltungsgericht die letzte Alternative nicht mehr genannt, sondern ausgeführt, es sei nicht ausreichend, wenn Zweifel bestünden und es einer Nachfrage bedürfe.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 4.11 –, juris, Rn. 10 und 11.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Hierin liegt aber keine Änderung der Rechtsprechung. Dagegen spricht schon, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht erklärt hat, seine bisherige Rechtsprechung zu ändern, sondern im Gegenteil ausdrücklich auf die Entscheidung vom 9. Mai 2006 ‑ 2 C 12.05 ‑ Bezug genommen hat. Dass das Bundesverwaltungsgericht seine vorherige Rechtsprechung lediglich präzisiert hat, folgt aber auch aus einer Gesamtschau mit dem Urteil vom 16. Juli 2020 – 2 C 7.19 –, juris, Rn. 17, das auf die Entscheidung vom 26. April 2012 verweist. Hier unterscheidet das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich zwischen den Kenntnissen, die – individuell – von einem Beamten oder Soldaten zu erwarten sind, und der Frage, ob die Überzahlung aufgrund dieser Kenntnisse zweifelsfrei erkennbar ist. Die von ihm zu erwartenden (Grund)Kenntnisse muss sich der Beamte aufgrund seiner Treuepflicht – ggf. auch durch Nachfragen – aneignen. Eine Überzahlung muss nach diesen vorauszusetzenden Kenntnissen ohne Zweifel und ohne, dass Nachfragen erforderlich wären, erkennbar sein. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger danach in der Sache im Ergebnis zutreffend vorgeworfen, seine Sorgfaltspflichten grob verletzt zu haben, weil er sich nicht die von ihm zu erwartenden Kenntnisse über die Fliegerzulage verschafft habe, auf deren Grundlage er die Überzahlung hätte erkennen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">bb) Der Kläger macht ferner ohne Erfolg geltend: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts stehe einer Rückforderung der in den Kalenderjahren 2007 bis 2013 geleisteten Zahlungen die Einrede der Verjährung entgegen. Der Beklagten sei grobe Fahrlässigkeit i. S. d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB vorzuwerfen, sodass die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB – anders als vom Verwaltungsgericht angenommen – nicht erst mit Ablauf des Kalenderjahres 2017, sondern bereits mit Ablauf des Kalenderjahres 2003 begonnen habe, zu laufen. Der Dreijahreszeitraum der regelmäßigen Verjährungsfrist sei der Zeitraum, innerhalb dessen die öffentliche Hand ihre Akten regelhaft überprüfen müsse, um das Risiko auszuschließen, dass ihr grobe Fahrlässigkeit und damit die Einrede der Verjährung entgegengehalten werden könne. Fehle ein Überprüfungssystem – jedenfalls auf grobe Fehler –, nehme der Dienstherr billigend das Risiko in Kauf, dass seine Rückforderungsansprüche verjährten. Es sei sogar als bedingt vorsätzlich anzusehen, Akten in einem Zeitraum von über zehn Jahren keiner Revision zu unterziehen. Seine Personalakte sei seit dem Jahr 2003 und damit über einen Zeitraum von 15 Jahren nicht überprüft worden; der Fehler sei lediglich zufällig bemerkt worden.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">(1) Rückforderungsansprüche nach § 12 BBesG, die – wie hier – nach dem 31. Dezember 2001 entstanden sind, verjähren gemäß § 195 BGB nach drei Jahren. Nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Bei Behörden oder öffentlich-rechtlichen Körperschaften ist hierbei auf die Kenntnis der verfügungsberechtigten Behörde abzustellen. Verfügungsberechtigt in diesem Sinne sind dabei diejenigen Behörden, denen die Entscheidungskompetenz für den Rückforderungsanspruch zukommt, wobei die behördliche Zuständigkeitsverteilung zu respektieren ist.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 4.11 –, juris, Rn. 15.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB liegt demnach nur vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil er ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung („Verschulden gegen sich selbst") vorgeworfen werden können. Dies ist etwa der Fall, wenn sich dem Gläubiger die den Anspruch begründenden Umstände förmlich aufgedrängt haben, er davor aber letztlich die Augen verschlossen und leicht zugängliche Informationsquellen nicht genutzt hat. Hierbei trifft den Gläubiger generell keine Obliegenheit, im Interesse des Schuldners an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Nachforschungen zu betreiben; vielmehr muss das Unterlassen von Ermittlungen nach Lage des Falles als geradezu unverständlich erscheinen, um ein grob fahrlässiges Verschulden des Gläubigers bejahen zu können.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Urteile vom 22. Juli 2010 – III ZR 99/09 –, juris, Rn. 16, und vom 27. September 2011 – VI ZR 135/10 –, juris, Rn. 10 jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Grob fahrlässige Unkenntnis i. S. v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB kann sich aus einem Organisationsverschulden ergeben. Sind organisatorische Vorkehrungen getroffen, um die unverzügliche Berücksichtigung besoldungsrelevanter dienstlicher Veränderungen sicherzustellen, so kommt ein Organisationsverschulden nur in Betracht, wenn sich herausstellt, dass das vorhandene System lückenhaft oder fehleranfällig ist.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 4.11 –, juris, Rn. 16.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">(2) Dies zugrunde gelegt hat der Kläger nicht aufgezeigt, dass die Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 BGB wegen grob fahrlässiger Unkenntnis der Beklagten bereits vor Ablauf des Jahres 2017 in Gang gesetzt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">(a) Dass die von der Beklagten getroffenen Vorkehrungen zur Sicherstellung einer unverzüglichen Berücksichtigung besoldungsrelevanter dienstlicher Veränderungen lückenhaft oder fehlerabfällig wären, hat weder der Kläger mit der Zulassungsbegründung vorgebracht, noch ist dies sonst erkennbar. Die Beklagte hat insoweit vorgetragen, es sei im Falle des Klägers zu einem nicht mehr nachvollziehbaren Bearbeitungsfehler gekommen, indem versäumt worden sei, einen Warntermin zur Überprüfung der Zulagenzahlung zu setzen. Hieraus lässt sich indes die Schlussfolgerung ziehen, dass auf Seiten der Beklagten grundsätzlich Vorkehrungen – hier konkret: Vorgabe, einen Warntermin zu setzen – getroffen sind, um Besoldungsänderungen zeitnah umzusetzen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Vorkehrungen insgesamt– über wenige Einzelfälle hinaus – fehleranfällig sein könnten, sind weder dargelegt noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">(b) Eine grob fahrlässige Unkenntnis der Beklagten von den Rückforderungsansprüchen folgt auch nicht daraus, dass sie die Personal-/ Besoldungsakten ihrer Beschäftigten nicht regelmäßig (alle drei Jahre) auf zumindest grobe Fehler überprüft. Eine solche regelmäßige „händische“ Revision wäre im Rahmen der Massenverwaltung offensichtlich keine leicht zugängliche Informationsquelle, sondern verursachte ganz im Gegenteil erheblichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand, insbesondere Personalkosten. Es obliegt der Beklagten aber gerade nicht, im Interesse ihrer Besoldungsempfänger an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist, aufwändige Nachforschungen zu betreiben.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. ebenso: Sächs. OVG, Urteil vom 17. September 2019 – 2 A 1229/17 –, juris, Rn. 24; Nds. OVG, Beschluss vom 20. März 2015 – 5 LA 139/14 –, juris, Rn. 25; VG Köln, Urteil vom 19. Dezember 2018 – 23 K 1157/17 –, juris, Rn. 37; VG Frankfurt, Urteil vom 8. August 2014 – 9 K 929/14.F –, juris, Rn. 27.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">b) Die Berufung ist auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zuzulassen. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Damit sind Verstöße gegen Vorschriften gemeint, die den Verfahrensablauf bzw. den Weg zu dem Urteil und die Art und Weise des Urteilserlasses regeln. Nicht erfasst sind hingegen Verstöße gegen Vorschriften, die den Urteilsinhalt betreffen und deren Verletzung sich als Mangel der sachlichen Entscheidung darstellt. Ein Verfahrensmangel ist nur dann ausreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2017– 5 B 10.17 –, juris, Rn. 19, m. w. N., und OVG NRW, Beschluss vom 5. Februar 2019– 1 A 2216/18 –, juris, Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">aa) Der Kläger bringt insoweit vor: Das Verwaltungsgericht gehe davon aus, dem Kläger habe sich aufdrängen müssen, nach den Folgen der Aufhebung der Verpflichtung zur Inübunghaltung für die Zulagengewährung zu fragen. Auch sei er gehalten gewesen, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, ob die Zahlung zu Recht erfolgt sei. Diese Annahmen stellten unter Berücksichtigung der maßgeblichen aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Gehörsverletzung dar. Bei umfassender Beachtung und Würdigung seines Sachvortrags hätte das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangen können, er sei im Hinblick auf die Kürzung der Fliegerzulage gutgläubig gewesen und könne sich demnach auf den Wegfall der Bereicherung berufen. Er habe sich keinen Überlegungen verschlossen, indem er davon ausgegangen sei, die Reduzierung der Zulage betreffe allein Berufssoldaten. Sein Vorbringen, dass er zu keiner Zeit mit den dienstlichen Schreiben, die er quittiert habe, die anliegende Seite mit den wichtigen Hinweisen u. a. auf die Verringerung der Zulage erhalten habe und dies auch im Gespräch mit Kollegen nie Thema gewesen sei, könne auch nicht dahinstehen. Seine Ausführungen seien entscheidungserheblich, weil sie seinen Vortrag belegten, dass er erst im Jahr 2017 von der Kürzung der Zulage um 50 v. H. erfahren und sich nicht sich aufdrängenden Fragen verschlossen habe. Dass er die Überzahlung nicht erkannt habe, habe auf seinen damaligen Kenntnissen über die Fliegerzulage beruht, wie sie ihm in Gesprächen innerhalb der Fliegenden Staffel vermittelt worden seien. Dort sei zu keiner Zeit über eine Reduzierung der Zulage nach fünf Jahren der Weitergewährung gesprochen worden.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Seine Aussage, er sei davon ausgegangen, die Reduzierung der Zulage betreffe nur Berufssoldaten, habe das Verwaltungsgericht aus dem Zusammenhang „gerissen“ und nicht hinterfragt. Sie habe den Hintergrund gehabt, dass die Soldaten der Fliegenden Staffel – ebenso wie er selbst – Zeitsoldaten gewesen seien, für die eine Weitergewährung der Zulage nach Ende der fliegerischen Verwendung nicht in Betracht gekommen und demnach auch nicht von Relevanz gewesen sei. Deshalb sei sie niemals Gesprächsthema gewesen. Aus seiner Wahrnehmung habe es sich so dargestellt, dass der Wegfall der Pflicht zur Inübunghaltung den vollen Bezug der Zulage dauerhaft unberührt lasse, was sich auch aus seinen Bezügemitteilungen ergeben habe. Das Verwaltungsgericht berücksichtige zudem nicht, dass er sich im Februar 2003 in Form einer „Beschwerde“ an den „Fliegenden Verband“ gewandt und um Bereinigung der Aktenlage gebeten habe, damit es zu keinen weiteren Überzahlungen im Zusammenhang mit seiner fliegerischen Verwendung komme. Nachdem er in seinen darauffolgenden Besoldungsmitteilungen erkannt habe, dass die Stellenzulage von „aktiv“ auf „passiv“ umgestellt worden sei und der Kommandeur der Fliegenden Gruppe des Jagdbombergeschwaders XX ihm dies in einem Gespräch bestätigt habe, sei er davon ausgegangen, alle Maßnahmen getroffen zu haben, um weitere Überzahlungen zu verhindern.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Darstellung im Urteil, der Kläger habe immer nur die erste Seite der dienstlichen Schreiben erhalten, die er quittiert habe, entspreche nicht seinem Vortrag und impliziere, dass das Verwaltungsgericht ihm nicht geglaubt habe. Es sei bereits nicht richtig zu unterstellen, er habe den Empfang aller relevanten Schreiben quittiert. Er habe von Anbeginn vorgetragen, dass ihm weder der Änderungsbescheid zur Stellenzulage noch die Änderungsmeldung vom 24. März 2003 vorgelegen hätten, mit denen er den Betrag hätte überprüfen können. Diese beiden von ihm nicht unterschriebenen Dokumente, die zur Überprüfung seiner Gehaltsbescheinigung zwingend erforderlich gewesen wären, seien ihm erst im Jahre 2017 ausgehändigt worden. Er habe zudem stets betont, dass ihm alle Änderungsmeldungen bis 1997, die noch hätten unterschrieben werden müssen, vorgelegen hätten. Lediglich die Änderungsmeldung aus März 2002 und andere Unterlagen zur Überprüfung der Zulagenweitergewährung hätten ihm nicht vorgelegen. Er habe also <span style="text-decoration:underline">eine</span> Anlage zu einem Schreiben, dessen Empfang er quittiert habe, nicht erhalten.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Soweit das Verwaltungsgericht angenommen habe, dem Kläger hätte sich aufdrängen müssen, nach den Folgen der Aufhebung der Verpflichtung zur Erhaltung seines fliegerischen Könnens für die Zulagengewährung zu fragen, handele es sich zudem um ein Überraschungsurteil. Dieser Aspekt sei in der mündlichen Verhandlung, nach deren Ende das Ergebnis offen gewesen sei, nicht zur Sprache gekommen. Hätte das Verwaltungsgericht den Kläger auf diesen Aspekt hingewiesen, hätte er erklärt, warum sich ihm solche Fragen nicht gestellt hätten und für ihn kein Zusammenhang zwischen dem weiteren vollen Bezug der Zulage und der Inübunghaltung bestanden habe.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">bb) Dieses Vorbringen greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">(1) Das gilt zunächst, soweit der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe sein Vorbringen nicht beachtet.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Zur Wahrung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG hat das Gericht den Beteiligten zu allen maßgeblichen Rechts- und Tatsachenfragen die Gelegenheit einzuräumen, Stellung zu beziehen. Es muss den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung ziehen. Das Gericht hat in den Entscheidungsgründen in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen, aus welchen Gründen es von einer Auseinandersetzung mit dem rechtlichen und tatsächlichen Vorbringen eines Beteiligten abgesehen hat. Es ist aber andererseits nicht verpflichtet, sich in den Entscheidungsgründen mit jedem rechtlichen und tatsächlichen Argument ausdrücklich zu befassen. Es darf ein Vorbringen außer Betracht lassen, das nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen auch in seine Erwägungen einbezogen hat. Nur bei Vorliegen deutlich gegenteiliger Anhaltspunkte kann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör angenommen werden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist aber erst dann verletzt, wenn Vortrag nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen ist, der aus der maßgeblichen Sicht des Gerichts entscheidungserheblich war oder gewesen wäre. Ebenso ist es für eine erfolgreiche Gehörsrüge erforderlich, dass die unterstellte Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen, für den Rechtsmittelführer günstigeren Entscheidung geführt hätte bzw. im Rahmen des Berufungsverfahrens führen würde.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. August 2012– 1 A 864/11 –, juris, Rn. 3 bis 8, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Fehler bei der Sachverhaltsfeststellung und ‑würdigung sowie der Beweiswürdigung sind grundsätzlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen. Eine Ausnahme käme allenfalls bei einer von Willkür geprägten Beweiswürdigung in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 – 9 B 710.94 –, juris, Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran zeigt das Zulassungsvorbringen einen Gehörsverstoß nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat das angeblich außer Acht gelassene Vorbringen im Tatbestand wiedergegeben (UA, 3 letzter Absatz bis S. 5 1. Abs.). Es hat insbesondere auch aufgenommen, dass der Kläger „von sich aus auf eine Berichtigung gedrängt“ habe, womit es erkennbar die vom Kläger erwähnte Beschwerde meint. In der Auseinandersetzung mit den Annahmen des Verwaltungsgerichts belegt der Kläger zudem bereits selbst, dass – entgegen seiner Behauptung – das Verwaltungsgericht seinen Sachvortrag bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt hat. Seine Behauptung, das Verwaltungsgericht habe dies nicht ausreichend und zutreffend getan– insbesondere, soweit es sein Vorbringen als nicht entscheidungserheblich erachtet habe –, zielt allein darauf ab, seinen Vortrag einer abweichenden (für ihn günstigen) rechtlichen Bewertung zuführen. Ob das Verwaltungsgericht dem Vortrag des Klägers und den von ihm beigebrachten Unterlagen die richtige Bedeutung zugemessen und die richtigen Folgerungen daraus gezogen hat, ist aber keine Frage des rechtlichen Gehörs, sondern der Tatsachen- und Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO. Dass insoweit ein Ausnahmefall einer von Willkür geprägten Beweiswürdigung gegeben sein könnte, zeigt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen nicht auf. Vielmehr ist die Sachverhaltswürdigung durch das Verwaltungsgericht – wie bereits unter II. 2. a) aa) aufgezeigt – zutreffend. Dies zugrundegelegt spricht auch nichts dafür, dass eine insoweit unterstellte Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen, für den Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätte bzw. im Rahmen des Berufungsverfahrens führen würde.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">(2) Ein Verfahrensverstoß ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Klägers, es handele sich um eine Überraschungsentscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">(a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht grundsätzlich nicht, die Beteiligten auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinzuweisen und offenzulegen, wie es seine Entscheidung im Einzelnen zu begründen beabsichtigt, weil die tatsächliche und rechtliche Würdigung sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung bzw. Beschlussfassung ergibt. Ein Beteiligter darf durch die angegriffene Entscheidung aber nicht im Rechtssinne überrascht werden. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nicht zu rechnen brauchte, was von dem betreffenden Beteiligten im Einzelnen darzulegen ist. Dagegen kann von einer Überraschungsentscheidung nicht gesprochen werden, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. April 2022– 1 A 760/22 –, juris, Rn. 14 f. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">(b) Das angegriffene Urteil ist keine im vorstehenden Sinne unzulässige Überraschungsentscheidung. Das Verwaltungsgericht hat schon keinen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, der nicht erörtert worden ist. Die Beklagte hat bereits mit der Klageerwiderung vom 6. Juni 2018 (S. 5, 1. Abs.) konkret die Auffassung vertreten, für den Kläger habe nach endgültiger Beendigung seiner fliegerischen Verwendung ein Grund bestanden, die Berechtigung der Weiterzahlung der Zulage zu prüfen. Zudem hat sie in diesem Schriftsatz auch ausgeführt (S. 4, 4. Abs.), eine Kenntnis der ihm zustehenden Zulagen gehöre zum Grundwissen eines Besoldungsempfängers und es habe die intellektuellen Fähigkeiten eines ranghohen Offiziers mit Vorgesetzten- und Vorbildfunktion – wie dem Kläger – auch nicht überstiegen, sich im Zweifel die Regelungen anhand der in den Dienststellen vorhandenen Vorschriften selbst nochmals zu verdeutlichen. Dies entspricht in der Sache der in den Entscheidungsgründen niedergelegten – angeblich überraschenden – Auffassung des Verwaltungsgerichts, es hätte sich dem Kläger (spätestens) nach Aufhebung der Verpflichtung zur Erhaltung seines fliegerischen Könnens aufdrängen müssen, sich die notwendigen Kenntnisse über die rechtlichen Folgen für die Zulagengewährung (durch Nachfragen bei der zuständigen Stelle) anzueignen. Die Frage, ob die Überzahlung i. S. v. § 12 Abs. 2 Satz 2 BBesG offensichtlich gewesen ist, ist im Übrigen eines der zentralen Themen des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen, über das sich die Beteiligten umfassend in ihren Schriftsätzen ausgetauscht haben. Es kann danach auch keine Rede davon sein, der Rechtsstreit habe mit Blick auf die von dem Verwaltungsgericht vertretene Rechtsauffassung eine Wendung genommen, mit der der Kläger nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht habe rechnen müssen. Das Verwaltungsgericht ist gerade nicht verpflichtet gewesen, dem Kläger die beabsichtigten Begründungsansätze für seine Entscheidung in Einzelheiten offenzulegen. Es hat mithin lediglich aus Umständen, zu denen sich die Beteiligten (bei sorgfältiger Prozessführung) äußern konnten, Schlussfolgerungen gezogen, die von dem Kläger für unrichtig gehalten werden.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">c) Die Berufung ist ferner nicht wegen der von der Klägerin geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Februar 2018– 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32, und vom 13. Oktober 2011 – 1 A 1925/09 –, juris, Rn. 31 f., m. w. N.; ferner Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 127, 142 ff., 149 und 151 ff.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">In Anwendung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die von dem Kläger als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">ob grob fahrlässige Unkenntnis des Dienstherrn im Sinne von § 199 BGB vorliegt, wenn der Dienstherr die Personalakten seiner Bediensteten nicht regelmäßig innerhalb der Regelverjährungsfrist von drei Jahren auf grobe und damit leicht erkennbare Bearbeitungsfehler prüft – wie z.B. das Unterbleiben der Aushändigung von Änderungsmeldungen bei zeitlich befristeter Gewährung einer Zulage –, in deren Folge ihm nicht auffällt, dass es zu Überzahlungen kommt,</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">ist entgegen seiner Auffassung nicht klärungsbedürftig. Sie lässt sich vielmehr – wie bereits unter II. 2. a) bb) aufgezeigt – unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung eindeutig verneinen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">d) Auch der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO liegt nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Vorschrift ist die Berufung zuzulassen, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts von einer Entscheidung eines in der Norm aufgeführten divergenzrelevanten Gerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Divergenz ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechtssatz dargelegt wird, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung eines divergenzrelevanten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. April 2010– 1 A 1326/08 –, juris, Rn. 34, und vom 25. Januar 2012 – 1 A 640/10 –, juris, Rn. 2; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 215 bis 217, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Keine Abweichung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist die lediglich unrichtige Anwendung eines im angefochtenen Urteil nicht infrage gestellten Rechtsgrundsatzes auf den zu entscheidenden Einzelfall.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 VwGO Rn. 159 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Gemessen hieran liegt die von dem Kläger bereits im Zusammenhang mit dem Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend gemachte Abweichung des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 4.11 –) nicht vor. Mit Blick darauf, dass das Verwaltungsgericht in seinen Entscheidungsgründen dieses Urteil zitiert hat, um seine Rechtsauffassung zu stützen, läge allenfalls eine – keine Abweichung i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO darstellende – unrichtige Anwendung der in diesem Urteil aufgestellten Rechtssätze auf den vorliegenden Einzelfall vor. Die fallbezogene Würdigung des Verwaltungsgerichts ist aber – wie unter II. 2. a) aa) ausgeführt – auch nicht unrichtig, sondern zutreffend und im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">e) Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen zu den Zulassungsgründen nach § 124 Abs. 2 Nr. 1, 3, 4 und 5 VwGO weist die Rechtssache auch nicht die behaupteten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf. Vor allem können die Erfolgsaussichten des angestrebten Rechtsmittels danach nicht schon als offen bezeichnet werden.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
|
345,977 | olgbs-2022-07-21-1-uf-11521 | {
"id": 602,
"name": "Oberlandesgericht Braunschweig",
"slug": "olgbs",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 1 UF 115/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-07-29T10:00:44 | 2022-10-17T17:55:25 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">I. Die Beschwerde des Kindesvaters gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Wolfenbüttel vom 16.06.2021 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kindesvater zu tragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Beschwerdewert wird auf 4.000,00 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">II. Der Antrag des Kindesvaters auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">III. Der Kindesmutter wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Das Verfahren betrifft die elterliche Sorge für den derzeit dreijährigen J. V. C. Durch den Beschluss des Amtsgerichts H. vom 29.06.2020 wurde auf Antrag des Antragstellers festgestellt, dass er J. Vater ist. Die Eltern waren und sind nicht miteinander verheiratet. Sie haben jedoch langjährig in einer „On-off“-Beziehung gelebt, aus der ihre am 15.02.2013 geborene Tochter A. hervorgegangen ist. Die Beziehung endete im Januar 2019 während der Schwangerschaft der Mutter mit J.; A. und J. leben seitdem im Haushalt der Kindesmutter.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Wegen des Umgangs zwischen A. und dem Vater führten die Eltern beim Amtsgericht H. mehrere Verfahren. Schließlich verständigten sie sich dort in dem Verfahren zum Aktenzeichen 609 F 1843/19 UG am 27.08.2019 auf einen vierzehntägigen Wochenendumgang sowie einen zusätzlichen Umgang am Mittwochnachmittag. Am 01.10.2019 zog die Mutter mit den Kindern von H.-L. nach W. Die elterliche Sorge für A. wurde den Eltern durch den zum Aktenzeichen 10 UF 264/19 ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts C. vom 19.03.2020 gemeinsam übertragen, nachdem das Amtsgericht H. den entsprechenden Antrag des Vaters zunächst zurückgewiesen hatte. Wegen weiterer Einzelheiten zu den Lebensumständen des Kindes und der Eltern wird auf die Sachdarstellung in dem angefochtenen Beschluss vom 16.06.2021 Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Im vorliegenden Verfahren begehrt der Vater nun auch für J. die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge. Gleichzeitig hat er einen Antrag auf Regelung des Umgangs mit dem Kind gestellt. Das Umgangsverfahren wurde beim Amtsgericht Wolfenbüttel gesondert unter dem Aktenzeichen 20 F 1177/20 UG geführt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Mutter steht einer gemeinsamen elterlichen Sorge ablehnend gegenüber und macht geltend, der Vater habe sie in der Vergangenheit immer wieder herabgesetzt, erheblich beleidigt und ihr ihre Erziehungsfähigkeit abgesprochen. Zudem fürchte sie sich vor seiner aufbrausenden Art. Im Hinblick auf A. sei es seit dem Beschluss des Oberlandesgerichts C. bereits zu Problemen bei der Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge gekommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die vom Amtsgericht bestellte Verfahrensbeiständin hat unter dem 03.12.2020 u. a. berichtet, beide Eltern hätten ihr gegenüber angegeben, zwischen ihnen finde keine Kommunikation statt. Auch Gespräche in der Erziehungsberatungsstelle hätten insoweit nicht zu einer Verbesserung geführt. Den Kurs „Kinder im Blick“ habe der Vater nach zwei Terminen abgebrochen. Nach ihrer Einschätzung ergäben sich aus ihren Gesprächen mit den Eltern erhebliche wechselseitige Vorwürfe und ein sehr hohes Konfliktpotential. Eine Möglichkeit, wie die Kommunikation zwischen den Eltern verbessert werden könne, sehe sie nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Der Vater hat den Bericht der Verfahrensbeiständin mit Schriftsatz vom 15.04.2021 als unqualifiziert moniert und zudem deren Entpflichtung beantragt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Das Amtsgericht hat die Beteiligten persönlich angehört und die Angelegenheit mit ihnen im Termin am 02.06.2021 erörtert. Im Umgangsverfahren haben die Beteiligten sich an diesem Tag im Rahmen einer Zwischenvereinbarung auf eine Anbahnung von Kontakten zwischen J. und seinem Vater verständigt. Damit sollte dem Vater ermöglicht werden, alle zwei Wochen im Rahmen des Abholens und Zurückbringens von A. freitags und sonntags jeweils für bis zu eine Stunde im Beisein der Kindesgroßmutter väterlicherseits Zeit mit J. zu verbringen. Zudem wurden wöchentliche Videotelefonate jeweils mittwochs um 18 Uhr vereinbart. Ferner haben sich die Beteiligten zur Aufnahme von Beratungsgesprächen bei der Erziehungsberatungsstelle des Landkreises W. verpflichtet. Wegen des weiteren Inhalts der Erörterungen und der Vereinbarung wird auf das Protokoll vom 02.06.2021 verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Das Amtsgericht hat den Antrag des Vaters mit Beschluss vom 16.06.2021 zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, eine gemeinsame elterliche Sorge widerspreche zum einen dem Kindeswohl, weil der Vater keine Beziehung zu seinem Sohn habe. Zum anderen fehle es zwischen den Eltern an einer tragfähigen sozialen Beziehung und dem für eine gemeinsame elterliche Sorge erforderlichen Mindestmaß an Übereinstimmung. Eine sachliche Kommunikation zwischen den Eltern sei nicht möglich. Das Fehlen jeglicher Wertschätzung des anderen Elternteils sei offensichtlich. Ohne Inanspruchnahme des Gerichts gelinge den Eltern keine Verständigung. Auch in Folge der für A. getroffenen Sorgerechtsentscheidung des OLG C. sei es nicht zu einer Verbesserung der elterlichen Kommunikation und Kooperation gekommen. Die Inanspruchnahme von Beratungs- und Unterstützungsleistungen sei nicht konsequent umgesetzt worden. Im Hinblick auf einen von der Mutter für den Herbst 2021 geplanten Auslandsurlaub sei die gemeinsame elterliche Sorge zu gegenseitigen Machtspielchen missbraucht worden. Der Verlauf der bisherigen Auseinandersetzungen erlaube nicht die Prognose, dass in absehbarer Zukunft eine gemeinsame Kommunikations- und Kooperationsbasis gefunden werden könne. Durch die zu erwartenden Konflikte seien zunehmende Belastungen für das Kind zu befürchten. Auf die Frage, welcher Elternteil diese Situation verursacht habe, komme es nicht an. Ein Anlass für die Entpflichtung des Verfahrensbeistandes bestehe nicht; Pflichtverletzungen seien nicht erkennbar. Insgesamt entspreche es dem Kindeswohl derzeit am besten, wenn es beim alleinigen Sorgerecht der Mutter bleibe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Gegen den seiner Verfahrensbevollmächtigten am 24.06.2021 zugestellten Beschluss wendet sich der Kindesvater mit seiner am Montag, dem 26.07.2021, beim Amtsgericht eingegangenen Beschwerde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Er macht geltend, die Mutter verweigere ihm grundlos die gemeinsame elterliche Sorge. Dies habe sie auch bereits bei A. versucht und vor dem Amtsgericht H. zudem ihren bei Abschluss des Umgangsvergleichs bereits geplanten Umzug nach W. verschwiegen. In Bezug auf J. habe sie von Anfang an versucht, den Aufbau einer Vater-Sohn-Beziehung zu verhindern, indem sie die Vaterschaftsfeststellung jahrelang verhindert habe und dem Jungen bis Juni 2021 noch nicht einmal gesagt habe, dass er sein Vater sei. Sie ignoriere und torpediere sogar gerichtlich vereinbarte Umgangsregelungen. Die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge sei auch zur Verhinderung weiterer erzieherischer Alleingänge der Mutter geboten. Ihm sei seinerseits daran gelegen, ein gefestigtes Verhältnis zu seinem Sohn aufzubauen und an seiner Entwicklung teilzuhaben; die derzeitigen Kommunikationsschwierigkeiten der Eltern stünden der gemeinsamen Sorgerechtsausübung nicht entgegen. Aufgrund des gegen ihn gerichteten Verhaltens der Mutter, ihres familiären Hintergrunds sowie ihrer krankhaften Bindungsschwierigkeiten sei die Einholung eines Gutachtens über die Erziehungsfähigkeit der Mutter erforderlich. Wegen weiterer Einzelheiten seines Vorbringens wird auf die Beschwerdeschrift vom 26.07.2021 verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Der Kindesvater beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">ihm unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Wolfenbüttel vom 16.06.2021 die gemeinsame, hilfsweise die alleinige, elterliche Sorge für das Kind V. J. C., geb. 23.03.2019, zu übertragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Kindesmutter beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Beschwerde zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Im Umgangsverfahren haben die Eltern am 17.09.2021 vor dem Amtsgericht Wolfenbüttel verfahrensabschließend vereinbart, die Umgangskontakte gemäß der Zwischenvereinbarung vom 02.06.2021 fortzuführen, allerdings auch ohne die Anwesenheit der Großmutter; eine etwaige Umgangsausweitung sollte mit Hilfe der Erziehungsberatungsstelle erfolgen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Verfahrensbeiständin und das Jugendamt und haben sich in ihren im September 2021 eingereichten Berichten unter Hinweis auf die fehlende Kommunikationsbasis zwischen den Eltern gegen eine gemeinsame elterliche Sorge ausgesprochen und im Mai 2022 erneut über die aktuelle Situation berichtet. Eine zwischenzeitliche Verbesserung der elterlichen Kommunikation sei nicht erkennbar. Der Vater sehe sich wegen der Entfernung nicht zu Gesprächen bei der Erziehungsberatungsstelle in W. in der Lage. Die Umgänge mit J. würden weiterhin im Rahmen des Holens oder Bringens der Tochter A. stattfinden und positiv verlaufen, allerdings nehme der Vater die Kontakte weniger häufig wahr als vereinbart. Hinsichtlich der weiteren Einschätzungen des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin wird auf die Schreiben vom 14.09.2021, 27.09.2021, 09.05.2022 und 11.05.2022 Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die gem. §§ 58 ff. FamFG zulässige Beschwerde des Kindesvaters hat in der Sache keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Das Familiengericht hat den Antrag des Kindesvaters auf Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge für J. zutreffend zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 1626 a Abs. 2 Satz 1 BGB überträgt das Familiengericht die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam, wenn die Übertragung dem Kindeswohl nicht widerspricht. Wie in dem angegriffenen Beschluss dargelegt, setzt die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts dabei eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern und ein Mindestmaß an Übereinstimmung voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 15.06.2016 – XII ZB 419/15, juris Rn. 23; Grüneberg/Götz, Kommentar zum BGB, 81. Auflage, § 1626a BGB Rn. 11 m. w. N.) Ein nachhaltiger und schwerer elterlicher Konflikt, das Fehlen jeder Kooperation und Kommunikation oder die Herabwürdigung des anderen Elternteils sprechen daher in der Regel gegen eine gemeinsame Sorge. Allerdings kann ein derartiger Konflikt nicht allein aus einer fehlenden Zustimmung der Mutter zum Antrag des Vaters hergeleitet werden, da die Übertragung der Mitsorge ansonsten in ihrem Belieben läge. Erforderlich sind vielmehr konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung nicht möglich sein und die gemeinsame Sorge das Kind deshalb erheblich belasten wird (BGH, a. a. O., Rn. 24; Grüneberg/Götz, a. a. O., Rn. 11a). Dafür genügt die begründete Besorgnis, dass die Eltern auch in Zukunft nicht in der Lage sein werden, ihre Streitigkeiten in wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge konstruktiv und ohne gerichtliche Auseinandersetzungen beizulegen. Denn ein fortgesetzter destruktiver Elternstreit führt für ein Kind zwangsläufig zu erheblichen Belastungen (BGH, a. a. O., Rn. 27 m. w. N.) Das gemeinsame Sorgerecht ist daher zu übertragen, sofern ein guter Kontakt zwischen Vater und Kind gegeben ist und die Möglichkeit besteht, dass die Eltern auch bei unterschiedlichen Vorstellungen in der Lage sind, Kompromisse zu erzielen. Die Übertragung der gemeinsamen Sorge ist hingegen ausgeschlossen, wenn schwerwiegende und nachhaltige Kommunikationsstörungen vorliegen und diese nicht nur auf einer grundlosen einseitigen Verweigerungshaltung beruhen (Grüneberg/Götz, a. a. O., Rn. 13).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Anhand dieser Maßstäbe scheidet eine gemeinsame elterliche Sorge im vorliegenden Fall aus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Anders als zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung kann zwar nicht mehr davon ausgegangen werden, dass zwischen J. und seinem Vater keinerlei persönliche Beziehung besteht, da mittlerweile Umgangskontakte stattfinden, wenn auch nur in einem zeitlich begrenzten Umfang von bis zu einer Stunde vierzehntägig am Freitag und Sonntag. Der Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge stehen aber nach wie vor die zwischen den Eltern vorhandenen schwerwiegenden und nachhaltigen Kommunikationsstörungen entgegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Soweit der Vater meint, dass die Schwierigkeiten bei der elterlichen Kommunikation es nicht rechtfertigen, auf eine eingeschränkte gemeinsame Handlungsfähigkeit in sorgerechtlichen Angelegenheiten zu schließen, vermag der Senat seiner Argumentation nicht zu folgen. Denn die bisher praktizierte Art der Kommunikation wird im Rahmen eines gemeinsamen Sorgerechts mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu häufigen Konflikten der Eltern führen, die nicht geübt darin sind, einvernehmlich nach Kompromissen im Hinblick auf unterschiedlich wahrgenommene Interessen ihres Sohnes zu suchen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Wie bereits vom Amtsgericht ausführlich und überzeugend dargelegt wurde, ist das Verhältnis der Eltern zueinander von einem starken Misstrauen und erheblichen wechselseitigen Vorwürfen geprägt. Dies hat sich bereits in den im Hinblick auf die gemeinsame Tochter A. geführten familiengerichtlichen Verfahren gezeigt und wird in dem hiesigen Verfahren erneut bestätigt. So spricht der Vater der Mutter deren Erziehungsfähigkeit ab, wirft ihr verantwortungsloses, kindeswohlschädigendes Handeln, Realitätsverlust sowie offensichtliche Bindungsstörungen vor und bezichtigt sie der Lügen und Täuschungen. Umgekehrt erhebt die Mutter gegen den Vater Gewaltvorwürfe und äußert Zweifel an der Überwindung seiner früheren Suchterkrankung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Dass ein sachlicher Austausch zwischen den Eltern über sorgerechtliche Fragen nicht möglich ist, wird auch anhand ihrer WhatsApp-Kommunikation zu der von der Mutter im Sommer 2020 geplanten Urlaubsreise deutlich, bei der tagelang ohne Ergebnis Nachrichten ausgetauscht wurden. Nach der übereinstimmenden Angabe beider Eltern findet eine Kommunikation zwischen ihnen auch weiterhin lediglich über WhatsApp und in Form der Weitergabe von Informationen durch die gemeinsame Tochter A. oder die Mutter des Kindesvaters statt. Dies stellt indes keine Basis für einen erfolgversprechenden, zielführenden Austausch von Meinungsverschiedenheiten und die Erarbeitung von Kompromissen in Bezug auf wesentliche sorgerechtliche Angelegenheiten dar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Anhaltspunkte dafür, dass sich die Eltern ernsthaft um eine Verbesserung und eine Ausweitung ihrer Kommunikation auch in sorgerechtlichen Angelegenheiten bemühen, liegen nicht vor. Den Kurs „Kinder im Blick“ haben sie entgegen ihrer in dem Verfahren zum Aktenzeichen 10 UF 264/19 vor dem Oberlandesgerichts C. im Termin am 25.02.2020 protokollierten Absichtsbekundungen nicht besucht. Während der Vater den Kurs nach zwei Terminen abgebrochen hat, hat sich die Mutter hierzu gar nicht erst angemeldet. Nach den insoweit übereinstimmenden Mitteilungen aller Beteiligten haben die Eltern trotz entsprechender Empfehlungen des Jugendamts und des Familiengerichts bisher auch keine gemeinsamen Gespräche in einer Erziehungsberatungsstelle aufgenommen. Dabei ist nicht feststellbar, dass das fehlende Bemühen um Kooperation allein der Mutter anzulasten ist. Sie hat sich vielmehr in der Erziehungsberatungsstelle gemeldet, dort auch mehrere Einzelgespräche geführt und sich für gemeinsame Gespräche offen gezeigt. Hingegen hat sich der Vater zwar ebenfalls bei der Beratungsstelle gemeldet, dort aber bisher keine Gespräche geführt. Dem Jugendamt hat er mitgeteilt, er halte Gespräche in W. für ihn aufgrund der Entfernung nicht für umsetzbar, da er jeweils auf einen Fahrer angewiesen sei; auch zu der angedachten Beratung via „Skype“ sei es nicht gekommen. Ernsthafte und nachhaltige Bemühungen um eine Verbesserung der elterlichen Kommunikation und Kooperation sind damit bei keinem der beiden Elternteile erkennbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Die aus der Sicht des Vaters unzureichende Information über den Gesundheitszustand seines Sohnes rechtfertigt ebenfalls keine gemeinsame elterliche Sorge. Zum einen kann im Hinblick auf J. Krankenhausaufenthalt im Juli 2021 kein Versäumnis der Mutter festgestellt werden, da diese nachvollziehbar angegeben hat, ihr zur Kommunikation mit dem Vater verwendetes Handy nicht bei sich geführt und daher ersatzweise schnellstmöglich die Großmutter des Kindes informiert zu haben. Zum anderen ist der Informationsanspruch des nicht sorgeberechtigten Elternteils gesondert in § 1686 BGB geregelt und daher erforderlichenfalls vom Vater anderweitig zu verfolgen (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 23.04.2020 – 13 UF 101/19, juris Rn. 20).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Auffassung des Vaters ist die Übertragung der Mitsorge auch nicht zur Verhinderung erzieherischer Alleingänge der Mutter angezeigt. Weder die Einrichtung der gemeinsamen elterlichen Sorge noch deren Aufhebung stellt ein Instrument zur gegenseitigen Kontrolle der Eltern oder zur Sanktion eines etwaigen vorangegangenen Fehlverhaltens eines Elternteils dar (bzgl. der Aufhebung der gemeinsamen Sorge vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 26.05.2021 – 15 UF 6/21, juris Rn. 13). Maßstab ist vielmehr das Kindeswohl, dem ein fortgesetzter, destruktiver Elternstreit ebenso entgegensteht wie eine durch mangelnde Elternkooperation verursachte Verzögerung wesentlicher sorgerechtlicher Entscheidungen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>In der Gesamtbetrachtung erlauben die Ausführungen der Beteiligten die Feststellung, dass die Eltern derzeit nicht in der Lage sind, im Rahmen eines gemeinsamen Sorgerechts zeitnah und unter Zurückstellung eigener Interessen einvernehmliche Entscheidungen zum Wohl ihres Sohnes zu treffen. Angesichts der nicht existenten elterlichen Kooperationsfähigkeit widerspricht es dem Kindswohl damit, das Sorgerecht für J. ganz oder teilweise beiden Eltern zur gemeinsamen Ausübung zu übertragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Auch die im Beschwerdeverfahren hilfsweise beantragte Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater kommt nicht in Betracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Aufgrund der vorgetragenen Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Ausübung der elterlichen Sorge durch den Vater dem Kindeswohl besser entsprechen würde als die Beibehaltung der alleinigen elterlichen Sorge der Mutter.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Gegen eine Sorgerechtsübertragung auf den Vater spricht bereits der Umstand, dass J. Lebensmittelpunkt sich im Haushalt seiner Mutter befindet. Den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes bei der Mutter stellt auch der Vater nicht in Frage; das Anstreben eines Wechsels seines Sohnes in seinen Haushalt ist seinen Ausführungen nicht zu entnehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Darüber hinaus wäre ein solcher Wechsel unter Berücksichtigung der kindlichen Bindungen und Beziehungen sowie des Kontinuitätsgrundsatzes auch nicht mit dem Kindeswohl vereinbar. J. wird seit seiner Geburt von seiner Mutter betreut, die seine Hauptbezugsperson ist. Die Beziehung zu seinem Vater ist demgegenüber erst im Aufbau begriffen; Kontakte finden bislang nur stundenweise statt. Die ihm eröffnete Möglichkeit zur Intensivierung der Beziehung zu seinem Sohn durch die vor dem Familiengericht vereinbarten Umgangskontakte hat der Vater nicht im größtmöglichen Umfang genutzt, sondern nach dem Bericht des Jugendamts die Kontakte häufig nur entweder am Freitag oder am Sonntag wahrgenommen. Bemühungen um eine Ausweitung der Kontakte sind nicht erfolgt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Anders als der Vater kann der Senat auch keine Anhaltspunkte erkennen, die eine Gefährdung von J. Wohl im Haushalt der Mutter sowie eine nähere Überprüfung ihrer Erziehungsfähigkeit nahelegen würden. Sowohl die Verfahrensbeiständin als auch die Mitarbeiterin des Jugendamts haben J. als altersangemessen entwickeltes Kind erlebt. Das Jugendamt hat zuletzt im Bericht vom 27.09.2021 mitgeteilt, J. habe einen fröhlichen Eindruck gemacht und sich im mütterlichen Haushalt sicher sowie gegenüber der Unterzeichnerin angemessen distanziert verhalten. Von keiner Seite wurden konkrete Umstände vorgetragen, die dafür sprechen, dass es den Kindern bei ihrer Mutter nicht gutgeht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Soweit der Vater einen Realitätsverlust bzw. eine Persönlichkeitsstörung der Mutter aufgrund der Verbreitung unwahrer Angaben über ihn in den Raum stellt, zeigt dies einmal mehr den zwischen den Eltern fehlenden Respekt und die vorhandene Kommunikationsstörung. Vor dem Hintergrund der erheblichen wechselseitig erhobenen Vorwürfe und der aus den Schriftsätzen ersichtlichen Neigung beider Eltern, einander in einem schlechten Licht darzustellen, bietet das Vorbringen jedoch mangels sonstiger objektiver Anhaltspunkte keinen Anlass für die Einholung eines medizinischen Gutachtens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Auch im Hinblick auf die Bindungstoleranz der Mutter sind keine Umstände ersichtlich, die den Senat zur Einholung eines Erziehungsfähigkeitsgutachtens veranlassen. Nach den jüngsten Berichten des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin haben beide Eltern dort übereinstimmend angegeben, die vereinbarten Umgangskontakte würden reibungslos funktionieren; auch die wöchentlichen Videotelefonate fänden statt. J. spreche seinen Vater inzwischen auch mit Papa an und wisse, dass er sein Vater sei. Dem Vorbringen des Vaters im Hinblick auf eine unmittelbar am Tag der Zwischenvereinbarung erfolgte Verweigerung des vereinbarten Videotelefonats durch die Mutter ist diese nachvollziehbar entgegengetreten und hat unter Vorlage ihres WhatsApp-Verlaufs plausibel erläutert, aus welchen Gründen es erst zu einer späteren Uhrzeit zu dem vereinbarten Telefonat gekommen sei. Insgesamt kann derzeit keine negative Einflussnahme der Mutter auf die Beziehung und Bindung ihrer Kinder zum Vater geschweige denn eine Verhinderung und Torpedierung von Umgangskontakten festgestellt werden. Soweit der Vater der Mutter das zurückliegende Vaterschaftsfeststellungsverfahren sowie das Verschweigen des von ihr geplanten Umzugs nach W. vorwirft, können daraus keine Schlussfolgerungen für die aktuelle Situation und die hier relevante Frage einer kindeswohldienlichen Sorgerechtsregelung gezogen werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Soweit der Vater die Vorgehensweise und den erstinstanzlichen Bericht der Verfahrensbeiständin kritisiert und mit seiner Beschwerde beanstandet, dass das Amtsgericht deren Entpflichtung abgelehnt hat, vermag auch dies keine anderweitige Entscheidung zu begründen. Die diesbezügliche Entscheidung des Amtsgerichts ist nicht zu beanstanden. Bedenken gegen die persönliche und fachliche Eignung der dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren bekannten Verfahrensbeiständin bestehen nicht. Auch ihr im vorliegenden Verfahren eingereichter Bericht vom 03.12.2020 gibt keinen Anlass für ihre Entpflichtung. Ein den Interessen des Kindes widersprechendes, pflichtwidriges Verhalten der Verfahrensbeiständin kann nicht erkannt werden. Insbesondere lässt sich ein solches nicht daraus ableiten, dass sie keine Überprüfung der Angaben der Mutter vorgenommen und nicht die Anregung ausgesprochen hat, eine – aus der Sicht des Vaters notwendige – medizinische Abklärung der psychischen Gesundheit der Mutter vorzunehmen. Wie bereits das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat, gehört es nicht zur Aufgabe eines Verfahrensbeistandes, Ermittlungen anzustellen, um die Angaben der Eltern auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Im Rahmen seiner Empfehlungen muss sich ein Verfahrensbeistand auch nicht neutral gegenüber den Eltern verhalten, sondern ist gefordert, im Interesse des Kindes Position beziehen. Vorliegend mag zwar die von der Verfahrensbeiständin geübte Kritik an der in Bezug auf die ältere Tochter A. getroffenen Entscheidung des Oberlandesgerichts C. nicht zu ihrer Kernaufgabe gehören, stellt aber auch keine Pflichtwidrigkeit dar, die ihrer Aufgabe, die Interessen des Kindes festzustellen und in das Verfahren einzubringen, entgegensteht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Nach alledem ist die gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichtete Beschwerde des Vaters zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>III.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Der Senat sieht von der Durchführung eines Anhörungstermins im Beschwerdeverfahren nach § 68 Abs. 3 FamFG ab. Die Kindeseltern, das Jugendamt und der Verfahrensbeistand sind vom Familiengericht am 02.06.2021 persönlich angehört worden. Anhaltspunkte dafür, dass zusätzliche Erkenntnisse von ihrer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren zu erwarten wären, sind auch dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht zu entnehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Von der persönlichen Anhörung des betroffenen Jungen konnte in beiden Instanzen abgesehen werden, da von den Äußerungen eines erst drei Jahre alten Kindes keine verwertbaren Erkenntnisse für die Frage der Herstellung des gemeinsamen elterlichen Sorgerechts erwartet werden können, zumal J. unstreitig weiterhin im mütterlichen Haushalt leben wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 84 FamFG, wonach das Gericht die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels dem Beteiligten auferlegen soll, der das Rechtsmittel eingelegt hat. Ein Grund von dieser Vorschrift abzuweichen, ist nicht ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren ist nach §§ 40, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG festgesetzt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 70 Abs. 2 FamFG liegen nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>IV.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Der Antrag des Kindesvaters, ihm für das Beschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen ist gem. § 76 Abs. 1 FamFG i. V. m. §§ 114 ff. ZPO zurückzuweisen, da die Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen unter II. ergibt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Der Kindesmutter ist gem. § 76 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE264682022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
345,950 | ovgni-2022-07-21-5-me-12821 | {
"id": 601,
"name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht",
"slug": "ovgni",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": null
} | 5 ME 128/21 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-07-27T10:01:35 | 2022-10-17T17:55:22 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 3. Kammer - vom 13. September 2021 geändert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 22.795,92 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner wendet sich mit seiner Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem es ihm vorläufig untersagt hat, den bei der Beigeladenen zu 2. ausgeschriebenen Dienstposten „Signalmechaniker F.“ (Ausschreibungsnummer 38050-2021.2) mit dem Beigeladenen zu 1. zu besetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Auf den vorstehend genannten, nach der Besoldungsgruppe A 9 bewerteten Dienstposten, bewarben sich der Antragsteller und der Beigeladene zu 1. Beide haben derzeit das Amt eines Hauptwerkmeisters (Besoldungsgruppe A 8) inne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller wurde am 4. Juni 2020 beurteilt (genannt „Mitarbeiterdialog ohne Zielvereinbarung“). Dieser Beurteilung lag der Beurteilungszeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum 4. Juni 2020 zugrunde. Die Gesamtbewertung der Beurteilung („Einschätzung Leistungsverhalten gesamt“) lautet auf Note 4 („Erwartungen wurden übertroffen“ = zweithöchste von fünf Notenstufen). Die Einzelleistungsmerkmale („Effizient handeln“, „Qualitätsbewusst agieren“, „Erfolgreich zusammenarbeiten“, „Verantwortungsvoll handeln“ und „Veränderungen mitgestalten“) wurden jeweils mit der Note 4 bewertet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Beigeladene zu 1. wurde am 12. Dezember 2019 beurteilt und erhielt dabei in Bezug auf vier von fünf Einzelleistungsmerkmalen die Note 4. In dem Einzelleistungsmerkmal „Verantwortungsvoll handeln“ erhielt er die Note 5 (= höchste von fünf Notenstufen). In der Gesamtbewertung der Beurteilung erhielt er ebenfalls die Note 4.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom . März 2021 teilte die Beigeladene zu 2. dem Antragsgegner mit, dass der ausgeschriebene Dienstposten dem Beigeladenen zu 1. übertragen werden solle. Beide Bewerber seien mit der Gesamtnote 4 beurteilt worden, weshalb der weitere Vergleich durch Ausschärfung der Teilmerkmale erfolgt sei. Diese seien jeweils gleich gewichtet worden. Da der Beigeladene zu 1. in vier von fünf Teilmerkmalen mit der Note 4 und in einem Teilmerkmal mit der Note 5, der Antragsteller hingegen in allen fünf Teilmerkmalen mit der Note 4 bewertet worden sei, sei der Beigeladene zu 1. der am besten beurteilte Bewerber. Der Antragsgegner erteilte mit Schreiben vom 16. März 2021 zu der Übertragung der höher zu bewertenden Tätigkeit an den Beigeladenen zu 1. sein Einvernehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Unter dem . Juni 2021 informierte der Beigeladene zu 2. den Antragsteller über das Ergebnis der Auswahlentscheidung und die hierfür maßgeblichen Kriterien. Dagegen hat der Antragsteller am 25. Juni 2021 Widerspruch erhoben und zugleich beim Verwaltungsgericht Göttingen um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen, dass die getroffene Auswahlentscheidung auf einer fehlerhaften Beurteilung beruhe. Seine letzte Beurteilung habe sich an eine längere Krankheitsphase angeschlossen. Dass er in keinem der Einzelleistungsmerkmale mit der Note 5 bewertet worden sei, sei allein darauf zurückzuführen, dass er aufgrund seiner Erkrankung keinen Bereitschaftsdienst habe leisten können. Auch sei die Eignungsbewertung nicht schlüssig aus der Leistungsbewertung abgeleitet worden. Zudem seien die der Auswahlentscheidung zugrunde liegenden Beurteilungen nicht mehr aktuell gewesen. Wegen des Umstands, dass sich sein Leistungs- und Befähigungsbild seit der letzten Regelbeurteilung merklich zum Positiven verändert habe, sei eine aktuelle Beurteilung erforderlich gewesen, die ihm Anfang März 2021 auch in Aussicht gestellt worden sei. Seine Aussichten, im Rahmen eines erneuten Auswahlverfahrens ausgewählt zu werden, seien - insbesondere unter Berücksichtigung der bereits angekündigten Anlassbeurteilung - jedenfalls offen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsgegner mit Beschluss vom 13. September 2021 vorläufig - bis zum Ablauf einer Frist von 2 Wochen nach einer erneuten Entscheidung über die Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts - untersagt, die streitgegenständliche Stelle mit dem Beigeladenen zu 1. zu besetzen, ihn hierin einzuweisen oder in sonstiger Art und Weise hierauf dienstlich zu verwenden. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Auswahlentscheidung rechtswidrig sei, weil bei der Erstellung der herangezogenen Regelbeurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zu 1. die maßgebliche Beurteilungsrichtlinie („Konzernbetriebsvereinbarung ‚Mitarbeiterführung‘ bei der Deutschen Bahn“) nicht beachtet worden sei. Nach dieser Richtlinie stelle die Gesamteinschätzung der Mitarbeiterleistung eine zusammenfassende, ganzheitliche Einschätzung der Aufgabenerledigung, der erreichten Ergebnisse und des Arbeitsverhaltens des Mitarbeiters aus der Sicht der Führungskraft dar; dabei seien ggf. veränderte Rahmenbedingungen, organisatorische sowie persönliche Hinderungsgründe für Nichterreichung von Ergebnissen zu berücksichtigen. Eine solche Gesamteinschätzung habe es nicht ergeben. Vielmehr hätten sich die Beurteilungen in der arithmetischen Auszählung der Einzelnoten erschöpft.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsgegner mit seiner Beschwerde, welcher der Antragsteller entgegentritt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Der Beigeladene zu 1. hat weder im erstinstanzlichen Verfahren noch im Beschwerdeverfahren einen Antrag gestellt oder Stellung genommen. Die Beigeladene zu 2. hat sich in beiden Verfahren jeweils zum Vorbringen des Antragstellers geäußert, aber keinen eigenen Antrag gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen die Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Sinne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die zugunsten des Beigeladenen zu 1. getroffene Auswahlentscheidung erweist sich als rechtmäßig und vermag daher den Antragsteller nicht in seinem Bewerbungsverfahrensanspruch zu verletzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>1. Auswahlentscheidungen unterliegen als Akt wertender Erkenntnis lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien (Verwaltungsvorschriften) verstoßen hat (BVerwG, Urteil vom 30.1.2003 - BVerwG 2 A 1.02 -, juris Rn. ; Nds. OVG, Beschluss vom 15..2010 - 5 ME 244/10 -, juris Rn. 20; Beschluss vom 6.10.2011 - 5 ME 296/ -, juris Rn. 3). Erweist sich die Auswahlentscheidung anhand dieses Maßstabs als fehlerhaft und lässt sich nicht ausschließen, dass der jeweilige Antragsteller bei einer erneuten Auswahlentscheidung zum Zuge kommt, erscheint eine Auswahl des jeweiligen Antragstellers also jedenfalls möglich (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.9.2002 - 2 BvR 857/02 -, juris Rn. ff.; BVerwG, Urteil vom 4..2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 32; Nds. OVG, Beschluss vom 8.9.2011 - 5 ME 234/ -, juris Rn. 27), hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg. Dabei darf das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Prüfungsmaßstab, -umfang und -tiefe nicht hinter einem Hauptsacheverfahren zurückbleiben (BVerwG, Urteil vom 4..2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 32). Das bedeutet, dass sich die Verwaltungsgerichte nicht auf eine wie auch immer geartete summarische Prüfung beschränken dürfen, sondern eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Bewerberauswahl vornehmen müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Der im Streitfall zu beachtende rechtliche Rahmen ergibt sich aus Art. 33 Abs. 2 GG, wonach öffentliche Ämter im statusrechtlichen Sinne nur nach Kriterien vergeben werden dürfen, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung betreffen. Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die darüber Aufschluss geben, in welchem Maße der Beamte den Anforderungen des Amtes genügen wird. Der Dienstherr darf das Amt nur demjenigen Bewerber verleihen, den er aufgrund eines den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG entsprechenden Leistungsvergleichs als den am besten geeigneten ausgewählt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.6.2013 - BVerwG 2 VR 1.13 -, juris Rn. 19). Dementsprechend darf die Bewerbung des Konkurrenten nur aus Gründen zurückgewiesen werden, die durch den Leistungsgrundsatz gedeckt sind (BVerwG, Urteil vom 4..2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 21; Urteil vom 29..2012 - BVerwG 2 C 6. -, juris Rn. 10).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Dem Grundsatz der Bestenauslese entspricht es, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerber in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Dies sind regelmäßig die aktuellen dienstlichen Beurteilungen (BVerwG, Urteil vom 27.2.2003 - BVerwG 2 C 16.02 -, juris Rn. 12; Beschluss vom 20.6.2013 - 2 VR 1.13 -, juris Rn. 21; Nds. OVG, Beschluss vom 10.10.2012 - 5 ME 235/12 -, juris Rn. 18; Beschluss vom 14..2013 - 5 ME 228/13 -, juris Rn. 12; Beschluss vom 23.5.2014 - 5 ME 61/14 -), weil für die zu treffende Entscheidung hinsichtlich Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung auf den aktuellen Stand abzustellen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die Verwaltungsgerichte haben im Streit über die Auswahl für ein Beförderungsamt auch die der Auswahl zugrunde liegenden dienstlichen Beurteilungen zu überprüfen. Einwendungen gegen eine dienstliche Beurteilung, die als solche kein Verwaltungsakt und deshalb auch nicht der Bestandskraft fähig ist, können unmittelbar in einem Bewerbungsverfahren wie auch in einem gegebenenfalls anschließenden verwaltungsgerichtlichen „Konkurrentenstreit“ geltend gemacht werden. Der Beamte braucht also nicht den Ausgang des isolierten Streites um die Fehlerhaftigkeit einer dienstlichen Beurteilung abzuwarten. Andererseits ist der Dienstherr nicht verpflichtet, Beförderungsverfahren nur deshalb „auszusetzen“, weil einer der Bewerber eine für die Auswahlentscheidung bedeutsame dienstliche Beurteilung angreift (BVerwG, Urteil vom 18.4.2002 - BVerwG 2 C 19.01 -, juris Rn. 15; Nds. OVG, Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 14; Beschluss vom 10.8.2020 - 5 ME 99/20 -, juris Rn. 20). Erweist sich eine dienstliche Beurteilung, welche Grundlage eines Vergleichs zwischen den Bewerbern um ein Beförderungsamt ist, als fehlerhaft, so hat das Gericht den Dienstherrn in einem etwaigen Hauptsacheverfahren zur Ernennung, jedenfalls aber zur Neubescheidung zu verpflichten, wenn das Ergebnis des Auswahlverfahrens auf der fehlerhaften Grundlage beruhen kann. Dementsprechend ist die Fehlerhaftigkeit einer dienstlichen Beurteilung bereits im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu beachten, wenn sie Einfluss auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens haben kann (BVerwG, Urteil vom 18.4.2002 - BVerwG 2 C 19.01 -, juris Rn. 16; Beschluss vom 20.1.2004 - BVerwG 2 VR 3.03 -, juris Rn. 10 f.; Nds. OVG, Beschluss vom 7.1.2020 - 5 ME 153/19 -, juris Rn. 33; Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 14; Beschluss vom 10.8.2020 - 5 ME 99/20 -, juris Rn. 20). Aus der gegenseitigen Abhängigkeit der Bewerbungen folgt, dass jeder Bewerber im Stande sein muss, sowohl eigene Benachteiligungen als auch Bevorzugungen eines anderen zu verhindern, die nicht durch Art. 33 Abs. 2 GG gedeckt sind. Daher kann sich eine Verletzung seines Bewerbungsverfahrensanspruchs insbesondere aus der Beurteilung eines Mitbewerbers oder aus dem Leistungsvergleich zwischen ihnen ergeben (BVerfG, Kammerbeschluss vom 2.10.2007 - 2 BvR 2457/04 -, juris Rn. 13). Der Antragsteller eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Stellenbesetzung kann im Rahmen dieses Verfahrens also auch die dienstliche Beurteilung des ausgewählten Bewerbers angreifen (BVerwG, Urteil vom 4..2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 24). Voraussetzung ist aber, dass sich ein derartiger Verstoß auf die Erfolgsaussichten der eigenen Bewerbung auswirken kann. Deren Erfolg muss bei rechtsfehlerfreiem Verlauf zumindest ernsthaft möglich sein (BVerfG, Kammerbeschluss vom 2.10.2007 - 2 BvR 2457/04 -, juris Rn. 23; BVerwG, Urteil vom 4..2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 24).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>2. Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die dienstlichen Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zu 1., auf deren Grundlage die streitgegenständliche Auswahlentscheidung getroffen worden ist, rechtlich nicht zu beanstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>a) Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des beschließenden Senats, dass dienstliche Beurteilungen nur eingeschränkt überprüfbar sind mit der Folge, dass sich die verwaltungsgerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle darauf beschränken muss, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26.6.1980 - BVerwG 2 C 8.78 -, juris Rn. 18; Beschluss vom 18.6.2009 - BVerwG 2 B 64.08 -, juris Rn. 6; Urteil vom 17.9.2015 - BVerwG 2 C 27.14 -, juris Rn. 9; Nds. OVG, Beschluss vom 28..2012 - 5 ME 240/12 -, juris Rn. 26). Wenn der Dienstherr Richtlinien für die Erstellung dienstlicher Beurteilungen erlassen hat, so sind die Beurteiler aufgrund des Gleichheitssatzes hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrens und der anzuwendenden Maßstäbe an diese Richtlinien gebunden (BVerwG, Beschluss vom 18.6.2009 - BVerwG 2 B 64.08 -, Rn. 6). Das Gericht hat dann auch zu kontrollieren, ob die Richtlinien eingehalten worden sind und ob sie mit den gesetzlichen Regelungen - speziell denen der maßgeblichen Laufbahnverordnung - sowie mit sonstigen gesetzlichen Vorschriften im Einklang stehen (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 17.12.2003 - BVerwG 2 A 2.03 -, juris Rn. ; Nds. OVG, Beschluss vom 19.10.2009 - 5 ME 175/09 -, juris Rn. 8). Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung kann dagegen nicht dazu führen, dass das Gericht die fachliche und persönliche Beurteilung des Beamten oder Richters durch seinen Dienstvorgesetzten in vollem Umfang nachvollzieht oder diese gar durch eine eigene Beurteilung ersetzt (BVerwG, Urteil vom 26.6.1980 - BVerwG 2 C 8.78 -, juris Rn. 18; Urteil vom 17.9.2015 - BVerwG 2 C 27.14 -, juris Rn. 9).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>b) Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, der Antragsgegner habe bei der Beurteilung des Antragstellers und des Beigeladenen zu 1. gegen seine eigene Beurteilungsrichtlinie verstoßen (Beschlussabdruck S. 8), hält der beschwerdegerichtlichen Überprüfung nicht stand.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Vorauszuschicken ist zunächst, dass dem Verwaltungsgericht nicht die im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Beurteilungen geltende, sondern lediglich eine frühere Fassung der Beurteilungsrichtlinie vorlag, nämlich die „Rahmen-Konzernbetriebsvereinbarung ‚Mitarbeiterführung‘ der G.“ vom 24. August 2011. Maßgeblich ist vielmehr die Beurteilungsrichtlinie in der Fassung vom 27. September 2017. Auch wenn der Wortlaut der Richtlinie in dieser Fassung von dem der früheren Fassung abweicht, wirkt sich dieser Unterschied nicht auf das Ergebnis der beschwerdegerichtlichen Überprüfung aus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Beurteilungen des Antragstellers sowie auch des Beigeladenen zu 1. sind auf der Grundlage des Anhangs 1a (Leitfaden „Mitarbeiterdialog ohne Zielvereinbarung“) der Anlage 1 zur „Konzernbetriebsvereinbarung ‚Mitarbeiterführung‘ der G.“ vom 27. September 2017 (im Folgenden: Beurteilungsrichtlinie) erstellt worden. Ziffer 3.1.2 („Einschätzung Leistungsverhalten“) sieht vor:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">„Die Einschätzung des Leistungsverhaltens durch die Führungskraft erfolgt<br>systematisch auf Basis einheitlicher Leistungskriterien unter Berücksichtigung der Leistungen im Tages- bzw. Regelgeschäft sowie ggf. bei Sonderaufgaben und Projekten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">[…]</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Zunächst wird jedes Kriterium einzeln betrachtet und anhand der für die jeweilige Tätigkeit relevanten Verhaltensindikatoren bewertet. Die Einschätzungen sind dem Mitarbeiter anhand von konkreten Beispielen aus dem Arbeitsalltag zu erläutern. Der Mitarbeiter kann seine Sichtweise darstellen und auch mit Beispielen belegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Anschließend wird aus den fünf bewerteten Kriterien das Leistungsverhalten gesamt abgeleitet. Diese Einschätzung ist kein mathematischer Wert, sondern wird nach Ermessen der Führungskraft bewertet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Maßstab für die Bewertung ist wiederum eine fünfstufige Skala.“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Die Skala reicht von 1 („Die Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens wurden nicht erfüllt“) bis 5 („Die Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens wurden deutlich übertroffen“).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Einen Verstoß gegen diese Vorgaben, insbesondere die nach Ermessen der Führungskraft vorzunehmende Einschätzung des „Leistungsverhaltens gesamt“, vermag der Senat nicht festzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>aa) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Beigeladene zu 2. habe in ihrem an den Antragsgegner gerichteten Schreiben vom . März 2021 (Stellenbesetzungsvorschlag mit der Bitte um Erteilung des Einvernehmens - BA 001 -) mit den Worten, es lägen „keine mPM-Gesamteinschätzungen“ zu den Bewerbern vor, letztlich selbst eingeräumt, im Rahmen der dienstlichen Beurteilungen keine Gesamteinschätzung vorgenommen zu haben (Beschlussabdruck S. 8 f.), beruht offensichtlich auf einer Fehlannahme. Der Antragsgegner hat diesbezüglich im Zuge des Beschwerdeverfahrens klargestellt, dass sich diese Aussage der Beigeladenen zu 2. lediglich auf das zum 1. Januar 2021 neu eingeführte Personalbeurteilungssystem „mein Performance Management“ bezog. Die Beigeladene zu 2. habe gegenüber dem Antragsgegner zum Ausdruck bringen wollen, dass Beurteilungen nach dem neuen Personalbeurteilungssystem noch nicht zur Verfügung stünden. Der Senat hat an der Richtigkeit dieser Darstellung keine Zweifel.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>bb) Auch sonst fehlt es an tragfähigen Anhaltpunkten dafür, dass der Beurteiler die nach Ziffer 3.1.2 der Beurteilungsrichtlinie vorgesehene Gesamteinschätzung des Leistungsverhaltens bei der Bildung des Gesamturteils nicht vorgenommen, sondern stattdessen das jeweilige Gesamturteil rein arithmetisch ermittelt hätte. Das Verwaltungsgericht hat - abgesehen von seiner Bezugnahme auf die vermeintliche Einräumung der fehlenden Gesamteinschätzung durch die Beigeladene zu 2. - keine weiteren Gründe für seine Annahme dargelegt, bei den Beurteilungen wäre es nicht zu einer Gesamteinschätzung des Beurteilers gekommen, sondern dessen Gesamteinschätzung hätte sich in einer „Auszählung der angekreuzten Kästchen“ erschöpft (Beschlussabdruck S. 8). Die Zusammenschau der vorinstanzlichen Entscheidung mit der Hinweisverfügung des Berichterstatters vom 5. August 2021 (Bl. 74 f./GA) deutet darauf hin, dass das Verwaltungsgericht aus dem Fehlen einer gesonderten textlichen/verbalen Begründung auf eine arithmetische Bildung des Gesamturteils geschlossen hat. Weder das Fehlen textlicher Begründungen (aaa)), noch die Gleichgewichtung der Einzelleistungsmerkmale (bbb)) oder der Umstand, dass die beiden Gesamturteile hier zugleich jeweils dem (gerundeten) Mittelwert der Noten für die Einzelleistungsmerkmale entsprechen (ccc)), lassen indes einen solchen Rückschluss zu.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>aaa) Der Beurteilungsrichtlinie sind keine näheren Vorgaben dazu zu entnehmen, wie die geforderte Gesamteinschätzung des Leistungsverhaltens darzustellen ist. Insoweit sieht die Beurteilungsrichtlinie eine textliche Begründung nicht vor. Eine solche war auch nicht zur Plausibilisierung erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bedarf es bei dienstlichen Beurteilungen, die - wie hier - im sog. Ankreuzverfahren erstellt werden, zwar regelmäßig einer gesonderten Begründung des Gesamturteils, um erkennbar zu machen, wie es aus den Einzelbegründungen hergeleitet worden ist (BVerwG, Urteil vom 17.9.2015 - BVerwG 2 C 13.14 -, juris Rn. 31; Urteil vom 2.3.2017 - BVerwG 2 C 21.16 -, juris Rn. 58 ff.). Die Anforderungen an die Begründung für das Gesamturteil sind jedoch umso geringer, je einheitlicher das Leistungsbild bei den Einzelbewertungen ist. Gänzlich entbehrlich ist eine Begründung für das Gesamturteil dann, wenn im konkreten Fall eine andere Note nicht in Betracht kommt, weil sich die vergebene Note - vergleichbar einer „Ermessensreduzierung auf Null“ - geradezu aufdrängt (BVerwG, Urteil vom 17.9.2015 - BVerwG 2 C 13.14 -, juris Rn. 31; Urteil vom 2.3.2017 - BVerwG 2 C 21.16 -, juris Rn. 64). Zudem hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung auch eine rein rechnerische Ermittlung des Gesamturteils jedenfalls dann für möglich und zulässig erachtet, wenn nur eine geringe Zahl von Einzelmerkmalen vorliegt und die Vorgabe der Gleichgewichtung dieser Einzelmerkmale besteht (BVerwG, Urteil vom 17.9.2020 - BVerwG 2 C 2.20 -, juris Rn. 24 ff.). In diesen Fällen bedarf es einer weiteren Begründung nicht. Dieser Vorteil der Gleichgewichtung der Einzelmerkmale geht allerdings dann wieder verloren, wenn der Dienstherr trotz dieser Vorgabe ausdrücklich die Möglichkeit einer Abweichung des Gesamturteils vom rechnerischen Ergebnis eröffnet (BVerwG, Urteil vom 17.9.2020 - BVerwG 2 C 2.20 -, juris Rn. 27). Sofern eine Begründung des Gesamturteils erforderlich ist, kann diese im gerichtlichen Verfahren nicht mehr nachgeholt werden (BVerwG, Urteil vom 2.3.2017 - BVerwG 2 C 21.16 -, juris Rn. 73 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Gemessen an diesen Vorgaben liegt ein Begründungs- oder Plausibilisierungsmangel des Gesamturteils der Beurteilungen nicht vor. Eine textliche Begründung der Gesamturteile der streitgegenständlichen Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zu 1. war entbehrlich. Zwar kam eine rein arithmetische Bildung des Gesamturteils wegen der in der Beurteilungsrichtlinie enthaltenen Vorgabe, dass die Gesamteinschätzung kein mathematischer Wert, sondern nach Ermessen der Führungskraft zu bewerten ist, nicht in Betracht. Es lag jedoch ein Fall vor, in welchem sich jeweils das Gesamturteil 4 („übertrifft insgesamt die Erwartungen“) vergleichbar einer „Ermessensreduzierung auf Null“ geradezu aufdrängte. Beide Beurteilungen boten ein in diese Richtung weisendes Leistungsbild, denn der Antragsteller war in Bezug auf alle fünf Einzelleistungsmerkmale und der Beigeladene zu 1. in Bezug auf vier von fünf Einzelleistungsmerkmalen mit der Note 4 bewertet worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>bbb) Eine Gleichgewichtung der Einzelleistungsmerkmale, die zwar nicht durch die Beurteilungsrichtlinie vorgegeben war, aber - was in Anbetracht der geringen Anzahl von nur fünf Einzelmerkmalen und deren Bedeutungsgehalt auch plausibel ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.9.2020 - BVerwG 2 C 2.20 -, juris Rn. 26) - nach Darlegung der Beigeladenen zu 2. der ständigen Beurteilungspraxis im Rahmen des alten Beurteilungssystems entsprach (vgl. E-Mail vom . Oktober 2021 [Anlage zur Beschwerdebegründung, Bl. 149/GA]), steht nicht im Widerspruch zu einer Gesamteinschätzung der Mitarbeiterleistung, wie sie hier nach der Beurteilungsrichtlinie vorgeschrieben war. Dem Erfordernis einer nach Ermessen der Führungskraft vorzunehmenden Bewertung steht eine gleiche Gewichtung der Einzelleistungsmerkmale nicht notwendigerweise entgegen. Der insoweit gegenteiligen Auffassung des Verwaltungsgerichts und des von ihm in Bezug genommenen Verwaltungsgerichts Bremen (Beschluss vom 18.7.2019 - 6 V 784/19 -, juris Rn. 12) vermag der Senat nicht zu folgen. Entscheidend ist allein, dass noch Raum für eine Gesamtwürdigung verbleibt, die es der oder dem Beurteilenden ermöglicht, im Einzelfall ein vom rechnerischen Ergebnis der Einzelbewertungen abweichendes Gesamturteil zu vergeben. Dies ist bei der Vorgabe einer gleichen Gewichtung der Einzelleistungsmerkmale ebenso denkbar wie bei einer unterschiedlichen Gewichtung (OVG NRW, Beschluss vom 05.09.2019 - 6 B 852/19 -, juris Rn. 89 ff.; Beschluss vom 29.10.2019 - 6 A 3974/18 -, juris Rn. 52 ff.). Auch dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. September 2020 (- BVerwG 2 C 2.20 -, juris) lag ein Fall zugrunde, in dem die Beurteilungsrichtlinie (Ziff. 8.1 Abs. 2 und Abs. 3 der Neufassung der Richtlinie für die dienstliche Beurteilung der Beamtinnen und Beamten im Bereich der Polizei vom 14. Mai 2020 [BRL POL NRW 2020]) einerseits eine Gleichgewichtung der Einzelmerkmale vorgab, andererseits aber im Rahmen der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung ein vom rechnerischen Ergebnis abweichendes Gesamturteil zuließ.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>ccc) Dass die Gesamturteile in den Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zu 1. jeweils auch dem (gerundeten) arithmetischen Mittel der Noten der Einzelleistungsmerkmale entsprechen, rechtfertigt für sich nicht die Annahme, dass die Gesamturteile entgegen der Beurteilungsrichtlinie rein rechnerisch hergeleitet worden seien. Der Senat teilt die diesbezügliche Auffassung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 21.12.2018 - 2 EO 547/17 -, juris Rn. 60), dass in Fällen, in denen die Bewertungen in allen Bereichen in einem bestimmten Notenbereich liegen, bereits eine gewisse Tendenz zu einer Gesamtbewertung mit einer bestimmten Note vorgezeichnet ist und aus diesem Grund die Vergabe einer Gesamtnote, die dem arithmetischen Mittel der Einzelnoten entspricht, noch nicht darauf schließen lässt, dass die Gesamtnote rein arithmetisch ermittelt worden sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>c) Da der Senat nach dem Vorstehenden nicht von einer rein arithmetischen Bildung der Gesamturteile der streitgegenständlichen Beurteilungen ausgeht, greift der Einwand des Antragstellers nicht durch, es fehle hierfür an einer erforderlichen Rechtsgrundlage. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die grundlegenden Vorgaben für die Erstellung dienstlicher Beurteilungen - darunter diejenigen zur Bildung des Gesamturteils unter Würdigung aller Einzelmerkmale - nicht allein Verwaltungsvorschriften überlassen bleiben können, sondern derart wesentlich sind, dass sie generell in Rechtsnormen zu regeln sind (BVerwG, Urteil vom 9.9.2021 - BVerwG 2 A 3.20 -, juris Rn. 14; Urteil vom 7.7.2021 - BVerwG 2 C 2.21 -, juris Rn. 32 ff.). Für die hier zu überprüfende Auswahlentscheidung und die ihr zugrunde liegenden Beurteilungen hat dies jedoch keine Konsequenzen, da das Bundesverwaltungsgericht zugleich entschieden hat, dass der bisherige Zustand für einen Übergangszeitraum hinzunehmen ist (BVerwG, Urteil vom 9.9.2021 - BVerwG 2 C 2.21 -, juris Rn. 15; Urteil vom 7.7.2021 - BVerwG 2 C 2.21 -, juris Rn. 24).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>d) Der Beigeladene zu 2. konnte die Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zu 1. mit Blick auf ihre Aktualität seiner Auswahlentscheidung zugrunde legen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Unter welchen Voraussetzungen zurückliegende Beurteilungen noch eine hinreichend verlässliche Grundlage für eine Auswahlentscheidung darstellen, lässt sich nicht generell, sondern nur unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls beantworten (Nds. OVG, Beschluss vom 18.12.2008 - 5 ME 353/08 -, juris Rn. 15; Beschluss vom 21.9.2011 - 5 ME 241/ -, juris Rn. 10). Dabei können diese Umstände eine Anlassbeurteilung sogar dann gebieten, wenn die einschlägigen Beurteilungsrichtlinien eine solche Beurteilung grundsätzlich nicht vorsehen (Nds. OVG, Beschluss vom 21.9.2011 - 5 ME 241/ -, juris Rn. 10). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Beamte nach dem Beurteilungsstichtag der letzten Regelbeurteilung während eines erheblichen Zeitraums wesentlich andere Aufgaben wahrgenommen hat (BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 - 2 C 1.18 -, juris Rn. 37 ff.) oder wenn in Bezug auf seine dienstliche Verwendung seitdem einschneidende Veränderungen aufgetreten sind (Nds. OVG, Beschluss vom 21.9.2011 - 5 ME 241/ -, juris Rn. 10; Beschluss vom 16.10.2020 - 5 ME 117/20 -). Liegen keine besonderen Umstände vor, so ist eine Regelbeurteilung grundsätzlich noch hinreichend aktuell, wenn der Beurteilungsstichtag höchstens drei Jahre vor dem Zeitpunkt der Auswahlentscheidung liegt (BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 - 2 C 1.18 -, juris Rn. 34).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Danach war im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Auswahlentscheidung im März 2021 ein Leistungsvergleich auf der Basis der letzten Regelbeurteilungen des Antragstellers vom 4. Juni 2020 sowie des Beigeladenen zu 1. vom 12. Dezember 2019 möglich. Beide Beurteilungen waren hinreichend aktuell. Insbesondere bedurfte es keiner Anlassbeurteilung des Antragstellers aufgrund einer von ihm geltend gemachten positiven Entwicklung seines Leistungs- und Befähigungsbildes seit seiner letzten Beurteilung (Antragsschrift, S. 4 [Bl. 10/GA]). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Regelbeurteilung vom 4. Juni 2020 das Leistungsbild des Antragstellers im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung - d. h. etwa ein dreiviertel Jahr später - aufgrund besonderer Umstände wie etwa der Übernahme höherwertiger Aufgaben nicht mehr verlässlich widergespiegelt hätte. In diesem Zusammenhang ist das Vorbringen des Antragstellers widersprüchlich. So hat er im Beschwerdeverfahren nunmehr vorgetragen, die (ihm nicht eröffnete) Beurteilung vom 16. April 2021 (Beurteilungszeitraum vom 1.1. - 31.12.2020) sei aufgrund seiner Erkrankung nicht verwertbar, weil er im Jahr 2020 ganz überwiegend keinen Dienst geleistet habe und seit dem 10. Juni 2020 nach einer Wirbelsäulenoperation dienstunfähig gewesen sei (Schriftsatz vom 9. Mai 2022, S. 2 [Bl. 187/GA]). Weiter macht er geltend, dass für den Beurteilungszeitraum des Jahres 2020 ausreichende Erkenntnisse über sein Leistungs- und Befähigungsbild fehlten. Inwiefern es in Anbetracht dessen bei ihm zu der behaupteten merklichen Leistungssteigerung gekommen sein soll, ist weder dargelegt noch ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>e) Der Einwand des Antragstellers, das Gesamturteil oder die Noten der Einzelleistungsmerkmale in seiner dienstlichen Beurteilung vom 4. Juni 2020 beruhten auf sachfremden Erwägungen, greift nicht durch. Für die seitens des Antragsgegners bestrittene Behauptung des Antragstellers, dass er im Rahmen der Regelbeurteilung vom 4. Juni 2020 nur deshalb nicht ebenfalls in einem Einzelleistungsmerkmal - insbesondere dem der erfolgreichen Zusammenarbeit - mit der Bestnote 5 bewertet worden sei, weil er zuvor aus gesundheitlichen Gründen keinen Bereitschaftsdienst habe leisten können (Antragsschrift, S. 2 und 4 [Bl. 8 u. 10/GA]), gibt es keinerlei Anhaltspunkte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>f) Schließlich teilt der Senat auch nicht die Auffassung des Antragstellers, dass es den dienstlichen Beurteilungen an der erforderlichen Aussagekraft fehle, weil die Einzelleistungsmerkmale zu vage und zu allgemein gehalten seien (Schriftsatz vom 6.9.2021, S. 2 f. [Bl. 91 f./GA]). Der Antragsteller bezieht sich zur Begründung auf eine Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts, wonach eine dienstliche Beurteilung die dienstliche Tätigkeit im maßgebenden Beurteilungszeitraum vollständig erfassen, auf zuverlässige Erkenntnisquellen gestützt, das zu erwartende Leistungsvermögen in Bezug auf das angestrebte Amt auf der Grundlage der im innegehabten Amt erbrachten Leistungen hinreichend differenziert darstellen sowie auf gleichen Bewertungsmaßstäben beruhen müsse, um als Vergleichsgrundlage geeignet zu sein (Schl.-H. OVG, Beschluss vom 30.8.2017 - B 32/17 -, juris Rn. 21). Indes hat weder der Antragsteller dargelegt noch ist anderweitig für den Senat ersichtlich, inwiefern die dienstliche Beurteilung des Antragstellers diesen Vorgaben nicht genügen soll. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zu 1. deren Leistungen im innegehabten - technisch geprägten - Amt nicht differenziert genug abbildet, um als Vergleichsgrundlage dienen zu können. Neben den fünf bewerteten Einzelleistungsmerkmalen werden in der Beurteilung auch die wesentlichen Arbeitsergebnisse bzw. Aufgaben im Beurteilungszeitraum benannt. Den Beurteilungen liegt auch der gleiche Bewertungsmaßstab zugrunde. Dem abschließenden Gesamturteil ist als Ausdruck des Laufbahnprinzips zudem die Prognose immanent, dass der jeweils Beurteilte auch den Anforderungen des nächsthöheren Statusamtes gewachsen sein wird. Denn ein Beamter wird aufgrund seiner Befähigung für eine bestimmte Laufbahn regelmäßig als geeignet angesehen, jedenfalls diejenigen Dienstposten auszufüllen, die seinem Statusamt entsprechen oder dem nächsthöheren Statusamt zugeordnet sind (BVerwG, Beschluss vom 25.10.2011 - BVerwG 2 VR 4. -, juris Rn. 15; Nds. OVG, Beschluss vom 25.2.2016 - 5 ME 217/15 -, juris Rn. 12).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>3. Die Beigeladene zu 2. durfte den Beigeladenen zu 1. im Rahmen des Leistungsvergleichs mit dem Antragsteller als den besser geeigneten Bewerber auswählen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>a) Maßgebend für den Leistungsvergleich ist in erster Linie das abschließende Gesamturteil, das durch eine Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte zu bilden ist (BVerwG, Beschluss vom 20.6.2013 - BVerwG 2 VR 1.13 -, juris Rn. 21). Ist aufgrund der aktuellen Beurteilungen von einer im Wesentlichen gleichen Beurteilung auszugehen, ist für die Auswahlentscheidung (zunächst) auf weitere unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.8.2003 - BVerwG 2 C 14.02 -, juris Rn. 22 f.; Nds. OVG, Beschluss vom 27.5.2005 - 5 ME 57/05 -, juris Rn. 20), ehe die Heranziehung nicht leistungsbezogener Hilfskriterien in Betracht kommt. Sofern Bewerber in der aktuellen dienstlichen Beurteilung mit dem gleichen Gesamturteil bewertet worden sind, hat der Dienstherr (als weiteres unmittelbar leistungsbezogenes Kriterium) zunächst die aktuellen Beurteilungen umfassend inhaltlich auszuwerten und Differenzierungen in der Bewertung einzelner Leistungskriterien oder in der verbalen Gesamtwürdigung zur Kenntnis zu nehmen (BVerwG, Beschluss vom 19.12.2014 - BVerwG 2 VR 1.14 -, juris Rn. 35; Nds. OVG, Beschluss vom 21.12.2016 - 5 ME 151/16 -, juris Rn. 19). Sind die Bewerber auch nach der umfassenden inhaltlichen Auswertung der aktuellen dienstlichen Beurteilungen („ausschärfende Betrachtung“) als im Wesentlichen gleich geeignet einzustufen, kann die zuständige Behörde auf andere leistungsbezogene Gesichtspunkte - wie etwa die Vorbeurteilung - abstellen (Nds. OVG, Beschluss vom 28.5.2018 - 5 ME 46/18 -, juris Rn. 13; Beschluss vom 27..2019 - 5 ME 158/19 -; Beschluss vom 19.7.2022 - 5 ME 55/22 -).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>b) Gemessen an diesen Vorgaben ist die Auswahl des Beigeladenen zu 1. nicht zu beanstanden. Der Antragsteller und der Beigeladene zu 1. waren, da ihre dienstlichen Beurteilungen das gleiche Gesamturteil aufwiesen, im Wesentlichen gleich beurteilt. Aufgrund bedurfte es einer ausschärfenden Betrachtung der Beurteilungen. Diese ergab bei gleicher Gewichtung der Einzelleistungsmerkmale einen Leistungsvorsprung des Beigeladenen zu 1.. Dieser hatte in einem der fünf Einzelleistungsmerkmale die Note 5 (und damit die höchstmögliche Notenstufe) und in allen Übrigen die Note 4 erhalten, während der Antragsteller in allen fünf Einzelleistungsmerkmalen mit der Note 4 bewertet wurde. Auf dieser Grundlage durfte die Beigeladene zu 2. den Beigeladenen zu 1. als den besser geeigneten Bewerber auswählen, weil der Bewertung der Einzelnoten, die jeweils aufgrund wertender Einschätzung der Beurteiler zustande gekommen sind, für die Differenzierung nach dem Leistungsgrundsatz im Rahmen der ausschärfenden Betrachtung gerade Aussagekraft zukommt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21.12.2016 - 5 ME 151/16 -, juris Rn. 21).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>c) Eine darüber hinausgehende, weitere Ausschärfung durch Feststellung des jeweiligen Ausprägungsgrads der Noten der einzelnen Leistungsmerkmale beim Antragsteller einerseits und beim Beigeladenen zu 1. andererseits, wie sie das Verwaltungsgericht für geboten gehalten hat (Beschlussabdruck S. 10), war weder erforderlich noch möglich. Eine solche weitere Ausschärfung ist nach den betreffenden Beurteilungen (und der zugrunde liegenden Beurteilungsrichtlinie) schon nicht möglich, denn die Vergabe von Zwischennoten oder die Angabe von Leistungstendenzen wie in anderen Fällen (etwa mit der Umschreibung „oberer“, „mittlerer“ oder „unterer“ Bereich einer bestimmten Notenstufe) sieht die Beurteilungsrichtlinie und dementsprechend der Beurteilungsbogen nicht vor. Infolgedessen enthalten die betreffenden Beurteilungen keine Aussagen hierzu. Ebenso wenig enthalten die dienstlichen Beurteilungen verbale Begründungen, die im Rahmen einer ausschärfenden Betrachtung hätten ausgewertet werden können. Nach Darstellung des Antragsgegners entspricht es seiner Praxis, im Falle eines - hier nicht gegebenen - Leistungsgleichstands auch hinsichtlich der Noten aller fünf Einzelmerkmale als nächstes auf die Vorbeurteilungen zurückzugreifen (BB, S. 7 [Bl. 147/GA]). Dies ist nach dem oben Gesagten nicht zu beanstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>d) Einer (dokumentierten) Bewertung im Rahmen des Auswahlverfahrens, dass aufgrund der Umstände des Einzelfalls von einer Gleichwertigkeit der Einzelnoten auszugehen sei, bedurfte es nicht (entgegen VG Bremen, Beschluss vom 18.7.2019 - 6 V 784/19 -, juris Rn. 12) . Die ausschärfende Betrachtung der Beurteilungen ist hier hinreichend plausibel. Zum Aspekt der Gewichtung von Einzelmerkmalen im Rahmen der ausschärfenden Betrachtung hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 25. Februar 2016 (- 5 ME 217/15 -, juris Rn. 15 f.) ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">„Die Antragsgegnerin war auch nicht gehalten, die Einzelmerkmale zu gewichten. Wie die einzelnen Auswahlkriterien zu gewichten sind, gibt Art. 33 Abs. 2 GG nicht unmittelbar vor. Im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens ist es daher Sache des Dienstherrn, festzulegen, welches Gewicht er den einzelnen Merkmalen beimessen will (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.9.2015, a. a. O., Rn. 26). Das dem Dienstherrn zustehende Organisations- und Auswahlermessen beim Rückgriff auf Einzelmerkmale einer dienstlichen Beurteilung ist nur daraufhin überprüfbar, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (OVG NRW, Beschluss vom 8..2004 - 1 B 1387/04 -, juris Rn. 28). Es liegt im Auswahlermessen des Dienstherrn, welche Einzelmerkmale einer dienstlichen Beurteilung er überhaupt oder in besonderem Maße zur Bewertung der Eignung der Bewerber für das Beförderungsamt heranzieht (OVG NRW, Beschluss vom 8..2004, a. a. O., Rn. 26). Eine Pflicht, alle Einzelmerkmale gleich zu gewichten und sie dann im Wege des Notenstufenvergleichs gegeneinander aufzusummieren, besteht für den Dienstherrn ebenso wenig wie die Verpflichtung zu einer bestimmten Gewichtung einzelner Merkmale, wenn dies die gleichmäßig anzuwendenden Beurteilungsrichtlinien nicht vorsehen (OVG NRW, Beschluss vom 8..2004, a. a. O., Rn. 28; vgl. auch OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 10.9.2013 - 2 B 10781/13 -, juris Rn. 23).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Hieraus folgt, dass der Dienstherr nicht gehindert ist, alle Einzelmerkmale gleich zu gewichten. Gemäß Nr. 4 a) 3. Spiegelstrich der hier maßgeblichen Beförderungsrichtlinien für die bei der H. beschäftigten Beamtinnen und Beamten vom 1. September 2014 (BA 001) sind bei einem Qualifikationsgleichstand die Bewertungen der einzelnen Beurteilungsmerkmale der Beurteilung heranzuziehen. Demnach steht die Vorgehensweise der Antragsgegnerin, alle Einzelmerkmale gleich zu gewichten und bei Vorliegen bereits eines um eine Stufe besser bewerteten Einzelmerkmals einen Leistungsvorsprung anzunehmen, auch im Einklang mit den Beförderungsrichtlinien. Zu keiner anderen Einschätzung führt der vom Verwaltungsgericht zitierte Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 6. November 2013 (- OVG 4 S 39.13 -, juris). Nach dieser Entscheidung muss nachvollziehbar sein, weshalb der Dienstherr bei einem Gleichstand der Gesamturteile der dienstlichen Beurteilungen einzelne Merkmale als ausschlaggebend herangezogen hat (a. a. O., Rn. ). Hier hat die Antragsgegnerin aber nicht bestimmten Einzelmerkmalen ein besonderes Gewicht beigemessen, so dass auch kein Bedürfnis besteht, eine Gewichtung transparent zu machen.“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Hieran hält der Senat fest.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Einer Begründung der seitens der Beigeladenen zu 2. vorgenommenen Gleichgewichtung der Einzelmerkmale bedurfte es demnach gerade nicht. Im Gegenteil hätte es einer gesonderten Begründung dann bedurft, wenn die Beigeladene zu 2. bestimmten Einzelleistungsmerkmalen im Rahmen der Ausschärfung ein besonderes Gewicht beigemessen hätte, was hier aber nicht der Fall war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der beiden Beigeladenen beruht die Entscheidung auf § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nicht für erstattungsfähig zu erklären, weil sie keinen eigenen Antrag gestellt und sich insofern keinem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt haben (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und Abs. 6 Satz 4 in Verbindung mit Satz 1 Nr. 1 GKG. Der Streitwert für den zweiten Rechtszug beträgt demnach die Hälfte der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltfähiger Zulagen. Auszugehen ist insoweit von den im Zeitpunkt der Einleitung des zweiten Rechtszuges (hier: 22.9.2021) maßgeblichen Bezügen für Bahnbeamte in der höchsten Stufe der Besoldungsgruppe A 9 in Höhe von 3.799,32 EUR monatlich. Dementsprechend errechnet sich ein Streitwert in Höhe von 22.795,92 EUR. Eine Halbierung für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes findet nicht statt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 16.5.2013 - 5 ME 92/13 -, juris Rn. 28; Beschluss vom 20.4.2022 - 5 ME 152/21 -, juris Rn. 14).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006598&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
345,943 | lg-nurnberg-furth-2022-07-21-12-qs-3622 | {
"id": 269,
"name": "Landgericht Nürnberg-Fürth",
"slug": "lg-nurnberg-furth",
"city": 189,
"state": 4,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 12 Qs 36/22 | 2022-07-21T00:00:00 | 2022-07-26T10:03:42 | 2022-10-17T17:55:21 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>I. Der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 03.06.2022 wird aufgehoben.</p>
<p>II. Die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 30.11.2017 wird zur Bewährung ausgesetzt.</p>
<p>Die Bewährungszeit wird auf drei Jahre festgesetzt.</p>
<p>III. Der Beschwerdeführer wird dem örtlich zuständigen hauptamtlichen Bewährungshelfer unterstellt und angewiesen,</p>
<p>1. unverzüglich einen festen Wohnsitz zu begründen und dies unverzüglich schriftlich dem Gericht unter Angabe des obigen Aktenzeichens sowie auch jeden späteren Wohnungs- und Aufenthaltswechsel unverzüglich dem Gericht schriftlich mitzuteilen;</p>
<p>2. sich nach näherer Weisung des Bewährungshelfers bei diesem mindestens einmal und höchstens sechsmal im Quartal persönlich vorzustellen;</p>
<p>3. keine Betäubungsmittel im Sinne des BtMG oder NPSG zu konsumieren;</p>
<p>4. sich nach näherer Weisung des Bewährungshelfers mindestens einmal und höchstens dreimal im Quartal auf eigene Kosten Suchtmittelkontrollen, die nicht mit körperlichen Eingriffen verbunden sind, insbesondere Urinkontrollen zum Nachweis seiner Abstinenz zu unterziehen.</p>
<p>IV. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p>I.</p>
<p><rd nr="1"/>Mit Urteil vom 30.11.2017, rechtskräftig seit 08.12.2017, verurteilte das Amtsgericht Nürnberg den Beschwerdeführer wegen versuchten und vollendeten Betrugs je in zwei Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Das Amtsgericht Bielefeld widerrief mit rechtskräftigem Beschluss vom 24.08.2020 die Strafaussetzung, weil der Beschwerdeführer zwischenzeitlich erneut straffällig geworden ist (nämlich wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Betrugs in 18 Fällen und versuchten Betrugs in 2 Fällen).</p>
<p><rd nr="2"/>Im Weiteren wurde die Vollstreckung am 19.10.2021 nach § 35 BtMG zurückgestellt und die Anrechnung der in der Therapieeinrichtung nachgewiesenen Zeit auf die Strafe beschlossen, woraufhin der Beschwerdeführer eine Drogentherapie in der staatlich anerkannten Einrichtung S.-Klinik antrat. Die Aufenthaltszeit sollte nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BtMG auf die Strafe angerechnet werden. Die Behandlung in der Klinik wurde vorzeitig am 13.04.2022 beendet.</p>
<p><rd nr="3"/>Mit Beschluss vom 03.06.2022 entschied das Amtsgericht Nürnberg, die weitere Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe nicht gem. § 36 BtMG zur Bewährung auszusetzen. Gegen den dem Beschwerdeführer am 08.07.2022 zugestellten Beschluss legte dessen Verteidiger mit Schriftsatz vom 10.07.2022, beim Amtsgericht Nürnberg eingegangen am selben Tag, sofortige Beschwerde ein, die er näher begründete. Sein Antrag ging dahin, den Beschluss des Amtsgerichts aufzuheben und die Reststrafe des Beschwerdeführers zur Bewährung auszusetzen.</p>
<p><rd nr="4"/>Die Staatsanwaltschaft beantragte, </p>
<p>die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.</p>
<p>II.</p>
<p><rd nr="5"/>Die sofortige Beschwerde ist statthaft (§ 36 Abs. 5 Satz 3 BtMG) und auch sonst zulässig eingelegt. In der Sache hat sie Erfolg.</p>
<p><rd nr="6"/>1. Die Reststrafenaussetzung gem. § 36 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 BtMG scheidet aus, weil zwei Drittel der Strafe noch nicht erledigt sind: Unter Anrechnung von 133 Tagen Therapie in der S.-Klinik, verblieben im Anschluss (ab dem 14.04.2022) noch 332 Resttage, d.h. 177 Tage bis zum Erreichen des Zwei-Drittel-Zeitpunkts. Dieser ist noch nicht erreicht.</p>
<p><rd nr="7"/>2. Die Reststrafenaussetzung kann aber auf § 36 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 BtMG gestützt werden. Diese Vorschrift setzt nicht den Ablauf eines Mindestverbüßungszeitraums voraus. Dadurch soll vermieden werden, dass der Erfolg einer Therapie durch den anschließenden Vollzug der Strafe bis zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt wieder gefährdet wird (BayObLG, Beschluss vom 26.08.2020 - 204 VAs 298/20, juris Rn. 26 ff.). Vorausgesetzt wird lediglich, dass eine Behandlung in der Einrichtung nicht mehr erforderlich ist und die Aussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.</p>
<p><rd nr="8"/>Die stationäre Entwöhnungstherapie als solche ist ausweislich der Bescheinigungen der S.-Klinik vom 26.04.2022, 02.03.2022 und 13.04.2022 regulär und erfolgreich beendet worden. Der Beschwerdeführer habe während der Behandlung Fortschritte erzielt und wirke in seiner Abstinenzentscheidung gefestigt; er erarbeite stabilisierende Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe. Der von der Beschwerdekammer beim Verteidiger eingeholte Entlassungsbericht der Klinik belegt ergänzend, dass die während der Therapie regelmäßig durchgeführten Urin-Drogenscreenings und Atemalkoholkontrollen des Beschwerdeführers allesamt ohne Befund waren. Eine weitere Behandlung in der Einrichtung war mithin nicht mehr erforderlich. Weiterhin wurde vom Verteidiger des Beschwerdeführers eine Bescheinigung der Suchthilfe D. gGmbH vom 04.07.2022 vorgelegt, wonach der Beschwerdeführer dort am selben Tag vorstellig geworden sei und wegen einer (weiteren) Therapievermittlung angefragt habe.</p>
<p><rd nr="9"/>Allerdings werden dem Beschwerdeführer sowohl in dem Entlassungsbericht als auch in dem Schreiben der Klinik an die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 26.04.2022 gewisse, in seiner Person bzw. in seinem Charakter wurzelnde Defizite bescheinigt, namentlich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, unzureichende Krankheitseinsicht, Defizite in der Selbststeuerung und eine schwere Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit. Diese bereits vor der Zurückstellung nach § 35 BtMG vorhandenen Faktoren sind, jeder für sich und erst recht in ihrem Zusammenwirken, im Grundsatz geeignet, eine künftige Delinquenz zu begünstigen. Andererseits ist die hiesige Aussetzungsentscheidung insoweit durch die vorangegangene Zurückstellung der Strafvollstreckung (wenn auch nicht im strengen Wortsinn) präjudiziert, als eine Strafaussetzung schwerlich versagt werden kann, wenn - ohne dass weitere, neue Umstände hinzutreten - der Verurteilte die bei der Zurückstellung in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt hat und die Behandlung uneingeschränkt erfolgreich verlief, wie hier geschehen. Es wäre kaum vermittelbar und nicht zielführend, dem Beschwerdeführer zunächst unter Verzicht auf den Strafvollzug die Durchführung einer Drogentherapie zu ermöglichen, nach erfolgreichem Abschluss der Behandlung dann aber, ohne dass neue negative Gesichtspunkte hinzugetreten wären, auf eine weitere, den Therapieerfolg wieder gefährdende Strafverbüßung zu bestehen. Bei der Prognoseentscheidung kommt daher den sucht- und therapiebezogenen Umständen besondere Bedeutung zu (vgl. Kornprobst in MüKoStGB, 4. Aufl., § 36 BtMG Rn. 50 f.).</p>
<p><rd nr="10"/>Letztere sprechen, wie ausgeführt, zugunsten des Beschwerdeführers. Den darüber hinaus gegebenen, auf seiner strafrechtlich relevanten Vorgeschichte und auf seiner schwierigen Persönlichkeitsstruktur beruhenden Hemmnissen, die einer uneingeschränkt positiven Sozialprognose entgegenstehen, kann nach Auffassung der Kammer durch die im Tenor dieses Beschlusses genannten Weisungen und Auflagen (§ 36 Abs. 4 BtMG mit §§ 56a bis 56d StGB) hinreichend begegnet werden. Die im Rahmen der durchgeführten Therapie nunmehr diagnostizierten Persönlichkeitsstrukturen geben nach Auffassung der Kammer jedenfalls keine neuen negativen Gesichtspunkte im Sinne des vorstehenden Absatzes ab, die eine grundsätzlich abweichende Prognoseentscheidung tragen würden. Vielmehr beschreibt und reflektiert die Diagnose lediglich auf fachmedizinischer und psychologischer Ebene das, was in den bisherigen Straftaten des Beschwerdeführers, wie sie insbesondere im Urteil des Amtsgerichts Pforzheim vom 21.04.2020 angeführt werden, bislang zutage getreten ist und was bei der Zurückstellung nach § 35 BtMG bereits bekannt war.</p>
<p><rd nr="11"/>3. Die Kammer hat im Hinblick auf eine vom Beschwerdeführer angestrebte weitere Therapie davon abgesehen, ihn anzuweisen, sich zur Stabilisierung seines Alltags umgehend um einen Arbeitsplatz zu kümmern, um hier einen möglichen terminlichen Konflikt zu vermeiden.</p>
<p>III.</p>
<p><rd nr="12"/>Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 467 StPO.</p>
</div>
|
|
346,894 | vg-sigmaringen-2022-07-20-6-k-96521 | {
"id": 159,
"name": "Verwaltungsgericht Sigmaringen",
"slug": "vg-sigmaringen",
"city": 84,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 K 965/21 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-10-12T10:01:30 | 2022-10-17T11:11:00 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>Ziffer II des Bescheides der Beklagten vom 7. Mai 2020 und der hierauf bezügliche Teil des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Tübingen vom 2. März 2021 werden aufgehoben.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Kläger trägt zwei Drittel, die Beklagte ein Drittel der Kosten des Verfahrens.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger wendet sich gegen das Verbot des Besitzes und Erwerbs von Waffen und Munition, deren Erwerb nicht der Erlaubnis bedarf, sowie gegen die die Verpflichtung, etwaige in seinem Besitz befindliche Waffen und Munition oder andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände unbrauchbar zu machen oder einem Berechtigten zu überlassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der am ... 1978 in ... (Eritrea) geborene Kläger lebt seit seiner Kindheit in Deutschland und ist deutscher Staatsangehöriger. Er bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Nachdem die Polizei dem Kläger zweimal ein Messer abgenommen hatte, zuletzt am 26. Dezember 2019 ein Küchenmesser mit einer 21 cm langen Klinge, regte das Polizeirevier ... am 27. Dezember 2019 bei der Beklagten die Prüfung eines Waffenverbots an. Die Beklagten holte daraufhin Auskünfte aus dem zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister vom 8. Januar 2020 (Verwaltungsakten Bl. 11/8), dem Zentralregister und dem Erziehungsregister vom 13. Januar 2020 (Verwaltungsakten Bl. 25/24) sowie des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg vom 9. März 2020 (Verwaltungsakten Bl. 16/15) ein und zog das (damals) letzte gegen den Kläger ergangene Urteil des Amtsgerichts ... vom 11. April 2017 - rechtskräftig seit 19. April 2017 - bei (Az.: C 1 Ds 34 Js 18651/16) bei (Verwaltungsakten Bl. 22/18). Hiernach war der Kläger wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, in einem davon in Tateinheit mit Beleidigung, unter Einbeziehung eines Strafbefehls des Amtsgerichts ... vom 18. Juli 2016 (40 Tagessätze zu je 10 Euro wegen Beleidigung [Az.: 4 Cs 32 Js 12324/16]) zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätze à 10 EUR verurteilt. Der Amtsrichter wertete dabei die Einzeltaten mit 80 bzw. 40 Tagessätzen und bildete daraus unter Einbeziehung der vorangegangenen Verurteilung eine Gesamtgeldstrafe von 120 Tagesätzen. Als Vorstrafen sind in dem Urteil genannt:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="4"/>15. September 2010 Amtsgericht ...:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="5"/>Vorsätzliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung in Tatmehrheit mit Beleidigung sowie Bedrohung in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="6"/>Geldstrafe von 130 Tagessätzen zu je 10 EUR</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="7"/>22. Januar 2014 Amtsgericht ...:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="8"/>Beleidigung und Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 10 EUR</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>25. April 2014 Amtsgericht ...:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="11"/>Betäubungsmittelbesitz</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="12"/>Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10 EUR</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="13"/>18.07.2016 Amtsgericht ...:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="14"/>Beleidigung</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="15"/>Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Mit Schreiben vom 16. März 2020 hörte die Beklagte den Kläger zu einem Waffenbesitzverbot an (Verwaltungsakten Bl. 34).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Mit Bescheid vom 7. Mai 2020 - zugestellt am 9. Mai 2020 - untersagte die Beklagte dem Kläger den Besitz und Erwerb von Waffen und Munition, deren Erwerb nicht der Erlaubnis bedarf (Ziff. I) und ordnete weiter an, dass der Kläger etwaige Waffen und Munition (auch erlaubnisfreie!) oder andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände, die sich derzeit in seinem Besitz befinden, bis zum 7. August 2020 dauerhaft unbrauchbar zu machen oder einem Berechtigten zu überlassen hat (Ziff. II). Neben der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziff. I und II (Ziff. III) setzte die Beklagte eine Gebühr von 100 EUR fest. Zur Begründung wird u. a. ausgeführt, dem Kläger fehle aufgrund seiner zahlreichen Verurteilungen die waffenrechtliche Zuverlässigkeit. Das Besitzverbot sei geeignet, erforderlich und angemessen, um Gefährdungen Dritter und der Allgemeinheit auszuschließen. Gleiches gelte für die Verpflichtung zur Unbrauchbarmachung bzw. Überlassung der Waffe an einen Berechtigten als Folge des Waffenverbotes.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Den hiergegen am 18. Mai 2020 eingelegten und nicht weiter begründeten Widerspruch des Klägers wies das Regierungspräsidium Tübingen mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2021 - zugestellt am 4. März 2021 - zurück und führte u. a. aus, es liege ein Fall der Regelunzuverlässigkeit vor, der durch die sonstigen Auffälligkeiten des Klägers, die sich in zwölf Eintragungen im Bundeszentralregister niederschlügen, eher bestätigt werde als dass Gründe für ein ausnahmsweises Absehen von der Regel vorlägen. Vor diesem Hintergrund habe die Beklagte in ermessensfehlerfreier Weise ein Waffenverbot nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 Waffengesetz (WaffG) erlassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Zur Begründung der hiergegen am Dienstag, den 6. April 2021 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen erhobenen Klage wird nichts Inhaltliches vorgetragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Der Kläger beantragt schriftsätzlich,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>den Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2020 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 2. März 2021 aufzuheben und die Zuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Beklagte hat keinen förmlichen Klagantrag gestellt und auch nichts zur Sache vorgetragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Das Gericht hat eine weitere Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 5. April 2022 eingeholt, die insgesamt 16 Verurteilungen seit dem Jahre 2000 verzeichnet, von denen die folgenden nach dem o. g. Urteil des Amtsgerichts ... ergangen sind:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>o 5. Februar 2020 AG ... (Az.: 6 Cs 21 Js 4325/18 92 VRs)</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>Unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="26"/>Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10 EUR</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="27"/>o 27. Februar 2020 AG ... (Az.: 6 Cs 21 Js 2552/20 92 VRs)</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="28"/>Unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="29"/>Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 30 EUR</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="30"/>o 30. März 2020 AG ... (Az.: 4 Cs 35 Js 2860/20 92 VRs)</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="31"/>Sachbeschädigung</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="32"/>Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Aus diesen drei Verurteilungen wurde durch Beschluss vom 8. Juni 2020 nachträglich eine Gesamtstrafe von 60 Tagessätzen zu je 10 EUR gebildet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Mit Beschluss vom 6. April 2022 hat das Gericht dem Kläger insoweit Prozesskostenhilfe bewilligt, als er Ziffer II des Bescheides vom 7. Mai 2020 anficht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die Beteiligten waren in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Dem Gericht liegen die Verwaltungsakten der Beklagten und die Widerspruchsakten des Regierungspräsidiums Tübingen vor, auf welche ebenso wie auf die Gerichtsakten wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts Bezug genommen wird.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beteiligten verhandeln und entscheiden, da der Kläger in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO) und die Beklagte, für deren Ladung ein Empfangsbekenntnis nicht vorliegt, jedenfalls auf ordnungsgemäße Ladung verzichtet hat (Gerichtsakte Bl. 67).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere nicht verfristet. Nachdem Montag, der 5. April 2021 ein gesetzlicher Feiertag war (Ostermontag), lief die einmonatige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erst am Dienstag, den 6. April 2021 ab (§§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 2 Zivilprozessordnung).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Es ist unschädlich, dass die Beklagte keinen förmlichen Klagabweisungsantrag gestellt hat, denn dass sie dem Klagbegehren nicht entsprochen hat, macht hinreichend deutlich, dass sie dem Klagantrag entgegentritt (vgl. Eyermann / Schübel-Pfister, VwGO, 16. Auflage 2022, § 103 Rdnr. 13). Im Übrigen folgt es aus dem Untersuchungsgrundsatz, dass die Klage abgewiesen werden muss, wenn sie sich als unzulässig oder unbegründet erweist (Bosch / Schmidt / Vondung, Einführung in die Praxis des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, 10. Aufl. 2019, Rdnr. 1178).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Klage ist nur zum Teil begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2020 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 2. März 2021 sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten, soweit in Ziffer II angeordnet wird, dass der Kläger etwaige Waffen und Munition (auch erlaubnisfreie) oder andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände, die sich derzeit in seinem Besitz befinden, dauerhaft unbrauchbar zu machen oder einem Berechtigten zu überlassen hat. Im Übrigen sind die angefochtenen Bescheide jedoch rechtmäßig und verletzen klägerische Rechte nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Dies bedeutet, dass die Beklagte zwar ein Waffenverbot erlassen (1.), nicht jedoch die Unbrauchbarmachung bzw. Überlassung vom Waffen und Munition sowie anderen vom Waffengesetz erfassten Gegenstände an Berechtigte verfügen durfte (2.)</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>1. Rechtsgrundlage des in Ziff. I des angefochtenen Bescheides verfügten Besitz- und Erwerbsverbots für erlaubnisfreie Waffen und Munition ist § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 5 Waffengesetz (WaffG). Danach kann die zuständige Behörde jemandem den Besitz von Waffen oder Munition, deren Erwerb nicht der Erlaubnis bedarf, und den Erwerb solcher Waffen oder Munition untersagen, wenn Tatsachen bekannt werden, die die Annahme rechtfertigen, dass dem rechtmäßigen Besitzer oder Erwerbswilligen die für den Erwerb oder Besitz solcher Waffen oder Munition erforderliche Zuverlässigkeit fehlt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Erlaubnisfreie Waffen sind solche, die zwar unter den in § 1 Abs. 2 WaffG abstrakt definierten und in der Anlage 1 (Begriffsbestimmungen) zu § 1 Abs. 4 WaffG inhaltlich ausgeformten Waffenbegriff fallen, jedoch nicht bereits kraft Gesetzes verboten (§ 2 Abs. 3 in Verbindung mit Anlage 2 Abschnitt 1 WaffG) oder unter Erlaubnisvorbehalt gestellt sind (§ 2 Abs. 2 in Verbindung mit Anlage 2 Abschnitt 2 WaffG). Zu diesen erlaubnisfreien Waffen zählen nach Anlage 2 Abschnitt 1 Nr. 1.4.1 WaffG beispielsweise Springmesser, bei denen die Klinge seitlich aus dem Griff herausspringt und der aus dem Griff herausragende Teil der Klinge höchstens 8,5 cm lang und nicht zweiseitig geschliffen ist (vgl. Gade, WaffG, 2. Aufl. 2018, § 41 Rdnr. 5). Nicht in dem Anwendungsbereich von § 41 WaffG fallen indessen gefährliche Gegenstände, die nicht Waffen im Sinne des Waffengesetzes sind, insbesondere auch die hier fallrelevanten Küchenmesser (arg e § 42 a Abs. 1 Nr. 3 WaffG; vgl. auch VG Wiesbaden, Urteil vom 8. Februar 2016 - 6 K 1456/15.WI -, juris Rdnr. 23; Gade, a. a. O., § 42 a Rdnr. 1).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Es bestehen beim Kläger zwar keine Anhaltspunkte dafür, dass er derzeit erlaubnisfreie Waffen im Sinne des Waffengesetzes besitzt, allerdings kann ihm ein hierauf gerichteter Erwerbswille nicht abgesprochen werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Eine Person ist nicht erst dann als erwerbswillig zu qualifizieren, wenn sie einen dahingehenden Willen geäußert hat oder ein solcher Wille trotz ausdrücklicher Verneinung nachweislich besteht. Der Erwerb muss auch nicht aktuell gewollt oder jedenfalls in absehbarer Zeit zu erwarten sein. Für das Tatbestandsmerkmal der „Erwerbswilligkeit“ ist es vielmehr ausreichend, dass konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, der Betroffene wolle (künftig) in den Besitz von Waffen bzw. Munition gelangen. Für diese Erwartung ist keine konkrete Gefahr im Sinne des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts erforderlich, sondern das gesetzliche Konzept der Gefahrenvorsorge gilt auch für die Erwerbsprognose. Als erwerbswillig ist danach eine Person anzusehen, bei der die durch Tatsachen gerechtfertigte Erwartung im Sinne der allgemeinen Besorgnis besteht, sie werde im Zeitraum voraussichtlich fortbestehender Unzuverlässigkeit in den Besitz von Waffen oder Munition gelangen wollen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Mai 2021 - 6 S 2193/19 -, juris Rdnr. 117).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Nach Auffassung der Kammer lassen die beim Kläger beschlagnahmten Küchenmesser - auch wenn sie selbst keine Waffen im Sinne des Waffengesetzes sind - den hinreichend sicheren Schluss zu, dass der Kläger, der glaubt, zu seiner Verteidigung einen zum Gebrauch als Waffe geeigneten Gegenstand zu benötigen, bei entsprechender Gelegenheit auch beispielsweise ein erlaubnisfreies Springmesser erwerben würde. Es ist insbesondere auch im Hinblick auf die psychische Verfassung des Klägers nicht zu erwarten, dass er bewusst zwischen einem Messer, das (nur) ein gefährlicher Gegenstand ist, und einem als Waffe geltenden Messer differenzieren könnte und wollte. Für den psychisch auffälligen Kläger kommt es offensichtlich nur darauf an, einen Gegenstand zu besitzen, den er nach seiner Vorstellung zu seiner Verteidigung einsetzen kann. Dass er bislang offensichtlich noch keine erlaubnisfreie Waffe erworben und besessen hat, dürfte eher dem Umstand zuzuschreiben sein, dass er keine Gelegenheit zum Erwerb hatte, als dass er bewusst davon Abstand nimmt. In Anbetracht der eher niedrigen Gefahrenschwelle einer „allgemeinen Besorgnis“, dass der Kläger in Besitz einer solchen Waffe gelangen will, sieht das Gericht in dem zweifachen Aufgreifen des Klägers mit einem Küchenmesser hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für einen Erwerbswillen auch bei erlaubnisfreien Waffen, insbesondere in Form von Messern.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Der Kläger ist waffenrechtlich unzuverlässig. Dabei beurteilt sich der Begriff der Zuverlässigkeit ebenso nach § 5 WaffG wie im Bereich der erlaubnispflichtigen Waffen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Januar 2022 - 6 B 9.21 -, juris Rdnr. 16 m. w. N.). Nach dieser Vorschrift besitzen die erforderliche Zuverlässigkeit in der Regel Personen nicht, die wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Geldstrafe von mindestens 60 Tagessätzen oder mindestens zweimal zu einer geringeren Geldstrafe rechtskräftig verurteilt worden sind, wenn seit dem Eintritt der Rechtskraft der letzten Verurteilung fünf Jahre noch nicht verstrichen sind. Die Vermutungsregelung setzt weder voraus, dass außer der Verurteilung weitere nachteilige Umstände über den Waffenbesitzer bekannt geworden sind noch kommt es auf einen Bezug der Straftat zum Umgang mit Waffen an. Vielmehr wird die Regelvermutung der Unzuverlässigkeit nicht nach der Art der begangenen Straftat bestimmt, sondern es wird allgemein auf die Rechtsfolgenseite, nämlich auf die Höhe der verhängten Strafe, abgestellt (VG München, Beschluss vom 17. August 2018 - M 7 S 18.1851 -, juris Rdnr. 25 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Letzte von der Beklagten in Bezug genommene Verurteilung ist das seit 19. April 2017 rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts ... vom 11. April 2017 (Az.: 1 Ds 34 Js 18651/16). Hierdurch wurde der Kläger wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 18. Juli 2016 zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10 EUR verurteilt. Aus den Strafzumessungserwägungen ergibt sich, dass der erste Tatkomplex mit 80 Tagessätzen und der zweite mit 40 Tagessätzen bewertet wurde, aus denen unter Einrechnung des Strafbefehls von 40 Tagessätzen wegen Beleidigung eine Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen gebildet wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Nachdem maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage für das Erwerbs- und Besitzverbot der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist, da es sich hierbei um einen Dauerverwaltungsakt handelt (VG Freiburg, Urteil vom 1. Juli 2020 - 1 K 6023/18 -, BeckRS 2020, 41985, Rdnr. 32; VG Karlsruhe, Urteil vom 18. Oktober 2018 - 12 K 6041/17 -, juris Rdnr. 16 m. w. N.), sind auch die zwischenzeitlich erfolgten drei weiteren Verurteilungen zu berücksichtigen, aus denen nachträglich eine Gesamtstrafe von 60 Tagessätzen gebildet wurde (s. BZR-Auszug vom 5. April 2021 Einträge Nrn. 14 bis 17).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Nr. 1 a WaffG sind daher unter allen denkbaren Gesichtspunkten erfüllt. Selbst wenn man im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr auf die mit 80 Tagessätzen bewertete Einzeltat aus dem Urteil des Amtsgerichts ... rekurrieren könnte, weil seit deren Rechtskraft inzwischen mehr als fünf Jahre vergangen sind (zum Streitstand vgl. einerseits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20. Februar 2018 - 1 S 2749/17 -, juris Rdnr. 6 f., andererseits BayVGH, Beschluss vom 25. Oktober 2012 - 21 ZB 12.539 -, juris Rdnr. 12), so liegen nunmehr jedenfalls mehrere weitere Verurteilungen wegen vorsätzlicher Taten vor. In diesem Falle ist überhaupt keine Mindeststrafhöhe erforderlich. Seit Rechtskraft dieser Verurteilungen am 25. Februar, 17. März bzw. 16. April 2020 (vgl. BZR-Auszug Einträge Nrn. 14 bis 16) sind auch in keinem Fall fünf Jahre vergangen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Vorliegend verbietet sich auch eine Ausnahme von der Regelvermutung. Eine solche könnte nur dann in Betracht, wenn die Umstände der abgeurteilten Tat die Verfehlung des Betroffenen ausnahmsweise derart in einem milden Licht erscheinen ließen, dass die nach der Wertung des Gesetzgebers in der Regel durch eine solche Straftat begründeten Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des Betroffenen bezüglich des Umgangs mit Waffen und Munition nicht gerechtfertigt sind. Maßstab für das Vorliegen eines Ausnahmefalls, der die Verfehlung des Betroffenen in einem milderen, von der waffenrechtlichen Regelwertung abweichenden Licht erscheinen lassen kann, ist allein die Würdigung der Schwere der konkreten Verfehlung und der Persönlichkeit des Betroffenen wie sie in seinem damaligen Verhalten zum Ausdruck kommt. Auch unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist vorliegend keine Ausnahme von der Regelvermutung geboten, zumal besondere Tatumstände, die zu Gunsten des Klägers sprechen würden, weder vorgetragen noch ersichtlich sind. Insbesondere hat der Kläger bislang weder im Verwaltungs- noch im gerichtlichen Verfahren die Gelegenheit genutzt, irgendwelche zu seinen Gunsten sprechende Gesichtspunkte vorzutragen; Widerspruch und Klage sind inhaltlich unbegründet geblieben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Ob daneben - wie das Regierungspräsidium meint - die Zuverlässigkeit auch nach dem zwingenden Grund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG zu verneinen ist, weil der Kläger am 26. Dezember 2019 ein Küchenmesser bei sich getragen und erklärt hat, sich damit verteidigen zu müssen (Widerspruchsbescheid S. 7), kann hier offen bleiben. Dies wirkt sich nämlich nicht auf das Ergebnis aus, denn die Zuverlässigkeit ist bereits regelhaft nach § 5 Abs. 2 Nr. 1 a WaffG zu verneinen und eine Ausnahme von der Regelvermutung ist im Hinblick auf das - offenbar sogar mehrfache - Führen eines solchen Küchenmessers erst recht nicht geboten. Schon allein diese Begründung trägt vollumfänglich die Entscheidung zum Besitz- und Erwerbsverbot.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Die Ermessensausübung der Beklagten ist im Rahmen des gerichtlichen Prüfungsumfangs (§ 114 Satz 1 VwGO) ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat - wie sich aus den Gründen der streitgegenständlichen Bescheide ergibt - das ihr zustehende Ermessen erkannt und zweckgerecht sowie im Rahmen der gesetzlichen Grenzen ausgeübt. Auch die inzwischen hinzugekommenen neuen Erkenntnisse können keinen Ermessensfehler zu Gunsten des Klägers rechtfertigen, bestätigen sie doch die Wertung der Beklagten eindeutig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Ziff. I der Verfügung vom 7. Mai 2020 ist daher rechtlich nicht zu beanstanden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>2. Die in Ziff. II des Bescheids vom 7. Mai 2020 gegenüber dem Kläger getroffene Anordnung, noch vorhandene erlaubnisfreie Waffen und Munition oder andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände bis 7. August 2020 dauerhaft unbrauchbar zu machen oder einem Berechtigten zu überlassen, erweist sich indes als rechtswidrig und für den Kläger rechtsverletzend.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Gemäß § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WaffG kann die zuständige Behörde, wenn jemand entgegen einem vollziehbaren Verbot nach § 41 Abs. 1 oder 2 WaffG eine Waffe oder Munition besitzt, anordnen, dass er binnen angemessener Frist die Waffe oder Munition dauerhaft unbrauchbar macht oder einem Berechtigten überlässt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>a) Die Norm erlaubt damit nur Eingriffe zur Unbrauchbarmachung bzw. Überlassen an Berechtigte von Waffen im Sinne des Waffengesetzes; hinsichtlich <span style="text-decoration:underline">„anderer vom Waffengesetz erfasster Gegenstände</span>“, die keine Waffen oder Munition sind, bietet sie keine Rechtsgrundlage.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der Begriff der Waffe ist - wie oben bereits näher dargelegt - gesetzlich definiert. Die beim Kläger vorgefundenen Gegenstände waren keine Waffen in diesem Sinne. Wie der nachträglich eingefügte § 42 a WaffG, der (u. a.) das Führen von feststehenden Messern mit einer Klingenlänge von über 12 cm untersagt (Abs. 1 Nr. 3) zeigt, sollen hierdurch gerade Gegenstände erfasst werden, die per definitionem keine Waffen im Sinne des Waffengesetzes sind (Gade, a, a. O., § 42 a Rdnr. 1). Küchenmesser wie das beim Kläger festgestellte mögen zwar „andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände“ sein, stellen als solche aber keinen tauglicheren Regelungsgegenstand für eine Verfügung nach § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WaffG dar, zumal auch nicht ihr Besitz, sondern nur das Führen verboten ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>b) Hinsichtlich vorhandener<span style="text-decoration:underline"> erlaubnisfreier Waffen und Munition</span> könnte die gegenüber dem Kläger getroffene Anordnung zwar auf die angeführte Rechtsgrundlage gestützt werden; sie setzt jedoch weiter voraus, dass beim Kläger der Besitz von erlaubnisfreien Waffen im Sinne des Waffengesetzes zu besorgen wäre. Hierfür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, denn es ist kein einziger Fall dokumentiert, aus dem sich auch nur der begründete Verdacht des Umgangs des Klägers mit Waffen im Sinne des Waffengesetzes ergeben könnte. Adressat der Maßnahme nach § 46 Abs. 3 Satz 1 WaffG ist nach dem Wortlaut aber (nur) derjenige, der Waffen oder Munition besitzt (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 2. Februar 2021 - RN 4 K 19.1980 -, juris Rdnr. 56). Dies bedeutet, dass zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen muss, dass der Betroffene erlaubnisfreie Waffen und / oder Munition besitzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Beim Kläger bestehen indessen keine Anhaltspunkte dafür, dass er derzeit bereits im Besitz von (erlaubnisfreien) Waffen im Sinne des Waffengesetzes ist. Hiergegen spricht auch, dass er bei seinen Auffälligkeiten zweimal ein Küchenmesser bei sich getragen hat. Hätte er eine „richtige“ Waffe besessen, beispielsweise ein wesentlich komfortabler zu handhabendes erlaubtes Springmesser, so hätte es nahe gelegen, dass er diese benutzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Auch wenn die Verfügung damit aller Voraussicht nach ins Leere geht, entfällt doch nicht jegliche Beschwer für den Kläger, denn sie könnte immerhin als Grundlage für Vollstreckungsmaßnahmen in Betracht kommen. Daher ist dem Kläger ein Interesse an ihrer Aufhebung zuzubilligen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Gericht sieht nach § 167 Abs. 2 VwGO davon ab, die Entscheidung bezüglich der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Zuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren ergeht durch gesonderten Beschluss.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beteiligten verhandeln und entscheiden, da der Kläger in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO) und die Beklagte, für deren Ladung ein Empfangsbekenntnis nicht vorliegt, jedenfalls auf ordnungsgemäße Ladung verzichtet hat (Gerichtsakte Bl. 67).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere nicht verfristet. Nachdem Montag, der 5. April 2021 ein gesetzlicher Feiertag war (Ostermontag), lief die einmonatige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erst am Dienstag, den 6. April 2021 ab (§§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 2 Zivilprozessordnung).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Es ist unschädlich, dass die Beklagte keinen förmlichen Klagabweisungsantrag gestellt hat, denn dass sie dem Klagbegehren nicht entsprochen hat, macht hinreichend deutlich, dass sie dem Klagantrag entgegentritt (vgl. Eyermann / Schübel-Pfister, VwGO, 16. Auflage 2022, § 103 Rdnr. 13). Im Übrigen folgt es aus dem Untersuchungsgrundsatz, dass die Klage abgewiesen werden muss, wenn sie sich als unzulässig oder unbegründet erweist (Bosch / Schmidt / Vondung, Einführung in die Praxis des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, 10. Aufl. 2019, Rdnr. 1178).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Klage ist nur zum Teil begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2020 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 2. März 2021 sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten, soweit in Ziffer II angeordnet wird, dass der Kläger etwaige Waffen und Munition (auch erlaubnisfreie) oder andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände, die sich derzeit in seinem Besitz befinden, dauerhaft unbrauchbar zu machen oder einem Berechtigten zu überlassen hat. Im Übrigen sind die angefochtenen Bescheide jedoch rechtmäßig und verletzen klägerische Rechte nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Dies bedeutet, dass die Beklagte zwar ein Waffenverbot erlassen (1.), nicht jedoch die Unbrauchbarmachung bzw. Überlassung vom Waffen und Munition sowie anderen vom Waffengesetz erfassten Gegenstände an Berechtigte verfügen durfte (2.)</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>1. Rechtsgrundlage des in Ziff. I des angefochtenen Bescheides verfügten Besitz- und Erwerbsverbots für erlaubnisfreie Waffen und Munition ist § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 5 Waffengesetz (WaffG). Danach kann die zuständige Behörde jemandem den Besitz von Waffen oder Munition, deren Erwerb nicht der Erlaubnis bedarf, und den Erwerb solcher Waffen oder Munition untersagen, wenn Tatsachen bekannt werden, die die Annahme rechtfertigen, dass dem rechtmäßigen Besitzer oder Erwerbswilligen die für den Erwerb oder Besitz solcher Waffen oder Munition erforderliche Zuverlässigkeit fehlt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Erlaubnisfreie Waffen sind solche, die zwar unter den in § 1 Abs. 2 WaffG abstrakt definierten und in der Anlage 1 (Begriffsbestimmungen) zu § 1 Abs. 4 WaffG inhaltlich ausgeformten Waffenbegriff fallen, jedoch nicht bereits kraft Gesetzes verboten (§ 2 Abs. 3 in Verbindung mit Anlage 2 Abschnitt 1 WaffG) oder unter Erlaubnisvorbehalt gestellt sind (§ 2 Abs. 2 in Verbindung mit Anlage 2 Abschnitt 2 WaffG). Zu diesen erlaubnisfreien Waffen zählen nach Anlage 2 Abschnitt 1 Nr. 1.4.1 WaffG beispielsweise Springmesser, bei denen die Klinge seitlich aus dem Griff herausspringt und der aus dem Griff herausragende Teil der Klinge höchstens 8,5 cm lang und nicht zweiseitig geschliffen ist (vgl. Gade, WaffG, 2. Aufl. 2018, § 41 Rdnr. 5). Nicht in dem Anwendungsbereich von § 41 WaffG fallen indessen gefährliche Gegenstände, die nicht Waffen im Sinne des Waffengesetzes sind, insbesondere auch die hier fallrelevanten Küchenmesser (arg e § 42 a Abs. 1 Nr. 3 WaffG; vgl. auch VG Wiesbaden, Urteil vom 8. Februar 2016 - 6 K 1456/15.WI -, juris Rdnr. 23; Gade, a. a. O., § 42 a Rdnr. 1).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Es bestehen beim Kläger zwar keine Anhaltspunkte dafür, dass er derzeit erlaubnisfreie Waffen im Sinne des Waffengesetzes besitzt, allerdings kann ihm ein hierauf gerichteter Erwerbswille nicht abgesprochen werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Eine Person ist nicht erst dann als erwerbswillig zu qualifizieren, wenn sie einen dahingehenden Willen geäußert hat oder ein solcher Wille trotz ausdrücklicher Verneinung nachweislich besteht. Der Erwerb muss auch nicht aktuell gewollt oder jedenfalls in absehbarer Zeit zu erwarten sein. Für das Tatbestandsmerkmal der „Erwerbswilligkeit“ ist es vielmehr ausreichend, dass konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, der Betroffene wolle (künftig) in den Besitz von Waffen bzw. Munition gelangen. Für diese Erwartung ist keine konkrete Gefahr im Sinne des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts erforderlich, sondern das gesetzliche Konzept der Gefahrenvorsorge gilt auch für die Erwerbsprognose. Als erwerbswillig ist danach eine Person anzusehen, bei der die durch Tatsachen gerechtfertigte Erwartung im Sinne der allgemeinen Besorgnis besteht, sie werde im Zeitraum voraussichtlich fortbestehender Unzuverlässigkeit in den Besitz von Waffen oder Munition gelangen wollen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Mai 2021 - 6 S 2193/19 -, juris Rdnr. 117).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Nach Auffassung der Kammer lassen die beim Kläger beschlagnahmten Küchenmesser - auch wenn sie selbst keine Waffen im Sinne des Waffengesetzes sind - den hinreichend sicheren Schluss zu, dass der Kläger, der glaubt, zu seiner Verteidigung einen zum Gebrauch als Waffe geeigneten Gegenstand zu benötigen, bei entsprechender Gelegenheit auch beispielsweise ein erlaubnisfreies Springmesser erwerben würde. Es ist insbesondere auch im Hinblick auf die psychische Verfassung des Klägers nicht zu erwarten, dass er bewusst zwischen einem Messer, das (nur) ein gefährlicher Gegenstand ist, und einem als Waffe geltenden Messer differenzieren könnte und wollte. Für den psychisch auffälligen Kläger kommt es offensichtlich nur darauf an, einen Gegenstand zu besitzen, den er nach seiner Vorstellung zu seiner Verteidigung einsetzen kann. Dass er bislang offensichtlich noch keine erlaubnisfreie Waffe erworben und besessen hat, dürfte eher dem Umstand zuzuschreiben sein, dass er keine Gelegenheit zum Erwerb hatte, als dass er bewusst davon Abstand nimmt. In Anbetracht der eher niedrigen Gefahrenschwelle einer „allgemeinen Besorgnis“, dass der Kläger in Besitz einer solchen Waffe gelangen will, sieht das Gericht in dem zweifachen Aufgreifen des Klägers mit einem Küchenmesser hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für einen Erwerbswillen auch bei erlaubnisfreien Waffen, insbesondere in Form von Messern.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Der Kläger ist waffenrechtlich unzuverlässig. Dabei beurteilt sich der Begriff der Zuverlässigkeit ebenso nach § 5 WaffG wie im Bereich der erlaubnispflichtigen Waffen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Januar 2022 - 6 B 9.21 -, juris Rdnr. 16 m. w. N.). Nach dieser Vorschrift besitzen die erforderliche Zuverlässigkeit in der Regel Personen nicht, die wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Geldstrafe von mindestens 60 Tagessätzen oder mindestens zweimal zu einer geringeren Geldstrafe rechtskräftig verurteilt worden sind, wenn seit dem Eintritt der Rechtskraft der letzten Verurteilung fünf Jahre noch nicht verstrichen sind. Die Vermutungsregelung setzt weder voraus, dass außer der Verurteilung weitere nachteilige Umstände über den Waffenbesitzer bekannt geworden sind noch kommt es auf einen Bezug der Straftat zum Umgang mit Waffen an. Vielmehr wird die Regelvermutung der Unzuverlässigkeit nicht nach der Art der begangenen Straftat bestimmt, sondern es wird allgemein auf die Rechtsfolgenseite, nämlich auf die Höhe der verhängten Strafe, abgestellt (VG München, Beschluss vom 17. August 2018 - M 7 S 18.1851 -, juris Rdnr. 25 m. w. N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Letzte von der Beklagten in Bezug genommene Verurteilung ist das seit 19. April 2017 rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts ... vom 11. April 2017 (Az.: 1 Ds 34 Js 18651/16). Hierdurch wurde der Kläger wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 18. Juli 2016 zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10 EUR verurteilt. Aus den Strafzumessungserwägungen ergibt sich, dass der erste Tatkomplex mit 80 Tagessätzen und der zweite mit 40 Tagessätzen bewertet wurde, aus denen unter Einrechnung des Strafbefehls von 40 Tagessätzen wegen Beleidigung eine Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen gebildet wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Nachdem maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage für das Erwerbs- und Besitzverbot der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist, da es sich hierbei um einen Dauerverwaltungsakt handelt (VG Freiburg, Urteil vom 1. Juli 2020 - 1 K 6023/18 -, BeckRS 2020, 41985, Rdnr. 32; VG Karlsruhe, Urteil vom 18. Oktober 2018 - 12 K 6041/17 -, juris Rdnr. 16 m. w. N.), sind auch die zwischenzeitlich erfolgten drei weiteren Verurteilungen zu berücksichtigen, aus denen nachträglich eine Gesamtstrafe von 60 Tagessätzen gebildet wurde (s. BZR-Auszug vom 5. April 2021 Einträge Nrn. 14 bis 17).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Nr. 1 a WaffG sind daher unter allen denkbaren Gesichtspunkten erfüllt. Selbst wenn man im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr auf die mit 80 Tagessätzen bewertete Einzeltat aus dem Urteil des Amtsgerichts ... rekurrieren könnte, weil seit deren Rechtskraft inzwischen mehr als fünf Jahre vergangen sind (zum Streitstand vgl. einerseits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20. Februar 2018 - 1 S 2749/17 -, juris Rdnr. 6 f., andererseits BayVGH, Beschluss vom 25. Oktober 2012 - 21 ZB 12.539 -, juris Rdnr. 12), so liegen nunmehr jedenfalls mehrere weitere Verurteilungen wegen vorsätzlicher Taten vor. In diesem Falle ist überhaupt keine Mindeststrafhöhe erforderlich. Seit Rechtskraft dieser Verurteilungen am 25. Februar, 17. März bzw. 16. April 2020 (vgl. BZR-Auszug Einträge Nrn. 14 bis 16) sind auch in keinem Fall fünf Jahre vergangen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Vorliegend verbietet sich auch eine Ausnahme von der Regelvermutung. Eine solche könnte nur dann in Betracht, wenn die Umstände der abgeurteilten Tat die Verfehlung des Betroffenen ausnahmsweise derart in einem milden Licht erscheinen ließen, dass die nach der Wertung des Gesetzgebers in der Regel durch eine solche Straftat begründeten Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des Betroffenen bezüglich des Umgangs mit Waffen und Munition nicht gerechtfertigt sind. Maßstab für das Vorliegen eines Ausnahmefalls, der die Verfehlung des Betroffenen in einem milderen, von der waffenrechtlichen Regelwertung abweichenden Licht erscheinen lassen kann, ist allein die Würdigung der Schwere der konkreten Verfehlung und der Persönlichkeit des Betroffenen wie sie in seinem damaligen Verhalten zum Ausdruck kommt. Auch unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist vorliegend keine Ausnahme von der Regelvermutung geboten, zumal besondere Tatumstände, die zu Gunsten des Klägers sprechen würden, weder vorgetragen noch ersichtlich sind. Insbesondere hat der Kläger bislang weder im Verwaltungs- noch im gerichtlichen Verfahren die Gelegenheit genutzt, irgendwelche zu seinen Gunsten sprechende Gesichtspunkte vorzutragen; Widerspruch und Klage sind inhaltlich unbegründet geblieben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Ob daneben - wie das Regierungspräsidium meint - die Zuverlässigkeit auch nach dem zwingenden Grund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG zu verneinen ist, weil der Kläger am 26. Dezember 2019 ein Küchenmesser bei sich getragen und erklärt hat, sich damit verteidigen zu müssen (Widerspruchsbescheid S. 7), kann hier offen bleiben. Dies wirkt sich nämlich nicht auf das Ergebnis aus, denn die Zuverlässigkeit ist bereits regelhaft nach § 5 Abs. 2 Nr. 1 a WaffG zu verneinen und eine Ausnahme von der Regelvermutung ist im Hinblick auf das - offenbar sogar mehrfache - Führen eines solchen Küchenmessers erst recht nicht geboten. Schon allein diese Begründung trägt vollumfänglich die Entscheidung zum Besitz- und Erwerbsverbot.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Die Ermessensausübung der Beklagten ist im Rahmen des gerichtlichen Prüfungsumfangs (§ 114 Satz 1 VwGO) ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat - wie sich aus den Gründen der streitgegenständlichen Bescheide ergibt - das ihr zustehende Ermessen erkannt und zweckgerecht sowie im Rahmen der gesetzlichen Grenzen ausgeübt. Auch die inzwischen hinzugekommenen neuen Erkenntnisse können keinen Ermessensfehler zu Gunsten des Klägers rechtfertigen, bestätigen sie doch die Wertung der Beklagten eindeutig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Ziff. I der Verfügung vom 7. Mai 2020 ist daher rechtlich nicht zu beanstanden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>2. Die in Ziff. II des Bescheids vom 7. Mai 2020 gegenüber dem Kläger getroffene Anordnung, noch vorhandene erlaubnisfreie Waffen und Munition oder andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände bis 7. August 2020 dauerhaft unbrauchbar zu machen oder einem Berechtigten zu überlassen, erweist sich indes als rechtswidrig und für den Kläger rechtsverletzend.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Gemäß § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WaffG kann die zuständige Behörde, wenn jemand entgegen einem vollziehbaren Verbot nach § 41 Abs. 1 oder 2 WaffG eine Waffe oder Munition besitzt, anordnen, dass er binnen angemessener Frist die Waffe oder Munition dauerhaft unbrauchbar macht oder einem Berechtigten überlässt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>a) Die Norm erlaubt damit nur Eingriffe zur Unbrauchbarmachung bzw. Überlassen an Berechtigte von Waffen im Sinne des Waffengesetzes; hinsichtlich <span style="text-decoration:underline">„anderer vom Waffengesetz erfasster Gegenstände</span>“, die keine Waffen oder Munition sind, bietet sie keine Rechtsgrundlage.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der Begriff der Waffe ist - wie oben bereits näher dargelegt - gesetzlich definiert. Die beim Kläger vorgefundenen Gegenstände waren keine Waffen in diesem Sinne. Wie der nachträglich eingefügte § 42 a WaffG, der (u. a.) das Führen von feststehenden Messern mit einer Klingenlänge von über 12 cm untersagt (Abs. 1 Nr. 3) zeigt, sollen hierdurch gerade Gegenstände erfasst werden, die per definitionem keine Waffen im Sinne des Waffengesetzes sind (Gade, a, a. O., § 42 a Rdnr. 1). Küchenmesser wie das beim Kläger festgestellte mögen zwar „andere vom Waffengesetz erfasste Gegenstände“ sein, stellen als solche aber keinen tauglicheren Regelungsgegenstand für eine Verfügung nach § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WaffG dar, zumal auch nicht ihr Besitz, sondern nur das Führen verboten ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>b) Hinsichtlich vorhandener<span style="text-decoration:underline"> erlaubnisfreier Waffen und Munition</span> könnte die gegenüber dem Kläger getroffene Anordnung zwar auf die angeführte Rechtsgrundlage gestützt werden; sie setzt jedoch weiter voraus, dass beim Kläger der Besitz von erlaubnisfreien Waffen im Sinne des Waffengesetzes zu besorgen wäre. Hierfür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, denn es ist kein einziger Fall dokumentiert, aus dem sich auch nur der begründete Verdacht des Umgangs des Klägers mit Waffen im Sinne des Waffengesetzes ergeben könnte. Adressat der Maßnahme nach § 46 Abs. 3 Satz 1 WaffG ist nach dem Wortlaut aber (nur) derjenige, der Waffen oder Munition besitzt (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 2. Februar 2021 - RN 4 K 19.1980 -, juris Rdnr. 56). Dies bedeutet, dass zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen muss, dass der Betroffene erlaubnisfreie Waffen und / oder Munition besitzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Beim Kläger bestehen indessen keine Anhaltspunkte dafür, dass er derzeit bereits im Besitz von (erlaubnisfreien) Waffen im Sinne des Waffengesetzes ist. Hiergegen spricht auch, dass er bei seinen Auffälligkeiten zweimal ein Küchenmesser bei sich getragen hat. Hätte er eine „richtige“ Waffe besessen, beispielsweise ein wesentlich komfortabler zu handhabendes erlaubtes Springmesser, so hätte es nahe gelegen, dass er diese benutzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Auch wenn die Verfügung damit aller Voraussicht nach ins Leere geht, entfällt doch nicht jegliche Beschwer für den Kläger, denn sie könnte immerhin als Grundlage für Vollstreckungsmaßnahmen in Betracht kommen. Daher ist dem Kläger ein Interesse an ihrer Aufhebung zuzubilligen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Gericht sieht nach § 167 Abs. 2 VwGO davon ab, die Entscheidung bezüglich der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Zuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren ergeht durch gesonderten Beschluss.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,608 | lsgbw-2022-07-20-l-3-as-116922 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 3 AS 1169/22 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-09-17T10:01:53 | 2022-10-17T11:10:16 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p><strong>Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.03.2022 wird zurückgewiesen.</strong></p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p><strong>Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.</strong></p></blockquote></blockquote>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Streitig ist die Höhe des Anspruchs des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II) für die Zeit vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der 1968 geborene Kläger bezieht laufend SGB II-Leistungen von dem Beklagten. Auf den Weiterbewilligungsantrag des Klägers vom 14.08.2021 bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 30.08.2021 SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 727,26 EUR für die Zeit vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022. Die Leistungshöhe setzte sich aus 446,- EUR Regelbedarf, 10,26 EUR Mehrbedarf bei dezentraler Warmwassererzeugung und 271,- EUR Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) zusammen, wobei auf die Grundmiete 120,- EUR und auf die Heiz- und Nebenkosten 151,- EUR entfielen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 27.09.2021 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch und trug vor, u.a. wegen Corona seien die Lebenshaltungskosten – vor allem für Lebensmittel – erheblich gestiegen. Er begehre daher eine Erhöhung des monatlichen Betrages um 200,- EUR. Das sei angemessen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Änderungsbescheid vom 27.11.2021 erhöhte der Beklagte den Regelbedarf für die Zeit ab 01.01.2022 auf monatlich 449,- EUR, passte den Mehrbedarf bei dezentraler Warmwassererzeugung auf 10,33 EUR an und setzte die SGB II-Leistungen für die Zeit vom 01.01.2022 bis zum 30.09.2022 i.H.v. 730,33 EUR neu fest.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.12.2021 als unbegründet zurück. Für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch in Gestalt eines pandemiebedingten Mehrbedarfs von monatlich 200,- EUR sei keine Anspruchsgrundlage im materiellen Sozialversicherungsrecht oder in ähnlichen Gesetzen erkennbar. Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt, noch aus den Unterlagen ersichtlich. Der angefochtene Bescheid entspreche den gesetzlichen Anforderungen. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhielten Arbeitslosengeld II. Die Leistungen umfassten den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung (§ 19 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB II). Die Höhe des Regelbedarfes zur Sicherung des Lebensunterhaltes ergebe sich aus der Bekanntmachung über die Regelbedarfe des jeweiligen Jahres. Im streitgegenständlichen Zeitraum betrage er monatlich 446,- EUR für den Kläger (alleinstehende Person; § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Zu berücksichtigen seien ferner gemäß §§ 19, 22 SGB II auch die angemessenen KdU. Bei Leistungsberechtigten werde ein Mehrbedarf anerkannt, soweit Warmwasser durch in der Unterkunft installierte Vorrichtungen erzeugt werde (dezentrale Warmwassererzeugung) und deshalb keine Bedarfe für zentral bereitgestelltes Warmwasser nach § 22 SGB II anerkannt würden (§ 21 Abs. 7 SGB II). Es errechne sich somit ein Leistungsanspruch für den Zeitraum vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022 i.H.v. monatlich 727,26 EUR. Hilfsweise sei anzumerken, dass dem Kläger mit Bescheid vom 07.05.2021 eine Einmalzahlung der mit der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen i.H.v. 150,- EUR für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021 bewilligt worden sei. Ein Mehrbedarf gem. § 21 Abs. 6 SGB II scheide aus, da es sich bei dem vom Kläger geltend gemachten Bedarf (Lebensmittel und weitere Artikel des täglichen Lebens) um Bedarfe handle, die vom Regelbedarf umfasst seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Hiergegen hat der Kläger am 20.01.2022 Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass die „gesetzlichen Anforderungen“, auf die sich der Beklagte berufe, unrealistisch und in der Praxis nicht umsetzbar seien. Es gebe eine wesentliche Verteuerung der einfachsten Lebensmittel und die höchste Inflation seit 30 Jahren. Der Gesetzgeber solle ein Jahr Hauswirtschaft machen, um zu lernen, was ein Haushalt brauche. Er beantrage eine angemessene Erhöhung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Nach Anhörung der Beteiligten mit Schreiben vom 28.02.2022 hat das SG Stuttgart die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.03.2022 abgewiesen. Zur Begründung hat es auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen und ausgeführt, der Beklagte habe die gesetzlichen Bestimmungen rechtsfehlerfrei angewandt und die zur Auslegung der Vorschriften entwickelten Grundsätze zutreffend dargestellt. Der Kläger mache insbesondere keinen atypischen Bedarf geltend, der nicht schon über den Regelbedarf, sondern bei Vorliegen der Voraussetzungen als Mehrbedarf zu decken wäre. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe den Regelbedarf im SGB II für die ab 01.01.2011 festgesetzten SGB II-Leistungen für verfassungsgemäß erachtet. Die Anpassung der Regelbedarfe an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten sei durch § 20 Abs. 1a SGB II nach den Vorgaben des BVerfG neu geregelt und insbesondere auf die Grundlage eines förmlichen Gesetzes gestellt worden. Dass die Höhe der Regelbedarfe nicht in Gesetzesform geregelt sei, sei unbedenklich und mache die jeweils einschlägige betragsmäßige Festschreibung der Leistungshöhe nicht zu untergesetzlichem Recht. Nur ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger im Mai 2021 für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021 zum Ausgleich der mit der Covid-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung i.H.v. 150,- EUR (vgl. § 70 SGB II) erhalten habe. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 22.03.2022 zugestellt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Hiergegen hat der Kläger am 19.04.2022 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben. Die angekündigte Begründung ist nicht erfolgt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der Kläger beantragt sinngemäß,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Stuttgart vom 18.03.2022 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021 zu verurteilen, ihm weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II i.H.v. monatlich 200,- EUR für den Zeitraum vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022 zu gewähren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>die Berufung des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Zur Begründung beruft er sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und die überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>1. Gegenstand des Verfahrens sind der Gerichtsbescheid des SG Stuttgart vom 18.03.2022 und der Bescheid des Beklagten vom 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021, mit dem der Beklagte die Gewährung zusätzlicher SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 200,- EUR abgelehnt hat. Da der Kläger im Berufungsverfahren keinen konkreten Antrag gestellt hat, ist sein Begehren sachdienlich auszulegen (vgl. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 123 SGG). Dem Vortrag im Widerspruchs- und Klageverfahren zufolge begründet der Kläger seinen Anspruch auf höhere Leistungen mit gestiegenen Lebenshaltungskosten – vor allem für Lebensmittel – und der Inflation. Dem Begehren ist daher eine Beschränkung des Streitgegenstands insoweit zu entnehmen, als KdU, die sich beim Kläger gegenüber dem vorangegangenen Bedarfszeitraum nicht erhöht haben, sondern weiterhin insgesamt 271,- EUR zuzüglich des Mehrbedarfs für Warmwasserversorgung betragen, nicht im Streit stehen, was auch nach der Neufassung des SGB II zum 01.01.2011 möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 12.11.2015 – B 14 AS 34/14 R, juris Rn. 11 m.w.N.). Der Klagezeitraum ist auf den Zeitraum des Bewilligungszeitraumes des angefochtenen Bescheides begrenzt. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG), da das Begehren des Klägers auf die Auszahlung von weiteren Leistungen gerichtet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>2. Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Das SG Stuttgart hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf weitere SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 200,- EUR.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>a. In dem streitigen Bewilligungszeitraum vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022 hat der Kläger die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB II erfüllt, da er das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat sowie erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 2 SGB II ist. Er ist auch hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 9 Abs. 1 SGB II, da er über kein bedarfsdeckendes Einkommen im Sinne von § 11 SGB II verfügt. Nach § 67 Abs. 1, Abs. 2 SGB II ist für den hier streitigen Bewilligungszeitraum zu vermuten, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist. Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4, Abs. 4a und 5 SGB II greifen nicht zu Ungunsten des Klägers ein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>b. Der Beklagte hat die Höhe der SGB II-Leistungen zutreffend festgesetzt, wobei die KdU hier nicht Streitgegenstand sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>aa) Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens (§ 20 Abs. 1 Satz1 SGB II). Die Höhe des dem Kläger zustehenden Regelbedarfs richtet sich nach § 20 Abs. 1a Satz 1 SGB II. Danach wird der Regelbedarf in Höhe der jeweiligen Regelbedarfsstufe (§ 20 Abs. 2 bis 4 SGB II) entsprechend § 28 SGB XII in Verbindung mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) und den §§ 28a und 40 SGB XII in Verbindung mit der für das jeweilige Jahr geltenden Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung anerkannt. Der Kläger lebt alleine und der Beklagte hat entsprechend der Regelbedarfsstufe 1 Leistungen für Oktober bis Dezember 2021 i.H.v. 446,- EUR und ab Januar 2022 i.H.v. 449,- EUR bewilligt. Dass der Beklagte ihm mit den angefochtenen Bescheiden weniger als die gesetzlich vorgesehenen Leistungen gewährt hätte, behauptet der Kläger auch nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>bb) Die Höhe des Regelbedarfs genügt im streitigen Zeitraum nach Überzeugung des Senats auch weiterhin den verfassungsrechtlichen Anforderungen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>(1) Der Staat hat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins erfüllt werden, wenn einem Menschen die hierfür erforderlichen notwendigen materiellen Mittel weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus seinem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht hinsichtlich der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, juris Rn. 133, 134; Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, juris Rn. 118, 119). Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 81).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des BVerfG (vgl. u.a., Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 371/11, juris; Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris) ist der Senat überzeugt, dass die Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf durch den Gesetzgeber im Rahmen des SGB II grundsätzlich den Anforderungen an eine hinreichend transparente, jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe genügt. Der Gesetzgeber hat die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht, also im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt. Es ist nicht erkennbar, dass er für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz relevante Bedarfsarten übersehen und die zu ihrer Deckung erforderlichen Leistungen durch gesetzliche Ansprüche nicht gesichert hat (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, Rn. 89; Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 371/11, Rn. 52).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Ein Begehren höherer Leistungen „ins Blaue“ hinein, ohne Angabe greifbarer Umstände, wäre vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG rechtsmissbräuchlich und vom Gericht nicht im Wege der Amtsermittlung weiterzuverfolgen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.06.2017 – L 18 AS 392/17, juris Rn. 16).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>(2) Vorliegend macht der Kläger geltend, dass die „gesetzlichen Anforderungen“ unrealistisch seien, da es eine wesentliche Verteuerung der Lebensmittel und die höchste Inflation seit 30 Jahren gebe. Zutreffend ist, dass die Erhöhung der Regelbedarfsstufen hinter der aktuellen Inflation zurückgeblieben ist. So sind die Regelbedarfsstufen nach § 8 des RBEG zum 01.01.2022 nur um 0,76 % erhöht und die Ergebnisse nach § 28 Abs. 5 SGB XII auf volle Euro gerundet worden (vgl. § 1 Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 vom 13.10.2021), während laut dem statistischen Bundesamt der Verbraucherpreisindex im Vergleich zum Vorjahresmonat wie folgt gestiegen ist: Oktober 2021 +4,5 %, November 2021 +5,2 %, Dezember 2021 +5,3 %, Januar 2022 +4,9 %, Februar 2022 +5,1 %, März 2022 +7,3 %, April 2022 +7,4 %, Mai 2022 +7,9 % und Juni 2022 +7,6% (https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html). Die durchschnittliche Preissteigerung hat damit von Oktober 2021 bis Dezember 2021 5 % und von Januar 2022 bis Juni 2022 6,7 % betragen. In Bezug auf die Regelsatzhöhe haben sich die Kosten damit durchschnittlich um 22,30 EUR/Monat für den Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember 2021 und um 26,88 EUR/Monat (446 x 0,067 = 29,88 EUR abzgl. Regelsatzerhöhung von 3,- EUR) für den Zeitraum von Januar bis Juni 2022 erhöht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Soweit der Kläger auf die Nahrungsmittelpreise abgestellt hat, hat im Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember 2021 eine durchschnittliche Preissteigerung um 4,97 % und von Januar 2022 bis Juni 2022 eine Steigerung um durchschnittlich 8,15 % stattgefunden (https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html). In Bezug auf die vom Kläger angeführte Verteuerung der Lebensmittelpreise berechnet sich im Hinblick auf die Abteilung 1 und 2 (Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren) des § 5 Abs. 1 RBEG damit eine Erhöhung der Ausgaben für den Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember i.H.v. durchschnittlich 7,50 EUR pro Monat (4,97 % von 151,- EUR) und für den Zeitraum von Januar 2022 bis Juni 2022 i.H.v. 11,16 EUR pro Monat (8,15 % - 0,76 % = 6,48 % von 151,- EUR).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Diese durchschnittliche Preissteigerung führt nach Überzeugung des Senats in dem hier streitigen Zeitraum für den Kläger noch nicht zu einer Unterschreitung des menschwürdigen Existenzminimums.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Es kann vorliegend dahinstehen, ob der erhebliche Anstieg der Inflation spätestens seit März 2022 bedingt durch die kumulierten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und des Ukraine-Krieges inzwischen zu einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter geführt hat, da eine vom BVerfG geforderte zeitnahe Reaktion des Gesetzgebers (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144) erfolgt ist, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung in Höhe von 200,- EUR gewährt wird. Der Kläger fällt in den Anwendungsbereich des § 73 SGB II, da er im Juli 2022 leistungsberechtigt nach dem SGB II ist und sein Bedarf sich nach der Regelbedarfsstufe 1 richtet. Die Einmalzahlung erfolgt zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen (Wortlaut der Norm), die beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel (insbesondere FFP2-Masken), aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation entstanden sind (BR-Drucksache 125/22, S. 14). Die ursprünglich i.H.v. 100,- EUR vorgesehene Leistung ist vor dem Hintergrund des Beschlusses in der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 07.04.2022 über die Einbeziehung der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in den Anwendungsbereich des SGB II auf 200,- EUR verdoppelt worden und soll dem unmittelbaren pauschalen Ausgleich für etwaige aktuell bestehende finanzielle Mehrbelastungen in Anbetracht aktueller Preissteigerungen dienen (BT-Drucksache 20/1768, S. 27).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Mit der Einmalzahlung i.H.v. 200,- EUR hat der Gesetzgeber nicht die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen abgewartet (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144), sondern die durch die Pandemie und die Inflation entstandenen zusätzlichen Kosten bei den SGB II-Leistungen berücksichtigt. Ein Anspruch des Klägers auf weitere Leistungen besteht nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>cc) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung eines Mehrbedarfs i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Ähnlich wie bei der Regelung des § 70 SGB II (Einmalzahlung i.H.v. 150,- EUR für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021) stellt sich auch bei dem neu geschaffenen § 73 SGB II die Frage, ob dieser als spezielle Regelung die Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II – zumindest für den Monat Juli 2022 – verdrängt (so zu § 70 SGB II: SG Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021 - S 12 AS 711/21 ER, juris Rn. 30; Blüggel in jurisPR-SozR 6/2021 Anm. 1) oder ob § 21 Abs. 6 SGB II subsidiär neben § 73 SGB II zur Anwendung kommen kann (so zu § 70 SGB II: Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70, 1. Überarbeitung, Stand: 30.05.2022, Rn. 16; Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, Stand: Oktober 2021, § 70, Rn. 17; Eicher/Luik/Harich/Blüggel, 5. Aufl. 2021, SGB II § 70 Rn. 3, 6). Da die Voraussetzungen für die Gewährung eines Mehrbedarfs i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II vorliegend im gesamten streitigen Zeitraum nicht vorliegen, kommt es hier darauf jedoch nicht an.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Nach § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II in der hier anwendbaren Fassung des RBEG vom 09.12.2020 (BGBl. I S. 2855) wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Es handelt sich bei § 21 Abs. 6 SGB II um eine Ausnahmevorschrift für atypische Bedarfslagen, deren Tatbestandsvoraussetzungen nach dem Willen des Gesetzgebers eng und strikt sind (BT-Drucksache 17/1465, S. 8). Auch das BVerfG ging in seinem Urteil vom 09.02.2010 von „engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen“ aus (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, juris Rn. 208). Diese Maßgabe ist bei der Auslegung des § 21 Abs. 6 SGB II zu beachten. Die Härtefallklausel dient dazu, Bedarfe zu erfassen, die aufgrund ihres individuellen Charakters bei der pauschalierenden Regelbedarfsbemessung der Art oder der Höhe nach nicht erfasst werden können (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 204 ff.; BT-Drucks 17/1465, S. 8). Sie hat nicht die Funktion, eine (vermeintlich oder tatsächlich) unzureichende Höhe des Regelbedarfs auszugleichen (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.02.2022 – L 19 AS 1236/21, juris Rn. 44; Knickrehm in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 21 Rn. 64 ff.). Hinzu kommt, dass es sich bei steigenden Lebensmittelpreisen oder anderen zusätzlichen Kosten aufgrund einer weltweiten Pandemie nicht um einen Bedarf „im Einzelfall“ i.S.d. § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II handelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>4. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>1. Gegenstand des Verfahrens sind der Gerichtsbescheid des SG Stuttgart vom 18.03.2022 und der Bescheid des Beklagten vom 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021, mit dem der Beklagte die Gewährung zusätzlicher SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 200,- EUR abgelehnt hat. Da der Kläger im Berufungsverfahren keinen konkreten Antrag gestellt hat, ist sein Begehren sachdienlich auszulegen (vgl. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 123 SGG). Dem Vortrag im Widerspruchs- und Klageverfahren zufolge begründet der Kläger seinen Anspruch auf höhere Leistungen mit gestiegenen Lebenshaltungskosten – vor allem für Lebensmittel – und der Inflation. Dem Begehren ist daher eine Beschränkung des Streitgegenstands insoweit zu entnehmen, als KdU, die sich beim Kläger gegenüber dem vorangegangenen Bedarfszeitraum nicht erhöht haben, sondern weiterhin insgesamt 271,- EUR zuzüglich des Mehrbedarfs für Warmwasserversorgung betragen, nicht im Streit stehen, was auch nach der Neufassung des SGB II zum 01.01.2011 möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 12.11.2015 – B 14 AS 34/14 R, juris Rn. 11 m.w.N.). Der Klagezeitraum ist auf den Zeitraum des Bewilligungszeitraumes des angefochtenen Bescheides begrenzt. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG), da das Begehren des Klägers auf die Auszahlung von weiteren Leistungen gerichtet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>2. Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Das SG Stuttgart hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf weitere SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 200,- EUR.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>a. In dem streitigen Bewilligungszeitraum vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022 hat der Kläger die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB II erfüllt, da er das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat sowie erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 2 SGB II ist. Er ist auch hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 9 Abs. 1 SGB II, da er über kein bedarfsdeckendes Einkommen im Sinne von § 11 SGB II verfügt. Nach § 67 Abs. 1, Abs. 2 SGB II ist für den hier streitigen Bewilligungszeitraum zu vermuten, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist. Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4, Abs. 4a und 5 SGB II greifen nicht zu Ungunsten des Klägers ein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>b. Der Beklagte hat die Höhe der SGB II-Leistungen zutreffend festgesetzt, wobei die KdU hier nicht Streitgegenstand sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>aa) Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens (§ 20 Abs. 1 Satz1 SGB II). Die Höhe des dem Kläger zustehenden Regelbedarfs richtet sich nach § 20 Abs. 1a Satz 1 SGB II. Danach wird der Regelbedarf in Höhe der jeweiligen Regelbedarfsstufe (§ 20 Abs. 2 bis 4 SGB II) entsprechend § 28 SGB XII in Verbindung mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) und den §§ 28a und 40 SGB XII in Verbindung mit der für das jeweilige Jahr geltenden Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung anerkannt. Der Kläger lebt alleine und der Beklagte hat entsprechend der Regelbedarfsstufe 1 Leistungen für Oktober bis Dezember 2021 i.H.v. 446,- EUR und ab Januar 2022 i.H.v. 449,- EUR bewilligt. Dass der Beklagte ihm mit den angefochtenen Bescheiden weniger als die gesetzlich vorgesehenen Leistungen gewährt hätte, behauptet der Kläger auch nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>bb) Die Höhe des Regelbedarfs genügt im streitigen Zeitraum nach Überzeugung des Senats auch weiterhin den verfassungsrechtlichen Anforderungen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>(1) Der Staat hat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins erfüllt werden, wenn einem Menschen die hierfür erforderlichen notwendigen materiellen Mittel weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus seinem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht hinsichtlich der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, juris Rn. 133, 134; Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, juris Rn. 118, 119). Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 81).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des BVerfG (vgl. u.a., Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 371/11, juris; Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris) ist der Senat überzeugt, dass die Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf durch den Gesetzgeber im Rahmen des SGB II grundsätzlich den Anforderungen an eine hinreichend transparente, jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe genügt. Der Gesetzgeber hat die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht, also im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt. Es ist nicht erkennbar, dass er für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz relevante Bedarfsarten übersehen und die zu ihrer Deckung erforderlichen Leistungen durch gesetzliche Ansprüche nicht gesichert hat (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, Rn. 89; Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 371/11, Rn. 52).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Ein Begehren höherer Leistungen „ins Blaue“ hinein, ohne Angabe greifbarer Umstände, wäre vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG rechtsmissbräuchlich und vom Gericht nicht im Wege der Amtsermittlung weiterzuverfolgen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.06.2017 – L 18 AS 392/17, juris Rn. 16).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>(2) Vorliegend macht der Kläger geltend, dass die „gesetzlichen Anforderungen“ unrealistisch seien, da es eine wesentliche Verteuerung der Lebensmittel und die höchste Inflation seit 30 Jahren gebe. Zutreffend ist, dass die Erhöhung der Regelbedarfsstufen hinter der aktuellen Inflation zurückgeblieben ist. So sind die Regelbedarfsstufen nach § 8 des RBEG zum 01.01.2022 nur um 0,76 % erhöht und die Ergebnisse nach § 28 Abs. 5 SGB XII auf volle Euro gerundet worden (vgl. § 1 Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 vom 13.10.2021), während laut dem statistischen Bundesamt der Verbraucherpreisindex im Vergleich zum Vorjahresmonat wie folgt gestiegen ist: Oktober 2021 +4,5 %, November 2021 +5,2 %, Dezember 2021 +5,3 %, Januar 2022 +4,9 %, Februar 2022 +5,1 %, März 2022 +7,3 %, April 2022 +7,4 %, Mai 2022 +7,9 % und Juni 2022 +7,6% (https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html). Die durchschnittliche Preissteigerung hat damit von Oktober 2021 bis Dezember 2021 5 % und von Januar 2022 bis Juni 2022 6,7 % betragen. In Bezug auf die Regelsatzhöhe haben sich die Kosten damit durchschnittlich um 22,30 EUR/Monat für den Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember 2021 und um 26,88 EUR/Monat (446 x 0,067 = 29,88 EUR abzgl. Regelsatzerhöhung von 3,- EUR) für den Zeitraum von Januar bis Juni 2022 erhöht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Soweit der Kläger auf die Nahrungsmittelpreise abgestellt hat, hat im Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember 2021 eine durchschnittliche Preissteigerung um 4,97 % und von Januar 2022 bis Juni 2022 eine Steigerung um durchschnittlich 8,15 % stattgefunden (https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html). In Bezug auf die vom Kläger angeführte Verteuerung der Lebensmittelpreise berechnet sich im Hinblick auf die Abteilung 1 und 2 (Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren) des § 5 Abs. 1 RBEG damit eine Erhöhung der Ausgaben für den Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember i.H.v. durchschnittlich 7,50 EUR pro Monat (4,97 % von 151,- EUR) und für den Zeitraum von Januar 2022 bis Juni 2022 i.H.v. 11,16 EUR pro Monat (8,15 % - 0,76 % = 6,48 % von 151,- EUR).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Diese durchschnittliche Preissteigerung führt nach Überzeugung des Senats in dem hier streitigen Zeitraum für den Kläger noch nicht zu einer Unterschreitung des menschwürdigen Existenzminimums.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Es kann vorliegend dahinstehen, ob der erhebliche Anstieg der Inflation spätestens seit März 2022 bedingt durch die kumulierten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und des Ukraine-Krieges inzwischen zu einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter geführt hat, da eine vom BVerfG geforderte zeitnahe Reaktion des Gesetzgebers (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144) erfolgt ist, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung in Höhe von 200,- EUR gewährt wird. Der Kläger fällt in den Anwendungsbereich des § 73 SGB II, da er im Juli 2022 leistungsberechtigt nach dem SGB II ist und sein Bedarf sich nach der Regelbedarfsstufe 1 richtet. Die Einmalzahlung erfolgt zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen (Wortlaut der Norm), die beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel (insbesondere FFP2-Masken), aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation entstanden sind (BR-Drucksache 125/22, S. 14). Die ursprünglich i.H.v. 100,- EUR vorgesehene Leistung ist vor dem Hintergrund des Beschlusses in der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 07.04.2022 über die Einbeziehung der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in den Anwendungsbereich des SGB II auf 200,- EUR verdoppelt worden und soll dem unmittelbaren pauschalen Ausgleich für etwaige aktuell bestehende finanzielle Mehrbelastungen in Anbetracht aktueller Preissteigerungen dienen (BT-Drucksache 20/1768, S. 27).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Mit der Einmalzahlung i.H.v. 200,- EUR hat der Gesetzgeber nicht die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen abgewartet (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144), sondern die durch die Pandemie und die Inflation entstandenen zusätzlichen Kosten bei den SGB II-Leistungen berücksichtigt. Ein Anspruch des Klägers auf weitere Leistungen besteht nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>cc) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung eines Mehrbedarfs i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Ähnlich wie bei der Regelung des § 70 SGB II (Einmalzahlung i.H.v. 150,- EUR für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021) stellt sich auch bei dem neu geschaffenen § 73 SGB II die Frage, ob dieser als spezielle Regelung die Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II – zumindest für den Monat Juli 2022 – verdrängt (so zu § 70 SGB II: SG Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021 - S 12 AS 711/21 ER, juris Rn. 30; Blüggel in jurisPR-SozR 6/2021 Anm. 1) oder ob § 21 Abs. 6 SGB II subsidiär neben § 73 SGB II zur Anwendung kommen kann (so zu § 70 SGB II: Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70, 1. Überarbeitung, Stand: 30.05.2022, Rn. 16; Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, Stand: Oktober 2021, § 70, Rn. 17; Eicher/Luik/Harich/Blüggel, 5. Aufl. 2021, SGB II § 70 Rn. 3, 6). Da die Voraussetzungen für die Gewährung eines Mehrbedarfs i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II vorliegend im gesamten streitigen Zeitraum nicht vorliegen, kommt es hier darauf jedoch nicht an.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Nach § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II in der hier anwendbaren Fassung des RBEG vom 09.12.2020 (BGBl. I S. 2855) wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Es handelt sich bei § 21 Abs. 6 SGB II um eine Ausnahmevorschrift für atypische Bedarfslagen, deren Tatbestandsvoraussetzungen nach dem Willen des Gesetzgebers eng und strikt sind (BT-Drucksache 17/1465, S. 8). Auch das BVerfG ging in seinem Urteil vom 09.02.2010 von „engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen“ aus (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, juris Rn. 208). Diese Maßgabe ist bei der Auslegung des § 21 Abs. 6 SGB II zu beachten. Die Härtefallklausel dient dazu, Bedarfe zu erfassen, die aufgrund ihres individuellen Charakters bei der pauschalierenden Regelbedarfsbemessung der Art oder der Höhe nach nicht erfasst werden können (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 204 ff.; BT-Drucks 17/1465, S. 8). Sie hat nicht die Funktion, eine (vermeintlich oder tatsächlich) unzureichende Höhe des Regelbedarfs auszugleichen (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.02.2022 – L 19 AS 1236/21, juris Rn. 44; Knickrehm in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 21 Rn. 64 ff.). Hinzu kommt, dass es sich bei steigenden Lebensmittelpreisen oder anderen zusätzlichen Kosten aufgrund einer weltweiten Pandemie nicht um einen Bedarf „im Einzelfall“ i.S.d. § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II handelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>4. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,602 | vghbw-2022-07-20-a-10-s-189821 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | A 10 S 1898/21 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-09-16T10:02:18 | 2022-10-17T11:10:15 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. Mai 2020 - A 4 K 19650/17 - wird zurückgewiesen.</p><p>Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger, ein sri-lankischer Staatsangehöriger hinduistischen Glaubens und tamilischer Volkszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus und weiter hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - im Folgenden: Bundesamt - am 12.09.2017 machte der nach eigenen Angaben am 18.05.1994 (bzw. am 20.05.1995, vgl. Bundesamts-Akte S. 42, oder am 21.05.1994, vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sowie die gegenüber dem Bundesamt vorgelegte Kopie einer Geburtsurkunde) in Jaffna geborene Kläger geltend, er habe sein Heimatland am 13. oder 14.11.2015 verlassen und sei am 22.11.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, weil er im Juni 2015 ungefähr sieben bis acht Tage lang vom CID wegen des Vorwurfs einer Unterstützung der Liberation Tigers of Tamil Eelam - LTTE - (in erster Linie in Form des Aushebens eines Erdlochs als Waffenversteck im Jahr 2008 auf Bitten seines Bruders) schwer misshandelt worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 28.11.2017 die Anträge des Klägers auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus und auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots ab. Zur Begründung hieß es im Wesentlichen, der Kläger brauche bei einer Rückkehr nach Sri Lanka keine erneute Verfolgung durch staatliche Akteure zu befürchten. Nach dem Ende des Bürgerkriegs habe sich die politische Situation grundlegend verändert; u. a. würden sogar aktive LTTE-Mitglieder vom Staat wieder aktiv in die Gesellschaft integriert, etwa durch Aufnahme in die Armee, die Polizei oder nationale Sportkader. Wenn schon aktive Mitglieder der LTTE mit ihrer Haftentlassung und staatlicher Förderung rechnen könnten, sei erst recht nicht ersichtlich, weshalb der Kläger, der allenfalls eine bloße Unterstützertätigkeit glaubhaft gemacht habe, eine staatliche Verfolgung fürchte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Die hiergegen gerichtete Klage des Klägers zum Verwaltungsgericht Stuttgart auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. eines subsidiären Schutzstatus sowie (hilfsweise) auf Feststellung eines Abschiebungsverbots hatte keinen Erfolg. Zur Begründung seines Urteils vom 22.05.2020 - A 4 K 19650/17 - führte das Verwaltungsgericht insbesondere aus, dem Kläger sei die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Zwar sei davon auszugehen, dass er politisch vorverfolgt ausgereist sei. Das Gericht sei davon überzeugt, dass er in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Ausreise tatsächlich durch staatliche Sicherheitsbehörden festgehalten und wie von ihm beschrieben misshandelt worden sei. Es sei aber davon auszugehen, dass niederrangigen ehemaligen LTTE-Mitgliedern, bloßen Unterstützern der LTTE und deren Angehörigen grundsätzlich keine weitere staatliche Verfolgung durch sri-lankische Sicherheitsbehörden drohe. Die Lage in Sri Lanka habe sich seit der Ausreise des Klägers „Ende 2010 oder Anfang 2011“ erheblich zum Positiven verändert. Unter der Regierung Wickremesinghe habe sich die politische Kultur im Land ab 2015 massiv verändert. Rückkehrer müssten grundsätzlich keine staatlichen Repressionen gegen sich fürchten. Zwar müssten sie sich Vernehmungen durch die Immigrationsbehörden, das National Bureau of Investigations und das Criminal Investigation Department stellen. Systematische Verhaftungen von Rückkehrern kämen jedoch nicht vor. Nach Erkenntnissen des UK Home Office und weiterer Nichtregierungsorganisationen müssten ehemalige LTTE-Zugehörige ausschließlich dann mit einem fortbestehenden Interesse der Sicherheitsbehörden an ihrer Person rechnen, wenn zusätzlich ein Strafverfahren offen sei. Nach Angaben des UNHCR bestehe ausschließlich für hochrangige LTTE-Mitglieder das Risiko, bei einer Rückkehr am Flughafen weiter befragt zu werden. Dies würde jedoch nicht notwendigerweise bedeuten, dass die Person auch eingesperrt werde. Auch sei es dem Lagebericht des Auswärtigen Amts zufolge im Jahr 2019 vermehrt vorgekommen, dass Flüchtlinge regelmäßig problemlos zum Urlaub nach Sri Lanka gereist seien. An dieser Lageeinschätzung habe sich auch nach der Wahl vom 16.11.2019 nichts geändert, durch die Gotabaya Rajapaksa zum neuen Präsidenten Sri Lankas gewählt wurde. Das Gericht gehe auch nicht davon aus, dass die Situation des Klägers dadurch, dass er nach seinen Angaben an Demonstrationen beteiligt gewesen sei, oder aufgrund des Umstands, dass er gegen eine Lösegeldzahlung freigekommen sei, abweichend zu beurteilen wäre. Er sei nicht davon auszugehen, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt, elf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs, das Interesse an einer geringwertigen Unterstützertätigkeit eines Kindes noch fortbestehe. Die vom Kläger geschilderte Teilnahme an Demonstrationen glaube ihm das Gericht nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Zur Begründung seiner, vom Verwaltungsgerichtshof mit (dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 28.06.2021 zugestellten) Beschluss vom 08.06.2021 - 10 S 2307/20 - zugelassenen Berufung hat der Kläger mit Schriftsatz vom 22.07.2022 im Wesentlichen geltend gemacht, die Berufung müsse Erfolg haben, weil er individuell vorverfolgt ausgereist sei und eine Wiederholung derartiger Verfolgungsmaßnahmen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Vor dem Hintergrund des inzwischen erfolgten Wechsels sowohl in der Staatsführung als auch in der Regierung Sri Lankas spreche vieles dafür, dass sich die Menschenrechtssituation verschlechtert habe und insbesondere Personen, die - wie der Kläger - bereits als angebliche Anhänger oder Unterstützer separatistischer Bestrebungen in das Blickfeld der staatlichen Sicherheitsorgane geraten seien, erneut mit asylrechtsrelevanten Übergriffen rechnen müssten. Er verweise hierzu u. a. auf den Bericht des Sonderberichterstatters an den UN-Menschenrechtsrat vom 09.02.2021 sowie auf die ausführliche Analyse von „Human Rights Watch“ „Open Wounds and Mounting Dangers“ vom 01.02.2021.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="7"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. Mai 2020 - A 4 K 19650/17 - zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28.11.2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise einen subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und weiter hilfsweise das Vorliegen eines Abschiebungsverbots festzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Beklage beantragt,</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Dem Senat liegen die Akten der Beklagten und des Verwaltungsgerichts Stuttgart vor. Hierauf sowie auf die im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen. Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung den Kläger informatorisch angehört. Auf die insoweit angefertigte, als Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung genommenen Abschrift wird verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>A. Dem Kläger steht keiner der geltend gemachten Ansprüche zu. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen; der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furch nicht zurückkehren will.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 m. w. N. und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32; Beschluss vom 15.08.2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. 02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 m. w. N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19 Rn. 37).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG). Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. Dörig, Asylum Qualification Directive 2011/95/EU, Art. 4 Rn. 30, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016). Liegen beim Ausländer frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht vor erneuter Verfolgung im Falle der Rückkehr in sein Heimatland vor, so kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zugute. Die den früheren Handlungen oder Bedrohungen zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 u.a., Abdullah u.a./Bundesrepublik Deutschland - NVwZ 2010, 505 Rn. 94). Fehlt es an einer entsprechenden Verknüpfung, so greift die Beweiserleichterung nicht ein. Die widerlegliche Vermutung entlastet den Vorverfolgten von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Sie ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 -10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 23; Senatsurteil vom 05.10.2016 - A 10 S 332/12 - juris Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>2. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger im oben genannten Sinne vorverfolgt ausgereist ist bzw. ihm im Fall seiner Rückkehr nach Sri Lanka eine Verfolgung droht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Die Gründe für seine Verfolgungsfurcht hat der Asylsuchende im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO, §§ 15 und 25 Abs. 1 AsylG vorzutragen. Die Glaubhaftmachung der Asylgründe setzt eine schlüssige, nachprüfbare Darlegung voraus. Der Schutzsuchende muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung (politische) Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Jedenfalls in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen unter anderem Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden (stRspr, vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.07.2022 - A 13 S 733/21 - juris 41; Hamburgisches OVG, Urteil vom 27.10.2021 - 4 Bf 106/20.A - juris Rn. 38 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>a) Der Senat vermochte den Schilderungen des Klägers von seiner angeblich im Heimatland erlittenen Verfolgung und seinen Teilnahmen an Demonstrationen insgesamt keinen Glauben zu schenken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>So wies die Schilderung seiner Verhaftung, seiner vorgeblichen Misshandlung durch sri-lankische Sicherheitskräfte und seiner Flucht zahlreiche Unstimmigkeiten auf und vermittelte insgesamt einen konstruierten Eindruck. Auffällig war dabei insbesondere die abweichende Schilderung einer Schlüsselstelle der Erzählung, die nicht den Eindruck der Wiedergabe eines real erlebten Ereignisses machte: Nach den Angaben des Klägers wurde er gemeinsam mit seinem älteren Bruder verhaftet und sodann von diesem bei der Ankunft in der Hafteinrichtung getrennt; danach habe er seinen Bruder nie wiedergesehen. Die letzten Worte, die der Bruder zum Kläger gesagt haben soll, wurden von diesem deutlich abweichend wiedergegeben. So gab der Kläger gegenüber dem Verwaltungsgericht an, sein Bruder habe zu ihm gesagt, er solle tapfer sein. Gegenüber dem Senat hieß es demgegenüber, der Bruder habe gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. Dem Senat erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass die Erinnerung des Klägers, der einen intelligenten Eindruck macht und in Sri Lanka nach seinen Angaben das Abitur gemacht haben will, an diesen Teil des Kerngeschehens des ihm (angeblich) angetanen Leids derart unzuverlässig sein könnte; immerhin bringt die zuerst genannte Fassung der letzten Worte zum Ausdruck, der Kläger müsse sich auf Unheil gefasst machen, die zweitgenannte Fassung im Gegenteil, weder ihm noch dem Bruder drohe Unheil.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Für die fehlende Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Klägers spricht zudem die Inkonsistenz der Schilderungen eines weiteren zentralen Handlungselements in Gestalt der Umstände, unter denen ein Freund des Bruders, Ranjit, im Rahmen der vorgeblichen Vernehmung auf der Polizeistation in Erscheinung getreten sein soll. Während es in der Anhörung beim Bundesamt und gegenüber dem Senat jeweils hieß, er - der Kläger - habe zunächst in einem Verhörraum zwei bis drei Stunden warten müssen, sei dann befragt worden und dann sei Ranjit in den Raum geführt worden, berichtete der Kläger gegenüber dem Verwaltungsgericht, Ranjit sei erst nach der zweiten Befragung am zweiten Tag seiner Haft in den Verhörraum gekommen. Auffällig ist zudem, dass der Kläger beim Bundesamt erzählte, am Tag der Festnahme von ihm selbst und seinem Bruder habe Ranjit bereits im Fahrzeug des CID-Leute gesessen. Gegenüber dem Verwaltungsgericht und dem Verwaltungsgerichtshof war hiervon nicht die Rede; gegenüber dem Verwaltungsgerichtshof hieß es lediglich, er habe am Tag der Festnahme Ranjit auf dem Weg gesehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Auch die vom Kläger hinsichtlich seiner Flucht vorgetragenen Umstände waren nicht schlüssig und wirkten insgesamt konstruiert. Nach der Schilderung des Klägers soll ein in der Hafteinrichtung tätiger Tamile ihm mitgeteilt habe, er könne durch eine Lösegeldzahlung freikommen, wenn er nicht mehr in der Hafteinrichtung sei, sondern in ein Krankenhaus gebracht würde. Just danach soll er dann so schwer misshandelt worden sein, dass ihm der Arm gebrochen worden sei. Er habe durch Klagen erreichen können, in ein Krankenhaus gebracht zu werden, wobei die Fahrt durch den erwähnten Tamilen erfolgt sei. Wenig lebensnah war dabei insbesondere, dass eben dieser Tamile den Kläger allein, also ohne Begleitpersonal, aus der Hafteinrichtung herausbringen durfte, dieser offenbar ohne Befürchtung für die eigene Person den Kläger unterwegs schlicht laufen ließ und außerdem zu diesem Zeitpunkt trotz der Unvorhersehbarkeit des Krankentransports offenbar bereits die Lösegeldzahlung durch einen wohlhabenden Onkel des Klägers organisiert war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Schilderung der sich hieran anschließenden Behandlung des Arms wies wiederum gravierende Widersprüche auf. So gab der Kläger beim Bundesamt an, er sei in eine Privatklinik gefahren worden. Gegenüber dem Verwaltungsgericht hieß es dann, er habe nicht in ein Krankenhaus, sondern lediglich zu einem „lokalen Heiler“ gebracht werden können. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gab der Kläger schließlich an, von einem „Landarzt“ behandelt worden zu sein. Angesichts der bis heute bestehenden Fehlstellung des Arms durch einen (vermutlich bei anderer Gelegenheit erlittenen) Bruch, was die Behandlung desselben zu einem für die Person des Klägers nachhaltig prägenden Ereignis gemacht haben dürfte, erscheint es nicht glaubhaft, dass der Kläger sich an die Umstände der Behandlung nicht konsistent erinnert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Nachdem der Senat dementsprechend davon ausgeht, dass der Kläger die von ihm geltend gemachte Verhaftung und Misshandlung erfunden hat, sieht er dessen Glaubwürdigkeit insgesamt als erschüttert an. Schon aus diesem Grund vermag der Senat nicht positiv festzustellen, dass die vom Kläger geschilderten Teilnahmen an Demonstrationen - die zudem ihrerseits konstruiert wirkten - sich so wie beschrieben ereignet haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Ohne dass es für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers (insbesondere der geltend gemachten Vorverfolgung) hierauf noch ankäme, spricht nach Überzeugung des Senats viel dafür, dass der Kläger auch im Übrigen nicht die Wahrheit gesagt hat, beispielsweise was seine angebliche Ausreise über den Flughafen von Colombo mit gefälschten Papieren anbelangt. Hierfür sprechen insbesondere die widersprüchlichen Angaben des Klägers zu seinem Geburtsdatum. Ausweislich der Bundesamtsakte hat der Kläger bei seiner Registrierung angegeben, am 18.05.1994 geboren worden zu sein. Im Rahmen seiner Anhörung hat er diese Angabe korrigiert; richtig sei der 20.05.1995. Die vom Kläger sodann auf Aufforderung des Bundesamts vorgelegte Kopie einer Geburtsurkunde nennt als Geburtsdatum allerdings den 21.05.1994. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hat das Bundesamt zudem einen anonymen Hinweis vorgelegt, demzufolge der Kläger eigentlich Prasanna Thiyakarahjah heiße und am 20.05.1994 geboren worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>b) Auch sonst spricht nichts dafür, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr eine Verfolgung durch einen der Verfolgungsakteure des § 3c AsylG befürchten müsste. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass aus dem Ausland nach Sri Lanka zurückkehrende tamilische Staatsbürger generell wegen ihres Auslandsaufenthalts oder wegen einer Asylantragstellung im Ausland Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die Erkenntnismittellage hinsichtlich Sri Lanka ist schon angesichts der vielen dort aktiven internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und der intensiven Berichterstattung internationaler, insbesondere englischsprachiger (durch örtliche Korrespondenten vertretene) Medien im Wesentlichen gut und vermittelt ein differenziertes, größtenteils einheitliches Lagebild, insbesondere auch was die Situation von aus dem Ausland - insbesondere nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens - nach Sri Lanka zurückkehrende Tamilinnen und Tamilen anbelangt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Besonders hervorzuheben ist dabei eine jüngere Entscheidung des UK Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) vom 27.05.2021 - PA/09978/2016, PA/13288/2018 - (abrufbar unter https://www.doughtystreet.co.uk/sites/default/files/media/document/KK%20%26%20RS%20%28Sri%20Lanka%2 9.pdf), die auf der Grundlage einer umfassenden Auswertung der zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Erkenntnismittel und einer ausführlichen Sachverständigenbefragung den Versuch einer Systematisierung der Gefahrenlage nach Risikogruppen unternimmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Das UK Upper Tribunal geht - stark zusammengefasst - von folgender Sachlage aus (vgl. die sog. Country Guidance Rn. 535 f.): Die gegenwärtige sri-lankische Regierung sowie die Sicherheitsbehörden nähmen an, dass es nach wie vor separatistische Bestrebungen der tamilischen Minderheit gäbe, die vor allem von der großen Zahl und den vielen Gruppen von Exil-Tamilen ausgehen bzw. von diesen unterstützt würden. Vor diesem Hintergrund betrieben die Sicherheitsbehörden intensive (insbesondere auch nachrichtendienstliche) Aufklärungsarbeit, um ein Lagebild von Exil-Aktivitäten zu erhalten. Allgemein werde davon ausgegangen, dass die Dienste über eine gute Informationslage verfügten. Die durch die Auslandsaufklärung erworbenen Informationen würden zusammen mit den im Inland erhobenen Daten in eine umfassende elektronische Datenbank eingespeist, die eine große Vielzahl von Namen enthalte und in der die gespeicherten Personen in drei Gefährdungsgruppen einsortiert seien. Dabei sei davon auszugehen, dass Einträge in die Datenbanken großzügig erfolgen (also auch bei einmaligen untergeordneten Aktivitäten wie Teilnahmen an Protesten oder Demonstrationen) und auch nicht mehr gelöscht, sondern dauerhaft gespeichert würden. Bei der Einreise nach Sri Lanka erfolge ein Abgleich von einreisenden Personen mit dem Bestand der Datenbank, an die sich dann - je nach Gefährdungsgruppe und den Umständen des Einzelfalls - ggf. unterschiedliche Folgemaßnahmen anschlössen. Soweit die Behandlung von Einreisenden am Flughafen in einer Verhaftung der Einreisenden münde, besteht nach dem UK Upper Tribunal die reale Gefahr, dass die Verhafteten Gewalt und auch Folter ausgesetzt sein werden. Eine Verhaftung erfolge stets bei Personen, die in der Datenbank auf der sog. Stop-Liste geführt würden. Hierbei handele es sich im Wesentlichen um Personen, die aufgrund von Strafverfahren oder Ermittlungsverfahren per Haftbefehl gesucht würden. Neben der Stop-Liste gebe es in der Datenbank eine sog. Beobachtungs-Liste. Personen auf dieser Liste würden am Flughafen lediglich befragt und könnten sodann weiter in ihre Heimatregion reisen, würden dort aber weiter beobachtet. Hierbei sei zu unterscheiden zwischen Personen, die von besonderem Interesse für die Sicherheitsbehörden seien und die deswegen nach ihrer Einreise vermutlich verhaftet würden (und mithin einem realen Folterrisiko ausgesetzt seien) und solchen Personen, die lediglich mit weiterer Beobachtung zu rechnen hätten. Eine Verhaftung drohe lediglich Personen, denen von den Sicherheitsbehörden eine „signifikante Rolle“ in den tamilischen Separationsbestrebungen zugeschrieben werde. Ob dies der Fall sei, bemesse sich anhand einer Betrachtung des Einzelfalls, wobei maßgeblich u. a. das Ausmaß von exilpolitischen Aktivitäten und der bislang in Sri Lanka registrierten Handlungen sowie relevante familiäre Verbindungen seien. Personen, die zwar in der Datenbank registriert seien, dort aber weder auf der Stop- noch der Beobachtungs-Liste geführt würden, hätten nach den Feststellungen des Upper Tribunal keine Verhaftung zu befürchten. Sie würden bei der Einreise zwar durch verschiedene Behörden (auch den CID) befragt, sodann aber ziehen gelassen. Begründet wird dies insbesondere damit, dass die Eingruppierung der in der Datenbank geführten Personen in die Stop- und Beobachtungsliste auf intensiven Aufklärungsmaßnahmen der Behörden beruhe und damit (aus Behördensicht) eine verlässliche Einschätzung der von einer einreisenden Person ausgehenden Gefahren zulasse. Außerdem würden die Sicherheitsbehörden (zutreffend) davon ausgehen, dass einerseits oft (auch) wirtschaftliche Gründe eine Ausreise aus Sri Lanka motivierten und andererseits während des Bürgerkriegs die allermeisten Tamilen auf die eine oder andere Art zumindest untergeordnet unterstützend für die LTTE tätig geworden seien. Der Umstand, dass es sich bei der Regierung von Sri Lanka (zumindest in der Tendenz) um ein autoritäres Regime mit einer schlechten Menschenrechtsbilanz handele, bedeute nicht, dass das Regime nicht über differenzierte Filter zur Klärung der Erforderlichkeit einer Inhaftierung von Personen verfüge.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Ergiebig ist darüber hinaus insbesondere der „Länderreport Sri Lanka“ des Bundesamts vom 01.08.2021, der neben dem aktuellsten Lagebericht des Auswärtigen Amts (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Sri Lanka, Stand November 2020) auch die zum Zeitpunkt der Berichterstellung vorliegenden weiteren Erkenntnismittel von Regierungs- und Nichtregierungsorgansiationen auswertet. Der Länderreport bestätigt die Einschätzungen des UK Upper Tribunal im Wesentlichen. Er berichtet - zusammengefasst - davon, dass aus dem Ausland Zurückkehrende Vernehmungen durch die Immigrationsbehörde, das National Bureau of Investigation und das Criminal Investigation Department - CID - zu erwarten hätten. Dies sei insbesondere der Fall, wenn Einreisende (wie möglicherweise der Kläger im vorliegenden Fall) keinen sri-lankischen Reisepass vorlegen könnten, sondern nur ein von einer sri-lankischen Auslandsvertretung ausgestelltes Reisedokument zur einmaligen Rückkehr nach Sri Lanka (Identity Certificate Overseas Missions, ICOM, auch Emergency-Passport genannt) oder einen deutschen Reiseausweis für Ausländer hätten; dann würden sie einer Personenüberprüfung unterzogen und zu Identität, persönlichem Hintergrund und Reiseziel befragt. Die Sicherheitskräfte versuchten herauszufinden, ob eine Person Verbindungen zur LTTE gehabt habe. Die Dauer der Verhöre variiere und könne zwischen Stunden und mehreren Tagen liegen. Systematische Verhaftungen kämen nicht vor. Es lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass es bei diesen Befragungen zur Anwendung von Gewalt komme. Bekannt sei lediglich, dass es unter der früheren Regierung Mahinda Rajapaksas (also bis 2015) zu dokumentierten Verhaftungen und Folter von Rückkehrenden gekommen sei, die mutmaßlich im Ausland Spenden für die LTTE gesammelt hatten (vgl. auch Amnesty International, Mass deportations of Tamils from Germany, 29.03.2021). Auch Erkenntnisse über Fälle diskriminierender Behandlung von Einreisenden (auch bei Tamilen) lägen nicht vor, wobei bekannt sei, dass zumindest teilweise in Deutschland als Flüchtlinge anerkannte Personen regelmäßig problemlos zum Urlaub nach Sri Lanka reisen würden. Rückführungen / Abschiebungen seien nur über den Flughafen Colombo möglich. Alle EU-Staaten nähmen Abschiebungen nach Sri Lanka vor. Lediglich die Schweiz haben nach einem rechtlichen Vorfall mit sri-lankischen Behörden seit 12.12.2019 die Abschiebung nach Sri Lanka vorerst ausgesetzt. Besonderes Augenmerk dürften die Sicherheitsbehörden bei ihren Befragungen auf die Beschaffung von Informationen über die Auslandsdiaspora der Tamilen legen. Dem Länderreport zufolge gibt es in Westeuropa, Nordamerika und Australien eine große und gut vernetzte tamilische Diaspora. Über diese Netzwerke würden weiterhin Spendenbeiträge für die LTTE eingeworben. Verlautbarungen des sri-lankischen Verteidigungsministeriums deuteten dabei darauf hin, dass dort befürchtet werde, dass die tamilische Diaspora versuche, die LTTE wiederzubeleben, um zu erreichen, was die LTTE durch bewaffneten Kampf nicht habe erreichen können, dass im Sicherheitsapparat also offenbar die Abwehr von Bestrebungen der LTTE neben der seit dem Osterattentat 2019 im Vordergrund stehenden Bekämpfung des islamistischen Terrors noch eine relevante Rolle spiele. Weil die Regierung Sri Lankas davon ausgehe, dass Teile der tamilischen Diaspora sich weiterhin für einen unabhängigen tamilischen Staat einsetzten, würden die sri-lankischen Behörden nach wie vor die tamilische Diaspora im Ausland überwachen und systematisch Informationen über deren Aktivitäten sammeln (vgl. hierzu insbesondere den kanadischen Bericht vom 02.05.2022, der von „a new trend of mapping the extended family network of Tamils“ spricht). Auch komme es zu einer Überwachung der sozialen Medien. Bezugnehmend auf Aussagen tamilischer Politiker, Politikerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten gehe man davon aus, dass sich zum Stand März 2021 in Sri Lanka rund 130 Personen in Haft befänden, denen unterstellt werde, früher für die LTTE gekämpft zu haben und denen Gewaltdelikte in Verbindung mit Terrorismus zur Last gelegt würden. Dementsprechend könnten Geldsendungen von der Diaspora nach Sri Lanka zugunsten von Kriegsopfern als Versuch gewertet werden, die LTTE wiederzubeleben. So könnten sowohl Diasporamitglieder, die Geld senden, als auch die Empfangenden in Sri Lanka in den Fokus der Sicherheitskräfte geraten und zu der finanziellen Unterstützung verhört werden. Die Teilnahme an Protesten im Ausland führe allein noch zu keinem besonderen Interesse der Behörden. Bei zusätzlichen Verbindungen zu verbotenen Organisationen könne sich das Risiko bei einer Rückkehr jedoch erhöhen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Vermutet wird im Länderbericht, dass die Behörden des Landes Mitglieder der tamilischen Diaspora, die nach Sri Lanka zurückkehren, je nach individuellem Risikoprofil überwachen könnten. Von besonderem Interesse könnten hierbei Personen sein, die Führungspositionen in tamilischen Diaspora-Gruppen innegehabt hätten (insbesondere in Gruppen, die nach Ansicht der Regierung radikale Ansichten vertreten), frühere LTTE-Angehörige, insbesondere (aber nicht notwendigerweise) diejenigen, die in hochrangigen Positionen tätig gewesen seien, Personen die verdächtigt würden, während des Krieges Geld für die LTTE gesammelt zu haben, sowie diejenigen, die aktiv für einen unabhängigen tamilischen Staat einträten. Mit einem fortbestehenden Interesse der Sicherheitsbehörden an ihrer Person müssten jedoch nur diejenigen rechnen, gegen die zusätzlich ein Strafverfahren offen sei. Angaben des UNHCR zu folge bestehe ausschließlich für hochrangige LTTE-Angehörige das Risiko, bei einer Rückkehr am Flughafen weiter befragt zu werden. Dies bedeute jedoch nicht notwendigerweise, dass diese Personen auch inhaftiert würden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Nicht zu erwarten dürfte sein, dass aus dem Ausland zurückkehrende LTTE-Mitglieder (vermutet wird eine im Ausland lebenden Zahl von zwischen 4.000 und 6.000 ehemaligen LTTE-Angehörigen) einem sog. Rehabilitierungsprozess unterzogen werden, den offenbar die in Sri Lanka verbliebenden LTTE-Angehörigen bereits größtenteils durchlaufen haben. Wohl über 12.000 LTTE-Mitglieder hätten nach ihrer Kapitulation 2009 bis Ende 2019 in 24 Rehabilitationszentren der Regierung einen Rehabilitationsprozess durchlaufen (einschließlich Kindersoldaten). Der Rehabilitierungsprozess sei i. d. R. ein einjähriges Programm (bis zu zwei Jahre für Personen, die als „highly radical“ eingestuft würden). Für die ersten sechs Monate liege der Schwerpunkt auf einer „Rehabilitation des geistigen und körperlichen Zustands“ (inkl. Bildung, Sport, spirituelles, religiöses und mentales Training). Die anschließenden sechs Monate umfassten berufliche Ausbildungsprogramme, u. a. Schweißen, Schneider-, Maurer-, Klempnergewerbe für Männer, Kochen, Schneidereigewerbe für Frauen, Computerkenntnisse und singhalesische Sprachkurse für beide Geschlechter. Zum Stand November 2019 sei nur noch ein Rehabilitationszentrum für frühere LTTE-Mitglieder in Betrieb gewesen, in dem sich lediglich ein ehemaliges LTTE-Mitglied im Rehabilitationsprozess befunden habe (Poonthottam Rehabilitation Centre in Vavuniya in der Nordprovinz). Auch das UK Upper Tribunal hält es für ausgeschlossen, dass Rückkehrer heute noch einem Rehabilitierungsprozess unterzogen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Eine teils abweichende Lagebeurteilung findet sich im Bericht des Immigration and Refugee Board of Canada (IRB) „Sri Lanka: Situation and treatment of returnees, including failed asylum seekers (2020-March 2022)“ vom 02.05.2022 insoweit, als das sog. „Research Directorate“ der kanadischen Behörde ein Interview mit einem nicht namentlich genannten Professor einer amerikanischen Universität durchgeführt hat, der generell von realen Foltergefahren auch für untergeordnete Unterstützer der LTTE ausgeht und auch für abgelehnte Asylbewerber wohl annimmt, dass diese bei der Einreise zumindest erhebliche Diskriminierungen zu erleiden hätten. Der Senat hält diese nicht näher belegten und vom Immigration and Refugee Board of Canada auch nicht kommentierten oder bewerteten (sondern lediglich wiedergegebenen) Einschätzungen für nicht überzeugend. Zitiert wird in dem Bericht des IRB außerdem eine Passage aus der Befragung eines der Gutachter in dem oben genannten Verfahren des UK Upper Tribunal, in der es heißt, jede Person mit einem Eintrag in den Datenbanken der sri-lankischen Sicherheitsbehörden werde am Flughafen in Haft genommen; das UK Upper Tribunal hat dies freilich - aus Sicht des Senats zutreffend - in dieser Pauschalität nicht für überzeugend gehalten. Schon angesichts des Umstandes, dass offenbar alle Länder der Europäischen Union abgelehnte Asylbewerber nach Sri Lanka abschieben, ohne dass Verfolgungen durch die Sicherheitskräfte in nennenswerter Zahl bekannt werden, spricht angesichts der allgemein guten Erkenntnislage hinsichtlich Sri Lanka dafür, dass Verfolgungen von abgelehnten tamilischen Asylbewerbern jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass sich die Lage für Rückkehrer durch die gegenwärtige akute Staatskrise generell verschärft haben könnte. In der aktuellen, sehr umfangreichen Medienberichterstattung, die der Senat auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat der Senat keine entsprechenden Hinweise finden können; die tamilische Minderheit, die von den (singhalesisch-buddhistisch dominierten) Protestteilnehmern in Colombo zur Teilnahme an den Protesten aufgerufen wurde, hat sich bislang aus der Staatskrise offenbar weitestgehend herausgehalten (vgl. etwa: The Guardian, ‘We want justice, not fuel’: Sri Lanka’s Tamils on north-south divide, 22.06.2022, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2022/jun/22/sri-lanka-tamils-protests-economic-crisis). Wie relevant die aktuellen politischen Entwicklungen für die Lage von Tamilen mittelfristig sein werden, lässt sich freilich noch nicht absehen. Bekannt ist, dass sich die Menschenrechtslage in Sri Lanka nach allgemeiner Beobachtung mit dem Amtsantritt von Präsident Gotabaya Rajapaksa im November 2019 in vielfältiger Hinsicht verschlechtert hatte bzw. unter der Vorgängerregierung zumindest beabsichtigte Verbesserungen der Lage nicht mehr weiterverfolgt worden waren (insb. nationalistischer Wahlkampf des - zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gerade abgesetzten - langjährigen Präsidenten Gotabaya Rajapaksa; Beendigung der bisherigen Versöhnungsrhetorik nach Amtsantritt; Zwanzigste Verfassungsänderung mit Stärkung der Macht des Präsidenten; öffentlichkeitswirksame Begnadigung eines wegen Tötung von Zivilisten verurteilten Soldaten; Ankündigung, keine Bestrafung von „Kriegshelden“ zu erlauben; Fortbestand der weitgehenden Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Sicherheitsbehörden; „endemische“ Anwendung von Folter; Fortbestand des Prevention of Terrorism Act und dessen Einsatz gegen Islamisten seit den Osteranschlägen 2019 mit 212 im Jahr 2020 und 109 Festnahmen auf Grundlage dieses Gesetzes im Jahr 2021; teilweise Erschwernisse für bzw. Einschüchterungen von Civil Rights Groups und unabhängigen staatlichen Institutionen wie des „Office of Missing Persons“ (OMP) und des „Office for Reparations“ (OFR); Ende der Kooperation mit der 2015 vom Menschenrechtsrat (MR-Rat) der Vereinten Nationen (UN) im Konsens beschlossene Resolution 30/1 über die Aufklärung mutmaßlicher Kriegsverbrechen im sri-lankischen Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung; Abriss eines Denkmals an die zivilen tamilischen Opfer des Bürgerkrieges auf dem Gelände der Universität von Jaffna im Januar 2021; massiver Personalwechsel in Ministerien und bei staatlichen Medien; vgl. zuletzt Human Rights Watch, „In a Legal Black Hole“ - Sri Lanka's Failure to Reform the Prevention of Terrorism Act, 07.02.2022; US Department of State, 2021 Country Report on Human Rights Practices: Sri Lanka, 12.04.2022; Bertelsmann Stiftung, 2022, Country Report Sri Lanka, 23.02.2022; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sri Lanka, Lage tamilischer Rückkehrer, 01.03.2021). Die seit dem Amtsantritt von (Ex-)Präsident Rajapaksa verschlechterte Menschenrechtslage hatte auch dazu geführt, dass die aktuellsten Lageberichte möglicherweise in Teilen etwas weniger aussagekräftig als in der Vergangenheit sind. So heißt es etwa in dem genannten Human Rights Watch Bericht vom 07.02.2022, es sei zunehmend schwierig, die Gründe für die Inhaftierung von Personen unter dem Prevention of Terrorism Act zu verifizieren, weil Nachfragen bei der Polizei oft nicht mehr beantwortet würden. Anhaltspunkte dafür, dass die geschilderte Verschlechterung der Menschenrechtslage bis zur Absetzung des Präsidenten Rajapaksa im Juli 2022 so gravierend gewesen sein könnte, dass (ggf. zeitweise) eine Gruppenverfolgung von Tamilinnen und Tamilen zu bejahen gewesen sein könnte, sind freilich nicht ersichtlich; auch der Kläger hat hierzu nichts vorgetragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>In welche Richtung die Entwicklungen nun - nach der Absetzung des Präsidenten Rajapaksa und der zumindest teilweisen Entmachtung des Rajapaksa-Clans - gehen werden, ist unklar. Es erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich die Dinge unter einer neuen Regierung eher wieder zum Besseren entwickeln könnten. Hierfür könnte insbesondere sprechen, dass eine neue Regierung internationalem Druck ausgesetzt sein dürfte, die zuletzt zu beobachtenden Verschlechterungen der Menschenrechtslage wieder zu beheben. Schon die alte Regierung hatte im Januar 2021 in einer gemeinsamen Stellungnahme mit der Europäischen Union versprochen, den Prevention of Terrorism Act so zu ändern, dass er mit internationalen Menschenrechtsstandards vereinbar sei; gleichwohl war aber im Februar 2021 eine Liste mit hunderten von der Regierung als Terroristen eingestuften Personen veröffentlicht worden, auf der auch zahlreiche Mitglieder der tamilischen Diaspora aufgeführt waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Am 09.12.2021 hatten zudem sieben „special rapporteurs“ der UN einen gemeinsamen Bericht veröffentlicht, der fünf Voraussetzungen formuliert, die erfüllt sein müssen, um den Prevention of Terrorism Act an internationale Standards anzupassen (https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=26863). Hierauf reagierend hatte wiederum Sri Lanka im Januar 2022 eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht, die allerdings von Beobachtern allgemein als unzureichend angesehen worden war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Der gegenwärtig drohende Staatsbankrott von Sri Lanka dürfte den internationalen Druck nochmals steigern; insbesondere ist (nach langer Ablehnung) der Internationale Währungsfond in den letzten Wochen um Hilfe gerufen worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>c) Gemessen hieran ist nicht zu erwarten, dass der Kläger im Rahmen seiner Rückkehr nach Sri Lanka Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt sein wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Nachdem der Senat dem Vorbringen des Klägers keinen Glauben geschenkt hat, käme eine Gefährdung des Klägers lediglich in Form einer Verfolgung als Teil der Gruppe der aus dem Ausland nach einer erfolglosen Asylantragstellung zurückkehrenden Tamilen in Betracht, ggf. in Verbindung mit weiteren gefahrerhöhenden Umständen in seiner Person wie etwaigen Kontakten zur tamilischen Diaspora oder aufgrund familiärer Verbindungen im Heimatland. Belastbare Erkenntnisse darüber, dass tamilische Rückkehrer generell wegen ihres Aufenthalts im Ausland oder wegen eines erfolglos durchlaufenen Asylverfahrens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeiten Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, bestehen nach dem oben Ausgeführten nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Hinsichtlich der Person des Klägers sind - jenseits des nicht glaubhaften Verfolgungsvorbringens - auch keine sonstigen gefahrerhöhenden Umstände vorgetragen oder ersichtlich. Insbesondere hat der Kläger auf entsprechende Nachfrage des Senats berichtet, keinen Kontakt zur exilpolitischen Bewegung zu haben; nur zwei Mal habe er anlässlich tamilischer Jahresveranstaltungen (einmal des Großheldengedenktags), zuletzt im Januar 2021, jeweils 50,-- EUR gespendet. Auch spricht nichts dafür, dass der Kläger aufgrund familiärer Verbindungen das Interesse des Sicherheitsapparats wecken könnte. Den Vortrag von der Verhaftung des Klägers zusammen mit seinem Bruder hat der Senat für nicht glaubhaft erachtet. Die übrige Familie des Klägers wohnt nach seinen Angaben unbehelligt in ihrem Heimatort. Dem Senat liegen dementsprechend auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger in einer Datenbank der sri-lankischen Sicherheitskräfte, so wie sie vom UK Upper Tribunal in seiner Entscheidung geschildert wird, auf die eine oder andere Weise geführt wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>II. Auch eine Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) kommt nicht in Betracht, weil der Kläger keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG droht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Nach den oben im Rahmen der Prüfung des Flüchtlingsschutzes getroffenen Feststellungen droht dem Kläger weder die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der gegenwärtig schwierigen humanitären Situation in Sri Lanka in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen (für die schlechte humanitäre Situation in Sri Lanka verantwortlichen) Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c AsylG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die in Sri Lanka bestehende allgemein schwierige Wirtschafts- und Versorgungslage hat vielfältige Ursachen, wird aber nicht zielgerichtet vom sri-lankischen Staat, von herrschenden Parteien oder Organisationen oder von nichtstaatlichen Dritten herbeigeführt. Sie ist insbesondere bedingt durch die negativen Folgen der Corona-Pandemie (insb. für den Tourismussektor, einer der Haupteinnahmequellen in Sri Lanka), durch eine seit langer Zeit zu expansive Schuldenpolitik und zuletzt durch die insbesondere durch den Ukraine-Krieg verursachten erheblichen Preissteigerungen für wichtige Importgüter wie Treibstoff (vgl. näher unter A. III. 2 a). Soweit auch eine schlechte Regierungsführung einen Anteil an der gegenwärtigen Lage hat (insbesondere durch Fehlentscheidungen wie das Verbot der Einführung von chemischen Düngern im April 2021), ist nichts dafür ersichtlich, dass die Regierung das Land willentlich bzw. zielgerichtet „heruntergewirtschaftet“ hat (vgl. etwa - The Guardian, ‘The family took over’: how a feuding ruling dynasty drove Sri Lanka to ruin, 07.07.2022, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2022/jul/07/the-family-took-over-how-a-feuding-ruling-dynasty-drove-sri-lanka-to-ruin).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen ebenfalls nicht vor. In Sri Lanka herrscht derzeit kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, bei dem der Kläger zu Schaden kommen könnte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>III. Der Kläger hat auch keinen Anspruch die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Gerade in seiner Person liegende, mit einer Abschiebung nach Sri Lanka verbundene Gefahren (etwa ein Angewiesensein auf in Sri Lanka nicht erhältliche Medikamente) hat der Kläger nicht geltend gemacht. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots kommt auch nicht im Hinblick auf die gegenwärtige schwierige humanitäre Lage in Sri Lanka in Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. In ganz außergewöhnlichen Fällen bzw. bei ganz außergewöhnlichen Umständen können auch schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen, wenn humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen (vgl. hierzu zum Folgenden m. w. N. zuletzt BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - juris Rn. 15 ff.). Dies ist nicht bereits dann der Fall, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Fall einer Abschiebung die Befriedigung der elementarsten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Drittstaatsangehörige seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält und er dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist (auch im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“), oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist dabei grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen; nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>2. Hinsichtlich des Klägers lässt sich nicht im oben genannten Sinne feststellen, dass er bei einer Rückkehr nach Sri Lanka mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, seine elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>a) Die sri-lankische Wirtschaft hatte sich nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2009 bis zum Beginn der Corona-Pandemie rund zehn Jahre lang (mit zum Ende der Periode eher abnehmender Tendenz) positiv entwickelt. Die Weltbank stufte das Land 2019 als „upper middle-income country“ ein. Die Arbeitslosenquote lag zuletzt bei 4,4 Prozent. Im Human Development Index des United Nations Development Programme (UNDP) rangierte das Land auf Platz 76 von 189 Ländern; dem höchsten Rang aller südasiatischen Länder. Die Armutsrate im Land war relativ niedrig, extreme Armut selten (vgl. im Einzelnen etwa Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Australien, Country Information Report Sri Lanka, 04.11.2019; BFA, Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sri Lanka, Fassung vom 15.02.2019).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Seit dem Jahr 2020 verlor die Wirtschaft in Sri Lanka deutlich an Dynamik, bedingt insbesondere durch die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den (allerdings bereits durch die Oster-Attentate 2019 beeinträchtigten) Tourismus-Sektor und andere Wirtschaftsbereiche (z. B. die Textilindustrie), wobei der Staat mit einer Reihe von Programmen die sozialen Auswirkungen der Verschlechterung der Wirtschaftslage abzumildern versuchte. Im Jahr 2020 stufte die Weltbank das Land nunmehr als „lower middle-income country“ ein. Ein im April 2021 erlassenes Verbot der Nutzung chemischer Dünger hatte nachteiligen Einfluss auf den Agrarsektor, sowohl was die Versorgung der eigenen Bevölkerung, als auch was den Export von Agrarprodukten (insb. Tee) anbelangte. Im Jahr 2021 begann sich zudem deutlich eine zunehmend angespannte Lage der öffentlichen Finanzen abzuzeichnen (vgl. Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Australien, Country Information Report Sri Lanka, 23.12.2021; BFA, Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sri Lanka, Fassung vom 07.07.2021; Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report Sri Lanka, 23.02.2022).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat stellt sich die sozio-ökonomische Lage in Sri Lanka insbesondere angesichts einer sich (nicht zuletzt bedingt durch Preissteigerungen bei wichtigen Importgütern wie Rohöl im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg) dynamisch entwickelnden Staatsschuldenkrise als sehr angespannt dar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>So heißt es in dem Report „Humanitarian needs and priorities: Food security crisis“ des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) vom 09.06.2022, Sri Lanka erlebe im Moment die schlimmste ökonomische Krise seit seiner Unabhängigkeit. Herausfordernd seien die öffentlichen Finanzen und die Staatsverschuldung ebenso wie die Verfügbarkeit und Finanzierbarkeit von Nahrungsmitteln, Treibstoff, Dünger und Medikamenten. Derzeit seien deswegen rund 5,7 Millionen Frauen, Männer, Jungen und Mädchen dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Besondere Sorge mache eine sich entfaltende multidimensionale Krise der Lebensmittelsicherheit. Angesichts der Preissteigerungen für Lebensmitteln um 73 Prozent in den letzten zwei Jahren müssten bereits jetzt bis zu 70 Prozent der Haushalte ihren Lebensmittelkonsum einschränken und würden teilweise Mahlzeiten ausfallen lassen. Die Krise beinträchtige vor allem kleinere Unternehmen und damit vor allem Frauen und Tageslohnarbeiter. Viele Haushalte müssten sich deswegen Geld leihen oder Eigentum verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Auch Kinder seien von der Krise besonders betroffen. Von den genannten 5,7 Millionen auf Unterstützung angewiesenen Personen seien im Rahmen eines u. a. von der UN getragenen „Humanitarian Needs and Priorities (HNP)-Plans die rund 1,7 Millionen am stärksten gefährdeten Personen bereits versorgt. Zur Abwendung der sich entwickelnden humanitären Krise hätten die UN und humanitäre Partner die internationale Gemeinschaft zum Spenden aufgerufen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Ebenfalls im Juni 2022 teilte der damalige Premierminister (und jetzige Staatspräsident) Ranil Wickremesinghe dem Parlament mit, die Wirtschaft sei komplett zusammengebrochen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Allerdings bestehen Anhaltspunkte dafür, dass Sri Lanka kurz- oder mittelfristig internationale Hilfe erhalten könnte. So hat beispielsweise auf Einladung der Regierung eine Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF) Sri Lanka vom 20. bis 30.06.2022 besucht, um angesichts der sich wohl auf 51 Milliarden Dollar belaufenden (zu einem großen Teil gegenüber China bestehenden) Auslandsschulden Sri Lankas ein Rettungsprogramm vorzubereiten. Auch weitere internationale Partner sind um Hilfe bemüht, wie insbesondere die Vereinten Nationen und auch das große Nachbarland Indien, das ein vitales strategisches Eigeninteresse an einem stabilen Sri Lanka hat und die gegenwärtige Krise wohl als Chance begreift, seine Position dort im Verhältnis zu dem in den letzten Jahren deutlich an Einfluss gewonnenen China zu stärken (vgl. etwa The Diplomat, India strengthens its position in Sri Lanka Vis-à-Vis rival China, 25.06.2022, abrufbar unter https://thediplomat.com/2022/06/india-strengthens-its-position-in-sri-lanka-vis-a-vis-rival-china/; BBC, Sri Lanka: Is India gaining over China in crisis-hit island nation?, 20.07.2022, abrufbar unter https://www.bbc.com/news/world-asia-india-62218050).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Hinsichtlich der wirtschaftliche Situation von Rückkehrern nach Sri Lanka lässt sich dem „Länderreport Sri Lanka“ des Bundesamts vom 01.08.2021 entnehmen, dass es von staatlicher Seite keine Grundversorgung für Rückkehrende gebe. Diese seien nach der Rückkehr auf sich allein gestellt, bzw. von der Unterstützung durch Familienmitglieder oder Bekannte abhängig. Ohne diese Form der Unterstützung sei es für Rückkehrende schwierig, zeitnah wirtschaftlich und sozial wieder in Sri Lanka Fuß zu fassen. Im Fall einer Rückkehr gebe es allerdings Rückkehr- und Starthilfen sowie Beratung im Rahmen von REAG/GARP (Übernahme der Reisekosten, Reisebeihilfe, finanzielle Starthilfe) und StarthilfePlus (finanzielle Starthilfe sechs bis acht Monate nach Rückkehr). Zudem könne eine Unterstützung über das europäische Reintegrationsprogramm ERRIN beantragt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>b) Nach alledem ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, im Fall einer Rückkehr nach Sri Lanka sein Existenzminium zu sichern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Die Erkenntnismittel geben nichts dafür her, dass (ggf. nach einem erfolglosen Asylverfahren) aus dem Ausland nach Sri Lanka zurückkehrende tamilische Volkszugehörige generell, das heißt unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls (insbesondere dem Geschlecht, dem Alter, dem Gesundheitszustand, den Unterhaltspflichten, der Ausbildung, dem Vermögen und den sozialen Beziehungen des jeweiligen Rückkehrers), nicht in der Lage sein könnten, ihr Existenzminimum zu sichern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Bei dem Kläger handelt es um einen arbeitsfähigen jungen Mann ohne Unterhaltspflichten mit einem guten Bildungsabschluss (Abitur), der auch vor seiner Ausreise aus Sri Lanka - nach seinen Angaben parallel zum Schulbesuch - als Rikscha-Fahrer berufstätig war. Auch in Deutschland ist der Kläger nach seinen Angaben berufstätig und arbeitet seit Februar 2017 ganztags in einem Restaurant und daneben im Rahmen eines Minijobs in einem weiteren Restaurant. Soweit er im Laufe des Verfahrens gesundheitliche Probleme in Form der (durch ein orthopädisches Attest vom 27.09.2017 nachgewiesenen) in Fehlstellung verheilten Unterarmfraktur mit deutlichen Bewegungseinschränkungen und einer (in Stellungnahmen eines Vereins zur Unterstützung traumatisierter Migranten e.V. vom 28.02.2017 und der Psychologischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V. vom 08.04.2020 diagnostizierten) posttraumatischen Belastungsstörung bzw. einer leichten depressiven Episode geltend machte, ist nichts dafür vortragen oder ersichtlich, dass diese (derzeit auch in Deutschland nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht behandelten) Leiden bei einer Rückkehr ins Heimatland behandlungsbedürftig wären oder die Arbeitsfähigkeit des Klägers mehr als nur unwesentlich beeinträchtigen könnten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der Kläger verfügt zudem nach seinen Angaben über familiäre Verbindungen in Sri Lanka bzw. in seiner Heimatregion. Neben seinen Eltern leben dort auch noch eine ältere Schwester und ein älterer Bruder sowie weitere Familienangehörige wie eine Schwester seiner Mutter. Beide Geschwister leben bei den Eltern. Die wirtschaftliche Situation der Familie schilderte der Kläger in der mündlichen Verhandlung als „einigermaßen okay“. Sollte der Kläger tatsächlich, wie von ihm in der mündlichen Verhandlung behauptet, alle zwei Monate regelmäßig rund 900,-- EUR an die Familie überweisen, dürfte sich deren wirtschaftliche Lage im Fall einer Abschiebung des Klägers zwar verschlechtern. Anhaltspunkte dafür, dass die Familie bedingt durch die ausbleibenden Geldzahlungen des Klägers nicht mehr in der Lage sein könnte, den Kläger (insbesondere durch die Gewährung einer Unterkunft) zumindest teilweise zu unterstützen, sind freilich nicht ersichtlich. Die Angaben des Klägers zur ökonomischen Situation der Familie im Heimatland hinterließen vielmehr ebenfalls einen wenig verlässlichen Eindruck. So begründete der Kläger am Beginn seiner Befragung durch den Senat die auskömmliche wirtschaftliche Situation seiner Familie im Heimatland damit, dass sein dort befindlicher Bruder bis zur aktuellen Treibstoffknappheit ein Auto gefahren habe und damit etwas Geld zurücklegen habe können. Später hieß es demgegenüber, der Bruder habe „eine Wachstumsstörung“, könne „deswegen nicht viel machen“ und könne auch „nicht richtig denken“. Er sei nicht der Hauptverdiener der Familie; er könne nur zum Beispiel seine Mutter ins Krankenhaus bringen, viel mehr aber nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Dafür, dass der Kläger in der Lage sein wird, im Fall einer Rückkehr sein Existenzminimum zu sichern spricht zudem, dass angesichts seiner insgesamt zurückgezogenen Lebensführung und seiner in Deutschland bereits seit über fünf Jahren ausgeübten Berufstätigkeit anzunehmen ist, dass er über gewisse Ersparnisse verfügt. Hinzu kommt, dass er sich um die Zahlung von Rückkehrhilfen bemühen kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>A. Dem Kläger steht keiner der geltend gemachten Ansprüche zu. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen; der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furch nicht zurückkehren will.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 m. w. N. und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32; Beschluss vom 15.08.2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. 02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 m. w. N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19 Rn. 37).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG). Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. Dörig, Asylum Qualification Directive 2011/95/EU, Art. 4 Rn. 30, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016). Liegen beim Ausländer frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht vor erneuter Verfolgung im Falle der Rückkehr in sein Heimatland vor, so kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zugute. Die den früheren Handlungen oder Bedrohungen zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - C-175/08 u.a., Abdullah u.a./Bundesrepublik Deutschland - NVwZ 2010, 505 Rn. 94). Fehlt es an einer entsprechenden Verknüpfung, so greift die Beweiserleichterung nicht ein. Die widerlegliche Vermutung entlastet den Vorverfolgten von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Sie ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 -10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 23; Senatsurteil vom 05.10.2016 - A 10 S 332/12 - juris Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>2. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger im oben genannten Sinne vorverfolgt ausgereist ist bzw. ihm im Fall seiner Rückkehr nach Sri Lanka eine Verfolgung droht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Die Gründe für seine Verfolgungsfurcht hat der Asylsuchende im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO, §§ 15 und 25 Abs. 1 AsylG vorzutragen. Die Glaubhaftmachung der Asylgründe setzt eine schlüssige, nachprüfbare Darlegung voraus. Der Schutzsuchende muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung (politische) Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Jedenfalls in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen unter anderem Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden (stRspr, vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.07.2022 - A 13 S 733/21 - juris 41; Hamburgisches OVG, Urteil vom 27.10.2021 - 4 Bf 106/20.A - juris Rn. 38 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>a) Der Senat vermochte den Schilderungen des Klägers von seiner angeblich im Heimatland erlittenen Verfolgung und seinen Teilnahmen an Demonstrationen insgesamt keinen Glauben zu schenken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>So wies die Schilderung seiner Verhaftung, seiner vorgeblichen Misshandlung durch sri-lankische Sicherheitskräfte und seiner Flucht zahlreiche Unstimmigkeiten auf und vermittelte insgesamt einen konstruierten Eindruck. Auffällig war dabei insbesondere die abweichende Schilderung einer Schlüsselstelle der Erzählung, die nicht den Eindruck der Wiedergabe eines real erlebten Ereignisses machte: Nach den Angaben des Klägers wurde er gemeinsam mit seinem älteren Bruder verhaftet und sodann von diesem bei der Ankunft in der Hafteinrichtung getrennt; danach habe er seinen Bruder nie wiedergesehen. Die letzten Worte, die der Bruder zum Kläger gesagt haben soll, wurden von diesem deutlich abweichend wiedergegeben. So gab der Kläger gegenüber dem Verwaltungsgericht an, sein Bruder habe zu ihm gesagt, er solle tapfer sein. Gegenüber dem Senat hieß es demgegenüber, der Bruder habe gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. Dem Senat erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass die Erinnerung des Klägers, der einen intelligenten Eindruck macht und in Sri Lanka nach seinen Angaben das Abitur gemacht haben will, an diesen Teil des Kerngeschehens des ihm (angeblich) angetanen Leids derart unzuverlässig sein könnte; immerhin bringt die zuerst genannte Fassung der letzten Worte zum Ausdruck, der Kläger müsse sich auf Unheil gefasst machen, die zweitgenannte Fassung im Gegenteil, weder ihm noch dem Bruder drohe Unheil.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Für die fehlende Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Klägers spricht zudem die Inkonsistenz der Schilderungen eines weiteren zentralen Handlungselements in Gestalt der Umstände, unter denen ein Freund des Bruders, Ranjit, im Rahmen der vorgeblichen Vernehmung auf der Polizeistation in Erscheinung getreten sein soll. Während es in der Anhörung beim Bundesamt und gegenüber dem Senat jeweils hieß, er - der Kläger - habe zunächst in einem Verhörraum zwei bis drei Stunden warten müssen, sei dann befragt worden und dann sei Ranjit in den Raum geführt worden, berichtete der Kläger gegenüber dem Verwaltungsgericht, Ranjit sei erst nach der zweiten Befragung am zweiten Tag seiner Haft in den Verhörraum gekommen. Auffällig ist zudem, dass der Kläger beim Bundesamt erzählte, am Tag der Festnahme von ihm selbst und seinem Bruder habe Ranjit bereits im Fahrzeug des CID-Leute gesessen. Gegenüber dem Verwaltungsgericht und dem Verwaltungsgerichtshof war hiervon nicht die Rede; gegenüber dem Verwaltungsgerichtshof hieß es lediglich, er habe am Tag der Festnahme Ranjit auf dem Weg gesehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Auch die vom Kläger hinsichtlich seiner Flucht vorgetragenen Umstände waren nicht schlüssig und wirkten insgesamt konstruiert. Nach der Schilderung des Klägers soll ein in der Hafteinrichtung tätiger Tamile ihm mitgeteilt habe, er könne durch eine Lösegeldzahlung freikommen, wenn er nicht mehr in der Hafteinrichtung sei, sondern in ein Krankenhaus gebracht würde. Just danach soll er dann so schwer misshandelt worden sein, dass ihm der Arm gebrochen worden sei. Er habe durch Klagen erreichen können, in ein Krankenhaus gebracht zu werden, wobei die Fahrt durch den erwähnten Tamilen erfolgt sei. Wenig lebensnah war dabei insbesondere, dass eben dieser Tamile den Kläger allein, also ohne Begleitpersonal, aus der Hafteinrichtung herausbringen durfte, dieser offenbar ohne Befürchtung für die eigene Person den Kläger unterwegs schlicht laufen ließ und außerdem zu diesem Zeitpunkt trotz der Unvorhersehbarkeit des Krankentransports offenbar bereits die Lösegeldzahlung durch einen wohlhabenden Onkel des Klägers organisiert war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Schilderung der sich hieran anschließenden Behandlung des Arms wies wiederum gravierende Widersprüche auf. So gab der Kläger beim Bundesamt an, er sei in eine Privatklinik gefahren worden. Gegenüber dem Verwaltungsgericht hieß es dann, er habe nicht in ein Krankenhaus, sondern lediglich zu einem „lokalen Heiler“ gebracht werden können. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gab der Kläger schließlich an, von einem „Landarzt“ behandelt worden zu sein. Angesichts der bis heute bestehenden Fehlstellung des Arms durch einen (vermutlich bei anderer Gelegenheit erlittenen) Bruch, was die Behandlung desselben zu einem für die Person des Klägers nachhaltig prägenden Ereignis gemacht haben dürfte, erscheint es nicht glaubhaft, dass der Kläger sich an die Umstände der Behandlung nicht konsistent erinnert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Nachdem der Senat dementsprechend davon ausgeht, dass der Kläger die von ihm geltend gemachte Verhaftung und Misshandlung erfunden hat, sieht er dessen Glaubwürdigkeit insgesamt als erschüttert an. Schon aus diesem Grund vermag der Senat nicht positiv festzustellen, dass die vom Kläger geschilderten Teilnahmen an Demonstrationen - die zudem ihrerseits konstruiert wirkten - sich so wie beschrieben ereignet haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Ohne dass es für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers (insbesondere der geltend gemachten Vorverfolgung) hierauf noch ankäme, spricht nach Überzeugung des Senats viel dafür, dass der Kläger auch im Übrigen nicht die Wahrheit gesagt hat, beispielsweise was seine angebliche Ausreise über den Flughafen von Colombo mit gefälschten Papieren anbelangt. Hierfür sprechen insbesondere die widersprüchlichen Angaben des Klägers zu seinem Geburtsdatum. Ausweislich der Bundesamtsakte hat der Kläger bei seiner Registrierung angegeben, am 18.05.1994 geboren worden zu sein. Im Rahmen seiner Anhörung hat er diese Angabe korrigiert; richtig sei der 20.05.1995. Die vom Kläger sodann auf Aufforderung des Bundesamts vorgelegte Kopie einer Geburtsurkunde nennt als Geburtsdatum allerdings den 21.05.1994. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hat das Bundesamt zudem einen anonymen Hinweis vorgelegt, demzufolge der Kläger eigentlich Prasanna Thiyakarahjah heiße und am 20.05.1994 geboren worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>b) Auch sonst spricht nichts dafür, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr eine Verfolgung durch einen der Verfolgungsakteure des § 3c AsylG befürchten müsste. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass aus dem Ausland nach Sri Lanka zurückkehrende tamilische Staatsbürger generell wegen ihres Auslandsaufenthalts oder wegen einer Asylantragstellung im Ausland Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die Erkenntnismittellage hinsichtlich Sri Lanka ist schon angesichts der vielen dort aktiven internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und der intensiven Berichterstattung internationaler, insbesondere englischsprachiger (durch örtliche Korrespondenten vertretene) Medien im Wesentlichen gut und vermittelt ein differenziertes, größtenteils einheitliches Lagebild, insbesondere auch was die Situation von aus dem Ausland - insbesondere nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens - nach Sri Lanka zurückkehrende Tamilinnen und Tamilen anbelangt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Besonders hervorzuheben ist dabei eine jüngere Entscheidung des UK Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) vom 27.05.2021 - PA/09978/2016, PA/13288/2018 - (abrufbar unter https://www.doughtystreet.co.uk/sites/default/files/media/document/KK%20%26%20RS%20%28Sri%20Lanka%2 9.pdf), die auf der Grundlage einer umfassenden Auswertung der zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Erkenntnismittel und einer ausführlichen Sachverständigenbefragung den Versuch einer Systematisierung der Gefahrenlage nach Risikogruppen unternimmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Das UK Upper Tribunal geht - stark zusammengefasst - von folgender Sachlage aus (vgl. die sog. Country Guidance Rn. 535 f.): Die gegenwärtige sri-lankische Regierung sowie die Sicherheitsbehörden nähmen an, dass es nach wie vor separatistische Bestrebungen der tamilischen Minderheit gäbe, die vor allem von der großen Zahl und den vielen Gruppen von Exil-Tamilen ausgehen bzw. von diesen unterstützt würden. Vor diesem Hintergrund betrieben die Sicherheitsbehörden intensive (insbesondere auch nachrichtendienstliche) Aufklärungsarbeit, um ein Lagebild von Exil-Aktivitäten zu erhalten. Allgemein werde davon ausgegangen, dass die Dienste über eine gute Informationslage verfügten. Die durch die Auslandsaufklärung erworbenen Informationen würden zusammen mit den im Inland erhobenen Daten in eine umfassende elektronische Datenbank eingespeist, die eine große Vielzahl von Namen enthalte und in der die gespeicherten Personen in drei Gefährdungsgruppen einsortiert seien. Dabei sei davon auszugehen, dass Einträge in die Datenbanken großzügig erfolgen (also auch bei einmaligen untergeordneten Aktivitäten wie Teilnahmen an Protesten oder Demonstrationen) und auch nicht mehr gelöscht, sondern dauerhaft gespeichert würden. Bei der Einreise nach Sri Lanka erfolge ein Abgleich von einreisenden Personen mit dem Bestand der Datenbank, an die sich dann - je nach Gefährdungsgruppe und den Umständen des Einzelfalls - ggf. unterschiedliche Folgemaßnahmen anschlössen. Soweit die Behandlung von Einreisenden am Flughafen in einer Verhaftung der Einreisenden münde, besteht nach dem UK Upper Tribunal die reale Gefahr, dass die Verhafteten Gewalt und auch Folter ausgesetzt sein werden. Eine Verhaftung erfolge stets bei Personen, die in der Datenbank auf der sog. Stop-Liste geführt würden. Hierbei handele es sich im Wesentlichen um Personen, die aufgrund von Strafverfahren oder Ermittlungsverfahren per Haftbefehl gesucht würden. Neben der Stop-Liste gebe es in der Datenbank eine sog. Beobachtungs-Liste. Personen auf dieser Liste würden am Flughafen lediglich befragt und könnten sodann weiter in ihre Heimatregion reisen, würden dort aber weiter beobachtet. Hierbei sei zu unterscheiden zwischen Personen, die von besonderem Interesse für die Sicherheitsbehörden seien und die deswegen nach ihrer Einreise vermutlich verhaftet würden (und mithin einem realen Folterrisiko ausgesetzt seien) und solchen Personen, die lediglich mit weiterer Beobachtung zu rechnen hätten. Eine Verhaftung drohe lediglich Personen, denen von den Sicherheitsbehörden eine „signifikante Rolle“ in den tamilischen Separationsbestrebungen zugeschrieben werde. Ob dies der Fall sei, bemesse sich anhand einer Betrachtung des Einzelfalls, wobei maßgeblich u. a. das Ausmaß von exilpolitischen Aktivitäten und der bislang in Sri Lanka registrierten Handlungen sowie relevante familiäre Verbindungen seien. Personen, die zwar in der Datenbank registriert seien, dort aber weder auf der Stop- noch der Beobachtungs-Liste geführt würden, hätten nach den Feststellungen des Upper Tribunal keine Verhaftung zu befürchten. Sie würden bei der Einreise zwar durch verschiedene Behörden (auch den CID) befragt, sodann aber ziehen gelassen. Begründet wird dies insbesondere damit, dass die Eingruppierung der in der Datenbank geführten Personen in die Stop- und Beobachtungsliste auf intensiven Aufklärungsmaßnahmen der Behörden beruhe und damit (aus Behördensicht) eine verlässliche Einschätzung der von einer einreisenden Person ausgehenden Gefahren zulasse. Außerdem würden die Sicherheitsbehörden (zutreffend) davon ausgehen, dass einerseits oft (auch) wirtschaftliche Gründe eine Ausreise aus Sri Lanka motivierten und andererseits während des Bürgerkriegs die allermeisten Tamilen auf die eine oder andere Art zumindest untergeordnet unterstützend für die LTTE tätig geworden seien. Der Umstand, dass es sich bei der Regierung von Sri Lanka (zumindest in der Tendenz) um ein autoritäres Regime mit einer schlechten Menschenrechtsbilanz handele, bedeute nicht, dass das Regime nicht über differenzierte Filter zur Klärung der Erforderlichkeit einer Inhaftierung von Personen verfüge.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Ergiebig ist darüber hinaus insbesondere der „Länderreport Sri Lanka“ des Bundesamts vom 01.08.2021, der neben dem aktuellsten Lagebericht des Auswärtigen Amts (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Sri Lanka, Stand November 2020) auch die zum Zeitpunkt der Berichterstellung vorliegenden weiteren Erkenntnismittel von Regierungs- und Nichtregierungsorgansiationen auswertet. Der Länderreport bestätigt die Einschätzungen des UK Upper Tribunal im Wesentlichen. Er berichtet - zusammengefasst - davon, dass aus dem Ausland Zurückkehrende Vernehmungen durch die Immigrationsbehörde, das National Bureau of Investigation und das Criminal Investigation Department - CID - zu erwarten hätten. Dies sei insbesondere der Fall, wenn Einreisende (wie möglicherweise der Kläger im vorliegenden Fall) keinen sri-lankischen Reisepass vorlegen könnten, sondern nur ein von einer sri-lankischen Auslandsvertretung ausgestelltes Reisedokument zur einmaligen Rückkehr nach Sri Lanka (Identity Certificate Overseas Missions, ICOM, auch Emergency-Passport genannt) oder einen deutschen Reiseausweis für Ausländer hätten; dann würden sie einer Personenüberprüfung unterzogen und zu Identität, persönlichem Hintergrund und Reiseziel befragt. Die Sicherheitskräfte versuchten herauszufinden, ob eine Person Verbindungen zur LTTE gehabt habe. Die Dauer der Verhöre variiere und könne zwischen Stunden und mehreren Tagen liegen. Systematische Verhaftungen kämen nicht vor. Es lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass es bei diesen Befragungen zur Anwendung von Gewalt komme. Bekannt sei lediglich, dass es unter der früheren Regierung Mahinda Rajapaksas (also bis 2015) zu dokumentierten Verhaftungen und Folter von Rückkehrenden gekommen sei, die mutmaßlich im Ausland Spenden für die LTTE gesammelt hatten (vgl. auch Amnesty International, Mass deportations of Tamils from Germany, 29.03.2021). Auch Erkenntnisse über Fälle diskriminierender Behandlung von Einreisenden (auch bei Tamilen) lägen nicht vor, wobei bekannt sei, dass zumindest teilweise in Deutschland als Flüchtlinge anerkannte Personen regelmäßig problemlos zum Urlaub nach Sri Lanka reisen würden. Rückführungen / Abschiebungen seien nur über den Flughafen Colombo möglich. Alle EU-Staaten nähmen Abschiebungen nach Sri Lanka vor. Lediglich die Schweiz haben nach einem rechtlichen Vorfall mit sri-lankischen Behörden seit 12.12.2019 die Abschiebung nach Sri Lanka vorerst ausgesetzt. Besonderes Augenmerk dürften die Sicherheitsbehörden bei ihren Befragungen auf die Beschaffung von Informationen über die Auslandsdiaspora der Tamilen legen. Dem Länderreport zufolge gibt es in Westeuropa, Nordamerika und Australien eine große und gut vernetzte tamilische Diaspora. Über diese Netzwerke würden weiterhin Spendenbeiträge für die LTTE eingeworben. Verlautbarungen des sri-lankischen Verteidigungsministeriums deuteten dabei darauf hin, dass dort befürchtet werde, dass die tamilische Diaspora versuche, die LTTE wiederzubeleben, um zu erreichen, was die LTTE durch bewaffneten Kampf nicht habe erreichen können, dass im Sicherheitsapparat also offenbar die Abwehr von Bestrebungen der LTTE neben der seit dem Osterattentat 2019 im Vordergrund stehenden Bekämpfung des islamistischen Terrors noch eine relevante Rolle spiele. Weil die Regierung Sri Lankas davon ausgehe, dass Teile der tamilischen Diaspora sich weiterhin für einen unabhängigen tamilischen Staat einsetzten, würden die sri-lankischen Behörden nach wie vor die tamilische Diaspora im Ausland überwachen und systematisch Informationen über deren Aktivitäten sammeln (vgl. hierzu insbesondere den kanadischen Bericht vom 02.05.2022, der von „a new trend of mapping the extended family network of Tamils“ spricht). Auch komme es zu einer Überwachung der sozialen Medien. Bezugnehmend auf Aussagen tamilischer Politiker, Politikerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten gehe man davon aus, dass sich zum Stand März 2021 in Sri Lanka rund 130 Personen in Haft befänden, denen unterstellt werde, früher für die LTTE gekämpft zu haben und denen Gewaltdelikte in Verbindung mit Terrorismus zur Last gelegt würden. Dementsprechend könnten Geldsendungen von der Diaspora nach Sri Lanka zugunsten von Kriegsopfern als Versuch gewertet werden, die LTTE wiederzubeleben. So könnten sowohl Diasporamitglieder, die Geld senden, als auch die Empfangenden in Sri Lanka in den Fokus der Sicherheitskräfte geraten und zu der finanziellen Unterstützung verhört werden. Die Teilnahme an Protesten im Ausland führe allein noch zu keinem besonderen Interesse der Behörden. Bei zusätzlichen Verbindungen zu verbotenen Organisationen könne sich das Risiko bei einer Rückkehr jedoch erhöhen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Vermutet wird im Länderbericht, dass die Behörden des Landes Mitglieder der tamilischen Diaspora, die nach Sri Lanka zurückkehren, je nach individuellem Risikoprofil überwachen könnten. Von besonderem Interesse könnten hierbei Personen sein, die Führungspositionen in tamilischen Diaspora-Gruppen innegehabt hätten (insbesondere in Gruppen, die nach Ansicht der Regierung radikale Ansichten vertreten), frühere LTTE-Angehörige, insbesondere (aber nicht notwendigerweise) diejenigen, die in hochrangigen Positionen tätig gewesen seien, Personen die verdächtigt würden, während des Krieges Geld für die LTTE gesammelt zu haben, sowie diejenigen, die aktiv für einen unabhängigen tamilischen Staat einträten. Mit einem fortbestehenden Interesse der Sicherheitsbehörden an ihrer Person müssten jedoch nur diejenigen rechnen, gegen die zusätzlich ein Strafverfahren offen sei. Angaben des UNHCR zu folge bestehe ausschließlich für hochrangige LTTE-Angehörige das Risiko, bei einer Rückkehr am Flughafen weiter befragt zu werden. Dies bedeute jedoch nicht notwendigerweise, dass diese Personen auch inhaftiert würden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Nicht zu erwarten dürfte sein, dass aus dem Ausland zurückkehrende LTTE-Mitglieder (vermutet wird eine im Ausland lebenden Zahl von zwischen 4.000 und 6.000 ehemaligen LTTE-Angehörigen) einem sog. Rehabilitierungsprozess unterzogen werden, den offenbar die in Sri Lanka verbliebenden LTTE-Angehörigen bereits größtenteils durchlaufen haben. Wohl über 12.000 LTTE-Mitglieder hätten nach ihrer Kapitulation 2009 bis Ende 2019 in 24 Rehabilitationszentren der Regierung einen Rehabilitationsprozess durchlaufen (einschließlich Kindersoldaten). Der Rehabilitierungsprozess sei i. d. R. ein einjähriges Programm (bis zu zwei Jahre für Personen, die als „highly radical“ eingestuft würden). Für die ersten sechs Monate liege der Schwerpunkt auf einer „Rehabilitation des geistigen und körperlichen Zustands“ (inkl. Bildung, Sport, spirituelles, religiöses und mentales Training). Die anschließenden sechs Monate umfassten berufliche Ausbildungsprogramme, u. a. Schweißen, Schneider-, Maurer-, Klempnergewerbe für Männer, Kochen, Schneidereigewerbe für Frauen, Computerkenntnisse und singhalesische Sprachkurse für beide Geschlechter. Zum Stand November 2019 sei nur noch ein Rehabilitationszentrum für frühere LTTE-Mitglieder in Betrieb gewesen, in dem sich lediglich ein ehemaliges LTTE-Mitglied im Rehabilitationsprozess befunden habe (Poonthottam Rehabilitation Centre in Vavuniya in der Nordprovinz). Auch das UK Upper Tribunal hält es für ausgeschlossen, dass Rückkehrer heute noch einem Rehabilitierungsprozess unterzogen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Eine teils abweichende Lagebeurteilung findet sich im Bericht des Immigration and Refugee Board of Canada (IRB) „Sri Lanka: Situation and treatment of returnees, including failed asylum seekers (2020-March 2022)“ vom 02.05.2022 insoweit, als das sog. „Research Directorate“ der kanadischen Behörde ein Interview mit einem nicht namentlich genannten Professor einer amerikanischen Universität durchgeführt hat, der generell von realen Foltergefahren auch für untergeordnete Unterstützer der LTTE ausgeht und auch für abgelehnte Asylbewerber wohl annimmt, dass diese bei der Einreise zumindest erhebliche Diskriminierungen zu erleiden hätten. Der Senat hält diese nicht näher belegten und vom Immigration and Refugee Board of Canada auch nicht kommentierten oder bewerteten (sondern lediglich wiedergegebenen) Einschätzungen für nicht überzeugend. Zitiert wird in dem Bericht des IRB außerdem eine Passage aus der Befragung eines der Gutachter in dem oben genannten Verfahren des UK Upper Tribunal, in der es heißt, jede Person mit einem Eintrag in den Datenbanken der sri-lankischen Sicherheitsbehörden werde am Flughafen in Haft genommen; das UK Upper Tribunal hat dies freilich - aus Sicht des Senats zutreffend - in dieser Pauschalität nicht für überzeugend gehalten. Schon angesichts des Umstandes, dass offenbar alle Länder der Europäischen Union abgelehnte Asylbewerber nach Sri Lanka abschieben, ohne dass Verfolgungen durch die Sicherheitskräfte in nennenswerter Zahl bekannt werden, spricht angesichts der allgemein guten Erkenntnislage hinsichtlich Sri Lanka dafür, dass Verfolgungen von abgelehnten tamilischen Asylbewerbern jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass sich die Lage für Rückkehrer durch die gegenwärtige akute Staatskrise generell verschärft haben könnte. In der aktuellen, sehr umfangreichen Medienberichterstattung, die der Senat auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat der Senat keine entsprechenden Hinweise finden können; die tamilische Minderheit, die von den (singhalesisch-buddhistisch dominierten) Protestteilnehmern in Colombo zur Teilnahme an den Protesten aufgerufen wurde, hat sich bislang aus der Staatskrise offenbar weitestgehend herausgehalten (vgl. etwa: The Guardian, ‘We want justice, not fuel’: Sri Lanka’s Tamils on north-south divide, 22.06.2022, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2022/jun/22/sri-lanka-tamils-protests-economic-crisis). Wie relevant die aktuellen politischen Entwicklungen für die Lage von Tamilen mittelfristig sein werden, lässt sich freilich noch nicht absehen. Bekannt ist, dass sich die Menschenrechtslage in Sri Lanka nach allgemeiner Beobachtung mit dem Amtsantritt von Präsident Gotabaya Rajapaksa im November 2019 in vielfältiger Hinsicht verschlechtert hatte bzw. unter der Vorgängerregierung zumindest beabsichtigte Verbesserungen der Lage nicht mehr weiterverfolgt worden waren (insb. nationalistischer Wahlkampf des - zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gerade abgesetzten - langjährigen Präsidenten Gotabaya Rajapaksa; Beendigung der bisherigen Versöhnungsrhetorik nach Amtsantritt; Zwanzigste Verfassungsänderung mit Stärkung der Macht des Präsidenten; öffentlichkeitswirksame Begnadigung eines wegen Tötung von Zivilisten verurteilten Soldaten; Ankündigung, keine Bestrafung von „Kriegshelden“ zu erlauben; Fortbestand der weitgehenden Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Sicherheitsbehörden; „endemische“ Anwendung von Folter; Fortbestand des Prevention of Terrorism Act und dessen Einsatz gegen Islamisten seit den Osteranschlägen 2019 mit 212 im Jahr 2020 und 109 Festnahmen auf Grundlage dieses Gesetzes im Jahr 2021; teilweise Erschwernisse für bzw. Einschüchterungen von Civil Rights Groups und unabhängigen staatlichen Institutionen wie des „Office of Missing Persons“ (OMP) und des „Office for Reparations“ (OFR); Ende der Kooperation mit der 2015 vom Menschenrechtsrat (MR-Rat) der Vereinten Nationen (UN) im Konsens beschlossene Resolution 30/1 über die Aufklärung mutmaßlicher Kriegsverbrechen im sri-lankischen Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung; Abriss eines Denkmals an die zivilen tamilischen Opfer des Bürgerkrieges auf dem Gelände der Universität von Jaffna im Januar 2021; massiver Personalwechsel in Ministerien und bei staatlichen Medien; vgl. zuletzt Human Rights Watch, „In a Legal Black Hole“ - Sri Lanka's Failure to Reform the Prevention of Terrorism Act, 07.02.2022; US Department of State, 2021 Country Report on Human Rights Practices: Sri Lanka, 12.04.2022; Bertelsmann Stiftung, 2022, Country Report Sri Lanka, 23.02.2022; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sri Lanka, Lage tamilischer Rückkehrer, 01.03.2021). Die seit dem Amtsantritt von (Ex-)Präsident Rajapaksa verschlechterte Menschenrechtslage hatte auch dazu geführt, dass die aktuellsten Lageberichte möglicherweise in Teilen etwas weniger aussagekräftig als in der Vergangenheit sind. So heißt es etwa in dem genannten Human Rights Watch Bericht vom 07.02.2022, es sei zunehmend schwierig, die Gründe für die Inhaftierung von Personen unter dem Prevention of Terrorism Act zu verifizieren, weil Nachfragen bei der Polizei oft nicht mehr beantwortet würden. Anhaltspunkte dafür, dass die geschilderte Verschlechterung der Menschenrechtslage bis zur Absetzung des Präsidenten Rajapaksa im Juli 2022 so gravierend gewesen sein könnte, dass (ggf. zeitweise) eine Gruppenverfolgung von Tamilinnen und Tamilen zu bejahen gewesen sein könnte, sind freilich nicht ersichtlich; auch der Kläger hat hierzu nichts vorgetragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>In welche Richtung die Entwicklungen nun - nach der Absetzung des Präsidenten Rajapaksa und der zumindest teilweisen Entmachtung des Rajapaksa-Clans - gehen werden, ist unklar. Es erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich die Dinge unter einer neuen Regierung eher wieder zum Besseren entwickeln könnten. Hierfür könnte insbesondere sprechen, dass eine neue Regierung internationalem Druck ausgesetzt sein dürfte, die zuletzt zu beobachtenden Verschlechterungen der Menschenrechtslage wieder zu beheben. Schon die alte Regierung hatte im Januar 2021 in einer gemeinsamen Stellungnahme mit der Europäischen Union versprochen, den Prevention of Terrorism Act so zu ändern, dass er mit internationalen Menschenrechtsstandards vereinbar sei; gleichwohl war aber im Februar 2021 eine Liste mit hunderten von der Regierung als Terroristen eingestuften Personen veröffentlicht worden, auf der auch zahlreiche Mitglieder der tamilischen Diaspora aufgeführt waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Am 09.12.2021 hatten zudem sieben „special rapporteurs“ der UN einen gemeinsamen Bericht veröffentlicht, der fünf Voraussetzungen formuliert, die erfüllt sein müssen, um den Prevention of Terrorism Act an internationale Standards anzupassen (https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=26863). Hierauf reagierend hatte wiederum Sri Lanka im Januar 2022 eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht, die allerdings von Beobachtern allgemein als unzureichend angesehen worden war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Der gegenwärtig drohende Staatsbankrott von Sri Lanka dürfte den internationalen Druck nochmals steigern; insbesondere ist (nach langer Ablehnung) der Internationale Währungsfond in den letzten Wochen um Hilfe gerufen worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>c) Gemessen hieran ist nicht zu erwarten, dass der Kläger im Rahmen seiner Rückkehr nach Sri Lanka Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt sein wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Nachdem der Senat dem Vorbringen des Klägers keinen Glauben geschenkt hat, käme eine Gefährdung des Klägers lediglich in Form einer Verfolgung als Teil der Gruppe der aus dem Ausland nach einer erfolglosen Asylantragstellung zurückkehrenden Tamilen in Betracht, ggf. in Verbindung mit weiteren gefahrerhöhenden Umständen in seiner Person wie etwaigen Kontakten zur tamilischen Diaspora oder aufgrund familiärer Verbindungen im Heimatland. Belastbare Erkenntnisse darüber, dass tamilische Rückkehrer generell wegen ihres Aufenthalts im Ausland oder wegen eines erfolglos durchlaufenen Asylverfahrens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeiten Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, bestehen nach dem oben Ausgeführten nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Hinsichtlich der Person des Klägers sind - jenseits des nicht glaubhaften Verfolgungsvorbringens - auch keine sonstigen gefahrerhöhenden Umstände vorgetragen oder ersichtlich. Insbesondere hat der Kläger auf entsprechende Nachfrage des Senats berichtet, keinen Kontakt zur exilpolitischen Bewegung zu haben; nur zwei Mal habe er anlässlich tamilischer Jahresveranstaltungen (einmal des Großheldengedenktags), zuletzt im Januar 2021, jeweils 50,-- EUR gespendet. Auch spricht nichts dafür, dass der Kläger aufgrund familiärer Verbindungen das Interesse des Sicherheitsapparats wecken könnte. Den Vortrag von der Verhaftung des Klägers zusammen mit seinem Bruder hat der Senat für nicht glaubhaft erachtet. Die übrige Familie des Klägers wohnt nach seinen Angaben unbehelligt in ihrem Heimatort. Dem Senat liegen dementsprechend auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger in einer Datenbank der sri-lankischen Sicherheitskräfte, so wie sie vom UK Upper Tribunal in seiner Entscheidung geschildert wird, auf die eine oder andere Weise geführt wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>II. Auch eine Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) kommt nicht in Betracht, weil der Kläger keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG droht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Nach den oben im Rahmen der Prüfung des Flüchtlingsschutzes getroffenen Feststellungen droht dem Kläger weder die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der gegenwärtig schwierigen humanitären Situation in Sri Lanka in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen (für die schlechte humanitäre Situation in Sri Lanka verantwortlichen) Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c AsylG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die in Sri Lanka bestehende allgemein schwierige Wirtschafts- und Versorgungslage hat vielfältige Ursachen, wird aber nicht zielgerichtet vom sri-lankischen Staat, von herrschenden Parteien oder Organisationen oder von nichtstaatlichen Dritten herbeigeführt. Sie ist insbesondere bedingt durch die negativen Folgen der Corona-Pandemie (insb. für den Tourismussektor, einer der Haupteinnahmequellen in Sri Lanka), durch eine seit langer Zeit zu expansive Schuldenpolitik und zuletzt durch die insbesondere durch den Ukraine-Krieg verursachten erheblichen Preissteigerungen für wichtige Importgüter wie Treibstoff (vgl. näher unter A. III. 2 a). Soweit auch eine schlechte Regierungsführung einen Anteil an der gegenwärtigen Lage hat (insbesondere durch Fehlentscheidungen wie das Verbot der Einführung von chemischen Düngern im April 2021), ist nichts dafür ersichtlich, dass die Regierung das Land willentlich bzw. zielgerichtet „heruntergewirtschaftet“ hat (vgl. etwa - The Guardian, ‘The family took over’: how a feuding ruling dynasty drove Sri Lanka to ruin, 07.07.2022, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2022/jul/07/the-family-took-over-how-a-feuding-ruling-dynasty-drove-sri-lanka-to-ruin).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen ebenfalls nicht vor. In Sri Lanka herrscht derzeit kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, bei dem der Kläger zu Schaden kommen könnte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>III. Der Kläger hat auch keinen Anspruch die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Gerade in seiner Person liegende, mit einer Abschiebung nach Sri Lanka verbundene Gefahren (etwa ein Angewiesensein auf in Sri Lanka nicht erhältliche Medikamente) hat der Kläger nicht geltend gemacht. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots kommt auch nicht im Hinblick auf die gegenwärtige schwierige humanitäre Lage in Sri Lanka in Betracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. In ganz außergewöhnlichen Fällen bzw. bei ganz außergewöhnlichen Umständen können auch schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen, wenn humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen (vgl. hierzu zum Folgenden m. w. N. zuletzt BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - juris Rn. 15 ff.). Dies ist nicht bereits dann der Fall, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Fall einer Abschiebung die Befriedigung der elementarsten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Drittstaatsangehörige seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält und er dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist (auch im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“), oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist dabei grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen; nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>2. Hinsichtlich des Klägers lässt sich nicht im oben genannten Sinne feststellen, dass er bei einer Rückkehr nach Sri Lanka mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, seine elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>a) Die sri-lankische Wirtschaft hatte sich nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2009 bis zum Beginn der Corona-Pandemie rund zehn Jahre lang (mit zum Ende der Periode eher abnehmender Tendenz) positiv entwickelt. Die Weltbank stufte das Land 2019 als „upper middle-income country“ ein. Die Arbeitslosenquote lag zuletzt bei 4,4 Prozent. Im Human Development Index des United Nations Development Programme (UNDP) rangierte das Land auf Platz 76 von 189 Ländern; dem höchsten Rang aller südasiatischen Länder. Die Armutsrate im Land war relativ niedrig, extreme Armut selten (vgl. im Einzelnen etwa Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Australien, Country Information Report Sri Lanka, 04.11.2019; BFA, Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sri Lanka, Fassung vom 15.02.2019).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Seit dem Jahr 2020 verlor die Wirtschaft in Sri Lanka deutlich an Dynamik, bedingt insbesondere durch die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den (allerdings bereits durch die Oster-Attentate 2019 beeinträchtigten) Tourismus-Sektor und andere Wirtschaftsbereiche (z. B. die Textilindustrie), wobei der Staat mit einer Reihe von Programmen die sozialen Auswirkungen der Verschlechterung der Wirtschaftslage abzumildern versuchte. Im Jahr 2020 stufte die Weltbank das Land nunmehr als „lower middle-income country“ ein. Ein im April 2021 erlassenes Verbot der Nutzung chemischer Dünger hatte nachteiligen Einfluss auf den Agrarsektor, sowohl was die Versorgung der eigenen Bevölkerung, als auch was den Export von Agrarprodukten (insb. Tee) anbelangte. Im Jahr 2021 begann sich zudem deutlich eine zunehmend angespannte Lage der öffentlichen Finanzen abzuzeichnen (vgl. Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Australien, Country Information Report Sri Lanka, 23.12.2021; BFA, Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sri Lanka, Fassung vom 07.07.2021; Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report Sri Lanka, 23.02.2022).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat stellt sich die sozio-ökonomische Lage in Sri Lanka insbesondere angesichts einer sich (nicht zuletzt bedingt durch Preissteigerungen bei wichtigen Importgütern wie Rohöl im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg) dynamisch entwickelnden Staatsschuldenkrise als sehr angespannt dar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>So heißt es in dem Report „Humanitarian needs and priorities: Food security crisis“ des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) vom 09.06.2022, Sri Lanka erlebe im Moment die schlimmste ökonomische Krise seit seiner Unabhängigkeit. Herausfordernd seien die öffentlichen Finanzen und die Staatsverschuldung ebenso wie die Verfügbarkeit und Finanzierbarkeit von Nahrungsmitteln, Treibstoff, Dünger und Medikamenten. Derzeit seien deswegen rund 5,7 Millionen Frauen, Männer, Jungen und Mädchen dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Besondere Sorge mache eine sich entfaltende multidimensionale Krise der Lebensmittelsicherheit. Angesichts der Preissteigerungen für Lebensmitteln um 73 Prozent in den letzten zwei Jahren müssten bereits jetzt bis zu 70 Prozent der Haushalte ihren Lebensmittelkonsum einschränken und würden teilweise Mahlzeiten ausfallen lassen. Die Krise beinträchtige vor allem kleinere Unternehmen und damit vor allem Frauen und Tageslohnarbeiter. Viele Haushalte müssten sich deswegen Geld leihen oder Eigentum verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Auch Kinder seien von der Krise besonders betroffen. Von den genannten 5,7 Millionen auf Unterstützung angewiesenen Personen seien im Rahmen eines u. a. von der UN getragenen „Humanitarian Needs and Priorities (HNP)-Plans die rund 1,7 Millionen am stärksten gefährdeten Personen bereits versorgt. Zur Abwendung der sich entwickelnden humanitären Krise hätten die UN und humanitäre Partner die internationale Gemeinschaft zum Spenden aufgerufen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Ebenfalls im Juni 2022 teilte der damalige Premierminister (und jetzige Staatspräsident) Ranil Wickremesinghe dem Parlament mit, die Wirtschaft sei komplett zusammengebrochen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Allerdings bestehen Anhaltspunkte dafür, dass Sri Lanka kurz- oder mittelfristig internationale Hilfe erhalten könnte. So hat beispielsweise auf Einladung der Regierung eine Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF) Sri Lanka vom 20. bis 30.06.2022 besucht, um angesichts der sich wohl auf 51 Milliarden Dollar belaufenden (zu einem großen Teil gegenüber China bestehenden) Auslandsschulden Sri Lankas ein Rettungsprogramm vorzubereiten. Auch weitere internationale Partner sind um Hilfe bemüht, wie insbesondere die Vereinten Nationen und auch das große Nachbarland Indien, das ein vitales strategisches Eigeninteresse an einem stabilen Sri Lanka hat und die gegenwärtige Krise wohl als Chance begreift, seine Position dort im Verhältnis zu dem in den letzten Jahren deutlich an Einfluss gewonnenen China zu stärken (vgl. etwa The Diplomat, India strengthens its position in Sri Lanka Vis-à-Vis rival China, 25.06.2022, abrufbar unter https://thediplomat.com/2022/06/india-strengthens-its-position-in-sri-lanka-vis-a-vis-rival-china/; BBC, Sri Lanka: Is India gaining over China in crisis-hit island nation?, 20.07.2022, abrufbar unter https://www.bbc.com/news/world-asia-india-62218050).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Hinsichtlich der wirtschaftliche Situation von Rückkehrern nach Sri Lanka lässt sich dem „Länderreport Sri Lanka“ des Bundesamts vom 01.08.2021 entnehmen, dass es von staatlicher Seite keine Grundversorgung für Rückkehrende gebe. Diese seien nach der Rückkehr auf sich allein gestellt, bzw. von der Unterstützung durch Familienmitglieder oder Bekannte abhängig. Ohne diese Form der Unterstützung sei es für Rückkehrende schwierig, zeitnah wirtschaftlich und sozial wieder in Sri Lanka Fuß zu fassen. Im Fall einer Rückkehr gebe es allerdings Rückkehr- und Starthilfen sowie Beratung im Rahmen von REAG/GARP (Übernahme der Reisekosten, Reisebeihilfe, finanzielle Starthilfe) und StarthilfePlus (finanzielle Starthilfe sechs bis acht Monate nach Rückkehr). Zudem könne eine Unterstützung über das europäische Reintegrationsprogramm ERRIN beantragt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>b) Nach alledem ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, im Fall einer Rückkehr nach Sri Lanka sein Existenzminium zu sichern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Die Erkenntnismittel geben nichts dafür her, dass (ggf. nach einem erfolglosen Asylverfahren) aus dem Ausland nach Sri Lanka zurückkehrende tamilische Volkszugehörige generell, das heißt unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls (insbesondere dem Geschlecht, dem Alter, dem Gesundheitszustand, den Unterhaltspflichten, der Ausbildung, dem Vermögen und den sozialen Beziehungen des jeweiligen Rückkehrers), nicht in der Lage sein könnten, ihr Existenzminimum zu sichern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Bei dem Kläger handelt es um einen arbeitsfähigen jungen Mann ohne Unterhaltspflichten mit einem guten Bildungsabschluss (Abitur), der auch vor seiner Ausreise aus Sri Lanka - nach seinen Angaben parallel zum Schulbesuch - als Rikscha-Fahrer berufstätig war. Auch in Deutschland ist der Kläger nach seinen Angaben berufstätig und arbeitet seit Februar 2017 ganztags in einem Restaurant und daneben im Rahmen eines Minijobs in einem weiteren Restaurant. Soweit er im Laufe des Verfahrens gesundheitliche Probleme in Form der (durch ein orthopädisches Attest vom 27.09.2017 nachgewiesenen) in Fehlstellung verheilten Unterarmfraktur mit deutlichen Bewegungseinschränkungen und einer (in Stellungnahmen eines Vereins zur Unterstützung traumatisierter Migranten e.V. vom 28.02.2017 und der Psychologischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V. vom 08.04.2020 diagnostizierten) posttraumatischen Belastungsstörung bzw. einer leichten depressiven Episode geltend machte, ist nichts dafür vortragen oder ersichtlich, dass diese (derzeit auch in Deutschland nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht behandelten) Leiden bei einer Rückkehr ins Heimatland behandlungsbedürftig wären oder die Arbeitsfähigkeit des Klägers mehr als nur unwesentlich beeinträchtigen könnten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Der Kläger verfügt zudem nach seinen Angaben über familiäre Verbindungen in Sri Lanka bzw. in seiner Heimatregion. Neben seinen Eltern leben dort auch noch eine ältere Schwester und ein älterer Bruder sowie weitere Familienangehörige wie eine Schwester seiner Mutter. Beide Geschwister leben bei den Eltern. Die wirtschaftliche Situation der Familie schilderte der Kläger in der mündlichen Verhandlung als „einigermaßen okay“. Sollte der Kläger tatsächlich, wie von ihm in der mündlichen Verhandlung behauptet, alle zwei Monate regelmäßig rund 900,-- EUR an die Familie überweisen, dürfte sich deren wirtschaftliche Lage im Fall einer Abschiebung des Klägers zwar verschlechtern. Anhaltspunkte dafür, dass die Familie bedingt durch die ausbleibenden Geldzahlungen des Klägers nicht mehr in der Lage sein könnte, den Kläger (insbesondere durch die Gewährung einer Unterkunft) zumindest teilweise zu unterstützen, sind freilich nicht ersichtlich. Die Angaben des Klägers zur ökonomischen Situation der Familie im Heimatland hinterließen vielmehr ebenfalls einen wenig verlässlichen Eindruck. So begründete der Kläger am Beginn seiner Befragung durch den Senat die auskömmliche wirtschaftliche Situation seiner Familie im Heimatland damit, dass sein dort befindlicher Bruder bis zur aktuellen Treibstoffknappheit ein Auto gefahren habe und damit etwas Geld zurücklegen habe können. Später hieß es demgegenüber, der Bruder habe „eine Wachstumsstörung“, könne „deswegen nicht viel machen“ und könne auch „nicht richtig denken“. Er sei nicht der Hauptverdiener der Familie; er könne nur zum Beispiel seine Mutter ins Krankenhaus bringen, viel mehr aber nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Dafür, dass der Kläger in der Lage sein wird, im Fall einer Rückkehr sein Existenzminimum zu sichern spricht zudem, dass angesichts seiner insgesamt zurückgezogenen Lebensführung und seiner in Deutschland bereits seit über fünf Jahren ausgeübten Berufstätigkeit anzunehmen ist, dass er über gewisse Ersparnisse verfügt. Hinzu kommt, dass er sich um die Zahlung von Rückkehrhilfen bemühen kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
|
346,460 | vghbw-2022-07-20-7-s-174721 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 7 S 1747/21 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-09-07T10:01:35 | 2022-10-17T11:09:52 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Der Plannachtrag 5 des Landratsamts Hohenlohekreis vom 09.09.2019 zum dortigen Flurbereinigungsplan vom 16.09.2011 und der Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Geoinformation und Landentwicklung vom 31.03.2021 werden aufgehoben, soweit eine Sonderung der Abfindungsgrundstücke Flst. Nrn. ...9 und ...9/1 und nur mehr eine Belastung des Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 mit einer Reallast vorgesehen sind.</p><p>Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens.</p><p>Das Verfahren ist gebührenpflichtig.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Kläger wenden sich gegen den Plannachtrag 5 zum Flurbereinigungsplan für das Flurbereinigungsverfahren Schöntal-Aschhausen, Hohenlohekreis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Kläger sind - als Rechtsnachfolger des Teilnehmers L. - seit 25.08.2014 unter der Ordnungs-Nr. 283 Teilnehmer des Flurbereinigungsverfahrens Schöntal-Aschhausen, Hohenlohekreis, das mit unanfechtbar gewordenem Beschluss des damaligen Landesamts für Flurneuordnung und Landentwicklung Baden-Württemberg vom 17.09.1999 angeordnet worden war. Das Verfahren wird vom Landratsamt Hohenlohekreis - Flurneuordnungsamt - als zuständiger unterer Flurbereinigungsbehörde durchgeführt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Teilnehmer L. hatte unter der Ordnungs-Nr. 147 insgesamt 55 Flurstücke mit zusammen 25,1446 ha und einem dazu festgestellten Bodenwert von 1.296,63 Werteinheiten (WE) eingebracht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Im vom Landratsamt Hohenlohekreis aufgestellten Flurbereinigungsplan vom 16.09.2011 wurden ihm sechs Flurstücke mit 23,5341 ha mit einem Tauschwert von 1.224,67 WE als Landabfindung zugewiesen. Diese umfasste auch die Flurstücke Nrn. ...9 mit 382,52 WE und 7,1188 ha und ...40 mit 55,34 WE und 0,8066 ha. Auf letzterem befindet sich die Hofstelle.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>In der Folge veräußerte L. seine Grundstücke mit Hofübergabevertrag vom 28.02.2014 an die Kläger, was am 25.08.2014 im Grundbuch vollzogen wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>In § 8 des Hofübergabevertrags hatten sich die Kläger verpflichtet, L. eine Geld-rente zu bezahlen. Zu diesem Zwecke sollte aufgrund einer entsprechenden Bewilligung auch eine Reallast zu Lasten des (auch die Hofstelle umfassenden, rd. 305 WE großen) Grundstücks Flurstück Nr. ...20 (Alter Bestand) ins Grundbuch (Heft 1045 Abteilung II lfd. Nr. 12) eingetragen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Die sich aufgrund dieses Hofübergabevertrags ergebenden Änderungen wurden in den Nachtrag 1 zum Flurbereinigungsplan vom 25.06.2015 aufgenommen. Danach umfasste die Abfindung der Kläger sechs Flurstücke mit 23,5889 ha und einem Tauschwert von 1.224,66 WE.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Um die Reallast auf die Abfindungsflurstücke im Neuen Bestand zu übertragen, sollten das Abfindungsflurstück Nr. ...40 (mit der Hofstelle) ganz (rd. 55 WE) und das Abfindungsflurstück Nr. ...9 (rd. 383 WE) zu einem Bruchteil von 240/383 belastet werden. Versehentlich wurden dann im Lastenblatt die beiden Flurstücknummern vertauscht, sodass danach das Abfindungsflurstück Nr. ...9 mit einem Bruchteil von 1/1 (55 WE) und das Abfindungsflurstück Nr. ...40 mit einem Bruchteil von 240/383 (240 WE) belastet erscheinen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Kläger hatten gegen diesen Plannachtrag Widerspruch eingelegt, mit dem sie sich insbesondere gegen den Grenzverlauf zwischen den Flurstücken Nrn. ...42 und ...44 wandten. Der Widerspruch war mit Bescheid vom 11.04.2016 zurückgewiesen worden. Ihre dagegen erhobene Klage hatte der Senat mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 09.08.2018 - 7 S 700/15 - abgewiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Am 15.11.2015 ordnete die untere Flurbereinigungsbehörde für das gesamte Flurbereinigungsgebiet die vorzeitige Ausführung an und setzte den Zeitpunkt des Eintritts des neuen Rechtszustandes auf den 30.12.2015 fest.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Weil davon ausgegangen wurde, dass eine Reallast tatsächlich nicht zu Lasten eines Bruchteils bestellt werden könne, wurden mit Nachtrag 5 vom 09.09.2019 zum Flurbereinigungsplan durch entsprechende Festsetzungen zunächst die Vertauschung der Flurstücknummern rückgängig gemacht und sodann das Abfindungsflurstück Nr. ...9 (382,52 WE; 7,1188 ha) in die Abfindungsflurstücke Nrn. ...9 (249,21 WE; 3,9862 ha) und ...9/1 (133,30 WE; 3,1327 ha) geteilt (Nr. 2.1). Schließlich wurde die Reallast wiederum auf das Abfindungsflurstück Nr. ...40 (Hofstelle) und nur mehr auf das gesonderte Abfindungsflurstück Nr. ...9 übertragen. Beide Abfindungsflurstücke entsprechen in Form und Lage weitestgehend dem Einlageflurstück Nr. ...20 (Alter Bestand). Das neu gebildete Flurstück Nr. ...9/1 blieb demgegenüber lastenfrei. Insgesamt wurde die Abfindung wiederum mit ca. 294 Werteinheiten belastet. Die Änderungen wurden im Flurbereinigungsplan vom 16.09.2011 nachgetragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Den Klägern wurde dies zunächst mündlich erläutert; mit Schreiben vom 10.09.2019 gab ihnen das Flurneuordnungsamt dann schriftlich den Nachtrag 5 bekannt und erläuterte nochmals die vorgenommene Berichtigung und die Änderungen der Flurbereinigungsnachweise „Neuer Bestand“. Gleichzeitig wurden die Kläger zum Anhörungstermin am 16.10.2019 geladen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Im Stand des Nachtrags 5 umfasst ihre Abfindung sieben Flurstücke mit 23,5890 ha und einem Tauschwert von weiterhin 1.224,66 WE.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Im Anhörungstermin am 16.10.2019 legten die Kläger gegen die sich aus dem Nachtrag 5 für sie ergebenden Änderungen Widerspruch ein. Dies begründeten sie damit, dass die vorgesehene Änderung für sie privat, aber auch für die weitere betriebliche Entwicklung nachteilig sein könne.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Nachdem keine Einigung erzielt werden konnte, legte die untere Flurbereinigungsbehörde den Widerspruch dem Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung zur Entscheidung vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Unter dem 08.04.2020 schlugen die Kläger eine Änderung der Abgrenzung der Reallast vor. Im Hinblick auf die vorgesehene Weiterentwicklung ihres landwirtschaftlichen Betriebes solle der Bereich südöstlich der Hofstelle unbelastet bleiben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Mit Schreiben vom 17.04.2020 teilte ihnen das Landesamt mit, dass dies zum großen Teil umsetzbar sei. Allerdings könne die Reallast (294 WE) nicht komplett auf das neu abzugrenzende landwirtschaftliche Flurstück Nr. ...9 übertragen werden, da nach dem Hofübergabevertrag die Reallast auf Flurstück Nr. ...20 (Alter Bestand) eingetragen werden sollte, welches eben auch die Hofstelle umfasst habe. Dem entsprechend müsse das Flurstück Nr. ...40 (Neuer Bestand) weiterhin belastet bleiben (55 WE). Die übrigen 239 WE könnten auf ein Flurstück Nr. ...9 übertragen werden, welches nach ihren Wünschen abgegrenzt werden könne.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Nachdem der betroffene L. am 22.08.2020 seine Zustimmung zu der in Rede stehenden Änderung der Abgrenzung der mit der Reallast zu belastenden Fläche erteilt hatte, übersandte das Landesamt mit Schreiben vom 05.10.2020 einen entsprechenden Vorschlag für eine gütliche Regelung des Widerspruchs.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Nachdem das Landesamt auf weitere Forderungen der Kläger nicht mehr einging, teilten diese unter dem 20.01.2021 mit, ihren Widerspruch vom 16.10.2019 aufrechtzuerhalten; ihren Vorschlag zogen sie zurück. Den Gütevorschlag des Landesamts lehnten sie ab. Nach Rechtskraft des Flurbereinigungsplans komme eine Aufteilung des Grundstücks Flst. Nr. ...39 ohne ihre Zustimmung ohnehin nicht mehr in Betracht, zumal das Liegenschaftskataster bereits 2017 berichtigt worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Mit Widerspruchsbescheid vom 31.03.2021 wies das Landesamt den Widerspruch der Kläger gegen den Nachtrag 5 zum Flurbereinigungsplan ab. Das von ihnen eingebrachte (die Hofstelle umfassende) Flurstück Nr. ...20 (Alter Bestand) sei mit einer Reallast (Rentenverpflichtung zugunsten L.) belastet. Nach § 68 FlurbG trete die Landabfindung hinsichtlich der Rechte an den alten Grundstücken und der sie betreffenden, nicht aufgehobenen Rechtsverhältnisse an die Stelle der alten Grundstücke. Die Flurbereinigungsbehörde bestimme, auf welchen Abfindungsgrundstücke in das Grundbuch einzutragende Rechte und Lasten zu übertragen seien. Dingliche Rechte müssten immer an bestimmten Einzelgrundstücken fortbestehen. Für diese habe die Flurbereinigungsbehörde nach § 68 Abs. 2 FlurbG eine wirtschaftlich der belasteten Einlage möglichst entsprechende Fläche zu bestimmen. Dazu seien im Nachtrag 5 zum Flurbereinigungsplan in örtlicher Lage des Einlageflurstücks Nr. ...20 dem Anspruchswert von rd. 294 WE entsprechend die Abfindungsflurstücke Nrn. ...40 (rd. 55 WE) und ...9 (rd. 239 WE) ausgewiesen worden. Die Festsetzungen des Nachtrags 5 seien nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Nach § 64 FlurbG könne die Flurbereinigungsbehörde den Flurbereinigungsplan auch nach der Ausführungsanordnung ändern oder ergänzen, wenn - u. a. - öffentliche Interessen oder wichtige, nicht vorherzusehende wirtschaftliche Bedürfnisse der Beteiligten es erforderten. Zwar sei § 64 FlurbG im Interesse der Beschleunigung, der Rechtssicherheit und des Bestandsschutzes eng auszulegen. Die Übertragung der Reallast in der im Nachtrag 5 vorgenommenen Weise sei jedoch geboten, da im Stand des Nachtrags 1 Flurstücknummern vertauscht worden seien und die vorgenommene Belastung lediglich eines Bruchteils des Flurstücks Nr. ...9 nach § 1106 BGB nicht möglich gewesen sei. Da der Flurbereinigungsplan Grundlage für die Berichtigung der öffentlichen Bücher sei, müsse er klarstellen, inwieweit die einzelnen Rechte auf die Abfindungsgrundstücke übergingen. Das Lastenblatt als Teil des Flurbereinigungsplans müsse insofern eindeutig und fehlerfrei sein. Die Eintragung der Bruchteilbelastung und die Vertauschung der Flurstücknummern seien nach alldem im öffentlichen Interesse zu berichtigen und entsprechend anzupassen gewesen. Wäre im Zuge einer Grundbuchberichtigung eine Reallast auf dem gesamten Flurstück Nr. ...9 (im Stand vor dem Nachtrag 5) - ohne Beschränkung auf einen Bruchteil - eingetragen worden, hätte dies zu einer Belastung von insgesamt rd. 438 WE geführt. Der Flurbereinigungsplan solle die Haftungsgrundlage eines Gläubigers jedoch weder schmälern noch vergrößern. Letztlich werde der Gefahr einer Mehrbelastung der Kläger entgegengewirkt. Inwiefern die Festsetzungen für sie selbst und die betriebliche Entwicklung nachteilig sein könnten, sei nicht nachvollziehbar, zumal die Gesamtabfindung hinsichtlich Lage, Form, Größe und Wert unverändert bleibe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Gegen den am 23.04.2021 ausgefertigten und ihnen nach eigenen Angaben am 27.04.2021 zugestellten Widerspruchsbescheid haben die Kläger am 26.05.2021 Klage zum Flurbereinigungsgericht erhoben. Diese begründen sie im Wesentlichen wie folgt: Da der Flurbereinigungsplan längst rechtskräftig geworden sei, habe das Grundstück Flst. Nr. ...9 nicht mehr ohne ihre Zustimmung „zerlegt“ und ein neues Grundstück geschaffen werden dürfen. Das Hofgrundstück Flst. Nr. ...40 hätten sie durch umfangreiche Umbauten, eine Neuanlage des Hofes und umfangreiche Sanierungsarbeiten aufgewertet. Insofern bedeute es eine Mehrbelastung, wenn darüber hinaus ihr Grundstück Flst. Nr. ...9 belastet werde. Eine Kreditaufnahme für den Bau einer landwirtschaftlichen Mehrzweckhalle auf diesem Grundstück, für die bereits ein Bauvorbescheid erteilt sei, werde unzumutbar erschwert, wenn das Baugrundstück bereits belastet sei. Außerdem solle das Wohnungsrecht des L. auf die von ihnen zu diesem Zwecke am 17.11.2015 erworbene neue Wohnung umgeschrieben werden. Die im Widerspruchsbescheid angeführte Vorschrift des § 64 FlurbG greife nicht, da L. mit Veräußerung seines Betriebs nicht mehr Beteiligter sei. Spätestens mit Beendigung seines Nießbrauchs zum 30.06.2018 habe L. keine Rechte mehr. Auch sein Wohnungsrecht sei Mitte August 2018 „aufgelöst“ worden. Ein öffentliches Interesse liege nicht vor, da eine privatrechtliche Angelegenheit in Rede stehe, für die das Flurbereinigungsgericht nicht zuständig sei. Unter dem 12.07.2022 haben sie noch darauf hingewiesen, dass der neue Rechtszustand nach der vorzeitigen Ausführungsanordnung bereits zum 30.12.2015 eingetreten sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Kläger beantragen,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>den Plannachtrag 5 des Landratsamts Hohenlohekreis vom 09.09.2019 zum dortigen Flurbereinigungsplan vom 19.11.2011, soweit er eine Sonderung der Abfindungsgrundstücke Flst. Nrn. ...9 und ...9/1 und nur mehr eine Belastung des Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 mit einer Reallast vorsieht, und den Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Geoinformation und Landentwicklung vom 31.03.2021 aufzuheben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Das beklagte Land beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="26"/>die Klage abzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Hierzu führt das Landesamt im Wesentlichen aus: Der von den Klägern bezeichnete Bereich um die geplante Mehrzweckhalle sei bereits im Alten Bestand belastet gewesen. Gleiches gelte für die angeführte Wertsteigerung der Hofstelle, die bereits im Alten Bestand belastet gewesen sei. Das Wohnungsrecht könne schon deshalb nicht auf das neue Wohngrundstück übertragen werden, weil es nicht im Flurbereinigungsgebiet liege. Die Grundbuchberichtigungsunterlagen seien aufgrund der von den Klägern eingelegten Rechtsmittel noch nicht an das Grundbuch abgegeben worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Dem Senat liegen die vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge einschließlich der einschlägigen Pläne und Karten vor. Hierauf sowie auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die zulässige Anfechtungsklage gegen den Plannachtrag 5 zum Flurbereinigungsplan hat mit dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Sachantrag Erfolg. Dieser ist allein auf die Aufhebung der für das Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 verfügten Änderungen und nicht auch auf Rückgängigmachung der Berichtigung der Flurstücknummern gerichtet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Der Plannachtrag 5 des Landratsamts Hohenlohekreis vom 09.09.2019 zum dortigen Flurbereinigungsplan vom 16.09.2011 und der ihn aufrechterhaltende Widerspruchsbescheid des Landesamts für Geoinformation und Landentwicklung Baden-Württemberg vom 31.03.2021 sind rechtswidrig, soweit im Wege der Sonderung die Abfindungsgrundstücke Flst. Nrn. ...9 und ...9/1 ausgewiesen wurden und anstelle der bisherigen Bruchteilsbelastung nur mehr das Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 mit einer Reallast belastet wurde. Die Kläger sind dadurch auch in ihren Rechten verletzt, da ohne rechtliche Grundlage in ihre (nach Erlass der vorzeitigen Ausführungsanordnung) bestandsgeschützte Abfindung eingegriffen wurde (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Wird eine Landabfindung für mehrere alte Grundstücke oder Berechtigungen gegeben, die - wie hier - durch verschiedene Rechtsverhältnisse (teilweise bestehende Reallast) betroffen werden, so hat die (untere) Flurbereinigungsbehörde zu bestimmen, welche neuen Grundstücke oder Bruchteile von neuen Grundstücken an die Stelle der einzelnen alten Grundstücke treten (§ 68 Abs. 2 FlurbG). Diese haben wirtschaftlich möglichst der belasteten Einlage zu entsprechen (vgl. Wingerter/Mayr, FlurbG 10. A. 2018, § 68 Rn. 9). Auf Antrag und, soweit erforderlich, auch von Amts wegen hat die Flurbereinigungsbehörde jedoch anstelle der nach § 68 Abs. 2 FlurbG bestimmten Bruchteile besondere Grundstücke auszuweisen (§ 68 Abs. 3 Satz 1 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Von dieser Sonderungsbefugnis nach § 68 Abs. 3 FlurbG machte die Flurbereinigungsbehörde im Plannachtrag 5 Gebrauch, indem sie nach vorheriger, von den Klägern nicht beanstandeter Berichtigung der Flurstücknummern das Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 aufteilte und besondere Grundstücke, nämlich die Abfindungsgrundstücke Flst. Nrn. ...9 und ...9/1 auswies und anstelle der noch im Plannachtrag 1 vom 25.06.2015 vorgenommenen Bruchteilsbelastung des Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 zu 240/383 (vgl. § 68 Abs. 2 FlurbG) nur mehr das gesonderte (verkleinerte) Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 mit der Reallast belastete.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Zwar endet die Befugnis zur Sonderung erst mit der Schlussfeststellung (vgl. Senatsurt. v. 17.02.1975 - VII 1154/73 -, RzF - 5 - zu § 62 Abs. 1 FlurbG; Wingerter/Mayr, a.a.O., § 68 Rn. 28). Mit Erlass der vorzeitigen Ausführungsanordnung am 15.11.2015 endete allerdings die umfassende Planänderungsbefugnis nach § 60 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, sodass auch eine Sonderung, sollten die Voraussetzungen nach § 68 Abs. 3 FlurbG vorgelegen haben, nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 64 Satz 1 FlurbG zulässig war; auf die Unanfechtbarkeit des Flurbereinigungsplans kommt es dabei nicht an (vgl. § 61 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Nach der vorzeitigen Ausführungsanordnung kann die Flurbereinigungsbehörde den - ggf. auch bereits unanfechtbar gewordenen - Flurbereinigungsplan nur noch ändern und ergänzen, wenn öffentliche Interessen oder wichtige, nicht vorherzusehende wirtschaftliche Bedürfnisse der Beteiligten es „erfordern“ (vgl. § 64 Satz 1 1. Alt. FlurbG) oder - was hier nicht in Betracht kommt -, ihr eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bekannt wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Diese Änderungsbefugnis endet erst mit der Schlussfeststellung (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.11.1993 - 11 C 21.92 -, RdL 1994, 35), die hier noch nicht erfolgt ist. Die Grundbücher waren, soweit hier von Interesse, noch nicht berichtigt worden, sodass von einer endgültigen Ausführung des Flurbereinigungsplan keine Rede sein kann (vgl. Senatsurt. v. 29.07.1991 - 7 S 2151/90 -, AgrarR 1992, 272; im Übrigen auch § 83 FlurbG, wonach das Grundbuch ggf. auch mehrfach zu berichtigen ist).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Eine nachträgliche Plankorrektur darf indes nur vorgenommen werden, wenn die in § 64 Satz 1 FlurbG angeführten, als besonders wichtig anzusehenden Interessen eine Planänderung bzw. Ergänzung „unumgänglich“ erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.03.1981 - 5 C 67.79 -, RdL 1981, 180; Urt. v. 10.11.1993 - 11 C 21.92 -, RdL 1994, 35; Beschl. v. 09.01.2013 - 9 B 20.12 -, RdL 2103, 197).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Das öffentliche Interesse an einer rechtmäßigen Entscheidung ermöglicht damit noch keine Änderung des Flurbereinigungsplans. Die Rechtmäßigkeit wird vielmehr durch die Rechtsbehelfsmöglichkeiten ausreichend gewährleistet. Denn diesem Interesse stehen die Interessen an der Beschleunigung des Verfahrens, der Rechtssicherheit und des Bestandsschutzes gegenüber, sodass es die Änderung nicht „erfordert“ (vgl. FlurbG Koblenz, Urt. v. 24.11.2010 - 9 C 10549/10.OVG - RzF - 34 - zu § 64 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die - freilich nicht streitgegenständliche - Berichtigung der widersprüchlichen Eintragungen im Lastenblatt wäre danach, sollte die bloße Berichtigung erkannter Unrichtigkeiten nicht ohnehin von § 64 FlurbG unberührt bleiben, jedenfalls im öffentlichen Interesse erforderlich gewesen, um durch die Ausräumung von Widersprüchlichkeiten (vgl. FlurbG München, Urt. v. 21.05.2007 - 13 A 06.111 -, RdL 2008, 191; Urt. v. 13.10.1977 - 215 XIII 75 -, RdL 1978, 181) Klarheit für die noch ausstehende Eintragung der Reallast ins Grundbuch zu schaffen. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf die widersprüchliche Darstellung konnte weder bei den Klägern als Teilnehmern noch bei L. als Nebenbeteiligtem nach § 10 Nr. 2 d FlurbG entstehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Auch die vorgenommene Sonderung nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FlurbG mit einer Belastung nur mehr des gesonderten Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 wäre im öffentlichen Interesse unumgänglich gewesen, wenn § 1106 BGB zu beachten gewesen wäre, wonach ein Bruchteil eines Grundstücks mit einer Reallast nur belastet werden kann, wenn er in dem Anteil eines Miteigentümers besteht. Denn dann läge ein unausführbarer Inhalt des Lastenblatts vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Annahme der Flurbereinigungsbehörden trifft indessen nicht zu. Denn § 68 Abs. 2 FlurbG stellt, um möglichst wenige, aber große neue Grundstücke ausweisen zu können (vgl. § 44 Abs. 3 Satz 1 FlurbG; dazu Steuer, FlurbG 2. A. 1967, § 68 Anm. 5), eine speziellere Regelung zu § 1106 BGB dar (vgl. zu § 1114 BGB etwa Lieder, in: Münch. Komm. 8. A. 2020, § 1106 Rn. 21; OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.09.1986 - 12 U 93/86 -, NJW-RR 1987, 271). Gründe, warum § 68 Abs. 2 FlurbG trotz möglicher Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Bruchteilsrechten zwar § 1114 BGB (allgemeine Meinung), nicht aber auch der vergleichbaren Vorschrift des § 1106 BGB vorgehen sollte, vermag der Senat nicht zu erkennen (vgl. Mohr, in: Münch. Komm., a.a.O., § 1106 Rn. 1, der von einem „dogmatischer Gleichlauf der beiden Vorschriften“ spricht).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Konnte damit - wie bereits im Plannachtrag 1 geschehen - eine Bruchteilsbelastung des ursprünglichen Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 vorgenommen werden, kann ein öffentliches Interesse, das eine Änderung des Flurbereinigungsplans im Stand des Nachtrags 1 unumgänglich machte, jedenfalls nicht erkannt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Ob vor dem Hintergrund, dass die Ausweisung besonderer Grundstücke im Hinblick auf die Gestaltungsrichtlinie in § 44 Abs. 3 Satz 1 FlurbG gegenüber einer Bruchteilsbelastung grundsätzlich zurückzutreten hat (vgl. Wingerter/Mayr, a.a.O., § 68 Rn. 25 m. N.), überhaupt die Voraussetzungen für eine Sonderung nach § 68 Abs. 3 FlurbG vorlagen, erscheint zweifelhaft, da weder die Kläger noch L. eine Sonderung beantragt noch die vorgenommene Bruchteilsbelastung beanstandet hatten (vgl. dazu LG Karlsruhe, Beschl. v. 19.10.1959 - 7 T 140/59 -, RzF - 1 - zu § 68 Abs. 2 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Vorschrift des § 147 Abs. 1 FlurbG, welche lediglich den Kläger begünstigen soll, findet vorliegend keine Anwendung. Es fallen daher für den Beklagten sowohl Auslagen als auch Gerichtsgebühren an (vgl. Senatsurt. v. 11.09.2014 - 7 S 197/12 -, ESVGH 65, 190; dazu Wingerter/Mayr, a.a.O., § 147 Rn. 1).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/><strong>Beschluss vom 20. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (vgl. § 52 Abs. 2 GKG und Nr. 13.2.2 des Streitwertkatalogs 2013).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die zulässige Anfechtungsklage gegen den Plannachtrag 5 zum Flurbereinigungsplan hat mit dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Sachantrag Erfolg. Dieser ist allein auf die Aufhebung der für das Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 verfügten Änderungen und nicht auch auf Rückgängigmachung der Berichtigung der Flurstücknummern gerichtet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Der Plannachtrag 5 des Landratsamts Hohenlohekreis vom 09.09.2019 zum dortigen Flurbereinigungsplan vom 16.09.2011 und der ihn aufrechterhaltende Widerspruchsbescheid des Landesamts für Geoinformation und Landentwicklung Baden-Württemberg vom 31.03.2021 sind rechtswidrig, soweit im Wege der Sonderung die Abfindungsgrundstücke Flst. Nrn. ...9 und ...9/1 ausgewiesen wurden und anstelle der bisherigen Bruchteilsbelastung nur mehr das Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 mit einer Reallast belastet wurde. Die Kläger sind dadurch auch in ihren Rechten verletzt, da ohne rechtliche Grundlage in ihre (nach Erlass der vorzeitigen Ausführungsanordnung) bestandsgeschützte Abfindung eingegriffen wurde (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Wird eine Landabfindung für mehrere alte Grundstücke oder Berechtigungen gegeben, die - wie hier - durch verschiedene Rechtsverhältnisse (teilweise bestehende Reallast) betroffen werden, so hat die (untere) Flurbereinigungsbehörde zu bestimmen, welche neuen Grundstücke oder Bruchteile von neuen Grundstücken an die Stelle der einzelnen alten Grundstücke treten (§ 68 Abs. 2 FlurbG). Diese haben wirtschaftlich möglichst der belasteten Einlage zu entsprechen (vgl. Wingerter/Mayr, FlurbG 10. A. 2018, § 68 Rn. 9). Auf Antrag und, soweit erforderlich, auch von Amts wegen hat die Flurbereinigungsbehörde jedoch anstelle der nach § 68 Abs. 2 FlurbG bestimmten Bruchteile besondere Grundstücke auszuweisen (§ 68 Abs. 3 Satz 1 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Von dieser Sonderungsbefugnis nach § 68 Abs. 3 FlurbG machte die Flurbereinigungsbehörde im Plannachtrag 5 Gebrauch, indem sie nach vorheriger, von den Klägern nicht beanstandeter Berichtigung der Flurstücknummern das Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 aufteilte und besondere Grundstücke, nämlich die Abfindungsgrundstücke Flst. Nrn. ...9 und ...9/1 auswies und anstelle der noch im Plannachtrag 1 vom 25.06.2015 vorgenommenen Bruchteilsbelastung des Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 zu 240/383 (vgl. § 68 Abs. 2 FlurbG) nur mehr das gesonderte (verkleinerte) Abfindungsgrundstück Flst. Nr. ...9 mit der Reallast belastete.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Zwar endet die Befugnis zur Sonderung erst mit der Schlussfeststellung (vgl. Senatsurt. v. 17.02.1975 - VII 1154/73 -, RzF - 5 - zu § 62 Abs. 1 FlurbG; Wingerter/Mayr, a.a.O., § 68 Rn. 28). Mit Erlass der vorzeitigen Ausführungsanordnung am 15.11.2015 endete allerdings die umfassende Planänderungsbefugnis nach § 60 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, sodass auch eine Sonderung, sollten die Voraussetzungen nach § 68 Abs. 3 FlurbG vorgelegen haben, nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 64 Satz 1 FlurbG zulässig war; auf die Unanfechtbarkeit des Flurbereinigungsplans kommt es dabei nicht an (vgl. § 61 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Nach der vorzeitigen Ausführungsanordnung kann die Flurbereinigungsbehörde den - ggf. auch bereits unanfechtbar gewordenen - Flurbereinigungsplan nur noch ändern und ergänzen, wenn öffentliche Interessen oder wichtige, nicht vorherzusehende wirtschaftliche Bedürfnisse der Beteiligten es „erfordern“ (vgl. § 64 Satz 1 1. Alt. FlurbG) oder - was hier nicht in Betracht kommt -, ihr eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bekannt wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Diese Änderungsbefugnis endet erst mit der Schlussfeststellung (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.11.1993 - 11 C 21.92 -, RdL 1994, 35), die hier noch nicht erfolgt ist. Die Grundbücher waren, soweit hier von Interesse, noch nicht berichtigt worden, sodass von einer endgültigen Ausführung des Flurbereinigungsplan keine Rede sein kann (vgl. Senatsurt. v. 29.07.1991 - 7 S 2151/90 -, AgrarR 1992, 272; im Übrigen auch § 83 FlurbG, wonach das Grundbuch ggf. auch mehrfach zu berichtigen ist).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Eine nachträgliche Plankorrektur darf indes nur vorgenommen werden, wenn die in § 64 Satz 1 FlurbG angeführten, als besonders wichtig anzusehenden Interessen eine Planänderung bzw. Ergänzung „unumgänglich“ erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.03.1981 - 5 C 67.79 -, RdL 1981, 180; Urt. v. 10.11.1993 - 11 C 21.92 -, RdL 1994, 35; Beschl. v. 09.01.2013 - 9 B 20.12 -, RdL 2103, 197).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Das öffentliche Interesse an einer rechtmäßigen Entscheidung ermöglicht damit noch keine Änderung des Flurbereinigungsplans. Die Rechtmäßigkeit wird vielmehr durch die Rechtsbehelfsmöglichkeiten ausreichend gewährleistet. Denn diesem Interesse stehen die Interessen an der Beschleunigung des Verfahrens, der Rechtssicherheit und des Bestandsschutzes gegenüber, sodass es die Änderung nicht „erfordert“ (vgl. FlurbG Koblenz, Urt. v. 24.11.2010 - 9 C 10549/10.OVG - RzF - 34 - zu § 64 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Die - freilich nicht streitgegenständliche - Berichtigung der widersprüchlichen Eintragungen im Lastenblatt wäre danach, sollte die bloße Berichtigung erkannter Unrichtigkeiten nicht ohnehin von § 64 FlurbG unberührt bleiben, jedenfalls im öffentlichen Interesse erforderlich gewesen, um durch die Ausräumung von Widersprüchlichkeiten (vgl. FlurbG München, Urt. v. 21.05.2007 - 13 A 06.111 -, RdL 2008, 191; Urt. v. 13.10.1977 - 215 XIII 75 -, RdL 1978, 181) Klarheit für die noch ausstehende Eintragung der Reallast ins Grundbuch zu schaffen. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf die widersprüchliche Darstellung konnte weder bei den Klägern als Teilnehmern noch bei L. als Nebenbeteiligtem nach § 10 Nr. 2 d FlurbG entstehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Auch die vorgenommene Sonderung nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FlurbG mit einer Belastung nur mehr des gesonderten Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 wäre im öffentlichen Interesse unumgänglich gewesen, wenn § 1106 BGB zu beachten gewesen wäre, wonach ein Bruchteil eines Grundstücks mit einer Reallast nur belastet werden kann, wenn er in dem Anteil eines Miteigentümers besteht. Denn dann läge ein unausführbarer Inhalt des Lastenblatts vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Die Annahme der Flurbereinigungsbehörden trifft indessen nicht zu. Denn § 68 Abs. 2 FlurbG stellt, um möglichst wenige, aber große neue Grundstücke ausweisen zu können (vgl. § 44 Abs. 3 Satz 1 FlurbG; dazu Steuer, FlurbG 2. A. 1967, § 68 Anm. 5), eine speziellere Regelung zu § 1106 BGB dar (vgl. zu § 1114 BGB etwa Lieder, in: Münch. Komm. 8. A. 2020, § 1106 Rn. 21; OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.09.1986 - 12 U 93/86 -, NJW-RR 1987, 271). Gründe, warum § 68 Abs. 2 FlurbG trotz möglicher Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Bruchteilsrechten zwar § 1114 BGB (allgemeine Meinung), nicht aber auch der vergleichbaren Vorschrift des § 1106 BGB vorgehen sollte, vermag der Senat nicht zu erkennen (vgl. Mohr, in: Münch. Komm., a.a.O., § 1106 Rn. 1, der von einem „dogmatischer Gleichlauf der beiden Vorschriften“ spricht).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Konnte damit - wie bereits im Plannachtrag 1 geschehen - eine Bruchteilsbelastung des ursprünglichen Abfindungsgrundstücks Flst. Nr. ...9 vorgenommen werden, kann ein öffentliches Interesse, das eine Änderung des Flurbereinigungsplans im Stand des Nachtrags 1 unumgänglich machte, jedenfalls nicht erkannt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Ob vor dem Hintergrund, dass die Ausweisung besonderer Grundstücke im Hinblick auf die Gestaltungsrichtlinie in § 44 Abs. 3 Satz 1 FlurbG gegenüber einer Bruchteilsbelastung grundsätzlich zurückzutreten hat (vgl. Wingerter/Mayr, a.a.O., § 68 Rn. 25 m. N.), überhaupt die Voraussetzungen für eine Sonderung nach § 68 Abs. 3 FlurbG vorlagen, erscheint zweifelhaft, da weder die Kläger noch L. eine Sonderung beantragt noch die vorgenommene Bruchteilsbelastung beanstandet hatten (vgl. dazu LG Karlsruhe, Beschl. v. 19.10.1959 - 7 T 140/59 -, RzF - 1 - zu § 68 Abs. 2 FlurbG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Vorschrift des § 147 Abs. 1 FlurbG, welche lediglich den Kläger begünstigen soll, findet vorliegend keine Anwendung. Es fallen daher für den Beklagten sowohl Auslagen als auch Gerichtsgebühren an (vgl. Senatsurt. v. 11.09.2014 - 7 S 197/12 -, ESVGH 65, 190; dazu Wingerter/Mayr, a.a.O., § 147 Rn. 1).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/><strong>Beschluss vom 20. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (vgl. § 52 Abs. 2 GKG und Nr. 13.2.2 des Streitwertkatalogs 2013).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,228 | vghbw-2022-07-20-3-s-391521 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 S 3915/21 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-08-18T10:02:05 | 2022-10-17T11:09:17 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p>Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 29. April 2021 - 14 K 1958/20 - geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2019 wird aufgehoben.</p><p>Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger wendet sich gegen die Ausübung eines Vorkaufsrechts durch die Beklagte aufgrund ihrer Satzung vom 17.12.2014 „über ein besonderes Vorkaufsrecht nach § 25 Abs. 1 Ziff. 2 BauGB im Bereich Stadtmitte II“ (Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Beigeladene veräußerte mit notariellem Vertrag vom 25.7.2019 an den Kläger die bebauten Grundstücke Flst.-Nrn. xxx und xxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxx und xx, xxxxxxxxxxx. Die Grundstücke liegen im räumlichen Geltungsbereich der Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“ und des Bebauungsplans „Innenstadt“ der Beklagten vom 25.7.2001.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Vertrag vom 25.7.2019 lautet auszugsweise:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table class="Rsp"><tr><th colspan="1" rowspan="1"><rd nr="4"/></th></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"><strong>III</strong> </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"><strong>Kaufpreis</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> 1. Der Kaufpreis beträgt</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong> 1.350.000,-- EUR</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>(in Worten: eine Million dreihundertfünfzigtausend Euro).</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Der Kaufpreis setzt sich wie folgt zusammen:</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> xxxxxxxxxxxxxxxxxxx (Grundstück mit Gebäude) 500.000 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Inventar gemäß Bilanz zum 31.12.2016 100.000 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> -------------</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> 600.000 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> xxxxxxxxxxxxxxxxxxxx (Grundstück mit Gebäude) 750.000 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> […] </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> […] </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>IV</strong> </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>Allgemeine Vertragsbestimmungen</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> 1. Bei dem Grundstück Flurstück Nr. xxx, xxxxxxxxxxxxxxxxxxx, handelt es sich um ein Gebäude, dessen Ursprünge bis in das Jahr 1622 zurückreichen. Das Gebäude wurde vielfach umgebaut und erweitert. Es steht nicht unter Denkmalschutz. In dem Gebäude wurde bis zum Jahr 2017 ein Hotel betrieben, das wegen eines Brandschadens im Januar 2017 geschlossen wurde und den Betrieb nicht mehr aufgenommen hat. Für das Gebäude liegt ein Brandschutzgutachten vor. Auf dieser Basis wurde bereits eine Baugenehmigung erteilt. Mit Kaufpreiszahlung überträgt der Verkäufer diese Baugenehmigung auf den Käufer. Der Verkäufer hat keinerlei Maßnahmen hinsichtlich der notwendigen oder geplanten Sanierungs- oder Bauarbeiten ergriffen oder durchgeführt. Die Parteien sind darüber einig, dass dies ausschließlich Sache des Käufers ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> […] </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> 2. Die endgültige Übergabe des Kaufgegenstandes erfolgt Zug um Zug mit der Kaufpreiszahlung.</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> 3. Der Käufer ist berechtigt, ab sofort auf eigene Kosten und Gefahren mit Renovierungsarbeiten in dem Vertragsgegenstand zu beginnen, soweit diese werterhöhend sind. Im Falle eines Rücktritts des Verkäufers kann dieser keine Beseitigung der Veränderungen verlangen, er hat aber keine Vergütung hierfür zu leisten. Alle Nebenkosten sind ab dem Zeitpunkt der Nutzung in vorstehendem Sinne vom Käufer zu tragen.</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> […] </td></tr></table></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Der beurkundende Notar übermittelte der Beklagten eine Kopie des Vertrags (Eingang bei der Beklagten am 8.8.2019).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>In einem Schreiben vom 30.8.2019 der Beklagten an die Beigeladene heißt es u. a.: Das veräußerte Grundstück liege im Geltungsbereich der Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“. Über die Ausübung des Vorkaufsrechts entscheide der Gemeinderat in seiner Sitzung am 25.9.2019. Zur Vorbereitung des Sachvortrags für die Mitglieder des Gemeinderats sei es notwendig, eine Besichtigung des Kaufobjekts vorzunehmen. Die Beigeladene werde gebeten, Verwaltungsmitarbeitern eine solche Besichtigung zu ermöglichen und eine Terminvereinbarung vorzunehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit einem „Kurzbrief“ vom 3.9.2019 sollte dem Kläger das Schreiben vom 30.8.2019 mit der Bitte um „Kenntnisnahme“ und „Erledigung“ übermittelt werden. Ein Abgangsdatum ist auf der in die Verwaltungsakte der Beklagten abgehefteten Kopie des „Kurzbriefs“ nicht vermerkt. Der Kläger hat (in der Berufungsbegründung) angegeben, er habe nur den „Kurzbrief“ erhalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>In einem Schreiben vom 6.9.2019 verweist die Beigeladene die Beklagte wegen einer Terminabsprache an den Kläger. Dieser sei im Besitz aller Schlüssel und von ihr darüber informiert worden, dass sich die Stadtverwaltung bezüglich eines Begehungstermins mit ihm in Verbindung setzen werde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Am 18.9.2019 kam es zu einem telefonischen Kontakt zwischen dem Kläger und der Beklagten. Der „Kurzbrief“ und das Schreiben an die Beigeladene vom 30.8.2019 wurden ihm hierauf - noch am 18.9.2019 - per Mail übermittelt. In der Mail heißt es u. a.: „Wie vereinbart, würden Sie sich nach Durchsicht der Unterlagen zwecks der weiteren Vorgehensweise wieder bei mir melden.“</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Am 25.9.2019 schlossen die Beigeladene und der Kläger einen „Nachtrag zum Kaufvertrag vom 25.07.2019“. Der „Nachtrag“ lautet auszugsweise:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table class="Rsp"><tr><th colspan="1" rowspan="1"><rd nr="11"/></th></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"><strong>II</strong> </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>Geänderte Sachverhalte</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Die Beteiligten ändern und ergänzen den geschlossenen Kaufvertrag wie folgt:</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Der Käufer hat im Vorfeld der Beurkundung und seit her unter Ausnutzung der bestehenden Baugenehmigung und Beachtung des bestehenden Brandschutzgutachtens Renovierungs- und Ausbaumaßnahmen in dem Gebäude xxxxxxxxxxxxxxxxxx, Flurstück Nummer xxx vorgenommen. Die einzelnen Maßnahmen sind in der Anlage zu diesem Nachtrag aufgeführt. Ebenso sind die dafür durch den Käufer erbrachten und getätigten Aufwendungen im Einzelnen erfasst. Die Aufwendungen umfassen einen Gesamtbetrag in Höhe von (Betrag 106.750,-- EUR). Die Aufwendungen wurden im Hinblick darauf erbracht, dass der Käufer darauf vertraut hat, künftig Eigentümer des Kaufobjekts zu werden. Die mögliche Ausübung eines Vorkaufsrechts wurde dabei nicht beachtet.</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Die Beteiligten sind darüber einig, dass die erbrachten Aufwendungen sich im vollen Umfang werterhöhend auf das Kaufobjekt ausgewirkt haben. Nach Durchführung der Renovierungsarbeiten wurden die Arbeiten zum Brandschutz durch die Stadt xxxxxxxxxxx abgenommen. Danach wurde das Kaufobjekt wieder als Hotel verpachtet.</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Durch die vom Käufer vorgenommenen Arbeiten schuldete der Verkäufer dem Käufer Aufwendungsersatz in Höhe von 106.750,-- EUR. Da es sich hierbei um Bauleistungen handelt, kommt die Mehrwertsteuer mit 19 %, also 20.283,-- EUR hinzu, so dass der Gesamtaufwendungsersatz 127.033,-- EUR beträgt.</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>III</strong> </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>Vertragsänderungen, Anpassungen</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Im Hinblick auf diese Sachverhalte wird der Kaufvertrag wie folgt geändert:</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>Abschnitt III</strong> wird insgesamt neu gefasst:</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>Kaufpreis</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> 1. Der Kaufpreis beträgt</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong> 1.456.750,-- EUR</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> <strong>(in Worten: eine Million vierhundertsechsundfünfzigtausendsiebenhundertfünfzig Euro).</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Der Kaufpreis setzt sich wie folgt zusammen:</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> xxxxxxxxxxxxxxxxxxx (Grundstück mit Gebäude) 500.000 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Inventar gemäß Bilanz vom 31.12.2016 100.000 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> Aufwendungsersatz 106.750 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> -------------</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> 706.750 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> xxxxxxxxxxxxxxxxxxxx (Grundstück mit Gebäude)750.000 EUR</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> […] </td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify"> […] </td></tr></table></td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Eine Ausfertigung des „Nachtrags“ ging am 25.9.2019 bei der Beklagten ein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Der Gemeinderat der Beklagten beschloss in seiner Sitzung am 25.9.2019 einstimmig, „das der Stadt xxxxxxxxxx zustehende Vorkaufsrecht nach § 25 Baugesetzbuch (BauGB) am Verkaufsvorgang über die Grundstücke Flst. Nr. xxx und xxxxx, Gem. xxxxxxxxxx (Anwesen xxxxxxxxxxxxxxxxxxx und xx)“ auszuüben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Mit Bescheid vom 4.10.2019 übte die Beklagte gegenüber der Beigeladenen „das ihr zustehende Vorkaufsrecht aus hinsichtlich des Verkaufs des Grundstücks Gebäude und Freifläche xxxxxxxxxxxxxxxxxxx, Flurstück Nr. xxx, sowie des Grundstücks Gebäude und Freifläche xxxxxxxxxxxxxxxxx xx, Flurstück Nr. xxxxx durch Kaufvertrag vom 25. Juli 2019 des Notars […], UR-Nr. […]“. Zur Begründung führt die Beklagte u. a. aus: Grundlage für die Aufstellung der Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“ sei ihr Ansinnen, das Zentrum des zentralen Versorgungsgebiets, welches gemäß der Definition ihres Einzelhandelskonzepts im Areal rings um das Hotel xxxxx mit dem xxxxxxxxxxxx sowie dem Kreuzungsbereich xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx-xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx gelegen sei, wieder aufzuwerten. Mit einer städtebaulichen Aufwertung dieser Fläche solle ein wesentlicher Impuls für die Erhaltung und Entwicklung der Funktionsfähigkeit ihrer Innenstadt gesetzt werden. Dies solle mit einer hochwertigen, ansprechenden und stadtmaßstäblich angepassten Architektur und der Ansiedlung von Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen erfolgen. Im Einzelhandelskonzept sei dabei u. a. die städtebauliche Neuordnung des Areals angedacht, um einen Einzelhandelsschwerpunkt mit gegebenenfalls größeren Einzelhandelsflächen für Betriebe mit großer Magnetwirkung für die Innenstadt bereitstellen zu können. Durch den Erwerb der Flurstücke Nr. xxx und Nr. xxxxx sowie den bereits erfolgten Erwerb des Flurstücks Nr. xxxxx ebenfalls durch Ausübung eines Vorkaufsrechts sichere sie sich marktfähige Flächen für eine zeitgemäße Einzelhandelsnutzung. Zusammen mit den bereits in ihrem Eigentum stehenden Flurstück Nr. xxxxx verfüge sie über Flächen, die eine zielgerichtete Flächenpolitik zur Stärkung des Einzelhandelsstandorts Innenstadt ermöglichten. Durch die Ausübung des Vorkaufsrechts greife sie in den zwischen der Beigeladenen und dem Kläger geschlossenen Vertrag ein. Der Eingriff habe zur Folge, dass beide Parteien des Vertrags ihre Absichten nicht würden umsetzen können. Der damit verbundene Eingriff sei jedoch verhältnismäßig. Wie dargelegt verfolge sie mit der Ausübung des Vorkaufsrechts ein legitimes städtebauliches Ziel. Der Erwerb der Flächen sei geeignet, das städtebauliche Ziel umzusetzen, da sich städtebauliche Maßnahmen leichter umsetzen ließen, wenn die planende Kommune über Flächen im Plangebiet verfüge. Mildere, aber gleich geeignete Mittel zur Erreichung des Ziels seien nicht ersichtlich. Insbesondere lasse sich durch vertragliche Vereinbarungen mit der Beigeladenen bzw. dem Kläger nicht im gleichen Maß sicherstellen, dass die städtebaulichen Zielsetzungen erreicht würden. Letztlich überwögen auch die städtebaulichen und öffentlichen Interessen gegenüber den privaten Interessen der Beigeladenen und des Klägers. Durch die Ausübung des Vorkaufsrechts komme ein Vertrag zwischen der Beigeladenen und ihr unter den Bestimmungen zustande, die die Beigeladene mit dem Kläger vereinbart hätten. Beachtliche nachteilige Auswirkungen, insbesondere wirtschaftlicher Art ergäben sich aufgrund der gesetzlichen Regelungen nicht. Soweit der Kläger vergeblichen Aufwand vor Abschluss des Vertrags betrieben habe, führe die Ausübung des Vorkaufsrechts für ihn zu Nachteilen. Allerdings überwögen die Interessen der Allgemeinheit an der geordneten städtebaulichen Entwicklung diese Nachteile.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Gegen den Bescheid erhob der Kläger durch seine heutigen Prozessbevollmächtigten am 24.10.2019 Widerspruch. Nachfolgend übermittelte die Beklagte den Prozessbevollmächtigten eine Kopie der Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“; sie bat diese ferner um Begründung des Widerspruchs bis zum 31.1.2020. An diesem Tag ging bei der Beklagten eine solche ein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Mit Urteil vom 29.4.2021 hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Klage des Klägers vom 28.4.2020 gegen den Bescheid vom 4.10.2019 abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Rechtsgrundlage des Bescheids vom 4.10.2019 sei § 25 Abs. 1 Nr. 2 BauGB i. V. m. der Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“. Die Satzung sei wirksam. Die Ausübung des Vorkaufsrechts durch den Bescheid sei formell rechtmäßig. Dem Bescheid liege ein formell rechtmäßiger Gemeinderatsbeschluss zugrunde. Es sei eine den Anforderungen des § 28 Abs. 1 LVwVfG noch genügende Anhörung der Beteiligten durchgeführt worden. Der Bescheid sei auch materiell rechtmäßig. Gegen die Wirksamkeit des Vertrags vom 25.7.2019 bestünden keine Bedenken. Sie werde durch die Änderungen im Nachtragskaufvertrag nicht berührt; diese beträfe lediglich die Änderung von Modalitäten. Das Wohl der Allgemeinheit rechtfertige die Ausübung des Vorkaufsrechts. Der Rechtmäßigkeit der Ausübung des Vorkaufsrechts stehe nicht entgegen, dass die Beklagte im Bescheid vom 4.10.2019 keinen konkreten Verwendungszweck angegeben habe. Ein Ausschlussgrund nach § 26 BauGB liege nicht vor. Ein Abwendungsrecht bestehe nicht. Es lägen auch keine Ermessensfehler vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Auf Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 17.12.2021 (3 S 2241/21) die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen. Der Beschluss wurde dem Kläger am 30.12.2021 zugestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Am 24.1.2022 hat der Kläger die Berufung begründet. Er trägt u. a. vor: Die Beigeladene und er seien nicht in ausreichendem Maße angehört worden. Zudem fehle es an dem erforderlichen Ratsbeschluss über die Ausübung des Vorkaufsrechts. Nur der Kaufvertrag vom 25.7.2019 sei Grundlage der Gemeinderatssitzung gewesen und nur über diesen sei abgestimmt worden. Der Nachtrag sei nicht Gegenstand der Beratung des Gemeinderats gewesen. Der Kaufvertrag vom 25.7.2019 sei zum Zeitpunkt des Ratsbeschlusses wirksam geändert gewesen. Grund für den Nachtrag sei der Umstand gewesen, dass er Sanierungsarbeiten in der genannten Größenordnung durchgeführt gehabt habe. Der Bescheid vom 4.10.2019 sei ermessensfehlerhaft. Die Annahme der Beklagten, sie habe ein legitimes städtebauliches Ziel verfolgt, sei mit Vorsicht zu genießen. Die Fläche sei nicht geeignet, das städtebauliche Ziel umzusetzen. Denn es gebe für die maßgeblichen Grundstücke einen Bebauungsplan, der schon vorschreibe und festlege, wie die Fläche zu bebauen sei. Seine privaten Interessen, die dem Gemeinderat nicht bekannt gewesen seien, seien bei den ganzen Überlegungen überhaupt nicht berücksichtigt worden. Insbesondere hätte die Beklagte berücksichtigen müssen, dass er aufgrund ihrer Verfügung den Brandschaden behoben und damit die bauliche Anlage wiederhergestellt habe. Es sei von einem Ermessensdefizit auszugehen, da sich die Beklagte mit dem Nachtragskaufvertrag nicht auseinandergesetzt habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="20"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 29. April 2021 - 14 K 1958/20 - zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2019 aufzuheben</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>sowie</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Die Beklagte verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts. Sie trägt u. a. vor: Zwar habe sich ihr Gemeinderat am 25.9.2019 nicht mit dem Nachtrag zum Kaufvertrag befasst, doch begründe dies keinen zur Rechtswidrigkeit des Gemeinderatsbeschlusses führenden Fehler. Die Änderungen des ursprünglichen Kaufvertrags durch den Nachtrag vom 25.9.2019 seien nicht Gegenstand des durch die Ausübung des Vorkaufsrechts zwischen der Beigeladenen und ihr zustande gekommenen Kaufvertrags geworden. Selbst wenn die Änderung des ursprünglichen Kaufvertrags Auswirkungen auf den Inhalt des Zweitvertrags gehabt hätte, würde die Nichtbefassung des Gemeinderats mit dem Nachtrag keinen Verstoß gegen Vorschriften der Gemeindeordnung begründen. Sie habe den Kläger und die Beigeladene ordnungsgemäß angehört. Der Nachtrag führe zu keinem neuen oder anderen Vorkaufsfall. Selbst wenn sie gezwungen wäre, den Inhalt des Zweitvertrags bereits im Ausübungsbescheid zu bestimmen, wäre der Ausübungsbescheid vom 4.10.2019 so auszulegen, dass er den Kaufvertrag in der Fassung betreffe, wie er der Gemeinde zum Zeitpunkt des Versands des Ausübungsbescheids bekannt gewesen sei. Aus dem Nachtrag ergäben sich keine Gesichtspunkte, welche sie zusätzlich zu den im Ausübungsbescheid angegebenen Erwägungen noch zugunsten des Klägers in ihre Ermessensentscheidung hätte einbeziehen müssen. Sie bekräftige, dass sie das Vorkaufsrecht auch zu dem im Nachtrag genannten Kaufpreis ausüben wolle.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Dem Senat liegen die Akten des Verwaltungsgerichts, die Akten der Beklagten zur Ausübung des Vorkaufsrechts, die Akten der Beklagten zur Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“, der Bebauungsplan „Innenstadt“ der Beklagten und das Stadtmarketing- und Stadtentwicklungskonzept xxxxxxxxxx vom Januar 2014 vor. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten bzw. Unterlagen und die im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gewechselten Schriftsätze mit Anlagen verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg. Die zulässige Klage des Klägers ist begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>I. Die Klage ist zulässig. Sie ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Die Voraussetzungen des § 75 VwGO für eine Zulässigkeit der Klage abweichend von § 68 VwGO sind erfüllt. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat waren seit Erhebung des Widerspruchs mehr als zweieinhalb Jahre vergangen. Ein zureichender Grund dafür, dass die Beklagte (zu deren Zuständigkeit s. § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwGO, § 17 Abs. 1 AGVwGO, § 119 Satz 1 Hs. 2 GemO) über den Widerspruch des Klägers vom Oktober 2019 nicht entschieden hatte, ist weder von ihr geltend gemacht worden noch ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Auch wenn der Kläger nicht Adressat des Bescheids vom 4.10.2019 ist, ist er klagebefugt i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO. Die Ausübung des Vorkaufsrechts durch eine Gemeinde ist ein privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt, der sich auch gegenüber dem Käufer als belastender Verwaltungsakt darstellt (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.6.2015 - 8 S 1386/14 - juris Rn. 36 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>II. Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 4.10.2019 ist zulasten des Klägers rechtswidrig (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>1. Maßgebliche Sach- und Rechtslage für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausübung eines (gemeindlichen) Vorkaufsrechts ist grundsätzlich diejenige zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Senatsurt. v. 30.9.2021 - 3 S 2595/20 - juris Rn. 24; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 9.11.2021 - 4 C 1.20 - juris Rn. 21). Da das Widerspruchsverfahren noch nicht durch den Erlass eines Widerspruchsbescheids abgeschlossen ist, ist vorliegend - ausnahmsweise - auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>2. Rechtsgrundlage des Bescheids vom 4.10.2019 sind § 28 Abs. 2 Satz 1, § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB i. V. m. der Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB kann die Gemeinde in Gebieten, in denen sie städtebauliche Maßnahmen in Betracht zieht, zur Sicherung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung durch Satzung Flächen bezeichnen, an denen ihr ein Vorkaufsrecht an den Grundstücken zusteht. Auf dieser Rechtsgrundlage hat die Beklagte die Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“ erlassen, gegen deren Rechtmäßigkeit der Kläger im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof keine Einwände erhoben hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Das Vorkaufsrecht - und damit auch das auf der Grundlage von § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB begründete satzungsrechtliche Vorkaufsrecht - kann nach § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB durch Verwaltungsakt gegenüber dem Verkäufer ausgeübt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>3. Der Bescheid vom 4.10.2019 ist bereits formell rechtswidrig. Der Kläger ist vor Erlass des Bescheids nicht ordnungsgemäß angehört worden (dazu a)). Der Anhörungsmangel ist auch nicht geheilt worden (dazu b)). Ob die Beigeladene vor Erlass des Bescheids ordnungsgemäß angehört worden ist, bedarf keiner Entscheidung. Der Kläger könnte sich auf eine rechtsfehlerhafte Anhörung der Beigeladenen nicht berufen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO: „dadurch“). Der Bescheid vom 4.10.2019 ist der Beigeladenen gegenüber bestandskräftig geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>a) Der Kläger ist vor Erlass des Bescheids vom 4.10.2019 nicht ordnungsgemäß angehört worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>aa) Nach § 28 Abs. 1 LVwVfG ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>bb) Der Kläger als Käufer des Vertrags vom 25.7.2019 musste vor Erlass des Bescheids vom 4.10.2019 angehört werden (vgl. auch BayVGH, Urt. v. 2.10.2013 - 1 BV 11.1944 - juris Rn. 32). Denn die Ausübung eines Vorkaufsrechts nach § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB hat zur Folge, dass der im (Erst-)Vertrag begründete Anspruch auf Übereignung des Grundstücks von der Beigeladenen (als Verkäuferin) nicht mehr erfüllt werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>cc) Der Senat muss, auch nach den diesbezüglichen Erörterungen in der mündlichen Verhandlung, davon ausgehen, dass der Kläger zunächst nur den Kurzbrief vom 3.9.2019 erhalten hat und ihm das an die Beigeladene gerichtete Schreiben vom 30.8.2019 erst per Mail am 18.9.2019 übermittelt worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>dd) Mit der Übersendung des Kurzbriefs und dem Schreiben sowie mit den Ausführungen in der Mail wurde dem Kläger nicht i. S. v. § 28 Abs. 1 LVwVfG Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dazu ist jedenfalls erforderlich, dass die anhörende Behörde dem Betroffenen hinreichend deutlich macht, dass sie ihm Gelegenheit zur Äußerung einräumt (vgl. nur Kallerhoff/Mayen in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 35). Bereits an dieser Voraussetzung fehlt es.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>In dem Kurzbrief ist lediglich von der Bitte um „Kenntnisnahme“ und „Erledigung“ die Rede. Zwar wäre denkbar, dass der Kläger die Übermittlung des Schreibens vom 30.8.2019 so hätte verstehen müssen, dass er ebenfalls angehört werden sollte. Indes kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Beigeladene mit diesem Schreiben angehört worden ist. In dem Schreiben teilt die Beklagte der Beigeladenen mit, dass ihr Gemeinderat über die Ausübung des Vorkaufsrechts in seiner Sitzung am 25.9.2019 entscheiden werde und dass zur „Vorbereitung des Sachvortrages für die Mitglieder des Gemeinderats“ eine Besichtigung des Kaufobjekts notwendig sei. Die Beklagte bittet sodann die Beigeladene, Verwaltungsmitarbeitern eine solche Besichtigung zu ermöglichen, und sich diesbezüglich mit der Beklagten in Verbindung zu setzen. Dass sich die Beigeladene zu der Ausübung des Vorkaufsrechts äußern - und insoweit Einfluss auf den Sachvortrag nehmen - darf, kann dem Schreiben nicht entnommen werden; nicht zuletzt wird der Beigeladenen darin auch keine Frist zur Äußerung gesetzt. Mit dem Schreiben vom 30.8.2019 wurde die Beigeladene auch deshalb nicht ordnungsgemäß angehört, weil die Beklagte keine Gründe dafür nennt, weshalb sie in Erwägung zieht, das Vorkaufsrecht auszuüben. Die Gelegenheit, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, setzt aber notwendigerweise voraus, dass diese Tatsachen dem Betroffenen mitgeteilt werden (vgl. nur Grünewald in Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 6. Aufl. 2021, § 28 Rn. 20).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Anhörung erfolgte auch nicht unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Mail der Beklagten an den Kläger vom 18.9.2019. In dieser wird im Wesentlichen festgehalten, es sei vereinbart, dass sich der Kläger „nach Durchsicht der Unterlagen zwecks der weiteren Vorgehensweise“ wieder bei der Unterzeichnerin melden werde. Daraus wird nach Auffassung des Senats nicht hinreichend deutlich, dass dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden soll. Eine Mitteilung eventuell entscheidungserheblicher Tatsachen ist in der Mail vom 18.9.2019 ebenfalls nicht enthalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>ee) Die von den Beteiligten problematisierte Frage, ob eine Äußerungsfrist von einer Woche (Übersendung am 18.9.2019 und Gemeinderatssitzung am 25.9.2019) angemessen war bzw. gewesen wäre, braucht nach Vorstehendem nicht entschieden zu werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>b) Die Anhörung ist auch nicht zwischenzeitlich nachgeholt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>aa) Nach § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 LVwVfG kann die erforderliche Anhörung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. etwa jüngst Urt. v. 22.2.2022 - 4 A 7.20 - juris Rn. 25 m. w. N.) setzt eine Heilung voraus, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Diese Aufgabe besteht nicht allein darin, dass der Betroffene seine Einwendungen vorbringen kann und diese von der Behörde zur Kenntnis genommen werden, sondern schließt vielmehr ein, dass die Behörde ein etwaiges Vorbringen bei ihrer Entscheidung in Erwägung zieht. Dementsprechend reichen Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren als solche zur Heilung einer zunächst unterbliebenen Anhörung nicht aus. Eine funktionsgerecht nachgeholte Anhörung setzt vielmehr voraus, dass sich die Behörde nicht darauf beschränkt, die einmal getroffene Sachentscheidung zu verteidigen, sondern das Vorbringen des Betroffenen erkennbar zum Anlass nimmt, die Entscheidung kritisch zu überdenken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>cc) Gelegenheit zur Stellungnahme hat die Beklagte dem Kläger bereits mit dem Schreiben vom 20.12.2019 eingeräumt. In diesem Schreiben bittet sie den Kläger, dem die aus Sicht der Beklagten entscheidungserheblichen Tatsachen aufgrund des Bescheids vom 4.10.2019 bekannt waren, den Widerspruch bis zum 31.1.2020 zu begründen. Dem ist der Kläger auch nachgekommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>dd) Eine Heilung des Anhörungsmangels hätte allerdings auch eine erneute Entscheidung des Gemeinderats der Beklagten unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers vorausgesetzt. Eine solche Entscheidung hat aber, was einer der Prozessbevollmächtigten der Beklagten auf diesbezügliche Nachfrage des Senats in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt hat, der Gemeinderat der Beklagten bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht getroffen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Das für die Entscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts im vorliegenden Fall zuständige Organ ist der Gemeinderat der Beklagten, nicht die vom (Ober-)Bürgermeister (gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1, § 44 Abs. 1 Satz 1 GemO) geleitete Verwaltung. Bei der Ausübung des Vorkaufsrechts handelt es nicht um ein Geschäft der laufenden Verwaltung i. S. des § 44 Abs. 2 Satz 1 GemO. Hiervon geht offensichtlich auch die Beklagte aus. Solche Geschäfte sind im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass sie weder nach der grundsätzlichen Seite noch für den Gemeindehaushalt von erheblicher Bedeutung sind und zu den normalerweise anfallenden Geschäften der Gemeinde gehören (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 19.10.2021 - 1 S 2579/21 - juris Rn. 67). Beide Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der von der Beklagten an die Klägerin zu zahlende Kaufpreis beträgt jedenfalls mehr als eine Million Euro. Es liegt auf der Hand, dass ein Erwerb zu einem solchen Betrag in einer Gemeinde wie der Beklagten mit etwas mehr als 20.000 Einwohnern von erheblicher haushaltsrechtlicher Relevanz ist. Dies wird auch dadurch untermauert, dass nach der am 25.9.2019 geltenden Hauptsatzung der Beklagten ihrem Oberbürgermeister die Ausübung von Vorkaufsrechten (nur) „bis zu einem Wert bis zu 40.000 EUR im Einzelfall“ übertragen war (§ 10 Abs. 2 Nr. 2.9). Es spricht auch nichts dafür, dass ein Grundstücksgeschäft mit einem Volumen von über einer Million Euro bei der Beklagten ein normaler, gleichsam alltäglicher Vorgang ist. Aus vorstehendem Hinweis auf die seinerzeit geltende Hauptsatzung ergibt sich zugleich, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts nicht ein Geschäft war, das der Gemeinderat dem Oberbürgermeister zur Erledigung in eigener Zuständigkeit übertragen hatte (vgl. § 44 Abs. 2 Satz 1 GemO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>4. Der Bescheid vom 4.10.2019 ist auch materiell rechtswidrig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>a) Das der Beklagten bei der Ausübung des Rechts zur Ausübung des Vorkaufsrechts eingeräumte Ermessen hat diese zulasten des Klägers fehlerhaft ausgeübt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>aa) Ist für die Entscheidung über die Ausübung des Rechts zur Ausübung des Vorkaufsrechts - wie im vorliegenden Fall - gemeindeintern der Gemeinderat zuständig, so hat dieser das der Gemeinde eingeräumte Ermessen auszuüben. Die Ermessensausübung durch den Gemeinderat ist dann auch Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemäß § 114 Satz 1 VwGO. Die Ermessenserwägungen in dem von der Gemeindeverwaltung in Vollzug des Gemeinderatsbeschlusses erlassenen Ausübungsbescheid sind hingegen nicht von ausschlaggebender Bedeutung; sie sind allenfalls ein Indiz dafür, dass der Gemeinderat entsprechende Ermessenserwägungen angestellt hat. Unbeachtlich sind auch im Prozess nachgeschobene Ermessenserwägungen (vgl. § 114 Satz 2 VwGO), sofern diese nicht auf einer Befassung des Gemeinderats beruhen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Soweit ein Prozessbevollmächtigter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass eine Ermessensausübung durch den Gemeinderat auf praktische Schwierigkeiten stößt, ist dem zum einen entgegenzuhalten, dass die Ermessensausübung durch den Gemeinderat zwingende Folge von dessen Entscheidungszuständigkeit ist. Zum anderen scheinen die praktischen Schwierigkeiten nicht unüberwindbar zu sein. Insbesondere ist es denkbar, dass in der Vorlage für den Gemeinderat die maßgeblichen Erwägungen für die Ausübung des Ermessens enthalten sind und der Gemeinderat sich diese zu eigen macht (entsprechend der Praxis in Bebauungsplanverfahren, dass der Gemeinderat seine Abwägungsentscheidung in der Weise trifft, dass er einem ihm vorgelegten Abwägungsvorschlag zustimmt).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>bb) Es ist bereits zweifelhaft, ob dem Gemeinderat der Beklagten bewusst war, dass Ermessen auszuüben war. Auf die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung wird weder in der Beschlussvorlage vom 27.8.2019 noch in der für die Gemeinderatssitzung erstellten Präsentation ausdrücklich hingewiesen. Auch der Niederschrift über die Gemeinderatssitzung lässt sich dies nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Der Frage braucht jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Denn jedenfalls war dem Gemeinderat der Beklagten, wie sie im Berufungsverfahren ausdrücklich eingeräumt hat, der „Nachtrag zum Kaufvertrag vom 25.07.2019“ nicht bekannt. Er konnte damit das besondere Erwerbsinteresse des Klägers, das über das Erwerbsinteresse hinausgeht, das ein (Erst-)Käufer regelmäßig hat, nicht berücksichtigen. Dies führt zur Fehlerhaftigkeit der (Ermessens-)Entscheidung zu Lasten des Klägers.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Aus dem „Nachtrag“ wird deutlich, dass der Kläger von der ihm im Vertrag vom 25.7.2019 eingeräumten Befugnis, werterhöhende Renovierungsarbeiten bereits vor der Übergabe des Kaufgegenstands (und dem Eigentumsübergang) vorzunehmen, bereits Gebrauch gemacht hat. Dass in dem Objekt Maßnahmen durchgeführt worden waren, war der Beklagten zudem aufgrund der „Schlussabnahme“ vom 27.8.2019 jedenfalls im Grundsatz bekannt. Da dem Gemeinderat der Beklagten diese bei der Ausübung des Ermessens zu berücksichtigende Information vorenthalten wurde, konnte er sich mit ihr bereits nicht beschäftigen. Dass sie (wohl) in dem Bescheid vom 4.10.2019 angesprochen ist („Aufwand vor Abschluss des Vertrags“), ist ohne Bedeutung, da die dortigen Erwägungen nicht von dem zuständigen Gemeinderat der Beklagten angestellt worden waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>cc) Zur Vermeidung von Missverständnissen weist der Senat darauf hin, dass er damit keine Aussage darüber getroffen hat, ob die Beigeladene und der Kläger nach Entstehen des Rechts zur Ausübung des Vorkaufsrechts mit dem Zustandekommen des Vertrags vom 25.7.2019 den Nachtrag mit Wirkung gegenüber der Beklagten ändern konnten. Entscheidend ist, dass sich aus dem Nachtrag Umstände ergeben haben, die in die Ermessensentscheidung der Beklagten einzustellen waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Es spricht allerdings sehr viel dafür, dass mit der Übersendung des Nachtrags an die Beklagte die Zwei-Monats-Frist des damaligen § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB erneut zu laufen begann, so dass die Beklagte ausreichend Zeit gehabt hätte, dem Gemeinderat eine Befassung mit den Umständen zu ermöglichen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/><strong>Beschluss vom 20. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch den Kläger wird für notwendig erklärt (vgl. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/><strong>Beschluss vom 20. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. der Empfehlung in Nr. 9.6.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt z. B. in Schoch/Schneider, VwGO, unter § 163) auf</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>337.500 Euro</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>festgesetzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg. Die zulässige Klage des Klägers ist begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>I. Die Klage ist zulässig. Sie ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Die Voraussetzungen des § 75 VwGO für eine Zulässigkeit der Klage abweichend von § 68 VwGO sind erfüllt. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat waren seit Erhebung des Widerspruchs mehr als zweieinhalb Jahre vergangen. Ein zureichender Grund dafür, dass die Beklagte (zu deren Zuständigkeit s. § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwGO, § 17 Abs. 1 AGVwGO, § 119 Satz 1 Hs. 2 GemO) über den Widerspruch des Klägers vom Oktober 2019 nicht entschieden hatte, ist weder von ihr geltend gemacht worden noch ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Auch wenn der Kläger nicht Adressat des Bescheids vom 4.10.2019 ist, ist er klagebefugt i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO. Die Ausübung des Vorkaufsrechts durch eine Gemeinde ist ein privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt, der sich auch gegenüber dem Käufer als belastender Verwaltungsakt darstellt (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.6.2015 - 8 S 1386/14 - juris Rn. 36 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>II. Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 4.10.2019 ist zulasten des Klägers rechtswidrig (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>1. Maßgebliche Sach- und Rechtslage für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausübung eines (gemeindlichen) Vorkaufsrechts ist grundsätzlich diejenige zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Senatsurt. v. 30.9.2021 - 3 S 2595/20 - juris Rn. 24; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 9.11.2021 - 4 C 1.20 - juris Rn. 21). Da das Widerspruchsverfahren noch nicht durch den Erlass eines Widerspruchsbescheids abgeschlossen ist, ist vorliegend - ausnahmsweise - auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>2. Rechtsgrundlage des Bescheids vom 4.10.2019 sind § 28 Abs. 2 Satz 1, § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB i. V. m. der Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB kann die Gemeinde in Gebieten, in denen sie städtebauliche Maßnahmen in Betracht zieht, zur Sicherung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung durch Satzung Flächen bezeichnen, an denen ihr ein Vorkaufsrecht an den Grundstücken zusteht. Auf dieser Rechtsgrundlage hat die Beklagte die Satzung „Vorkaufsrecht Stadtmitte II“ erlassen, gegen deren Rechtmäßigkeit der Kläger im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof keine Einwände erhoben hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Das Vorkaufsrecht - und damit auch das auf der Grundlage von § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB begründete satzungsrechtliche Vorkaufsrecht - kann nach § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB durch Verwaltungsakt gegenüber dem Verkäufer ausgeübt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>3. Der Bescheid vom 4.10.2019 ist bereits formell rechtswidrig. Der Kläger ist vor Erlass des Bescheids nicht ordnungsgemäß angehört worden (dazu a)). Der Anhörungsmangel ist auch nicht geheilt worden (dazu b)). Ob die Beigeladene vor Erlass des Bescheids ordnungsgemäß angehört worden ist, bedarf keiner Entscheidung. Der Kläger könnte sich auf eine rechtsfehlerhafte Anhörung der Beigeladenen nicht berufen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO: „dadurch“). Der Bescheid vom 4.10.2019 ist der Beigeladenen gegenüber bestandskräftig geworden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>a) Der Kläger ist vor Erlass des Bescheids vom 4.10.2019 nicht ordnungsgemäß angehört worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>aa) Nach § 28 Abs. 1 LVwVfG ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>bb) Der Kläger als Käufer des Vertrags vom 25.7.2019 musste vor Erlass des Bescheids vom 4.10.2019 angehört werden (vgl. auch BayVGH, Urt. v. 2.10.2013 - 1 BV 11.1944 - juris Rn. 32). Denn die Ausübung eines Vorkaufsrechts nach § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB hat zur Folge, dass der im (Erst-)Vertrag begründete Anspruch auf Übereignung des Grundstücks von der Beigeladenen (als Verkäuferin) nicht mehr erfüllt werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>cc) Der Senat muss, auch nach den diesbezüglichen Erörterungen in der mündlichen Verhandlung, davon ausgehen, dass der Kläger zunächst nur den Kurzbrief vom 3.9.2019 erhalten hat und ihm das an die Beigeladene gerichtete Schreiben vom 30.8.2019 erst per Mail am 18.9.2019 übermittelt worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>dd) Mit der Übersendung des Kurzbriefs und dem Schreiben sowie mit den Ausführungen in der Mail wurde dem Kläger nicht i. S. v. § 28 Abs. 1 LVwVfG Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dazu ist jedenfalls erforderlich, dass die anhörende Behörde dem Betroffenen hinreichend deutlich macht, dass sie ihm Gelegenheit zur Äußerung einräumt (vgl. nur Kallerhoff/Mayen in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 35). Bereits an dieser Voraussetzung fehlt es.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>In dem Kurzbrief ist lediglich von der Bitte um „Kenntnisnahme“ und „Erledigung“ die Rede. Zwar wäre denkbar, dass der Kläger die Übermittlung des Schreibens vom 30.8.2019 so hätte verstehen müssen, dass er ebenfalls angehört werden sollte. Indes kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Beigeladene mit diesem Schreiben angehört worden ist. In dem Schreiben teilt die Beklagte der Beigeladenen mit, dass ihr Gemeinderat über die Ausübung des Vorkaufsrechts in seiner Sitzung am 25.9.2019 entscheiden werde und dass zur „Vorbereitung des Sachvortrages für die Mitglieder des Gemeinderats“ eine Besichtigung des Kaufobjekts notwendig sei. Die Beklagte bittet sodann die Beigeladene, Verwaltungsmitarbeitern eine solche Besichtigung zu ermöglichen, und sich diesbezüglich mit der Beklagten in Verbindung zu setzen. Dass sich die Beigeladene zu der Ausübung des Vorkaufsrechts äußern - und insoweit Einfluss auf den Sachvortrag nehmen - darf, kann dem Schreiben nicht entnommen werden; nicht zuletzt wird der Beigeladenen darin auch keine Frist zur Äußerung gesetzt. Mit dem Schreiben vom 30.8.2019 wurde die Beigeladene auch deshalb nicht ordnungsgemäß angehört, weil die Beklagte keine Gründe dafür nennt, weshalb sie in Erwägung zieht, das Vorkaufsrecht auszuüben. Die Gelegenheit, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, setzt aber notwendigerweise voraus, dass diese Tatsachen dem Betroffenen mitgeteilt werden (vgl. nur Grünewald in Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 6. Aufl. 2021, § 28 Rn. 20).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Anhörung erfolgte auch nicht unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Mail der Beklagten an den Kläger vom 18.9.2019. In dieser wird im Wesentlichen festgehalten, es sei vereinbart, dass sich der Kläger „nach Durchsicht der Unterlagen zwecks der weiteren Vorgehensweise“ wieder bei der Unterzeichnerin melden werde. Daraus wird nach Auffassung des Senats nicht hinreichend deutlich, dass dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden soll. Eine Mitteilung eventuell entscheidungserheblicher Tatsachen ist in der Mail vom 18.9.2019 ebenfalls nicht enthalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>ee) Die von den Beteiligten problematisierte Frage, ob eine Äußerungsfrist von einer Woche (Übersendung am 18.9.2019 und Gemeinderatssitzung am 25.9.2019) angemessen war bzw. gewesen wäre, braucht nach Vorstehendem nicht entschieden zu werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>b) Die Anhörung ist auch nicht zwischenzeitlich nachgeholt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>aa) Nach § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 LVwVfG kann die erforderliche Anhörung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. etwa jüngst Urt. v. 22.2.2022 - 4 A 7.20 - juris Rn. 25 m. w. N.) setzt eine Heilung voraus, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Diese Aufgabe besteht nicht allein darin, dass der Betroffene seine Einwendungen vorbringen kann und diese von der Behörde zur Kenntnis genommen werden, sondern schließt vielmehr ein, dass die Behörde ein etwaiges Vorbringen bei ihrer Entscheidung in Erwägung zieht. Dementsprechend reichen Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren als solche zur Heilung einer zunächst unterbliebenen Anhörung nicht aus. Eine funktionsgerecht nachgeholte Anhörung setzt vielmehr voraus, dass sich die Behörde nicht darauf beschränkt, die einmal getroffene Sachentscheidung zu verteidigen, sondern das Vorbringen des Betroffenen erkennbar zum Anlass nimmt, die Entscheidung kritisch zu überdenken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>cc) Gelegenheit zur Stellungnahme hat die Beklagte dem Kläger bereits mit dem Schreiben vom 20.12.2019 eingeräumt. In diesem Schreiben bittet sie den Kläger, dem die aus Sicht der Beklagten entscheidungserheblichen Tatsachen aufgrund des Bescheids vom 4.10.2019 bekannt waren, den Widerspruch bis zum 31.1.2020 zu begründen. Dem ist der Kläger auch nachgekommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>dd) Eine Heilung des Anhörungsmangels hätte allerdings auch eine erneute Entscheidung des Gemeinderats der Beklagten unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers vorausgesetzt. Eine solche Entscheidung hat aber, was einer der Prozessbevollmächtigten der Beklagten auf diesbezügliche Nachfrage des Senats in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt hat, der Gemeinderat der Beklagten bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht getroffen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Das für die Entscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts im vorliegenden Fall zuständige Organ ist der Gemeinderat der Beklagten, nicht die vom (Ober-)Bürgermeister (gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1, § 44 Abs. 1 Satz 1 GemO) geleitete Verwaltung. Bei der Ausübung des Vorkaufsrechts handelt es nicht um ein Geschäft der laufenden Verwaltung i. S. des § 44 Abs. 2 Satz 1 GemO. Hiervon geht offensichtlich auch die Beklagte aus. Solche Geschäfte sind im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass sie weder nach der grundsätzlichen Seite noch für den Gemeindehaushalt von erheblicher Bedeutung sind und zu den normalerweise anfallenden Geschäften der Gemeinde gehören (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 19.10.2021 - 1 S 2579/21 - juris Rn. 67). Beide Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der von der Beklagten an die Klägerin zu zahlende Kaufpreis beträgt jedenfalls mehr als eine Million Euro. Es liegt auf der Hand, dass ein Erwerb zu einem solchen Betrag in einer Gemeinde wie der Beklagten mit etwas mehr als 20.000 Einwohnern von erheblicher haushaltsrechtlicher Relevanz ist. Dies wird auch dadurch untermauert, dass nach der am 25.9.2019 geltenden Hauptsatzung der Beklagten ihrem Oberbürgermeister die Ausübung von Vorkaufsrechten (nur) „bis zu einem Wert bis zu 40.000 EUR im Einzelfall“ übertragen war (§ 10 Abs. 2 Nr. 2.9). Es spricht auch nichts dafür, dass ein Grundstücksgeschäft mit einem Volumen von über einer Million Euro bei der Beklagten ein normaler, gleichsam alltäglicher Vorgang ist. Aus vorstehendem Hinweis auf die seinerzeit geltende Hauptsatzung ergibt sich zugleich, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts nicht ein Geschäft war, das der Gemeinderat dem Oberbürgermeister zur Erledigung in eigener Zuständigkeit übertragen hatte (vgl. § 44 Abs. 2 Satz 1 GemO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>4. Der Bescheid vom 4.10.2019 ist auch materiell rechtswidrig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>a) Das der Beklagten bei der Ausübung des Rechts zur Ausübung des Vorkaufsrechts eingeräumte Ermessen hat diese zulasten des Klägers fehlerhaft ausgeübt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>aa) Ist für die Entscheidung über die Ausübung des Rechts zur Ausübung des Vorkaufsrechts - wie im vorliegenden Fall - gemeindeintern der Gemeinderat zuständig, so hat dieser das der Gemeinde eingeräumte Ermessen auszuüben. Die Ermessensausübung durch den Gemeinderat ist dann auch Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemäß § 114 Satz 1 VwGO. Die Ermessenserwägungen in dem von der Gemeindeverwaltung in Vollzug des Gemeinderatsbeschlusses erlassenen Ausübungsbescheid sind hingegen nicht von ausschlaggebender Bedeutung; sie sind allenfalls ein Indiz dafür, dass der Gemeinderat entsprechende Ermessenserwägungen angestellt hat. Unbeachtlich sind auch im Prozess nachgeschobene Ermessenserwägungen (vgl. § 114 Satz 2 VwGO), sofern diese nicht auf einer Befassung des Gemeinderats beruhen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Soweit ein Prozessbevollmächtigter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass eine Ermessensausübung durch den Gemeinderat auf praktische Schwierigkeiten stößt, ist dem zum einen entgegenzuhalten, dass die Ermessensausübung durch den Gemeinderat zwingende Folge von dessen Entscheidungszuständigkeit ist. Zum anderen scheinen die praktischen Schwierigkeiten nicht unüberwindbar zu sein. Insbesondere ist es denkbar, dass in der Vorlage für den Gemeinderat die maßgeblichen Erwägungen für die Ausübung des Ermessens enthalten sind und der Gemeinderat sich diese zu eigen macht (entsprechend der Praxis in Bebauungsplanverfahren, dass der Gemeinderat seine Abwägungsentscheidung in der Weise trifft, dass er einem ihm vorgelegten Abwägungsvorschlag zustimmt).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>bb) Es ist bereits zweifelhaft, ob dem Gemeinderat der Beklagten bewusst war, dass Ermessen auszuüben war. Auf die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung wird weder in der Beschlussvorlage vom 27.8.2019 noch in der für die Gemeinderatssitzung erstellten Präsentation ausdrücklich hingewiesen. Auch der Niederschrift über die Gemeinderatssitzung lässt sich dies nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Der Frage braucht jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Denn jedenfalls war dem Gemeinderat der Beklagten, wie sie im Berufungsverfahren ausdrücklich eingeräumt hat, der „Nachtrag zum Kaufvertrag vom 25.07.2019“ nicht bekannt. Er konnte damit das besondere Erwerbsinteresse des Klägers, das über das Erwerbsinteresse hinausgeht, das ein (Erst-)Käufer regelmäßig hat, nicht berücksichtigen. Dies führt zur Fehlerhaftigkeit der (Ermessens-)Entscheidung zu Lasten des Klägers.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Aus dem „Nachtrag“ wird deutlich, dass der Kläger von der ihm im Vertrag vom 25.7.2019 eingeräumten Befugnis, werterhöhende Renovierungsarbeiten bereits vor der Übergabe des Kaufgegenstands (und dem Eigentumsübergang) vorzunehmen, bereits Gebrauch gemacht hat. Dass in dem Objekt Maßnahmen durchgeführt worden waren, war der Beklagten zudem aufgrund der „Schlussabnahme“ vom 27.8.2019 jedenfalls im Grundsatz bekannt. Da dem Gemeinderat der Beklagten diese bei der Ausübung des Ermessens zu berücksichtigende Information vorenthalten wurde, konnte er sich mit ihr bereits nicht beschäftigen. Dass sie (wohl) in dem Bescheid vom 4.10.2019 angesprochen ist („Aufwand vor Abschluss des Vertrags“), ist ohne Bedeutung, da die dortigen Erwägungen nicht von dem zuständigen Gemeinderat der Beklagten angestellt worden waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>cc) Zur Vermeidung von Missverständnissen weist der Senat darauf hin, dass er damit keine Aussage darüber getroffen hat, ob die Beigeladene und der Kläger nach Entstehen des Rechts zur Ausübung des Vorkaufsrechts mit dem Zustandekommen des Vertrags vom 25.7.2019 den Nachtrag mit Wirkung gegenüber der Beklagten ändern konnten. Entscheidend ist, dass sich aus dem Nachtrag Umstände ergeben haben, die in die Ermessensentscheidung der Beklagten einzustellen waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Es spricht allerdings sehr viel dafür, dass mit der Übersendung des Nachtrags an die Beklagte die Zwei-Monats-Frist des damaligen § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB erneut zu laufen begann, so dass die Beklagte ausreichend Zeit gehabt hätte, dem Gemeinderat eine Befassung mit den Umständen zu ermöglichen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/><strong>Beschluss vom 20. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch den Kläger wird für notwendig erklärt (vgl. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/><strong>Beschluss vom 20. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. der Empfehlung in Nr. 9.6.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt z. B. in Schoch/Schneider, VwGO, unter § 163) auf</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>337.500 Euro</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>festgesetzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
|
346,215 | vg-minden-2022-07-20-12-k-243019a | {
"id": 845,
"name": "Verwaltungsgericht Minden",
"slug": "vg-minden",
"city": 465,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 12 K 2430/19.A | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-08-17T10:00:46 | 2022-10-17T11:09:14 | Beschluss | ECLI:DE:VGMI:2022:0720.12K2430.19A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Erinnerung wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Erinnerungsverfahrens trägt die Erinnerungsführerin. Gerichtsgebühren werden nicht erhoben.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Gründe:</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die vormalige Beklagte und jetzige Erinnerungsführerin (im Folgenden: Beklagte) begehrt im Wege des Erinnerungsverfahrens die Abänderung des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 3. März 2022 dahingehend, dass zur Gebührenberechnung das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz in der Fassung zum Zeitpunkt der Klageerhebung durch den ersten Prozessbevollmächtigten im Jahr 2019 und nicht zum Zeitpunkt des Anwaltswechsels im Jahr 2021 heranzuziehen ist.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Kläger und jetziger Erinnerungsgegner (im Folgenden: Kläger) stammt nach eigenen Angaben aus dem Irak und ist am 5. Juli 2019 über Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Dort stellte er einen Asylantrag, der durch die Erinnerungsführerin mit Bescheid vom 25. Juli 2019 als unzulässig abgelehnt wurde. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 1. August 2019 Klage. Mit Prozessvollmacht vom 2. August 2019 bestellte sich Rechtsanwalt I1. für den Kläger. Mit Schreiben vom 18. August 2021 übersandte Rechtsanwalt I1. die Mandatskündigung des Klägers. Neu für den Kläger bestellte sich mit Prozessvollmacht vom 13. August 2021 Rechtsanwalt X. . Die zuständige Berichterstatterin gab der Klage mit Urteil vom 21. Februar 2022 statt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Kostenfestsetzungsantrag vom 25. Februar 2022 beantragte der klägerische Prozessbevollmächtigte X. die Gebühren und Auslagen des Klägers gegen die Beklagte in Höhe von 540,50 € festzusetzen. Bestandteil der Berechnung war unter anderem eine 1,3-fache Verfahrensgebühr gem. Nr. 3100 VV Anlage 1 RVG bei einem Gegenstandswert von bis 5.000,00 € in Höhe von 434,20 €. Grundlage der errechneten Verfahrensgebühr war der Gebührensatz nach Anlage 2 (zu § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG) in der seit dem 1. Januar 2021 gültigen Fassung.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Gericht setzte die zu erstattenden Kosten mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 3. März 2022 auf 540,50 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 2. März 2022 fest.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 3. März 2022 beantragte die Beklagte gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss die Entscheidung des Gerichts.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt sie an, sie, die Beklagte, müsse die Mehrkosten, die durch den Wechsel des Prozessbevollmächtigten des Klägers nach dem 1. Januar 2021 - nach Änderung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes - entstanden seien, nicht erstatten. Die Klageschrift datiere vom 1. August 2019. Mit ihr sei der Auftrag zur Erledigung der Angelegenheit vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung erteilt worden. Entsprechend berechneten sich die Gebühren nach dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht. Die Beklagte müsse gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Kosten mehrerer Rechtsanwälte nur insoweit erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht überstiegen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. Vorliegend sei nicht einmal geltend gemacht, dass der Wechsel des Prozessbevollmächtigten und die neue Beauftragung eines zweiten Rechtsanwalts objektiv notwendig gewesen seien. Somit seien die Mehrkosten des Anwaltswechsels unnötig und nicht erstattungsfähig.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Urkundsbeamte des Gerichts hat der Erinnerung der Beklagten nicht abgeholfen und ausgeführt, die geltend gemachten Kosten des Klägers seien zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig gewesen. Der vorgenommene Anwaltswechsel sei unabhängig von dem Inkrafttreten der Änderung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes zum 1. Januar 2021 erfolgt und sei auch nicht dazu angetan, der Beklagten unnötige Kosten zu verursachen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die elektronisch geführte Gerichtsakte sowie den auf elektronischem Weg übermittelten Verwaltungsvorgang des Bundesamts (eine Datei) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">A. Da das Kostenfestsetzungsverfahren nach § 164 VwGO ein von der Kostenentscheidung in der Hauptsache abhängiges Nebenverfahren darstellt, hat das Gericht über die Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss in der Besetzung zu entscheiden, in der die zugrunde liegende Kostenentscheidung getroffen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. Januar 2007 - 24 C 06.2426 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Kostengrundentscheidung durch das Verwaltungsgericht Minden im Urteil vom 21. Februar 2022 durch die zuständige Berichterstatterin getroffen worden ist, hat über die Kostenerinnerung ebenfalls die Berichterstatterin zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">B. Die Erinnerung hat keinen Erfolg. Die Erinnerung ist zulässig. Sie ist gemäß §§ 165, 151 Satz 1 VwGO statthaft. Auch wurde sie fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Kostenfestsetzungsbeschlusses erhoben (§ 152 Satz 3 i.V.m. § 147 Abs. 1 Satz 2 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Sie ist jedoch unbegründet. Der Kostenfestsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten des Verwaltungsgerichts Minden vom 3. März 2022 ist nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">I. Gemäß § 164 VwGO wird auf Antrag der Betrag der zu erstattenden Kosten durch den Urkundsbeamten des Gerichts des ersten Rechtszuges per Beschluss festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">II. Die insofern getroffene Entscheidung ist rechtmäßig. Der Anspruch ergibt sich aus der Kostengrundentscheidung im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 21. Februar 2022 in Verbindung mit § 162 VwGO. Hiernach gehören zu den erstattungsfähigen Kosten die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens (Absatz 1). Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines Rechtsbeistands sind stets erstattungsfähig (Absatz 2). Die Kosten eines Rechtsanwalts richten sich nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erhält der Rechtsanwalt, dem ein unbedingter Auftrag als Prozessbevollmächtigter erteilt worden ist, gemäß Nr. 3100, Vorbemerkung 3 Abs. 1 VV Anlage 1 RVG eine 1,3-fache Verfahrensgebühr. Diese entsteht gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 2 VV Anlage 1 RVG für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">1. Für den Rechtsanwalt X. richtet sich der Vergütungsanspruch richtigerweise nach dem neuen Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, da dessen Beauftragung erst im Jahr 2021 mit Prozessvollmacht vom 2. August 2021 erfolgte. Dadurch ergibt sich nach Anlage 2 (zu § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG) bei einem Gegenstandswert von bis 5.000,00 € ein einfacher Gebührenwert von 434,20 €.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Übergangsvorschrift des § 60 Abs. 1 Satz 1 RVG, wonach für die Vergütung das bisherige Recht anzuwenden ist, wenn der unbedingte Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung erteilt worden ist, findet keine Anwendung. Bei § 60 RVG handelt es sich um eine Dauerübergangsregelung, die den vormaligen § 134 BRAGO ersetzt.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drucksache 15/1971, 203.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Regelung stellt auf die erstmalige Beauftragung des betroffenen Rechtsanwalts und nicht irgendeines Prozessbevollmächtigten ab. Dies ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut der Vorschrift, in der in Bezug auf den Rechtsanwalt ein bestimmter Artikel („der“) statt eines unbestimmten Artikels („ein“) verwendet wird.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Es kommt hinzu, dass der Sinn und Zweck der Regelung unter anderem darin besteht, sicherzustellen, dass kein Rechtssuchender befürchten muss, dass für seinen Anwaltsvertrag hinter seinem Rücken andere Regelungen und andere Kosten eingeführt werden, als bei Vertragsschluss gegolten haben.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. (2021), § 60, Rn. 2.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Daraus ergibt sich aber auch, dass sich § 60 RVG auf einen bestimmten Vertragsschluss und nicht auf eine abstrakte Beauftragung bezieht.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. (2021), § 60, Rn. 53 (bei mehreren Anwälten eines Mandanten und unterschiedlicher Berechnung von Verfahrens- und Terminsgebühr); Rn. 54 (bei Wechsel eines Anwalts vom Terminsvertreter zum Verfahrensbevollmächtigten).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Das Kostenfestsetzungsrecht kennt keine Regelung, wonach für die Vergütung des Verfahrensbevollmächtigten, wenn er „quasi in die Fußstapfen des Vorgängers“ tritt, auch für seine Vergütung auf den Zeitpunkt der Klageerhebung (Zeitpunkt des Tätigwerdens des „Vorgängers“) abzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juli 2011 - OVG 1 K 118.08 -, juris Rn. 9; VG Magdeburg, Beschluss vom 11. März 2022 - 3 E 17/22 MD -, juris Rn 5.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2. Die Gebühren und Auslagen des Prozessbevollmächtigten X. sind erstattungsfähig. § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO fingiert die Erstattungsfähigkeit ohne eine Prüfung, ob die Heranziehung des Rechtsanwalts zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig war (§ 162 Abs. 1 VwGO). Aus dem prozessrechtlichen Verhältnis folgt dabei grundsätzlich die Pflicht, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten, soweit sich dies mit der Wahrung der berechtigten Belange der Beteiligten vereinbaren lässt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2019 - 2 KSt 1/19, 2 KSt 1/19 (2 A 4/17) -, juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">a) Ausgeschlossen ist die Kostenerstattung ausnahmsweise bei einem offensichtlichen Verstoß gegen die sich aus § 162 Abs. 1 VwGO ergebende Kostenminderungspflicht. Der Verstoß muss sich aus der Sicht eines verständigen Beteiligten geradezu aufdrängen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfahlen, Beschluss vom 1. Dezember 2011 - 17 E 1169/11 -, juris Rn. 6; Oberverwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 7. Februar 2001 - 3 K 17.00 -, juris.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Verstoß wird insbesondere angenommen, wenn die Beauftragung des Rechtsanwalts offensichtlich treuwidrig war und nur darauf abzielte, dem Gegner Kosten zu verursachen.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 30. Mai 2006 - 3 So 38/06 -, juris Rn. 15; Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19. März 2015 - 1 M 50/15 -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dies ist vorliegend nicht der Fall. Anhaltspunkte dafür, dass der Anwaltswechsel im Jahr 2021 offensichtlich nur darauf abzielte, der Beklagten erhöhte Kosten durch die geänderte Gebührenlage zu verursachen liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">b) Der Hinweis der Beklagten auf § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO, wonach die Kosten mehrerer Anwälte nur insoweit zu erstatten seien, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste, überzeugt nicht.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die für den Zivilprozess in § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO getroffene Regelung findet gemäß § 173 VwGO entsprechende Anwendung. Ihre Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt. Der Kläger hat nicht die Festsetzung der Kosten mehrerer Rechtsanwälte, sondern lediglich die seines im Rubrum bezeichneten Prozessbevollmächtigten beantragt. „Die Kosten mehrerer Anwälte“ im Sinne des § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO bezieht sich auf eine Mehrzahl von Prozessbevollmächtigten, deren Gebühren kumulativ bei der Berechnung der zu erstattenden Kosten berücksichtigt werden sollen. Wenn „doppelte“ Kosten nicht zur Erstattung gebracht werden, kommt es auf die Frage der Notwendigkeit des Anwaltswechsels im Sinne von § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht an. Von der Regelung nicht erfasst, ist der vorliegende Fall, dass die Kosten eines Prozessbevollmächtigten - im Gegensatz zu den Kosten eines zuvor bevollmächtigten, in der Kostenfestsetzung jedoch nicht berücksichtigten, Anwalts - erhöht sind.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juli 2011 - OVG 1 K 118.08 -, juris Rn. 9; VG Magdeburg, Beschluss vom 11. März 2022 - 3 E 17/22 MD -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">§ 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO ist auch nicht entsprechend, mit Blick auf den sich auch aus § 162 Abs. 1 VwGO ergebenden Grundsatz der Kostenminderungspflicht anwendbar. Dem steht die gesetzgeberischen Wertung des § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO, wonach die gesetzlich vorgesehenen Kosten eines Rechtsanwalts - wie bereits dargestellt - grundsätzlich stets erstattungsfähig sind, sodass sie insoweit kraft Gesetzes als notwendig angesehen werden, entgegen. Hierin kommt die gesetzgeberische Wertung zum Ausdruck, dass es den Beteiligten mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG möglich sein soll, sich in jeder Lage des Verfahrens eines qualifizierten Rechtsvertreters ihrer Wahl zu bedienen, um den Verwaltungsrechtsschutz wirksamer zu gestalten.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juli 2011 - OVG 1 K 118.08 -, juris Rn. 10; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2006 - OVG 1 K 72.05 -, juris Rn. 10</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Kläger darf bei einem nach der Änderung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes vollzogenen Anwaltswechsel nicht schlechter gestellt werden, als wenn er seine Klage zunächst selbst erhoben und erst nach Änderung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes im Laufe des Verfahrens einen Rechtsanwalt bevollmächtigt hätte. Denn in diesem Fall, könnte dem Kläger nicht entgegengehalten werden, dass er die Erstattung seiner Kosten nur nach Maßgabe des alten Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes beanspruchen könne. Gründe für eine dahingehende kostenrechtliche Ungleichbehandlung sind nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juli 2011 - OVG 1 K 118.08 -, juris Rn. 9; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 8. März 2022 - 5 A 379/20 -, juris Rn. 9, 10 VG Magdeburg, Beschluss vom 11. März 2022 - 3 E 17/22 MD -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Erinnerungsverfahren ist gerichtsgebührenfrei; eine Streitwertfestsetzung ist daher entbehrlich.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
|
346,201 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-07-20-12-b-3922 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
"slug": "vg-schleswig-holsteinisches",
"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 12 B 39/22 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-08-17T10:00:22 | 2022-10-17T11:09:12 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0720.12B39.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 9.077,04 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag der Antragstellerin,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:108pt">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, sie zum 1. August 2022 in den pädagogischen Vorbereitungsdienst für ein Lehramt des höheren Dienstes einzustellen</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>1. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Antragstellerin hat Tatsachen glaubhaft zu machen, aus denen sich ergibt, dass ihr ein Anspruch, ein Recht oder sonstiges schützenswertes Interesse zusteht (Anordnungsanspruch) und ferner, dass dieser Anordnungsanspruch infolge einer Gefährdung durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss, somit eine Eilbedürftigkeit besteht (Anordnungsgrund); vgl.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">2. Ob der Antragstellerin – wie vom Antragsgegner vertreten − das Rechtsschutzbedürfnis abzusprechen ist, kann dahingestellt bleiben. Nach dem allgemeinen Prinzip, wonach jede an einen Antrag gebundene Entscheidung ein Rechtsschutzinteresse voraussetzt (BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1982, Az. 1 BvL 34/80, Rn. 26, juris), ist es erforderlich, dass die gerichtliche Verfolgung des Anspruchs (noch) schutzwürdig ist. Die Antragstellerin könnte es versäumt haben, in angemessener Zeit um vorläufigen Rechtsschutz zu ersuchen. Die wesentlichen Argumente ihres Vorbringens haben bereits im Jahre 2020 vorgelegen, als der Antragsgegner ihr mitteilte, dass das juristische Studium generell untauglich sei, um an einer Grundschule zu unterrichten (Bl. 23 ff. d. GA). Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, weil der Antrag aus einem anderen Grund der Erfolg verwehrt bleibt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>3. Es kann ebenfalls offen bleiben, ob hier dem Anordnungsbegehren nicht zu entsprechen ist, weil die erstrebte Anordnung eine mit Sinn und Zweck einer einstweiligen Anordnung nicht zu vereinbarende Vorwegnahme der Hauptsache beinhalten würde. Eine dahingehende einstweilige Anordnung würde der Antragstellerin – wenn auch nur vorläufig – gerade die Rechtsposition vermitteln, die sie in einem Hauptsacheverfahren anstreben müsste. Eine Vorwegnahme der grundsätzlich dem Hauptsacheverfahren (Klageverfahren) vorbehaltenen Entscheidung ist nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn ein wirksamer Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht zu erreichen ist, der betreffenden Antragstellerin ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung schlechthin unzumutbare Nachteile drohen und die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach obsiegen wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Es erscheint sehr zweifelhaft, ob der Antragstellerin ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung bereits nicht schlechthin unzumutbare Nachteile drohen würden. Es ist nicht ersichtlich, weshalb es ihr nicht zugemutet werden kann, auf den nächsten Einstellungstermin zum Vorbereitungsdienst am 1. Februar 2023 (Bl. 3 d. BA, so auch § 1 Abs. 1 Satz 1 Kapazitätsverordnung Lehrkräfte (KapVO-LK)) oder den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens zu warten. Dies gilt insbesondere auch vor dem Umstand, dass sie durch eine Tätigkeit als Aushilfslehrerin, u.a. im Schuljahr 2022/2023 an einer staatlichen Grundschule (vgl. Bl. 5, 7 d. A) die Zeitspanne überbrücken kann (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 4. August 2010, Az. 2 L 1153/10, Rn. 4f. juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">4. Dem Antrag der Antragstellerin ist jedoch auch aus einem anderen Grund der Erfolg versagt. Nimmt der Erlass der einstweiligen Anordnung, wie hier, die Hauptsache – wenn auch nur vorläufig – vorweg, sind an die Prognose der Erfolgsaussichten in der Regel besondere Anforderungen zu stellen. Die Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs sind im Falle der Vorwegnahme der Hauptsache nur glaubhaft gemacht, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens in der Hauptsache besteht (BVerwG, Beschluss vom 13. August 1999, Az. 2 VR 1.99, Rn. 24; OVG Schleswig, Beschluss vom 8. Juni 1999, Az.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>3 M 11/99, Rn. 3, alle juris). Dies ist hier nicht der Fall.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Eine Verletzung ihres Bewerbungsverfahrensanspruchs aus Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz (GG) oder ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG liegt nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Nach § 24 Abs. 2 Lehrkräftebildungsgesetz (LehrBG) können, soweit keine ausreichende Anzahl von Bewerberinnen und Bewerbern für ein Fach oder eine Fachrichtung vorhanden ist und ein dringender Bedarf besteht, Absolventinnen und Absolventen, die in diesem Fach oder dieser Fachrichtung einen Masterstudiengang oder einen Diplom- oder Magisterstudiengang einer Universität oder gleichgestellten Hochschule erfolgreich abgeschlossen haben, in den Vorbereitungsdienst eingestellt werden. Die Voraussetzungen für diesen sogenannten Quereinstieg liegen nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">4</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Nach dem Vorbringen der Antragstellerin wurde mit Portalnachricht vom 16. Juni 2022 vom Antragsgegner mitgeteilt, dass eine Einstellung nicht möglich ist, da die freien Ausbildungsplätze mit Lehramtsabsolventen, welche aufgrund ihrer Ausbildung als besser geeignet anzusehen sind, besetzt sind. Dies wurde mit Schriftsatz vom 4. Juli 2022 (Bl. 56, 58 d. GA) bestätigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Selbst unter den Voraussetzungen, dass der Antragsgegner hier unzutreffende Angaben gemacht hätte, wovon die Kammer nicht ausgeht, ist dies unerheblich, weil die Antragsgegnerin die persönlichen Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 LehrBG nicht erfüllt. Sie ist zwar Diplom-Juristin. Das Jura-Studium stellt jedoch kein Fach oder Fachrichtung dar, welches an einer Grundschule unterrichtet wird. Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass es sich bei Rechtswissenschaften um eine Sprachwissenschaft handelt, welche logisches Denken voraussetzt und damit die Befähigung zum Unterrichten von Deutsch und Mathematik begründet, überzeugt dies nicht. Die Studieninhalte des Jurastudiums zielen in keiner Weise auf die Kenntnis der Sprachlehre, Literatur o.ä. ab. Allein die Tatsache, dass das Mittel der Argumentation die Sprache ist, ist nicht ausreichend. Auch logisches Denken, welches die Grundvoraussetzung für den Mathematikunterricht darstellt, ist nicht alleiniger Bestandteil des fachwissenschaftlichen Studiums.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Zudem steht dem auch der Gesetzeswortlaut des § 24 Abs. 2 LehrBG entgegen, nach dem es sich um „ein Fach“ oder „eine Fachrichtung“ handeln muss.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Auch der Umstand, dass die Antragstellerin zurzeit als Vertretungslehrerin tätig ist, ändert daran nichts. Der § 24 Abs. 2 LehrBG stellt eine Ausnahme von § 34 Abs. 2 Schleswig-Holsteinisches Schulgesetz (SchulG) dar, wonach die Lehrtätigkeit an öffentlichen Schulen Lehrkräften übertragen werden soll, die die Befähigung für ein Lehramt besitzen. In Ausnahmefällen können Personen mit anderen Befähigungen als Lehrkräfte eingesetzt werden. Eine solche Ausnahmesituation sind die Vertretungsfälle. Die Tätigkeit als Vertretungslehrer oder Vertretungslehrerin ist grundsätzlich nur auf kurze Zeit angelegt, um kurzfristige Bedarfslagen zu kompensieren. Dies ergibt sich auch aus den von der Antragstellerin übermittelten Arbeitsverträgen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Insofern unterscheiden sich diese Fallkonstellationen von den Fällen des § 24 Abs. 2 LehrBG, welche für besondere „Notlagen“ konzipiert sind und zu einer dauerhaften Lehrtätigkeit führen. Daher sind die Anforderungen an die betroffenen Personen auch höher als an Vertretungslehrkräfte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Ein anderes Verständnis würde der Professionalisierung der Grundschullehrer zuwiderlaufen, zumal deren Ausbildung auch nicht nur die fachwissenschaftliche Komponente im Sinne des betreffenden Faches zum Gegenstand hat, sondern auch Pädagogik und Didaktik. Die Lehrkräftebildung vermittelt nach § 2 Abs. 3 LehrBG fachwissenschaftliche, fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Kompetenzen in Theorie und Praxis. Sie ist ausgerichtet auf die Anforderungen des Berufsfelds Schule und folgt dem Leitgedanken einer phasenübergreifenden Professionalisierung. Dabei erfüllt jede Phase der Lehrkräftebildung eine spezifische Funktion für die Herausbildung, den Erhalt und die Weiterentwicklung der auf die Tätigkeit von Lehrkräften bezogenen Kompetenzen. Die Kompetenzen zur individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern und zum Umgang mit ihren unterschiedlichen Entwicklungsständen, Leistungen, Begabungen, ihrem Alter und Geschlecht sowie ihrer sozialen und kulturellen Herkunft (Heterogenität) sind dabei besonders zu berücksichtigen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Diese Themenbereiche werden – wie die Kammer aus eigener Erfahrung weiß − in einem Jura-Studium nicht gelehrt. Soweit die Antragstellerin geltend macht, dass sie sich pädagogische Fähigkeiten bereits durch ihre Vertretungslehrertätigkeit sowie die Erziehung der eigenen Kinder angeeignet hat, wird dies der Ausbildung der Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer nicht gerecht. Darüber hinaus bestehen Zweifel, dass allein die Erziehung von Kindern einem Pädagogikstudium gleichkommt und folglich jeder Elternteil pädagogisch kompetent ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>6. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 Satz 2 des Streitwertkatlogs 2013. Bei einem Anwärterbezug von A 12 für eine Lehrkraft an Grundschulen in Höhe von 1.512,84 Euro ergibt sich ein Betrag von 9.077,04 Euro (1.512,84 Euro x 12 :2).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,196 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-07-20-12-b-3622 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
"slug": "vg-schleswig-holsteinisches",
"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 12 B 36/22 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-08-17T10:00:20 | 2022-10-17T17:56:00 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0720.12B36.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,– € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag der Antragstellerin,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 01.06.2022 gegen die Abordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom xxx anzuordnen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Nach der Vorschrift des § 80 Abs. 5 S. 1, 1. Var. VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs in den Fällen anordnen, in denen die aufschiebende Wirkung gesetzlich ausgeschlossen ist. Nach § 126 Abs. 4 Bundesbeamtengesetz (BBG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine Abordnung keine aufschiebende Wirkung, so dass der Antrag statthaft ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Der Antrag hat allerdings in der Sache keinen Erfolg, da das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin nicht schwerer wiegt als das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Abordnung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 S. 1, 1. Var. VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind einerseits das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin daran, vom Vollzug der Abordnungsverfügung vorerst verschont zu bleiben, und andererseits das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an deren Vollziehung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können Erkenntnisse wie Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes Bedeutung erlangen, wenn aufgrund der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung, d. h. unter Berücksichtigung des unstreitigen Vortrages und der präsenten Beweismittel, Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfes offensichtlich erscheinen. Durch den in § 126 Abs. 4 BBG normierten gesetzlichen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Versetzungen und Abordnungen hat der Gesetzgeber indes seinen Willen zum Ausdruck gebracht, dass im Regelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung einer derartigen Maßnahme dem privaten Interesse des betroffenen Beamten an einem Verbleib an seiner bisherigen Dienststelle vorgeht. Als Ausnahme von diesem allgemeinen Grundsatz ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung jedoch dann geboten, wenn entweder schon im Anordnungsverfahren festgestellt werden kann, dass der Beamte die ihm durch die Abordnungsverfügung auferlegte Pflicht zur Dienstleistung an einer anderen Dienststelle mit überwiegender Aussicht auf Erfolg bestreitet, oder wenn zwar der endgültige Ausgang des Hauptsacheverfahrens noch offen ist, aber eine Folgenabwägung ergibt, dass die Vollziehung der angegriffenen Verfügung den Beamten so hart treffen würde, dass demgegenüber der Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses durch eine Aussetzung geringeres Gewicht zukommt (vgl. zum Ganzen: Schoch/Schneider/Schoch, VwGO § 80 Rn. 372 ff.; vgl. auch OVG Saarlouis, Beschluss vom 06.10.2004 – 1 W 34/04 – Juris Rn. 5).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Vorliegend erweist sich die Abordnungsverfügung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts als offensichtlich rechtmäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Rechtsgrundlage für die angegriffene Maßnahme ist § 27 Abs. 1 BBG. Danach ist eine Abordnung die vorübergehende Übertragung einer dem Amt der Beamtin oder des Beamten entsprechenden Tätigkeit bei einer anderen Dienststelle desselben oder eines anderen Dienstherrn unter Beibehaltung der Zugehörigkeit zur bisherigen Dienststelle. Die Abordnung setzt „dienstliche Gründe“ voraus (vgl. § 27 Abs. 2 BBG) und steht im Ermessen des Dienstherrn (vgl. VGH München, Beschluss vom 15.07.2013 – 6 ZB 12.177 – Juris Rn. 7).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Die tatbestandlichen Voraussetzungen liegen vor; Ermessensfehler sind nicht zu erkennen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin ist dem ursprünglich ausdrücklich geäußerten Wunsch der Antragstellerin, in xxx tätig zu werden, mit einer entsprechenden Abordnung dorthin nachgekommen. Dabei hat die Antragsgegnerin jedoch von Anfang an und während des gesamten Verfahrens darauf hingewiesen, dass diese Maßnahme nur vorübergehender Natur sei, weil es (noch) keine sanitären Anlagen für weibliches Personal in xxx gebe bzw. diese baurechtlich noch nicht abgenommen seien. Insoweit erlaube dies an sich weder die Teilnahme am Dienstsport noch die Möglichkeit der Ausübung des 24-Stunden-Dienstes und damit einen dauerhaften Einsatz in xxx (vgl. die E-Mail vom 30.03.2022, Bl. 19 der Verwaltungsakte).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Dieser Umstand stellt auch den „dienstlichen Grund“ im Sinne von § 27 Abs. 2 BBG für die hier in Rede stehende (weitere) Abordnung der Antragstellerin (nach B-Stadt Nord) dar. Die Antragsgegnerin hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass durch die nicht vorhandene geschlechterspezifische Trennung in den sanitären Anlagen, insbesondere, weil der Toilettenvorraum, in dem sich auch die Urinale befinden, nicht verschließbar ist, die Antragstellerin und männliches Personal dort aufeinandertreffen können. Es erscheint nicht völlig ausgeschlossen, dass sich dadurch Situationen ergeben, aus denen sich ein potentieller (neuer) Vorwurf einer sexuellen Belästigung ergeben könnte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Mögen diese Zustände auch in den Monaten April und Mai von der Antragstellerin toleriert worden sein bzw. sich die Antragstellerin damit arrangiert haben, ist es in Anbetracht der in zeitlicher Hinsicht gegenwärtig nicht vorherzusagenden baulichen Abnahme der Sanitärräume für weibliches Personal Ausfluss der Fürsorgepflicht der Antragsgegnerin, diese Zustände nicht länger als nötig aufrecht zu erhalten. Insoweit kann ein „dienstlicher Grund“ für die (Weg-)Abordnung der Antragstellerin nicht in Abrede gestellt werden. Den Vorschlag der Antragstellerin, für sie einen eigenen Sanitärcontainer kurzfristig aufzustellen, hält die Kammer für nicht zielführend. Aufwand und Kosten würden in keinem Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck stehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Liegen damit „dienstlichen Gründe“ vor, obliegt es dem Dienstherrn nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen, ob und in welcher Weise er von der Abordnungsbefugnis Gebrauch macht. Die Vorschrift des § 27 BBG geht dabei – wie bereits ausgeführt – vom Grundsatz des Vorrangs dienstlicher Belange aus. Insoweit können nur ganz schwerwiegende persönliche Gründe oder außergewöhnliche Härten eine im dienstlichen Interesse angeordnete Abordnung als rechtswidrig, insbesondere als Verstoß gegen die Fürsorgepflicht (§ 78 BBG) erscheinen zu lassen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Antragstellerin mit ihrer Ernennung zur Bundesbeamtin einem Einsatz (sogar) im gesamten Bundesgebiet konkludent zugestimmt hat und grundsätzlich mit entsprechenden Entscheidungen ihres Dienstherrn rechnen und diese in der Regel auch hinnehmen muss. Vorliegend kommt hinzu und erweist sich auch als von der Fürsorgepflicht der Antragsgegnerin getragen, dass diese sich bemüht hat, der Antragstellerin mehrere Alternativen für eine (Weg-) Abordnung von xxx aufzuzeigen. Sie hat die von der Antragstellerin geäußerten Bedenken im Hinblick auf eine Abordnung zur Bundeswehrfeuerwehr in xxx aufgrund der Entfernung zum Wohnort der Antragstellerin akzeptiert. Die pauschal erhobenen Einwände gegen die Abordnung nach B-Stadt Nord, namentlich, dass es sich dort um Bürotätigkeiten handele, in die sie sich erst noch einarbeiten müsse, dringen nicht durch. Damit ist jedenfalls nicht aufgezeigt, dass diese Tätigkeit für sie nicht zumutbar wäre. Vielmehr hat die Antragsgegnerin durch diese Abordnung sichergestellt, dass die Antragstellerin dortige Tätigkeiten unter Nutzung flexibler Arbeitszeiten vollständig durch mobiles Arbeiten (Home-Office) wahrnehmen kann und dadurch auch die Betreuung ihres Kindes uneingeschränkt sichergestellt ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Der Kammer erschließt sich nicht, warum – wenn sie nicht mit einer Abordnung nach B-Stadt Nord einverstanden ist – die Antragstellerin sich nicht für die (ebenfalls) angebotene Abordnung nach xxx entschieden hat. Denn dort hätten sie nicht Bürotätigkeit erwartet, sondern bei vorhandenen getrennten sanitären Anlagen wäre dort ihrem Wunsch entsprochen worden, im Schichtdienst eingesetzt zu werden. Die Strecke zwischen A-Stadt und xxx von 37 km weist darüber hinaus nur 17 km mehr und eine um 15 Minuten längere Fahrtzeit auf als diejenige zwischen ihrem Wohnort A-Stadt und xxx. Dass dies für die Antragstellerin nicht zumutbar wäre, hat sie in keiner Weise näher dargelegt und ist auch für das Gericht nicht ersichtlich. Die Antragstellerin hat vielmehr diese Alternative von vornherein ohne Begründung abgelehnt und allein auf eine Verlängerung der Abordnung nach xxx bzw. eine entsprechende Versetzung hingewirkt. Insoweit wäre auch ein etwaiger Verlust der Zulage für Dienste zu ungünstigen Zeiten allein von der Antragstellerin zu verantworten und führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Abordnung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Zu der – zu verneinenden Frage – des Verlusts der Feuerwehrzulage wird auf die Ausführungen der Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Lediglich der guten Ordnung halber sei darauf hingewiesen, dass Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens nicht (mehr) die von der Antragsgegnerin verfügte Abordnung der Antragstellerin von A-Stadt nach xxx vom 21.03.2022, geändert durch Verfügung vom 23.05.2022, für die Zeit vom 28.03.2022 bis zum 31.05.2022 ist. Insbesondere, weil die Beteiligten in ihren Schriftsätzen dazu vortragen, sei dazu ausgeführt, dass es in der Rechtsprechung geklärt ist, dass eine Störung der reibungslosen Zusammenarbeit innerhalb des öffentlichen Dienstes durch innere Spannungen oder durch Trübung des Vertrauensverhältnisses regelmäßig als Beeinträchtigung des täglichen Dienstbetriebes zu werten ist, für deren Abstellung der Dienstherr zu sorgen hat. Wenn dafür nach Lage des Falles die Versetzung oder Abordnung eines der an einem solchen Spannungsverhältnis Beteiligten geboten erscheint, sind „dienstliche Gründe“ bei einer Abordnung bereits aufgrund der objektiven Beteiligung an dem Spannungsverhältnis und unabhängig von der Verschuldensfrage zu bejahen. Bei der Ausübung des Ermessens muss sich die Behörde in der Regel nicht daran orientieren, bei wem ein eventuelles Verschulden an den Spannungen überwiegt. Allerdings darf sie diesen Gesichtspunkt dann nicht ganz unberücksichtigt lassen, wenn etwa eindeutig oder allein auf einer Seite ein Verschulden an der Entstehung oder dem Fortbestehen der Spannungen vorliegt (vgl. VGH München, Beschluss vom 08.03.2013 –3 CS 12.2365 – Juris Rn. 27). Vorliegend kann deshalb dahinstehen, ob von einem eindeutigen Verschulden des Kollegen der Antragstellerin, des Beamten M., an dem gestörten Verhältnis zur Antragstellerin auszugehen ist und dafür möglicherweise auch dessen Abordnung/Versetzung in Betracht zu ziehen gewesen wäre. Dafür könnte der Akteninhalt insofern sprechen, als er WhatsApp-Nachrichten dieses Kollegen enthält, die über bloße Spaßnachrichten hinausgehen und deren Inhalte durchaus nicht unerhebliche sexuelle Belästigungen gegenüber der Antragstellerin aufweisen. Zu beachten ist indes auf der anderen Seite, dass die Antragstellerin angegeben hat, dass das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem Leiter der Dienststelle zerrüttet ist (vgl. den Telefonvermerk vom 29.03.2022, Bl. 1 der Verwaltungsakte). Insoweit gibt bzw. gab es noch ein weiteres Spannungsverhältnis innerhalb der Dienststelle in A-Stadt mit Beteiligung der Antragstellerin, deren Auflösung mit der Abordnung nach xxx begegnet worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG festgesetzt worden.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,091 | ovgnrw-2022-07-20-4-e-38822 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 E 388/22 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-08-06T10:01:07 | 2022-10-17T17:55:42 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0720.4E388.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das Beschwerdeverfahren wird dem Senat zur Entscheidung übertragen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG überträgt der Einzelrichter das Verfahren dem Senat unter anderem, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Beschwerdeentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage aufwirft, die zur Fortbildung des Rechts oder zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung einer Entscheidung des ganzen Senats bedarf.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17.5.2022 – 1 B 44.22 –, juris, Rn. 3, zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; BGH, Beschluss vom 11.9.2003 – XII ZB 188/02 –, juris, Rn. 7, zu § 568 Satz 1 Nr. 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier der Fall. Der Senat hat – worauf auch das Verwaltungsgericht in seinem Nichtabhilfebeschluss vom 18.5.2022 hingewiesen hat – entsprechend der Praxis anderer Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe in Normenkontrollverfahren beziehungsweise Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO gegen Verordnungen, die Öffnungen für Verkaufsstätten auch an mehreren Sonntagen erlauben,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 18.5.2016 – 22 N 15.1526 –, juris, Rn. 57; Thür. OVG, Beschluss vom 7.3.2016 – 3 EN 123/16 –, juris, Tenor sowie Rn. 31; Sächs. OVG, Beschluss vom 9.11.2009 – 3 B 501/09 –, juris, Tenor sowie Rn. 30; Hess. VGH, Beschluss vom 17.10.2014 – 8 B 1767/14.N –, juris, Tenor sowie Rn. 16; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 26.3.2015 – 1 S 19.15 –, juris, Tenor sowie Rn. 41,</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">ursprünglich mangels genügender anderweitiger Anhaltspunkte das Interesse der Antragstellerin mit dem Auffangstreitwert bemessen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, juris, Rn. 48.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Demgegenüber hat er ebenso wie das OVG Berlin-Brandenburg in jüngeren Entscheidungen in ständiger Praxis die Auffassung vertreten, die Bedeutung einer Klage gegen die Freigabe der Ladenöffnung an Sonntagen sei je streitbefangenem Sonntag in Anlehnung an den Auffangstreitwert (§ 52 Abs. 2 GKG) mit einem Streitwert von 5.000,00 Euro zu bemessen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 9.8.2021 – 4 D 15/20.NE –, juris, Rn. 11 f., m. w. N., und vom 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE –, juris, Rn. 78; so auch OVG Berlin-Bbg., Beschlüsse vom 23.1.2018 – 1 S 4.18 –, juris, Rn. 23, vom 18.7.2019 – 1 S 62.19 –, juris, Rn. 38, und vom 14.5.2020 – 1 B 6.19 –, juris, Rn. 89.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Angesichts der insoweit entstandenen divergierenden Streitwertpraxis in der obergerichtlichen Rechtsprechung bedarf es zur grundsätzlichen Klärung einer Überprüfung durch den ganzen Senat, ob an seiner jüngeren Streitwertpraxis festzuhalten ist.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 6 Satz 4 GKG unanfechtbar.</p>
|
346,034 | vg-gelsenkirchen-2022-07-20-1-k-462419 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 K 4624/19 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-08-03T10:01:06 | 2022-10-17T17:55:34 | Urteil | ECLI:DE:VGGE:2022:0720.1K4624.19.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 2019 und unter Aufhebung dessen Widerspruchsbescheides vom 11. September 2019 verpflichtet, dem Kläger eine Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes für den Zeitraum vom 19. Oktober 2017 bis zum 21. Mai 2019 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu gewähren.</p>
<p>Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes für die Zeit während eines laufenden Disziplinarverfahrens.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wurde im Jahr 2006 zum Kriminalhauptkommissar beim Landesamt für Aus- und Fortbildung der Polizei Nordrhein-Westfalen (nachfolgend: LAFP NRW) ernannt. Im streitgegenständlichen Zeitraum war er der Besoldungsgruppe A 12 gemäß LBesO zugeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zum 19. Januar 2015 wurde er in das Sekretariat der Abteilung 1 der Zentralabteilung des LAFP NRW umgesetzt und übernahm dort kommissarisch die Funktion eines Fachaufgabencontrollers, die der Besoldungsgruppe A 13 gemäß LBesO zugeordnet war. Am 19. Oktober 2017 wurde gegen den Kläger ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das mit seiner Umsetzung in die Abteilung 5 des LAFP am 22. Mai 2019 noch nicht abgeschlossen war. Dort nahm er wieder Tätigkeiten wahr, die der Besoldungsgruppe A 12 gemäß LBesO zugeordnet waren.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 5. September 2016 beantragte der Kläger beim Beklagten für seine Tätigkeit als Fachaufgabencontroller die Gewährung einer Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes rückwirkend ab dem 19. Januar 2016. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2018 nahm der Kläger seinen Antrag zurück. Mit E-Mail vom 11. Dezember 2018 erklärte er zudem den Verzicht auf die Zulage. Mit anwaltlichem Schreiben vom 21. März 2019 führte der Kläger sodann aus, sein Verzicht sei nicht rechtsverbindlich, da die Besoldung von Amts wegen zu gewähren sei, und begehrte erneut die Zulage. Nach Beendigung seiner Tätigkeit als Fachaufgabencontroller beantragte er mit Schreiben vom 22. Mai 2019 erneut die Gewährung der Zulage.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 7. Juni 2019 gewährte das LAFP NRW dem Kläger die Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes für den Zeitraum vom 19. Juli 2016 bis zum 18. Oktober 2017 und lehnte den Antrag für den darauffolgenden Zeitraum ab. Zur Begründung für die Teilablehnung führte das LAFP NRW im Wesentlichen aus, Voraussetzung für die Gewährung der Zulage sei, dass die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen gegeben seien, zu denen auch die für eine Ernennung bzw. Beförderung erforderlichen Bedingungen, die Beförderungsreife, gehörten. Wegen seines am 19. Oktober 2017 eingeleiteten Disziplinarverfahrens hätten sich aber Zweifel an der charakterlichen Eignung des Klägers ergeben, die für die Dauer des Verfahrens eine Ernennung sowie Beförderung ausschlössen, so dass die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vorgelegen hätten. Dies ergäbe sich auch aus dem Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2017 (403-42.07.08).</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit anwaltlichem Schreiben vom 4. Juli 2019 legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 7. Juni 2019 ein und begründete dies im Wesentlichen damit, dass er auch für die Zeit des laufenden Disziplinarverfahrens, also vom 19. Oktober 2017 bis zum 21. Mai 2019, einen Anspruch auf die Zulage habe. Die Beförderungsreife sei nicht mit den laufbahnrechtlichen Voraussetzungen gleichzustellen. Aus den im Gesetz niedergelegten laufbahnrechtlichen Voraussetzungen sei keine „Beförderungssperre“ wegen eines laufenden Disziplinarverfahrens abzuleiten.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Widerspruchsbescheid vom 11. September 2019 wies das LAFP den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Gewährung der Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes setze die Beförderungsreife voraus, die mit der Möglichkeit der Beförderung gleichzusetzen sei. Insoweit komme es für die Zulagengewährung auch darauf an, ob der Betroffene die persönliche Eignung für eine entsprechende Beförderung aufweise. Das sei aber anerkanntermaßen nicht der Fall, wenn der Verdacht eines Dienstvergehens im Raum stehe. Daher würden die Betroffenen auch bei laufenden Disziplinarverfahren von denkbaren Beförderungen ausgeschlossen. Der Widerspruchsbescheid wurde dem Kläger am 18. September 2019 zugestellt.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 17. Oktober 2019 Klage erhoben. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf seine im Verwaltungsverfahren vorgebrachten Argumente. Ergänzend führt er aus, es sei widersprüchlich, ihm die persönliche Eignung für die Beförderung in Zweifel zu ziehen, aber gleichzeitig Aufgaben des entsprechend höher besoldeten Amtes zu übertragen. Insoweit könnten keine Zweifel an der persönlichen Eignung für die Übernahme des höherwertigen Dienstpostens bestehen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 2019 und unter Aufhebung dessen Widerspruchsbescheides vom 11. September 2019 zu verpflichten, ihm eine Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes für den Zeitraum vom 19. Oktober 2017 bis zum 21. Mai 2019 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen seine Argumente aus dem Verwaltungsverfahren. Ergänzend führt er aus, nach der gesetzlichen Regelung unterlägen Ernennungen auch im Laufbahnrecht den allgemeinen Anforderungen hinsichtlich Eignung, Befähigung und Leistung. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz habe insoweit in seinem Beschluss vom 12. September 2013 festgestellt, dass die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zu einer fehlenden Eignung für eine Beförderung führe (Az. 2 B 10837/13). Dass der Kläger gleichwohl auch während des Disziplinarverfahrens mit der höherwertigen Tätigkeit betraut gewesen sei, ändere daran nichts, weil dies dem Organisationsermessen des Dienstherrn obliege. Aufgrund der Umstände des Einzelfalles habe er den Einsatz des Klägers auf dem höherwertigen Posten für vertretbar gehalten. Insofern sei hier kein widersprüchliches Verhalten erkennbar.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Für weitere Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Verpflichtungsklage hat in der Sache Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die mit Bescheid des LAFP NRW vom 7. Juni 2019 in Gestalt dessen Widerspruchsbescheides vom 11. September 2019 erfolgte Ablehnung der Gewährung der Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes für den Zeitraum vom 19. Oktober 2017 bis zum 21. Mai 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat für diesen Zeitraum gemäß der allein maßgeblichen Vorschrift des § 59 Abs. 1 des Landesbesoldungsgesetzes Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 14. Juni 2016 (LBesG NRW) einen Anspruch auf Gewährung der begehrten Zulage. Dass der Kläger seinen Antrag auf Zulagengewährung zurückgenommen sowie seinen Verzicht auf die Zulage erklärt hat, ist unerheblich (I.). Die Voraussetzungen für die Gewährung der Zulage liegen vor (II.). Die Höhe des Anspruches ergibt sich aus § 59 Abs. 2 LBesG NRW (III.). Ein Anspruch auf Zinsen ab Rechtshängigkeit ist ebenfalls zu bejahen (III.).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten gehen zu Recht davon aus, dass die vom Kläger erklärte Rücknahme seines Antrages auf Gewährung der Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes rechtlich unerheblich ist. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LBesG NRW haben Beamte einen Anspruch auf Besoldung, der mit Ernennung entsteht. Eines Antrages bedarf es insoweit nicht, die Rücknahme eines Antrages ist demnach ebenfalls rechtlich irrelevant.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2001 - 2 C 48.00 -, juris, Rn. 13; Reich, in: Reich/Preißler, BBesG, 2. Auflage 2022, § 3 Rn. 19 (jeweils zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Auch der überdies mit E-Mail vom 11. Dezember 2018 vom Kläger erklärte Verzicht auf die Gewährung der Zulage hat keine rechtlichen Folgen. Nach § 2 Abs. 3 LBesG kann nämlich auf die gesetzlich zustehende Besoldung weder ganz noch teilweise verzichtet werden, sofern es sich nicht um vermögenswirksame Leistungen handelt. Diese Regelung findet ihren Zweck einerseits in der Gewährleistung des Leistungsprinzips (Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes – GG) in Gestalt der Verhinderung der Ernennung „billigerer“ Beamten sowie andererseits in der Erfüllung des unbedingten und in der Fürsorgepflicht des Dienstherrn wurzelnden Alimentationsprinzips.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. März 1967 - II C 43.64 -, juris, Rn. 18 ff. (zur einer früher geltenden, gleichlautenden Regelung für Bundesbeamten); Kathke, in: Schwegmann/Summer, Besoldungsrecht des Bundes und der Länder, Stand: Juni 2021, § 2 LBesG NRW, Rn. 109 ff.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Zulagengewährung basiert – wie § 59 LBesG NRW zeigt – auf einer gesetzlichen Anspruchsgrundlage und ist damit zum Kreis nicht verzichtbarer gesetzlich zustehender Besoldung zu zählen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. Reich, in: Reich/Preißler, BBesG, 2. Auflage 2022, § 2 Rn. 33 (zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Für den Zeitraum vom 19. Oktober 2017 bis zum 21. Mai 2019 liegen die Voraussetzungen für die Gewährung der Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes nach § 59 Abs. 1 Satz 1 LBesG NRW vor. Danach wird einem Beamten die Zulage ab dem Zeitpunkt gewährt, in dem er zwölf Monate ununterbrochen die Aufgaben unter anderem eines Amtes der nächsthöheren Besoldungsgruppe vorübergehend vertretungsweise wahrgenommen hat, wenn zu diesem Zeitpunkt die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen für die Übertragung des wahrgenommenen höherwertigen Amtes und die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen für die Übertragung des Amtes der nächsthöheren Besoldungsgruppe vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong></p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Zum Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums, dem 19. Oktober 2017, hat der Kläger – wie auch zwischen den Beteiligten einhellig angenommen wird – bereits zwölf Monate ununterbrochen eine Aufgabe übernommen, die dem nächsthöheren Amt zugeordnet ist. Denn der Beklagte hat den Kläger zum 19. Januar 2015 in die Abteilung 1 der Zentralabteilung des LAFP NRW umgesetzt und ihm die Funktion des Fachaufgabencontrollers übertragen, die der Beklagte selbst ausdrücklich der Besoldungsgruppe A 13 gemäß LBesO und damit einer gegenüber der damaligen Besoldungsgruppe des Klägers um eine Gruppierungsstufe höheren Besoldungsgruppe zuordnet.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Diese Funktion hat der Kläger auch vorübergehend vertretungsweise ausgeübt. Mit diesem Tatbestandsmerkmal soll gewährleistet werden, dass nur die sogenannte Vakanzvertretung, also das Tätigwerden im Rahmen einer (noch) unbesetzten Stelle, zulagenfähig ist und nicht die sogenannte Verhinderungsvertretung, die sich durch die Vertretung eines an sich eingesetzten, zum betroffenen Zeitpunkt aber aus etwa Krankheits- oder Urlaubsgründen verhinderten Stelleninhabers auszeichnet.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 16/10380, S. 379; BVerwG, Urteile vom 28. April 2011 - 2 C 30.09 -, juris, Rn. 12 f., und vom 28. April 2005 - 2 C 29.04 -, juris, Rn. 18 (jeweils zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">So liegt die Sache hier. In der Umsetzungsverfügung des LAFP NRW vom 19. Januar 2015 ist ausdrücklich von der Betrauung des Klägers mit den Aufgaben des Fachaufgabencontrollings „bis zur endgültigen Besetzung in einem landesweiten Ausschreibungsverfahren“ und damit deutlich von einer beabsichtigten Vakanzvertretung die Rede.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong></p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Auch liegen die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen vor. Sinn und Zweck dieses einschränkenden Tatbestandsmerkmals ist, den Dienstherrn durch den Anspruch auf Zulagengewährung nicht mit Mehrausgaben zu belasten.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2005 - 2 C 29.04 -, juris, Rn. 14 (zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund setzt die Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes regelmäßig voraus, dass eine freie Planstelle vorhanden sein muss, auf deren Grundlage eine Beförderung des Beamten möglich (gewesen) wäre. Dies ist hier der Fall, da im Anspruchszeitraum monatlich jeweils mindestens eine Planstelle zur Verfügung stand. Dabei spielt die Frage, ob die haushaltsrechtlich zur Verfügung stehende Planstelle bereits einem konkreten Dienstposten fest zugeordnet war, oder erst – im Rahmen der sogenannten „Topfwirtschaft“ – nach und nach frei werdenden oder neu besetzten Dienstposten zugewiesen wurde, keine Rolle. Denn die Vorschrift des § 59 LBesG NRW gilt unabhängig vom System der Zuordnung der Planstellen zu einzelnen Dienstposten innerhalb der vom jeweiligen Haushaltstitel erfassten Behörden.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2014 - 2 C 16.13 -, juris, Rn. 16 ff. (zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong></p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Ansicht des Beklagten liegen beim Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum auch die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen vor. Zu diesen zählen allein laufbahnbezogene Aspekte (a.), die im streitgegenständlichen Zeitraum in der Person des Klägers im Hinblick auf das wahrgenommene Amt auch ungeachtet des damaligen Disziplinarverfahrens gegen ihn vorlagen (b.).</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong></p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Nach der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung, der die Kammer folgt und die auch von den Beteiligten übereinstimmend ihrer Argumentation zugrunde gelegt worden ist, liegen die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen nur vor, wenn eine Beförderung des Beamten in das höherwertige Amt, dem die wahrgenommene (höherwertige) Tätigkeit zugeordnet wird, möglich ist, der Betroffene mithin beförderungsreif ist. Beförderungsreife meint dabei konkret, dass einer Beförderung des Beamten keine normativen Regelungen des gesamten Laufbahnrechts entgegenstehen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Dezember 2014 - 2 B 110.13 -, juris, Rn. 16, sowie Urteile vom 25. September 2014 - 2 C 16.13 -, juris, Rn. 19, vom 28. April 2011 - 2 C 30.09 -, juris, Rn. 22, und vom 7. April 2005 - 2 C 8.04 -, juris, Rn. 19 (jeweils zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Zwar trifft es zu, dass ein Disziplinarverfahren – wie der Beklagte vorträgt – grundsätzlich Zweifel an der persönlichen Eignung eines Beamten für die Amtsausübung rechtfertigen und so den Ausschluss eines Bewerbers aus einem Beförderungsverfahren legitimieren kann.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1987 - 6 C 32.85 -, juris, Rn. 12; OVG NRW, Beschlüsse vom 21. August 2018 - 1 B 1483/17 -, juris, Rn. 6 ff., vom 8. März 2017 - 1 B 1354/16 -, juris, Rn. 5 ff., vom 24. März 2016 - 1 B 1110/15 -, juris, Rn. 13 ff., und vom 12. Dezember 2011 - 6 B 1314/11 -, juris, Rn. 2 ff.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14. April 2022 - 1 L 318/22 -, n.v.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon aber, dass der Umstand eines laufenden Disziplinarverfahrens nicht stets und automatisch den Ausschluss aus einem Beförderungsverfahren zur Folge hat, sondern dies von den Begebenheiten des konkreten Falles abhängt und insoweit das Auseinandersetzen des Dienstherrn mit den Einzelheiten des Vorwurfs erforderlich ist,</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 24. März 2016 - 1 B 1110/15 -, juris, Rn. 15; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14. April 2022 - 1 L 318/22 -, n.v.,</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">betrifft die Frage der (persönlichen) Eignung allein die beamtenrechtlichen Grundvoraussetzungen für eine Ernennung und nicht die nach § 59 Abs. 1 LBesG NRW einzig maßgeblichen laufbahnrechtlichen Voraussetzungen. Entgegen der Ansicht des Beklagten sind indes unter „Beförderungsreife“ nur diejenigen Aspekte zu verstehen, die die Ämterlaufbahn und nicht die allgemeine Frage nach der Einstellung und Beförderung, wie etwa die persönliche Eignung, betreffen. Entscheidend ist nach Auffassung der Kammer allein, ob nach den formellen Kriterien des Laufbahnrechts eine Beförderung in das nächsthöhere (Status-)Amt möglich wäre. Der dem entgegenstehenden und für das Gericht ohnehin nicht bindende Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2017 (403-42.07.08) ist insoweit rechtswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Dies beruht zunächst auf der Überlegung, dass der Begriff der „laufbahnrechtlichen“ Voraussetzungen offenbar auf eine bestimmte Einengung abzielt. Insoweit wird gerade nicht von sämtlichen beamtenrechtlichen Ernennungs- und Beförderungsvoraussetzungen, sondern gerade nur von laufbahnbezogenen Voraussetzungen gesprochen. Der Normgeber scheint demnach zwischen Laufbahnvoraussetzungen und sonstigen Voraussetzungen für eine Beförderung zu differenzieren.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Eine solche Differenzierung findet dabei ihre Stütze auch in der nordrhein-westfälischen beamtenrechtlichen Regelungssystematik, die einerseits allgemeine, d.h. grundsätzliche, Vorgaben zur Ernennung, andererseits aber auch spezifische Vorgaben zum Laufbahnaufstieg, also Bedingungen für eine Beförderung innerhalb einer Laufbahn vorsieht. Erstere zeichnen abstrakt die Mindestrahmenbedingungen für jede beamtenrechtliche Ernennung und damit auch Beförderung in Gestalt des Leistungsprinzips – Ernennungen sind nur nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen – ab und finden sich an zentraler Stelle in formellen Gesetzen, wie etwa Art. 33 Abs. 2 GG, § 9 des Beamtentstatusgesetzes (BeamtStG) oder § 19 des Landesbeamtengesetzes Nordrhein-Westfalen (LBG NRW). Letztere hingegen differieren hinsichtlich des Tätigkeitsfeldes, werden teilweise für bestimmte Dienstzweige gesondert geregelt und finden sich daher auch auf Basis des § 9 bzw. § 110 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW in landesrechtlichen Verordnungen, wie etwa hier in § 8 der Laufbahnverordnung der Polizei Nordrhein-Westfalen in der hier maßgeblichen, vom 4. März 1995 bzw. 20. März 2018 geltenden Fassung (LVOPol NRW 1995 bzw. 2018). Diese Trennung zeigt sich auch in § 3 Abs. 1 LVOPol NRW 1995 bzw. 2018, der die Einstellungs- und Beförderungsvoraussetzungen umschreibt und einerseits die allgemeinen – in der Verordnung selbst nicht geregelten – Voraussetzungen benennt, etwa „die Voraussetzungen für die Berufung in das Beamtenverhältnis“ (Nr. 1), andererseits aber auch die „nach dieser Verordnung vorgeschriebenen besonderen Einstellungsvoraussetzungen für den jeweiligen Laufbahnabschnitt“ (Nr. 4) zur Einstellungs- und Beförderungsbedingung – insbesondere also § 8 LVOPol NRW 1995 bzw. 2018 – als Bedingung für eine Einstellung festlegt.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Insoweit greift auch das Argument des Beklagten, die Laufbahnverordnung verweise unter anderem auf das Beamtenstatusgesetz und mache so die Frage der persönlichen Eignung zur Bedingung des Laufbahnaufstieges, nicht durch. Denn es steht außer Frage, dass eine Beförderung im Rahmen der Laufbahn auch unter Beachtung der Grundvoraussetzungen und damit der persönlichen Eignung erfolgen muss. Davon zu unterscheiden ist aber die hier maßgebliche Frage, ob die auf die Beachtung der laufbahnrechtlichen Voraussetzungen beschränkte Gewährung der Zulage nach § 59 LBesG NRW ebenfalls diese Fragen zu beantworten hat. Insofern hängt die Gewährung der Zulage nur von einem Teil der Beförderungsvoraussetzungen, nämlich den formalen Bedingungen der Ämterlaufbahn, ab.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund wird nicht nur in § 59 Abs. 1 Satz 1 LBesG NRW selbst zwischen Voraussetzungen, die bei einer Ernennung und Beförderung gelten, und solchen nur an Beamte derselben Laufbahn gerichteten Bedingungen unterschieden. Dies bildet sich auch in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung ab, die bei einer Beförderung allgemein zwischen den „Grundvoraussetzungen“ einerseits und den „laufbahnrechtlichen Voraussetzungen“ andererseits differenzieren.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. April 2006 - 2 VR 2.05 -, Rn. 7; OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013 - 1 B 1131/13 -, juris, Rn. 7 ff., insbesondere Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus gebietet der Zweck der Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes lediglich die Betrachtung der laufbahnrechtlichen, nicht aber das Berücksichtigen der allgemeinen Beförderungsvoraussetzungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es ein wesentliches Ziel der Zulage, den Dienstherrn davon abzuhalten, freie Stellen auf Dauer aus fiskalischen oder anderen „hausgemachten“ Gründen nicht entsprechend der Bewertung gemäß der <span style="text-decoration:underline">Ämterordnung des Besoldungsrechts</span> zu besetzen (Herv. nur hier).</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2018 - 2 C 52.17 -, juris, Rn. 25, vom 25. September 2014 - 2 C 16.13 - juris, Rn. 15, und vom 28. April 2005 - 2 C 29.04 -, juris, Rn. 14; VG Münster, Urteil vom 7. Juli 2016 - 4 K 1085/12 -, juris, Rn. 33 (jeweils zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Mit anderen Worten soll der Dienstherr über die Zulage angehalten werden, nur solche Beamte auf vakante und höher besoldete Posten zu setzen, die den Posten allein aus Sicht der Ämterordnung auch im Wege einer Beförderung erhalten könnten. Insoweit dient das die Zulagengewährung einschränkende Tatbestandsmerkmal der laufbahnrechtlichen Voraussetzungen dazu, die Zulage auszuschließen, wenn ein laufbahnfremder, vor allem schlechter besoldeter, Beamter ein höherwertiges Amt bekleidet, damit die entsprechende Tätigkeit letztendlich über eine solche Praxis keinerlei Anreize mehr bietet. Der Anreiz der Stellenzulage und damit die Besetzung höherwertiger Ämter mit Beamten statusamtsniedrigerer Position sollen nur für solche Beamte gelten, die das höherwertige Amt laufbahnrechtlich übertragen bekommen können.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2011 - 2 C 30.09 -, juris, Rn. 24 (zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die allgemeinen Anforderungen an eine beamtenrechtliche Ernennung, wie etwa die persönliche Eignung, spielen demnach für die Ziele der Zulagengewährung keine Rolle. Das Bundesverwaltungsgericht betont daher überzeugend, dass es im Rahmen der laufbahnrechtlichen Voraussetzungen ausschließlich auf die Bestimmungen des Laufbahnrechts ankommt und gerade nicht von Belang ist, ob der betreffende Beamte sich bei einer Leistungskonkurrenz um das Beförderungsamt durchsetzen würde.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2018 - 2 C 52.17 -, juris, Rn. 11, und vom 25. September 2014 - 2 C 16.13 -, juris, Rn. 19 (jeweils zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Andernfalls müsste für die Gewährung der Zulage nach § 59 LBesG NRW nicht nur die Bedingungen der Ämterlaufbahn beachtet, sondern auch die Frage nach Eignung, Leistung und Befähigung beantwortet, mithin letztlich Bestenauslese betrieben werden. Dies erweist sich nicht nur vor dem Hintergrund des bereits genannten Zwecks der Zulage, sondern gerade auch angesichts des in der mündlichen Verhandlung vom Kläger vorgebrachten Aspektes, dass die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes zum einen zeitlich befristet und zum anderen gerade nicht durch Beförderung, sondern durch eine von Fragen der Bestenauslese und damit auch der persönlichen Eignung unabhängige Umsetzung erfolgt, als unangemessen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Entscheidend ist demnach die Beförderungs<span style="text-decoration:underline">reife</span> und nicht die Beförderungs<span style="text-decoration:underline">fähigkeit</span>. Es nimmt daher nicht Wunder, dass auch das Bundesverwaltungsgericht in seinen Entscheidungen – soweit ersichtlich – rein auf laufbahnbezogene Kriterien eingeht, nicht aber prüft, ob die allgemeinen Grundvoraussetzungen der Ernennung gegeben sind.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2018 - 2 C 52.17 -, juris, Rn. 13 ff., und vom 28. April 2011 - 2 C 30.09 -, juris, Rn. 30 ff. (jeweils zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen gibt die Kammer zu bedenken, dass vor dem Hintergrund des genannten Zweckes eine andere Auffassung zum Umfang der laufbahnrechtlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall eines laufenden Disziplinarverfahrens sich für den betroffenen Beamten als unverhältnismäßig erwiese. Denn der Hauptgrund dafür, dass ein Dienstherr einen Beamten wegen eines laufenden Disziplinarverfahrens regelmäßig aus einem Stellenbesetzungsverfahren ausschließen darf, liegt in der Überlegung, dass er sich in Widerspruch setzen würde, wenn er dem Beamten einerseits ein Dienstvergehen vorwirft, ihn andererseits für beförderungsfähig hält.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1987 - 6 C 32.85 -, juris, Rn. 12; OVG NRW, Beschluss vom 21. August 2018 - 1 B 1483/17 -, juris, Rn. 6 ff.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Genau diesem Widerspruch setzt sich aber – wie der Kläger zu Recht vorträgt – auch ein Dienstherr aus, der einen Beamten einerseits in einem höherwertigen Statusamt tatsächlich einsetzt, ihm zugleich die Zulagengewährung wegen Zweifel an der (persönlichen) Eignung ausschlägt. Soweit der Beklagte hiergegen einwendet, die Entscheidung hierüber obliege dem Organisationsermessen des Dienstherrn und sei aufgrund einer Gesamtabwägung aller Einzelfallumstände zu treffen, mag dies zutreffen. Es hat aber keine Auswirkungen auf die Gewährung der Zulage für die Tätigkeit. Insoweit kann er die Zulagengewährung durch die Entbindung des Beamtenvon der höherwertigen Tätigkeit verhindern, nicht aber dadurch, dass er sehenden Auges einen beförderungsreifen, nicht aber beförderungsfähigen Beamten für eine höherwertige Tätigkeit einsetzt.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong></p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Unter Beachtung der soeben dargelegten Maßgaben lagen für den streitgegenständlichen Zeitraum die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen in der Person des Klägers und im Hinblick auf das konkret ausgeübte höherwertige Amt vor. Insoweit konnte er nach der Ämterordnung, wie sie sich aus der für den streitgegenständlichen Zeitraum maßgeblichen LVOPol NRW 1995 bzw. LVOPol NRW 2018 ergibt, in das ausgeübte nächsthöhere Statusamt befördert werden. Insbesondere lag die nach § 8 Abs. 1 LVOPol NRW 1995 noch erforderliche Dienstzeit vor. Auch sind Beförderungsverbote nach § 8 Abs. 4 LVOPol NRW 1995 bzw. § 8 Abs. 2 LVOPol NRW 2018 weder vorgetragen noch ersichtlich. Im Übrigen sind auch weiter keine Aspekte ersichtlich, die dem Kläger die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen abzusprechen vermögen könnten, zumal der Kläger bis zum Beginn des Disziplinarverfahrens die begehrte Zulage gewährt bekommen hatte, der Beklagte ihm die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen ohne laufendes Disziplinarverfahrens offenkundig auch nicht abgesprochen hätte.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Höhe der Zulage des Klägers für den Zeitraum vom 19. Oktober 2017 bis zum 21. Mai 2019 bemisst sich gemäß § 59 Abs. 2 LBesG NRW nach dem Unterschiedsbetrag zwischen den im betroffenen Zeitraum jeweils unter Beachtung der jeweiligen Erfahrungsstufe (hier: 12) geltenden Grundgehältern der Besoldungsgruppen A 12 und A 13 gemäß der Landesbesoldungsordnung.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich dieser Differenzbetrag in den Fällen, in denen die Anzahl der Anspruchsberechtigten die Anzahl der besetzbaren Planstellen der entsprechenden Wertigkeit übersteigt, nur anteilig gezahlt werden kann, da die Zulage nach besagtem Zweck zu keiner finanziellen Mehrbelastung der Behörde führen darf.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2005 - 2 C 29.04 -, juris, Rn. 14 (zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Es ist deshalb für den Anspruchszeitraum und den etatisierten Behördenbereich – hier alle Polizeibehörden des Landes Nordrhein-Westfalen – monatlich die Anzahl der Anspruchsberechtigten und die Anzahl der besetzbaren Planstellen der entsprechenden Wertigkeit zu berechnen und ins Verhältnis zu setzen. Maßgeblich für diese Berechnung sind stets die Verhältnisse in dem Monat, für den die Zulage berechnet wird.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2014 - 2 C 16.13 -, juris, Rn. 21 f. (zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt ergibt sich auf Grundlage der vom Kläger nicht angegriffenen und nicht erkennbar fehlerhaften Unterlagen des Beklagten insgesamt ein Anspruch auf Zulage für die Wahrnehmung eines höherwertigen Amtes in Höhe von 7550,92 Euro:</p>
<span class="absatzRechts">75</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Monat</p>
</td>
<td><p>Besoldungs-tabelle</p>
</td>
<td><p>Differenz des Grundgehaltes in Erfahrungsstufe 12</p>
</td>
<td><p>Quote</p>
</td>
<td><p>Betrag</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>19. - 31. Oktober 2017</p>
<p>(13 Tage)</p>
</td>
<td rowspan="3"><p>ab 1.4.17</p>
</td>
<td><p>4974,36 (A13) - 4481,37 (A12) = 492,99 : 31 x 13 = 206,73</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>206,74</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>November 2017</p>
</td>
<td><p>492,99</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>492,99</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Dezember 2017</p>
</td>
<td><p>492,99</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>492,99</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Januar 2018</p>
</td>
<td rowspan="12"><p>ab 1.1.18</p>
</td>
<td><p>5091,26-4586,68 = 504,58</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Februar 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>März 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>April 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>0,5978</p>
</td>
<td><p>301,64</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Mai 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>0,7598</p>
</td>
<td><p>383,38</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Juni 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>0,6422</p>
</td>
<td><p>324,04</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Juli 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>0,9525</p>
</td>
<td><p>480,61</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>August 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>0,9525</p>
</td>
<td><p>480,61</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>September 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>0,8969</p>
</td>
<td><p>452,56</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Oktober 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>November 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Dezember 2018</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>504,58</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Januar 2019</p>
</td>
<td rowspan="5"><p>1.1.19</p>
</td>
<td><p>5254,18-4733,45 = 520,73</p>
</td>
<td><p>0,2312</p>
</td>
<td><p>120,39</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Februar 2019</p>
</td>
<td><p>520,73</p>
</td>
<td><p>0,2893</p>
</td>
<td><p>150,65</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>März 2019</p>
</td>
<td><p>520,73</p>
</td>
<td><p>0,2613</p>
</td>
<td><p>136,07</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>April 2019</p>
</td>
<td><p>520,73</p>
</td>
<td><p>0,5696</p>
</td>
<td><p>296,61</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>1. bis 21. Mai 2019</p>
</td>
<td><p>520,73 : 31 x 21 = 352,75</p>
</td>
<td><p>0,5788</p>
</td>
<td><p>204,17</p>
</td>
</tr>
<tr><td colspan="4"></td>
<td><p>7550,93</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks"><strong>IV.</strong></p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat schließlich auch einen Anspruch auf Prozesszinsen. Zwar regelt § 2 Abs. 5 LBesG NRW, dass bei verspäteter Zahlung von Bezügen kein Anspruch auf Verzugszinsen besteht. Wegen der Spezialität dieser auf die beamtenrechtliche Besoldung beschränkten Regelung darf auch nicht auf die allgemeine Vorschrift des § 288 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zurückgegriffen werden.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteil vom 21. April 2005 - 1 A 3099/03 -, juris, Rn. 118 ff. m.w.N. (zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Allerdings regelt § 2 Abs. 5 LBesG NRW ausschließlich die Zinsen wegen verspäteter Zahlung, mithin Verzugszinsen, und nicht die vom Kläger hier geltend gemachten Prozesszinsen. Insoweit ist geklärt, dass Prozesszinsen in entsprechender Anwendung des § 291 BGB gewährt werden können, weil das Fachrecht – wie hier das Landesbesoldungsgesetz Nordrhein-Westfalen – gerade zu diesen Zinsen keine abweichende Regelung trifft.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Oktober 2002 - 2 C 24.01 -, juris, Rn. 20, und vom 28. Mai 1998 - 2 C 28.97 -, juris, Rn. 10 m.w.N. (jeweils zur gleichlautenden Vorschrift für Bundesbeamte).</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen des § 291 Satz 1 BGB (analog) liegen vor. Danach sind Geldschulden von dem Eintritt ihrer Rechtshängigkeit an – unabhängig von der Frage einer unverschuldeten Nichtzahlung – zu verzinsen. Dabei wird eine Geldschuld nur dann mit Klageerhebung rechtshängig (vgl. § 90 VwGO), wenn der Prozess mit dem Zuspruch einer eindeutig bestimmten Geldleistung endet. Entscheidend ist, dass die Höhe der Geldleistung am Ende des Prozesses eindeutig feststeht bzw. rechnerisch unzweifelhaft ermittelt werden kann und keinem, von der Behörde noch auszuübenden Regelungsspielraum unterliegt. Denn im letzteren Fall kann die Geldschuld mangels Bestimmtheit ihrer Höhe noch nicht mit Klageerhebung rechtshängig geworden sein.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile 28. Mai 1998 - 2 C 28.97 -, juris, Rn. 13, und vom 28. Juni 1995 - 11 C 22.94 -, juris, Rn. 10; OVG NRW, Urteil vom 21. April 2005 - 1 A 3099/03 -, juris, Rn. 140.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Fall liegt hier aber auch nicht vor. Die Höhe der vom Beklagten zu gewährenden Zulage steht nach Vorstehendem eindeutig fest, ohne dass eine weitere Rechtsanwendung oder Berechnung durch den Beklagten erforderlich wäre. Sie ist insoweit auch mit Klageerhebung am 17. Oktober 2019 rechtshängig geworden. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Beklagte nicht unmittelbar zur Zahlung, sondern nur zum Erlass eines die Zahlung der bestimmten Geldsumme unmittelbar auslösenden Verwaltungsaktes verpflichtet wird. Denn aufgrund des für öffentlich-rechtliche Zahlungsansprüche geltenden Verfahrensrechts ist es dem Berechtigten häufig – und wie hier – nicht möglich, unmittelbar auf Leistung zu klagen, sondern auch im Falle eines der Höhe nach bestimmten Geldleistungsanspruchs muss er zunächst auf den Erlass eines zusprechenden Verwaltungsaktes klagen. Insoweit reicht es für die Rechtshängigkeit der Geldschuld aus, dass die Klage auf Erlass des die Geldzahlung auslösenden Verwaltungsaktes gerichtet ist.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile 28. Mai 1998 - 2 C 28.97 -, juris, Rn. 13, und vom 28. Juni 1995 - 11 C 22.94 -, juris, Rn. 10; OVG NRW, Urteil vom 21. April 2005 - 1 A 3099/03 -, juris, Rn. 140.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Die Höhe der Zinsen richtet sich dabei in entsprechender Anwendung nach § 291 Satz 2 BGB in Verbindung mit §§ 288 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 sowie § 289 Satz 1 BGB und beträgt fünf Prozentpunkte über dem für das Jahr jeweils geltenden Basiszinssatz. Der Beginn des Zinsanspruches ist mit dem 18. Oktober 2019 zu datieren, weil der Tag des den Zinsanspruch auslösenden Ereignisses – die Rechtshängigkeit am 17. Oktober 2019 – in entsprechender Anwendung des § 187 Abs. 1 BGB nicht mitzurechnen ist.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. Nds. OVG, Urteil vom 2. November 1999 - 7 L 3034/97 -, juris, Rn. 127; BGH, Urteile vom 10. Oktober 2017 - XI ZR 555/16 -, juris, Rn. 21, und vom 4. Juli 2017 - XI ZR 562/15 -, juris, Rn. 103.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks"><strong>V.</strong></p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
|
346,024 | vg-gelsenkirchen-2022-07-20-1-k-489419 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 K 4894/19 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-08-02T10:00:54 | 2022-10-17T17:55:32 | Urteil | ECLI:DE:VGGE:2022:0720.1K4894.19.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Lehrzulage anlässlich der Tätigkeit als Behördenmultiplikator für die sog. ViVA-Software (Verfahren zur integrierten Vorgangsbearbeitung und Auskunft).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger steht als Polizeihauptkommissar im Dienst des Beklagten mit Stammdienststelle beim Polizeipräsidium C. . Vom 1. September 2018 bis zum 9. August 2020 wurde er dort als Behördenmultiplikator für das in der Polizei Nordrhein-Westfalen neu eingesetzte ViVA-System – einem digitalen Vorgangsbearbeitungssystem für die gesamte nordrhein-westfälische Polizeibehörde – eingesetzt. Seine Aufgabe war es im Wesentlichen, im Rahmen von eigens durchgeführten Schulungen den Umgang mit dem System ViVA und dessen Funktionsweise in seiner Behörde den Adressaten zu vermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit anwaltlichem Schreiben vom 6. September 2019 beantragte der Kläger beim Polizeipräsidium C. die Gewährung einer Lehrzulage. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür seien gegeben, insbesondere vermittele er im Rahmen seiner Multiplikatorentätigkeit vorwiegend theoretisches Wissen, da er nicht nur die Grundsätze und die Grundphilosophie, sondern auch die allgemeine Strukturen und Abläufe des komplexen und anspruchsvollen Systems erklären müsse, damit die künftigen Anwender ein Grundverständnis für das System erlernten. Nahezu jeder einzelne Schritt müsse erklärend begleitet werden. Im Übrigen müsse er ein erhöhtes Maß an Anpassung aufbauen, da sich das ViVA-System ständig in der Weiterentwicklung befinde.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 28. Oktober 2019 lehnte das Polizeipräsidium C. den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung verwies es auf den Erlass des Ministeriums des Innern Nordrhein-Westfalen vom 7. Januar 2019 (Az. 403/42.06.02), nach dessen Ziffer 2 ViVA-Behördenmultiplikatoren keinen Anspruch auf Gewährung einer Lehrzulage hätten.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 30. Oktober 2010 erhob der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 26. Oktober 2019 und begründete diesen vorwiegend mit seinen bereits im Antrag ausgeführten Argumenten. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2019 wies das Polizeipräsidium C. den Widerspruch zurück und begründete dies im Wesentlichen mit der praktischen Natur des im Rahmen der ViVA-Schulungen vermittelten Wissens. Es gehe bei diesen Veranstaltungen überwiegend um die praktische Anwendung der neuen Software.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 6. November 2019 Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, der vom Polizeipräsidium C. herangezogene Erlass sei rechtswidrig, da es den ViVA-Schulungen um die Vermittlung vorwiegend theoretischen Wissens gehe. Dies bezeugten bereits die für die Schulung landesweit erstellten Konzepte, insbesondere das „ViVA-Fachkonzept“ und die „ViVA-Rahmendienstanweisung“. Nach diesen bestehe etwa die Schulung im Grundmodul aus einer Demonstration des Programmes, die bereits zeitlich betrachtet einen Anteil von mehr als 50 Prozent ausmache. Im Übrigen seien in der Schulung auch zahlreiche Aspekte entscheidend, die keine Praxisanwendung, sondern allein theoretische Wissensvermittlung beträfen, etwa die Themen „Philosophie“, „Systemarchitektur“ und „Datenqualität“. Die theoretische Natur des Wissens ergebe sich auch daraus, dass die Methodik der Wissensvermittlung aufgrund der laufenden Weiterentwicklung des Systems regelmäßig fortgeschrieben werden müsse. Auch müssten in den Schulungen die Hintergründe des Systems erläutert werden, etwa die Schnittstellen zu anderen Softwareanwendungen sowie die datenschutz- und IT-rechtlichen Voraussetzungen. Ferner zeige sich die theoretische Seite der Schulung anhand der zehntätigen Multiplikatorenausbildung selbst, in der es vor allem um Methodik und Didaktik gehe. Schließlich umfassten die in den ViVA-Schulungen durchgeführten Anwendungsfälle lediglich einen Bruchteil der gesamten Seminarzeit.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Polizeipräsidiums C. vom 28. Oktober 2019 in Gestalt dessen Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2019 zu verpflichten, dem Kläger für seine Tätigkeit als ViVA-Behördenmultiplikator eine Lehrzulage für den Zeitraum vom 1. September 2018 bis zum 9. August 2020 mit Ausnahme der Monate April und Mai 2020 zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen seine Argumente aus dem Verwaltungsverfahren. Ergänzend und konkretisierend führt er aus, das vorrangige Ziel der ViVA-Schulungen sei es, die Endanwender in die Lage zu versetzen, die ViVA-Software ordnungsgemäß zu bedienen. Bei den insoweit angesetzten Seminaren und Schulungen machten daher die Übungseinheiten mit 60 % den größten Anteil aus. Präsentationen nähmen hingegen gerade einmal 10 % der gesamten Schulungsdauer ein. Von einem vorwiegend theoretischen Wissen könne daher nicht die Rede sein. Soweit der Kläger auf womöglich theoretische Inhalte wie etwa die Datenqualität, die rechtlichen Voraussetzungen der Software oder die allgemeine Struktur verweist, handelte es sich stets um Randbereiche, die nur im Überblick vorgestellt werden müssten. Die Ausrichtung der Schulung auf die praktische Softwareanwendung könne dadurch nicht beseitigt werden. Entsprechendes gelte für die regelmäßige Softwareweiterentwicklung und den landesweiten Einsatz der Software nebst Schnittstellen zu anderen Programmen. Dass die Multiplikatorenausbildung ihren Schwerpunkt in Methodik und Didaktik habe, stelle eine sachgerechte Schulung sicher und sei mit einer praktischen Wissensvermittlung daher vereinbar. Schließlich müsse die Lehrzulage auch nicht vor dem Hintergrund des allgemeinen Zwecks von Lehrzulagen, der nach höchstrichterlicher Rechtsprechung in der Gewinnung von Nachwuchs und der Abgeltung der erhöhten Anforderungen an Lehrpersonal liege, gezahlt werden. Dieser Zweck greife hier nicht, zumal es für die hiesige Multiplikatorentätigkeit – anders als bei der Vermittlung theoretischen Wissens – nicht vergleichbar der mehrjährigen Berufsausbildung und Praxiserfahrung bedürfe.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Für weitere Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Die mit Bescheid des Polizeipräsidiums C. vom 28. Oktober 2019 in Gestalt dessen Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2019 erfolgte Ablehnung der Gewährung der Lehrzulage ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer entsprechenden Zulage für seine Tätigkeit als Multiplikator im Rahmen der Einführung der ViVA-Software.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Anspruchsgrundlage für die begehrte Lehrzulagengewährung ist § 1 Abs. 1 Satz 1 der Lehrzulagenverordnung Nordrhein-Westfalen (LehrzulV NRW). Danach erhalten u.a. Beamte, die in ihrem Hauptamt durchschnittlich mindestens zur Hälfte in der dienstlichen Aus- oder Fortbildung als Lehrkräfte tätig sind, eine Stellenzulage (Lehrzulage), wobei gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 LehrzulV NRW Lehrtätigkeit im Sinne dieser Verordnung die methodische Vermittlung vorwiegend theoretischen Wissens als Lehrende an bestimmten Einrichtungen oder im Rahmen bestimmter Module bedeutet. Entscheidend ist dabei der Schwerpunkt der Lehrveranstaltung(en) („vorwiegend“).</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Im vorliegenden Fall fehlt es für die Annahme einer zulagenrelevanten Lehrtätigkeit bereits an der methodischen Vermittlung vorwiegend theoretischen Wissens.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong></p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger die theoretische Natur seiner Lehrtätigkeit über die Art und Weise der Wissensvermittlung unter Verweis auf die zahlreichen Präsentationen und allgemeinen Erläuterungen zu begründen versucht, dringt er damit bereits deshalb nicht durch, weil es auf diesen Aspekt nicht ankommt. Ausweislich des Wortlautes des § 2 Abs. 1 Satz 1 LehrzulV NRW bezieht sich das Attribut des Theoretischen auf das vermittelte Wissen, also den Schulungsinhalt, und nicht auf den Wissensvermittlungsvorgang. Die theoretische Natur eines Lehrinhaltes kann demnach nicht mit einer vermeintlichen „theoretischen“ Lehrmethode begründet werden. Auch wenn der Kläger den Schulungsteilnehmern die gesamte Funktionsweise und die Anwendung des Programms abstrakt erläutert haben sollte, hat dies – unabhängig davon, ob eine abstrakte Darstellung automatisch einer theoretischen Vermittlung entspricht –, keinen Einfluss auf die Natur des Lehrinhaltes. Insofern kommt es auch nicht darauf an, wie viele konkrete Anwendungsfälle in den Seminaren und Lehrveranstaltungen durchgeführt werden und welchen Zeitumfang sie eingenommen haben, weil auch dieser Aspekt die Art der Wissensvermittlung, nicht aber deren Inhalt betrifft. Entsprechend vermögen auch die erforderliche Weiterentwicklung des Systems sowie die daran angepasste Methodik der Wissensvermittlung damit den theoretischen Bezug nicht zu begründen. Es ist bereits nicht erkennbar, wie dieser jedem System immanente Aspekt dem Inhalt des zu vermittelnden Wissens ein theoretisches Gewand zu geben imstande wäre. Dass die „methodische Wissensvermittlung“ überwiege, wie der Kläger meint, ist offensichtlich ohne Relevanz, weil es nach der maßgeblichen Vorschrift um die methodische Vermittlung gerade theoretischen Wissens geht.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong></p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der im Zusammenhang mit der ViVA-Multiplikatorentätigkeit auszumachende Schulungsinhalt erweist sich aber nicht als theoretisches Wissen, jedenfalls fehlt es an dem erforderlichen Übergewicht des theoretischen Schulungsinhaltes.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong></p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Dabei bedeutet das vom griechischen Wort für (wissenschaftliche) Erkenntnis abgeleitete Wort „Theorie“ nicht jede Form des abstrakten Denkens. Vielmehr geht es allgemeinhin im Sinne einer Metaebene um hinter wahrnehmbaren oder angenommenen Phänomenen liegende allgemeine Strukturen, Systeme und Prinzipien. Von daher liegt „Theorie“ erst dann vor, wenn es primär um die hinter einer praktischen Anwendung liegenden Leitbilder und Ideen geht und Ziel der Wissensvermittlung nicht in der Anwendung selbst liegt. Von daher schließt § 2 Abs. 2 LehrzulV NRW auch unter anderem praktische Ausbildungstätigkeiten sowie die Unterweisung und Anleitung an Einrichtungen, Maschinen, Geräten und Ähnlichem aus. Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen auch angenommen, dass die Vermittlung (vorwiegend) theoretischen Wissens in Bezug auf eine Software nur vorliegt, wenn Inhalt der Lehrveranstaltung die Darlegung von Hintergrundwissen der Informatik, wie mathematisch-logische Grundlagen, formale Sprachen und Programmiersprachen, Algorithmen, Berechenbarkeit und ihre prinzipiellen Grenzen oder die Übersetzung von Programmiersprache, betrifft.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juni 2007 - 21 A 2702/06 -, juris, Rn. 22.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Mit anderen Worten darf es für die Annahme theoretischen und nicht praktischen Wissens im Zusammenhang mit einer Software gerade nicht schwerpunktmäßig auf ihre Anwendung ankommen, sondern auf die dahinter liegenden Prinzipien der Informatik. Insoweit geht das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen von einer vorwiegend auf die Praxis bezogenen Lehrveranstaltung aus, wenn es ihr schwerpunktmäßig auf die praktische Hilfestellungen ankommt, die die Betroffenen in die Lage versetzen sollen, Schritt für Schritt die neue Software zu erarbeiten, und die vorrangig auf die praktische Bewältigung der Aufgabe gerichtet ist zu erfahren, welche Anwendungsmöglichkeiten die neue Software im Alltag eröffnet und mit welchen Arbeitsschritten man sich dieser neuen Möglichkeiten bedienen kann.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juni 2007 - 21 A 2702/06 -, juris, Rn. 22.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab wohnt der Tätigkeit als ViVA-Multiplikator keine Vermittlung theoretischen Wissens inne. Denn software- oder programmierbezogene Hintergründe waren keineswegs Gegenstand der ViVA-Schulungen, wie der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung zugegeben hat. Nach der Fortbildungskonzeption ViVA ging es bei der Multiplikatorentätigkeit um die Einführung der neuen Software. Die Tätigkeit sollte darin bestehen, die Bediensteten der Polizeibehörden in die Lage zu versetzen, mit dem neuen Softwareprogramm erfolgreich zu arbeiten und die diesbezüglichen praxisrelevanten Informationen zu vermitteln. Die Bediensteten der Polizeibehörden sollten die Fähigkeit erwerben, über verschiedene Zielgruppen das Programm ViVA „in der gebotenen Tiefe qualitativ hochwertig anzuwenden“ sowie „bestimmungsgemäß zu bedienen“ (S. 14 und 48 der Fortbildungskonzeption). Theoretische Momente sind daher bei der Grundzielbestimmung des Multiplikatorenkonzepts nicht auszumachen. Auch die in der Fortbildungskonzeption dargestellten Inhalte der Schulungen weisen einen ausschließlich praktischen Bezug auf. So soll es dort vor allem um die Anwendung des Systems gehen, etwa hinsichtlich der Ausschreibung von Vermissten- oder Sachfahndungen, der Entnahme von DNA-Material, des kriminaltechnischen Antrags oder der Erfassung von Verkehrsunfällen und Verkehrsstraftaten (S. 51 ff. des Fortbildungskonzepts).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger den theoretischen Bezug des von ihm in den Schulungen vermittelten Wissens damit begründet, dass eine Anwendung der ViVA-Software angesichts ihrer Komplexität ohne ihre „philosophischen“ Hintergründe, ein Gesamtverständnis für das System und die Erläuterung der entsprechenden Kontexte nicht möglich sei, ändert dies daran nichts. Auch wenn es sich nicht um die unmittelbare Anwendung des Systems, sondern um abstrakte Hintergrundinformationen handeln mag, kann deshalb nach besagtem Maßstab noch nicht sogleich von „Theorie“ im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 LehrzulV NRW gesprochen werden. Denn nur weil es sich um abstrakte Überlegungen und Verständnisinhalte handelt, verliert die Schulung dadurch nicht ihren Anwendungsbezug. Auch Hintergründe der Praxisanwendung bleiben im Allgemeinen praxisbezogen und entwickeln nicht per se eine theoretische Grundierung. Sie sind insoweit einer anwendungsbezogenen Wissensvermittlung immanent. Das hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch eindrucksvoll unter Beweis gestellt, als er ausführlich und anschaulich die Notwendigkeit der Hintergrundinformationen und Kontextwissen erläutert, dies aber ausschließlich in Bezug auf die Bedienung und Anwendung der ViVA-Software bezogen und so den Praxisbezug seiner Schulungen deutlich unterstrichen hat. Letztlich zeigt dies auch das vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Grundmodul-Übungsheft, in dem es ausschließlich um die Softwareanwendung geht. Dass hierfür (abstrakte) Informationen zwingend sind, soll nicht in Abrede gestellt werden, ändert aber nichts an der praxisbezogenen Natur des Schulungsinhaltes. Dass – so der Kläger – ein vertieftes Verständnis für die Software erforderlich ist, erklärt sich dabei vor allem angesichts der Komplexität der Software, die aber auf die Frage der Natur des Schulungsinhaltes keine Auswirkungen hat.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Entsprechendes gilt für den klägerischen Vortrag, es handele sich bei ViVA um ein landesweit eingesetztes und mit zahlreichen anderen Systemen verknüpftes Programm, weswegen auch die allgemeinen Strukturen dargestellt werden müssten. Denn auch hier geht es gleichwohl letztlich um die – landeseinheitliche – Systemanwendung, da nicht zuletzt der Kläger selbst ausführt, dass es im Wesentlichen auch auf die „Abläufe“ ankomme und es einem Betroffenen ohne diese Kenntnisse nicht möglich sei, „im Einzelfall auch nur einen einzigen Anwendungsfall problemlos aufzunehmen oder abzuschließen“ (Bl. 22 der Gerichtsakte). Besser kann der Anwendungsbezug der Multiplikatorentätigkeit nicht beschrieben werden.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Schließlich bieten auch die Schulung der ViVA-Multiplikatoren selbst und deren Inhalt – unabhängig von der Relevanz dieses Aspekts für die Frage nach der Klassifizierung des Inhaltes der später durch die Multiplikatoren durchgeführten Schulungen – keinen Anlass dafür, entgegen der soeben dargestellten Argumente doch von der Vermittlung (vorwiegend) theoretischen Wissens auszugehen. Das zeigen bereits die in der Fortbildungskonzeption niedergelegten Aufgaben der ViVA-Multiplikatoren und deren Ausbildung. So sollen die Multiplikatoren in der Lage sein, „aufgaben- und adressatenbezogene“ – also: praxisbezogene – Schulungen durchzuführen (S. 34 der Fortbildungskonzeption). Die Kompetenzziele weisen dabei fast ausschließlich anwendungsbezogene Inhalte auf: Vorgangserfassung und -bearbeitung, Zuarbeiten, Ersuchen, Vorgangsberechtigungen, Vorgangsabschluss, Zuarbeit, Fachaufsicht, Leitungsrolle, Posteingangsverantwortlicher usf. (S. 35 der Fortbildungskonzeption). Dass bei der Ausbildung und später bei den Multiplikatorenschulungen didaktische Fragestellungen eine besondere Rolle spielen, wie auch der Kläger vorträgt, dürfte letztendlich die Natur des Schulungsinhaltes nicht berühren. Dass ein praktischer Schulungsinhalt didaktische Fragestellungen obsolet werden lässt, wie der Kläger meint, leuchtet nicht ein – im Gegenteil. Systemumstellungen in Behörden unterliegen gerade der besonderen Herausforderung, alle Mitarbeitende mit dem System vertraut zu machen. Dies lässt didaktische Aspekte sogar in besonderer Weise notwendig erscheinen. Unabhängig davon treffen didaktische Inhalte keine Aussagen zur Natur des Schulungsinhaltes selbst.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong></p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man einzelnen Inhalten der Schulungen (vornehmlich im Rahmen des Grundmoduls) theoretische Bezüge attestieren wollte, ist hierin keineswegs ein Schwerpunkt der Lehrveranstaltung zu sehen. Denn die für die Qualifizierung als theoretische Inhalte in Betracht kommenden Aspekte betreffen keineswegs den Kern der Wissensvermittlung, sondern erweisen sich offenkundig als Randbereiche, um deren Kenntnis es nicht explizit, sondern nur der selbständigen Anwendung wegen geht. Es ist nicht erkennbar, dass etwa das Thema Datenqualität – gerade vor dem Hintergrund des genannten Zwecks der Schulung – einen solchen Raum einnimmt, dass die Anwendung des Programmes nicht mehr im Vordergrund stünde.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>c)</strong></p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Angesichts der dargestellten Definition des Theoriebegriffes zeigt sich letztlich in einer Gesamtschau, dass die ViVA-Multiplikatorentätigkeit die Vermittlung der Systemanwendung zum basalen Ziel hat und hierbei im Wesentlichen praxisbezogene Inhalte aufweist. Zwar ist es offensichtlich, dass hierfür die reine „Schritt-für-Schritt-Anleitung“ nicht genügt, sondern es auch abstrakter Hintergrundinformationen bedarf, wie etwa der „Philosophie“ des Systems, sein allgemeiner Aufbau oder auch seine allgemeinen Ziele. Dies lässt nach besagter Definition die entsprechende Schulung bzw. genauer das dort vermittelte Wissen aber nicht in einem theoretischen Gewand erscheinen, da diese Aspekte gleichwohl weiterhin dem Anwendung als Oberziel dienen und letztlich nicht Hintergrundinformationen des Systems, sondern die Anwendung des Systems betreffen.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong></p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 der Zivilprozessordnung.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
|
345,978 | olgbs-2022-07-20-1-wf-16521 | {
"id": 602,
"name": "Oberlandesgericht Braunschweig",
"slug": "olgbs",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 1 WF 165/21 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-07-29T10:00:45 | 2022-10-17T17:55:25 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird gegen die Antragsgegnerin wegen der Zuwiderhandlung gegen die durch den Beschluss des Amtsgerichts H. vom 07.05.2018 gerichtlich gebilligte Umgangsvereinbarung vom 04.05.2018 (Az. 4 F 700/17 UG) ein Ordnungsgeld i. H. v. 500,00 €, ersatzweise Ordnungshaft von fünf Tagen, angeordnet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">II. Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">III. Der Antragsgegnerin wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beteiligten sind die Eltern der am 06.04.2014 geborenen J. L. B., die bei ihrer Mutter lebt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Wegen des Umgangs des Antragstellers mit seiner Tochter wurden beim Amtsgericht H. mehrere gerichtliche Verfahren geführt. Zuletzt schlossen die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 04.05.2018 zur Beendigung des Verfahrens zum Aktenzeichen 4 F 700/17 UG folgende Vereinbarung:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p><em>„Die Kindeseltern sind sich darüber einig, dass der Kindesvater das Recht zum Umgang mit seiner Tochter J. L. B., geboren am 06.04.2014, in der Zukunft haben wird wie folgt, und zwar donnerstags in der Zeit von 12:30 – 15:00 Uhr. Die Kindesmutter wird J. zur Übergabe nach Möglichkeit um 12:30 Uhr bis spätestens 13:00 Uhr in die Räumlichkeiten des Jugendamts des Landkreises H. bringen und dort unter Beteiligung eines Jugendamtsmitarbeiters an den Kindesvater übergeben. Dieser wird J. zum Ende des Umgangskontakts um 16:00 Uhr in den mütterlichen Haushalt zurückbringen.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Diese Umgangsvereinbarung wurde durch den Beschluss des Amtsgerichts H. vom 07.05.2018 familiengerichtlich gebilligt. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass durch das Gericht bei schuldhaften Zuwiderhandlungen gegenüber dem Verpflichteten Ordnungsgeld von bis zu 25.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten verhängt werden kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Seit November 2019 finden keine Umgangskontakte mehr statt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>In einer an das Jugendamt gerichteten kinderpsychiatrischen Stellungnahme vom 12.11.2019 ist dargelegt, dass J. durch die Begleitumstände der Umgangskontakte deutlich belastet sei. Das direkte Erleben eines Traumas des Kindes durch schädigendes Verhalten des Vaters habe nicht verifiziert werden können. J. sei jedoch in den Übergabesituationen wiederholt mit dem hochaktivierten und ängstlichen Verhalten ihrer Mutter konfrontiert gewesen, das ein angemessenes Maß erheblich überschreite, das Kind in Alarmbereitschaft versetze und den Vater als potenzielle Gefahrenquelle festschreibe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Auf Anregung des Vaters wurde daraufhin vom Amtsgericht H. Anfang Dezember 2019 ein Verfahren zur Abklärung einer etwaigen Kindeswohlgefährdung zum Aktenzeichen 4 F 822/19 SO eingeleitet, welches noch nicht abgeschlossen ist. Durch Beweisbeschluss vom 11.02.2020 wurde dort ein Sachverständigengutachten zu der Frage des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung von J. – zum einen im Haushalt der Mutter und zum anderen im Falle eines Wechsels zum Vater – in Auftrag gegeben. Wegen der vom Amtsgericht angenommenen Unverwertbarkeit des ersten Gutachtens vom 16.03.2021 wurde im Oktober 2021 ein zweites Gutachten in Auftrag gegeben, welches noch nicht vorliegt. Zwischenzeitlich hatte der Vater aufgrund der Verfahrensdauer Ende Mai 2021 eine Beschleunigungsrüge erhoben und nach deren Zurückweisung eine Beschleunigungsbeschwerde eingelegt, die durch den Beschluss des Senats vom 16.08.2021 zum Aktenzeichen 1 WF 97/21 zurückgewiesen wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Am 30.12.2019 erstattete die Kindesmutter gegen den Kindesvater Strafanzeige wegen des Verdachts auf schweren sexuellen Missbrauch der Tochter J. Das Ermittlungsverfahren zum Aktenzeichen 213 Js 2037/20 wurde gemäß Verfügung vom 09.06.2020 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Die dagegen eingelegte Beschwerde der Mutter wurde im November 2020 zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 21.12.2020 teilte der in dem Sorgerechtsverfahren zum Aktenzeichen 4 F 822/19 SO bestellte Verfahrensbeistand dem Amtsgericht H. mit, er habe auf seine – im Hinblick auf die Einstellung des gegen den Vater geführten Ermittlungsverfahrens – an die Mutter gerichtete Anfrage wegen der Durchführung eines Umgangsversuchs keine Reaktion erhalten. Die Durchsetzung von Umgängen mit dem Vater werde seiner Einschätzung nach nur im Falle einer Fremdunterbringung des Kindes möglich sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 05.03.2021 berichtete das Jugendamt gegenüber dem Amtsgericht, die Mutter habe einen anberaumten Termin zur Umgangsübergabe kurzfristig abgesagt und auf den Vorschlag eines Gesprächs zum Austausch über die Rahmenbedingungen für eine Wiederaufnahme der Umgangskontakte trotz mehrerer Anfragen nicht reagiert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Am 18.10.2021 fand im Jugendamt ein Gespräch zwischen den Kindeseltern bezüglich des Umgangs des Vaters mit J. statt. Ausweislich des vom Jugendamt gefertigten Vermerks gab die Mutter dabei an, sie sehe J. für Kontakte zu ihrem Vater nicht genügend gestärkt. Sie halte bis zu einer Stärkung des Kindes durch eine Psychologin weder persönliche noch telefonische Umgangskontakte für möglich. Hinsichtlich der weiteren Vorgehensweise bezüglich der geplanten psychologischen Anbindung wurde eine elterliche Vereinbarung protokolliert. In Bezug auf den Umgang ist vermerkt, dass zwischen den Eltern keine Einigung erfolgt sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Mit seinem Antrag vom 02.11.2021 begehrt der Antragsteller die Anordnung von Sanktionen wegen des Verstoßes der Mutter gegen ihre Verpflichtung aus der gerichtlich gebilligten Umgangsvereinbarung. Er macht geltend, die Kindesmutter unternehme alles, um die Bindung zwischen J. und ihm abzubrechen. Er nennt zahlreiche Termine im Zeitraum zwischen dem 24.05.2018 und dem 28.10.2021, an denen sie den Umgang vereitelt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat erstinstanzlich beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">gegen die Antragsgegnerin wegen des Verstoßes gegen die Verpflichtung aus dem zwischen den Beteiligten am 04.05.2018 geschlossenen Umgangsvergleich Sanktionen anzuordnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hat beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>den Antrag zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Mit Beschluss vom 03.12.2021 hat das Amtsgericht – Familiengericht – H. den Antrag zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Vortrag des Antragstellers genüge nicht den Anforderungen an die Darlegungslast und sei einer Beweisführung nicht zugänglich, da kein konkreter Geschehensablauf dargelegt werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Gegen den ihm am 07.12.2021 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde vom 18.12.2021, beim Oberlandesgericht eingegangen am 20.12.2021, mit der er seinen Ordnungsmittelantrag weiterverfolgt. Hierzu führt er zunächst die ausgefallenen Umgangstermine im Zeitraum zwischen dem 24.05.2018 und dem 10.10.2019 auf und nennt stichwortartig die Gründe für den Ausfall, die entweder in seiner eigenen Verhinderung bestanden oder „J. angeblich krank“ lauten. Auch rügt er jeweils das Fehlen von Ersatzterminen. Zudem gibt er an, ab dem 31.10.2019 sei der Umgang durchgängig vereitelt worden. Mehrere Versuche, mit Hilfe des Jugendamts nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens Umgänge wieder durchzuführen, seien von der Mutter abgeblockt worden. Sie verweigere alle kindeswohldienlichen Übergabevarianten. Auch der Verfahrensbeistand im Verfahren 4 F 822/19 SO habe in seiner Stellungnahme vom 06.04.2021 geschrieben, die Kindesmutter setze alles daran, den Umgang zwischen J. und ihrem Vater zu verhindern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Mit Beschluss vom 08.02.2022 hat das Amtsgericht der Beschwerde des Kindesvaters nicht abgeholfen und die Akten dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Es hat unter anderem ausgeführt, die Darlegungen des Antragsgegners seien nach wie vor nicht konkret genug. Der Hinweis auf eine angebliche Krankheit der Tochter lasse nicht erkennen, inwiefern die Antragsgegnerin den Umgang vereitelt habe. Dies gelte erst recht für die Umgänge ab dem 31.10.2019, für die lediglich eine durchgehende Vereitelung behauptet werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Im Beschwerdeverfahren trägt der Antragsteller ergänzend vor, die Mutter lehne sämtliche Versuche zur Wiederaufnahme der Umgänge ab. Hierzu verweist er auch auf den Beschluss des Senats vom 16.08.2021 zum Aktenzeichen 1 WF 97/21 betreffend die im Sorgerechtsverfahren erhobene Beschleunigungsbeschwerde, in dem dies festgestellt worden sei. Auch das Amtsgericht habe im Verfahren 4 F 822/19 SO festgestellt, dass die Mutter die Umgänge vereitele. Entgegen aller Gegenbeweise beharre sie auf ihren Missbrauchsphantasien. Wegen ihrer Verweigerung habe noch nicht einmal eine Begutachtung von J. realisiert werden können. Alle Ideen wie etwa neutrale Übergaben oder eine Umgangsbegleitung lehne sie ab. Er selbst habe mehrfach Termine im Jugendamt angestrebt. Am 09.04.2021 sei die Mutter zu einem vereinbarten Gesprächstermin im Jugendamt nicht gekommen. Entgegen ihrer Zusage am 18.10.2021 habe sie ihm trotz mehrerer Anfragen nicht mitgeteilt, bei welchen Psychologen J. auf der Warteliste stehe. Im Übrigen habe zu keiner Zeit Einigkeit über eine Aussetzung oder Anpassung der Umgangsvereinbarung bestanden. Wegen der Einzelheiten seines Vorbringens wird auf die Schreiben vom 18.12.2021, 13.02.2022, 09.05.2022 und 27.05.2022 Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Die Mutter tritt der Beschwerde entgegen und verteidigt den angefochtenen Beschluss. Sie habe die Begutachtung nicht verhindert, vielmehr sei ein Gutachten erstattet worden, welches jedoch unverwertbar gewesen sei. Dass das zweite Gutachten noch nicht vorliege, liege nicht an ihrem Verhalten. Sämtliche in der Zeit vom 24.05.2018 bis zum 12.12.2019 ausgefallenen Umgänge seien entweder vom Vater selbst abgesagt worden oder wegen einer Erkrankung des Kindes. Am 05.12.2019 habe J. dann Dinge berichtet, die zur Einleitung des Ermittlungsverfahrens geführt hätten. Die Mutter habe sodann am 11.12.2019 das Jugendamt informiert, welches daraufhin den Vater informiert habe. Im Hinblick auf die Verdachtsmomente sei man sich einig gewesen, dass ein unbegleiteter Umgang nicht in Betracht komme. Eine Begleitung der Umgänge sei vom Jugendamt auch aufgrund der Corona-Pandemie nicht angeboten worden. Im Übrigen sei bis heute nicht geklärt, was wirklich zwischen Vater und Kind vorgefallen sei. Auch habe der Vater sich nie ernsthaft um die Durchführung des Umgangsvergleichs bemüht und den Umgang eingefordert. Es habe nur vereinzelte Anfragen gegeben. Da der Vater sich während des Termins im Jugendamt am 18.10.2021 mit einer psychologischen Anbindung seiner Tochter einverstanden erklärt habe, sei es widersprüchlich, gleichzeitig ein Ordnungsmittelverfahren zu betreiben. Die geplante psychologische Anbindung habe wegen der langen Wartelisten bisher noch nicht erfolgen können. Ein Abänderungsverfahren zum Umgang sei von ihr im Hinblick auf das im Sorgerechtsverfahren anstehende Gutachten bisher nicht eingeleitet worden. Mittlerweile sei davon auszugehen, dass begleitete Umgänge grundsätzlich wieder möglich seien; die Lage des Kindes habe sich aber nicht entspannt. Insgesamt habe sie stets nur zum Schutz ihres Kindes gehandelt. Sie habe auch Gespräche mit dem Jugendamt wahrgenommen und sich um Absprachen bemüht. Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Mutter wird auf die anwaltlichen Schriftsätze vom 18.03.2022, 05.04.2022, 26.04.2022, 17.05.2022 und 02.06.2022 verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Die gemäß § 87 Abs. 4 FamFG i. V. m. §§ 567 ff. ZPO zulässige sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Gegen die Mutter ist wegen des Verstoßes gegen die gerichtlich gebilligte Umgangsvereinbarung vom 04.05.2018 ein Ordnungsmittel zu verhängen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Nach § 89 Abs. 1 Satz 1 FamFG kann das Gericht bei der Zuwiderhandlung gegen einen Vollstreckungstitel zur Regelung des Umgangs gegenüber dem Verpflichteten Ordnungsmittel anordnen. Die Festsetzung von Ordnungsmitteln unterbleibt, wenn der Verpflichtete Gründe vorträgt, aus denen sich ergibt, dass er die Zuwiderhandlung nicht zu vertreten hat, § 89 Abs. 4 FamFG. Das Gericht hat somit zunächst das Vorliegen einer schuldhaften Zuwiderhandlung gegen einen Umgangstitel festzustellen und dann nach pflichtgemäßem Ermessen über die Verhängung von Ordnungsmitteln zu entscheiden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für die Anordnung eines Ordnungsgeldes, ersatzweise von Ordnungshaft, gegen die Mutter gegeben. Der Senat bemisst die Höhe des Ordnungsgeldes nach pflichtgemäßem Ermessen mit 500,00 €.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Der durch den Beschluss des Amtsgerichts H. vom 07.05.2018 in dem Verfahren zum Aktenzeichen 4 F 700/17 UG gerichtlich gebilligte Umgangsvergleich vom 04.05.2018 ist ein Vollstreckungstitel i. S. d. § 86 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 89 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Der Vergleich enthält eine vollstreckbare Umgangsregelung und ist inhaltlich hinreichend bestimmt. Der nach § 89 Abs. 2 FamFG erforderliche Hinweis auf die Folgen einer Zuwiderhandlung wurde in dem Beschluss vom 07.05.2018 erteilt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Es liegt auch eine Zuwiderhandlung der Mutter gegen den Umgangstitel vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>a) Soweit der Vater verschiedene Termine zwischen Mai und Oktober 2019 auflistet, an denen kein Umgang stattgefunden hat, kann indes seinem Vorbringen keine Zuwiderhandlung der Mutter gegen die Umgangsvereinbarung entnommen werden. Die vom Vater genannten Kontakte sind nach den insoweit übereinstimmenden Angaben der Beteiligten entweder wegen seiner eigenen Erkrankung oder Verhinderung oder aber wegen einer Erkrankung des Kindes ausgefallen. Soweit der Vater das Fehlen von Ersatzterminen moniert, liegt hierin kein sanktionierbarer Verstoß gegen den Vollstreckungstitel, weil darin solche nicht vereinbart wurden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>b) Der Ausfall von Umgängen während der Dauer des gegen den Vater wegen sexuellen Missbrauchs geführten staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens rechtfertigt ebenfalls nicht die Verhängung von Ordnungsmitteln gegen die Mutter. Dem steht entgegen, dass in diesem Zeitraum auch der umgangsberechtigte Vater selbst nicht die Einhaltung des Titels gefordert und keine eigenen Mitwirkungshandlungen hinsichtlich der Wahrnehmung von Umgangskontakten vorgenommen hat (vgl. ähnlich OLG Frankfurt Beschluss vom 07.07.2017 – 4 WF 23/17, juris Rn. 10). Insoweit hat die Mutter vorgetragen, dass der Vater nach dem Aufkommen des Missbrauchsverdachts Ende 2019 nicht mehr auf der Umsetzung der vereinbarten Umgangskontakte bestanden habe und man sich einig gewesen sei, dass keine unbegleiteten Kontakte in Betracht kämen. Der Vater hat zwar angegeben, es habe zu keiner Zeit eine Einigung über eine Aussetzung der Umgangsvereinbarung gegeben. Er hat aber auch nicht vorgetragen, in dem Zeitraum bis zur Einstellung des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens weiterhin die Wahrnehmung der vereinbarten Umgangstermine eingefordert zu haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>c) Eine Zuwiderhandlung der Mutter gegen den Umgangstitel liegt jedoch darin, dass sie nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens die vom Vater begehrte Wiederaufnahme der vereinbarten Umgangskontakte verweigert hat. Der Vortrag des Vaters, die Mutter lehne die Umgänge generell ab und blockiere sämtliche Versuche, die vereinbarten Kontakte wiederaufzunehmen, ist insoweit auch hinreichend substantiiert. Aufgrund der Ankündigung der Mutter, den Umgang nicht zu gewähren, war der Vater nicht gehalten, sich dennoch wöchentlich zum vereinbarten Übergabeort zu begeben (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 07.07.2017 – 4 WF 23/17, juris Rn. 10; Johannsen/Henrich/Althammer-Rake, Familienrecht, 7. Aufl. 2020, § 89 Rn. 7). Es genügt, dass er durch die Bitte um entsprechende Gespräche beim Jugendamt sein Bestreben nach einer Wiederaufnahme der Kontakte zum Ausdruck gebracht hat. Nach den vorliegenden Berichten des Jugendamts hat es Anfang 2021 einen Termin zur Umgangsübergabe gegeben, den die Mutter kurzfristig abgesagt habe. Auch haben sowohl das Jugendamt als auch der im Sorgerechtsverfahren bestellte Verfahrensbeistand berichtet, die Mutter habe auf mehrere Anfragen hinsichtlich der Wiederaufnahme der Umgangskontakte nicht reagiert. Zu einem Gespräch im Jugendamt am 09.04.2021 ist die Mutter nach dem insoweit unwidersprochenen Vortrag des Vaters nicht erschienen. Bereits dies zeigt die Verweigerungshaltung der Mutter.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Am 18.10.2021 hat dann schließlich ein Gespräch stattgefunden, bei dem die Mutter ihre Ablehnung der Umgangskontakte deutlich gemacht und eine vorherige Stärkung ihrer Tochter durch eine Psychologin gefordert hat. Hiermit hat sie eindeutig angekündigt, die vereinbarten Umgänge nicht zu gewähren und damit dem Umgangstitel zuwidergehandelt. Entgegen ihrer Auffassung lässt sich dem Vermerk des Jugendamts nicht entnehmen, dass der Vater damit einverstanden war, mit dem Wiederbeginn der Umgangskontakte bis zur Durchführung der von der Mutter gewünschten Psychotherapie des Kindes abzuwarten. Er hat sich lediglich mit einer psychologischen Anbindung von J. einverstanden erklärt, nicht aber mit einem weiteren Abwarten bezüglich der Umgänge. In Bezug auf den Umgang ist vielmehr ausdrücklich vermerkt, dass insoweit zwischen den Eltern keine Einigung erfolgt sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Das für die Verhängung von Ordnungsmitteln erforderliche Verschulden der Mutter liegt vor. Sie hat keine Gründe vorgetragen, aus denen es sich ergibt, dass sie die in der generellen Ablehnung von Umgangskontakten liegende Zuwiderhandlung gegen den Umgangstitel nicht zu vertreten hat, § 89 Abs. 4 FamFG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Soweit sich die Mutter auf eine Kindeswohlwidrigkeit der Durchführung der titulierten Umgangskontakte beruft, kann sie sich damit nicht entlasten. Die Vereinbarkeit der zu vollstreckenden Regelung mit dem Kindeswohl ist im Verfahren nach § 89 FamFG nicht zu prüfen. Die Prüfung des Kindeswohls ist Gegenstand des Erkenntnisverfahrens. Einer erneuten Kindeswohlprüfung im Vollstreckungsverfahren stehen der Grundsatz der strengen Formalisierung der Zwangsvollstreckung sowie der Zweck der effektiven Durchsetzung des vorliegenden Titels entgegen (Johannsen/Henrich/Althammer-Rake, Familienrecht, 7. Aufl. 2020, § 89 Rn. 10; Keidel-Giers, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 89 Rn. 7; BGH, Beschluss vom 19.02.2014 – XII ZB 165/13, juris Rn. 26). Nur ausnahmsweise können neu hinzugetretene Kindeswohlgesichtspunkte der Vollstreckung eines Umgangstitels entgegengehalten werden, wenn darauf auch ein Antrag auf Abänderung des Ausgangstitels und auf Einstellung der Vollstreckung gestützt ist oder wenn der Verpflichtete nach dem Auftreten neuer Umstände nicht mehr rechtzeitig ein Abänderungsverfahren einleiten konnte (vgl. Johannsen/Henrich/Althammer-Rake, a. a. O.; BGH, a. a. O. sowie Beschluss vom 01.02.2012 – XII ZB 188/11, juris Rn. 23; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08.05.2019 – 5 WF 239/18, juris Rn. 50).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Eine solche Ausnahme liegt hier indes nicht vor. Einen Antrag auf Abänderung der titulierten Umgangsregelung hat die Mutter nicht gestellt, obwohl hierzu ausreichend Gelegenheit bestand. Auch als sie nach der Einstellung des gegen den Vater geführten Ermittlungsverfahrens von mehreren Seiten zur Wiederaufnahme der Umgänge aufgefordert wurde, ist die Mutter in dieser Hinsicht nicht tätig geworden. Warum das parallel beim Amtsgericht geführte Sorgerechtsverfahren wegen Kindeswohlgefährdung die Mutter von der Einleitung eines Abänderungsverfahrens abgehalten hat, erschließt sich nicht. Bei dem Verfahren handelt es sich um ein Sorgerechts- und nicht um ein Umgangsverfahren, so dass dort keine Überprüfung der derzeit geltenden Umgangsregelung erfolgt. Vielmehr geht es ausweislich der hier auszugsweise vorgelegten Schriftsätze um die Frage, ob die Haltung der Mutter gegenüber dem Vater mit einer Kindeswohlgefährdung für J. verbunden ist und ggf. ob bei einem etwaigen Wechsel zum Vater ebenfalls eine Kindeswohlgefährdung zu befürchten wäre. Nicht umfasst ist die davon zu unterscheidende Frage einer etwaigen Kindeswohlwidrigkeit der vereinbarten Umgangskontakte, die lediglich in einem Abänderungsverfahren zum Umgang geklärt werden kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>4.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Es liegen auch keine sonstigen Gründe vor, die den Senat dazu veranlassen, im Rahmen der Ermessensausübung von der Verhängung von Ordnungsmitteln abzusehen. Im Fall der grundlosen Weigerung des betreuenden Elternteils, den titulierten Umgang zustande kommen zu lassen, ist grundsätzlich die Festsetzung von Ordnungsmitteln angezeigt und das Anordnungsermessen auf Null reduziert (vgl. Keidel-Giers, a. a. O., § 89 Rn. 6; Johannsen/Henrich/Althammer-Rake, a. a. O., § 89 Rn. 13 jew. m. w. N.). Besondere Umstände, die es gebieten würden, von einer Durchsetzung des Umgangstitels im Wege der Zwangsvollstreckung abzusehen, sind vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere kann nicht erkannt werden, dass die inzwischen über zweieinhalbjährige Umgangspause einer Wiederaufnahme der titulierten Umgänge entgegenstünde. Es geht nicht um Übernachtungskontakte, die möglicherweise nach der langen Pause erst eine erneute Anbahnung erforderlich machen würden, sondern lediglich um kurze wöchentliche Umgangskontakte von 13:00 bis 16:00 Uhr, wobei die Übergaben an den Vater vom Jugendamt zu begleiten sind. Durch die Übergabebegleitung ist dabei gewährleistet, dass das Kind behutsam und positiv auf den Kontakt eingestimmt und vorbereitet werden kann – sofern die Mutter ihrer Pflicht nachkommt, J. ihrerseits im Hinblick auf die Kontakte zum Vater positiv zu bestärken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Hinsichtlich der Höhe des Ordnungsgeldes hat der Senat berücksichtigt, dass die Mutter einerseits seit längerer Zeit die Umgangskontakte generell ablehnt, dass der Vater aber andererseits seit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens auch seinerseits einen langen Zeitraum hat verstreichen lassen, bevor er die Wiederaufnahme der Umgänge eingefordert hat und bevor es dann zu Terminen beim Jugendamt gekommen ist. Zudem haben in dem gesamten Zeitraum nur wenige konkrete Anfragen des Vaters stattgefunden. Angesichts dessen erscheint ein moderates Ordnungsgeld von 500,00 € angemessen, um die Mutter zur Einhaltung der Vereinbarung anzuhalten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>III.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 FamFG, wonach dem Verpflichteten bei der Festsetzung von Ordnungsmitteln die notwendigen Kosten des Vollstreckungsverfahrens aufzuerlegen sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Der Festsetzung eines Verfahrenswertes bedarf es nicht, da für die Anordnung von Ordnungsmitteln lediglich eine wertunabhängige Gerichtsgebühr anfällt (Nr. 1602 KV FamGKG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE264652022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
345,945 | olgmuen-2022-07-20-7-u-603120 | {
"id": 277,
"name": "Oberlandesgericht München",
"slug": "olgmuen",
"city": null,
"state": 4,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 7 U 6031/20 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-07-26T10:03:43 | 2022-10-17T17:55:21 | Endurteil | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>1. Die von der Streithelferin geführte Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 11.09.2020, Az. 6 O 3575/19, wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor in Ziff. 1 des landgerichtlichen Urteils zur Klarstellung wie folgt neu gefasst wird:</p>
<p>„Die Beklagte wird verurteilt, die Zwangsvollstreckung in den eingetragenen Grundbesitz, Grundbuch des Amtsgerichts Laufen von B. G., Blatt …65, Flurstück …1/3, zugunsten der aus der Klägerin und der Beklagten bestehenden Erbengemeinschaft wegen (sämtlicher) rückständiger Grundschuldzinsen für den Zeitraum vom 07.06.2016 bis 27.12.2017 in Höhe von 9.561,16 € aus der ursprünglich zugunsten der Sparkasse B. unter der Abteilung III Nr. 1 eingetragenen und an die Erbengemeinschaft nach T.H. B. bestehend aus den Parteien des hiesigen Rechtsstreits abgetretenen Grundschuld über 51.129,19 €,</p>
<p>in Höhe von 9.561,16 € aus der ursprünglich zugunsten der Sparkasse B. unter der Abteilung III Nr. 2 eingetragenen und an die Erbengemeinschaft nach T. H. B. bestehend aus den Parteien des hiesigen Rechtsstreits abgetretenen Grundschuld über 51.129,19 € sowie in Höhe von 70.125 € aus der ursprünglich zugunsten der Sparkasse B. unter der Abteilung III Nr. 3 eingetragenen und an die Erbengemeinschaft nach T.H. B. bestehend aus den Parteien des hiesigen Rechtsstreits abgetretenen Grundschuld über 300.000 € zu dulden.“</p>
<p>2. Die Streithelferin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten. Diese Kosten trägt die Beklagte selbst.</p>
<p>3. Dieses Urteil sowie das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Traunstein sind vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Beklagte kann eine Vollstreckung in der Hauptsache durch Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000 € abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in derselben Höhe leistet. Im Übrigen können die Beklagte und die Streithelferin eine Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.</p>
<p>Beschluss</p>
<p>Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 89.247,32 € festgesetzt.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p>I.</p>
<p><rd nr="1"/>Die Parteien streiten um den Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung wegen Grundschuldzinsen für den Zeitraum 07.06.2016 bis 27.12.2017 in Höhe von insgesamt 89.247,32 € aus drei Grundschulden.</p>
<p><rd nr="2"/>Die Parteien sind Schwestern und Erbinnen zu ½ nach ihrem am … 2013 verstorbenen Vater T. B. Dieser war Eigentümer des Grundstücks T.-B.-Straße 7, … B. G., eingetragen im Grundbuch des Amtsgerichts Laufen von B. G., Blatt …65, Flurstück …1/3.</p>
<p><rd nr="3"/>Der Erblasser hatte das bezeichnete Grundstück zu Lebzeiten zur Sicherung von Darlehensverbindlichkeiten mit insgesamt drei Buchgrundschulden zugunsten der Sparkasse B. in Höhe von zweimal (zunächst 100.000 DM, jetzt) 51.129,19 € (eingetragen in Abteilung III Nrn. 1 und 2 des vorbezeichneten Grundbuchs) sowie über 300.000 € (Abteilung III Nr. 3 des Grundbuchs), gesamt: 402.258,38 €, belastet. Die Grundschulden sind verzinslich, die Grundschulden Nrn. 1 und 2 mit 11% bzw. 12% p.a. (vgl. S. 2 des landgerichtlichen Urteils), die Grundschuld Nr. 3 mit 15% p.a. Die jeweiligen Grundschuldbestellungsurkunden enthalten Vollstreckungsunterwerfungsklauseln wegen des Grundschuldkapitals samt Zinsen; aus ihnen ist die Zwangsvollstreckung gegen den jeweiligen Eigentümer des belasteten Grundstücks zulässig.</p>
<p><rd nr="4"/>Die Parteien bilden seit dem Tod des Erblassers eine nicht auseinandergesetzte Erbengemeinschaft. Hinsichtlich des betreffenden Grundstücks wurde ein Teilungsversteigerungsverfahren durchgeführt, in dem die Beklagte das Grundstück mit Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts Traunstein vom 07.06.2017, Az.: 4 K 16/15, erwarb. Der Zuschlag wurde an die Beklagte zum baren Meistgebot von 220.000 € erteilt, wobei gemäß den im Beschluss aufgeführten Versteigerungsbedingungen (dort unter Ziff. 1) die Grundschulden jeweils „mit Zinsen wie im Grundbuch eingetragen ab dem Tag des Zuschlags“ (Anlage K1) als Teil des geringsten Gebots bestehen blieben. Aus der Teilungsmasse von (inklusive Bargebotszinsen) 221.108,20 € wurden Verfahrenskosten von 9.962,10 € beglichen, der Sparkasse von ihr unwidersprochen geltend gemachte dingliche „Hauptsachezinsen“ (also Grundschuldzinsen) von 12% aus den in Abteilung III Nrn. 1 und 2 des Grundbuchs eingetragenen Grundschulden sowie von 15% aus der in Abteilung III Nr. 3 eingetragenen Grundschulden jeweils für den Zeitraum 01.07.2014 bis 06.06.2016 von 133.223,94 € (2x 11.861,97 € sowie 109.500 €) zugeteilt und der verbleibende Übererlös von 77.922,16 € an die Erbengemeinschaft ausgekehrt (vgl. Anlage K6). Zum Zeitpunkt der Verteilung valutierten die Darlehensverbindlichkeiten der Erbengemeinschaft, für die die Grundschulden Nrn. 1-3 als Sicherheit dienten, noch mit rund 72.000 €. Daraufhin wurde mit der Sparkasse eine Vereinbarung getroffen, wonach das Darlehen mit dem im Verteilungstermin zugunsten der Sparkasse hinterlegten Betrag getilgt und der Restbetrag an die Erbengemeinschaft ausbezahlt werde. Die Sparkasse erklärte sich bereit, die Grundschulden nach Durchführung der Vereinbarung auf die Erbengemeinschaft zurückzuübertragen. Nachdem die Beklagte ihre Mitwirkung diesbezüglich zunächst verweigert hatte, wurde diese durch gerichtliches Urteil des Landgerichts Traunstein vom 07.08.2017 (Anlage K7) ersetzt. In der Folge trat die Sparkasse B. die Grundschulden an die Erbengemeinschaft ab. Die Abtretung der Grundschulden „mit Zinsen seit 07.06.2016“ an die Erbengemeinschaft wurde am 06.11.2017 ins Grundbuch eingetragen (Anlage K8).</p>
<p><rd nr="5"/>Am 27.12.2017 bewirkte die Beklagte eine Zahlung an die Klägerin auf den Nennbetrag der Grundschulden, in dem sie 189.512,60 € (mit Wertstellung 28.12.2017, Anlage K9) auf die der Klägerin gebührenden 201.129,19 € (die Hälfte von 402.258,38 €) an diese überwies. Hinsichtlich der Differenz von 11.616,59 € wurde eine Einigung dahingehend getroffen, dass eine Verrechnung mit Erlösen aus der Veräußerung von Erbschaftsgegenständen stattfinden solle. Zahlungen auf Grundschuldzinsen leistete die Beklagte nicht.</p>
<p><rd nr="6"/>Der Zinsbetrag von jeweils 12% im Falle der in Abteilung III Nrn. 1 und 2 eingetragenen Grundschulden und von 15% bezüglich der in Abteilung III Nr. 3 eingetragenen Grundschuld beläuft sich für den Zeitraum vom 07.06.2016 bis zum 27.12.2017 auf zweimal 9.561,16 € und einmal 70.125 €, gesamt: 89.247,32 €.</p>
<p><rd nr="7"/>Mit Schreiben vom 21.06.2019 kündigte die Klägerin die Grundschuld vorsorglich und drohte der Beklagten gleichzeitig die Beantragung der Zwangsversteigerung wegen ausstehender Grundschuldzinsen an. Nachdem der zuständige Notar die Klauselumschreibung auf die Erbengemeinschaft zunächst abgelehnt hatte, teilte er mit Schreiben vom 26.11.2019 mit, dass eine Umschreibung der Klausel zwar vorgenommen werden könne, er die Urkunden aber nicht an die Klägerin herausgeben könne, bis sich die Parteien über die entsprechende Verwendung geeinigt oder eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt hätten.</p>
<p><rd nr="8"/>Die Klägerin meint, sie sei berechtigt, für die Erbengemeinschaft gegen die Beklagte vorzugehen. Auch habe sie ein Rechtsschutzbedürfnis, weil ein einfacherer Weg nicht ersichtlich sei. In der Sache habe die Beklagte die Zwangsvollstreckung in ihr Grundstück zu dulden, weil die streitgegenständlichen Grundschuldzinsen für den Zeitraum ab Zuschlag bis zur Zahlung des Nominalbetrages aus den von der Beklagten im Rahmen der Teilungsversteigerung übernommenen Grundschulden geschuldet seien.</p>
<p><rd nr="9"/>Mit Schriftsatz vom 26.02.2020 trat die Streithelferin - die damalige anwaltliche Beraterin der Beklagten - dem Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten bei.</p>
<p><rd nr="10"/>Die Klägerin beantragte erstinstanzlich:</p>
<p><rd nr="11"/>Die Beklagte wird verurteilt, wegen Grundschuld-Zinsen in Höhe von 89.247,32 EUR zugunsten der aus der Klägerin und der Beklagten bestehenden Erbengemeinschaft die Zwangsvollstreckung in das Grundstück in B. G., eingetragen im Grundbuch des AG Laufen von B. G. Blatt …65 Flurstück …1/3, zu dulden.</p>
<p><rd nr="12"/>Die Beklagte und die Streithelferin beantragten,</p>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p><rd nr="13"/>Die Beklagte meint, die Klägerin sei schon nicht aktiv legitimiert, weil sie Ansprüche der Erbengemeinschaft nicht geltend machen dürfe. Zudem fehle ihr das Rechtsschutzbedürfnis, weil es effizienter sei, die Herausgabe der Grundschuldurkunden über den Notar zu erreichen oder die Beklagte auf Erteilung der Zustimmung zur Herausgabe in Anspruch zu nehmen. Außerdem bestünden mit den auf die Erbengemeinschaft lautenden vollstreckbaren Ausfertigungen bereits Titel. Es drohe daher eine Verdoppelung der Ansprüche.</p>
<p><rd nr="14"/>Jedenfalls seien in der Sache Grundschuldzinsen nicht geschuldet. Diese seien, anders als der Nominalwert der Grundschulden, wirtschaftlich nie existent gewesen und seien auch bei der Berechnung des geringsten Gebots nicht berücksichtigt worden. Zinsen könnten nicht aus dem Nichts entstehen, wenn es eine diesbezügliche Forderung nie gegeben habe. Jedenfalls sei die Klägerin verpflichtet, etwaige Grundschuldzinsen mangels eines Rechtsgrundes zum Behaltendürfen umgehend wieder herauszugeben, so dass das Betreiben der Zwangsvollstreckung treuwidrig sei.</p>
<p><rd nr="15"/>Das Landgericht hat mit am 11.09.2020 verkündetem Urteil, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird (§ 540 Abs. 1 ZPO), der Klage - allerdings unter Weglassung der Worte „zugunsten der aus der Klägerin und der Beklagten bestehenden Erbengemeinschaft“ - stattgegeben und ausführlich begründet, dass der Erbengemeinschaft die dinglich vereinbarten Grundschuldzinsen zustünden.</p>
<p><rd nr="16"/>Das Urteil wurde der Beklagten (und auch ihrer Streithelferin) am 14.09.2020 zugestellt. Hiergegen richtet sich die mit Schriftsatz vom 14.10.2020 eingelegte Berufung der Streithelferin, die diese mit Schriftsatz vom 13.11.2020 begründet hat.</p>
<p><rd nr="17"/>Mit ihrer Berufung wiederholt und vertieft sie die erstinstanzliche Argumentation der Beklagtenseite, namentlich trägt sie vor, auch ein dingliches Recht bedürfe eines Rechtsgrundes zum Behaltendürfen. Daran fehle es.</p>
<p><rd nr="18"/>Sie beantragt,</p>
<p>die Klage unter Aufhebung des Endurteils des LG Traunstein vom 11.09.2020 abzuweisen.</p>
<p><rd nr="19"/>Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.</p>
<p><rd nr="20"/>Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Berufung.</p>
<p><rd nr="21"/>Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil.</p>
<p><rd nr="22"/>Der Senat hat über die Berufung am 16.03.2022 mündlich verhandelt. Nachdem der Vertreter der Nebenintervenientin in der Sitzung die Vorsitzende wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt hat, setzte der Senat die Sitzung gemäß § 47 Abs. 2 ZPO fort. Mit Beschluss vom 20.04.2022, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, hat der Senat den Befangenheitsantrag in der Besetzung ohne die abgelehnte Vorsitzende als unbegründet zurückgewiesen.</p>
<p><rd nr="23"/>Auf die gewechselten Schriftsätze und das Sitzungsprotokoll wird ergänzend Bezug genommen.</p>
<p>II.</p>
<p><rd nr="24"/>Der Senat ist nach Zurückweisung des Befangenheitsantrags zur Entscheidung über das Rechtsmittel der Beklagtenseite berufen. Einer erneuten Verhandlung bedurfte es nicht, da die Verhandlung gemäß § 47 Abs. 2 ZPO fortgesetzt werden durfte und wurde. Dort wurde ausdrücklich Gelegenheit zu weiteren Äußerungen zur Sach- und Rechtslage gegeben. Die Parteivertreter machten hiervon keinen Gebrauch.</p>
<p><rd nr="25"/>Auch eines vorgängigen eigenständigen in das Protokoll aufzunehmenden Beschlusses über den seitens des Vertreters der Streithelferin gestellten Antrag auf Protokollierung einer behaupteten Unterbrechung durch die Vorsitzende, weil sein Vortrag ohnehin nur Wiederholungen enthalte, - an einer endgültigen Verbescheidung sah sich der Senat in der Sitzung wegen des Befangenheitsantrags gehindert - bedarf es nicht; jedenfalls dann, wenn die beantragte Protokollierung mangels Relevanz (§ 160 Abs. 4 Satz 2 ZPO) unanfechtbar, § 160 Abs. 4 S. 3 ZPO, abzulehnen ist, kann die Ablehnung in der Endentscheidung erfolgen, ohne dass es allein deshalb der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bedarf.</p>
<p><rd nr="26"/>Der Protokollierungsantrag des Nebenintervenientenvertreters zu der behaupteten Unterbrechung ist allenfalls für die Frage der Befangenheit von Relevanz; die Entscheidung hierüber ist abschließend durch Senatsbeschluss vom 20.04.2022 getroffen und - weil ablehnende Entscheidungen zu Befangenheitsgesuchen nur bei erstinstanzlichen Entscheidungen mit der sofortigen Beschwerde, § 46 Abs. 2 Alt. 2 ZPO, im Übrigen nur bei Zulassung der Rechtsbeschwerde anfechtbar, im Übrigen und somit auch hier aber unanfechtbar sind - gemäß § 557 Abs. 2 ZPO einer (Inzident-)Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.01.2009 - 1 BvR 3113/08, juris-Rn. 15ff.; BGH, Beschlüsse vom 30.11.2006 - III ZR 93/06, juris-Rn. 4 und vom 08.04.2020 - VIII ZR 130/19, juris-Rn. 20; jeweils mwN). Eine - statthafte (BVerfG, aaO, juris-Rn. 8f.) - Anhörungsrüge nach § 321a ZPO wurde nicht eingelegt. Eine Protokollierung der dem Befangenheitsantrags zugrunde liegenden Umstände ist daher - zumindest zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt - überholt.</p>
<p><rd nr="27"/>Im vorliegenden Verfahren kommt hinzu, dass die Parteien bei unstreitigem Sachverhalt ausschließlich über Rechtsfragen streiten, so dass es auf eine Protokollierung von Äußerungen auch deshalb nicht ankommen kann.</p>
<p><rd nr="28"/>Somit ist der Äußerung weder für die Sachentscheidung des Senats noch für eine etwaige Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht Bedeutung beizumessen; die Protokollierung kann daher unterbleiben.</p>
<p><rd nr="29"/>Im Übrigen war die beantragte wörtliche Protokollierung auch deshalb abzulehnen - wie bereits im den Befangenheitsantrag zurückweisenden Beschluss ausgeführt -, weil die Zivilprozessordnung ein Wortprotokoll nicht vorsieht, überdies in der Sache deshalb, weil die Vorsitzende entgegen der Behauptung des Vertreters der Nebenintervenientin diesen nicht unterbrochen hat, weil sein Vortrag nur Wiederholungen beinhalte. Vielmehr hat sie ihn, als er nach einer Diskussion mit dem Berichterstatter - insbesondere zum Abstraktionsprinzip und seinen Rechtsfolgen für den Fall - zu erneuten Ausführungen ansetzte, sinngemäß gefragt, ob er Neues vortragen wolle. Von weiteren Ausführungen zur Begründung seines Rechtsmittels sah der Vertreter jedoch ab. Letztlich zeigt der streitige Hergang zugleich, dass ein Streit über den Hergang der Verhandlung nicht im Wege der Protokollierung bereinigt werden kann, sondern inhaltlich im Rahmen der Entscheidung über das Befangenheitsgesuch zu klären war und dort auch geklärt wurde.</p>
<p>III.</p>
<p><rd nr="30"/>Die Berufung der ausschließlich von der Streithelferin eingelegten und betriebenen Berufung der Beklagten - eine (einfache) Nebenintervenientin führt ein Rechtsmittel stets namens der von ihr unterstützten Partei (vgl. Althammer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 67 Rn. 5) - bleibt ohne Erfolg. Das Landgericht hat mit seinem sehr sorgfältig begründeten Urteil der Klage zu Recht stattgegeben. Der Senat hat - wie in der mündlichen Verhandlung erörtert - lediglich den Tenor präzisiert.</p>
<p><rd nr="31"/>1. Die Klage ist zulässig.</p>
<p><rd nr="32"/>a. Der Klage fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Ein einfacherer Weg zur umfassenden Klärung, ob die Klägerin berechtigt ist, für die Erbengemeinschaft wegen dinglicher Zinsen aus auf die Erbengemeinschaft übertragenen Grundschulden in das von der Beklagten im Rahmen einer Teilungsversteigerung ersteigerte Grundstück zu vollstrecken, ist nicht ersichtlich.</p>
<p><rd nr="33"/>Zwar trifft zu, dass für die Grundschuld und damit auch für die Grundschuldzinsen ein Titel durch Unterwerfung unter die Zwangsvollstreckung in einer notariellen Urkunde vorliegt, der - insoweit besteht keine Uneinigkeit - auf die Erbengemeinschaft als Rechtsnachfolger umgeschrieben werden kann (§ 727, § 795 Satz 1, § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass das Rechtsschutzbedürfnis für eine Leistungsklage nicht verneint werden kann, wenn, wie bei einer notariellen Urkunde, ein nicht der Rechtskraft fähiger Titel vorliegt und eine Vollstreckungsabwehrklage zu erwarten steht (vgl. BGH, Urteil vom 07.12.1988 - IVb ZR 49/88 [zu einem Prozessvergleich]). So liegt der Fall hier, da die Beklagte in Abrede stellt, dingliche Zinsen zu schulden. Im vorliegenden Fall steht jedoch nicht einmal im Streit, dass die Klägerin zur Durchsetzung gerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen muss, denn der Notar verweigert die Herausgabe der entsprechenden Urkunden. Es stellt sich allein die Frage, auf welchem Wege die Klägerin gerichtlichen Rechtsschutz nachsucht. Auf Rechtsbehelfe gegen den Notar wegen der unterlassenen Herausgabe (§ 15 Abs. 2 BNotO), wie dies der Beklagtenseite vorschwebt, muss sie sich nicht verweisen lassen. Es ist schon nicht ersichtlich, dass dieser Rechtsweg „einfacher“ wäre. Vor allem aber bewirkte die Entscheidung in diesem Rechtsverhältnis keine verbindliche Klärung der Berechtigung zur Geltendmachung der im Streit stehenden Zinsen im Verhältnis zwischen Klägerin (bzw. Erbengemeinschaft) und Beklagter. Einer gerichtlichen Entscheidung über die Herausgabe der Urkunde - die überdies in einem anderen Instanzenzug erginge (Entscheidung durch das Landgericht, Rechtsbeschwerde an den BGH nur bei Zulassung, vgl. Sander in BeckOK BNotO, § 15 Rn. 145 [Stand: 31.07.2021]) - könnte allenfalls Indizwirkung entfalten. Von Rechts wegen wäre die Beklagte nicht gehindert, Vollstreckungsgegenklage zu erheben, die auch zu erwarten stünde. Die vorliegende Klage klärt dagegen die materiell-rechtliche Berechtigung abschließend; Vollstreckungsabwehrklage könnte die Beklagte dann nur noch gestützt auf Einwendungen erheben, die erst nach der (letzten) mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz im vorliegenden Verfahren entstanden sind (§ 767 Abs. 2 ZPO, der auf notarielle Urkunden keine Anwendung findet, § 797 Abs. 4 ZPO).</p>
<p><rd nr="34"/>Auch der Antrag - Verurteilung zur Duldung der Zwangsvollstreckung - begegnet keinen Bedenken, da vorliegend keine doppelte Vollstreckung droht. Dem erstrebten Duldungstitel liegen Zinsen aus Buchgrundschulden für einen bestimmten Zeitraum zugrunde, die es denknotwendigerweise nur einmal gibt. Vorsorglich hat der Senat, wie in der mündlichen Verhandlung erörtert, den Tenor um die konkret inmitten stehenden Zinsen, deren Höhe zwischen den Parteien unstreitig ist, präzisiert.</p>
<p><rd nr="35"/>Einwände gegen eine in der mündlichen Verhandlung erörterte Präzisierung des Tenors wurden nicht erhoben, die Klageseite hat sie ausdrücklich begrüßt.</p>
<p><rd nr="36"/>b. Die Klägerin ist nach § 2039 BGB befugt, Ansprüche der noch ungeteilten Erbengemeinschaft im eigenen Namen geltend zu machen. Die Norm erfasst jedwede, somit auch dingliche, Ansprüche (Weidlich in Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 2039 Rn. 1). Hiergegen erhebt auch die Berufung keine Einwände. Der Senat hat im Tenor, wie ebenfalls mit den Parteien erörtert, klargestellt - ohne dass damit eine sachliche Änderung des landgerichtlichen Urteilsausspruchs verbunden wäre -, dass die Zwangsvollstreckung zugunsten der Erbengemeinschaft aus Klägerin und Beklagter erfolgt (für die Notwendigkeit der Angabe im Titel: vgl. BGH, Beschluss vom 04.11.2020 - VII ZB 69/18, juris-Rn. 23).</p>
<p><rd nr="37"/>2. Die Klage ist begründet. Die Erbengemeinschaft kann als Inhaberin verzinslicher Grundschulden den Zinsanspruch im Wege der Zwangsvollstreckung in das Grundstück vollstrecken, § 1191 BGB.</p>
<p><rd nr="38"/>a. Die Erbengemeinschaft, bestehend aus der Klägerin und der Beklagten, ist Inhaberin des Grundpfandrechts einschließlich Zinsen.</p>
<p><rd nr="39"/>(1) Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Erblasser (1970 bzw. 2007) Grundschulden zugunsten der Sparkasse in Höhe von zweimal 100.000 DM (jetzt 51.129,19 €) und einmal 300.000 € bestellt hat, die in unterschiedlicher Höhe - die Grundschulden von 100.000 DM mit Zinsen in Höhe von 12% und die Grundschulden über 300.000 € mit 15% - verzinslich gestellt waren. Verzinsliche Grundschulden sind, weil nicht akzessorisch (vgl. statt vieler: Herrler in Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 1191 Rn. 1), in ihrem Bestand nicht von einem korrespondierenden Darlehenszins- oder Darlehensrückzahlungsanspruch abhängig.</p>
<p><rd nr="40"/>(2) Die Teilungsversteigerung änderte an dieser Rechtslage nichts, da die Grundschulden - als Belastung des zu versteigernden Grundstücks - Teil des geringsten Gebotes wurden (§ 182 Abs. 1 ZVG) und folglich bei der Versteigerung bestehen blieben (§ 52 Abs. 1 Satz 1, 180 Abs. 1 ZVG). Auch nach der Teilungsversteigerung blieb die Sparkasse somit Inhaberin der Grundschulden.</p>
<p><rd nr="41"/>(3) Zwischenzeitlich hat die Sparkasse die Grundschulden - ausdrücklich mit Zinsen seit 07.06.2016 - im Wege der Abtretung an die Erbengemeinschaft zurückübertragen. Die Rückübertragung (und der damit verbundene Wechsel der Inhaberschaft) wurde am 06.11.2017 in das Grundbuch eingetragen (Anlage K8), ist somit - wie die Parteien ebenfalls nicht in Zweifel ziehen - wirksam (§ 873 Abs. 1, § 1154 Abs. 3, § 1192 Abs. 1 BGB).</p>
<p><rd nr="42"/>(4) Die Inhaberschaft umfasst den dinglichen Zinsanspruch. Dingliche Zinsen bilden einen Teil des dinglichen Rechts (§ 1191 Abs. 2 BGB). Die Teilungsversteigerung lässt den - hier allein streitgegenständlichen - Zinsanspruch ab Zuschlag unberührt. Grundschuldzinsen stellen Lasten des Grundstücks im Sinne von § 103 BGB dar (BGH, Urteil vom 26.09.1985 - IX ZR 88/84, juris-Rn. 20; Ellenberger in Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 103 Rn. 3). Für die Teilungsversteigerung ordnet § 56 Satz 2, § 180 Abs. 1 ZVG an, dass mit dem Tag des Zuschlags der Erwerber die Lasten trägt, somit auch die Zinslast aus der Grundschuld (Hintzen in Dassler/Schiffhauer/Hintzen, ZVG, 16. Aufl., § 56 Rn. 6). Folgerichtig formuliert der Zuschlagsbeschluss ausdrücklich, dass die Grundschulden nebst Zinsen ab dem Tag des Zuschlags bestehen bleiben. Dieselbe Formulierung findet sich in den Feststellungen zu einem Teilungsplan (Anlage K6).</p>
<p><rd nr="43"/>Unstreitig wurden dingliche Zinsen seitens der Beklagten als Ersteigerer für den geltend gemachten Zeitraum vom 07.06.2016 bis zum 27.12.2017 nicht bezahlt; der Zinsanspruch ist folglich nicht durch Erfüllung, § 362 Abs. 1 BGB, erloschen.</p>
<p><rd nr="44"/>Die Höhe der geltend gemachten Zinsen ist unstreitig.</p>
<p><rd nr="45"/>b. Die Beklagte ist Eigentümerin des mit den verzinslich gestellten Grundschulden belasteten Grundstücks und als solche zur Duldung der Zwangsvollstreckung verpflichtet.</p>
<p><rd nr="46"/>c. Die Beklagte kann der Klagepartei nicht entgegenhalten, dass schuldrechtlich keine Verpflichtung zur Zahlung der Zinsen - insbesondere nicht aus Verzug - bestehe.</p>
<p><rd nr="47"/>aa. Grundschulden begründen - weil abstrakt und nicht akzessorisch - als solche den Anspruch auf Zahlung aus dem Grundstück. Auf eine zugrunde liegende schuldrechtliche (Darlehens-)Forderung kommt es, wie bereits ausgeführt, nicht an. Dasselbe gilt für dingliche Zinsen als Teil des dinglichen Rechts.</p>
<p><rd nr="48"/>Dementsprechend hatte die Beklagte - zu Recht - keine Bedenken, dass die Sparkasse im Rahmen der Teilungsversteigerung dingliche Zinsen für den Zeitraum 01.07.2014 bis 07.06.2016 (dem Tag des Zuschlags) in voller titulierter Höhe (in der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG) geltend machte, obwohl schuldrechtlich eine Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen jedenfalls in dieser Höhe nicht bestand und der hieraus geltend gemachte Gesamtbetrag von mehr als 133.000 € nicht benötigt wurde, um das Darlehen in der tatsächlich valutierten Höhe abzulösen, also zu tilgen.</p>
<p><rd nr="49"/>bb. Etwas anderes würde allerdings dann gelten, wenn Einwendungen und Einreden bestehen, die dem dinglichen Recht entgegengehalten werden können. Weil das dingliche Recht abstrakt ist, genügt hierfür nicht, dass schuldrechtlich nicht oder nicht in identischer Höhe Forderungen bestehen. Einwendungen können sich aber bei sog. Sicherungsgrundschulden - bei denen, wie vorliegend, die Grundschuld der Besicherung eines Darlehens dient - aus einem ggf. konkludent anzunehmenden Sicherungsvertrag (im Folgenden auch als Sicherungsabrede bezeichnet) ergeben, der - ohne das Abstraktionsprinzip grundsätzlich in Frage zu stellen (vgl. Herrler in Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 1191 Rn. 13) - schuldrechtlich den Inhaber des Grundpfandrechts verpflichtet, von dem Grundpfandrecht nur in bestimmter Weise Gebrauch zu machen, und deshalb eine Verwertung außerhalb des dort bestimmten Rahmens unzulässig macht, etwa weil die besicherte Forderung - wie hier die Forderungen der Sparkasse gegen die Erbengemeinschaft aus dem Darlehen - bereits getilgt ist.</p>
<p><rd nr="50"/>Auf die Sicherungsabrede kann sich die Beklagte jedoch aus mehreren Gründen nicht berufen:</p>
<p><rd nr="51"/>(1) Die Beklagte wird als Ersteigerer - nicht anders als wenn ein beliebiger Dritter ersteigert hätte - in Anspruch genommen.</p>
<p><rd nr="52"/>Als Ersteigerer ist sie und wird sie jedoch nicht Partei der Sicherungsabrede (vgl. dazu BGH, Urteil vom 21.05.2003 - IV ZR 452/02).</p>
<p><rd nr="53"/>Parteien der Sicherungsabrede waren ursprünglich die kreditierende Bank und der Erblasser. Rechtsnachfolger des Erblassers sind die Parteien als Erbengemeinschaft. Die Erbengemeinschaft tritt vorliegend als Anspruchstellerin auf, nicht als Anspruchsgegnerin.</p>
<p><rd nr="54"/>Der Ersteigerer steht außerhalb der Sicherungsabrede und tritt durch den Zuschlag auch nicht in sie ein; vielmehr übernimmt er die abstrakte Grundschuld nebst Zinsen (wie ausdrücklich im Zuschlagsbeschluss vermerkt).</p>
<p><rd nr="55"/>Die Voraussetzungen einer Übernahme der persönlichen Schuld nach § 53 Abs. 2 ZVG sind weder dargetan (Anmeldung der Schuld im Verfahren) noch ersichtlich (vgl. die Versteigerungsbedingungen in Anlage K1, die dies enthalten müssten, sowie den Umstand, dass sich die Ablöse des Darlehens durch gesonderte Abrede der Erbengemeinschaft mit der Bank aus der Teilungsmasse vollzogen hat).</p>
<p><rd nr="56"/>Auch aus § 1192 Abs. 1a BGB ergibt sich nichts anderes, wie das Landgericht zutreffend erkannt hat. Dabei kann der Senat zugunsten der Beklagtenseite unterstellen, dass die Norm auf die Rückübertragung einer bereits 1970 bzw. 2007 begründeten Grundschuld in zeitlicher Hinsicht gemäß Art. 229 § Abs. 2 EGBGB Anwendung findet. Nach dieser Vorschrift kann im Falle einer Sicherungsgrundschuld der Eigentümer Einreden aus der Sicherungsabrede auch jedem Erwerber der Grundschuld entgegenhalten. Die Vorschrift schützt den (ursprünglichen) Eigentümer gegen einen Wechsel bei der Inhaberschaft der Grundschuld gegen den gutgläubigen Wegerwerb von Einwendungen. Er schützt nicht einen späteren Erwerber (Herrler in Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 1192 Rn. 3). Die Beklagte ist jedoch - aufgrund der Ersteigerung - ein solcher späterer Erwerber.</p>
<p><rd nr="57"/>(2) Aus Sicht des Senats ist allerdings - ohne dass es vor dem Hintergrund der Ausführungen unter (1) darauf tragend ankäme - die streitgegenständiche Frage per se keine des Sicherungsvertrages, selbst wenn die Beklagte durch den Zuschlag in die Sicherungsabrede (etwa wegen § 53 Abs. 2 ZVG) eingetreten wäre. Schutzrichtung der Sicherungsabrede ist, die Verwertung des Grundpfandrechts zum Schutze des Sicherungsgebers zu beschränken. Vorliegend wird die Beklagte nicht als Sicherungsgeberin, sondern als Ersteigerer in Anspruch genommen. Als solche übernimmt sie - bewusst - das dingliche Recht gegen Reduzierung des Bargebots. Die Klägerin meint - zu Recht, wie noch auszuführen sein wird -, dass allein hierdurch Ansprüche begründet werden. Eine solche Anspruchsbegründung - Inanspruchnahme, weil Lasten durch die Ersteigerung übernommen wurden - liegt aber per se außerhalb des Anwendungsbereichs der Sicherungsabrede, die Bank und Darlehensnehmer bzw. ursprünglichen Sicherungsgeber binden.</p>
<p><rd nr="58"/>(3) Lediglich ergänzend ist auszuführen, dass inhaltlich aus einem Sicherungsvertrag grundsätzlich nicht folgt, dass im Rahmen einer Verwertung des dinglichen Rechts dingliche Zinsen nur in Höhe der schuldrechtlich vereinbarten - regelmäßig deutlich niedrigeren - Zinsen verlangt werden dürften. Die Parteien haben diese Diskrepanz „sehenden Auges“ vereinbart, um dem Grundpfandgläubiger eine ausreichende Sicherheit zu verschaffen. Der Wert zu leistender Sicherheiten übersteigt regelmäßig den Betrag der gesicherten Forderungen.</p>
<p><rd nr="59"/>Auch der BGH zieht nicht in Zweifel, dass dingliche Zinsen im Rahmen der Zwangsvollstreckung grundsätzlich unabhängig von einem schuldrechtlichen Anspruch hierauf geltend gemacht werden können (vgl. BGH, Urteile vom 27.02.1981 - V ZR 9/80, juris-Rn. 13; vom 04.02.2011 - V ZR 132/10, juris-Rn. 7; inzident auch BGH, Urteil vom 03.02.2012 - V ZR 133/11, juris-Rn. 9).</p>
<p><rd nr="60"/>Allein wegen eines Unterschieds in der Höhe der Ansprüche zwischen schuldrechtlicher und dinglicher Forderung bedarf es auch keiner Vollstreckungssperre durch den Sicherungsvertrag zum Schutz des Sicherungsgebers. Befriedigt nämlich ein Darlehensnehmer oder ein etwaig personenverschiedener Sicherungsgeber den Gläubiger vollständig (in Höhe der schuldrechtlichen Forderung), so folgt aus dem Sicherungsvertrag eine Einrede gegen die Geltendmachung der Grundschuld (weil ein Anspruch auf Rückübertragung der dinglichen Sicherheit besteht). Tut er das nicht, ist die Zwangsversteigerung grundsätzlich gerechtfertigt. Der Schutz des Darlehensnehmers/Sicherungsgebers vollzieht sich dadurch, dass der vollstreckende Sicherungsnehmer (also die Bank) den Erlös nur in der Höhe behalten darf, als er schuldrechtliche Ansprüche gegen seinen Schuldner hat; im Übrigen muss er (bzw. das Vollstreckungsgericht) den Erlös (den sog. Übererlös) an den Darlehensnehmer bzw. den Sicherungsgeber auskehren.</p>
<p><rd nr="61"/>Wie ebenfalls noch zu zeigen sein wird, nimmt die Beklagte wirtschaftlich betrachtet Kredit in Anspruch.</p>
<p><rd nr="62"/>cc. Die Beklagte zieht das gefundene Ergebnis vor allem deshalb in Zweifel, weil sie meint, der dingliche (aus der Grundschuld resultierende) Zinsanspruch bedürfe einer schuldrechtlichen Causa, die nicht gegeben sei.</p>
<p><rd nr="63"/>Dies ist aber nicht der Fall. Der Senat verkennt insoweit - anders als der Vertreter der Nebenintervenientin meint - nicht das Wesen des Abstraktionsprinzips, sondern zieht aus ihm vielmehr die Konsequenzen. Das dingliche Recht (vorliegend einschließlich Zinsen) besteht, weil es wirksam begründet wurde und verleiht dem Berechtigten - zunächst der Sparkasse, nunmehr der Erbengemeinschaft - das in ihm verkörperte Recht. Es bedürfte einer Rechtfertigung, warum dieses Recht - ohne Erfüllung - erlöschen sollte. Daran fehlt es. Die Beklagte hat vielmehr durch den Erwerb des Grundstücks im Zwangsversteigerungsverfahren, d.h. durch den Zuschlag, die Grundschuld samt Zinsen übernommen. In dieser Übernahme liegt insbesondere unter Berücksichtigung der Wertungen des Zwangsvollstreckungsrechts ein Rechtsgrund für den aus dem Grundpfandrecht Berechtigten, die Früchte seines Rechts - hier die Zinsen aus der Grundschuld - zu behalten.</p>
<p><rd nr="64"/>Nach den Wertungen des Zwangsvollstreckungsrechts soll ein Ersteigerer - unabhängig von den schuldrechtlichen Verhältnissen - in vollem Umfang aus einer von ihm übernommenen Grundschuld (einschließlich dinglicher Zinsen ab Zuschlag) in Anspruch genommen werden. Dabei kann dahinstehen, ob ein Gläubiger im Interesse des Darlehensnehmers/Sicherungsgebers - wie tatsächlich nicht - uneingeschränkt einer „Pflicht zur bestmöglichen Verwertung“ (BGH, Urteil vom 03.02.2012 - V ZR 133/11, juris-Rn. 8 mwN) unterliegt (hierzu auch: BGH, Urteile vom 04.02.2011 - V ZR 132/10, vom 03.02.2011 - V ZR 133/11 und vom 16.12.2011 - V ZR 52/11; vgl. auch BGH, Urteil vom 29.01.2016 - V ZR 285/14); an der Berechtigung zur Geltendmachung sämtlicher dinglicher Rechte - einschließlich Zinsen - gegenüber dem Ersteigerer, auch wenn ein Gläubiger im Verhältnis zu seinem Schuldner hierauf keinen Anspruch hat, ist nicht zu zweifeln (BGH, aaO; explizit in BGH, Urteil vom 04.02.2011 - V ZR 132/10, juris-Rn. 7).</p>
<p><rd nr="65"/>Das gilt gleichermaßen für den Nominalbetrag des Grundpfandrechts (dazu unter (1)) wie für dingliche Zinsen (dazu unter (2)).</p>
<p><rd nr="66"/>(1) Zum Grundschuld-Nominalbetrag ist insoweit auszuführen:</p>
<p><rd nr="67"/>(a) Das Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung (ZVG) geht davon aus, dass im Falle einer Versteigerung vorgehende Grundpfandrechte bestehen bleiben (§ 44 Abs. 1, § 52 Abs. 1 Satz 1, § 91 Abs. 1 iVm § 180 Abs. 1, § 182 Abs. 1 ZVG). Deshalb werden sie in das sog. geringste Gebot aufgenommen; sie bilden materiell einen Teil des Versteigerungserlöses - anders ausgedrückt: des Gesamtgebotes -, auch wenn insoweit der Ersteigerer (zunächst) von einer Barzahlung befreit ist.</p>
<p><rd nr="68"/>Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Ersteigerer - auch wenn er jetzt keine Barzahlung schuldet - das Grundpfandrecht später „bezahlen“ muss (jedenfalls wenn er der Vollstreckung in das ersteigerte Grundstück entgehen will); der Nominalbetrag der Grundschuld ist - unabhängig von einer etwaigen Valutierung - somit Teil des Kaufpreises (BGH, Urteil vom 29.01.2016 - V ZR 285/14, juris-Rn. 9). Dies bringt etwa § 50 Abs. 1 Satz 1 ZVG zum Ausdruck, der eine entsprechende Nachzahlung anordnet, wenn das Grundpfandrecht als solches - was bei Grundschulden nur selten der Fall sein dürfte - nicht besteht. Ebenso wenig spielt bei Bestehen der Grundschuld eine Rolle, ob und inwieweit die Grundschuld tatsächlich valutiert. Das weiß der Ersteigerer - außer im Falle des § 53 Abs. 2 ZVG - nicht und muss es auch nicht wissen. Er weiß aber, dass er eine Grundschuld zum Nominalwert übernimmt und richtet sein Bargebot darauf aus. Er weiß auch, dass er bei regelkonformem Verhalten aller Beteiligten diesen Nominalwert unabhängig von einer Valutierung ablösen muss. Denn die Bank ist im Falle einer Sicherungsgrundschuld regelmäßig verpflichtet, die Grundschuld, wenn und soweit sie nicht (mehr) valutiert ist, an den Darlehensnehmer (bzw. den ursprünglichen Grundstückseigentümer) zurückzuübertragen; eine Löschung ist im Verhältnis zum Vertragspartner der Bank im Rahmen des Sicherungsvertrages regelmäßig nicht gestattet, weil damit die - gewollte - Inanspruchnahme des Ersteigerers durch den Darlehensnehmer, der ein Darlehen bereits zurückgezahlt hat, vereitelt würde (BGH, Urteile vom 09.02.1989 - IX ZR 145/87; vom 18.07.2014 - V ZR 178/13; vom 29.01.2016 - V ZR 285/14). Anders gewendet: Das Gesetz geht davon aus, dass der Ersteigerer stets den vollen Nominalwert der Grundschuld ablösen muss. Allein diese Sichtweise ist in einem formalisierten Verfahren wie dem Vollstreckungsrecht praktikabel.</p>
<p><rd nr="69"/>(b) Unerheblich ist, ob dieses Regelungsregime auch dann in vollem Umfang - etwa durch Bereicherungsansprüche des Kreditnehmers gegen den Ersteigerer (vgl. BGH, Urteil vom 21.05.2003 - IV ZR 452/02) oder durch Schadensersatzansprüche des Kreditnehmers gegen die Bank, weil diese nicht nur berechtigt (so BGH, Urteil vom 04.02.2011 - V ZR 132/10, juris-Rn. 7), sondern darüber hinaus sogar verpflichtet sei, entsprechende Ansprüche durchzusetzen (vgl. dazu BGH, aaO, juris-Rn. 9ff.) - durchgesetzt wird, wenn die tatsächliche Abwicklung abweichend verläuft, es also nicht zu einer „erschöpfenden“ Inanspruchnahme des Ersteigerers kommt. So liegt der Fall nicht. Vielmehr hat die Bank - regelkonform - die Grundschuld auf die Erbengemeinschaft als Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Vaters der Parteien zurückübertragen. Die Erbengemeinschaft hat keine geringeren Rechte als die Bank, die ihr die Grundschuld abgetreten hat.</p>
<p><rd nr="70"/>(c) Diesen Regelungsmechanismus zweifelt im Übrigen nicht einmal die Beklagte an. Sie hat nämlich - entsprechend der Erbquote - die Hälfte des Nominalbetrages der (nach der vollständigen Ablöse der Bank aus von dieser im Zwangsversteigerungsverfahren geltend gemachten dinglichen Zinsen nicht mehr valutierten) Grundschulden in Höhe von 402.258,36 €, mithin in Höhe von 201.129,19 €, am 27.12.2017 (durch Überweisung bzw. Verrechnung) an die Klägerin ausgekehrt. Damit gibt sie zu verstehen, dass sie die Grundschulden - zu Recht - in voller Höhe (wirtschaftlich) als Teil des Kaufpreises zugunsten der Erbengemeinschaft ansieht; folgerichtig hat die Beklagte die Hälfte hiervon an die Klägerin ausbezahlt (und hat deshalb ihrerseits Anspruch auf Übertragung der Grundschuld auf sie bzw. - nach ihrer Wahl - auf Löschung).</p>
<p><rd nr="71"/>(2) Für die Zinsen gilt im Ergebnis nichts anderes: Sie sind, wie ausgeführt, Teil des dinglichen Rechts und folgen daher dem skizzierten Regelungsmodell. Die Beklagte meint, auf diese Weise entstünden gleichsam Zinsen aus dem Nichts. Das trifft indes dogmatisch nicht zu (vgl. BGH, Urteil vom 04.02.2010 - V ZR 132/10, juris-Rn. 7).</p>
<p><rd nr="72"/>(a) Dogmatisch sind dingliche Zinsen geschuldet, weil insoweit ein dingliches Recht - zunächst der Sparkasse - begründet wurde. Folglich hätte die Sparkasse im Rahmen einer von ihr angestrengten Zwangsversteigerung in das besicherte Grundstück dingliche Zinsen beanspruchen können (und hat die Bank solche im Rahmen der Teilungsversteigerung aus ihrem vorrangigen Recht auch geltend gemacht). Der Sicherungsvertrag würde dies, wie ausgeführt, nicht hindern und wirkt in keinem Fall als Beschränkung im Verhältnis zu einem Ersteigerer. Macht der Grundpfandgläubiger Ansprüche geltend, die zu einem Übererlös führen, berührt dieser Umstand die Verteilung zwischen Bank und ihrem Vertragspartner im Rahmen des Sicherungsvertrages, aber nicht den Ersteigerer.</p>
<p><rd nr="73"/>Gerade deshalb hat ein Darlehensnehmer (wie hier die Eigentümergemeinschaft) bzw. ein ggf. hiervon personenverschiedener ursprünglicher Eigentümer, der im Rahmen einer Zwangsversteigerung sein Eigentum verloren hat, bei der ein Ersteigerer eine (beispielsweise vorrangige) Grundschuld übernommen hat, ein Interesse daran, dass der Grundpfandinhaber der bestehengebliebenen Grundschuld den Ersteigerer als jetzigen Grundstückseigentümer in maximal möglichem Umfang, auch in vollem Umfang der dinglichen Zinsen, in Anspruch nimmt - unabhängig davon, was im Binnenverhältnis zwischen Bank und Darlehensnehmer gilt. Denn von einem etwaigen Übererlös profitiert er.</p>
<p><rd nr="74"/>Der BGH hat dieses Vorgehen, soweit ersichtlich, stets gebilligt, mag er einen Grundpfandgläubiger auch nicht immer für verpflichtet gehalten haben, so vorzugehen (vgl. BGH, Urteil vom 04.02.2010 - V ZR 132/10). Dass im Falle einer Rückübertragung an den Eigentümer von Gesetzes wegen die Verzinsungspflicht entfällt (§ 1197 Abs. 2 BGB), wurde seitens des BGH (Urteil vom 04.02.2011 - V ZR 132/10, juris-Rn. 15) lediglich im Rahmen einer hypothetischen Betrachtung, welche Zinsverpflichtung sich ergäbe, wenn die Grundschuld an den ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben worden wäre, als Wertungsmaßstab herangezogen, um zu begründen, warum der Sicherungsnehmer nicht verpflichtet sei, in der Phase zwischen Zuschlag und Ablöse Zinsen zu verlangen. Unberührt blieb, wie mehrfach ausgeführt, für den BGH das Recht des Gläubigers, dingliche Zinsen zu vollstrecken (BGH, aaO, juris-Rn. 7).</p>
<p><rd nr="75"/>Es fehlt auch nicht an einem Rechtsgrund zum Behaltendürfen für den Grundschuldgläubiger. Denn diese dinglichen Zinsen sind rechtsgeschäftlich vereinbart worden, damit wirksam entstanden, ebenso wirksam auf die Erbengemeinschaft rückübertragen worden, und können deshalb dinglich geltend gemacht werden. Diese dingliche Last hat die Beklagte im Rahmen der Teilungsversteigerung kraft hoheitlicher Regelung (§ 56 Satz 2 ZVG in Verbindung mit den Regelungen zum Bestehenbleiben der Grundschuld im Rahmen des geringsten Gebotes) übernommen. Daran muss sich die Beklagte festhalten lassen, denn das waren die von ihr zu akzeptierenden und akzeptierten Versteigerungsbedingungen. Eines zusätzlichen Rechtsgrundes zum Behaltendürfen bedarf es im Verhältnis zu ihr nicht, zumal, wie oben gezeigt, ihre Inanspruchnahme im vollen Umfang des dinglichen Rechts einschließlich Zinsen im Interesse der ursprünglichen Kreditnehmer und Sicherungsgeber vom Zwangsversteigerungsrecht gewollt ist und die schuldrechtliche Vereinbarung zwischen Bank und Darlehensnehmer/ursprünglichem Sicherungsgeber dem Ersteigerer weder bekannt sein muss noch sie ihn etwas angeht; er tritt in diese nicht ein und ist auch nicht - sollte dies vorliegend überhaupt von Interesse sein (vgl. oben) - Partei der Sicherungsabrede.</p>
<p><rd nr="76"/>Eine andere Sichtweise stünde mit der Selbständigkeit des (nicht-akzessorischen) dinglichen Rechts nicht in Einklang, würde den formalisierten Gang der Zwangsvollstreckung beeinträchtigen, bei dem Klarheit herrschen muss, welchen Verpflichtungen der Ersteigerer ausgesetzt ist, und ist zum Schutz des Ersteigerers auch nicht geboten, denn ihm sind die dinglichen Rechte, die er übernimmt, bekannt.</p>
<p><rd nr="77"/>(b) Im Übrigen ist es - auch wenn es hierauf, streng rechtlich betrachtet, aufgrund der obigen Ausführungen nicht ankommt - auch wirtschaftlich interessengerecht, der Beklagten eine Verzinsungspflicht aufzuerlegen.</p>
<p><rd nr="78"/>Im Ergebnis nimmt die Beklagte nämlich einen Kredit in Anspruch, wenn sie Grundschulden - noch - nicht ablöst. Die Valutierung der Grundschuld ist, wie ausgeführt, irrelevant, denn nach dem Regelungsmodell ändert eine unvollständige oder gar fehlende Valutierung nichts an der wirtschaftlichen Übernahme des Grundpfandbetrages in voller (nomineller) Höhe durch den Ersteigerer als Teil des Kaufpreises, mag im Innenverhältnis der Betrag einem noch eingetragenen Grundpfandrechtsinhaber zustehen oder dem Darlehensnehmer/früherem Eigentümer. Dass die Beklagte zugleich Teil der Erbengemeinschaft ist, ändert nichts. In ihrer Rolle als Ersteigerer muss sich die Beklagte im Ausgangspunkt wie jeder fremde Dritte als Ersteigerer behandeln lassen (zu Einwendungen aus der Erbengemeinschaft siehe unten).</p>
<p><rd nr="79"/>Vorliegend war die Grundschuld, weil dies so vereinbart war, sofort fällig (§ 1197 Abs. 2 Satz 2 BGB findet auf die streitgegenständlichen Grundschulden in zeitlicher Hinsicht noch keine Anwendung, Art. 229 § 18 Abs. 3 EGBGB). Das zeigt anschaulich, dass die Beklagte, indem sie trotz Fälligkeit nicht ablöst, faktisch einen Kredit in Anspruch nimmt. Folgerichtig ist es wirtschaftlich gerechtfertigt, dass die Beklagte auf Zinsen in Anspruch genommen wird. Sie hätte, um Zinsen zu entgehen, die Grundschulden sofort ablösen können - mit der Wirkung eines Übergangs auf sich (§§ 1142 f., § 1192 Abs. 1 BGB; vgl. BGH, Urteil vom 29.01.2016 - V ZR 285/14, juris-Rn. 10) - und müssen.</p>
<p><rd nr="80"/>Im konkreten Fall kommt hinzu - wie lediglich ergänzend zu bemerken ist -, dass die Beklagte die Rückübertragung der Grundschulden auf die Erbengemeinschaft durch ihre unterlassene Mitwirkung verzögert hat; aus dem beigefügten Urteil, durch das ihre Mitwirkung ersetzt wird, ist ersichtlich, dass sie sich im dortigen Verfahren mit Argumenten (fehlende Bereitschaft der Bank, das Grundpfandrecht zurückzuübertragen) verteidigt hat, deren Unbegründetheit sie unschwer selbst bei der Bank hätte klären können. Damit hat sie zugleich die Ausschüttung des hälftigen Nominalbetrages der Grundschulden an die Klägerin verzögert. Auch insoweit erscheint es gerechtfertigt, die Beklagte auf Zinsen haften zu lassen.</p>
<p><rd nr="81"/>(d) Die Höhe der Zinsen ergibt sich aus der dinglichen Vereinbarung. Hinsichtlich der Zinshöhe ist allerdings (anders als beim eigentlichen Grundschuldkapital, bei dem sich wirtschaftlich für den Ersteigerer nur die Frage stellt, wem gegenüber [Bank/Darlehensnehmer] der Betrag zurückzahlen ist) die Argumentation der Beklagten zutreffend, dass diese Zinsen in Höhe der Differenz zwischen den ursprünglich schuldrechtlich vereinbarten Darlehenszinsen bzw. wirtschaftlich angemessenen Zinsen auf den vom Ersteigerer zwar geschuldeten, jedoch zunächst nicht zu zahlenden Kaufpreisteil in der Form der übernommenen Grundschulden und den wesentlich höheren dinglichen Zinsen bei einer ordnungsgemäßen Tilgung des Darlehens durch den Darlehensnehmer zu keinem Zeitpunkt gezahlt worden wären, sich in Höhe dieser Differenz eine echte Mehrbelastung des Ersteigerers gegenüber einer Abwicklung im Darlehensverhältnis ergibt. Das heißt aber nicht, dass die dinglichen Zinsen, wie die Beklagte meint, gleichsam aus dem Nichts entstanden wären und nicht geltend gemacht werden dürfen (wie hier: Böttcher, FPR 2012, 502, 507f.; vgl. aber auch Böttcher, ZVG, 7. Aufl., § 180 Rn. 111). Denn sowohl dogmatisch als auch nach den Wertungen des Zwangsversteigerungsrechts erlaubt das Zwangsversteigerungsrecht - auch wirtschaftlich - die volle Ausschöpfung des vom Ersteigerer willentlich übernommenen dinglichen Rechts zugunsten von Grundpfandgläubiger bzw. ursprünglichem Sicherungsgeber (hier der Erbengemeinschaft).</p>
<p><rd nr="82"/>dd. Die Beklagte kann auch keine Einwendungen gegen ihre Inanspruchnahme aus dem Binnenrechtsverhältnis der Erbengemeinschaft geltend machen.</p>
<p><rd nr="83"/>(1) Es wurde bereits ausgeführt, dass der Erbengemeinschaft als solchen dieselben Befugnisse zustehen wie dem bisherigen Grundpfandgläubiger. Das Binnenverhältnis der Parteien als Erbengemeinschaft rechtfertigt keine weitergehenden Beschränkungen. Die Klägerin darf Ansprüche der Erbengemeinschaft geltend machen; sie nimmt die Beklagte als Ersteigerer und damit wie einen Dritten in Anspruch.</p>
<p><rd nr="84"/>(2) Die Inanspruchnahme erfolgt auch nicht treuwidrig, § 242 BGB. Treuwidrig wäre eine Inanspruchnahme nur dann, wenn die Klägerin verpflichtet wäre, den gesamten Erlös aus der Geltendmachung der Zinsen an die Beklagte auszukehren, weil die Beklagte im Innenverhältnis der Erbengemeinschaft die gesamten Zinsen beanspruchen könnte. So liegt der Fall aber nicht, auch wenn die Beklagte dies meint. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Beklagte als Ersteigerer die Duldung der Zwangsvollstreckung wegen Zinsen zugunsten der Erbengemeinschaft schuldet. Die Erbengemeinschaft ist also berechtigt, die Zinsen zu vereinnahmen und zu behalten. Daraus folgt zwanglos, dass hiervon Klägerin und Beklagte im Rahmen der Erbengemeinschaft und ihrer Auseinandersetzung - aber auch erst in diesem Rahmen - wirtschaftlich, sofern der Erlös nicht vorrangig zur Berichtigung von Nachlassverbindlichkeiten verwendet wird, entsprechend ihrer Erbenquote von jeweils ½ profitieren. Die Klägerin darf also einen aus dem dinglichen Recht erzielten Betrag zur Hälfte behalten und muss ihn nicht zur Gänze herausgeben.</p>
<p><rd nr="85"/>(3) Die Klägerin ist auch nicht gehalten, zunächst auf eine Teilung der auf die Erbengemeinschaft übertragenen Grundschuld hinzuwirken. Dies mag für in Bruchteilsgemeinschaft gehaltene Grundschulden zutreffen (vgl. BGH, Urteil 20.10.2010 - XII ZR 11/08, juris-Rn. 12). Eine ungeteilte Erbengemeinschaft stellt jedoch eine echte Gesamthandsgemeinschaft an dem gesamten ihr zugeordneten Vermögen dar, nicht eine Gemeinschaft an einzelnen Gegenständen. Von daher war die Klägerin weder verpflichtet noch berechtigt, eine isolierte Aufteilung nur der streitgegenständlichen Grundschuld zu bewirken. Die Beklagte hat solches auch nicht verlangt; es ist überdies nicht ersichtlich, dass die Beklagte - die meint, überhaupt keine Zinsen leisten zu müssen - bereit gewesen wäre, hieran mitzuwirken. Jedenfalls in einer solchen Situation kann die Klägerin auf die für sie wesentlich einfachere und effektivere Befugnis nach § 2039 BGB zurückgreifen und das der Erbengemeinschaft zustehende Recht für diese geltend machen, ohne dass es darauf ankäme, ob der Erlös vorrangig für Nachlassverbindlichkeiten aufkommen muss.</p>
<p><rd nr="86"/>d. Der Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung wegen der Zinsen ist fällig. Die Klägerin hat die Vollstreckung wegen Zinsen vor mehr als sechs Monaten angedroht. Ob dies - bei 1970 und 2007 begründeten, sofort fälligen - Grundschulden analog § 1193 Abs. 1 Satz 3 BGB erforderlich ist (vgl. zur Rechtslage seit 2008 BGH, Beschluss vom 30.03.2017 - V ZB 84/16; Herrler in Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 1193 Rn. 4), kann dahinstehen.</p>
<p>IV.</p>
<p><rd nr="87"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO; im Falle einer allein von der Streithelferin geführten Berufung trägt diese die Kosten (Herget in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 101 Rn. 3). Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinne von § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.</p>
<p><rd nr="88"/>Der Streitwertbeschluss beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 48 Abs. 1 GKG und bemisst sich nach dem Wert der (allein) geltend gemachten rückständigen Zinsen der Erbengemeinschaft.</p>
</div>
|
|
345,937 | vg-hannover-2022-07-20-4-b-386621 | {
"id": 615,
"name": "Verwaltungsgericht Hannover",
"slug": "vg-hannover",
"city": 325,
"state": 11,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 B 3866/21 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-07-26T10:01:09 | 2022-10-17T17:55:20 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller begehrt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine bauaufsichtliche Anordnung der Antragsgegnerin.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller ist Eigentümer des Grundstücks D. in E.. Das Grundstück grenzt an der östlichen Seite an die F. Straße und ist im südlichen Teil mit einem zweigeschossigen Gebäude bebaut. Im nördlichen Teil befindet sich ein Kundenparkplatz, der mehrere Einstellplätze umfasst. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans G., rechtskräftig seit dem 12. April 1973. Der Geltungsbereich des Bebauungsplans umfasst den Bereich zwischen der F. Straße und H. straße und in südlicher Richtung noch die Bebauung südlich der I. straße. Er setzt für das Grundstück des Antragstellers ein Mischgebiet sowie ein Baufenster mittels Baugrenzen fest, welches den südlichen Teil des Grundstücks nahezu ausfüllt und durch das Gebäude fast vollständig ausgenutzt ist. Das Gebäude grenzt in nördlicher und westlicher Richtung nahezu an die Baugrenzen und befindet sich – wohl aufgrund einer Messungenauigkeit – in östlicher Richtung leicht außerhalb des Baufensters. In südlicher Richtung bzw. an der südlichen Grundstücksgrenze findet sich innerhalb des Baufensters ein Streifen ohne Bebauung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller betreibt im Erdgeschoss des Gebäudes einen Supermarkt für Lebensmittel J.). Dafür erteilte die Antragsgegnerin am 13. Februar 1990 eine Baugenehmigung, mit der eine an die nördliche Seite des Gebäudes angrenzende Anlieferfläche außerhalb des Baufensters genehmigt wurde. Die Antragsgegnerin führte bereits mehrere bauaufsichtliche Verfahren gegen den Antragsteller wegen auf dem Grundstück errichteter baulicher Anlagen (u.a. freistehende bzw. angebaute Kühlhäuser und eine Überdachung), die auch Gegenstand gerichtlicher Verfahren waren bzw. sind. Bei Ortsbesichtigungen stellte die Antragsgegnerin sodann fest, dass auf der nördlichen Seite des Gebäudes neben dem Haupteingang der Antragsteller eine Fläche nutzt, um dort Waren zum Verkauf aufzustellen. Auf dieser Fläche stehen tagsüber Obst- und Gemüsepaletten; die Verkaufsfläche wird teilweise von einem (Sonnen-)Schirm vor Witterungseinflüssen geschützt. Nach Geschäftsschluss werden die Obst- und Gemüsepaletten sowie der Schirm abgebaut und von der Fläche entfernt. Zudem stellte der Antragsteller im nordwestlichen Grundstücksbereich an die Stelle eines ehemaligen, aufgrund einer bauordnungsrechtlichen Verfügung beseitigten Kühlraums dauerhaft einen LKW ab, den er als Kühlraum für seinen Lebensmittelmarkt nutzte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 9. März 2021 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller nach § 79 Abs. 4 der Nds. Bauordnung (im Folgenden: NBauO) bezüglich einer beabsichtigten Beseitigung der Verkaufsfläche für Obst und Gemüse sowie des LKW an. Daraufhin äußerte sich der Antragsteller mit E-Mail vom 26. März 2021 und trug vor, dass hinsichtlich des Lagerplatzes zum Verkauf von Obst und Gemüse ein vorübergehender Stand aufgebaut worden sei, um geringe Mengen Obst und Gemüse anzubieten. Der Stand werde mit einem vorübergehenden Sonnenschirm abgeschirmt. Das Obst und Gemüse als auch der Schirm würden jeden Tag eingeräumt werden, sodass es sich nicht um eine dauerhafte Lagerfläche handele. Der LKW sei zudem nur vorübergehend aufgestellt und permanent in Benutzung und Bewegung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Mit Bescheid vom 21. April 2021 gab die Antragsgegnerin dem Antragsteller bis zum 18. Juni 2021 die Beseitigung des an der nördlichen Seite des Hauptgebäudes neben dem Haupteingang errichteten dauerhaften Lagerplatzes für den täglichen Verkauf von Obst und Gemüse inklusive des dazugehörigen (Sonnen-)Schirms (Ziff. 1 des Bescheides) sowie die Beseitigung des dauerhaft abgestellten LKW im nordwestlichen Grundstücksbereich (Ziff. 2 des Bescheides) auf, ordnete die sofortige Vollziehung der Verfügung an (Ziff. 3 des Bescheides), drohte für den Fall der nicht fristgerechten Durchführung der Maßnahmen Zwangsgelder in Höhe von 5.500,00 € (hinsichtlich des Lagerplatzes) und 5.000,00 € (hinsichtlich des LKW) an (Ziff. 4 des Bescheides) und legte dem Antragsteller die Kosten des Verfahrens auf (Ziff. 5 des Bescheides). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass es sich bei dem täglich wiederholt aufgestellten Verkaufsstand um einen Lagerplatz und damit um eine bauliche Anlage handele. Der Begriff des Lagerplatzes sei weit auszulegen und umfasse auch Flächen, auf denen dauerhaft Gegenstände gelagert, abgestellt oder abgelegt würden. Dabei genüge das ständige wiederholte Aufstellen. Bei dem täglichen Aufstellen des Obstes und Gemüses zum Verkauf vor dem Haupteingang sei angesichts des Fortsetzungszusammenhangs von einer hinreichenden Verfestigung auszugehen. Die Nutzung als Lagerplatz sei formell und materiell rechtswidrig. Der Verkaufsstand führe zu einer Erweiterung der genehmigten Verkaufsfläche, die insoweit eine genehmigungsbedürftige Änderung darstelle. Der Lagerplatz sei materiell baurechtswidrig, weil er außerhalb der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen liege und diese nicht nur in geringfügigem Maße, sondern vollständig überschreite. Eine Zulassung gemäß § 23 Abs. 5 der Baunutzungsverordnung (im Folgenden: BauNVO) komme nicht in Betracht, da weder funktional noch optisch eine nebensächliche Bedeutung gegeben sei. Auch eine Befreiung komme nicht in Betracht, da damit die Grundzüge der Planung berührt werden würden. Nach Ermessensausübung sei eine Beseitigung des dauerhaften Lagerplatzes für den täglichen Verkauf von Obst und Gemüse geboten. Das für den Sofortvollzug erforderliche besondere Vollzugsinteresse sei ebenfalls gegeben. Der Grundsatz, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung bei bauordnungsrechtlichen Beseitigungsverfügungen für den Betroffenen durch die drohenden erheblichen wirtschaftlichen Nachteile regelmäßig schwerer wiege als die Nachteile, die mit dem vorläufigen weiteren Bestand von baulichen Anlagen für die öffentlichen Belange verbunden seien, gelte nicht uneingeschränkt. Von dem Lagerplatz zum täglichen Verkauf von Obst und Gemüse gehe eine negative Vorbildwirkung aus, da das Grundstück von der stark befahrenen Hildesheimer Straße nicht nur für Kunden, sondern auch für Passanten und andere Anlieger gut sichtbar sei. Ferner könnten andere Gewerbetreibende entlang der Hildesheimer Straße dazu verleitet werden, die begrenzten Gewerbeflächen auf vergleichbare Weise zu erweitern. Dies habe das Verwaltungsgericht Hannover bereits mit seinem Beschluss vom 30. Januar 2020 – 4 B 4827/19 – bestätigt und darin auch festgestellt, dass der Antragsteller als notorischer Schwarzbauer im Sinne der Rechtsprechung bezeichnet werden könne. Nach mehreren bauordnungsrechtlichen Verfahren habe er mit der Errichtung des Lagerplatzes sowie dem Aufstellen des LKW erneut baurechtswidrige Zustände auf seinem Grundstück geschaffen. Mit seinem bisherigen Vorgehen demonstriere er, dass ihm an einer Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Vorschriften nicht gelegen sei und der wirtschaftliche Anreiz einer rechtswidrigen Nutzung zumindest für die Verfahrensdauer die mit diesem Verfahren verbundenen Risiken für ihn überwiegen würde. Zudem sei die Beseitigung des Lagerplatzes ohne Substanzverletzung möglich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller am 11. Mai 2021 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Am 21. Mai 2021 hat der Antragsteller den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt und am 25. Mai 2021 Klage erhoben (Az.: 4 A 3888/21), über die noch nicht entschieden ist. Den LKW hat der Antragsteller am 17. Juni 2021 vom Grundstück entfernt. Im Dezember 2021 hat er erneut einen LKW zu Lagerzwecken an einem anderen Ort auf dem Grundstück, namentlich an der westlichen Gebäudeseite, aufgestellt, weswegen von der Antragsgegnerin eine Anhörung wegen baurechtswidriger Zustände vorbereitet wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Zur Antragsbegründung führt er hinsichtlich der Obst- und Gemüsepaletten einschließlich des Schirmes aus, dass es sich dabei nicht um eine bauliche Anlage handele. Dies sei schon nach dem Wortsinn auszuschließen. Die Paletten und der Schirm würden keine Anlage darstellen, die auf ortsfesten Bahnen begrenzt beweglich oder dazu bestimmt sei, vorwiegend ortsfest benutzt zu werden. Auch seien die Paletten nicht fest mit dem Erdboden verbunden. Das Obst, das feilgeboten werde, würde zudem nur einen sehr geringen Platz von der Gesamtfläche einnehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Ferner gebe es keine Gründe für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Hinsichtlich des bereits beseitigten LKW werde eine Erledigungserklärung nicht abgegeben, da es sich für ihn um eine grundsätzliche Frage mit Klärungsinteresse handele.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 11. Mai 2021 wiederherzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Sie verweist auf ihre Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid, wiederholt diese im Wesentlichen und führt ergänzend an, dass der Verkaufsstand ein Lagerplatz nach der NBauO sei. Eine bauliche Anlage im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 NBauO müsse nicht zwingend mit dem Erdboden verbunden sein, sondern könne auch nur kraft ihrer Schwere mit dem Boden verbunden sein, selbst wenn sie sich nicht zerlegt abheben oder fortbewegen lasse. Zudem sei von einer Fiktion nach § 2 Abs. 1 Satz 2 NBauO auszugehen, wovon auch Lagerplätze ausdrücklich erfasst seien. Solche Lagerplätze würden oft nicht aus Bauprodukten hergestellt werden, sodass sie nicht unter die allgemeine Begriffsbestimmung aus Satz 1, jedoch ausdrücklich der Fiktion in Satz 2 unterfallen würden. Aufgrund des täglichen und sich ständig wiederholten Aufstellens von Obst und Gemüse zum Verkauf werde von einer hinreichenden Verfestigung und somit von einem Lagerplatz ausgegangen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die Beseitigung des Lagerplatzes sei angezeigt, weil nur damit eine endgültige, restlose und permanente Beseitigung der entsprechenden Paletten und der baulichen Anlage „Lagerplatz“ erreicht werde. Ein abendliches, vorübergehendes Wegräumen ändere nichts an dem täglichen baurechtswidrigen Zustand, der durch die wiederholte Aufstellung verursacht werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Ein Anspruch auf Zulassung gemäß § 23 Abs. 5 Satz 2 BauNVO bestehe nicht. Zwar sei der Lagerplatz nicht abstandspflichtig, jedoch würden für einen Anspruch die Voraussetzungen einer Ermessensreduktion auf Null nicht vorliegen. Bei einer Zulassung des Verkaufsplatzes außerhalb der Baugrenzen werde das öffentliche Interesse an einer sinnvollen Verkehrsführung – u.a. die Zufahrt zum Grundstück sowie die Anlieferung für den Lebensmittelmarkt – berührt, da die Fläche des Parkplatzes mit dem Lagerplatz um ca. 20 m² eingeschränkt werde. Der freie Bereich vor der Hauptnutzung solle u.a. der Anlieferung sowie der Verbesserung der Verkehrsführung dienen und Rückstaubildungen auf der Hildesheimer Straße verhindern. Der nicht überbaubaren Fläche komme zudem eine städtebauliche Funktion zu. Sie diene als akustischer und optischer Puffer im Mischgebiet, wie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in einem früheren Verfahren des Antragstellers bereits im Beschluss vom 15. März 2018 – 1 LA 75/17 – festgestellt habe. Außerdem beeinträchtige eine Überschreitung wesentlich einen Grundzug der Planung, da insbesondere auf dem Grundstück des Antragstellers die Festlegung der überbaubaren Fläche Ausdruck der planerischen Grundkonzeption des Bebauungsplans sei, wie bereits das Verwaltungsgericht Hannover in seiner Entscheidung vom 30. März 2017 – 4 A 4984/16 – und das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 15. März 2018 – 1 LA 75/17 – festgestellt habe. Auch der Grundsatz der Gleichbehandlung spreche gegen eine Zulassung außerhalb der Baugrenze, da andere Lebensmittelgeschäfte im Gebiet der Antragsgegnerin Verkaufsflächen lediglich innerhalb der Baugrenzen hätten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>1. Er ist nur teilweise zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Zwar ist der Antrag hinsichtlich der Beseitigungsverfügungen in Ziff. 1 und 2 des Bescheides als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (im Folgenden: VwGO), hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Ziff. 4 und der Kostengrundentscheidung in Ziff. 5 des Bescheides als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Der lediglich auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gerichtete Antrag des Antragstellers wird nach §§ 88, 122 VwGO derart ausgelegt, dass sich das Begehren auf den gesamten streitgegenständlichen Bescheid bezieht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes jedoch auf die Beseitigung des LKW in Ziff. 2 des Bescheides zielt, fehlt das Rechtschutzbedürfnis. Das Rechtschutzbedürfnis ist – abgesehen von einigen prozessualen Besonderheiten – (nur) gegeben, wenn die gerichtliche Anordnung oder (Wieder-)Herstellung der aufschiebenden Wirkung dem Antragsteller einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringt (siehe dazu: Schoch in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 42. EL 2022, VwGO § 80 Rn. 493 m. w. N.). Der Antragsteller hat den LKW jedoch vor Ablauf der im Bescheid gesetzten Frist vom Grundstück freiwillig entfernt und ist damit der Beseitigungsanordnung nachgekommen. Mit diesem eigenen Willensentschluss fehlt es jedenfalls dem Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes an der Möglichkeit einer rechtlichen oder tatsächlichen Verbesserung durch eine gerichtliche Entscheidung (vgl. VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 13.07.2007 – 7 L 170/07 –, Rn. 5, juris). Dem steht auch nicht entgegen, dass der Antragsteller im Dezember 2021 erneut einen LKW auf seinem Grundstück abgestellt hat. Denn er hat den LKW ausweislich der Lageskizze der Antragsgegnerin (Bl. 149 der Gerichtsakte) an einem anderen Ort aufgestellt. Der in der Beseitigungsanordnung in Ziff. 2 des Bescheides bezeichnete LKW stand im nordwestlichen Grundstücksbereich an der Stelle, an welcher sich bis September 2020 das inzwischen beseitigte Kühlhaus 1 befunden hat. Diese genaue Ortsbeschreibung findet sich auch im Tenor in Ziff. 2 des Bescheides. Den im Dezember 2021 aufgestellten LKW hat der Antragsteller jedoch an der westlichen Seite des Supermarktgebäudes und damit nicht an dem in Ziff. 2 des Bescheides bezeichneten Ort aufgestellt. Insoweit ist der nunmehr aufgestellte LKW bereits aufgrund seines abweichenden Aufstellungsortes nicht von der Beseitigungsanordnung in Ziff. 2 des Bescheides erfasst. Zudem weist der zuletzt aufgestellte LKW einen anderen baurechtlich zu beurteilenden Charakter auf. Der im streitgegenständlichen Bescheid bezeichnete LKW wurde vom Antragsteller zu Kühlzwecken aufgestellt, wovon – ausweislich der Nachbarbeschwerden (siehe Bl. 37 ff., 73 ff. BA001) – aufgrund des Kühlaggregates (auch) ständige Geräusche ausgingen. Den nunmehr aufgestellten LKW nutzt der Antragsteller – ausweislich der Angaben der Antragsgegnerin – hingegen nur als Lagerraum. Daraus wird bereits der anders einzustufende baurechtliche Charakter ersichtlich. Davon geht offensichtlich auch die Antragsgegnerin aus, indem sie angibt, dass wegen des neu aufgestellten LKW eine Anhörung wegen baurechtswidriger Zustände in Vorbereitung ist. Dies impliziert, dass sie ein eigenständiges bauaufsichtliches Verfahren angestoßen hat und den nunmehr aufgestellten LKW nicht als von der Beseitigungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid umfasst ansieht. Sowohl aus dem abweichenden Aufstellungsort als auch aus dem anderen baurechtlichen Charakter und dem eigenständigen bauaufsichtlichem Verfahren bestätigt sich vielmehr, dass der Antragsteller mit dem vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes keinen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil mehr erlangen kann. Da sich die Beseitigungsanordnung insofern aber wohl nicht erledigt haben dürfte, kommt eine vom Antragsteller begehrte grundsätzliche Klärung lediglich im Hauptsachverfahren in Betracht. Auch für die Androhung des Zwangsgeldes i.H.v. 5.000 € hinsichtlich des LKW in Ziff. 4 des Bescheides fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, da eine Festsetzung des Zwangsgeldes bei Befolgung nicht mehr droht und insoweit ebenfalls kein rechtlicher oder tatsächlicher Vorteil mit der gerichtlichen Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren erlangt werden kann (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 10.08.2020 – 12 LB 64/20 –, Rn. 20, juris; VGH München, Beschl. v. 25.10.2019 – 11 CS 19.1577 –, Rn. 13, juris; Beschl. v. 26.04.2012 – 11 CS 12.650 –, Rn. 13, juris; VG Göttingen, Beschl. v. 23.07.2012 – 1 B 121/12 –, Rn. 6, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>2. Der im Übrigen zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist in der Sache unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist nur dann begründet, wenn im Rahmen einer Abwägung das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes überwiegt. Bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist der Antrag darüber hinaus auch dann begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtswidrig ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.06.1988 – 4 C 1/88 –, Rn. 15, juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.05.2010 – 13 ME 181/09 –, Rn. 3 f., juris; Beschl. v. 05.03.2008 – 7 MS 115/07 –, Rn. 25 ff., juris). Vorliegend erweist sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid vom 21. April 2021 als rechtmäßig (a.). Auch die weiter vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus (b.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>a. Im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit einer Vollziehungsanordnung ist neben der Zuständigkeit insbesondere auf das Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 VwGO abzustellen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 05.03.2008 – 7 MS 115/07 –, Rn. 26, juris). Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich zu begründen. Dieses besondere öffentliche Interesse muss in der Regel über das Interesse, welches dem Verwaltungsakt zugrunde liegt, hinausgehen. Die Behörde darf sich daher nicht auf formelhafte Wendungen beschränken (OVG Lüneburg, Beschl. v. 18.10.2004 – 1 ME 205/04 –, Rn. 24, juris). Vielmehr ist für eine hinreichende schriftliche Begründung eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses für die ausnahmsweise sofortige Vollziehbarkeit notwendig (OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.5.2010 – 13 ME 181/09 –, Rn. 3, juris; Schoch in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 42. EL 2022, VwGO § 80 Rn. 247).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Diesen Anforderungen genügt die Anordnung des Sofortvollzuges in dem streitgegenständlichen Bescheid. Die Antragsgegnerin stützt den Sofortvollzug auf eine negative Vorbildwirkung ausgehend von den Obst- und Gemüsepaletten, auf eine Verleitung anderer Gewerbetreibende entlang der F. Straße, die begrenzten Gewerbeflächen auf vergleichbare Weise zu erweitern, sowie auf das bisherige Verhalten des Antragstellers, welches ihn als notorischen Schwarzbauer erkennen lasse und die Nichteinhaltung der bauordnungsrechtlichen Vorschriften sowie den überwiegenden wirtschaftlichen Anreiz einer rechtswidrigen Nutzung zumindest für die Verfahrensdauer demonstriere. Des Weiteren stellt die Antragsgegnerin darauf ab, dass die Beseitigung der Obst- und Gemüsepaletten ohne Substanzverletzung möglich sei. Mit dieser Begründung geht sie über die Argumente für die Beseitigung der Obst- und Gemüsepaletten (einschließlich des Schirmes) aus der Entscheidung in Ziff. 1 des Bescheides hinaus. Ob diese Gründe tatsächlich vorliegen, ist im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit des Sofortvollzuges nicht zu prüfen. Diese Frage kann sich nur bei der in materieller Hinsicht vorzunehmenden Interessenabwägung auswirken (siehe OVG Bautzen, Beschl. v. 05.08.2011 – 2 B 259/10 –, Rn. 7 m. w. N., juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.05.2010 – 13 ME 181/09 –, Rn. 3, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>b. Bei der im Rahmen von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO weiter vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen, ist entscheidend, ob das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. seines Widerspruchs oder das Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides überwiegt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.02.2017 – 9 VR 2/16 –, Rn. 2, juris). Dies beurteilt sich maßgeblich nach den Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs (BVerwG, Beschl. v. 16.09.2014 – 7 VR 1/14 –, Rn. 10, juris). Ein überwiegendes Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung ist in der Regel gegeben, wenn sich im Rahmen einer summarischen Prüfung ergibt, dass der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Sollte der Verwaltungsakt hingegen offensichtlich rechtmäßig sein und ist ein besonderes Vollzugsinteresse gegeben, hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig keinen Erfolg (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 17.01.2017 – 2 BvR 2013/16 –, Rn. 18, juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.05.2010 – 13 ME 181/09 –, Rn. 4, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Nach summarischer Prüfung fällt die Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus, denn der Bescheid der Antragsgegnerin hinsichtlich der für den Verkauf zu den Öffnungszeiten aufgestellten Obst- und Gemüsepaletten (einschließlich des Schirmes) ist aller Voraussicht nach rechtmäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Rechtsgrundlage für die diesbezügliche Beseitigungsanordnung in Ziff. 1 des Bescheides ist § 79 Abs. 1 Satz 1 NBauO. Hiernach kann die Bauaufsichtsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen die zur Herstellung oder Sicherung rechtmäßiger Zustände erforderlichen Maßnahmen anordnen, wenn bauliche Anlagen oder Baumaßnahmen dem öffentlichen Baurecht widersprechen oder dies zu besorgen ist. Nach Satz 2 Nr. 4 dieser Vorschrift kann die Behörde dabei auch die Beseitigung von Anlagen anordnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Entgegen den Einwänden des Antragstellers sind die Obst- und Gemüsepaletten (einschließlich des Schirmes) als bauliche Anlage einzustufen. Ob es sich dabei um eine mit dem Erdboden verbundene oder auf ihm ruhende, aus Bauprodukten hergestellte Anlage i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 NBauO handelt, kann offenbleiben. Denn vorliegend kann eine einer solchen Anlage gleichgestellte Fiktion nach § 2 Abs. 1 Satz 2 NBauO, namentlich ein Lagerplatz nach Nr. 2 (Nr. 8 a. F.), angenommen werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Der Begriff des Lagerplatzes ist weit auszulegen und umfasst Grundstücksflächen, auf denen dauerhaft Gegenstände gelagert, abgelegt oder abgestellt werden, unabhängig zu welchem Zweck dies geschieht (Mann in: Große-Suchsdorf, Niedersächsische Bauordnung, 10. Auflage 2020, NBauO § 2 Rn. 28 unter Bezugnahme auf die Rspr. des BVerwG). Ein Lagerplatz kann schon dadurch entstehen, dass jemand eine im Freien gelegene Fläche, über die er verfügt, zum Abstellen, Ablegen oder Ausstellen von Sachen in Gebrauch nimmt (vgl. VGH München, Beschl. v. 04.05.2020 – 9 ZB 18.2339 –, Rn. 14, juris; Mann in: Große-Suchsdorf, Niedersächsische Bauordnung, 10. Auflage 2020, NBauO § 2 Rn. 28). Zwar führt nicht jedes Abstellen von Gegenständen auf einem Grundstück zur Annahme eines Lagerplatzes im baurechtlichen Sinne. Erforderlich ist vielmehr, dass sich die Nutzung in zeitlicher Hinsicht so verfestigt, dass sie die Grundstückssituation prägt (OVG Lüneburg, Beschl. v. 13.06.2022 – 1 ME 38/22 –, Rn. 11, juris mit Bezugnahme auf die Rspr. zu § 29 BauGB des BVerwG, Beschl. v. 29.06.1999 – 4 B 44/99 –, Rn. 7, juris). Eine unabsehbare Dauer ist hingegen nicht erforderlich; wie auch sonst können auch befristet konzipierte Nutzungen baurechtliche Relevanz erlangen. Wann nach diesen Maßstäben die erforderliche Verfestigung erreicht ist, lässt sich nicht allgemeingültig beantworten. Während das befristete Abstellen einzelner Gegenstände von überschaubarer Größe auch über verhältnismäßig lange Zeiträume einem Grundstück noch nicht das Gepräge eines Lagerplatzes gibt, ist bei größeren Materialmengen ein strengerer Maßstab anzulegen (OVG Lüneburg, Beschl. v. 13.06.2022 – 1 ME 38/22 –, Rn. 11, juris; Beschl. v. 26.01.2022 – 1 ME 119/21 –, Rn. 7, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Diesen Maßstab zugrundlegend ist vorliegend von einem Lagerplatz als bauliche Anlage i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 NBauO auszugehen. Zwar werden die Obst- und Gemüsepaletten und der Schirm nach dem Vortrag des Antragstellers nur zu den Öffnungszeiten des Supermarktes aufgestellt und nach Geschäftsschluss entfernt. Dieses lediglich mehrstündige Aufstellen kann zwar nicht als eine dauerhafte Lagerung in dem Sinne angesehen werden, dass die Gegenstände dort über einen längeren Zeitraum verbleiben. Dennoch ist für den konkreten Einzelfall von einer zeitlichen Verfestigung, die die Grundstückssituation prägt, auszugehen. Denn einerseits wird die Fläche, auf die der Antragsteller die Paletten aufstellt, unstreitig täglich zu den Öffnungszeiten und damit stetig wiederkehrend als erweiterte Verkaufsfläche genutzt. Anderseits umfasst die Fläche – dem unwidersprochenen Vortrag der Antragsgegnerin folgend – ca. 20 m2 und weist damit eine nicht nur geringfügige Größe auf, wodurch der Eindruck einer Fläche mit eigenständigen Gewicht vermittelt wird. Letzteres wird auch durch die bei dem Ortstermin der Antragsgegnerin angefertigten und vom Antragsteller selbst zur Verfügung gestellten Fotos ersichtlich (siehe Bl. 2 und Bl. 70 BA001). Aus Sicht eines objektiven Dritten wird der Eindruck geschaffen, dass durch das wiederkehrende Aufstellen während der Öffnungszeiten die Fläche dem Antragsteller als erweiterte Verkaufsfläche dient. Die dadurch erzeugte Verfestigung der Fläche weist insoweit einen prägenden Charakter in Bezug auf das Grundstück des Antragstellers auf.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Diese als Lagerplatz zu qualifizierende Verkaufsfläche mit den Obst- und Gemüsepaletten einschließlich des Schirmes ist ohne die nach § 59 Abs. 1 NBauO erforderliche Baugenehmigung errichtet worden und damit formell illegal.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Der Lagerplatz ist nach § 59 NBauO genehmigungspflichtig, da sich aus den §§ 60 bis 62, 74 und 75 NBauO im vorliegenden Fall nichts Gegenteiliges ergibt. Insbesondere liegt keine verfahrensfreie Baumaßnahme i.S.v. § 60 Abs. 1 i.V.m. Ziff. 14.11 der Anlage der NBauO vor, da der Antragsteller die Fläche weder für die Anzucht oder den Handel mit Pflanzen oder Pflanzenteilen noch für einen land- oder forstwirtschaftlichen oder der gartenbaulichen Erzeugung dienenden Betrieb nutzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Eine insoweit erforderliche Baugenehmigung liegt aber nicht vor. Zwar umfasst die Baugenehmigung für das Gebäude vom 13. Februar 1990 eine an die nördliche Seite des Gebäudes angrenzende Anlieferfläche. Davon ist jedoch keine Erweiterung der Verkaufsfläche bzw. kein Lagerplatz erfasst, sodass – wovon die Beteiligten auch übereinstimmend ausgehen – eine Baugenehmigung nicht gegeben ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Auch stellt sich der Lagerplatz als materiell illegal dar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Zwar setzt eine nach § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 NBauO erlassene Beseitigungsanordnung neben der formellen Baurechtswidrigkeit der Anlage die grundsätzlich auch zu bejahende materielle Baurechtswidrigkeit dann nicht voraus, soweit die Beseitigung ohne einen (wesentlichen) Eingriff in die Substanz erfolgen kann (siehe OVG Lüneburg, Beschl. v. 18.05.2020 – 1 LA 150/18 –, Rn. 6 m. w. N., juris). Vorliegend kann zwar ein solch fehlender Eingriff in die Substanz angenommen werden. Dies wird bereits daraus ersichtlich, dass der Antragsteller die Obst- und Gemüsepaletten sowie den Schirm nach eigenem Vortrag täglich nach Geschäftsschluss abbaut und bei Wiederöffnung des Supermarktes wiederaufbaut. Dass er die Fläche, auf die er die Paletten und den Schirm aufbaut, baulich derart verändert hätte, dass er beim Befolgen der Beseitigungsanordnung substanzeingreifend zurückbauen o. ä. müsste, ist weder vorgetragen noch aus den in dem Verwaltungsvorgang befindlichen Fotos (siehe Bl. 1 ff. und 70 BA001) ersichtlich. Die genutzte Fläche ist nicht besonders beschaffen, vielmehr einheitlich mit der restlichen Freifläche vor dem Supermarkt (einschließlich der Einstellplätze) gepflastert und auch nicht in anderer Art und Weise hervorgehoben. Trotz fehlendem Substanzeingriff muss vorliegend dennoch die materielle Baurechtswidrigkeit für die Rechtmäßigkeit der Beseitigungsanordnung bejaht werden können, da die Antragsgegnerin diese im streitgegenständlichen Bescheid ausdrücklich geprüft und damit zum Gegenstand gerichtlicher Überprüfung gemacht hat (siehe OVG Lüneburg, Beschl. v. 11.05.2015 – 1 ME 31/15 –, Rn. 16, juris; Beschl. v. 16.10.2006 – 1 ME 171/06 –, Rn. 12 f., juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Der Lagerplatz ist als materiell bauchrechtswidrig einzustufen. Er verstößt gegen die bauplanungsrechtlich festgesetzte Baugrenze.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Zunächst ist der Lagerplatz auch bauplanungsrechtlich als bauliches Vorhaben i.S.v. von § 29 Abs. 1 des Baugesetzbuches (im Folgenden: BauGB), namentlich als Lagerstätte, einzustufen. Insoweit ist für den Begriff der Lagerstätte nach § 29 Abs. 1 BauGB der identische Maßstab wie für den Lagerplatz im Sinne der NBauO anzuwenden (siehe obige Rspr. des OVG Lüneburg für die Begriffsbestimmung des Lagerplatzes nach der NBauO, die auf der Rspr. des BVerwG, Beschl. v. 29.06.1999 – 4 B 44/99 –, Rn. 7, juris, fußt), sodass die Obst- und Gemüsepaletten sowie der Schirm aufgrund der zeitigen Verfestigung die Grundstücksituation prägt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Die Zulässigkeit dieses bauplanungsrechtlichen Vorhabens richtet sich nach § 30 Abs. 1 BauGB. Nach dieser Vorschrift ist ein Vorhaben im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes zulässig, wenn es den Festsetzungen über die Art, das Maß, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen nicht widerspricht (sog. qualifizierter Bebauungsplan).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Das Grundstück des Antragstellers liegt im räumlichen Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans K.. Der Lagerplatz widerspricht der in dem Bebauungsplan gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 BauNVO getroffenen Festsetzung über die überbaubare Grundstücksfläche mittels Baugrenzen. Durch die im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen im Bebauungsplan liegt für das Grundstück des Antragstellers ein rechteckiges Baufenster im mittleren bis südlichen Bereich vor, welches nahezu vollständig von dem Baukörper des Supermarktes ausgefüllt wird. Lediglich im südlichen Teil des Baufensters, welches zugleich den südlichen Teil des Grundstücks darstellt, wurde das Baufenster nicht bebaut. Der nördlich dem Supermarkgebäude befindliche Lagerplatz, auf dem die Obst- und Gemüsepaletten und der Schirm aufgebaut werden, liegt ausweislich der Skizze der Antragsgegnerin (Bl. 74 der Gerichtsakte) unzweideutig außerhalb des Baufensters und verstößt damit gegen § 23 Abs. 3 Satz 1 BauNVO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Diese Überschreitung der Baugrenze ist auch nicht zuzulassen, weder nach § 23 Abs. 3 Satz 2 oder Satz 3 BauNVO noch nach § 23 Abs. 5 BauNVO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Eine Zulassung nach § 23 Abs. 3 Satz 2 BauNVO setzt ein Vortreten von Gebäude- oder Anlagenteilen (siehe zur Erstreckung über den Wortlaut hinaus auch auf Anlagenteile: Blechschmidt in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 144. EL 2021, BauNVO § 23 Rn. 40) in geringfügigem Ausmaß voraus. Für die Annahme einer Geringfügigkeit darf das Ausmaß gegenüber dem Gesamtbauvorhaben nicht nennenswert ins Gewicht fallen. Ein absolutes Maß für die Bestimmung der Geringfügigkeit einer Überschreitung gibt es nicht. Erforderlich ist eine Würdigung des Einzelfalls (Hornmann in: Spannowsky/Hornmann/Kämper BeckOK BauNVO, 29. Edition 2022, § 23 Rn. 55 i.V.m. Rn. 46). Dem Gesetzeszweck läuft es dabei zuwider, wenn Vorbauten in ihrer Funktion und ihrem Zweck dazu dienen, den Baukörper auszudehnen und damit zusätzliche Wohn- oder Nutzfläche zu schaffen (siehe VGH Kassel, Beschl. v. 12.10.1995 – 4 TG 2941/95 – Ls. 4, juris; VG Hannover, Beschl. v. 30.01.2020 – 4 B 4827/19 –, n. v.). Diesen Maßstab zugrunde legend ist der Lagerplatz mit den Obst- und Gemüsepaletten nicht als geringfügig einzustufen, denn er dient vordergründig der Erweiterung der Verkaufsfläche des Supermarktes und damit der Nutzfläche des Hauptgebäudes.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Auch eine Zulassung nach § 23 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 BauNVO ist nicht einschlägig, da im maßgeblichen Bebauungsplan keine Ausnahme von der Überschreitung der Baugrenze vorgesehen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Ebenso ist der Lagerplatz nicht nach § 23 Abs. 5 BauNVO zuzulassen. Es kann offenbleiben, ob es sich bei diesem um eine für Satz 1 vorausgesetzte Nebenanlage i.S.v. § 14 BauNVO handelt, was wegen der Erweiterung der Verkaufsfläche bereits anzuzweifeln ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2017 – 4 C 9/16 –, Rn. 10, juris). Eine Zulassung scheitert jedenfalls daran, dass kein Anspruch darauf besteht. Sowohl Satz 1 als auch Satz 2 von § 23 Abs. 5 BauNVO erfordern für die zu prüfende Genehmigungsfähigkeit, dass sich das darin enthaltene behördliche Ermessen auf Null reduziert hat, damit ein Rechtsanspruch auf Zulassung außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche besteht. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Eine Ermessensreduktion ist nur anzunehmen, wenn öffentliche Belange und nachbarliche Interessen unter keinem Gesichtspunkt beeinträchtigt werden (jeweils m. w. N.: Blechschmidt in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 144. EL 2021, BauNVO § 23 Rn. 48; Hornmann in: Spannowsky/Hornmann/Kämper BeckOK BauNVO, 29. Edition 2022, § 23 Rn. 65).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Vorliegend stehen jedoch öffentliche Belange entgegen. Wie die Antragsgegnerin zutreffend anführt, berührt die Überschreitung der Baugrenze einen Grundzug der Planung. Sowohl das beschließende Gericht als auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht haben in einem vorherigen bauaufsichtlichen Verfahren des Antragstellers zu den in dem Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen bereits festgestellt, dass diese ganz wesentlich den Gebietscharakter bestimmen und mehrere städtebauliche Ziele aufweisen – namentlich eine Abgrenzung zur F. Straße sowie die Gewährleistung des erforderlichen Rhythmus im Mischgebiet in Form des gleichgeordneten Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe, wozu die nicht überbaubaren Bereiche als optischer und akustischer Puffer dienen; aus dem Bebauungsplan folgt daher die Einschätzung, die nicht überbaubaren Bereiche desto weniger für bauliche Zwecke in Anspruch nehmen zu dürfen (OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.03.2018 – 1 LA 75/17 –, n. v.; VG Hannover, Urt. v. 30.03.2017 – 4 A 4984/16 –, n. v.). Nach diesen Feststellungen widerspricht der Lagerplatz außerhalb des überbaubaren Bereichs den im Bebauungsplan niedergelegten Grundzügen, was einen Anspruch auf eine Zulassung nach § 23 Abs. 5 BauNVO ausschließt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin hat auch das ihr nach § 79 Abs. 1 NBauO eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Soweit zwar im vorliegenden Einzelfall die von der Antragsgegnerin erlassene Beseitigungsanordnung nach § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 NBauO jedenfalls zu dem Zeitpunkt ins Leere laufen könnte, in dem außerhalb der Geschäftszeiten die Obst- und Gemüsepaletten (einschließlich des Schirmes) nicht aufgestellt sind, führt dies nicht dazu, dass z. B. eine Nutzungsuntersagung nach § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 NBauO zielführender gewesen wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>Denn einerseits ist die Verkaufsfläche auch dann noch als Lagerplatz zu qualifizieren, wenn nach Geschäftsschluss die Paletten und der Schirm weggeräumt wurden. Da bei einem Lagerplatz auch regelmäßig wechselndes Gut lagern kann, ohne dass dadurch die Einstufung als Lagerplatz abgesprochen werden würde (siehe BVerwG, Beschl. v. 29.06.1999 – 4 B 44/99 –, Rn. 7, juris, für eine Lagerstätte bei einem Ausstellungsplatz von wechselnden aufgestellten Maschinen und Gerätschaften sowie die vorinstanzlichen Entscheidungen VGH München, Beschl. v. 18.02.1999 – 1 B 97.804 –, Rn. 16, juris, und VG München, Urt. v. 10.12.1996 – M 1 K 95.2485 –, Rn. 36, juris, welche insoweit eine Lagerstätte angenommen haben, wenn dort zeitweise auch keine Maschinen aufgestellt wurden), ist ein Lagerplatz nach der Gesamtbetrachtung als eine (dauerhafte) bauliche Anlage einzustufen, auch wenn dort zu gewissen Zeitpunkten kein Gut lagert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Andererseits geht von der vorliegenden Beseitigungsanordnung in Ziff. 1 des Bescheides auch dann noch eine Rechtswirkung aus, wenn auf der Verkaufsfläche keine Paletten und kein Schirm aufgestellt sind. Denn der Sinn und Zweck jedes Beseitigungsgebots liegt darin, eine Entfernung der beanstandeten Anlage auf Dauer herbeizuführen. Die innere Rechtfertigung liegt nicht in dem Ziel, die Bausubstanz in einem einmaligen Akt zu beseitigen, sondern darin, rechtmäßige Zustände herzustellen, was gerade bei leicht auf- und abbaubaren baulichen Anlagen nur erreicht werden kann, wenn die Wiedererrichtung unterbunden wird. In dieser Wirkung liegt die fortbestehende Steuerungsfunktion der Beseitigungsverfügung nach ihrer (erstmaligen) Erfüllung (OVG Greifswald, Beschl. v. 19.10.2020 – 3 M 303/20 OVG –, Rn. 11, juris; VGH Mannheim, Beschl. v. 28.03.2007 – 8 S 159/07 –, Rn. 2 m. w. N., juris; vgl. auch VGH München, Urt. v. 25.11.2014 – 9 B 13.1401 –, Rn. 34, juris). Insoweit führt bei fehlender Substanzverletzung und leicht aufbaubaren Anlagen – wie den vorliegenden Paletten und dem Schirm – die Beseitigungsanordnung und die Nutzungsuntersagung zur identischen Rechtsfolge, sodass, selbst wenn die Paletten nach Geschäftsschluss freiwillig abgebaut wurden, dauerhaft die erneute Aufstellung mit der Beseitigungsanordnung ausgeschlossen ist. Dies lässt sich im vorliegenden Fall auch dem Tenor in Ziff. 1 des Bescheides entnehmen. Dieser ordnet die Beseitigung des „dauerhaften Lagerplatzes für den täglichen Verkauf von Obst und Gemüse“ an, wodurch hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht wird, dass auch der Wiederaufbau der Paletten zu den Geschäftszeiten untersagt werden soll. Insoweit ist die Wahl der Beseitigungsanordnung statt z. B. der Nutzungsuntersagung nicht weniger zielführend. Im Übrigen führt § 79 Abs. 1 Satz 2 lediglich Regelbeispiele für mögliche bauaufsichtliche Maßnahmen an (Schriftlicher Bericht zum Entwurf einer Niedersächsischen Bauordnung (NBauO), Nds. LT-Drs. 16/4621, S. 34; Franke in: Spannowsky/Otto, BeckOK Bauordnungsrecht Niedersachsen, 22. Edition 2022, NBauO § 79 Rn. 51) und enthält nur eine beispielhafte Aufzählung von in der Praxis häufigen Maßnahmen (Franke in: Spannowsky/Otto, BeckOK Bauordnungsrecht Niedersachsen, 22. Edition 2022, NBauO § 79 Rn. 51; vgl. auch Mann in: Große-Suchsdorf, Niedersächsische Bauordnung, 10. Auflage 2020, NBauO § 79 Rn. 26). Insoweit konnte die Antragsgegnerin auch losgelöst von der in § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 NBauO aufgeführten Beseitigungsanordnung eine bauaufsichtliche Maßnahme eigener Art erlassen, sodass die im Tenor zum Ausdruck kommende dauerhafte Unterbindung des Lagerplatzes nicht ermessensfehlerhaft ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Auch das für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit erforderliche besondere Vollzugsinteresse ist gegeben. Soweit dieses bei einer Beseitigungsanordnung zwar nur ausnahmsweise anzunehmen ist, ist dies vorliegend jedoch wegen des fehlenden Eingriffs in die Substanz der baulichen Anlage, hier des Lagerplatzes, und der davon ausgehenden negativen Vorbildwirkung zu bejahen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.07.2015 – OVG 10 S 14.15 –, Rn. 19, juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.05.2010 – 1 ME 81/10 –, Rn. 6, juris; OVG Greifswald, Beschl. v. 06.02.2008 – 3 M 9/08 –, Rn. 5 ff., juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Die Androhung des Zwangsgeldes i.H.v. 5.500 € bezüglich des Lagerplatzes unter Ziff. 4 des Bescheides ist ebenfalls aller Voraussicht nach rechtmäßig. Rechtsgrundlage dafür ist § 70 Nds. Verwaltungsvollstreckungsgesetz (NVwVG) i.V.m. §§ 64 Abs. 1, 65 Abs. 1 Nr. 2, 67, 70 Nds. Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG), dessen formelle und materielle Voraussetzungen nach summarischer Prüfung erfüllt sind. Insbesondere erscheint die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Interesses des Antragstellers und des erneuten Baurechtsverstoßes durch Überschreitung der Baugrenze angemessen. In vorherigen bauaufsichtlichen Verfahren hat die Antragsgegnerin bereits Zwangsgelder i.H.v. 3.000 bis 4.000 € angedroht (siehe gerichtliches Verfahren zum Az. 4 B 4827/19), die den Antragsteller nicht davon abgehalten haben, erneut außerhalb der Baugrenzen eine bauliche Anlage zu errichten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Ebenfalls bestehen nach summarischer Prüfung keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Kostentragung aus Ziff. 5 des Bescheides</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (im Folgenden: GKG). Hinsichtlich des LKW orientiert sich die Höhe des Streitwertes an Ziff. 3a) und 10d) des Streitwertkataloges der Bausenate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes nach dem 1. Januar 2002, wonach ein Streitwert von 4.000 € zuzüglich eines 50%igen Zuschlages für die gewerbliche Nutzung anzusetzen war. Der sich daraus für den LKW ergebende Streitwert i.H.v. 6.000 € war nach Ziff. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NVwZ-Beilage 2013, 57 ff.) zu halbieren. Hinsichtlich des Lagerplatzes orientiert sich die Höhe des Streitwertes an Ziff. 3b) des Streitwertkataloges der Bausenate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes nach dem 1. Januar 2002. Danach setzt das Gericht für die Fläche des Lagerplatzes mit 20 m2 einen Streitwert i.H.v. von 3.000 € an und reduziert diesen aufgrund des Umstandes einer lediglich unter freiem Himmel errichteten Verkaufsfläche auf 2.000 €. Eine Reduzierung des Streitwerts nach Ziff. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NVwZ-Beilage 2013, 57 ff.) erfolgt wegen der Vorwegnahme der Hauptsache hinsichtlich des Lagerplatzes nicht. Die Streitwerte hinsichtlich des LKW und des Lagerplatzes waren gemäß § 39 Abs. 1 GKG zu addieren.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006586&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
345,902 | ovgnrw-2022-07-20-1-a-354620 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 A 3546/20 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-07-23T10:02:46 | 2022-10-17T17:55:15 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0720.1A3546.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 34,98 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers auf Gewährung einer weiteren Beihilfe für die Aufwendungen für eine psychiatrische Behandlung abgewiesen, weil die geltend gemachten Aufwendungen der Höhe nach nicht im Sinne des § 3 Abs. 1 BVO NRW angemessen seien. Die Angemessenheit der entstandenen Aufwendungen beurteile sich bei ärztlichen Leistungen grundsätzlich nach den Bestimmungen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), weil ärztliche Hilfe in aller Regel nur nach Maßgabe dieser Gebührenordnung zu erlangen sei. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 GOÄ bemesse sich die Höhe der einzelnen Gebühr nach dem Einfachen bis Dreieinhalbfachen des Gebührensatzes. Innerhalb des Gebührenrahmens seien die Gebühren unter Berücksichtigung der Schwierigkeit und des Zeitaufwandes der einzelnen Leistung sowie der Umstände bei der Ausführung nach billigem Ermessen zu bestimmen. Der 2,3-fache Gebührensatz (sog. Schwellenwert des Gebührenrahmens) bilde die nach Schwierigkeitsgrad und Zeitaufwand durchschnittliche Leistung ab; ein Überschreiten dieses Gebührensatzes sei nur zulässig, wenn Besonderheiten der in Satz 1 (des Absatzes 2) benannten Bemessungskriterien dies rechtfertigten, § 5 Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 2 GOÄ. Da das Beihilferecht in diesem Zusammenhang auf eine eigenständige Konkretisierung des Begriffs "angemessen" verzichte, sei beihilferechtlich die Kostenerstattung ebenfalls grundsätzlich auf die Gebühren beschränkt, die den Schwellenwert des Gebührenrahmens nicht überschreite, es sei denn, es lägen im Einzelfall begründete besondere Umstände vor. Überschreite die berechnete Gebühr den Schwellenwert, so bedürfe es dafür einer verständlichen und nachvollziehbaren schriftlichen Begründung, § 12 Abs. 3 Satz 1 GOÄ; auf Verlangen sei diese näher zu erläutern, § 12 Abs. 3 Satz 2 GOÄ). Nach dem Zweck des Begründungserfordernisses, dem Patienten eine lediglich grobe Handhabe zur Einschätzung der Berechtigung des geltend gemachten Gebührenanspruchs zu geben, seien einerseits keine überzogenen Anforderungen an eine ausreichende Begründung zu stellen. Andererseits müsse diese aber geeignet sein, das Vorliegen solcher Umstände nachvollziehbar zu machen, die nach dem materiellen Gebührenrecht in der Sache eine Überschreitung des Schwellenwerts rechtfertigen könnten. Hierzu bedürfe es nicht notwendigerweise einer ausführlichen ärztlichen Stellungnahme. Es könnten (unter formalen Gesichtspunkten) auch Stichworte genügen, um die erforderlichen besonderen Umstände aufzuzeigen. Allerdings müssten in der Begründung Besonderheiten im Sinne des § 5 Abs. Satz 4 i. V. m. Satz 1 GOÄ inhaltlich in verständlicher und nachvollziehbarer Weise angeführt werden. Dies erfordere insbesondere eine Darlegung dazu, dass die geltend gemachten Besonderheiten gerade bei dem betreffenden Patienten, also abweichend von der großen Masse der Behandlungsfälle, aufgetreten seien. Dem Ausnahmecharakter des Überschreitens des Schwellenwerts widerspräche es, wenn schon eine vom Arzt allgemein oder häufig, jedenfalls nicht nur bei einzelnen Patienten wegen in ihrer Person liegender Schwierigkeiten, angewandte Verfahrensweise bei der Ausführung einer im Gebührenverzeichnis beschriebenen Leistung als eine das Überschreiten des Schwellenwerts rechtfertigende Besonderheit angesehen würde. Die in der Regel einzuhaltende Spanne zwischen dem einfachen Gebührensatz und dem Schwellenwert sei nicht nur für einfache oder höchstens durchschnittlich schwierige und aufwändige Behandlungsfälle zur Verfügung gestellt; sie decke vielmehr auch die Mehrzahl der schwierigeren und aufwändigeren Behandlungsfälle ab, wenn sich nicht ausnahmsweise aus im Einzelfall gegebenen Erschwernissen Besonderheiten ergäben. Die für die Überschreitung des Schwellenwerts von dem behandelnden Arzt gemachten Erläuterungen genügten diesen Anforderungen nicht. Die Beklagte habe im Rahmen der Klageerwiderung ausgeführt, mit Ziffer 801 GOÄ werde bereits eine eingehende ärztliche Untersuchung ggf. unter Einschaltung einer Kontakt- bzw. Bezugsperson und mit Ziffer 806 eine psychiatrische Behandlung durch Exploration und eingehendes therapeutisches Gespräch auch in akuter Konfliktsituation mit einer Mindestdauer von 20 Minuten abgegolten. Eine Begründung, die pauschal auf eine akute Konfliktsituation und eine erhebliche Überschreitung der Gesprächszeit zur Rechtfertigung des 3,5 fachen Satzes abstellt, genüge daher nicht den dargestellten Anforderungen an eine Begründung des Überschreitens des Schwellenwertes. Dem habe der Kläger nichts Substanzielles entgegengesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Berufung hiergegen ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013– 1 A 106/12 –, juris, Rn. 2 f., m. w. N.; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Zulassungsvorbringen des Klägers in dem Schriftsatz vom 12. Januar 2021 rechtfertigt – ungeachtet dessen, ob es die genannten Darlegungsanforderungen erfüllt – die begehrte Zulassung der Berufung nicht wegen der allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Zweifel solcher Art sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht geltend, es sei nicht erkennbar, wie eine Abweichung vom Durchschnittscharakter in anderer Weise als hier geschehen verständlich und nachvollziehbar begründet werden solle. Es müsse ausreichen, dass die Überschreitung der Gesprächszeit als „erheblich“ bezeichnet werde und ferner angeführt werde, dass es sich um eine „außerordentlich schwierige Intervention“ gehandelt habe.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dieses Vorbringen stellt die Annahme des Verwaltungsgerichts, die vom behandelnden Arzt abgegebene Begründung für den Ansatz des 3,5fachen Gebührensatzes sei nicht ausreichend, offensichtlich nicht in Frage. Der Kläger hat weiterhin nicht dargelegt, warum und nach welchem Maßstab sich die Überschreitung der Gesprächszeit als erheblich bzw. die Intervention als außerordentlich schwierig dargestellt haben soll. Ohne solche weiteren Angaben erschöpft sich die angeführte Begründung ersichtlich in bloßen, letztlich völlig nichtssagenden Behauptungen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
|
345,901 | olgbs-2022-07-20-1-uf-18020 | {
"id": 602,
"name": "Oberlandesgericht Braunschweig",
"slug": "olgbs",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 1 UF 180/20 | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-07-23T10:00:37 | 2022-10-17T17:55:15 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div><dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Berichtigung der Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung vom 31.05.2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl></div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong> I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beteiligten wurden vor dem Senat in mündlicher Verhandlung in den Sitzungen vom 09.05.2022, 23.05.2022 und 31.05.2022 angehört. Vermerke darüber wurden während der Termine diktiert und aufgenommen, die Abschriften den Beteiligten jeweils zeitnah übersandt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Mit Schriftsätzen vom 15.06.2022 und 16.06.2022 beanstandet die Beschwerdeführerin eine unrichtige Protokollierung ihrer eigenen Äußerungen, der ihrer Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwältin K.-W. sowie eine fehlende Wiedergabe von Äußerungen des Kindesvaters, der Verfahrensbeiständin und ihres Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt L. in der Sitzung vom 31.05.2022, die sie für von wesentlicher Bedeutung hält. Wegen der konkret beanstandeten Formulierungen und Wiedergaben wird auf die dortigen Ausführungen verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Beschwerdeführerin beantragt mit Schriftsatz vom 16.06.2022</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Protokollberichtigung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Beschwerdegegner beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">den Antrag der Kindesmutter auf Berichtigung des Protokolls vom 16.06.2022 zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Er ist der Ansicht, dass das Protokoll zutreffend und vollständig sei, zumal die Wertung dessen, was wesentlich sei, allein dem Senat obliege. Wegen der Einzelheiten seines Vorbringens wird auf den Schriftsatz vom 14.07.2022 Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Die weiteren Beteiligten haben zu den beanstandeten Protokollierungen keine Stellungnahmen abgegeben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Berichtigung der Niederschrift der Sitzung vom 31.05.2022 ist zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) kennt keine Vorschrift, die die Berichtigung gerichtlicher Protokolle und Vermerke ausdrücklich regelt. Die Vorschriften der §§ 159 ff. ZPO finden im vorliegenden Verfahren keine Anwendung, da Verfahrensgegenstand die elterliche Sorge ist, so dass die nur für Familienstreitsachen geltende Verweisung in § 113 Abs. 1 FamFG nicht greift (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 13.08.2015, 1 WF 64/15 - juris Rn. 3). In entsprechender Anwendung von § 42 FamFG können daher lediglich Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten berichtigt werden (OLG Köln, Beschluss vom 30.12.2021, I-2 Wx 336/21 - juris Rn. 9; Keidel/Sternal, Kommentar zum FamFG, 20. Auflage 2020, § 28 Rn. 31; Bahrenfuss/Rüntz, Kommentar zum FamFG, 3. Auflage 2017, § 28 Rn. 46).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Derartige offenbare Unrichtigkeiten ergeben sich in Bezug auf die Sitzung vom 31.05.2022 weder aus der Stellungnahme des Beschwerdegegners noch aus der Erinnerung der Mitglieder des Senats. Danach wurde die Niederschrift vielmehr während der Verhandlung in Gegenwart der Beteiligten diktiert und diesen durchgehend Gelegenheit gegeben, das Diktat der eigenen Formulierungen wie das der übrigen Beteiligen zu beanstanden und richtigstellen zu lassen. Diese Gelegenheit wurde von der Kindesmutter und ihren Verfahrensbevollmächtigten auch vielfach genutzt, womit Missverständnisse fortlaufend aufgeklärt wurden und Richtigstellungen erfolgt sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Dies gilt insbesondere auch, soweit die Beschwerdeführerin nunmehr vorträgt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>- sie habe nicht gesagt, dass es ihr unverständlich sei, weshalb der Vater J. in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) oder in einer anderen Institution unterbringen lassen wolle, sondern dass es ihr unverständlich sei, dass der Vater J. keiner umfangreichen qualifizierten Diagnostik unterziehen wolle und es Vorschläge seitens des Vaters gebe, J. in eine andere Institution – in einem Heim – unterbringen zu lassen;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>- sie habe nicht gesagt, dass sie die Informationen zu J. schulischer und seelischer Situation nicht zeitnah von dem Vater erhalten habe, sondern dass der Vater sie hinsichtlich der schulischen Entwicklung, aber auch zum Gesundheitszustand des Kindes gar nicht informiert habe und Schulzeugnisse sowie Informationen über die Psychotherapie und die Schulassistenz selbst nach Aufforderung des Gerichts nicht vorgelegt habe; der Vater habe von J. großen Schwierigkeiten der Schule bereits seit September gewusst; dies sei ihr alles bewusst verheimlicht worden;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>- sie habe nicht gesagt, dass die Tonaufnahme abbreche, sondern dass die Aufnahme unklar sei, was darauf zurückzuführen sei, dass Stimmen oder das Geschrei zu laut werde;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>- sie habe nicht gesagt, dass es sich ihres Erachtens um ein System im väterlichen Haushalt handele, das J. keinen Kontakt in der Freizeit zu Freunden ermögliche, sondern dass der Kindesvater ein System ausbauen wolle, in dem J. keinerlei Kontakt zur Mutter haben solle und diese keinerlei Kontakt zu J. sozialem Umfeld;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>- sie habe nicht gesagt, dass sie in der Vergangenheit keinen Umgang mit J. gehabt habe, sondern dass sie seit dem Umgangsausschluss im Juni 2021 mit J. kaum Umgang gehabt habe;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>- sie habe nicht gesagt, dass J. mit ihr keine Ferienzeiten gemeinsam verbracht habe, sondern dass er mit ihr im letzten Jahr keine Ferienzeiten gemeinsam verbracht habe;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>- sie habe nicht gesagt, dass sie sich hinsichtlich des Umgangs mit dem abgeben müsse, was der Vater ihr bewillige.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Soweit die Beschwerdeführerin insoweit nunmehr rügt, dass ihre Aussagen teilweise offenbar missverstanden, verdreht und inhaltsverkürzt festgehalten worden seien und ihr zudem Aussagen in den Mund gelegt worden seien, kann dem nicht gefolgt werden. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen des Beschwerdegegners, wonach Divergenzen zwischen dem Gesagten und dem Protokollierten nicht festgestellt worden seien, obwohl der Vortrag der Kindesmutter, ihrer Verfahrensbevollmächtigten sowie dessen Protokollierung im Termin aufmerksam verfolgt worden sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das FamFG ausdrückliche Vorgaben über die Form und den Inhalt der zu fertigenden Niederschrift oder für die Abgabe von Erklärungen zur Niederschrift des Gerichts nicht enthält (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.08.2020, 5 UF 113/20 - juris Rn. 21; KG Berlin, Beschluss vom 20.12.2016, 25 UF 23/16 - juris Rn.1). Zwar hat das Beschwerdegericht gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG i.V.m. § 28 Abs. 4 FamFG über Termine und persönliche Anhörungen einen Vermerk zu fertigen, dieser unterliegt regelmäßig jedoch nicht den Förmlichkeiten eines Protokolls nach § 160 ZPO. Anderes gilt gemäß § 36 Abs. 2 FamFG lediglich bei der Protokollierung eines Vergleichs (KG Berlin, Beschluss vom 20.12.2016, 25 UF 23/16 - juris Rn.1) oder in Bezug auf Anträge, um der Form des § 25 Abs. 1 FamFG Genüge zu tun (Bahrenfuss/Rüntz, a.a.O., § 28 Rn. 43). In den Vermerk sind gemäß § 28 Abs. 4 Satz 2 FamFG lediglich die wesentlichen Vorgänge des Termins und der persönlichen Anhörung aufzunehmen. Als wesentliche Vorgänge sind neben anwesenden Personen, Ort und Zeit des Termins in erster Linie solche Umstände anzusehen, die unmittelbare Entscheidungserheblichkeit besitzen. Außerdem sind in dem Vermerk die in einem Termin gegebenen Hinweise des Gerichts zu dokumentieren, um die in § 28 Abs. 3 FamFG begründete Pflicht, diese aktenkundig zu machen, zu erfüllen (BT-Drucks. 16/6308 Seite 187). Des Weiteren sollten Anträge und sonstige Verfahrenserklärungen der Beteiligten, mündlich verkündete Beschlüsse sowie Anordnungen des Gerichts aufgenommen werden. Ob und inwieweit nicht entscheidungserheblicher tatsächlicher Vortrag und im Termin geäußerte Rechtsansichten der Beteiligten der Dokumentation bedürfen, ist im Einzelfall zu entscheiden (vgl. Bahrenfuss/Rüntz, a.a.O., § 28 Rn. 36). Der Gesetzgeber hat insoweit bewusst davon abgesehen, Mindestvoraussetzungen über Form und Inhalt dieses Vermerks aufzustellen und die Dokumentation in das Ermessen des Gerichts gestellt, damit es den Vermerk flexibel nach den Anforderungen des Einzelfalls ausgestalten kann (vgl. BT-Drucks. 16/6308 S. 187). Eine umfassende Protokollierung des Inhalts des Termins ist grundsätzlich nicht erforderlich (KG Berlin, Beschluss vom 20.12.2016, 25 UF 23/16 - juris Rn. 1-5; Bahrenfuss/Rüntz, a.a.O., § 28 Rn. 39).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Diesen Anforderungen genügt der Vermerk über den Termin vom 31.05.2022. Der Senat erachtet das entscheidungserhebliche Vorbringen der Beteiligten als hinreichend und zutreffend erfasst. Einer weiteren vereinzelten Dokumentation bedarf es nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Vorbringens der Beschwerdeführerin,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>- dass sie auf wissenschaftliche Studien zur Auswirkung der Störung des Bindungssystems auf das Lernen hingewiesen habe;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>- dass sie ausgeführt habe, dass der Schriftsatz des Kindesvaters vom 20.05.2022 belege, dass er es gut finde, wenn J. zwischen den Welten hin und her switche und nach seiner Ansicht allein die Zwischenwelten ein Problem darstellten;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>- dass sie angegeben habe, dass J. erstmals vor Ostern zehn Tage am Stück und über Himmelfahrt fünf Tage bei ihr gewesen sei, dafür viele andere Umgangstage durch den Vater hintertrieben worden seien, indem diese einfach gestrichen, ausgefallen lassen und eingeschränkt worden seien; der Vater den Mittwochsumgang auf Freitag verlegen wolle, obwohl sie an den umgangsfreien Freitagen einen seit einem Semester im Voraus fixierten Blockunterricht mit 200 Studierenden habe und in den Monaten Juli und August nicht tauschen könne;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>- dass sie die Hoffnung habe, dass nach einer Rückplatzierung zu ihr und einer umfassenden Diagnostik mit Differenzial-Diagnostik J. seelische Situation und entsprechende Schädigung heilen könne;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>- dass sie es als erschreckend empfinde, dass der Vater gegenüber Frau Dr. P. und Frau Dr. A.-S. eine alleinige Sorge angegeben habe und er nach ihrer Ansicht damit Institutionen und Behörden, Ärzte, Psychologen und sogar Krankenhäuser absichtlich in die Irre geführt und Falschangaben zulasten seines Sohnes gemacht habe;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>- dass sie darauf hingewiesen habe, dass mit der Rückstufung in die erste Klasse erneut ein Wechsel im sozialen Umfeld stattgefunden habe und J. überhaupt noch nicht angekommen sei;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>- dass sie darauf hingewiesen habe, dass J. häufig Kontakt zu ihren Eltern und ihrer Schwester gehabt habe, die er sehr liebe; sie diesen Kontakt weiter fördere; ihre Schwester Grundschullehrerin ohne eigene Kinder und J. das einzige Enkelkind der Großeltern sei;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>- dass sie gebeten habe zu beachten, dass J. durch die Großmutter bereits recht gut koreanisch gelernt habe, was drohe verloren zu gehen und auch dieses ein Teil seiner Identität sei;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>- dass sie die Verfahrensbeiständin gefragt habe, ob es J. Wille sei, im väterlichen Haushalt zu leben und diese ihr darauf nicht geantwortet habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Nahezu alle genannten Punkte finden sich in der Niederschrift vom 31.05.2022.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Teilweise wurden die von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Ergänzungen nach der Erinnerung der Mitglieder des Senats in der Verhandlung jedoch tatsächlich nicht geäußert, was beispielsweise hinsichtlich der Unterrichtsverpflichtungen an Freitagen gilt. Zudem wurde den Beteiligten im Termin auch Gelegenheit gegeben, das für sie Wesentliche protokollieren zu lassen, was seitens der Beschwerdeführerin beispielsweise im Hinblick auf die Äußerungen zu wissenschaftlichen Studien zum Lernen nicht erfolgt ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Entsprechendes gilt, soweit die Beschwerdeführerin das Fehlen von Äußerungen des Kindesvaters und der Verfahrensbeiständin zu der Tonaufnahme in der Niederschrift beanstandet. Sie führt aus, dass sie deren Bestreiten, dass darauf ihre Stimmen zu hören zu seien, als Angaben von hinreichender Bedeutung und für den wesentlichen Inhalt der ausgiebig protokollierten Anhörung halte. Denn darin liege eine falsche Angabe vor Gericht wider besseren Wissens durch den Vater als auch seitens der Verfahrensbeiständin. Insoweit ergibt sich jedoch bereits aus der Niederschrift - dort Seite 9 -, dass die als Anlage zum Schriftsatz von Rechtsanwalt L. vom 24.05.2022 den übrigen Beteiligten nach deren ausdrücklichem und übereinstimmenden Bekunden vor dem Termin am 31.05.2022 noch nicht zugegangen war und - dort Seite 12 -, dass der Senat dessen ungeachtet zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Tonaufnahme dem Ereignis am 01.10.2020 zuzuordnen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Im Übrigen hat der Beschwerdegegner erklärt, dass er nicht bestätigen könne, dass wesentliche Aussagen von ihm nicht vollständig oder falsch im Protokoll wiedergegeben worden seien. Vielmehr gebe es seinen Sachvortrag zutreffend und vollständig wieder; anderweitigen Formulierungen würde widersprochen. Dies gelte insbesondere, soweit ihm Sachvortrag unterstellt werde, den er in dieser Gestalt nicht getätigt habe, zumal es auch insoweit allen Beteiligten im Termin jederzeit möglich gewesen sei, anzumerken was unterblieben sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Damit fehlt es trotz vereinzelter und wiederholter Darlegung der vorgebrachten Beanstandungen an Ansatzpunkten, die eine Berichtigung der Niederschrift über die Sitzung vom 31.05.2022 rechtfertigen könnten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE264062022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,515 | lsgbw-2022-07-19-l-9-u-237719 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 9 U 2377/19 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-09-10T10:01:33 | 2022-10-17T11:10:01 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. Juni 2019 wird zurückgewiesen.</p><p>Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der 1960 geborene Kläger war zum Unfallzeitpunkt selbstständiger Handelsvertreter in der Medienberatung und in dieser Tätigkeit bei der Beklagten freiwillig versichert. Die Versicherungssumme betrug ab dem 01.05.2017 (auf den Antrag des Klägers) 96.000 EUR. Seit November 2019 arbeitet der Kläger vollschichtig bei der Verkehrsüberwachung in S.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Im Unfallfragebogen der Beklagten gab der Kläger an, am Morgen des 24.05.2017 auf dem Weg von seinem Hotelzimmer (Landhotel B, W) zu einem Kunden (Immobilienbüro K, in K1) auf einer Gitterwendeltreppe mit dem linken Fuß umgeknickt zu sein und zunächst weitergearbeitet zu haben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Am 29.05.2017 stellte er sich beim Durchgangsarzt H, S, vor, der ein Umknicken mit dem linken Fuß auf einer Gitterwendeltreppe und ein Einknicken mit dem rechten Knie festhielt. Ferner habe der Kläger einen stechenden Schmerz in der Lendenwirbelsäule (LWS) verspürt. Er stellte einen Druckschmerz am Ansatz des Innenbandes des rechten Knie und einen Valgusschmerz fest, aber keine Instabilität und keinen Erguss. Am Außenknöchel links stellte er eine Schwellung mit Druckschmerz im Bereich des Ligamentum fibulare, zudem eine diskrete Aufklappbarkeit mit einem Finger-Boden-Abstand (FBA) von 30 cm und einen Druckschmerz und Muskelhartspann der LWS links fest. Er diagnostizierte eine Zerrung der LWS, eine Distorsion des rechten Knies und eine Distorsion im linken oberen Sprunggelenk (OSG). Unfallunabhängig bestehe ein lumbaler Bandscheibenvorfall und eine Spinalkanalstenose an der LWS. Er bescheinigte Arbeitsunfähigkeit bis 30.06.2017.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Bei Beschwerdepersistenz erfolgte eine konservative Behandlung. H berichtete nach einer Nachuntersuchung am 21.06.2017 über ein Schonhinken, eine Schwellung am Außenknöchel und einen Druckschmerz im Bereich des Ligamentum fibulare. Im Bereich der linken Hüfte sei die Innenrotation etwas eingeschränkt und schmerzhaft. Unter dem 29.06.2017 berichtete er zudem über Schmerzen im HWS-Bereich aufgrund des Schonganges.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Eine von ihm veranlasste Kernspintomographie des linken OSG vom 05.07.2017 ergab eine ödematisierte Weichteilraumforderung dorsokaudal des Außenknöchels (DD: vermutlich als Folge einer Ruptur des Ligamentum fibulotalare posterius und Ligamentum fibulocalcaneare), eine geringgradige OSG-Arthrose mit osteophytärer Randkantenausziehung und eine ausgeprägte Arthrose im TMT II-Gelenk (S1, Radiologie Zentrum S, Bericht vom 06.07.2017).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Nach einer ambulanten Untersuchung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU) T am 21.08.2017 wurden dort die Diagnosen anhaltende Schmerzen und Schwellneigung im Bereich des linken Sprunggelenkes nach OSG-Distorsion links vom 24.05.2017 mit Ruptur des Ligamentum fibulotalare posterius und fibulocalcaneare, eine endgradige Bewegungseinschränkung im linken Sprunggelenk, eine lokale Überempfindlichkeit im Bereich des Außenknöchels, Schmerzen linke Leiste bei Verdacht auf Leistenzerrung und subjektive Beschwerdehaftigkeit rechtes Kniegelenk gestellt. Unfallunabhängig bestehe ein beginnender Leistenbruch rechts mehr als links. Es wurde eine stationäre Rehabilitation im Sinne einer Komplexen-Stationären-Rehabilitation (KSR) empfohlen, die der Kläger ablehnte. Hierauf wurde eine Erweiterte Ambulante Physiotherapie (EAP-Maßnahme) rezeptiert. Weitere Untersuchungen und Behandlungen fanden u.a. beim Durchgangsarzt D am 07.09.2017 (Bl. 174 der Akten) und beim Durchgangsarzt Y am 25.09.2017 statt, der eine starke Schwellung am linken OSG und Fuß beschrieb (Bl. 266 der Akten).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Eine von Y veranlasste Kernspintomographie des linken Sprunggelenkes vom 28.09.2017 ergab einen Hinweis auf eine Rotationsanomalie im OSG, eine entsprechende chronische Überlastungssituation der Ligamente im OSG mit Tendinopathie, keine signifikante Bandruptur der Syndesmose oder der Außenbänder, auch nicht des Ligamentum fibulotalare anterius (LFTA), ferner eine chronische Insertionstendinose des LTFP an der distalen Fibula mit entsprechendem Markraumödem, ein subkutanes Ödem unter lateraler Betonung mit entsprechender Weichteilschwellung auf Höhe des Malleolus lateralis, eine deutliche und aktivierte Metatarsalgelenksarthrose MTT II, mäßiggradig MTT III, einen leichtgradigen Reizzustand bei plan-tarem und dorsalem ossärem Fersensporn und ein schmales semizirkuläres ventrolateral am unteren Sprunggelenk gelegenes Synovialganglion (K, Radiologie Zentrum S, Bericht vom 28.09.2017). Eine Kernspintomographie der Hüfte vom 10.10.2017 ergab u.a. einen sagital verlaufenden Einriss am Übergang anteriores Labrum zur Insertion der Hüftgelenkskapsel am Acetabulum mit regionalem fibrovaskulärem Reizgewebe (H1, Radiologie Zentrum S, Bericht vom 10.10.2017).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der Durchgangsarzt W1 beschrieb nach einer Untersuchung des Klägers am 26.10.2017 eine massive Schwellung, eine Ödemeinlagerung über dem Außenknöchel, Berührung kaum möglich, klinisch entweder Bursitis, DD Aktivierung der Arthrose, Beweglichkeit aufgehoben, beinahe Spitzfußstellung, Sensibilität, Durchblutung intakt, Patient kann nicht aufrecht gehen. Er stellte die Diagnose schwerer Weichteilveränderungen mit Arthrose linkes OSG und Fuß und merkte an, dass der MRT-Befund vom 29.09.2017, der nur Bandläsion und Tendinitis beschreibe, nicht zum massiven klinischen Befund passe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Weitere ambulante Untersuchungen erfolgten in der BGU T am 06.12.2017 und 15.01.2018 sowie bei H am 30.01.2018; ferner im Zentrum für ambulante Rehabilitation (ZAR) am 15.03.2018, ohne dass eine nachhaltige Beschwerdebesserung zu verzeichnen war.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Beklagte gab ein Gutachten beim D1 in Auftrag. D1 führte in seinem Gutachten vom 26.06.2018 aus, dass die Befundproblematik im Bereich des linken Sprunggelenkes zweifelsfrei als Gesundheitserstschaden angenommen werden könne. Dasselbe sei bezüglich der distorsionsbedingten Schmerzen am rechten Kniegelenk anzunehmen. Auch die erst sekundär diagnostizierte Labrum-Verletzung im Bereich des linken Hüftgelenkes sei mit dem Unfallereignis in unmittelbarem Zusammenhang zu sehen. Zum Zeitpunkt des Unfallereignisses habe eine diskrete Arthrose des linken oberen Sprunggelenkes vorgelegen, im Sinne einer klinisch stummen Schadensanlage. Die festgestellten Gesundheitsschäden seien, was die Schmerzbedingtheit angehe, nicht auf nachgewiesene Vorschädigungen zurückzuführen. Es liege eine funktionelle Belastungseinschränkung des linken Beines vor, ursächlich bedingt durch die Schmerzproblematik von Seiten des linken Hüftgelenkes und des linken oberen Sprunggelenkes. Aufgrund dieser Symptomatik sei der Kläger derzeit nicht in der Lage, längere Strecken zurückzulegen. Auch das Tragen schwerer Lasten über 10 kg erscheine nur unter Schwierigkeiten zumutbar. Es bestehe weiterhin Behandlungsbedürftigkeit, eine stationäre Rehabilitation sei zu empfehlen. Eine MdE könne erst dann festgestellt werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>In seinen beratungsärztlichen Stellungnahmen vom 24.07.2018 und 09.08.2018 vertrat K2 die Auffassung, dass das Gutachten nicht schlüssig sei und nicht nachvollzogen werden könne. Es sei nur schwerlich nachzuvollziehen, dass ein Unfallverletzter ein Jahr nach einem Unfall mit Außenbandverletzungen nicht in das Arbeitsleben zurückfinde. Die Rotationsanomalie des Außenknöchels sei nicht unfallbedingt, eine Kniedistorsion sei nach sechs Wochen ausgeheilt. Die Leistenschmerzen/Leistenhernie sei zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung weiterzubehandeln. Es liege keine Bildgebung der Hüfte/im Becken vor, die eine frische Traumafolge objektiviere. Das Bewegungsausmaß der unteren Extremitäten rechtfertige keine MdE. Es bestünden überaltersgemäße Gelenkabnutzungszeichen der Hüfte links in der Röntgenuntersuchung vom 04.10.2017. Diese seien als unfallunabhängig zu werten. Eine damit einhergehende Labrumläsion sei somit ebenfalls degenerativ einzuschätzen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Mit Bescheid vom 22.08.2018 anerkannte die Beklagte das Umknicktrauma vom 24.05.2017 als Versicherungsfall. Ferner verfügte sie, dass ein Anspruch auf Heilbehandlung über den 06.08.2018 hinaus wegen der Folgen dieses Versicherungsfalles nicht besteht und dass ein Anspruch auf Zahlung von Verletztengeld über den 06.08.2018 hinaus wegen der Folgen dieses Versicherungsfalles nicht besteht. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass als Folgen des Versicherungsfalles anzuerkennen sind: Ohne wesentliche Folgen verheilte Distorsion des linken oberen Sprunggelenkes, ohne wesentliche Folgen ausgeheilte Distorsion des rechten Kniegelenkes, folgenlos ausgeheilte Zerrung der Lendenwirbelsäule. Keine Folgen des Versicherungsfalles seien am linken Sprunggelenk: Die Folgen der vorbestehenden verschleißbedingten Arthrose mit osteophytären Randkantenausziehungen (knöcherne Ausläufer), die chronische Insertionstendinose (chronische Reizung) des LTFP (hinteres Außenband), die vorbestehende Rotationsanomalie, die vorbestehende Tarsometatarsalgelenksarthrose (MTT II und III) sowie ein Fersensporn und Synovialganglion am unteren Sprunggelenk. Keine Folgen des Unfalles seien die vorbestehenden verschleißbedingten Veränderungen mit einhergehender Labrumläsion sowie Leistenbruch links im Bereich des linken Hüftgelenkes und der linken Leiste, die Folgen des vorbestehenden lumbalen Bandscheibenvorfalles (NPP), Spinalkanalstenose der Lendenwirbelsäule und auch die psychischen Beschwerden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Mit Bescheid vom 15.11.2018 stellte die Beklagte das Ende des Anspruchs auf Verletztengeld spätestens für den 20.11.2018 fest. Mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit sei nach dem medizinischen Sachverhalt in absehbarer Zeit nicht zu rechnen und qualifizierende Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben kämen nicht in Betracht, weshalb der Verletztengeldanspruch zum Ende der 78. Woche der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit ende. Mit Bescheid vom 30.01.2019 berichtigte die Beklagte den Bescheid vom 15.11.2018 dahingehend, dass der Anspruch auf Zahlung von Verletztengeld spätestens erst am 25.11.2018 ende, sollte nachträglich ein Anspruch auf Verletztengeld über den 06.08.2018 hinaus anerkannt werden (unter Bezugnahme auf § 38 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), wonach die Behörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in einem Verwaltungsakt jederzeit berichtigen könne).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Am 07.09.2018 beantragte der Kläger beim Sozialgericht Stuttgart (SG), die Beklagte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verurteilen, ihm Verletztengeld über den 06.08.2018 zu zahlen. Unter Abweisung im Übrigen verpflichtete das SG die Beklagte, dem Kläger vorläufig Verletztengeld auch für die Zeit vom 24.09.2018 bis 25.11.2018 (dem Ende der 78. Woche, § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]) zu zahlen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Mit Widerspruchsbescheid vom 19.10.2018 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 22.08.2018 zurück. Am 16.11.2018 erhob der Kläger Klage beim SG (S 1 U 6338/18) und beantragte zuletzt, ihm Verletztengeld auch für die Zeit vom 06.08.2018 bis 26.11.2018 zu gewähren. Mit Urteil vom 14.06.2019 wies das SG die Klage ab. Hiergegen legte der Kläger Berufung zum Landesozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (L 9 U 2378/19) ein, das mit Beschluss vom 21.08.2020 das Ruhen des Verfahrens angeordnet hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Mit dem hier streitigen Bescheid vom 13.02.2019 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente ab. Zur Begründung dieser Entscheidung wiederholte sie die bereits im Bescheid vom 22.08.2018 enthaltenen Ausführungen zu den anzuerkennenden Folgen des Versicherungsfalles bzw. den Erkrankungen und Befunden, die weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung als Unfallfolgen zu berücksichtigen waren. Der gutachterlichen Einschätzung hinsichtlich der Unfallfolgen werde nicht gefolgt, weil die bereits zum Unfallzeitpunkt bestehenden deutlich degenerativ bedingten Veränderungen im Bereich des linken Sprunggelenkes, der linken Hüfte und der Wirbelsäule nicht auf das Umknicktrauma zurückgeführt werden könnten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, in seiner Erwerbsfähigkeit voll gemindert zu sein. Es sei absolut unzutreffend, dass die Unfallverletzungen folgenlos abgeheilt seien, insbesondere die Distorsion des linken oberen Sprunggelenkes, die Distorsion des rechten Kniegelenkes und die Zerrung der Lendenwirbelsäule. Insoweit verwies der Kläger auf das Gutachten von D1 und die Befundberichte der BGU T.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Mit Widerspruchsbescheid vom 25.03.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Auswertung der in dem Gutachten von D1 zur Zusammenhangsfrage erhobenen Befunde zeige, dass die auf die Folgen des Versicherungsfalls zu beziehende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit unter 20 v.H. korrekt eingeschätzt worden sei. Bereits zum Unfallzeitpunkt hätten deutlich degenerativ bedingte Veränderungen im Bereich des linken Sprunggelenkes, der linken Hüfte und der Wirbelsäule, die nicht auf den Unfall vom 24.05.2017 zurückzuführen seien, vorgelegen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Hiergegen hat der Kläger am 18.04.2019 Klage zum SG erhoben. Es sei unzutreffend, dass die Unfallfolgen folgenlos ausgeheilt seien. Auch die von der Beklagten abgelehnten Unfallfolgen seien unfallbedingt. Es handele sich hierbei nicht um sonstige Erkrankungen des Klägers. Die psychischen Beschwerden beruhten auf der stereotypen Ablehnungshaltung und Hinhaltetaktik, welche den Kläger in den wirtschaftlichen Ruin treibe, sodass auch diese unfallbedingt seien. Im Termin der mündlichen Verhandlung beantragte er, eine Verletztenrente ab 27.11.2018 nach einer MdE um wenigstens 20 v.H. zu gewähren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat darauf hingewiesen, dass es sich bei vorbestehenden degenerativen Veränderungen nicht um Unfallfolgen handeln könne. Hinsichtlich der geltend gemachten psychischen Beschwerden setzten solche eine Diagnosestellung voraus. Die Bezeichnung „psychische Beschwerden“ genüge diesen Anforderungen nicht. Nach der Argumentation im Klageverfahren handele es sich insoweit auch um keine Unfallfolge, sondern um eine enttäuschte Erwartungshaltung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Mit Urteil vom 14.06.2019 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Beklagte in der streitgegenständlichen Entscheidung die Folgen des anerkannten Unfalles zutreffend und umfassend festgestellt habe und diese funktional keine rentenberechtigende MdE um 20 v.H. verursachten. Insoweit werde auf die Begründung der Beklagten verwiesen. Ergänzend weise die Kammer darauf hin, dass der Durchgangsarzt H, den der Kläger allerdings erst am fünften Tag nach dem Unfallereignis aufgesucht habe, lediglich eine Zerrung der LWS sowie eine Distorsion des rechten Knies und im linken oberen Sprunggelenk diagnostiziert und beschrieben habe. Bei der Untersuchung habe H keine Instabilität oder einen Erguss feststellen können. Er weise zusätzlich darauf hin, dass beim Kläger unfallunabhängig ein lumbaler Bandscheibenvorfall und eine Spinalkanalstenose im Bereich der LWS vorliegen. Auch die durch die MRT-Untersuchung vom 28.09.2017 festgestellte Rotationsanomalie im oberen Sprunggelenk sei, worauf K2 für die Kammer überzeugend hingewiesen habe, als nicht unfallbedingt einzuschätzen. Dieser habe nach einer Röntgenuntersuchung vom 04.10.2017 darüber hinaus überzeugend darauf hingewiesen, dass beim Kläger überaltersgemäße Gelenkabnutzungserscheinungen im Bereich der linken Hüfte bestehen, weshalb der durch die MRT-Untersuchung vom 10.10.2017 festgestellte Einriss am Übergang des anterioren Labrums zur Insertion der Hüftgelenkskapsel ebenfalls als degenerativ und unfallunabhängig einzuschätzen sei. Die geltend gemachten psychischen Beschwerden seien schon nicht genau benannt und bezeichnet worden, was für die Feststellung als Unfallfolgen notwendig wäre. Auf die von D1 im Gutachten beschriebenen Messwerte und Funktionseinschränkungen im Bereich des linken Sprunggelenkes und des rechten Kniegelenkes ergebe sich für die Kammer unter Berücksichtigung der Zwischenberichte von S2 und H2 keine rentenberechtigende MdE. Aufgrund der mündlichen Hauptverhandlung habe die Kammer den Eindruck gewonnen, der Kläger sei darauf fixiert, dass alle bei ihm vorhandenen oder für ihn empfindbaren gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf den Unfall zurückzuführen seien. Hierfür mache er allein einen sich für ihn ergebenden zeitlichen Zusammenhang verantwortlich, ohne dabei die nachgewiesenen degenerativen Vorbefunde im Bereich des Fußes und der LWS zu beachten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Gegen das am 21.06.2019 zugestellte Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und geltend gemacht, das SG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt. Das Gutachten von D1 vom 26.06.2018 habe nach seiner Auffassung den Nachweis erbracht, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen unfallbedingt sind. Die vorangegangenen Gutachten (gemeint: Berichte) der BGU T vom 22.08.2017, 03.11.2017 und vom 06.12.2017 stünden dem nicht entgegen, denn diese hätten aufgrund der beschriebenen Diskrepanz zwischen lokaler Schmerzhaftigkeit, subjektivem Empfinden und objektiv erhobenen Befunden die Einholung eines Gutachtens angeraten, welches durch D1 vorgelegt worden sei. Die Beklagte habe kein unabhängiges Gegengutachten in Auftrag gegeben, sondern die Sache durch ihren „Haus- und Hofmediziner“ K2 beurteilen lassen. Der unfallbedingte Beeinträchtigungsstatus bestehe bis dato fort (unter Verweis auf den vorgelegten Bericht der S-Klinik B1 S gGmbH vom 11.09.2019). Das SG habe außerdem nicht berücksichtigt, dass er durch den Umstand, dass er unfallbedingt nicht mehr arbeiten könne, depressiv geworden sei. Ferner hat er den Bericht des Radiologie Zentrums S vom 19.09.2019 über eine Kernspintomographie des linken Sprunggelenkes vom 15.08.2019 vorgelegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. Juni 2019 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13. Februar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2019 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 24. Mai 2017 ab 27. November 2018 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 20 v. H. zu gewähren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="27"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Sie verweist zur Begründung auf das erstinstanzliche Urteil.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Der Senat hat mit Verfügung vom 20.08.2020 den Chefarzt Department Untere Extremität an der Sportklinik S GmbH B2 mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In dem von B2 und dem E unterzeichneten Gutachten vom 17.05.2021 wurde festgestellt, dass sich die Beschwerden am rechten Kniegelenk in keinem Befundbericht nachvollziehen ließen. D1 habe bis auf einen geringen Unterschied in der Beweglichkeit keine Auffälligkeiten bezogen auf Bandinstabilität, Reizzustand im Sinne eines Ergusses oder auch bei der Überprüfung der Menisken festgestellt. Es sei nicht nachvollziehbar, wie im Verlauf nach dem Treppensturz eine relevante Schädigung im Bereich des rechten Kniegelenkes eingetreten sein könnte. Eine gewisse Distorsion könne eingetreten sein, jedoch kein struktureller Schaden im Sinne einer anhaltenden Beschwerdesymptomatik mit klarer Diagnose eines Erstschadens. Es sei im Bereich des rechten Kniegelenkes zu keiner strukturellen Schädigung gekommen, es liege kein Gesundheitserstschaden vor. Bezogen auf die Beschwerden im Bereich der linken Hüftregion könne unter Berücksichtigung des im Gutachten beschriebenen Sturzereignisses auf der Wendeltreppe davon ausgegangen werden, dass eine gewisse Stauchung und Beugung in der Hüfte stattgefunden habe. Im Röntgenbild vom 04.10.2017 habe sich eine zentral betonte Coxarthrose mit komplett aufgehobenem Gelenkspalt und Pfannenbodenosteophyt gezeigt. Die Abspreizaufnahme zeige zudem eine knöcherne Eindellung des vorderen Schenkelhalses als Zeichen einer langjährigen Impingementproblematik. Unter Berücksichtigung des MRT der linken Hüfte vom Oktober 2017 lasse sich ein deutlicher Vorschaden feststellen, der altersbedingt nicht untypisch sei. Die Veränderungen des Schenkelhalses im vorderen Bereich sprächen für eine langjährige Kontaktzone, das heißt ein Impingement/Engpasszone. Hierbei komme es zum Einquetschen des vorderen Pfannenrandes am vorderen Schenkelhals und damit naturgemäß zur Entwicklung einer Labrumschädigung. Dass im Rahmen eines Treppenstolperns eine relevante Labrumschädigung primär entstehen könne, sei höchst unwahrscheinlich. Sie sei existent und könne durch eine normale Gelegenheitsursache im Alltag jederzeit Beschwerden verursachen. Eine unfallabhängige Labrumläsion bezogen auf das Ereignis vom 24.05.2017 sei im Rahmen eines Stolperns ohne Sturzereignis nicht möglich, weil ein Rasanztrauma mit endgradiger Beugung fehle und des Weiteren die bereits bestehende Vorschädigung der linken Hüfte des Klägers so gravierend sei, dass die Labrumläsion bereits bestanden habe und bezogen auf den Alterungsprozess des Gesamtlabrums eine typische Entwicklung sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Bezogen auf die Beschwerden im Bereich des linken Fußes sei unter Berücksichtigung der MRT-Befunde 2017 festzustellen, dass es zu keiner Schädigung der Syndesmose als wichtigstes Halteband des Wadenbeines zum Schienbein gekommen sei. Ferner sei auch das wichtigste Halteband für die Stabilität, das LFTA, in allen MRTen im Jahr 2017 als unauffällig oder nur leicht verändert dargestellt worden, ohne Anzeichen einer Ruptur. Es sei eindeutig darauf hinzuweisen, dass Berichte, die von einer kompletten Bandruptur des Außenbandapparates bezogen auf LFTA, LFC und LFTP beim Kläger sprechen, falsch seien. Das LFTA sei zu keinem Zeitpunkt anfänglich relevant geschädigt gewesen. Die Berichte lägen alle schriftlich vor und dennoch würden in ärztlichen Berichten falsche Stellungnahmen abgegeben. Als Gesundheitserstschaden liege unter Berücksichtigung der kernspintomographischen Befunde eine dorsal betonte Veränderung der Strukturen im Bandverlauf des LFTP und auch des LFC mit Auflockerung und ödematöser Veränderung vor. Im Rahmen des Unfallgeschehens an der Treppe mit Anschlagphänomen und unklarer Umknickbelastung bestehe eine Teilruptur/Teilschädigung der dorsalen Außenbänder bezüglich des LFTP und des LFC. Insgesamt zeigten die kernspintomografischen Aufnahmen von Juli und September 2017 aber auch, dass im Bereich des linken Fußes mehrere degenerative Prozesse vor dem Unfallereignis vorgelegen haben (Fersensporn und Insertionstendinopathie der Achillessehne, ventral betonte beginnende Arthrose des OSG mit Randkantenausziehungen, hochgradige Arthrose des TMT II und angrenzend III/IV, chronische Veränderungen der Fußform mit Krallenzehenbildung und Schwielenbildung an Zehen beidseits und erkennbare Plattfußkomponente). Als wesentlich seien diese unfallunabhängigen Begleiterkrankungen nicht zu sehen, jedoch erklärten sie einen verlängerten Heilungsverlauf nach dem Unfall. Der laut den Unterlagen vorliegende Behandlungszeitraum mit Auszahlung des Verletztengeldes bis 06.08.2018 sei im Rahmen der Beurteilung des körperlichen Befundes sowie der Nachbehandlung als adäquat festzusetzen. Zusätzlich sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger seit November 2019 vollschichtig beruflich tätig sei und hier im Rahmen der Verkehrsüberwachung im wechselnden Tätigkeitsfeld im Tagesverlauf mit doch anhaltendem Außeneinsatz und längeren Fahrzeiten sowie Bürotätigkeiten berufstätig sei. Die Beurteilung der MdE sei aufgrund des körperlichen Befundes mit guter Beweglichkeit des linken oberen Sprunggelenkes und einer fehlenden Instabilitätskomponente bei kernspintomografisch nur teilgeschädigter Bandstrukturen im dorsalen Sprunggelenksbereich (Außenknöchel) mit 10 v.H. zu bewerten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Der Kläger hat gegen das Gutachten eingewandt, der vom Senat beauftragte B2 habe das Gutachten nicht selbst erstattet, was sich schon aus dem Rubrum des Schreibens vom 17.05.2021 ergebe, das auf Herrn E hindeute. B2 habe ihn weder untersucht oder beurteilt, noch ein Arztgespräch geführt, sondern ihm gegenüber keine ärztliche Tätigkeit oder Begutachtung vorgenommen. Dies sei ausschließlich durch E erfolgt. Das Gutachten sei damit nicht verwertbar. Aus dem Schreiben vom 04.09.2020 ergebe sich zudem, dass B2 das Gutachten nicht habe erstellen wollen, das Schreiben des Gerichts habe ihn nicht bewogen, das Gutachten selbst zu erstellen. Ferner müsse der Kläger von der sachlichen Unbegründetheit des Gutachtens ausgehen, was sich insbesondere aus den persönlichen Anfeindungen des E gegenüber dem vorgerichtlichen Gutachter D1 ergebe. Ferner habe E versäumt, eine schmerztherapeutische Untersuchung bezogen auf ein komplex regionales Schmerzsyndrom zu veranlassen. Es sei auch deshalb wertlos, weil die vorangegangenen Behandlungsunterlagen, insbesondere die bildgebenden Aufzeichnungen weder angefordert noch verwertet worden seien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Hierzu hat B2 im Rahmen einer ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, der Vorwurf, keinen Kontakt mit dem Kläger gehabt zu haben, sei nicht korrekt. B2 hat den Ablauf der Gutachtenerstellung dargelegt und darauf hingewiesen, dass die entscheidende Frage im Gutachten auf den damaligen Unfalltag und auf die unfallabhängigen und unfallunabhängigen Schädigungen speziell in der Dokumentation nach dem Unfallereignis bezogen sei. Diese gutachterlichen Fragen seien nicht durch eine nochmalige ganz detaillierte persönliche Untersuchung durch ihn zu klären. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass die gesamte medizinische Historie seit dem Unfallgeschehen bis zum Tag der Begutachtung in der Sportklinik S keinen Anlass ergeben habe, auf diesem Fachgebiet ein Zusatzgutachten einzuholen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Der Kläger hat dem widersprochen und hält daran fest, dass ihn B2 weder untersucht noch zum medizinischen Gutachten befragt habe. Er habe auch weiterhin erhebliche Zweifel an der Unvoreingenommenheit von B2.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die nach § 151 Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor. Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Gegenstand des Rechtsstreits ist im Rahmen der zulässigen Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen der Folgen des anerkannten Arbeitsunfalles vom 24.05.2017.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Versicherungsfälle im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität; st. Rspr.; vgl. zuletzt BSG, Urteile vom 26.11.2019 - B 2 U 24/17 R -, vom 20.12.2016 - B 2 U 16/15 R -, vom 05.07.2016 - B 2 U 16/14 R - und vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R -, alle juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Gesundheitsstörung bzw. Funktionseinschränkung als Unfallfolge bei der Bemessung der MdE ist grundsätzlich u.a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis bzw. dem dadurch eingetretenen Gesundheitserstschaden und der fortdauernden Gesundheitsstörung (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen - neben der versicherten Tätigkeit - der Gesundheitserstschaden und die eingetretenen fortdauernden Gesundheitsstörungen gehören, mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gesundheitserstschaden und den fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der „wesentlichen Bedingung“. Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. die zusammenfassende Darstellung der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung im Urteil des BSG vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209 und juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Bei mehreren konkurrierenden Ursachen muss die rechtlich wesentliche Bedingung nach dem Urteil des BSG vom 09.05.2006 (a.a.O., Rdnr. 15) nicht „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“ sein. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Kommt einer der Ursachen gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist sie allein wesentliche Ursache und damit allein Ursache im Rechtssinn.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R -, SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Nach Aktenlage und mit B2 und E geht der Senat zunächst von folgendem Unfallgeschehen aus: Danach ist der Kläger am Morgen des 24.05.2017 nach Verlassen seines Hotelzimmers mit je einer Tasche in jeder Hand auf dem Weg zu einem Kunden auf der Wendeltreppe des Hotels und beim Hinabsteigen dieser Treppe mit dem linken Fuß abgerutscht und mit dem linken Außenknöchel gegen eine Treppenkante gestoßen. Hierbei ist es – wie der Kläger gegenüber E und B2 angab – nicht zu einem Sturz gekommen und auch nicht zu einem von ihm wahrgenommenen Anprallen anderer Körperregionen. Vorherrschend empfand der Kläger einen Leistenschmerz links neben dem Hauptproblem am linken Sprunggelenk und am rechten Kniegelenk, die im Durchgangsarztbericht vom 29.05.2017 angegebene Beschwerdesymptomatik an der Lendenwirbelsäule war unerheblich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Ausgehend hiervon befand sich der Kläger, und dies steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit, auf einem nach § 8 Abs. 1 SGB VII versicherten (Betriebs-)Weg, als er stolperte und es zu dem Anpralltrauma kam.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Das Gutachten B2 und E legt damit unter Berücksichtigung der gemachten Angaben als Unfallmechanismus nachvollziehbar ein Abrutschen des linken Fußes auf der Treppe mit Anschlagphänomen am Außenknöchel, mit zusätzlichem ausgleichenden Einknicken des rechten Kniegelenkes und einer Stauchung der Hüftregion, nachdem der linke Fuß durch das Abrutschen auf der Treppe wieder Halt fand, zugrunde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Im Rahmen des Unfallgeschehens, ausgelöst durch das Umknick-Ereignis ist es mit B2 als anzuerkennendem Gesundheitserstschaden zu einer Teilruptur/Teilschädigung der dorsalen Außenbänder bezüglich des LFTP (Ligamentum Fibulo-Talare posterius) und des LFC (Ligamentum Fibulo-Calcaneare) gekommen. Dies steht aufgrund der vorliegenden MRT vom 28.09.2017 (K2) und vom 15.08.2019 (W1) fest und lässt sich auch unter Berücksichtigung der von B2 angegebenen und dem Gutachten beigelegten medizinischen Fachliteratur auch biomechanisch plausibel nachvollziehen. Die Schädigung betrifft das mittlere (zwischen Wadenbein und Fersenbein – LFC-) und das hintere (Verbindung zwischen Wadenbein und Sprungbein – LFTP-) Band, nicht aber auch das vordere (Verbindung des Außenknöchels zum Sprunggelenk – LFTA- (Ligamentum Fibulo-Talare anterius)) Band.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Ferner hat B2 in Auswertung der MRT vom 28.09.2017 und in Übereinstimmung mit den Angaben des Radiologen klargestellt, dass die Syndesmose als Hauptstabilisator der sogenannten Malleolengabel nicht geschädigt ist. Damit ist eine Verschiebung zwischen Waden- und Schienbein ausgeschlossen. Eine veränderte Fibulaposition, wie teilweise spekuliert wurde, liegt damit nicht vor, wie B2 überzeugend hergeleitet und ausgeführt hat. Schließlich hat er nachvollziehbar und überzeugend belegen können, dass Berichte, die eine komplette Bandruptur des Außenbandapparates bezogen auf LFTA, LFC und LFTP annahmen, unzutreffend sind, nachdem auch das wichtigste Halteband für die Stabilität, das LFTA, in allen MRT 2017 als unauffällig oder nur leicht verändert und ohne Anzeichen einer Ruptur beschrieben ist. Dies entspricht auch dem vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Bericht des Radiologie Zentrums S vom 19.09.2019, das in Auswertung der MRT vom 15.08.2019 des linken Sprunggelenks im Vergleich zur letzten Voruntersuchung (09/2017) unverändert eine deutliche Verdickung des LFTP und des LFC, nicht aber auch eine Schädigung des LFTA befundet hatte (vgl. W1, Bl. 31 d. Akten). Durch W1 wird darüber hinaus die Einschätzung von B2 bestätigt, dass sich auch die Peroneussehnen mit einer nur diskreten Signalanhebung unauffällig darstellen. Dies stellt B2 in Übereinstimmung mit dem MRT von 2017 auch für die Zeit unmittelbar nach dem Unfall fest. Eine Schädigung der Führungsrinne der Peronealsehnen ist durch die MRT vom 28.09.2017 ausgeschlossen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Weitere Unfallfolgen liegen nicht vor, was der Senat ebenfalls dem Gutachten von B2 entnimmt. Für die Beschwerden am rechten Kniegelenk fehlt es am Nachweis eines Gesundheitserstschadens. So wurden die Beschwerden radiologisch nur einmalig am 04.10.2017 abgeklärt. Eine weiterführende MRT-Diagnostik oder auch nachweisbare Darstellung einer Schädigung des rechten Kniegelenkes findet sich in den Akten nicht. Im Gutachten vonD1 lässt sich bis auf einen geringen Unterschied in der Beweglichkeit kein auffälliger Befund hinsichtlich Bandstabilität, Reizzustand im Sinne eines Ergusses oder auch bei der Überprüfung der Menisken feststellen. Eine entsprechende Diagnose hat auch D1 nicht gestellt. Bei der gutachterlichen Untersuchung in der Sportklinik S wurde das Röntgenbild vom 04.10.2017 befundet und als altersentsprechendes Kniegelenk ohne jegliche Arthrosezeichen bei harmonischem Gelenkspalt medial und lateral beurteilt. Mit B2 ist auch für den Senat weder eine schädigende Einwirkung noch ein Gesundheitserstschaden ersichtlich, Diagnosen; die überdauernde Beschwerden erklären könnten, finden sich auch in den Befundberichten nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Bezüglich der linken Hüftregion gilt insoweit nichts wesentlich Anderes. Unter Berücksichtigung, dass es zu keinem Sturzereignis auf der Wendeltreppe gekommen war, sondern zu einem linksseitigen Fehltritt des Fußes mit einer Ausgleichsrotationsbewegung rechts, ist allenfalls davon auszugehen, dass eine gewisse Stauchung und Beugung in der Hüfte stattgefunden hat. In der Röntgenuntersuchung am 04.10.2017 zeigte sich bereits eine deutlich zentralbetonte Coxarthrose mit komplett aufgehobenem Gelenkspalt und Pfannenbodenosteophyt. Zusätzlich zeigte sich in der Abspreizaufnahme eine knöcherne Eindellung des vorderen Schenkelhalses als Zeichen einer langjährigen Impingementproblematik. Eine weitere MRT im Oktober 2017 beschreibt degenerative Veränderungen und Verkalkungsstrukturen des gesamten Labrums und einen Labrumriss in der anterioren Zone, des Weiteren klare, zum Teil komplette Knorpelschädigungen im Pfannenbereich sowie auch am Hüftkopf als Zeichen einer Arthrose. B2 hat nachvollziehbar und überzeugend unter Verweis auf medizinische Fachliteratur dargelegt, dass es sich insoweit um eine langjährige Erkrankung handelt mit einer naturgemäßen Entwicklung einer Labrumschädigung, wodurch eine traumatische Schädigung als Ursache des Labrumrisses aufgrund des Unfallherganges und der vorbestehenden degenerativen Veränderungen höchst unwahrscheinlich ist. Die Vorschädigung am Labrum war bereits existent und auch eine normale Gelegenheitsursache im Alltag hätte jederzeit Beschwerden im Bereich der linken Hüfte auslösen können. Auch die biomechanische Beurteilung des Bewegungsablaufs mit einem Stolpern ohne Sturzereignis spricht wegen eines fehlenden Rasanztraumas mit endgradiger Beugung gegen eine unfallbedingte Verursachung, weswegen auch im Bereich der linken Hüfte kein mit der hierfür erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzuerkennender Gesundheitserstschaden besteht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Aufgrund der oben ausgeführten, unfallbedingt zu berücksichtigenden Bandschädigung im Bereich des linken Fußes ist eine rentenberechtigende MdE nicht anzunehmen. Auch insoweit folgt der Senat den Ausführungen von B2. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass eine chronische Instabilität des oberen Sprunggelenkes durch die Schädigung der dorsalen Außenbandstrukturen im Übergang LFTP und LFC ohne Schädigung des LFTA nicht vorliegt. Ferner hat B2 dargelegt, dass bei erhaltenem LFTA und erhaltener Syndesmosebänder ohne Verschiebung der Fibula in der Sprunggelenksgabel – wie hier – von einer folgenlosen Ausheilung in der Regel nach einem Zeitraum von sechs bis zwölf Wochen auszugehen ist. Bei einer gut erhaltenen Beweglichkeit über den gesamten Zeitraum kann – nach den Ausführungen von B2 – auch nicht nachvollzogen werden, warum die Arbeitsfähigkeit bei der geringen Schädigung der dorsalen Außenbänder nicht im weiteren Verlauf wiedereingetreten ist. Soweit B2 nebenbefundlich im Bereich des linken Fußes eine unfallunabhängige hochgradige TMT-Arthrose II und geringer angrenzend III/IV sowie eine beginnende OSG-Arthrose ventral betont mit Tibiavorderkantenausziehung, eine Insertionstendopathie der Achillessehne und einen begleitenden plantaren Fersensporn feststellte, sind diese nach seinen Ausführungen zwar nicht wesentlich für die Entstehung der Bandschäden, sie erklären aber einen verlängerten Heilungsverlauf nach dem Unfall vom 24.05.2017, wobei die dadurch verursachte Arbeitsunfähigkeit von B1 für die Dauer bis 06.08.2018 (wie von der Beklagten anerkannt) als adäquat bestätigt wurde. Im Seitenvergleich ist das Heben und Senken des linken oberen Sprunggelenkes nach der Neutral-Null-Methode nur um 5° (Heben/Senken rechts 15-0-45 zu links 10-0-40) und damit allenfalls endgradig eingeschränkt. Im unteren Sprunggelenk ist die Einschränkung der Gesamtbeweglichkeit im Seitenvergleich um die Hälfte reduziert angegeben, dies aufgrund einer Schätzung des Sachverständigen, nachdem aufgrund der Schmerzhaftigkeit eine genaue Ausmessung nicht möglich war. Der Senat geht insoweit jedenfalls nicht von einer mit einer Versteifung des unteren Sprunggelenkes vergleichbaren Situation aus. Bei fehlender Instabilität und guter Beweglichkeit des linken OSG und nur teilgeschädigter Bandstruktur im dorsalen Sprunggelenksbereich ist eine MdE um 20 v.H. nach den Vergleichswerten in der Rentenliteratur, denen der Senat folgt, nicht erreicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>So wird in der Rentenliteratur eine MdE um 20 v.H. für einen Fersenbeinbruch mit deutlicher Abflachung des Tubergelenkwinkels, einer mittelgradigen Arthrose und schmerzhafter Wackelsteife des unteren Sprunggelenkes, einer Fehlstellung des Rückfußes im Varus- oder Valgussinn und noch ausreichender Beweglichkeit im oberen Sprunggelenk und in der Fußwurzel vorgeschlagen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. S. 713). Die Versteifung des oberen Sprunggelenkes in Funktionsstellung wird hingegen mit 15 v.H. bewertet. Eine Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenkes soll dagegen bereits eine MdE um 25 v.H. rechtfertigen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.). Im Gegensatz zu den beschriebenen Vergleichswerten beurteilt der Senat den Unfallfolgezustand beim Kläger funktionell als besser.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Bei der im Gutachten festgestellten gut erhaltenen Beweglichkeit des OSG liegt schon keine einer Versteifung des OSG oder beider Sprunggelenke vergleichbare Situation vor. Der Senat verkennt nicht, dass bei der gutachterlichen Untersuchung die Standprüfungen (Einbeinstand, Fersengang, Zehenspitzengang) links nur erschwert oder gar nicht möglich gewesen sind. Diese Belastungsminderung beruht jedoch zumindest nicht ausschließlich auf dem als Unfallfolge zu berücksichtigenden Bandschaden. Denn der Kläger leidet zudem an unfallunabhängigen arthrotischen Veränderungen im Bereich des linken Fußes (hochgradige TMT-Arthrose, also einer Arthrose der Mittelfußgelenke, die im Bericht über die MRT vom 28.09.2017 – Bl. 289 f. der Akten der Beklagten – als deutliche und aktivierte Arthrose im MTT II angegeben wurde), an einer beginnenden OSG-Arthrose mit Tibiavorderkantenausziehung und insbesondere einer Insertionstendinopathie der Achillessehne. Insertionstendinopathien sind Schmerzzustände, die durch Reizungen des osteoligamentären Übergangs entstehen, d.h. dort, wo Sehnen im Knochen inserieren. Der betroffene Muskelansatz schmerzt bei Druck und Bewegung. Kraftvolle Bewegungen, an denen der ansetzende Muskel beteiligt ist, führen zu einer Schmerzverstärkung (Belastungsschmerz). Zusätzlich besteht ein Druck- und Dehnungsschmerz (vgl. https://www.flexikon.doccheck.com zu dem Stichwort Insertionstendinopathie, abgerufen am 08.07.2022). Ferner bestehen die Belastung einschränkende und Schmerzen verursachende Einschränkungen unfallunabhängig von Seiten des rechten Knies und des linken Hüftgelenkes. Hierzu hat bereits D1 die Auffassung vertreten, dass für den erschwerten Einbeinstand auch die Schmerzproblematik an der linken Hüfte verantwortlich ist (vgl. dessen Gutachten Seite 6). Ferner stellt der Senat insoweit in die Beurteilung ein, dass sowohl bei der Untersuchung bei D1 als auch bei der Untersuchung in der Sportklinik S keinerlei Muskelminderung des linken Beines festzustellen waren. Damit vermag der Senat Einschränkungen, die mit einer oben beschriebenen schmerzhaften Wackelsteife nach Fersenbeinbruch mit deutlicher Abflachung des Tubergelenkwinkels und einer mittelgradigen Arthrose (die hier schon nicht unfallbedingt vorliegt) und Fehlstellung des Rückfußes vergleichbar sind, zumindest nicht unfallbedingt festzustellen. Der Senat bezieht sich hierbei auf die Einlassungen von B2, wonach bei einem 100 kg schweren, fast 2 m großen Mann, der im gesamten Verfahren angibt, sein Bein nicht belasten zu können und über Monate hinweg höchstgradige Einschränkungen erfahren zu haben ohne jede Möglichkeit der Alltagsbelastung, eine Muskelminderung im Bereich der Wade und im Bereich des Oberschenkels zu erwarten gewesen wäre und hätte aufweisen müssen. Lagen solche bereits bei der Untersuchung für das Gutachten des D1, welches im Juni 2018 und damit lange vor Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit erstellt wurde, nicht vor, spricht dies gegen eine damals bereits bestehende Funktionseinschränkung in einer Ausprägung, die eine MdE um 20 v.H. rechtfertigen könnte. Die fehlende Muskelminderung bei der Untersuchung bei B2 sieht der Senat als Beleg dafür, dass funktionelle Einschränkungen nicht in einem rentenberechtigenden Ausmaß vorliegen, da eine geltend gemachte Schonung der linken unteren Extremität aufgrund einer besonderen Schmerzhaftigkeit nicht plausibel wird. Hinzu kommt, dass außer der Einnahme von Schmerztabletten keine besondere Schmerztherapie und auch keine sonstigen weitergehenden anderen Behandlungsmaßnahmen stattfinden. Trotz Empfehlung eines operativen Vorgehens (vgl. den vorgelegten Bericht der S-Klinik S vom 11.09.2019) sah der Kläger – so die Angaben im Gutachten – auch „keinen operativen Handlungsbedarf für seinen Fuß“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Das Gutachten von D1, das sich insoweit nur zu Unfallfolgen äußerte, vermochte nicht zu überzeugen. Zu Recht weist B2 darauf hin, dass dieses – was den Vollbeweis eines Gesundheitserstschadens als auch die Kausalitätserwägungen anbelangt – nicht dem zu erwartenden Standard entspricht. Allein die Bezeichnung „die Befundproblematik im Bereich des linken Sprunggelenkes kann zweifelsfrei als Gesundheitserstschaden angenommen werden“, kann ohne die Nennung konkreter Diagnosen nicht als ausreichende Beschreibung von als Gesundheitserstschaden anzuerkennenden Gesundheitsstörungen ausreichen. Für den Fortbestand von distorsionsbedingten Schmerzen im rechten Kniegelenk findet sich ohne Darlegung konkret verletzter Strukturen keine Begründung. Eine Auseinandersetzung mit bestehenden Vorschädigungen am linken Hüftgelenk und des kausalen Zusammenhangs des Unfallgeschehens mit Blick auf die Verursachung des Labrumrisses findet sich in diesem Gutachten ebenfalls nicht. Eine über die in der tatsächlichen Untersuchung gewonnenen Befunde hinausgehende Verwertbarkeit im Sinne einer Berücksichtigung von Unfallfolgen bei der Bemessung der MdE kommt dem Gutachten daher nicht zu.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Die Einwendungen des Klägers stehen einer Verwertbarkeit des Gutachtens von B2 nicht entgegen. Das Gutachten ist verwertbar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Der Sachverständige ist zwar nach § 407a Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) nicht befugt, den Auftrag auf einen anderen zu übertragen. Soweit er sich der Mitarbeit einer anderen Person bedient, hat er diese namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben, falls es sich nicht um Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung handelt (§ 407a Abs. 2 Satz 2 ZPO). Nach der zu § 407a Abs. 2 ZPO ergangenen Rechtsprechung des BSG muss der Sachverständige die zentralen Aufgaben der Begutachtung selbst erbringen (Keller in Egle, Kappis u.a. Die Begutachtung chronischer Schmerzen, 1. Auflage 2014, S. 168/169 m.w.N.). Inwieweit die Durchführung der persönlichen Untersuchung des Probanden zum sogenannten unverzichtbaren Kern der vom Sachverständigen selbst zu erfüllenden Zentralaufgaben zählt, hängt von der Art der Untersuchung ab. Je stärker die Untersuchung auf objektivierbare und dokumentierbare organmedizinische Befunde bezogen ist, umso eher ist die Einbeziehung von Mitarbeitern möglich. Bei psychologischen und psychiatrischen Gutachten muss der Sachverständige die persönliche Begegnung mit dem Probanden und das explorierende Gespräch im wesentlichen Umfang selbst durchführen (BSG, Beschluss vom 17.04.2013 - B 9 V 36/12 B - zitiert nach juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Mit dem Gutachten zu der Frage, ob wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 24.05.2017 Gesundheitsbeeinträchtigungen vorliegen, die eine MdE in rentenberechtigenden Grad begründen, hat der Senat als Sachverständigen B2 beauftragt. Das Gutachten vom 17.05.2021 trägt die Unterschriften von B2 und des E. Noch oberhalb der Unterschriften war vermerkt „Einverstanden aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung“. Auf Nachfrage des Senats hat B2 in einer Stellungnahme vom 17.05.2021 mitgeteilt, dass er den Kläger am Untersuchungstag persönlich befragt und sich sein Sprunggelenk habe zeigen lassen, ferner habe er dann den Fuß konkret untersucht und weiter den Kläger befragt zu seinen Problemen. Der Kläger habe ihm dann ganz speziell seine Existenzängste aufgrund der schwierigen Lebenssituation geschildert. E habe die Überprüfung des Unfallgeschehens und die Überprüfung der über 1.500 Seiten vorliegenden BG-Akte sowie der Akten des Vorverfahrens und der festgehaltenen medizinischen Behandlungsabläufe oblegen. Ein Gutachtenentwurf sei dann zusammen mit E erstellt worden, der von ihm (B2) speziell und persönlich nachbearbeitet, ergänzt und konkretisiert worden sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Der Senat vermag sich angesichts dieser schlüssigen und überzeugenden Angaben nicht davon zu überzeugen, dass der Kern der fachorthopädisch-unfallchirurgischen Begutachtung nicht durch B2 selbst erfolgt ist. Deren Schwerpunkt lag im konkreten Fall aufgrund der anzustellenden Kausalitätserwägungen im Wesentlichen in der Auswertung der aktenkundigen Befunde im zeitlichen Zusammenhang, insbesondere der Berichte der behandelnden Ärzte und Kliniken, sowie in der Auswertung der vom Gericht zur Verfügung gestellten sowie im Rahmen der Begutachtung angefertigten Röntgen- und MRT-Bilder und nicht zuletzt in einer wissenschaftlich begründeten Einordnung der kausalen Zusammenhänge. Nach den Angaben des B2, an dessen Einlassungen der Senat keinen Zweifel hegt, wurde nach einer gemeinsamen Besprechung und Würdigung der Befunde eine Vorfassung des Gutachtens durch E erstellt, worauf die Durchsicht, Ergänzung und Korrektur durch ihn selbst erfolgt ist. B2 hat sich aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung mit dem Gutachten einverstanden erklärt, und es sich damit zu eigen gemacht. Ferner hat er damit persönlich die volle zivil- und strafrechtliche Verantwortung für das Gutachten übernommen. Nach § 118 SGG i.V.m. § 407a Abs. 2 Satz 2 letzter Halbsatz ZPO ist es dem Sachverständigen erlaubt, sich zur Erledigung des Gutachtensauftrags anderer Personen – auch anderer Ärzte – zu bedienen. Seine uneingeschränkte persönliche Verantwortung für das Gutachten erklärt der beauftragte Sachverständige nämlich durch seine Unterschrift mit dem sinngemäßen Zusatz, er habe die Arbeit seines qualifizierten Mitarbeiters selbst nachvollzogen und sich zu eigen gemacht, er sei aufgrund eigener Überzeugung und Urteilsbildung einverstanden (st. Rspr., vgl. z. B. BSG, Beschluss vom 15.07.2004 - B 9 V 24/03 B -, SozR 4-1750 § 407a Nr. 2, Beschluss vom 18.09.2003 - B 9 VU 2/03 B -, zit. n. juris, m.w.N.). Erst wenn aus Art und Umfang der Mitarbeit des weiteren Arztes gefolgert werden kann, der beauftragte Sachverständige habe seine – das Gutachten prägenden und regelmäßig in einem unverzichtbaren Kern von ihm selbst zu erbringenden – Zentralaufgaben delegiert (vgl. BSG, a.a.O.), ist die Grenze der erlaubten Mitarbeit überschritten und liegt ein unverwertbares Gutachten vor. Hierfür bestehen keine Anhaltspunkte, da aufgrund der im Wesentlichen auf apparativen Untersuchungen (Röntgenbilder, MRT, etc.) beruhenden Einschätzung der Unfallfolgen selbst eine weitgehende Überlassung der Gutachtenserstellung an einen anderen Arzt nicht zu beanstanden gewesen wäre, sofern sich der beauftragte Sachverständige dieses Gutachten, wie oben ausgeführt, zu eigen macht. Denn weder die Auswertung der Befunde durch E noch die schriftliche Abfassung des Gutachtens gehören in jedem Fall zu den unverzichtbaren Kernaufgaben, die der Sachverständige selbst erledigen muss. Soweit sich nicht aus der Eigenart des Gutachtenthemas ergibt, dass für bestimmte Untersuchungen die spezielle Sachkunde und Erfahrung des Sachverständigen benötigt wird, reicht es aus, wenn dieser die von Hilfskräften erhobenen Daten und Befunde nachvollzieht. Entscheidend ist, dass der Sachverständige die Schlussfolgerungen seines Mitarbeiters überprüft und durch seine Unterschrift die volle Verantwortung für das Gutachten übernimmt (BSG, Beschluss vom 30.01.2006 - B 2 U 358/05 B -, juris, m. w. N.). Damit kommt es nach Überzeugung des Senats letztlich auch nicht entscheidend darauf an, ob der Kläger nun zu Recht oder zu Unrecht behauptet, B2 nicht persönlich gesehen zu haben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Der Senat teilt auch nicht die Zweifel des Klägers an der Unvoreingenommenheit des B2, die der Kläger im Wesentlichen mit dem Verhalten des B2 gegenüber dem Gericht (Zurücksendung der Akten) und den Einlassungen des E (Anfeindungen gegenüber D1) begründet. Aus diesen Einlassungen ergibt sich schon nicht schlüssig, weshalb sich die behauptete Unvoreingenommenheit gegen die Person des Klägers gerichtet haben sollte. Dem Gutachten lässt sich an keiner Stelle eine solche Unvoreingenommenheit entnehmen. Entsprechendes wird auch vom Kläger nicht vorgetragen. Dass sich ein gerichtlich bestellter Sachverständiger kritisch mit bestehenden Vorbefunden und Gutachten auseinanderzusetzen hat, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Hierzu gehört auch die Qualifizierung eines Vorgutachtens als mangelhaft, wenn diese – wie hier – ausführlich begründet und belegt wird, auch wenn dies vom Kläger für unkollegial gehalten wird. Der Senat teilt die von B2 und E vertretene Wertung im Übrigen, worauf bereits hingewiesen wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Soweit der Kläger auch im Berufungsverfahren die Anerkennung und Berücksichtigung von psychischen Unfallfolgen geltend macht, ergibt sich insoweit nichts Anderes. Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund von solchen ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern und die aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen soll (BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R -, juris). Dies sind namentlich die Diagnosesysteme ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, sowie das DSM ((Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) in der jeweils gültigen Fassung. Der Kläger macht auch im Berufungsverfahren lediglich geltend, durch den Umstand, dass er unfallbedingt nicht mehr arbeiten könne, depressiv geworden zu sein. Dies erfüllt die oben genannten Voraussetzungen nicht. Eine konkrete Behandlung wegen solcher Einschränkungen, eine in diesem Sinne von einem Arzt gestellte Diagnose behauptet der Kläger nicht, sondern verweist auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Hierzu sah sich der Senat indes mangels hinreichender Anhaltspunkte für eine die Erwerbsfähigkeit zusätzlich beeinträchtigende Erkrankung nicht veranlasst, zumal der Kläger seit November 2019 auch wieder einer Erwerbstätigkeit vollschichtig nachgeht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Mit B2 ist auch mangels einer fachärztlichen Befundung und fehlender weiterer Anknüpfungstatsachen einem geltend gemachten komplex regionalen Schmerzsyndrom nicht weiter nachzugehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Weitere Ermittlungen von Amts wegen sind aufgrund des geklärten Sachverhaltes nicht erforderlich. Aufgrund der Verwertbarkeit des Gutachtens von B2 bestand auch keine Verpflichtung, von Amts wegen ein weiteres Gutachten einzuholen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Klägers auch im Berufungsverfahren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Die nach § 151 Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor. Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Gegenstand des Rechtsstreits ist im Rahmen der zulässigen Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen der Folgen des anerkannten Arbeitsunfalles vom 24.05.2017.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Versicherungsfälle im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität; st. Rspr.; vgl. zuletzt BSG, Urteile vom 26.11.2019 - B 2 U 24/17 R -, vom 20.12.2016 - B 2 U 16/15 R -, vom 05.07.2016 - B 2 U 16/14 R - und vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R -, alle juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Gesundheitsstörung bzw. Funktionseinschränkung als Unfallfolge bei der Bemessung der MdE ist grundsätzlich u.a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis bzw. dem dadurch eingetretenen Gesundheitserstschaden und der fortdauernden Gesundheitsstörung (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen - neben der versicherten Tätigkeit - der Gesundheitserstschaden und die eingetretenen fortdauernden Gesundheitsstörungen gehören, mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gesundheitserstschaden und den fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der „wesentlichen Bedingung“. Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. die zusammenfassende Darstellung der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung im Urteil des BSG vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209 und juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Bei mehreren konkurrierenden Ursachen muss die rechtlich wesentliche Bedingung nach dem Urteil des BSG vom 09.05.2006 (a.a.O., Rdnr. 15) nicht „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“ sein. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Kommt einer der Ursachen gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist sie allein wesentliche Ursache und damit allein Ursache im Rechtssinn.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R -, SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Nach Aktenlage und mit B2 und E geht der Senat zunächst von folgendem Unfallgeschehen aus: Danach ist der Kläger am Morgen des 24.05.2017 nach Verlassen seines Hotelzimmers mit je einer Tasche in jeder Hand auf dem Weg zu einem Kunden auf der Wendeltreppe des Hotels und beim Hinabsteigen dieser Treppe mit dem linken Fuß abgerutscht und mit dem linken Außenknöchel gegen eine Treppenkante gestoßen. Hierbei ist es – wie der Kläger gegenüber E und B2 angab – nicht zu einem Sturz gekommen und auch nicht zu einem von ihm wahrgenommenen Anprallen anderer Körperregionen. Vorherrschend empfand der Kläger einen Leistenschmerz links neben dem Hauptproblem am linken Sprunggelenk und am rechten Kniegelenk, die im Durchgangsarztbericht vom 29.05.2017 angegebene Beschwerdesymptomatik an der Lendenwirbelsäule war unerheblich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Ausgehend hiervon befand sich der Kläger, und dies steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit, auf einem nach § 8 Abs. 1 SGB VII versicherten (Betriebs-)Weg, als er stolperte und es zu dem Anpralltrauma kam.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Das Gutachten B2 und E legt damit unter Berücksichtigung der gemachten Angaben als Unfallmechanismus nachvollziehbar ein Abrutschen des linken Fußes auf der Treppe mit Anschlagphänomen am Außenknöchel, mit zusätzlichem ausgleichenden Einknicken des rechten Kniegelenkes und einer Stauchung der Hüftregion, nachdem der linke Fuß durch das Abrutschen auf der Treppe wieder Halt fand, zugrunde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Im Rahmen des Unfallgeschehens, ausgelöst durch das Umknick-Ereignis ist es mit B2 als anzuerkennendem Gesundheitserstschaden zu einer Teilruptur/Teilschädigung der dorsalen Außenbänder bezüglich des LFTP (Ligamentum Fibulo-Talare posterius) und des LFC (Ligamentum Fibulo-Calcaneare) gekommen. Dies steht aufgrund der vorliegenden MRT vom 28.09.2017 (K2) und vom 15.08.2019 (W1) fest und lässt sich auch unter Berücksichtigung der von B2 angegebenen und dem Gutachten beigelegten medizinischen Fachliteratur auch biomechanisch plausibel nachvollziehen. Die Schädigung betrifft das mittlere (zwischen Wadenbein und Fersenbein – LFC-) und das hintere (Verbindung zwischen Wadenbein und Sprungbein – LFTP-) Band, nicht aber auch das vordere (Verbindung des Außenknöchels zum Sprunggelenk – LFTA- (Ligamentum Fibulo-Talare anterius)) Band.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Ferner hat B2 in Auswertung der MRT vom 28.09.2017 und in Übereinstimmung mit den Angaben des Radiologen klargestellt, dass die Syndesmose als Hauptstabilisator der sogenannten Malleolengabel nicht geschädigt ist. Damit ist eine Verschiebung zwischen Waden- und Schienbein ausgeschlossen. Eine veränderte Fibulaposition, wie teilweise spekuliert wurde, liegt damit nicht vor, wie B2 überzeugend hergeleitet und ausgeführt hat. Schließlich hat er nachvollziehbar und überzeugend belegen können, dass Berichte, die eine komplette Bandruptur des Außenbandapparates bezogen auf LFTA, LFC und LFTP annahmen, unzutreffend sind, nachdem auch das wichtigste Halteband für die Stabilität, das LFTA, in allen MRT 2017 als unauffällig oder nur leicht verändert und ohne Anzeichen einer Ruptur beschrieben ist. Dies entspricht auch dem vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Bericht des Radiologie Zentrums S vom 19.09.2019, das in Auswertung der MRT vom 15.08.2019 des linken Sprunggelenks im Vergleich zur letzten Voruntersuchung (09/2017) unverändert eine deutliche Verdickung des LFTP und des LFC, nicht aber auch eine Schädigung des LFTA befundet hatte (vgl. W1, Bl. 31 d. Akten). Durch W1 wird darüber hinaus die Einschätzung von B2 bestätigt, dass sich auch die Peroneussehnen mit einer nur diskreten Signalanhebung unauffällig darstellen. Dies stellt B2 in Übereinstimmung mit dem MRT von 2017 auch für die Zeit unmittelbar nach dem Unfall fest. Eine Schädigung der Führungsrinne der Peronealsehnen ist durch die MRT vom 28.09.2017 ausgeschlossen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Weitere Unfallfolgen liegen nicht vor, was der Senat ebenfalls dem Gutachten von B2 entnimmt. Für die Beschwerden am rechten Kniegelenk fehlt es am Nachweis eines Gesundheitserstschadens. So wurden die Beschwerden radiologisch nur einmalig am 04.10.2017 abgeklärt. Eine weiterführende MRT-Diagnostik oder auch nachweisbare Darstellung einer Schädigung des rechten Kniegelenkes findet sich in den Akten nicht. Im Gutachten vonD1 lässt sich bis auf einen geringen Unterschied in der Beweglichkeit kein auffälliger Befund hinsichtlich Bandstabilität, Reizzustand im Sinne eines Ergusses oder auch bei der Überprüfung der Menisken feststellen. Eine entsprechende Diagnose hat auch D1 nicht gestellt. Bei der gutachterlichen Untersuchung in der Sportklinik S wurde das Röntgenbild vom 04.10.2017 befundet und als altersentsprechendes Kniegelenk ohne jegliche Arthrosezeichen bei harmonischem Gelenkspalt medial und lateral beurteilt. Mit B2 ist auch für den Senat weder eine schädigende Einwirkung noch ein Gesundheitserstschaden ersichtlich, Diagnosen; die überdauernde Beschwerden erklären könnten, finden sich auch in den Befundberichten nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Bezüglich der linken Hüftregion gilt insoweit nichts wesentlich Anderes. Unter Berücksichtigung, dass es zu keinem Sturzereignis auf der Wendeltreppe gekommen war, sondern zu einem linksseitigen Fehltritt des Fußes mit einer Ausgleichsrotationsbewegung rechts, ist allenfalls davon auszugehen, dass eine gewisse Stauchung und Beugung in der Hüfte stattgefunden hat. In der Röntgenuntersuchung am 04.10.2017 zeigte sich bereits eine deutlich zentralbetonte Coxarthrose mit komplett aufgehobenem Gelenkspalt und Pfannenbodenosteophyt. Zusätzlich zeigte sich in der Abspreizaufnahme eine knöcherne Eindellung des vorderen Schenkelhalses als Zeichen einer langjährigen Impingementproblematik. Eine weitere MRT im Oktober 2017 beschreibt degenerative Veränderungen und Verkalkungsstrukturen des gesamten Labrums und einen Labrumriss in der anterioren Zone, des Weiteren klare, zum Teil komplette Knorpelschädigungen im Pfannenbereich sowie auch am Hüftkopf als Zeichen einer Arthrose. B2 hat nachvollziehbar und überzeugend unter Verweis auf medizinische Fachliteratur dargelegt, dass es sich insoweit um eine langjährige Erkrankung handelt mit einer naturgemäßen Entwicklung einer Labrumschädigung, wodurch eine traumatische Schädigung als Ursache des Labrumrisses aufgrund des Unfallherganges und der vorbestehenden degenerativen Veränderungen höchst unwahrscheinlich ist. Die Vorschädigung am Labrum war bereits existent und auch eine normale Gelegenheitsursache im Alltag hätte jederzeit Beschwerden im Bereich der linken Hüfte auslösen können. Auch die biomechanische Beurteilung des Bewegungsablaufs mit einem Stolpern ohne Sturzereignis spricht wegen eines fehlenden Rasanztraumas mit endgradiger Beugung gegen eine unfallbedingte Verursachung, weswegen auch im Bereich der linken Hüfte kein mit der hierfür erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzuerkennender Gesundheitserstschaden besteht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Aufgrund der oben ausgeführten, unfallbedingt zu berücksichtigenden Bandschädigung im Bereich des linken Fußes ist eine rentenberechtigende MdE nicht anzunehmen. Auch insoweit folgt der Senat den Ausführungen von B2. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass eine chronische Instabilität des oberen Sprunggelenkes durch die Schädigung der dorsalen Außenbandstrukturen im Übergang LFTP und LFC ohne Schädigung des LFTA nicht vorliegt. Ferner hat B2 dargelegt, dass bei erhaltenem LFTA und erhaltener Syndesmosebänder ohne Verschiebung der Fibula in der Sprunggelenksgabel – wie hier – von einer folgenlosen Ausheilung in der Regel nach einem Zeitraum von sechs bis zwölf Wochen auszugehen ist. Bei einer gut erhaltenen Beweglichkeit über den gesamten Zeitraum kann – nach den Ausführungen von B2 – auch nicht nachvollzogen werden, warum die Arbeitsfähigkeit bei der geringen Schädigung der dorsalen Außenbänder nicht im weiteren Verlauf wiedereingetreten ist. Soweit B2 nebenbefundlich im Bereich des linken Fußes eine unfallunabhängige hochgradige TMT-Arthrose II und geringer angrenzend III/IV sowie eine beginnende OSG-Arthrose ventral betont mit Tibiavorderkantenausziehung, eine Insertionstendopathie der Achillessehne und einen begleitenden plantaren Fersensporn feststellte, sind diese nach seinen Ausführungen zwar nicht wesentlich für die Entstehung der Bandschäden, sie erklären aber einen verlängerten Heilungsverlauf nach dem Unfall vom 24.05.2017, wobei die dadurch verursachte Arbeitsunfähigkeit von B1 für die Dauer bis 06.08.2018 (wie von der Beklagten anerkannt) als adäquat bestätigt wurde. Im Seitenvergleich ist das Heben und Senken des linken oberen Sprunggelenkes nach der Neutral-Null-Methode nur um 5° (Heben/Senken rechts 15-0-45 zu links 10-0-40) und damit allenfalls endgradig eingeschränkt. Im unteren Sprunggelenk ist die Einschränkung der Gesamtbeweglichkeit im Seitenvergleich um die Hälfte reduziert angegeben, dies aufgrund einer Schätzung des Sachverständigen, nachdem aufgrund der Schmerzhaftigkeit eine genaue Ausmessung nicht möglich war. Der Senat geht insoweit jedenfalls nicht von einer mit einer Versteifung des unteren Sprunggelenkes vergleichbaren Situation aus. Bei fehlender Instabilität und guter Beweglichkeit des linken OSG und nur teilgeschädigter Bandstruktur im dorsalen Sprunggelenksbereich ist eine MdE um 20 v.H. nach den Vergleichswerten in der Rentenliteratur, denen der Senat folgt, nicht erreicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>So wird in der Rentenliteratur eine MdE um 20 v.H. für einen Fersenbeinbruch mit deutlicher Abflachung des Tubergelenkwinkels, einer mittelgradigen Arthrose und schmerzhafter Wackelsteife des unteren Sprunggelenkes, einer Fehlstellung des Rückfußes im Varus- oder Valgussinn und noch ausreichender Beweglichkeit im oberen Sprunggelenk und in der Fußwurzel vorgeschlagen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. S. 713). Die Versteifung des oberen Sprunggelenkes in Funktionsstellung wird hingegen mit 15 v.H. bewertet. Eine Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenkes soll dagegen bereits eine MdE um 25 v.H. rechtfertigen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.). Im Gegensatz zu den beschriebenen Vergleichswerten beurteilt der Senat den Unfallfolgezustand beim Kläger funktionell als besser.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Bei der im Gutachten festgestellten gut erhaltenen Beweglichkeit des OSG liegt schon keine einer Versteifung des OSG oder beider Sprunggelenke vergleichbare Situation vor. Der Senat verkennt nicht, dass bei der gutachterlichen Untersuchung die Standprüfungen (Einbeinstand, Fersengang, Zehenspitzengang) links nur erschwert oder gar nicht möglich gewesen sind. Diese Belastungsminderung beruht jedoch zumindest nicht ausschließlich auf dem als Unfallfolge zu berücksichtigenden Bandschaden. Denn der Kläger leidet zudem an unfallunabhängigen arthrotischen Veränderungen im Bereich des linken Fußes (hochgradige TMT-Arthrose, also einer Arthrose der Mittelfußgelenke, die im Bericht über die MRT vom 28.09.2017 – Bl. 289 f. der Akten der Beklagten – als deutliche und aktivierte Arthrose im MTT II angegeben wurde), an einer beginnenden OSG-Arthrose mit Tibiavorderkantenausziehung und insbesondere einer Insertionstendinopathie der Achillessehne. Insertionstendinopathien sind Schmerzzustände, die durch Reizungen des osteoligamentären Übergangs entstehen, d.h. dort, wo Sehnen im Knochen inserieren. Der betroffene Muskelansatz schmerzt bei Druck und Bewegung. Kraftvolle Bewegungen, an denen der ansetzende Muskel beteiligt ist, führen zu einer Schmerzverstärkung (Belastungsschmerz). Zusätzlich besteht ein Druck- und Dehnungsschmerz (vgl. https://www.flexikon.doccheck.com zu dem Stichwort Insertionstendinopathie, abgerufen am 08.07.2022). Ferner bestehen die Belastung einschränkende und Schmerzen verursachende Einschränkungen unfallunabhängig von Seiten des rechten Knies und des linken Hüftgelenkes. Hierzu hat bereits D1 die Auffassung vertreten, dass für den erschwerten Einbeinstand auch die Schmerzproblematik an der linken Hüfte verantwortlich ist (vgl. dessen Gutachten Seite 6). Ferner stellt der Senat insoweit in die Beurteilung ein, dass sowohl bei der Untersuchung bei D1 als auch bei der Untersuchung in der Sportklinik S keinerlei Muskelminderung des linken Beines festzustellen waren. Damit vermag der Senat Einschränkungen, die mit einer oben beschriebenen schmerzhaften Wackelsteife nach Fersenbeinbruch mit deutlicher Abflachung des Tubergelenkwinkels und einer mittelgradigen Arthrose (die hier schon nicht unfallbedingt vorliegt) und Fehlstellung des Rückfußes vergleichbar sind, zumindest nicht unfallbedingt festzustellen. Der Senat bezieht sich hierbei auf die Einlassungen von B2, wonach bei einem 100 kg schweren, fast 2 m großen Mann, der im gesamten Verfahren angibt, sein Bein nicht belasten zu können und über Monate hinweg höchstgradige Einschränkungen erfahren zu haben ohne jede Möglichkeit der Alltagsbelastung, eine Muskelminderung im Bereich der Wade und im Bereich des Oberschenkels zu erwarten gewesen wäre und hätte aufweisen müssen. Lagen solche bereits bei der Untersuchung für das Gutachten des D1, welches im Juni 2018 und damit lange vor Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit erstellt wurde, nicht vor, spricht dies gegen eine damals bereits bestehende Funktionseinschränkung in einer Ausprägung, die eine MdE um 20 v.H. rechtfertigen könnte. Die fehlende Muskelminderung bei der Untersuchung bei B2 sieht der Senat als Beleg dafür, dass funktionelle Einschränkungen nicht in einem rentenberechtigenden Ausmaß vorliegen, da eine geltend gemachte Schonung der linken unteren Extremität aufgrund einer besonderen Schmerzhaftigkeit nicht plausibel wird. Hinzu kommt, dass außer der Einnahme von Schmerztabletten keine besondere Schmerztherapie und auch keine sonstigen weitergehenden anderen Behandlungsmaßnahmen stattfinden. Trotz Empfehlung eines operativen Vorgehens (vgl. den vorgelegten Bericht der S-Klinik S vom 11.09.2019) sah der Kläger – so die Angaben im Gutachten – auch „keinen operativen Handlungsbedarf für seinen Fuß“.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Das Gutachten von D1, das sich insoweit nur zu Unfallfolgen äußerte, vermochte nicht zu überzeugen. Zu Recht weist B2 darauf hin, dass dieses – was den Vollbeweis eines Gesundheitserstschadens als auch die Kausalitätserwägungen anbelangt – nicht dem zu erwartenden Standard entspricht. Allein die Bezeichnung „die Befundproblematik im Bereich des linken Sprunggelenkes kann zweifelsfrei als Gesundheitserstschaden angenommen werden“, kann ohne die Nennung konkreter Diagnosen nicht als ausreichende Beschreibung von als Gesundheitserstschaden anzuerkennenden Gesundheitsstörungen ausreichen. Für den Fortbestand von distorsionsbedingten Schmerzen im rechten Kniegelenk findet sich ohne Darlegung konkret verletzter Strukturen keine Begründung. Eine Auseinandersetzung mit bestehenden Vorschädigungen am linken Hüftgelenk und des kausalen Zusammenhangs des Unfallgeschehens mit Blick auf die Verursachung des Labrumrisses findet sich in diesem Gutachten ebenfalls nicht. Eine über die in der tatsächlichen Untersuchung gewonnenen Befunde hinausgehende Verwertbarkeit im Sinne einer Berücksichtigung von Unfallfolgen bei der Bemessung der MdE kommt dem Gutachten daher nicht zu.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Die Einwendungen des Klägers stehen einer Verwertbarkeit des Gutachtens von B2 nicht entgegen. Das Gutachten ist verwertbar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Der Sachverständige ist zwar nach § 407a Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) nicht befugt, den Auftrag auf einen anderen zu übertragen. Soweit er sich der Mitarbeit einer anderen Person bedient, hat er diese namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben, falls es sich nicht um Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung handelt (§ 407a Abs. 2 Satz 2 ZPO). Nach der zu § 407a Abs. 2 ZPO ergangenen Rechtsprechung des BSG muss der Sachverständige die zentralen Aufgaben der Begutachtung selbst erbringen (Keller in Egle, Kappis u.a. Die Begutachtung chronischer Schmerzen, 1. Auflage 2014, S. 168/169 m.w.N.). Inwieweit die Durchführung der persönlichen Untersuchung des Probanden zum sogenannten unverzichtbaren Kern der vom Sachverständigen selbst zu erfüllenden Zentralaufgaben zählt, hängt von der Art der Untersuchung ab. Je stärker die Untersuchung auf objektivierbare und dokumentierbare organmedizinische Befunde bezogen ist, umso eher ist die Einbeziehung von Mitarbeitern möglich. Bei psychologischen und psychiatrischen Gutachten muss der Sachverständige die persönliche Begegnung mit dem Probanden und das explorierende Gespräch im wesentlichen Umfang selbst durchführen (BSG, Beschluss vom 17.04.2013 - B 9 V 36/12 B - zitiert nach juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Mit dem Gutachten zu der Frage, ob wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 24.05.2017 Gesundheitsbeeinträchtigungen vorliegen, die eine MdE in rentenberechtigenden Grad begründen, hat der Senat als Sachverständigen B2 beauftragt. Das Gutachten vom 17.05.2021 trägt die Unterschriften von B2 und des E. Noch oberhalb der Unterschriften war vermerkt „Einverstanden aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung“. Auf Nachfrage des Senats hat B2 in einer Stellungnahme vom 17.05.2021 mitgeteilt, dass er den Kläger am Untersuchungstag persönlich befragt und sich sein Sprunggelenk habe zeigen lassen, ferner habe er dann den Fuß konkret untersucht und weiter den Kläger befragt zu seinen Problemen. Der Kläger habe ihm dann ganz speziell seine Existenzängste aufgrund der schwierigen Lebenssituation geschildert. E habe die Überprüfung des Unfallgeschehens und die Überprüfung der über 1.500 Seiten vorliegenden BG-Akte sowie der Akten des Vorverfahrens und der festgehaltenen medizinischen Behandlungsabläufe oblegen. Ein Gutachtenentwurf sei dann zusammen mit E erstellt worden, der von ihm (B2) speziell und persönlich nachbearbeitet, ergänzt und konkretisiert worden sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Der Senat vermag sich angesichts dieser schlüssigen und überzeugenden Angaben nicht davon zu überzeugen, dass der Kern der fachorthopädisch-unfallchirurgischen Begutachtung nicht durch B2 selbst erfolgt ist. Deren Schwerpunkt lag im konkreten Fall aufgrund der anzustellenden Kausalitätserwägungen im Wesentlichen in der Auswertung der aktenkundigen Befunde im zeitlichen Zusammenhang, insbesondere der Berichte der behandelnden Ärzte und Kliniken, sowie in der Auswertung der vom Gericht zur Verfügung gestellten sowie im Rahmen der Begutachtung angefertigten Röntgen- und MRT-Bilder und nicht zuletzt in einer wissenschaftlich begründeten Einordnung der kausalen Zusammenhänge. Nach den Angaben des B2, an dessen Einlassungen der Senat keinen Zweifel hegt, wurde nach einer gemeinsamen Besprechung und Würdigung der Befunde eine Vorfassung des Gutachtens durch E erstellt, worauf die Durchsicht, Ergänzung und Korrektur durch ihn selbst erfolgt ist. B2 hat sich aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung mit dem Gutachten einverstanden erklärt, und es sich damit zu eigen gemacht. Ferner hat er damit persönlich die volle zivil- und strafrechtliche Verantwortung für das Gutachten übernommen. Nach § 118 SGG i.V.m. § 407a Abs. 2 Satz 2 letzter Halbsatz ZPO ist es dem Sachverständigen erlaubt, sich zur Erledigung des Gutachtensauftrags anderer Personen – auch anderer Ärzte – zu bedienen. Seine uneingeschränkte persönliche Verantwortung für das Gutachten erklärt der beauftragte Sachverständige nämlich durch seine Unterschrift mit dem sinngemäßen Zusatz, er habe die Arbeit seines qualifizierten Mitarbeiters selbst nachvollzogen und sich zu eigen gemacht, er sei aufgrund eigener Überzeugung und Urteilsbildung einverstanden (st. Rspr., vgl. z. B. BSG, Beschluss vom 15.07.2004 - B 9 V 24/03 B -, SozR 4-1750 § 407a Nr. 2, Beschluss vom 18.09.2003 - B 9 VU 2/03 B -, zit. n. juris, m.w.N.). Erst wenn aus Art und Umfang der Mitarbeit des weiteren Arztes gefolgert werden kann, der beauftragte Sachverständige habe seine – das Gutachten prägenden und regelmäßig in einem unverzichtbaren Kern von ihm selbst zu erbringenden – Zentralaufgaben delegiert (vgl. BSG, a.a.O.), ist die Grenze der erlaubten Mitarbeit überschritten und liegt ein unverwertbares Gutachten vor. Hierfür bestehen keine Anhaltspunkte, da aufgrund der im Wesentlichen auf apparativen Untersuchungen (Röntgenbilder, MRT, etc.) beruhenden Einschätzung der Unfallfolgen selbst eine weitgehende Überlassung der Gutachtenserstellung an einen anderen Arzt nicht zu beanstanden gewesen wäre, sofern sich der beauftragte Sachverständige dieses Gutachten, wie oben ausgeführt, zu eigen macht. Denn weder die Auswertung der Befunde durch E noch die schriftliche Abfassung des Gutachtens gehören in jedem Fall zu den unverzichtbaren Kernaufgaben, die der Sachverständige selbst erledigen muss. Soweit sich nicht aus der Eigenart des Gutachtenthemas ergibt, dass für bestimmte Untersuchungen die spezielle Sachkunde und Erfahrung des Sachverständigen benötigt wird, reicht es aus, wenn dieser die von Hilfskräften erhobenen Daten und Befunde nachvollzieht. Entscheidend ist, dass der Sachverständige die Schlussfolgerungen seines Mitarbeiters überprüft und durch seine Unterschrift die volle Verantwortung für das Gutachten übernimmt (BSG, Beschluss vom 30.01.2006 - B 2 U 358/05 B -, juris, m. w. N.). Damit kommt es nach Überzeugung des Senats letztlich auch nicht entscheidend darauf an, ob der Kläger nun zu Recht oder zu Unrecht behauptet, B2 nicht persönlich gesehen zu haben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Der Senat teilt auch nicht die Zweifel des Klägers an der Unvoreingenommenheit des B2, die der Kläger im Wesentlichen mit dem Verhalten des B2 gegenüber dem Gericht (Zurücksendung der Akten) und den Einlassungen des E (Anfeindungen gegenüber D1) begründet. Aus diesen Einlassungen ergibt sich schon nicht schlüssig, weshalb sich die behauptete Unvoreingenommenheit gegen die Person des Klägers gerichtet haben sollte. Dem Gutachten lässt sich an keiner Stelle eine solche Unvoreingenommenheit entnehmen. Entsprechendes wird auch vom Kläger nicht vorgetragen. Dass sich ein gerichtlich bestellter Sachverständiger kritisch mit bestehenden Vorbefunden und Gutachten auseinanderzusetzen hat, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Hierzu gehört auch die Qualifizierung eines Vorgutachtens als mangelhaft, wenn diese – wie hier – ausführlich begründet und belegt wird, auch wenn dies vom Kläger für unkollegial gehalten wird. Der Senat teilt die von B2 und E vertretene Wertung im Übrigen, worauf bereits hingewiesen wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Soweit der Kläger auch im Berufungsverfahren die Anerkennung und Berücksichtigung von psychischen Unfallfolgen geltend macht, ergibt sich insoweit nichts Anderes. Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund von solchen ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern und die aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen soll (BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R -, juris). Dies sind namentlich die Diagnosesysteme ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, sowie das DSM ((Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) in der jeweils gültigen Fassung. Der Kläger macht auch im Berufungsverfahren lediglich geltend, durch den Umstand, dass er unfallbedingt nicht mehr arbeiten könne, depressiv geworden zu sein. Dies erfüllt die oben genannten Voraussetzungen nicht. Eine konkrete Behandlung wegen solcher Einschränkungen, eine in diesem Sinne von einem Arzt gestellte Diagnose behauptet der Kläger nicht, sondern verweist auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Hierzu sah sich der Senat indes mangels hinreichender Anhaltspunkte für eine die Erwerbsfähigkeit zusätzlich beeinträchtigende Erkrankung nicht veranlasst, zumal der Kläger seit November 2019 auch wieder einer Erwerbstätigkeit vollschichtig nachgeht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Mit B2 ist auch mangels einer fachärztlichen Befundung und fehlender weiterer Anknüpfungstatsachen einem geltend gemachten komplex regionalen Schmerzsyndrom nicht weiter nachzugehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Weitere Ermittlungen von Amts wegen sind aufgrund des geklärten Sachverhaltes nicht erforderlich. Aufgrund der Verwertbarkeit des Gutachtens von B2 bestand auch keine Verpflichtung, von Amts wegen ein weiteres Gutachten einzuholen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Klägers auch im Berufungsverfahren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,514 | lsgbw-2022-07-19-l-9-r-266320 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 9 R 2663/20 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-09-10T10:01:32 | 2022-10-17T11:10:01 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. Juli 2020 wird zurückgewiesen.</p><p>Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen haben.</p><p>Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 41.178,50 EUR festgesetzt.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen und Säumniszuschlägen für eine Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 im Zeitraum 01.10.2010 bis 31.12.2013 in Höhe von insgesamt 41.178,50 EUR streitig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger betreibt ein Unternehmen, das Kurierfahrten, Transporte und Speditionsdienstleistungen u. ä. anbietet. Der Beigeladene Ziff. 1 war ab 2010 als Fahrer für den Kläger tätig; für die Fahrten nutzte er die Lkw des Klägers. Für die einzelnen Fahrten wurde jeweils mündlich ein Pauschalpreis zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen Ziff. 1 vereinbart. Dieser orientierte sich an einem Stundenlohn von 8,00 EUR. Die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 hatte eine freie Handelsvertretung angemeldet und stellte über diese dem Kläger die Fahrten des Beigeladenen Ziff. 1 in Rechnung. Da weder die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 noch der Beigeladene Ziff. 1 über eine Lizenz nach § 3 Güterkraftverkehrsgesetz (GüKG) verfügten, beschäftigte der Kläger den Beigeladenen Ziff. 1 im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung. Für die vereinbarte geringfügige Beschäftigung erhielt der Beigeladene Ziff. 1 einen pauschalen Aushilfslohn in Höhe von 200,00 EUR. Dieser Betrag wurde auf die Rechnungen, die die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 dem Kläger stellte, angerechnet, dort aber nicht gesondert ausgewiesen. Ab 2013 wurde der Beigeladene Ziff. 1 bei dem Kläger abhängig beschäftigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Nach einem Ermittlungsverfahren des Hauptzollamtes S erließ das Amtsgericht (AG) S1 am 27.06.2013 einen Strafbefehl wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt für mehrere Arbeitnehmer des Klägers in Höhe von 76.800,00 EUR, der nach Einspruch des Klägers und nach Beschränkung des Einspruchs in der Hauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch auf eine Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 200,00 EUR abgeändert wurde. Der Beigeladene Ziff. 1 wurde im Rahmen der Hauptverhandlung vor dem AG Spaichingen (1 Cs 12 Js 6823/11) am 30.03.2015 als Zeuge vernommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Nach Anhörung vom 30.06.2016 forderte die Beklagte mit Bescheid vom 08.03.2017 insgesamt 41.178,50 EUR für den Prüfzeitraum vom 01.01.2010 bis zum 31.12.2013 nach. In der Nachforderung waren Säumniszuschläge in Höhe von 16.730,50 EUR enthalten. Sie begründete dies damit, dass nach Übersendung von Unterlagen durch das Hauptzollamt S festgestellt worden sei, dass für den Beigeladenen Ziff. 1 Beiträge in oben genannter Höhe nachzufordern seien. Der Beigeladene Ziff. 1 sei im Zeitraum 15.01.2010 bis 30.04.2011 als Fahrer für den Kläger tätig gewesen. Hierbei habe es sich um eine beitragspflichtige Beschäftigung gehandelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2017 als unbegründet zurück. Die Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 sei als abhängig beschäftigter Fahrer für die Firma des Klägers einzustufen. Der Beigeladene Ziff. 1 sei in die Betriebsorganisation des Klägers eingegliedert gewesen. So habe die Firma des Klägers die Aufträge akquiriert und diese an den Beigeladenen Ziff. 1 weitergegeben. In der Hauptverhandlung vor dem AG Spaichingen habe der Beigeladene Ziff. 1 angegeben, dass die Gespräche und Vereinbarungen zu Fahrten für die Firma des Klägers stets zwischen ihm und dem Kläger erfolgt seien. Die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 sei daran nicht beteiligt gewesen. Ab Übernahme eines Fahrauftrages sei der Beigeladene Ziff. 1 an dessen Inhalt gebunden gewesen. Weitergehende Freiheiten als ein Arbeitnehmer habe der Beigeladene Ziff. 1 in seiner Tätigkeit für die Firma des Klägers im Hinblick auf Art, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsausführung nicht gehabt. Der Beigeladene Ziff. 1 sei in die Betriebsorganisation eingebunden gewesen, weil er einerseits Weisungen erhalten habe, andererseits der Zeitraum durchaus vorgegeben gewesen sei. Er habe nur zu Zeiten arbeiten können, zu denen die Firma des Klägers ihm einen Lkw zur Verfügung gestellt habe. Weiterhin werde die Eingliederung dadurch deutlich, dass der Beigeladene Ziff. 1 nicht im eigenen Namen und auf eigene Rechnung gegenüber den Kunden aufgetreten sei und für seine Tätigkeit ausschließlich die Lkw der Firma des Klägers kostenlos genutzt habe. Die ausschließliche Nutzung der Lkw der Firma des Klägers habe der Beigeladene Ziff. 1 in der Hauptverhandlung vor dem AG Spaichingen eingeräumt. Der Beigeladene Ziff. 1 habe für die Tätigkeit für die Firma des Klägers kostenlos Betriebsmittel, nämlich die Lkw dieser Firma, genutzt. Ohne diese Betriebsmittel hätte der Beigeladene Ziff. 1 die Aufträge als Fahrer für die Firma des Klägers nicht durchführen können, da er keinen eigenen Lkw besitze. Der Beigeladene Ziff. 1 sei mit einer Pauschale pro Fahrtätigkeit vergütet worden. Diese sei allerdings vom Kläger vorgegeben worden. Die Bezahlung einer Pauschale bedeute nicht automatisch ein Unternehmerrisiko, denn durch die kostenlose Überlassung des Lkw durch die Firma des Klägers und die nicht vorhandene eigene Betriebsstruktur oder eigene kostenbehaftete Unternehmungen der Kundenakquise seien dem Beigeladenen Ziff. 1 keine Kosten entstanden, welche bei Verdienstausfall brachliegen würden. Darüber hinaus besitze der Beigeladene Ziff. 1 keine Erlaubnis für den gewerblichen Güterkraftverkehr nach § 3 GüKG, obwohl er nach seinen eigenen Angaben stets Lkw mit einem zugelassenen Gesamtgewicht bis 7,5 t fahre. Diese Lizenz sei jedoch lediglich dann entbehrlich, wenn der Fahrer als Angestellter eines Unternehmers Güter befördere, das über die Erlaubnis verfüge, nicht jedoch bei Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit in dieser Branche. Würde der Beigeladene Ziff. 1 die Beförderung der Güter als selbstständiger Unternehmer mit eigenem Lkw übernehmen, brauche er die Erlaubnis nach § 3 GüKG. Dass diese Voraussetzungen dem Beigeladenen Ziff. 1 und dem Kläger bekannt gewesen seien, sei dem Protokoll über die Hauptverhandlung vor dem AG Spaichingen ebenfalls zu entnehmen und werde auch vom Bevollmächtigten des Klägers eingeräumt. Dies sei der Grund dafür, dass der Kläger den Beigeladenen Ziff. 1 als geringfügig entlohnt Beschäftigten zur Sozialversicherung angemeldet, und ihm monatlich ein Entgelt in Höhe von 200,00 EUR ausgezahlt habe. Somit habe der Kläger den Anschein erwecken wollen, dass der Beigeladene Ziff. 1 ordnungsgemäß als Mitarbeiter der Firma des Klägers angestellt gewesen sei und daher ohne eigene Erlaubnis nach § 3 GüKG habe fahren dürfen. Der Beigeladene Ziff. 1 sei auch nicht bei dem Unternehmen seiner Frau abhängig beschäftigt gewesen. Er sei beauftragt gewesen, bei der Firma des Klägers Fahrten mit Lkw bis 7,5 t durchzuführen. Bei der Ausführung dieser Tätigkeiten sei der Beigeladene Ziff. 1 nicht in den Betrieb seiner Ehefrau eingegliedert gewesen. Diese hatte eine Handelsvertretung und weder die Transporttätigkeiten als Gewerbe angemeldet noch hätte sie Transporttätigkeiten in der beauftragten Art und Weise tatsächlich mit entsprechenden Betriebsmitteln betreiben können, da sie einen Lkw oder die Güterkraftverkehrserlaubnis nach § 3 GüKG nicht besessen habe. Der Beigeladene Ziff. 1 habe seine Tätigkeit als Fahrer nicht mit Fahrzeugen der Firma seiner Frau ausgeübt, sondern ausschließlich mit Lkw der Firma des Klägers. Von seiner Frau habe der Beigeladene Ziff. 1 auch keine Weisungen hinsichtlich seiner Fahrtätigkeiten erhalten. Der Kontakt habe stets zwischen dem Beigeladenen Ziff. 1 und dem Kläger bestanden. Letzterer habe dem Beigeladenen Ziff. 1 unmittelbar die Aufträge und Weisungen gegeben, habe ihm angegeben, wo der jeweilige Lkw abzuholen sei, wohin die Tour zu fahren sei, in welchem Zeitraum dies zu erfolgen habe und welche Pauschale er dafür erhalte. Die Funktion der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 habe sich darin erschöpft, Rechnungen in ihrem Namen zu schreiben, welchen die von dem Kläger vorgegebene Pauschale abzüglich der 200,00 EUR Minijobgehalt des Beigeladenen Ziff. 1 als Rechnungssumme zu entnehmen sein sollte. Diese Vorgabe zur Rechnungserstellung habe nach Angaben des Beigeladenen Ziff. 1 in der Hauptverhandlung vor dem AG Spaichingen ebenfalls vom Kläger gestammt. Eigene Weisungen habe die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 nicht erteilt. Ein unternehmerisches Handeln der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 als Unternehmerin im Transportgewerbe sei nicht vorhanden, da sie am Markt in dieser Branche nie aufgetreten sei oder Werbung betrieben habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Hiergegen hat der Kläger am 27.12.2017 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und zur Begründung vortragen lassen, die Beklagte habe nicht erkannt, dass zwei Beschäftigungsverhältnisse vorgelegen hätten, nämlich eines zwischen dem Beigeladenen Ziff. 1 und dessen Ehefrau und das geringfügige Beschäftigungsverhältnis zwischen dem Beigeladenen Ziff. 1 und dem Kläger. Der Beigeladene Ziff. 1 sei beim Kläger als geringfügig Beschäftigter angestellt, damit er neben seinem Auftragsverhältnis mit der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 in diesem Rahmen habe Fahrten übernehmen können, die er sozusagen „auf der Lizenz nach § 3 GüKG" des Klägers habe durchführen können. Zudem seien die Beitragsforderungen verjährt, da dem Kläger kein Vorsatz vorgeworfen werden könne. Dieser habe im Rahmen der Prüfung offen die Konstellation mit dem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis und den Aufträgen an das Unternehmen der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 dargelegt. Da die vorgelegten Rechnungen nicht durchgehend durchnummeriert gewesen seien, habe der Kläger davon ausgehen können, dass die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 noch andere Arbeitnehmer beschäftigt habe. Auch habe der Steuerberater des Klägers keine Einwendungen gegen diese Konstellation erhoben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit Urteil vom 28.07.2020 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung auf die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Widerspruchsbescheid verwiesen. Ergänzend hat das SG ausgeführt, die geltend gemachten Beitragsforderungen seien nicht verjährt. Dem Kläger sei vorsätzliches Handeln vorzuwerfen. Betrachte man die Vereinbarungen und die tatsächliche Durchführung insgesamt, dränge es sich geradezu auf, dass durch das Konstrukt aus Minijob bei der Firma des Klägers und Rechnungstellung über die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 der Anschein einer selbstständigen Tätigkeit geschaffen werden sollte, um wissentlich der Beitragsabführung zu entgehen, gleichermaßen aber für Kontrollen der Anschein einer ordnungsgemäßen abhängigen Beschäftigung durch Anmeldung des Minijobs bestehen sollte, da von den beteiligten Personen nur der Kläger bzw. dessen Firma über die notwendige Güterkraftverkehrserlaubnis nach § 3 GüKG verfügt habe. Es dränge sich geradezu auf, dass es sich nicht um eine parallel vorliegende abhängige Beschäftigung und eine selbstständige Tätigkeit gehandelt habe, sondern vielmehr um dieselbe Fahrtätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1, für welche vorsätzlich alle Vorteile ausgenutzt werden sollten. Dass der Kläger das notwendige Wissen um die Voraussetzungen einer realen selbstständigen Fahrtätigkeit gehabt habe, ergebe sich bereits daraus, dass er den Beigeladenen Ziff. 1 gezielt nach der Erlaubnis nach § 3 GüKG gefragt und deswegen die Idee entwickelt habe, den Beigeladenen Ziff. 1 in seiner Firma als Minijob anzumelden, um bei Überprüfungen seines Fahrers auf seinem Lkw keine negativen Folgen befürchten zu müssen. Gleichzeitig habe ihm bewusst sein müssen, dass die Fahrtätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 mit den Fahrzeugen der Firma des Klägers nur mit abhängig Beschäftigten möglich gewesen sei. Dies habe er auch so mit seinen anderen angestellten Fahrern praktiziert. Bereits der Umstand, dass für den Kläger offenkundig erkennbar gewesen sein musste, dass der Beigeladene Ziff. 1 genau die gleichen Tätigkeiten ausführte, nämlich die Fahrten, die vom Kläger vorgegeben wurden mit den Fahrzeugen des Klägers zu den vom Kläger vorgegebenen Kunden und zu den vom Kläger vorgegebenen Pauschalen zeige, dass es dem Kläger klar gewesen sein musste, dass sich hier keine abweichende Beurteilung zu den Beschäftigungen der angestellten Fahrer ergeben konnte. Auch der Umstand, dass nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung die Vergütung des Beigeladenen Ziff. 1 mit einer Höhe von 8,00 EUR pro Stunde jedenfalls nicht deutlich über dem liegen könne, was die fest angestellten Fahrer verdienten, mache klar, dass dem Kläger bewusst gewesen sein musste, dass hier kein in wesentlichen Punkten abweichendes anderes Beschäftigungsverhältnis im Vergleich zu seinen abhängig beschäftigten Fahrern bestehen konnte. Insofern biete der Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte von Gewicht für das Vorliegen von Selbstständigkeit. Dies genüge bereits, bedingt vorsätzliches Handeln zu begründen (unter Hinweis auf Landessozialgericht <LSG> Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.08.2016 - L 8 R 1095/14 B ER -). Vor diesem Hintergrund gehe das SG auch davon aus, dass die von der Beklagten erhobenen Säumniszuschläge zu Recht erhoben worden seien. Da nach Auffassung des SG von bedingt vorsätzlichem Handeln auszugehen sei, seien auch die geltend gemachten Säumniszuschläge zu Recht erhoben worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Gegen das ihm am 10.08.2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23.08.2020 Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt. Zur Berufungsbegründung hat der Klägervertreter vorgetragen, der durch das SG aufgeführte Tatbestand sei unstreitig. Mit der Berufung wende sich der Kläger gegen die rechtsfehlerhafte Auffassung des SG, wonach keine Verjährung der streitgegenständlichen Ansprüche eingetreten sei. Da das Urteil auf dieser Einschätzung beruhe, werde es vollumfänglich zur Überprüfung im Berufungsverfahren gestellt. Das SG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger erkannt habe, dass keine zwei Beschäftigungsverhältnisse beim Beigeladenen Ziff. 1 vorgelegen hätten. Er habe bei seinem langjährigen Steuerberater B unter Schilderung der Gesamtumstände ausdrücklich nachgefragt, ob es hinsichtlich der Anstellung des Beigeladenen Ziff. 1 Probleme gegeben könnte. Der Steuerberater habe keine Probleme gesehen, weshalb der Kläger den Beigeladenen Ziff. 1 angestellt habe. Wäre er richtig beraten worden, hätte er von einer Anstellung in dieser Form abgesehen und den Beigeladenen Ziff. 1, wie später erfolgt, von Beginn an als Vollzeitkraft eingestellt. Tatsächlich belege aber die ausdrückliche Nachfrage beim Steuerberater eindrücklich, dass dem Kläger jedenfalls kein Vorsatz vorzuwerfen sei. Dass er darüber hinaus nicht noch ein Statusfeststellungsverfahren bei der Rentenversicherung veranlasst habe, sei unschädlich. Bei dem befragten Steuerberater habe es sich um den langjährigen Berater, der u.a. auch die Löhne gemacht und das Geschäft des Klägers schon seit Jahren gekannt habe. Der Kläger hätte keinen Grund gehabt, an dessen Kompetenz zu zweifeln. Die Vorstellung, dass ein Ratsuchender immer noch eine zweite Meinung einholen solle, überspanne dessen Pflichten bei weitem. Die unterbliebene Vernehmung des Steuerberaters als Zeuge stelle eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Unabhängig von der Frage, ob die erhobene Nachforderung inhaltlich begründet gewesen sei, könne man dem Kläger keinen Vorsatz vorwerfen mit der Folge, dass Verjährung eingetreten sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. Juli 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Dezember 2017 aufzuheben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="12"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Zur Frage des Vorliegens eines (bedingt) vorsätzlichen Handelns des Klägers und damit zur Begründung, dass die Nachforderungen aus dem angefochtenen Bescheid nicht verjährt seien, werde auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 05.12.2017 und im Urteil des SG verwiesen. Zudem ergäben sich aus dem Protokoll des AG Spaichingen vom 30.03.2015, Az. 1 Cs 12 Js 6823/11, die Initiative des Klägers, den wahren Umfang des Beschäftigungsverhältnisses zu verschleiern, sowie das bewusste Handeln hierzu, indem der Kläger den Beigeladenen Ziff. 1 als Minijobber mit einem Entgelt von 200,00 EUR monatlich angemeldet und vorgegeben habe, dass die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 diesen Betrag bei der Rechnungsstellung an seine Firma wiederum abziehen solle. Der Kläger habe bereits während der Anfänge der Zusammenarbeit auf die Problematik der Güterkraftverkehrslizenz aufmerksam gemacht und selbst den Vorschlag unterbreitet, dass er den Beigeladenen Ziff. 1 als geringfügig entlohnt Beschäftigten gegen ein monatliches Entgelt in Höhe von 200,00 EUR bei seiner Firma anmelde, um bei Kontrollen die Problematik der Lizenz zu umgehen. Der Steuerberater sei keine geeignete Institution, um rechtsverbindliche sozialversicherungsrechtliche Entscheidungen einzuholen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Die Beigeladenen haben sich im Berufungsverfahren nicht geäußert und keine Anträge gestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Der Senat hat bei der Staatsanwaltschaft Rottweil die Akten des Verfahrens 1 Cs 12 Js 6823/11 200 VRs beigezogen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>In der mündlichen Verhandlung ist der ehemalige Steuerberater des Klägers B als Zeuge gehört worden; wegen der Aussage wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19.07.2022 Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, der beigezogenen Strafakte sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Berufung des Klägers ist nach §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch sonst zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die zulässige isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG) zu Recht abgewiesen. Der streitgegenständliche Bescheid vom 08.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.12.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat zu Recht von dem Kläger Beiträge und Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 41.178,50 EUR gefordert. Der Beigeladene Ziff. 1 übte seine Tätigkeit bei dem Kläger im Zeitraum 01.01.2010 bis 30.04.2011 allein im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses aus; die Tätigkeit unterlag insgesamt der Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung und nach dem Recht der Arbeitslosenversicherung (1.). Die Säumniszuschläge sind zu Recht erhoben worden (2.) und die Forderung ist insgesamt nicht verjährt (3.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid ist § 28p Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV) mindestens alle vier Jahre. Die Träger der Rentenversicherung erlassen nach Satz 5 dieser Vorschrift im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte (verkörpert im sog. Prüfbescheid, Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris) zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern; insoweit gelten § 28h Abs. 2 SGB IV sowie § 93 i.V.m. § 89 Abs. 5 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht. Mit § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV ist klargestellt, dass die Zuständigkeit der Träger der Rentenversicherung unabhängig von den eigentlich nach § 28h Abs. 2 Satz 1 SGB IV für solche Feststellungen zuständigen Einzugsstellen besteht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Beklagte war als Rentenversicherungsträgerin auch zur Überwachung des Umlageverfahrens (sog. U1- und U2-Umlage) nach dem Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (Aufwendungsausgleichsgesetz - AAG -) und zum Erlass eines entsprechenden Umlagebescheids befugt. Denn § 10 AAG stellt die Beiträge zum Ausgleichsverfahren insoweit den Beiträgen zur GKV gleich, die ihrerseits Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28d S 1 SGB IV) sind, der von der Beklagten im Rahmen einer Betriebsprüfung (§ 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV) geltend zu machen ist (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 26.09.2017 - B 1 KR 31/16 R -, Juris). Gleiches gilt seit dem 01.01.2009 in Bezug auf die Insolvenzgeldumlage. Nach § 359 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist die Umlage zusammen mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle zu zahlen. Nach Satz 2 finden die für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag geltenden Vorschriften des SGB IV entsprechende Anwendung und damit wiederum § 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV mit seiner die Zuständigkeit der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung begründenden Wirkung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X. Den für sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen notwendigen Angaben einer bestimmbaren Arbeit und der gerade hiermit in Zusammenhang stehenden Entgeltlichkeit (vgl. näher BSG, Urteile vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R - und vom 04.06.2009 - B 12 R 6/08 R -, Juris) ist die Beklagte gerecht geworden. Zudem handelt es sich nicht um die isolierte Feststellung des Vorliegens einer abhängigen Beschäftigung (sog. unzulässige Elementenfeststellung, vgl. BSG, Urteil vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R -, Juris). Der Kläger ist vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheides mit Schreiben vom 30.06.2016 auch ordnungsgemäß angehört worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Beklagte durfte ihrer Beurteilung auch das Ergebnis der vom Hauptzollamt durchgeführten Prüfungen zu Grunde legen, auf dieser Grundlage die Prüfung nach § 28p SGB IV durchführen und durch Verwaltungsakt abschließen (vgl. hierzu ausführlich Sächsisches LSG, Beschluss vom 12.02.2018 - L 9 KR 496/17 B ER -, LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.06.2017 - L 10 R 592/17 -, jeweils Juris). Die Prüfungen des Hauptzollamts beruhten auf § 2 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz [SchwarzArbG], BGBl. I 2004, 1842), wonach die Behörden der Zollverwaltung unter anderem prüfen (Nr. 1), ob die sich aus den Dienst- oder Werkleistungen ergebenden Pflichten nach § 28a SGB IV erfüllt werden. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SchwarzArbG (in der bis zum 17.07.2019 geltenden Fassung <a.F.> und § 2 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 SchwarzArbG in der ab dem 18.07.2019 geltenden Fassung <n.F.>) werden die Behörden der Zollverwaltung bei den Prüfungen nach Abs. 1 von den Trägern der Rentenversicherung unterstützt. Nach § 2 Abs. 2 Satz 3 SchwarzArbG können die Prüfungen mit anderen Prüfungen der Träger der Rentenversicherung („der in diesem Absatz genannten Stellen") verbunden werden. Im Ergebnis ist die Beklagte somit als für die Prüfung bei den Arbeitgebern zuständige Einrichtung befugt, die von der Hauptzollverwaltung nach § 2 Abs. 1 Satz 1SchwarzArbG durchgeführten Prüfungen mit der eigenen Prüfung nach § 28p Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 SGB IV zu verbinden, was die Übernahme der Ermittlungsergebnisse der Prüfung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SchwarzArbG beinhaltet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Betriebsprüfungen durch den Rentenversicherungsträger haben nach der Rechtsprechung des BSG nur eine Kontrollfunktion. Sie sollen einerseits Beitragsausfälle verhindern, andererseits die Sozialversicherungsträger davor bewahren, dass aus der Annahme von Beiträgen für nicht versicherungspflichtige Personen Leistungsansprüche entstehen. Die Entscheidung stellt sich vor diesem Hintergrund als kombinierte - positive oder negative - Feststellung von Versicherungspflicht und Beitragsnachentrichtung oder Beanstandung dar. Die Besonderheit eines Bescheids nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV liegt insoweit darin, dass über das Bestehen von Versicherungspflicht und die daraus resultierende Beitragsnachforderung gemeinsam zu entscheiden ist. Dies unterscheidet das Nachprüfungsverfahren hinsichtlich der Feststellung der Versicherungspflicht vom Statusfeststellungsverfahren nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV (BSG, Urteil vom 14.09.2004 - B 12 KR 1/04 -, Juris). Die hier streitigen Beiträge werden als Gesamtsozialversicherungsbeiträge vom Arbeitgeber gezahlt (§ 28g Satz 1 und 2, 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Die angefochtenen Bescheide sind auch inhaltlich nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>1. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB IV sind in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung nach Maßgabe der besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige unter anderem Personen versicherungspflichtig, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Entsprechende Regelungen (Versicherungspflicht von Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind) finden sich für die Arbeitslosenversicherung in § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III, für die gesetzliche Rentenversicherung in § 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), für die Krankenversicherung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sowie in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) als akzessorische Regelung zur gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Dabei liegt der Beitragsbemessung für den vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag gemäß den §§ 28d, 28e SGB IV das Arbeitsentgelt zu Grunde (§ 342 SGB III, § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, auf die Regelung im SGB V verweisend § 57 Abs. 1 SGB XI, § 162 Nr. 1 SGB VI). Dies gilt auch in Bezug auf die Umlagen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AAG bzw. § 358 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Arbeitsentgelt sind gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV definiert den Begriff der Beschäftigung als nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach Satz 2 der Regelung sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (hierzu und zum Nachfolgenden u.a. Urteil vom 11.11.2015 - B 12 R 2/14 R -, Juris; zur Verfassungsmäßigkeit der Abgrenzung zwischen Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.05.1996 - 1 BvR 21/96 -, Juris) setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich ausgehend von den oben genannten Umständen nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Dieses bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen, also den rechtlich relevanten Umständen, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ausgangspunkt der Prüfung sind die Vereinbarungen, die die Beteiligten - schriftlich oder gegebenenfalls auch nur mündlich - getroffen haben. Behörden und Gerichte müssen den Inhalt dieser Vereinbarungen feststellen. Sind die Vereinbarungen schriftlich getroffen worden, muss dabei auch geklärt werden, ob sie durch mündlich getroffene (Änderungs-)Vereinbarungen oder durch schlüssiges Verhalten rechtswirksam abgeändert worden sind. Steht der Inhalt der Vereinbarungen danach fest, ist zu prüfen, ob die Vereinbarungen (mit dem festgestellten Inhalt) wirksam oder wegen Verstoßes gegen zwingendes Recht unwirksam sind, wobei bei gegebenem Anlass auch die Ernsthaftigkeit der Vereinbarung geklärt werden muss, um auszuschließen, dass ein „Etikettenschwindel“ bzw. ein Scheingeschäft vorliegt und die Vereinbarung deswegen gemäß § 117 BGB nichtig ist. Ist letzteres der Fall, muss der Inhalt des durch das Scheingeschäft verdeckten Rechtsgeschäfts festgestellt werden. Erst auf der Grundlage der so getroffenen Feststellungen über den (wahren) Inhalt der der jeweiligen Tätigkeit zugrundeliegenden Vereinbarungen ist eine wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses zum Typus der Beschäftigung oder zum Typus der selbstständigen Tätigkeit vorzunehmen. Danach ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob besondere tatsächliche Umstände vorliegen, die eine hiervon abweichende Beurteilung notwendig machen (vgl. BSG, Urteile vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R - und vom 29.07.2015 - B 12 R 1/15 R und B 12 KR 23/13 R -, Juris). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (BSG, Urteile vom 24.01.2007 - B 12 KR 31/06 R - und vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R -, Juris). Fehlen zwingende gesetzliche Rahmenvorgaben und kann die zu prüfende Tätigkeit sowohl in der Form einer Beschäftigung als auch in der einer selbstständigen Tätigkeit erbracht werden, kommt den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmer/Auftragnehmer und Arbeitgeber/Auftraggeber zwar keine allein ausschlaggebende, so doch eine gewichtige Rolle zu. Zwar haben es die Vertragsparteien nicht in der Hand, die kraft öffentlichen Rechts angeordnete Sozialversicherungspflicht durch bloße übereinstimmende Willenserklärung auszuschließen. Dem Willen der Vertragsparteien, keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung begründen zu wollen, kommt nach der Rechtsprechung des BSG aber indizielle Bedeutung zu, wenn dieser Wille den festgestellten sonstigen tatsächlichen Verhältnissen nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird bzw. die übrigen Umstände gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung sprechen (vgl. BSG, Urteile vom 14.03.2018 - B 12 R 3/17 R -, Juris Rdnr. 13 und vom 18.11.2015, a.a.O., Juris Rdnr. 26).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Unter Abwägung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände gelangt der Senat in Übereinstimmung mit der Beklagten und dem SG zu dem Ergebnis, dass der Beigeladene Ziff. 1 in dem Zeitraum 01.01.2010 bis 31.12.2013 seine Tätigkeit für den Kläger insgesamt im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung ausgeübt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Zwar ergibt sich aus den Angaben des Klägers und des Beigeladenen Ziff. 1, dass sie zumindest teilweise eine selbstständige Tätigkeit – unter Zwischenschaltung der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 als Vermittlerin – vereinbaren wollten. Dies genügt für die Annahme der Vereinbarung einer selbstständigen Tätigkeit nicht. Es liegen hier vielmehr tatsächliche Umstände vor, die dieser Wertung der Parteien des jeweiligen (mündlichen) Vertrages widersprechen und zu einer anderen Beurteilung führen. Es ist nicht feststellbar, dass die Beteiligten tatsächlich eine selbstständige Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 vereinbarten. Ein schriftlicher Vertrag lag der Tätigkeit nicht zugrunde. Es lag lediglich eine mündliche Abrede zugrunde, wonach die Beigeladenen Ziff. 1 als Fahrer für den Kläger zu einem Stundenlohn von 8,00 EUR tätig werden sollte. Darüber hinaus war vereinbart, dass 200,00 EUR als Minijob deklariert werden sollten und für den darüber hinausgehenden Teil Rechnungen durch die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1, die als Gewerbe eine Handelsvertretung angemeldet hatte, unter Anrechnung der 200,00 EUR gestellt werden sollten. Weitere konkrete mündliche Abreden der Vertragsparteien sind nicht feststellbar. Die ihrem Verhältnis zugrundeliegenden weiteren Bedingungen ergeben sich durch die festgestellte tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse. Eine vereinbarte Selbstständigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 ist hieraus nicht abzuleiten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Dem übereinstimmenden Willen der Beteiligten, kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu wollen, käme ohnehin keine allein maßgebliche Bedeutung zu. Einem solchen Willen kommt lediglich dann indizielle Bedeutung zu, wenn dieser dem festgestellten sonstigen tatsächlichen Verhältnis nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird (BSG, Urteil vom 18.11.2015, a.a.O., Juris). Nur im Zweifel, wenn ebenso viele Gründe für die Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung sprechen, ist dem im Vertrag zum Ausdruck gekommenen Willen der Vorrang zu geben (BSG, Urteil vom 13.07.1978 - 12 RK 14/78 -, Juris). Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall, vielmehr überwiegen die für eine abhängige Beschäftigung sprechenden Umstände.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Art der Tätigkeit lässt keine zwingenden Rückschlüsse auf den Status des Beigeladenen Ziff. 1 zu; eine Tätigkeit als Fahrer ist nicht nur im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses, sondern grundsätzlich auch als freier Mitarbeiter möglich. Für die Statusabgrenzung ist sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) als auch nach der Rechtsprechung des BSG auch nicht entscheidend, an wie vielen verschiedenen Vorhaben der Betreffende teilgenommen hat und ob er auch selbstständig oder für andere Auftraggeber tätig ist bzw. war (BAG, Urteil vom 09.10.2002 - 5 AZR 405/01 -, Juris). Erforderlich ist selbst im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses stets eine Bewertung der einzelnen Arbeitseinsätze (BSG, Urteil vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Die bereits im Tatbestand getroffenen Feststellungen zu den tatsächlichen Umständen der Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 stehen zur Überzeugung des Senats auf Grund der Angaben des Beigeladenen Ziff. 1 in seiner Vernehmung durch das AG Spaichingen fest. Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Angaben hat der Senat nicht. Auch der Kläger hat die Richtigkeit dieser Angaben nicht in Zweifel gezogen und im Berufungsverfahren betont, dass der durch das SG festgestellte Tatbestand zutreffend ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Unbestritten und anhand der vorliegenden Rechnungen nachvollziehbar, sollte der Beigeladene Ziff. 1 für seine Ehefrau und letztlich als Subunternehmer mit Fahrdiensten beauftragt werden. Die Ehefrau stellte die jeweiligen Fahrten dann dem Kläger in Rechnung. Zugleich war der Beigeladene Ziff. 1 im Rahmen eines sog. Minijobs, also einer geringfügigen Beschäftigung, im Umfang von 200,00 EUR monatlich für den Kläger tätig. In der konkreten Ausgestaltung der Tätigkeit, insbesondere der Eingliederung in die Arbeitsabläufe des Klägers, bestand aber zwischen dem über die Handelsvertretung abgerechneten Tätigwerden und der geringfügigen Beschäftigung – außer den Abrechnungsmodalitäten – keinerlei Unterschied. Der Senat ist daher zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um ein einheitliches Beschäftigungsverhältnis gehandelt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Der Beigeladene Ziff. 1 war in die Betriebsorganisation des Klägers eingegliedert. Die Firma des Klägers hat Aufträge akquiriert und diese an den Beigeladenen Ziff. 1 weitergegeben. Es kommt für die Beurteilung nicht entscheidend darauf an, ob der Beigeladene Ziff. 1 berechtigt war, Aufträge auch abzulehnen, denn die Möglichkeit, Aufträge anzunehmen oder abzulehnen, kann zwar als Indiz für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit angesehen werden, weil der Beigeladenen Ziff. 1 damit über den Umfang seiner Tätigkeit selbst bestimmte. Doch sind ebenso im Rahmen abhängiger Beschäftigung Vertragsgestaltungen nicht unüblich, die es weitgehend dem Beschäftigten überlassen, wie er im Anforderungsfall tätig werden will oder ob er eine Anfrage ablehnt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2013 - L 11 R 1083/12 -, Juris). In Abruf- oder Aushilfsbeschäftigungsverhältnissen, in denen auf Abruf oder in Vertretungssituationen, beispielsweise bei Erkrankung und Ausfall von Mitarbeitern, lediglich im Bedarfsfall auf bestimmte Kräfte zurückgegriffen wird, kann die Möglichkeit eingeräumt sein, eine Anfrage abzulehnen. Eine derartige Vereinbarung kann auch arbeitsrechtlich zulässig sein. Dabei handelt es sich dann in der Regel nicht um eine Arbeit auf Abruf im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG), sondern um auf den jeweiligen Einsatz bezogene Einzelarbeitsverträge (Ein-Tages-Arbeitsverhältnisse). Nach der Rechtsprechung des BAG sind die Arbeitsvertragsparteien nicht gezwungen, statt Einzelarbeitsverträgen ein Abrufarbeitsverhältnis nach § 12 TzBfG zu begründen. Auch kann der Arbeitnehmer ein Interesse an einer solchen Vertragskonstruktion haben; denn er kann dadurch über seine Zeit frei verfügen und läuft nicht Gefahr, dass seine anderweitigen Dispositionen und Verpflichtungen mit der Verpflichtung zur Arbeitsleistung kollidieren (BAG, Urteil vom 16.05.2012 - 5 AZR 268/11 -, Juris). Derartige Einzelarbeitsverträge können auch in Kombination mit einem Rahmenvertrag vereinbart werden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2017 - L 11 KR 1554/16 -, Juris). Dem Umstand, dass der Beigeladene Ziff. 1 Aufträge hätten ablehnen können, kommt damit auch hier keine entscheidende Bedeutung zu. Anknüpfungstatbestand für eine mögliche die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung ist das einzelne angenommene Auftragsverhältnis (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 22.04.2016 - L 1 KR 228/11 -, Juris mit Verweis auf BSG, Urteil vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 -, Juris). Daher stellte sich für den Beigeladenen Ziff. 1 die Situation vor Annahme eines Auftrags letztlich nicht anders dar als für einen Arbeitsuchenden, dem es ebenfalls freisteht, eine ihm angebotene (gegebenenfalls befristete Teil-zeit-) Arbeitsgelegenheit anzunehmen oder nicht (BSG, Urteil vom 18.11.2015 -, a.a.O., Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Grundsätzlich hätte der Beigeladene Ziff. 1 auch Aufträge anderer Auftraggeber entgegennehmen können. Der Gesichtspunkt mehrerer Auftraggeber kann zwar als ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit gewertet werden (BSG, Urteil vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.11.2018 - L 8 R 702/16 -, Juris), dem hier insbesondere im Hinblick darauf, dass der Beigeladene Ziff. 1 im streitigen Zeitraum keine anderen Auftraggeber hatte, keine Bedeutung beigemessen werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Der Beigeladene Ziff. 1 war in den Betrieb des Klägers eingegliedert. Es kann dahinstehen, ob der Kläger dem Beigeladenen Ziff. 1 hinsichtlich der einzelnen Fahrten konkrete Weisungen erteilt hat. Kennzeichnend für eine betriebliche Eingliederung in die Arbeitsorganisation eines Auftraggebers ist bei Tätigkeiten, die keine fachlichen Weisungen erfordern, die Steuerung des Arbeitsablaufs durch organisatorische und koordinierende Maßnahmen durch den Auftraggeber, jedenfalls dann, wenn die zu beurteilende Tätigkeit Teil eines größeren Auftrages (Projekt) ist, den der Auftraggeber von einem Dritten (Endkunden) übernommen hat (vgl. Segebrecht in: JurisPK-SGB IV § 7 Abs. 1 Rdnr. 80 ff). Art und Umfang der auszuführenden Tätigkeit ergaben sich vorliegend aus dem übernommenen Auftrag. Eine darüber hinausgehende Weisung war nicht erforderlich. Umgekehrt beschränkte sich die Freiheit des Beigeladenen Ziff. 1 darauf, ob er den konkreten Auftrag übernimmt oder nicht. Weitergehende Freiheiten als ein Arbeitnehmer standen dem Beigeladenen Ziff. 1 im Hinblick auf Art, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsausführung nicht zu. Der Zeitraum der auszuführenden Tätigkeit war vorgegeben. Der Beigeladene Ziff.1 konnte allein dann tätig werden, wenn ihm ein Lkw des Klägers zur Verfügung gestellt wurde. Dass er in Einzelfällen Fahrten auch mit dem eigenen Pkw ausgeführt hat, fällt insgesamt nicht ins Gewicht, da die überwiegende Anzahl der Fahrten, wie der Beigeladene Ziff. 1 auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem AG Spaichingen angegeben hat, mit Lkw des Klägers ausgeführt werden mussten. Der Beigeladene Ziff. 1 ist darüber hinaus nicht im eigenen Namen und auf eigene Rechnung gegenüber den Kunden des Klägers aufgetreten, sondern als Mitarbeiter des Klägers. Für die Fahrten hat er im Wesentlichen die Lkw des Klägers genutzt, so dass ihm auch sämtliche für die Ausführung der Arbeit benötigten Materialien von dem Kläger zur Verfügung gestellt wurden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Damit hatte der Beigeladene Ziff. 1 aber auch keinerlei betriebliches Risiko. Maßgebendes Kriterium für ein solches Risiko ist nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen (vgl. etwa BSG, Urteile vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 R -; vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R -, vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, jeweils Juris), ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der sächlichen oder persönlichen Mittel also ungewiss ist. Allerdings ist ein unternehmerisches Risiko nur dann Hinweis auf eine selbstständige Tätigkeit, wenn diesem Risiko auch größere Freiheiten in der Gestaltung und der Bestimmung des Umfangs beim Einsatz der eigenen Arbeitskraft (vgl. schon BSG, Urteile vom 13.07.1978 - 12 RK 14/78 -; vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, Juris) oder größere Verdienstchancen gegenüberstehen (BSG, Urteile vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R - und vom 31.03.2015 - B 12 KR 17/13 R -, Juris). Aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft gegebenenfalls nicht verwerten zu können, folgt hingegen kein Unternehmerrisiko bezüglich der einzelnen tatsächlich erbrachten Einsätze (BSG, Urteil vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Vorliegend war zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen Ziff. 1 in der Regel ein Pauschalpreis vereinbart. Grundsätzlich besteht bei Pauschalpreisen für den Beigeladenen Ziff. 1 das Risiko, für die vereinbarten Tätigkeiten länger zu brauchen als vorab kalkuliert bzw. bei Nichtfertigstellung der vereinbarten Leistungen nicht bezahlt zu werden. Zugleich bietet sich aber auch die Möglichkeit, durch eine schnellere Erledigung des Auftrags den Gewinn zu erhöhen. Vorliegend war, wie der Beigeladene Ziff. 1 gegenüber dem AG Spaichingen angegeben hatte, der Pauschalpreis grundsätzlich durch den Kläger vorgegeben und nicht verhandelbar. Der Beigeladene Ziff. 1 hätte lediglich die Aufträge ablehnen können. Hierin ist ein gewisses unternehmerisches Risiko zu sehen, das aber in der Gesamtschau der Ausgestaltung der Tätigkeit nicht nennenswert ins Gewicht fällt. Wesentlich zu berücksichtigen ist, dass der Beigeladene Ziff. 1 über keinerlei eigene Betriebsmittel, insbesondere über keinen eigenen Lkw verfügte, sondern vielmehr kostenlos die Lkw des Klägers nutzte. Ein echtes Unternehmerrisiko hätte vorliegend bestanden, wenn bei Arbeitsmangel oder Arbeitsausfall nicht nur kein Einkommen oder Entgelt aus Arbeit erzielt worden wäre, sondern zusätzlich auch Kosten für betriebliche Investitionen und/oder Arbeitnehmer anfallen oder früher getätigte Investitionen brachliegen (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 22.04.2016 - L 1 KR 228/11 -, Juris m. w. N. und Beschluss vom 12.02.2018 - L 9 KR 496/17 B ER -, Juris). Zwar hätte der Beigeladene Ziff. 1 alleine das Risiko des Ausfalls seiner Arbeitskraft getragen ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf bezahlten Urlaub oder auf Leistungen aus der Sozialversicherung. Bei diesen Tatsachen handelt es sich jedoch nicht um Umstände, die den Inhalt des Arbeitsverhältnisses und der Tätigkeit prägen, sondern um solche, die sich als Rechtsfolge ergeben, wenn keine abhängige Beschäftigung ausgeübt werden soll (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R - Juris Rdnr. 24; BAG, Urteil vom 19.11.1997 - 5 AZR 21/97 -, Juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.01.2007 - L 11 (16) KR 16/04 -, Juris). Zudem handelt es sich bei dem danach im Vordergrund stehenden Risiko der Arbeiter, nicht arbeiten zu können, um ein Risiko, das auch jeden Arbeitnehmer trifft, der nur Zeitverträge bekommt oder auf Abruf arbeitet und nach Stunden bezahlt wird oder unständig Beschäftigter ist. Ein wesentliches unternehmerisches Risiko, das gerade einen Selbstständigen trifft, liegt darin nicht (s. auch Sächsisches LSG, Beschluss vom 12.02.2018 - L 9 KR 496/17 B ER -, Juris). Zwar bestanden durch die Bezahlung einer Pauschale ein gewisses unternehmerisches Risiko – und insbesondere auch gewisse unternehmerische Chancen –, durch die kostenlose Überlassung des Lkw durch den Kläger, die nicht vorhandene eigene Betriebsstruktur oder eigene kostenbehaftete Unternehmungen der Kundenakquise sind dem Beigeladenen Ziff. 1 aber auch keinerlei Kosten entstanden, die bei einem Betriebsausfall brachliegen würden. Ein eigenes werbendes Auftreten am Markt, das Rückschlüsse auf ein unternehmerisches Handeln zuließe (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 01.11.2017 - L 2 R 227/17 -, Juris), fehlte; der Beigeladene Ziff. 1 war auch ausschließlich für den Kläger tätig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Beigeladene Ziff. 1 über keine Erlaubnis für den gewerblichen Güterkraftverkehr im Sinne des § 3 GüKG verfügte. Diese Lizenz ist, wie der Kläger selbst angibt, nur dann entbehrlich, wenn der Fahrer als Angestellter eines Unternehmens, das über die Erlaubnis verfügt, Güter transportiert, nicht jedoch bei einer Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit in dieser Branche. Im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit hätte der Beigeladene Ziff. 1 daher selbst über diese Erlaubnis verfügen müssen. Dies war auch der Grund dafür, dass der Kläger den Beigeladenen Ziff.1 als geringfügig Beschäftigen zur Sozialversicherung angemeldet und ihm ein Entgelt in Höhe von 200,00 EUR gezahlt hat. Damit sollte der Anschein erweckt werden, dass der Beigeladene Ziff. 1 ordnungsgemäß als Mitarbeiter des Klägers angestellt gewesen sei und daher ohne eigene Erlaubnis nach § 3 GüKG fahren durfte. Eine Unterscheidung in der Ausgestaltung der Tätigkeit zwischen dem „Minijob“ und der weiteren Tätigkeit des Klägers war nicht möglich; es erfolgte weder eine zeitliche noch eine inhaltliche Trennung. Ein Unterschied wurde lediglich in der Art und Weise der Abrechnung vorgenommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Der Beigeladene Ziff. 1 war auch nicht bei dem Unternehmen seiner Ehefrau abhängig beschäftigt. Der Kläger war bei der Ausführung der Tätigkeit als Fahrer in keiner Weise in den Betrieb der Ehefrau eingegliedert. Gegenstand des Betriebs der Ehefrau war eine Handelsvertretung; sie hatte weder Transporttätigkeiten als Gewerbe angemeldet noch hätte sie Transporttätigkeiten betreiben können, da sie weder über einen Lkw noch über die Güterkraftverkehrserlaubnis nach § 3 GüKG verfügte. Der Beigeladene Ziff. 1 übte dementsprechend seine Tätigkeit als Fahrer auch nicht mit Fahrzeugen der Firma seiner Ehefrau, sondern ausschließlich mit Lkw der Firma des Klägers aus. Die darüber hinaus durchgeführten Fahrten mit dem eigenen Pkw fallen, wie bereits ausgeführt, nicht entscheidend ins Gewicht. Die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 hat diesem letztlich auch keine Weisungen erteilt. Die Verhandlungen über die einzelnen Fahrten und die vereinbarten Pauschalvergütungen wurden allein zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen Ziff. 1 geführt. Die Funktion der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 beschränkte sich allein auf die Rechnungsstellung. Ein unternehmerisches Handeln der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 als Unternehmerin im Transportgewerbe ist nicht gegeben, da sie am Markt in dieser Branche nicht aufgetreten ist und auch keine eigene Werbung betrieben hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Im Ergebnis stellt der Senat daher fest, dass der Beigeladene Ziff. 1 im gesamten Umfang seines Tätigwerdens als Arbeitnehmer sozialversicherungspflichtig in allen Zweigen der Sozialversicherung bei dem Kläger beschäftigt war, da die für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprechenden Umstände bei weitem überwiegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die von der Beklagten festgesetzten Beiträge und Umlagen sind der Höhe nach nicht zu beanstanden; der Kläger hat Einwände hiergegen nicht vorgebracht, solche sind auch für den Senat nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>2. Auf die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge sind auch Säumniszuschläge nach § 24 SGB IV zu erheben. Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB IV in der seit 01.01.2002 unveränderten Fassung des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 (BGBl I 1983) ist für Beiträge und Beitrags-vorschüsse, die der Zahlungspflichtige nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags gezahlt hat, für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von eins vom Hundert des rückständigen, auf 50,00 EUR nach unten abgerundeten Betrags zu zahlen. Die objektiven Voraussetzungen für die Erhebung von Säumniszuschlägen, deren Vorliegen die Beklagte nachzuweisen hat, sind hier erfüllt. Der Kläger hat die von ihm geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge nicht rechtzeitig gezahlt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Wird eine Beitragsforderung - wie hier - durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt, ist nach § 24 Abs. 2 SGB IV ein darauf entfallender Säumniszuschlag nicht zu erheben, soweit der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte. Diese Ausnahmeregelung setzt voraus, dass der Beitragsschuldner keine Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hat, die Unkenntnis nicht verschuldet ist, ihm auch Kenntnis oder Verschulden einer anderen Person nicht zurechenbar ist und die unverschuldete Unkenntnis ununterbrochen bis zur Festsetzung der Säumniszuschläge durch Bescheid bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Eine Exkulpation nach § 24 Abs. 2 SGB IV ist ausgeschlossen, wenn der säumige Beitrags-schuldner Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hatte (vgl. BSG Urteil vom 17.4.2008 - B 13 R 123/07 R -, Juris). Kenntnis von der Zahlungspflicht nach § 24 Abs. 2 SGB IV ist damit das sichere Wissen darum, rechtlich und tatsächlich zur Zahlung von Beiträgen verpflichtet zu sein (so bereits zu § 25 SGB IV BSG Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris). Sie liegt bei einem nach § 28e SGB IV zahlungspflichtigen Arbeitgeber vor, wenn er die seine Beitragsschuld begründenden Tatsachen kennt, weil er zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre nachvollzieht, dass einerseits Beschäftigung vorliegt, die andererseits die Beitragspflicht nach sich zieht. Das Wissen um die (bloße) Möglichkeit der Beitragserhebung steht dem sicheren Wissen um die rechtliche und tatsächliche Verpflichtung zur Beitragszahlung hingegen nicht gleich (BSG, Urteile vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R - und vom 12.12.2018 - B 12 R 15/18 R -, Juris). Ein Irrtum über die Arbeitgebereigenschaft schließt die Kenntnis aus (ähnlich zum Straftatbestand des § 266a StGB: BGH, Urteil vom 24.01.2018 - 1 StR 331/17 -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Allein das Fehlen der Kenntnis von der Beitragszahlungspflicht steht der Festsetzung von Säumniszuschlägen noch nicht entgegen. Vielmehr sind Säumniszuschläge nur dann nicht zu erheben, wenn die Unkenntnis unverschuldet ist. Dieses (Un-)Verschulden bestimmt sich nicht nach § 276 BGB, sondern setzt aufgrund eines eigenständigen Verschuldensmaßstabs wenigstens bedingten Vorsatz voraus (vgl. BSG, Urteile vom 26.01.2005 - B 12 KR 3/04 R -, und vom 12.12.2018, a.a.O., Juris)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Ist eine Juristische Person des Privatrechts Beitragsschuldnerin, kommt es zunächst auf die Kenntnis oder unverschuldete Unkenntnis zumindest eines Mitglieds eines Organs von der Beitragspflicht an. Wissen und Verschulden eines vertretungsberechtigten Organmitglieds ist als dasjenige des Organs anzusehen und damit auch der Juristischen Person zuzurechnen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris). Das gleiche gilt nach dem Rechtsgedanken der §§ 166, 278 BGB für andere zum Vertreter der Juristischen Person bestellte natürliche Personen, sofern sie eigenverantwortlich mit der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung einer Tätigkeit für die Juristische Person und der Erfüllung ihrer Zahlungspflicht betraut sind (vgl. BGH Urteil vom 28.02.2012 - VI ZR 9/11 - Juris Rdnr. 13 f). Auch die Kenntnis und das Verschulden weiterer im Rahmen einer betrieblichen Hierarchie verantwortlicher Personen kann der betroffenen Juristischen Person zuzurechnen sein, wenn keine Organisationsstrukturen geschaffen wurden, um entsprechende Informationen aufzunehmen und intern weiterzugeben (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Für die unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht trägt der Kläger die objektive Beweislast. § 24 Abs. 2 SGB IV ist als Ausnahme von der Erhebung von Säumniszuschlägen ausgestaltet, so dass derjenige beweispflichtig ist, der sich auf die rechtsbegründenden Tatsachen der Ausnahme beruft (vgl. BSG, Urteil vom 02.12.2008 - B 2 U 26/06 R -, Juris). Dabei genügt der abgesenkte Beweisgrad der Glaubhaftmachung (BSG, Urteil vom 12.12.2018, a.a.O., Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger wenigstens bedingter Vorsatz vorgehalten werden kann. Es kann im Rahmen bedingten Vorsatzes vorwerfbar sein, wenn ein Arbeitgeber bei Unklarheiten hinsichtlich der versicherungs- und beitragsrechtlichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit darauf verzichtet, die Entscheidung einer fachkundigen Stelle herbeizuführen (vgl. BSG, Urteile vom 09.11.2011 - B 12 R 18/09 R - und vom 24.03.2016 - B 12 KR 20/14 R -, Juris). Allerdings darf nicht das gesamte Risiko der Einordnung komplexer sozialversicherungsrechtlicher Wertungsfragen den Arbeitgebern überantwortet werden (vgl. BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 12 R 7/14 R -, Juris), so dass sich Schematisierungen verbieten. Es bedarf deshalb der individuellen Überprüfung des bedingten Vorsatzes unter sorgfältiger Beweiswürdigung im Einzelfall (vgl. BSG, Urteil vom 04.09.2018 - B 12 KR 11/17 R -, Juris). Wie das SG geht auch der Senat davon aus, dass dem Kläger vorsätzliches Handeln vorzuwerfen ist. Betrachtet man die Vereinbarungen und die tatsächliche Durchführung insgesamt, drängt es sich geradezu auf, dass durch das Konstrukt aus Minijob bei der Firma des Klägers und Rechnungstellung über die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 der Anschein einer selbstständigen Tätigkeit geschaffen werden sollte, um wissentlich der Beitragsführung zu entgehen, gleichermaßen aber für Kontrollen hinsichtlich der Erlaubnis nach § 3 GüKG der Anschein einer ordnungsgemäßen abhängigen Beschäftigung durch Anmeldung eines sog. Minijobs bestehen sollte. Von den beteiligten Personen verfügte allein der Kläger bzw. dessen Firma über die notwendige Güterkraftverkehrserlaubnis nach § 3 GüKG. Dass der Kläger wusste, dass der Beigeladene Ziff. 1 nicht über die erforderliche Erlaubnis nach § 3 GüKG verfügte, ergibt sich bereits daraus, dass er ihn gezielt danach fragte und aufgrund der fehlenden Erlaubnis den Vorschlag machte, den Beigeladenen Ziff. 1 im Rahmen eines Minijobs zu beschäftigen. Bei einer Kontrolle hätte er dann keine negativen Folgen befürchten müssen. Ihm war daher auch bewusst, dass die Fahrtätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 nur im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung möglich war. Für den Kläger musste auch erkennbar sein, dass die Tätigkeit des Beigeladene Ziff. 1 sich in keiner Weise von der seiner abhängig beschäftigten Fahrer unterschied, außerdem zwischen der Tätigkeit im Rahmen des Minijobs als auch im Rahmen der – vermeintlichen – selbständigen Tätigkeit keinerlei Unterschiede bestanden. Der Kläger hat die dem Beigeladenen Ziff. 1 gezahlte Vergütung – für ein einheitliches Tätigwerden – gezielt sozialversicherungsrechtlich unterschiedlich behandelt. Zum einen hat er es im Rahmen des Minijobs als Arbeitsentgelt angesehen, den darüber hinausgehenden Betrag, der sozialversicherungspflichtig gewesen wäre, als Lohn für eine selbstständige Tätigkeit angesehen. Hieraus ergibt sich ein offenkundiger Wertungswiderspruch, der dem Kläger, der nach seinen Angaben im streitigen Zeitraum 35 bis 40 angestellte Fahrer beschäftigt hat, hätte auffallen müssen. Wird bei einem solch offenkundigen Wertungswiderspruch nicht die Klärung durch eine zur Entscheidung zuständigen Stelle, wie der Einzugsstelle gemäß § 28h Abs. 2 SGB IV eingeholt, folgt daraus zumindest bedingter Vorsatz. Wer Kenntnis von einer ungewöhnlichen, mit einem eklatanten Wertungswiderspruch verbundenen Handhabung hat, es aber unterlässt, diese rechtssicher abzuklären, zeigt damit, dass er mit der Möglichkeit, nicht mit der Gesetzeslage zu vereinbarenden Handelns rechnet und sich damit abgefunden hat (Bayerisches LSG, Urteil vom 05.04.2016 - L 5 KR 392/12 -, Juris). Dies gilt vorliegend umso mehr, als mit der Frage der Versicherungs- und Beitragspflicht eine in § 28e SGB IV normierte zentrale Arbeitgeberpflicht betroffen ist. Diese Pflicht darf zwar auf Mitarbeiter oder fachkundige Stellen übertragen werden. Dann aber ist dem Arbeitgeber, der diese Aufgaben delegiert hat, ein Verschulden des Beauftragten – hier ggf. des beauftragen Steuerberaters – im Rahmen der Wissensvertretung analog § 166 Abs. 1 BGB zuzurechnen (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.12.2015 - L 8 R 213/13 B ER -, Juris) zuzurechnen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann nicht abschließend geklärt werden, ob der Zeuge Braun, der im maßgeblichen Zeitraum als Steuerberater für den Kläger tätig war, tatsächlich eine (fehlerhafte) Bewertung des sozialversicherungsrechtlichen Status des Beigeladenen Ziff. 1 abgegeben hat. Der Zeuge hat angegeben, eine sozialversicherungsrechtliche Beratung nicht vorgenommen zu haben, sich letztlich an konkrete Gespräche hinsichtlich der Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 aber nicht erinnern zu können. Es kann dahinstehen, ob der Zeuge Braun auf konkrete Nachfrage des Klägers tatsächlich die Einschätzung vertreten hat, die gewählte Konstruktion (Kombination aus Rechnungstellung und Minijob) sei nicht nur steuerrechtlich, sondern auch sozialversicherungsrechtlich „in Ordnung“. Denn jedenfalls würde den Kläger der Vorwurf fehlender beitragsrechtlicher Überwachung des Steuerberaters treffen. Denn nach der Rechtsprechung des BSG bedarf es für die Frage der Versicherungspflicht typischerweise einer besonderen Sachkunde auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts (BSG, Urteil vom 05.03. 2014 - B 12 R 7/12 R -, Juris). Die Kern- und Haupttätigkeit eines Steuerberaters besteht aber in der geschäftsmäßigen „Hilfeleistung in Steuersachen" (vgl. § 2, § 3 Nr. 1, §§ 32, 33 StBerG). Gemäß § 33 S 1 StBerG haben Steuerberater die „Aufgabe, im Rahmen ihres Auftrags ihre Auftraggeber in Steuersachen zu beraten, sie zu vertreten und ihnen bei der Bearbeitung ihrer Steuerangelegenheiten und bei der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten Hilfe zu leisten". Die steuerliche Beratung ist danach eine auf dieses spezielle Fachgebiet beschränkte Rechtsberatung. Zwar hat die Beratung in steuerlichen Angelegenheiten häufig Bezugspunkte hin zu außersteuerrechtlichen Regelungen. Dies bedeutet indessen nicht, dass eine Tätigkeit auf außersteuerlichen Rechtsgebieten bereits deshalb dem Berufs- und Tätigkeitsbild eines Steuerberaters zuzuordnen ist, nur weil bestimmte Tatbestände überhaupt für die steuerliche Beratung relevant sind. Das Steuerrecht erfasst eine Vielzahl von Vorgängen, für welche auch Vorschriften aus anderen Rechtsgebieten bedeutsam sein können. Nähme man schon allein deswegen einen Zusammenhang mit dem Berufs- und Tätigkeitsbild eines Steuerberaters an, wären Steuerberater letztlich annähernd unbeschränkt berechtigt, auf allen Rechtsgebieten berufliche Aktivitäten zu entfalten. Auch kann bei Steuerberatern - anders als bei Rechtsanwälten - nicht von einer umfassenden Eignung in juristischen Belangen ausgegangen werden, die aufgrund erworbener und unter Beweis gestellter Kenntnisse und Fähigkeiten in der spezifischen Juristischen Methodik und Arbeitsweise zurückzuführen sind. Daraus folgt Zweifaches: (1) Der Steuerberater, der eine hohe Qualifikation erfordernde sozialrechtliche Einschätzung vornimmt - wie vorliegend die Versicherungsfreiheit - handelt jedenfalls dann gegen jede Sorgfaltspflicht, wenn er bei offen zu Tage tretenden widersprüchlichen Wertungen keine klärende Entscheidung des zuständigen Sozialversicherungsträgers einholt. (2) Arbeitgeber, die es im Falle der Delegation ihrer zentralen beitragsrechtlichen Pflichten auf einen Steuerberater unterlassen, dessen Handlungsweise zu hinterfragen, handeln schuldhaft im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV (vgl. Bayerisches LSG, a.a.O.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Da sich, wie bereits ausgeführt, die Wertungswidersprüche in der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung dem Kläger selbst hätten aufdrängen müssen, gilt dies auch für den Steuerberater, dessen ggf. falsche Beratung dem Kläger zuzurechnen wäre. Sollte der Kläger dem Steuerberater nicht alle maßgebenden Umstände mitgeteilt haben, bleibt es – erst recht – bei dem Verschuldensvorwurf gegenüber dem Kläger. Diesem ist – jedenfalls – bedingter Vorsatz vorzuwerfen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>3. Entgegen der Auffassung des Klägers sind die Beitragsnachforderungen auch nicht verjährt. Gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB IV verjähren Beiträge in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind. Die Fälligkeit bestimmt sich gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV, wonach Beiträge, die nach dem Arbeitsentgelt zu bemessen sind, in voraussichtlicher Höhe der Beitragsschuld spätestens am drittletzten Bankarbeitstag des Monats fällig werden, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird, mit der das Arbeitsentgelt erzielt wird. Eine Ausnahme von dem Eintritt der regelmäßigen Verjährung ergibt sich aus der Vorschrift des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV. Dort ist bestimmt, dass eine Verjährungsfrist von dreißig Jahren gilt, wenn Beiträge vorsätzlich vorenthalten worden sind. Bedingter Vorsatz im Hinblick auf die Vorenthaltung von Beiträgen liegt vor, wenn der Arbeitgeber trotz Kenntnis der Möglichkeit der Beitragspflicht die Beitragszahlung unterlässt und er dadurch die Nichtabführung von geschuldeten Beiträgen billigend in Kauf nimmt (BSG, Urteile vom 30.03.2000 - B 12 KR 14/99 R - und vom 12.12.2018 - B 12 R 15/18 R -, jeweils in Juris). Wie oben dargelegt, liegt ein solcher bedingter Vorsatz hier vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Der Berufung war daher zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 155 Abs. 1 und 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und entspricht dem Verhältnis von gegenseitigem Obsiegen und Unterliegen. Es entspricht nicht der Billigkeit, dem Kläger auch die Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese Sachanträge nicht gestellt und damit ein Prozessrisiko nicht übernommen haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 3, § 47 Gerichtskostengesetz (GKG) und entspricht der Summe der streitigen Gesamtforderung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Berufung des Klägers ist nach §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch sonst zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die zulässige isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG) zu Recht abgewiesen. Der streitgegenständliche Bescheid vom 08.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.12.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat zu Recht von dem Kläger Beiträge und Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 41.178,50 EUR gefordert. Der Beigeladene Ziff. 1 übte seine Tätigkeit bei dem Kläger im Zeitraum 01.01.2010 bis 30.04.2011 allein im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses aus; die Tätigkeit unterlag insgesamt der Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung und nach dem Recht der Arbeitslosenversicherung (1.). Die Säumniszuschläge sind zu Recht erhoben worden (2.) und die Forderung ist insgesamt nicht verjährt (3.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid ist § 28p Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV) mindestens alle vier Jahre. Die Träger der Rentenversicherung erlassen nach Satz 5 dieser Vorschrift im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte (verkörpert im sog. Prüfbescheid, Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris) zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern; insoweit gelten § 28h Abs. 2 SGB IV sowie § 93 i.V.m. § 89 Abs. 5 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht. Mit § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV ist klargestellt, dass die Zuständigkeit der Träger der Rentenversicherung unabhängig von den eigentlich nach § 28h Abs. 2 Satz 1 SGB IV für solche Feststellungen zuständigen Einzugsstellen besteht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Beklagte war als Rentenversicherungsträgerin auch zur Überwachung des Umlageverfahrens (sog. U1- und U2-Umlage) nach dem Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (Aufwendungsausgleichsgesetz - AAG -) und zum Erlass eines entsprechenden Umlagebescheids befugt. Denn § 10 AAG stellt die Beiträge zum Ausgleichsverfahren insoweit den Beiträgen zur GKV gleich, die ihrerseits Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28d S 1 SGB IV) sind, der von der Beklagten im Rahmen einer Betriebsprüfung (§ 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV) geltend zu machen ist (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 26.09.2017 - B 1 KR 31/16 R -, Juris). Gleiches gilt seit dem 01.01.2009 in Bezug auf die Insolvenzgeldumlage. Nach § 359 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist die Umlage zusammen mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle zu zahlen. Nach Satz 2 finden die für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag geltenden Vorschriften des SGB IV entsprechende Anwendung und damit wiederum § 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV mit seiner die Zuständigkeit der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung begründenden Wirkung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X. Den für sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen notwendigen Angaben einer bestimmbaren Arbeit und der gerade hiermit in Zusammenhang stehenden Entgeltlichkeit (vgl. näher BSG, Urteile vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R - und vom 04.06.2009 - B 12 R 6/08 R -, Juris) ist die Beklagte gerecht geworden. Zudem handelt es sich nicht um die isolierte Feststellung des Vorliegens einer abhängigen Beschäftigung (sog. unzulässige Elementenfeststellung, vgl. BSG, Urteil vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R -, Juris). Der Kläger ist vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheides mit Schreiben vom 30.06.2016 auch ordnungsgemäß angehört worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Beklagte durfte ihrer Beurteilung auch das Ergebnis der vom Hauptzollamt durchgeführten Prüfungen zu Grunde legen, auf dieser Grundlage die Prüfung nach § 28p SGB IV durchführen und durch Verwaltungsakt abschließen (vgl. hierzu ausführlich Sächsisches LSG, Beschluss vom 12.02.2018 - L 9 KR 496/17 B ER -, LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.06.2017 - L 10 R 592/17 -, jeweils Juris). Die Prüfungen des Hauptzollamts beruhten auf § 2 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz [SchwarzArbG], BGBl. I 2004, 1842), wonach die Behörden der Zollverwaltung unter anderem prüfen (Nr. 1), ob die sich aus den Dienst- oder Werkleistungen ergebenden Pflichten nach § 28a SGB IV erfüllt werden. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SchwarzArbG (in der bis zum 17.07.2019 geltenden Fassung <a.F.> und § 2 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 SchwarzArbG in der ab dem 18.07.2019 geltenden Fassung <n.F.>) werden die Behörden der Zollverwaltung bei den Prüfungen nach Abs. 1 von den Trägern der Rentenversicherung unterstützt. Nach § 2 Abs. 2 Satz 3 SchwarzArbG können die Prüfungen mit anderen Prüfungen der Träger der Rentenversicherung („der in diesem Absatz genannten Stellen") verbunden werden. Im Ergebnis ist die Beklagte somit als für die Prüfung bei den Arbeitgebern zuständige Einrichtung befugt, die von der Hauptzollverwaltung nach § 2 Abs. 1 Satz 1SchwarzArbG durchgeführten Prüfungen mit der eigenen Prüfung nach § 28p Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 SGB IV zu verbinden, was die Übernahme der Ermittlungsergebnisse der Prüfung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SchwarzArbG beinhaltet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Betriebsprüfungen durch den Rentenversicherungsträger haben nach der Rechtsprechung des BSG nur eine Kontrollfunktion. Sie sollen einerseits Beitragsausfälle verhindern, andererseits die Sozialversicherungsträger davor bewahren, dass aus der Annahme von Beiträgen für nicht versicherungspflichtige Personen Leistungsansprüche entstehen. Die Entscheidung stellt sich vor diesem Hintergrund als kombinierte - positive oder negative - Feststellung von Versicherungspflicht und Beitragsnachentrichtung oder Beanstandung dar. Die Besonderheit eines Bescheids nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV liegt insoweit darin, dass über das Bestehen von Versicherungspflicht und die daraus resultierende Beitragsnachforderung gemeinsam zu entscheiden ist. Dies unterscheidet das Nachprüfungsverfahren hinsichtlich der Feststellung der Versicherungspflicht vom Statusfeststellungsverfahren nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV (BSG, Urteil vom 14.09.2004 - B 12 KR 1/04 -, Juris). Die hier streitigen Beiträge werden als Gesamtsozialversicherungsbeiträge vom Arbeitgeber gezahlt (§ 28g Satz 1 und 2, 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Die angefochtenen Bescheide sind auch inhaltlich nicht zu beanstanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>1. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB IV sind in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung nach Maßgabe der besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige unter anderem Personen versicherungspflichtig, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Entsprechende Regelungen (Versicherungspflicht von Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind) finden sich für die Arbeitslosenversicherung in § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III, für die gesetzliche Rentenversicherung in § 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), für die Krankenversicherung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sowie in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) als akzessorische Regelung zur gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Dabei liegt der Beitragsbemessung für den vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag gemäß den §§ 28d, 28e SGB IV das Arbeitsentgelt zu Grunde (§ 342 SGB III, § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, auf die Regelung im SGB V verweisend § 57 Abs. 1 SGB XI, § 162 Nr. 1 SGB VI). Dies gilt auch in Bezug auf die Umlagen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AAG bzw. § 358 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Arbeitsentgelt sind gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV definiert den Begriff der Beschäftigung als nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach Satz 2 der Regelung sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (hierzu und zum Nachfolgenden u.a. Urteil vom 11.11.2015 - B 12 R 2/14 R -, Juris; zur Verfassungsmäßigkeit der Abgrenzung zwischen Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.05.1996 - 1 BvR 21/96 -, Juris) setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich ausgehend von den oben genannten Umständen nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Dieses bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen, also den rechtlich relevanten Umständen, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ausgangspunkt der Prüfung sind die Vereinbarungen, die die Beteiligten - schriftlich oder gegebenenfalls auch nur mündlich - getroffen haben. Behörden und Gerichte müssen den Inhalt dieser Vereinbarungen feststellen. Sind die Vereinbarungen schriftlich getroffen worden, muss dabei auch geklärt werden, ob sie durch mündlich getroffene (Änderungs-)Vereinbarungen oder durch schlüssiges Verhalten rechtswirksam abgeändert worden sind. Steht der Inhalt der Vereinbarungen danach fest, ist zu prüfen, ob die Vereinbarungen (mit dem festgestellten Inhalt) wirksam oder wegen Verstoßes gegen zwingendes Recht unwirksam sind, wobei bei gegebenem Anlass auch die Ernsthaftigkeit der Vereinbarung geklärt werden muss, um auszuschließen, dass ein „Etikettenschwindel“ bzw. ein Scheingeschäft vorliegt und die Vereinbarung deswegen gemäß § 117 BGB nichtig ist. Ist letzteres der Fall, muss der Inhalt des durch das Scheingeschäft verdeckten Rechtsgeschäfts festgestellt werden. Erst auf der Grundlage der so getroffenen Feststellungen über den (wahren) Inhalt der der jeweiligen Tätigkeit zugrundeliegenden Vereinbarungen ist eine wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses zum Typus der Beschäftigung oder zum Typus der selbstständigen Tätigkeit vorzunehmen. Danach ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob besondere tatsächliche Umstände vorliegen, die eine hiervon abweichende Beurteilung notwendig machen (vgl. BSG, Urteile vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R - und vom 29.07.2015 - B 12 R 1/15 R und B 12 KR 23/13 R -, Juris). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (BSG, Urteile vom 24.01.2007 - B 12 KR 31/06 R - und vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R -, Juris). Fehlen zwingende gesetzliche Rahmenvorgaben und kann die zu prüfende Tätigkeit sowohl in der Form einer Beschäftigung als auch in der einer selbstständigen Tätigkeit erbracht werden, kommt den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmer/Auftragnehmer und Arbeitgeber/Auftraggeber zwar keine allein ausschlaggebende, so doch eine gewichtige Rolle zu. Zwar haben es die Vertragsparteien nicht in der Hand, die kraft öffentlichen Rechts angeordnete Sozialversicherungspflicht durch bloße übereinstimmende Willenserklärung auszuschließen. Dem Willen der Vertragsparteien, keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung begründen zu wollen, kommt nach der Rechtsprechung des BSG aber indizielle Bedeutung zu, wenn dieser Wille den festgestellten sonstigen tatsächlichen Verhältnissen nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird bzw. die übrigen Umstände gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung sprechen (vgl. BSG, Urteile vom 14.03.2018 - B 12 R 3/17 R -, Juris Rdnr. 13 und vom 18.11.2015, a.a.O., Juris Rdnr. 26).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Unter Abwägung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände gelangt der Senat in Übereinstimmung mit der Beklagten und dem SG zu dem Ergebnis, dass der Beigeladene Ziff. 1 in dem Zeitraum 01.01.2010 bis 31.12.2013 seine Tätigkeit für den Kläger insgesamt im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung ausgeübt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Zwar ergibt sich aus den Angaben des Klägers und des Beigeladenen Ziff. 1, dass sie zumindest teilweise eine selbstständige Tätigkeit – unter Zwischenschaltung der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 als Vermittlerin – vereinbaren wollten. Dies genügt für die Annahme der Vereinbarung einer selbstständigen Tätigkeit nicht. Es liegen hier vielmehr tatsächliche Umstände vor, die dieser Wertung der Parteien des jeweiligen (mündlichen) Vertrages widersprechen und zu einer anderen Beurteilung führen. Es ist nicht feststellbar, dass die Beteiligten tatsächlich eine selbstständige Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 vereinbarten. Ein schriftlicher Vertrag lag der Tätigkeit nicht zugrunde. Es lag lediglich eine mündliche Abrede zugrunde, wonach die Beigeladenen Ziff. 1 als Fahrer für den Kläger zu einem Stundenlohn von 8,00 EUR tätig werden sollte. Darüber hinaus war vereinbart, dass 200,00 EUR als Minijob deklariert werden sollten und für den darüber hinausgehenden Teil Rechnungen durch die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1, die als Gewerbe eine Handelsvertretung angemeldet hatte, unter Anrechnung der 200,00 EUR gestellt werden sollten. Weitere konkrete mündliche Abreden der Vertragsparteien sind nicht feststellbar. Die ihrem Verhältnis zugrundeliegenden weiteren Bedingungen ergeben sich durch die festgestellte tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse. Eine vereinbarte Selbstständigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 ist hieraus nicht abzuleiten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Dem übereinstimmenden Willen der Beteiligten, kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu wollen, käme ohnehin keine allein maßgebliche Bedeutung zu. Einem solchen Willen kommt lediglich dann indizielle Bedeutung zu, wenn dieser dem festgestellten sonstigen tatsächlichen Verhältnis nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird (BSG, Urteil vom 18.11.2015, a.a.O., Juris). Nur im Zweifel, wenn ebenso viele Gründe für die Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung sprechen, ist dem im Vertrag zum Ausdruck gekommenen Willen der Vorrang zu geben (BSG, Urteil vom 13.07.1978 - 12 RK 14/78 -, Juris). Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall, vielmehr überwiegen die für eine abhängige Beschäftigung sprechenden Umstände.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Die Art der Tätigkeit lässt keine zwingenden Rückschlüsse auf den Status des Beigeladenen Ziff. 1 zu; eine Tätigkeit als Fahrer ist nicht nur im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses, sondern grundsätzlich auch als freier Mitarbeiter möglich. Für die Statusabgrenzung ist sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) als auch nach der Rechtsprechung des BSG auch nicht entscheidend, an wie vielen verschiedenen Vorhaben der Betreffende teilgenommen hat und ob er auch selbstständig oder für andere Auftraggeber tätig ist bzw. war (BAG, Urteil vom 09.10.2002 - 5 AZR 405/01 -, Juris). Erforderlich ist selbst im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses stets eine Bewertung der einzelnen Arbeitseinsätze (BSG, Urteil vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Die bereits im Tatbestand getroffenen Feststellungen zu den tatsächlichen Umständen der Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 stehen zur Überzeugung des Senats auf Grund der Angaben des Beigeladenen Ziff. 1 in seiner Vernehmung durch das AG Spaichingen fest. Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Angaben hat der Senat nicht. Auch der Kläger hat die Richtigkeit dieser Angaben nicht in Zweifel gezogen und im Berufungsverfahren betont, dass der durch das SG festgestellte Tatbestand zutreffend ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Unbestritten und anhand der vorliegenden Rechnungen nachvollziehbar, sollte der Beigeladene Ziff. 1 für seine Ehefrau und letztlich als Subunternehmer mit Fahrdiensten beauftragt werden. Die Ehefrau stellte die jeweiligen Fahrten dann dem Kläger in Rechnung. Zugleich war der Beigeladene Ziff. 1 im Rahmen eines sog. Minijobs, also einer geringfügigen Beschäftigung, im Umfang von 200,00 EUR monatlich für den Kläger tätig. In der konkreten Ausgestaltung der Tätigkeit, insbesondere der Eingliederung in die Arbeitsabläufe des Klägers, bestand aber zwischen dem über die Handelsvertretung abgerechneten Tätigwerden und der geringfügigen Beschäftigung – außer den Abrechnungsmodalitäten – keinerlei Unterschied. Der Senat ist daher zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um ein einheitliches Beschäftigungsverhältnis gehandelt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Der Beigeladene Ziff. 1 war in die Betriebsorganisation des Klägers eingegliedert. Die Firma des Klägers hat Aufträge akquiriert und diese an den Beigeladenen Ziff. 1 weitergegeben. Es kommt für die Beurteilung nicht entscheidend darauf an, ob der Beigeladene Ziff. 1 berechtigt war, Aufträge auch abzulehnen, denn die Möglichkeit, Aufträge anzunehmen oder abzulehnen, kann zwar als Indiz für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit angesehen werden, weil der Beigeladenen Ziff. 1 damit über den Umfang seiner Tätigkeit selbst bestimmte. Doch sind ebenso im Rahmen abhängiger Beschäftigung Vertragsgestaltungen nicht unüblich, die es weitgehend dem Beschäftigten überlassen, wie er im Anforderungsfall tätig werden will oder ob er eine Anfrage ablehnt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2013 - L 11 R 1083/12 -, Juris). In Abruf- oder Aushilfsbeschäftigungsverhältnissen, in denen auf Abruf oder in Vertretungssituationen, beispielsweise bei Erkrankung und Ausfall von Mitarbeitern, lediglich im Bedarfsfall auf bestimmte Kräfte zurückgegriffen wird, kann die Möglichkeit eingeräumt sein, eine Anfrage abzulehnen. Eine derartige Vereinbarung kann auch arbeitsrechtlich zulässig sein. Dabei handelt es sich dann in der Regel nicht um eine Arbeit auf Abruf im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG), sondern um auf den jeweiligen Einsatz bezogene Einzelarbeitsverträge (Ein-Tages-Arbeitsverhältnisse). Nach der Rechtsprechung des BAG sind die Arbeitsvertragsparteien nicht gezwungen, statt Einzelarbeitsverträgen ein Abrufarbeitsverhältnis nach § 12 TzBfG zu begründen. Auch kann der Arbeitnehmer ein Interesse an einer solchen Vertragskonstruktion haben; denn er kann dadurch über seine Zeit frei verfügen und läuft nicht Gefahr, dass seine anderweitigen Dispositionen und Verpflichtungen mit der Verpflichtung zur Arbeitsleistung kollidieren (BAG, Urteil vom 16.05.2012 - 5 AZR 268/11 -, Juris). Derartige Einzelarbeitsverträge können auch in Kombination mit einem Rahmenvertrag vereinbart werden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2017 - L 11 KR 1554/16 -, Juris). Dem Umstand, dass der Beigeladene Ziff. 1 Aufträge hätten ablehnen können, kommt damit auch hier keine entscheidende Bedeutung zu. Anknüpfungstatbestand für eine mögliche die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung ist das einzelne angenommene Auftragsverhältnis (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 22.04.2016 - L 1 KR 228/11 -, Juris mit Verweis auf BSG, Urteil vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 -, Juris). Daher stellte sich für den Beigeladenen Ziff. 1 die Situation vor Annahme eines Auftrags letztlich nicht anders dar als für einen Arbeitsuchenden, dem es ebenfalls freisteht, eine ihm angebotene (gegebenenfalls befristete Teil-zeit-) Arbeitsgelegenheit anzunehmen oder nicht (BSG, Urteil vom 18.11.2015 -, a.a.O., Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Grundsätzlich hätte der Beigeladene Ziff. 1 auch Aufträge anderer Auftraggeber entgegennehmen können. Der Gesichtspunkt mehrerer Auftraggeber kann zwar als ein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit gewertet werden (BSG, Urteil vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.11.2018 - L 8 R 702/16 -, Juris), dem hier insbesondere im Hinblick darauf, dass der Beigeladene Ziff. 1 im streitigen Zeitraum keine anderen Auftraggeber hatte, keine Bedeutung beigemessen werden kann.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Der Beigeladene Ziff. 1 war in den Betrieb des Klägers eingegliedert. Es kann dahinstehen, ob der Kläger dem Beigeladenen Ziff. 1 hinsichtlich der einzelnen Fahrten konkrete Weisungen erteilt hat. Kennzeichnend für eine betriebliche Eingliederung in die Arbeitsorganisation eines Auftraggebers ist bei Tätigkeiten, die keine fachlichen Weisungen erfordern, die Steuerung des Arbeitsablaufs durch organisatorische und koordinierende Maßnahmen durch den Auftraggeber, jedenfalls dann, wenn die zu beurteilende Tätigkeit Teil eines größeren Auftrages (Projekt) ist, den der Auftraggeber von einem Dritten (Endkunden) übernommen hat (vgl. Segebrecht in: JurisPK-SGB IV § 7 Abs. 1 Rdnr. 80 ff). Art und Umfang der auszuführenden Tätigkeit ergaben sich vorliegend aus dem übernommenen Auftrag. Eine darüber hinausgehende Weisung war nicht erforderlich. Umgekehrt beschränkte sich die Freiheit des Beigeladenen Ziff. 1 darauf, ob er den konkreten Auftrag übernimmt oder nicht. Weitergehende Freiheiten als ein Arbeitnehmer standen dem Beigeladenen Ziff. 1 im Hinblick auf Art, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsausführung nicht zu. Der Zeitraum der auszuführenden Tätigkeit war vorgegeben. Der Beigeladene Ziff.1 konnte allein dann tätig werden, wenn ihm ein Lkw des Klägers zur Verfügung gestellt wurde. Dass er in Einzelfällen Fahrten auch mit dem eigenen Pkw ausgeführt hat, fällt insgesamt nicht ins Gewicht, da die überwiegende Anzahl der Fahrten, wie der Beigeladene Ziff. 1 auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem AG Spaichingen angegeben hat, mit Lkw des Klägers ausgeführt werden mussten. Der Beigeladene Ziff. 1 ist darüber hinaus nicht im eigenen Namen und auf eigene Rechnung gegenüber den Kunden des Klägers aufgetreten, sondern als Mitarbeiter des Klägers. Für die Fahrten hat er im Wesentlichen die Lkw des Klägers genutzt, so dass ihm auch sämtliche für die Ausführung der Arbeit benötigten Materialien von dem Kläger zur Verfügung gestellt wurden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Damit hatte der Beigeladene Ziff. 1 aber auch keinerlei betriebliches Risiko. Maßgebendes Kriterium für ein solches Risiko ist nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen (vgl. etwa BSG, Urteile vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 R -; vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R -, vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, jeweils Juris), ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der sächlichen oder persönlichen Mittel also ungewiss ist. Allerdings ist ein unternehmerisches Risiko nur dann Hinweis auf eine selbstständige Tätigkeit, wenn diesem Risiko auch größere Freiheiten in der Gestaltung und der Bestimmung des Umfangs beim Einsatz der eigenen Arbeitskraft (vgl. schon BSG, Urteile vom 13.07.1978 - 12 RK 14/78 -; vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, Juris) oder größere Verdienstchancen gegenüberstehen (BSG, Urteile vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R - und vom 31.03.2015 - B 12 KR 17/13 R -, Juris). Aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft gegebenenfalls nicht verwerten zu können, folgt hingegen kein Unternehmerrisiko bezüglich der einzelnen tatsächlich erbrachten Einsätze (BSG, Urteil vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Vorliegend war zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen Ziff. 1 in der Regel ein Pauschalpreis vereinbart. Grundsätzlich besteht bei Pauschalpreisen für den Beigeladenen Ziff. 1 das Risiko, für die vereinbarten Tätigkeiten länger zu brauchen als vorab kalkuliert bzw. bei Nichtfertigstellung der vereinbarten Leistungen nicht bezahlt zu werden. Zugleich bietet sich aber auch die Möglichkeit, durch eine schnellere Erledigung des Auftrags den Gewinn zu erhöhen. Vorliegend war, wie der Beigeladene Ziff. 1 gegenüber dem AG Spaichingen angegeben hatte, der Pauschalpreis grundsätzlich durch den Kläger vorgegeben und nicht verhandelbar. Der Beigeladene Ziff. 1 hätte lediglich die Aufträge ablehnen können. Hierin ist ein gewisses unternehmerisches Risiko zu sehen, das aber in der Gesamtschau der Ausgestaltung der Tätigkeit nicht nennenswert ins Gewicht fällt. Wesentlich zu berücksichtigen ist, dass der Beigeladene Ziff. 1 über keinerlei eigene Betriebsmittel, insbesondere über keinen eigenen Lkw verfügte, sondern vielmehr kostenlos die Lkw des Klägers nutzte. Ein echtes Unternehmerrisiko hätte vorliegend bestanden, wenn bei Arbeitsmangel oder Arbeitsausfall nicht nur kein Einkommen oder Entgelt aus Arbeit erzielt worden wäre, sondern zusätzlich auch Kosten für betriebliche Investitionen und/oder Arbeitnehmer anfallen oder früher getätigte Investitionen brachliegen (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 22.04.2016 - L 1 KR 228/11 -, Juris m. w. N. und Beschluss vom 12.02.2018 - L 9 KR 496/17 B ER -, Juris). Zwar hätte der Beigeladene Ziff. 1 alleine das Risiko des Ausfalls seiner Arbeitskraft getragen ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf bezahlten Urlaub oder auf Leistungen aus der Sozialversicherung. Bei diesen Tatsachen handelt es sich jedoch nicht um Umstände, die den Inhalt des Arbeitsverhältnisses und der Tätigkeit prägen, sondern um solche, die sich als Rechtsfolge ergeben, wenn keine abhängige Beschäftigung ausgeübt werden soll (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R - Juris Rdnr. 24; BAG, Urteil vom 19.11.1997 - 5 AZR 21/97 -, Juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.01.2007 - L 11 (16) KR 16/04 -, Juris). Zudem handelt es sich bei dem danach im Vordergrund stehenden Risiko der Arbeiter, nicht arbeiten zu können, um ein Risiko, das auch jeden Arbeitnehmer trifft, der nur Zeitverträge bekommt oder auf Abruf arbeitet und nach Stunden bezahlt wird oder unständig Beschäftigter ist. Ein wesentliches unternehmerisches Risiko, das gerade einen Selbstständigen trifft, liegt darin nicht (s. auch Sächsisches LSG, Beschluss vom 12.02.2018 - L 9 KR 496/17 B ER -, Juris). Zwar bestanden durch die Bezahlung einer Pauschale ein gewisses unternehmerisches Risiko – und insbesondere auch gewisse unternehmerische Chancen –, durch die kostenlose Überlassung des Lkw durch den Kläger, die nicht vorhandene eigene Betriebsstruktur oder eigene kostenbehaftete Unternehmungen der Kundenakquise sind dem Beigeladenen Ziff. 1 aber auch keinerlei Kosten entstanden, die bei einem Betriebsausfall brachliegen würden. Ein eigenes werbendes Auftreten am Markt, das Rückschlüsse auf ein unternehmerisches Handeln zuließe (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 01.11.2017 - L 2 R 227/17 -, Juris), fehlte; der Beigeladene Ziff. 1 war auch ausschließlich für den Kläger tätig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Beigeladene Ziff. 1 über keine Erlaubnis für den gewerblichen Güterkraftverkehr im Sinne des § 3 GüKG verfügte. Diese Lizenz ist, wie der Kläger selbst angibt, nur dann entbehrlich, wenn der Fahrer als Angestellter eines Unternehmens, das über die Erlaubnis verfügt, Güter transportiert, nicht jedoch bei einer Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit in dieser Branche. Im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit hätte der Beigeladene Ziff. 1 daher selbst über diese Erlaubnis verfügen müssen. Dies war auch der Grund dafür, dass der Kläger den Beigeladenen Ziff.1 als geringfügig Beschäftigen zur Sozialversicherung angemeldet und ihm ein Entgelt in Höhe von 200,00 EUR gezahlt hat. Damit sollte der Anschein erweckt werden, dass der Beigeladene Ziff. 1 ordnungsgemäß als Mitarbeiter des Klägers angestellt gewesen sei und daher ohne eigene Erlaubnis nach § 3 GüKG fahren durfte. Eine Unterscheidung in der Ausgestaltung der Tätigkeit zwischen dem „Minijob“ und der weiteren Tätigkeit des Klägers war nicht möglich; es erfolgte weder eine zeitliche noch eine inhaltliche Trennung. Ein Unterschied wurde lediglich in der Art und Weise der Abrechnung vorgenommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Der Beigeladene Ziff. 1 war auch nicht bei dem Unternehmen seiner Ehefrau abhängig beschäftigt. Der Kläger war bei der Ausführung der Tätigkeit als Fahrer in keiner Weise in den Betrieb der Ehefrau eingegliedert. Gegenstand des Betriebs der Ehefrau war eine Handelsvertretung; sie hatte weder Transporttätigkeiten als Gewerbe angemeldet noch hätte sie Transporttätigkeiten betreiben können, da sie weder über einen Lkw noch über die Güterkraftverkehrserlaubnis nach § 3 GüKG verfügte. Der Beigeladene Ziff. 1 übte dementsprechend seine Tätigkeit als Fahrer auch nicht mit Fahrzeugen der Firma seiner Ehefrau, sondern ausschließlich mit Lkw der Firma des Klägers aus. Die darüber hinaus durchgeführten Fahrten mit dem eigenen Pkw fallen, wie bereits ausgeführt, nicht entscheidend ins Gewicht. Die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 hat diesem letztlich auch keine Weisungen erteilt. Die Verhandlungen über die einzelnen Fahrten und die vereinbarten Pauschalvergütungen wurden allein zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen Ziff. 1 geführt. Die Funktion der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 beschränkte sich allein auf die Rechnungsstellung. Ein unternehmerisches Handeln der Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 als Unternehmerin im Transportgewerbe ist nicht gegeben, da sie am Markt in dieser Branche nicht aufgetreten ist und auch keine eigene Werbung betrieben hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Im Ergebnis stellt der Senat daher fest, dass der Beigeladene Ziff. 1 im gesamten Umfang seines Tätigwerdens als Arbeitnehmer sozialversicherungspflichtig in allen Zweigen der Sozialversicherung bei dem Kläger beschäftigt war, da die für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprechenden Umstände bei weitem überwiegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Die von der Beklagten festgesetzten Beiträge und Umlagen sind der Höhe nach nicht zu beanstanden; der Kläger hat Einwände hiergegen nicht vorgebracht, solche sind auch für den Senat nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>2. Auf die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge sind auch Säumniszuschläge nach § 24 SGB IV zu erheben. Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB IV in der seit 01.01.2002 unveränderten Fassung des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 (BGBl I 1983) ist für Beiträge und Beitrags-vorschüsse, die der Zahlungspflichtige nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags gezahlt hat, für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von eins vom Hundert des rückständigen, auf 50,00 EUR nach unten abgerundeten Betrags zu zahlen. Die objektiven Voraussetzungen für die Erhebung von Säumniszuschlägen, deren Vorliegen die Beklagte nachzuweisen hat, sind hier erfüllt. Der Kläger hat die von ihm geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge nicht rechtzeitig gezahlt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Wird eine Beitragsforderung - wie hier - durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt, ist nach § 24 Abs. 2 SGB IV ein darauf entfallender Säumniszuschlag nicht zu erheben, soweit der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte. Diese Ausnahmeregelung setzt voraus, dass der Beitragsschuldner keine Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hat, die Unkenntnis nicht verschuldet ist, ihm auch Kenntnis oder Verschulden einer anderen Person nicht zurechenbar ist und die unverschuldete Unkenntnis ununterbrochen bis zur Festsetzung der Säumniszuschläge durch Bescheid bestanden hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Eine Exkulpation nach § 24 Abs. 2 SGB IV ist ausgeschlossen, wenn der säumige Beitrags-schuldner Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hatte (vgl. BSG Urteil vom 17.4.2008 - B 13 R 123/07 R -, Juris). Kenntnis von der Zahlungspflicht nach § 24 Abs. 2 SGB IV ist damit das sichere Wissen darum, rechtlich und tatsächlich zur Zahlung von Beiträgen verpflichtet zu sein (so bereits zu § 25 SGB IV BSG Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris). Sie liegt bei einem nach § 28e SGB IV zahlungspflichtigen Arbeitgeber vor, wenn er die seine Beitragsschuld begründenden Tatsachen kennt, weil er zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre nachvollzieht, dass einerseits Beschäftigung vorliegt, die andererseits die Beitragspflicht nach sich zieht. Das Wissen um die (bloße) Möglichkeit der Beitragserhebung steht dem sicheren Wissen um die rechtliche und tatsächliche Verpflichtung zur Beitragszahlung hingegen nicht gleich (BSG, Urteile vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R - und vom 12.12.2018 - B 12 R 15/18 R -, Juris). Ein Irrtum über die Arbeitgebereigenschaft schließt die Kenntnis aus (ähnlich zum Straftatbestand des § 266a StGB: BGH, Urteil vom 24.01.2018 - 1 StR 331/17 -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Allein das Fehlen der Kenntnis von der Beitragszahlungspflicht steht der Festsetzung von Säumniszuschlägen noch nicht entgegen. Vielmehr sind Säumniszuschläge nur dann nicht zu erheben, wenn die Unkenntnis unverschuldet ist. Dieses (Un-)Verschulden bestimmt sich nicht nach § 276 BGB, sondern setzt aufgrund eines eigenständigen Verschuldensmaßstabs wenigstens bedingten Vorsatz voraus (vgl. BSG, Urteile vom 26.01.2005 - B 12 KR 3/04 R -, und vom 12.12.2018, a.a.O., Juris)</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Ist eine Juristische Person des Privatrechts Beitragsschuldnerin, kommt es zunächst auf die Kenntnis oder unverschuldete Unkenntnis zumindest eines Mitglieds eines Organs von der Beitragspflicht an. Wissen und Verschulden eines vertretungsberechtigten Organmitglieds ist als dasjenige des Organs anzusehen und damit auch der Juristischen Person zuzurechnen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris). Das gleiche gilt nach dem Rechtsgedanken der §§ 166, 278 BGB für andere zum Vertreter der Juristischen Person bestellte natürliche Personen, sofern sie eigenverantwortlich mit der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung einer Tätigkeit für die Juristische Person und der Erfüllung ihrer Zahlungspflicht betraut sind (vgl. BGH Urteil vom 28.02.2012 - VI ZR 9/11 - Juris Rdnr. 13 f). Auch die Kenntnis und das Verschulden weiterer im Rahmen einer betrieblichen Hierarchie verantwortlicher Personen kann der betroffenen Juristischen Person zuzurechnen sein, wenn keine Organisationsstrukturen geschaffen wurden, um entsprechende Informationen aufzunehmen und intern weiterzugeben (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Für die unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht trägt der Kläger die objektive Beweislast. § 24 Abs. 2 SGB IV ist als Ausnahme von der Erhebung von Säumniszuschlägen ausgestaltet, so dass derjenige beweispflichtig ist, der sich auf die rechtsbegründenden Tatsachen der Ausnahme beruft (vgl. BSG, Urteil vom 02.12.2008 - B 2 U 26/06 R -, Juris). Dabei genügt der abgesenkte Beweisgrad der Glaubhaftmachung (BSG, Urteil vom 12.12.2018, a.a.O., Juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger wenigstens bedingter Vorsatz vorgehalten werden kann. Es kann im Rahmen bedingten Vorsatzes vorwerfbar sein, wenn ein Arbeitgeber bei Unklarheiten hinsichtlich der versicherungs- und beitragsrechtlichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit darauf verzichtet, die Entscheidung einer fachkundigen Stelle herbeizuführen (vgl. BSG, Urteile vom 09.11.2011 - B 12 R 18/09 R - und vom 24.03.2016 - B 12 KR 20/14 R -, Juris). Allerdings darf nicht das gesamte Risiko der Einordnung komplexer sozialversicherungsrechtlicher Wertungsfragen den Arbeitgebern überantwortet werden (vgl. BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 12 R 7/14 R -, Juris), so dass sich Schematisierungen verbieten. Es bedarf deshalb der individuellen Überprüfung des bedingten Vorsatzes unter sorgfältiger Beweiswürdigung im Einzelfall (vgl. BSG, Urteil vom 04.09.2018 - B 12 KR 11/17 R -, Juris). Wie das SG geht auch der Senat davon aus, dass dem Kläger vorsätzliches Handeln vorzuwerfen ist. Betrachtet man die Vereinbarungen und die tatsächliche Durchführung insgesamt, drängt es sich geradezu auf, dass durch das Konstrukt aus Minijob bei der Firma des Klägers und Rechnungstellung über die Ehefrau des Beigeladenen Ziff. 1 der Anschein einer selbstständigen Tätigkeit geschaffen werden sollte, um wissentlich der Beitragsführung zu entgehen, gleichermaßen aber für Kontrollen hinsichtlich der Erlaubnis nach § 3 GüKG der Anschein einer ordnungsgemäßen abhängigen Beschäftigung durch Anmeldung eines sog. Minijobs bestehen sollte. Von den beteiligten Personen verfügte allein der Kläger bzw. dessen Firma über die notwendige Güterkraftverkehrserlaubnis nach § 3 GüKG. Dass der Kläger wusste, dass der Beigeladene Ziff. 1 nicht über die erforderliche Erlaubnis nach § 3 GüKG verfügte, ergibt sich bereits daraus, dass er ihn gezielt danach fragte und aufgrund der fehlenden Erlaubnis den Vorschlag machte, den Beigeladenen Ziff. 1 im Rahmen eines Minijobs zu beschäftigen. Bei einer Kontrolle hätte er dann keine negativen Folgen befürchten müssen. Ihm war daher auch bewusst, dass die Fahrtätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 nur im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung möglich war. Für den Kläger musste auch erkennbar sein, dass die Tätigkeit des Beigeladene Ziff. 1 sich in keiner Weise von der seiner abhängig beschäftigten Fahrer unterschied, außerdem zwischen der Tätigkeit im Rahmen des Minijobs als auch im Rahmen der – vermeintlichen – selbständigen Tätigkeit keinerlei Unterschiede bestanden. Der Kläger hat die dem Beigeladenen Ziff. 1 gezahlte Vergütung – für ein einheitliches Tätigwerden – gezielt sozialversicherungsrechtlich unterschiedlich behandelt. Zum einen hat er es im Rahmen des Minijobs als Arbeitsentgelt angesehen, den darüber hinausgehenden Betrag, der sozialversicherungspflichtig gewesen wäre, als Lohn für eine selbstständige Tätigkeit angesehen. Hieraus ergibt sich ein offenkundiger Wertungswiderspruch, der dem Kläger, der nach seinen Angaben im streitigen Zeitraum 35 bis 40 angestellte Fahrer beschäftigt hat, hätte auffallen müssen. Wird bei einem solch offenkundigen Wertungswiderspruch nicht die Klärung durch eine zur Entscheidung zuständigen Stelle, wie der Einzugsstelle gemäß § 28h Abs. 2 SGB IV eingeholt, folgt daraus zumindest bedingter Vorsatz. Wer Kenntnis von einer ungewöhnlichen, mit einem eklatanten Wertungswiderspruch verbundenen Handhabung hat, es aber unterlässt, diese rechtssicher abzuklären, zeigt damit, dass er mit der Möglichkeit, nicht mit der Gesetzeslage zu vereinbarenden Handelns rechnet und sich damit abgefunden hat (Bayerisches LSG, Urteil vom 05.04.2016 - L 5 KR 392/12 -, Juris). Dies gilt vorliegend umso mehr, als mit der Frage der Versicherungs- und Beitragspflicht eine in § 28e SGB IV normierte zentrale Arbeitgeberpflicht betroffen ist. Diese Pflicht darf zwar auf Mitarbeiter oder fachkundige Stellen übertragen werden. Dann aber ist dem Arbeitgeber, der diese Aufgaben delegiert hat, ein Verschulden des Beauftragten – hier ggf. des beauftragen Steuerberaters – im Rahmen der Wissensvertretung analog § 166 Abs. 1 BGB zuzurechnen (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.12.2015 - L 8 R 213/13 B ER -, Juris) zuzurechnen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann nicht abschließend geklärt werden, ob der Zeuge Braun, der im maßgeblichen Zeitraum als Steuerberater für den Kläger tätig war, tatsächlich eine (fehlerhafte) Bewertung des sozialversicherungsrechtlichen Status des Beigeladenen Ziff. 1 abgegeben hat. Der Zeuge hat angegeben, eine sozialversicherungsrechtliche Beratung nicht vorgenommen zu haben, sich letztlich an konkrete Gespräche hinsichtlich der Tätigkeit des Beigeladenen Ziff. 1 aber nicht erinnern zu können. Es kann dahinstehen, ob der Zeuge Braun auf konkrete Nachfrage des Klägers tatsächlich die Einschätzung vertreten hat, die gewählte Konstruktion (Kombination aus Rechnungstellung und Minijob) sei nicht nur steuerrechtlich, sondern auch sozialversicherungsrechtlich „in Ordnung“. Denn jedenfalls würde den Kläger der Vorwurf fehlender beitragsrechtlicher Überwachung des Steuerberaters treffen. Denn nach der Rechtsprechung des BSG bedarf es für die Frage der Versicherungspflicht typischerweise einer besonderen Sachkunde auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts (BSG, Urteil vom 05.03. 2014 - B 12 R 7/12 R -, Juris). Die Kern- und Haupttätigkeit eines Steuerberaters besteht aber in der geschäftsmäßigen „Hilfeleistung in Steuersachen" (vgl. § 2, § 3 Nr. 1, §§ 32, 33 StBerG). Gemäß § 33 S 1 StBerG haben Steuerberater die „Aufgabe, im Rahmen ihres Auftrags ihre Auftraggeber in Steuersachen zu beraten, sie zu vertreten und ihnen bei der Bearbeitung ihrer Steuerangelegenheiten und bei der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten Hilfe zu leisten". Die steuerliche Beratung ist danach eine auf dieses spezielle Fachgebiet beschränkte Rechtsberatung. Zwar hat die Beratung in steuerlichen Angelegenheiten häufig Bezugspunkte hin zu außersteuerrechtlichen Regelungen. Dies bedeutet indessen nicht, dass eine Tätigkeit auf außersteuerlichen Rechtsgebieten bereits deshalb dem Berufs- und Tätigkeitsbild eines Steuerberaters zuzuordnen ist, nur weil bestimmte Tatbestände überhaupt für die steuerliche Beratung relevant sind. Das Steuerrecht erfasst eine Vielzahl von Vorgängen, für welche auch Vorschriften aus anderen Rechtsgebieten bedeutsam sein können. Nähme man schon allein deswegen einen Zusammenhang mit dem Berufs- und Tätigkeitsbild eines Steuerberaters an, wären Steuerberater letztlich annähernd unbeschränkt berechtigt, auf allen Rechtsgebieten berufliche Aktivitäten zu entfalten. Auch kann bei Steuerberatern - anders als bei Rechtsanwälten - nicht von einer umfassenden Eignung in juristischen Belangen ausgegangen werden, die aufgrund erworbener und unter Beweis gestellter Kenntnisse und Fähigkeiten in der spezifischen Juristischen Methodik und Arbeitsweise zurückzuführen sind. Daraus folgt Zweifaches: (1) Der Steuerberater, der eine hohe Qualifikation erfordernde sozialrechtliche Einschätzung vornimmt - wie vorliegend die Versicherungsfreiheit - handelt jedenfalls dann gegen jede Sorgfaltspflicht, wenn er bei offen zu Tage tretenden widersprüchlichen Wertungen keine klärende Entscheidung des zuständigen Sozialversicherungsträgers einholt. (2) Arbeitgeber, die es im Falle der Delegation ihrer zentralen beitragsrechtlichen Pflichten auf einen Steuerberater unterlassen, dessen Handlungsweise zu hinterfragen, handeln schuldhaft im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV (vgl. Bayerisches LSG, a.a.O.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Da sich, wie bereits ausgeführt, die Wertungswidersprüche in der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung dem Kläger selbst hätten aufdrängen müssen, gilt dies auch für den Steuerberater, dessen ggf. falsche Beratung dem Kläger zuzurechnen wäre. Sollte der Kläger dem Steuerberater nicht alle maßgebenden Umstände mitgeteilt haben, bleibt es – erst recht – bei dem Verschuldensvorwurf gegenüber dem Kläger. Diesem ist – jedenfalls – bedingter Vorsatz vorzuwerfen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>3. Entgegen der Auffassung des Klägers sind die Beitragsnachforderungen auch nicht verjährt. Gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB IV verjähren Beiträge in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind. Die Fälligkeit bestimmt sich gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV, wonach Beiträge, die nach dem Arbeitsentgelt zu bemessen sind, in voraussichtlicher Höhe der Beitragsschuld spätestens am drittletzten Bankarbeitstag des Monats fällig werden, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird, mit der das Arbeitsentgelt erzielt wird. Eine Ausnahme von dem Eintritt der regelmäßigen Verjährung ergibt sich aus der Vorschrift des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV. Dort ist bestimmt, dass eine Verjährungsfrist von dreißig Jahren gilt, wenn Beiträge vorsätzlich vorenthalten worden sind. Bedingter Vorsatz im Hinblick auf die Vorenthaltung von Beiträgen liegt vor, wenn der Arbeitgeber trotz Kenntnis der Möglichkeit der Beitragspflicht die Beitragszahlung unterlässt und er dadurch die Nichtabführung von geschuldeten Beiträgen billigend in Kauf nimmt (BSG, Urteile vom 30.03.2000 - B 12 KR 14/99 R - und vom 12.12.2018 - B 12 R 15/18 R -, jeweils in Juris). Wie oben dargelegt, liegt ein solcher bedingter Vorsatz hier vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Der Berufung war daher zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 155 Abs. 1 und 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und entspricht dem Verhältnis von gegenseitigem Obsiegen und Unterliegen. Es entspricht nicht der Billigkeit, dem Kläger auch die Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese Sachanträge nicht gestellt und damit ein Prozessrisiko nicht übernommen haben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 3, § 47 Gerichtskostengesetz (GKG) und entspricht der Summe der streitigen Gesamtforderung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,513 | lsgbw-2022-07-19-l-9-ba-423118 | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 9 BA 4231/18 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-09-10T10:01:32 | 2022-10-17T11:10:01 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 26. Oktober 2018 wird zurückgewiesen.</p><p>Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst zu tragen hat.</p><p>Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 13.857,76 EUR festgesetzt.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen für den Beigeladenen in Höhe von insgesamt 13.857,76 EUR für den Zeitraum 01.01.2011 bis 31.12.2014 streitig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger betreibt ein Einzelunternehmen im Bereich der Medientechnik. Sein Leistungsportfolio umfasst die Bereiche HD-Projektion, Großbildprojektion, Projektion, Live-Regie, Live-Übertragung, (Produkt-)Präsentationen, Beschallung, Veranstaltungstechnik, Medientechnik, Imagefilm, Trailer, Fullservice, DVD-Erstellung, Videotechnik und Videoproduktion. Der beigeladene B ist Medientechniker mit Schwerpunkt Videotechnik. Er war für den Kläger im streitigen Zeitraum als Kameramann, Videotechniker und Powerpointoperator tätig. Er erhielt in diesem Zeitraum vom Kläger Zahlungen in Höhe von rund 33.000 EUR (2011: rund 6.000 EUR, 2012: rund 9.000 EUR, 2013: rund 7.000 EUR, 2014: rund 11.000 EUR).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Im Rahmen der Betriebsprüfung befragte die Beklagte den Kläger und den Beigeladenen mittels Fragebögen zu der Tätigkeit. Der Kläger gab u.a. an, er habe den Beigeladenen mit Videoproduktionen und ggf. medientechnischen Dienstleistungen beauftragt. Eine regelmäßige Arbeitszeit sei nicht vereinbart worden, Arbeitsort sei der jeweilige Veranstaltungsort. Als Arbeitsmittel habe er dem Beigeladenen Videokameras und Medientechnik zur Verfügung gestellt. Fragen, ob dem Beigeladenen Weisungen hinsichtlich seiner Arbeit erteilt worden seien, ob seine Arbeiten kontrolliert worden seien, ob er Berichte abzugeben gehabt habe und ob er in den betrieblichen Arbeitsablauf eingegliedert gewesen sei (z.B. durch die Teilnahme an Dienstbesprechungen, Teamarbeit, Dienstpläne, Schulungsmaßnahmen, Dienstkleidung), beantwortete der Kläger jeweils mit „nein“. Der Beigeladene habe seine Preise selbst gestaltet und Reise- und Übernachtungskosten zusätzlich in Rechnung gestellt. Die Bezahlung sei nach Rechnungsstellung pro Auftrag erfolgt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Der Beigeladene gab u.a. an, dass er Dienstleistungen für Medientechnik, Kamera und Videoproduktionen erbringe. Er habe ein Gewerbe angemeldet, unterhalte keine eigenen Geschäfts- bzw. Betriebsräume, verfüge jedoch über ein Homeoffice. Mit dem Kläger sei keine regelmäßige Arbeitszeit vereinbart, Arbeitsort sei die jeweilige Veranstaltungslocation. Die Fragen, ob ihm Weisungen erteilt, seine Arbeit kontrolliert werde, er Berichte abzugeben habe und er in den betrieblichen Arbeitsablauf beim Kläger eingegliedert sei, beantwortete der Beigeladene im Fragebogen ebenfalls mit „nein“. Er könne Aufträge auch ablehnen. Angenommene Aufträge würden von ihm persönlich erbracht, Equipment werde vom Auftraggeber gestellt. Er sei nicht verpflichtet gewesen, eigenes Kapital einzusetzen. Eigene Werbung sei ihm erlaubt gewesen, seine Preise habe er selbst gestaltet, er habe auch mehrere Auftraggeber bzw. einen eigenen Kundenstamm gehabt. Die Vergütung sei pro Auftrag nach Rechnungsstellung erfolgt; dabei seien ihm auch Reise- und Übernachtungskosten gewährt worden. Ergänzende Fragen der Beklagten beantwortete der Beigeladene dahingehend, dass der Inhalt der Produktionen in der Regel vom Kunden seines Auftraggebers vorgegeben werde. Die gestalterischen Aufgaben lägen nicht in seinem Aufgabenbereich. Die Produktionsleitung obliege seinem Auftraggeber. Das Equipment sei von seinem Auftraggeber gestellt worden und die Vergütung sei als Tagessatz erfolgt. Als weitere Auftraggeber habe er in den Jahren 2011 bis 2014 u.a. die Firmen L-C UG, R-P Service GmbH, P GmbH, F Touristik, B GmbH, M-Hotel B, K Designagentur, e sowie diverse Aufträge von privat gehabt. Er sei auch unabhängig von der Firma des Klägers selbstständig tätig und habe keine eigenen Arbeitnehmer angestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Auf ein Anhörungsschreiben der Beklagten vom 13.04.2016 nahm der Kläger mit Schreiben vom 09.05.2016 dahingehend Stellung, dass er den Schlussfolgerungen der Beklagten, wonach mit dem Beigeladenen ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis vorliege, auf das Entschiedendste widerspreche. Dies sei zu keinem Zeitpunkt der Fall gewesen. Für bestimmte Veranstaltungen benötige seine Firma K, das extern dazu gebucht werde. Das Hinzuziehen von externen Unternehmen sei im Regelfall mit dem Veranstalter abgesprochen und zum Teil extra in der Rechnung ausgewiesen. Dabei würden – meist mündlich – bekannte und erfahrene Firmen in jedem Einzelfall angefragt, ob sie Interesse an der Übernahme eines Auftrags hätten und welche Preisvorstellungen sie hätten. Der Beigeladene nenne bei jeder Anfrage seinen konkreten Preis für diese angefragte Leistung. Die Preisgestaltung obliege ihm selbst. Er habe im Übrigen mehrere Anfragen in der Vergangenheit abgelehnt, weil entweder keine Einigung zustande gekommen sei oder er bereits anderweitig gebucht gewesen sei. Wie die zu erbringende Leistung dann vor Ort erfolge, obliege ausschließlich dem Beigeladenen. Dieser verfüge über hervorragende Qualitäten als medientechnischer Allrounder in den Bereichen Video, Ton und Licht; teilweise überstiegen dessen Kompetenzen seine eigenen, so dass es unsinnig wäre, ihm bezüglich seiner Arbeit und deren Ausführung Anweisungen zu erteilen. Es werde lediglich vor Vertragsabschluss kommuniziert, was der Veranstalter als Kunde wünsche. Die Produktionsleitung habe der Veranstalter inne, nicht seine Firma. Diesen Anordnungen müsse seine Firma ebenfalls folgen – wenn er sich weigere, auf Kundenwünsche einzugehen, werde dieser Veranstalter keine Aufträge mehr erteilen. Bei der Erledigung seines Auftrags sei der Beigeladene völlig weisungsfrei, was sich auch daran zeige, dass er bei vielen Veranstaltungen ohne ihn selbstständig tätig sei. Bei solchen Veranstaltungen müsse ausschließlich der Beigeladene vor Ort entscheiden, wie er z.B. auf Veränderungen der Kundenwünsche oder unerwartete Begebenheiten reagiere. Es sei unmöglich, dass sich der Beigeladene dabei zuerst mit seiner Firma abstimme. In der Veranstaltungsbranche sei es selbstverständlich und unabdingbar, dass der Veranstalter den in der Veranstaltungsbranche tätigen Firmen den Ort, die Zeit und die Dauer der Veranstaltung vorgebe. Dieser enge Rahmen gelte für alle beteiligten Firmen. Der Beigeladene habe innerhalb dieses Rahmens die gleichen Gestaltungsfreiheiten wie seine eigene Firma. In den Jahren 2011 bis 2014 habe er den Beigeladenen zwischen 12 und 30 Tage pro Jahr gebucht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Mit Bescheid vom 19.08.2016 erhob die Beklagte für den Prüfzeitraum 01.01.2011 bis 31.12.2014 eine Nachforderung an Sozialversicherungsbeiträgen über 13.857,57 EUR. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass das durch die Betriebsprüfung eingeleitete sozialversicherungsrechtliche Statusfeststellungsverfahren zu dem Ergebnis geführt habe, dass der Beigeladene in der beim Kläger ausgeübten Tätigkeit im Bereich der Medien- und Videotechnik in der Zeit vom 01.04.2011 bis 31.12.2014 abhängig beschäftigt gewesen sei. Der Beigeladene habe für das Unternehmen des Klägers Dienstleistungen für Medientechnik, Kamera- und Videoproduktionen durchgeführt. Der Inhalt der Produktionen sei ihm dabei in der Regel vorgegeben worden, die gestalterischen Aufgaben hätten nicht in seinem Aufgabenbereich gelegen. Die Produktionsleitung habe bei der Firma des Klägers gelegen, deren Vorgaben der Beigeladene umgesetzt habe. Sämtliches Equipment sei dem Beigeladenen kostenlos zur Verfügung gestellt worden, die Abrechnung sei mit einer Tagespauschale zuzüglich Reise- und Übernachtungskosten erfolgt. Unter Berücksichtigung der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien sei im Ergebnis von einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis auszugehen. Der Beigeladene sei weisungsgebunden gewesen, da er keinen wesentlichen Einfluss auf den Inhalt der Produktion genommen habe und die selbstständige schöpferisch-gestalterische Tätigkeit nicht in seinem Aufgabenbereich gelegen habe. Der Beigeladene sei in die Struktur des Betriebes des Klägers eingegliedert gewesen, weil er in den vom Kläger vorgegebenen Arbeitsprozess im Sinne einer dienenden Teilhabe eingegliedert gewesen sei. Es sei nicht ersichtlich, dass der Beigeladene bei seiner Tätigkeit ein Risiko getragen habe, welches das wirtschaftliche und finanzielle Risiko eines vergleichbaren Arbeitnehmers übersteige und sich als typisch für einen Unternehmer darstelle. Der Beigeladene habe kein nennenswertes Wagniskapital eingesetzt. Insgesamt überwögen die Merkmale, die für eine abhängige Beschäftigung sprächen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Den hiergegen am 06.09.2016 erhobenen und nicht weiter begründeten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.05.2017 zurück. Auch nach nochmaliger Überprüfung nach Aktenlage entspreche der angefochtene Beitragsbescheid der Sach- und Rechtslage und sei nicht zu beanstanden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Zur Begründung der hiergegen am 09.06.2017 zum Sozialgericht (SG) Heilbronn erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, dass der Beigeladene entgegen der Ansicht der Beklagten nicht im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses für den Kläger tätig gewesen sei. Tätigkeiten hätten im streitigen Zeitraum wie folgt stattgefunden:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>2011: 12 Tage 8 Projekte<br/>2012: 24 Tage 14 Projekte<br/>2013: 25 Tage 8 Projekte<br/>2014: 36 Tage 11 Projekte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Schriftliche Vereinbarungen bestünden nicht, die jeweilige Auftragsvergabe erfolge telefonisch. Der Beigeladene entscheide über die Annahme in Abhängigkeit von seiner zeitlichen Verfügbarkeit und der Frage, ob das Projekt seinen gestalterischen Fähigkeiten und Ansprüchen entspreche. Bei der Durchführung der einzelnen Projekte setze er neben ihm vom Kläger zur Verfügung gestelltem Equipment auch eigenes Equipment ein, namentlich seine eigene Kamera, seinen für Video- und Medienregie geeigneten PC und seine Filmschnittsoftware. Er entscheide in eigener Verantwortung, welche medientechnischen Komponenten (Leinwand, Beamer, Beschallung, Funksysteme) er bei der Durchführung eines Auftrages einsetze. Weiterhin entscheide er in Abstimmung mit dem Kunden eigenverantwortlich, welche Szenen er aus welchen Perspektiven mit welcher Licht- und Tongestaltung aufnehme und wie er diese anschließend schneide. Das Schneiden der Aufnahmen sowie anfallende Verwaltungsarbeiten erledige er in seinem Homeoffice; er habe keinen Arbeitsplatz in den Geschäftsräumen des Klägers. Nach Erledigung des jeweiligen Auftrags stelle der Beigeladene dem Kläger seine Tätigkeit zu den jeweils vor Auftragserteilung vereinbarten Tagessätzen mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer in Rechnung. Für eine selbstständige Tätigkeit spreche unter Berücksichtigung der allgemeinen Grundsätze der Statusfeststellung, dass weder der Kläger noch der Beigeladene ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis hätten begründen wollen. Der Beigeladene stelle dem Kläger seine Arbeitskraft nicht umfassend, sondern nur wenige Tage im Jahr zur Verfügung. Es lägen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass er sich dem Kläger im Sinne einer Abrufbarkeit zur Verfügung hätte halten müssen. Nach Auftragsannahme sei er gerade nicht in die betriebliche Organisation des Klägers eingegliedert. Beim Kläger arbeiteten keine Festangestellten mit dem gleichen Tätigkeitsspektrum wie der Beigeladene. Es bestehe auch keine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom Kläger, was allein daran deutlich werde, dass er nur wenige Tage im Jahr für diesen tätig werde. Soweit er bei der Durchführung seiner Tätigkeit in Bezug auf Inhalt, Zeit und Ort gewissen Bindungen unterliege, beruhe dies nicht auf einem arbeitsrechtlichen Weisungsrecht des Klägers, sondern sei vertraglich vereinbarter, durch das Auftragsverhältnis zwischen dem Kläger und dessen Kunden vorgegebener Bestandteil der übernommenen Aufgabe. Der Beigeladene trage auch durchaus ein wirtschaftliches Risiko hinsichtlich der Verwertbarkeit seiner Arbeitskraft und des Einsatzes eigener Gerätschaften (Kamera, Laptop, Schnittsoftware). Darüber hinaus sei er programmgestaltend tätig im Sinne des Abgrenzungskataloges für die im Bereich Theater, Orchester, Rundfunk- und Fernsehanbieter, Film- und Fernsehproduktionen tätigen Personen (auf der Grundlage des gemeinsamen Rundschreibens der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 16.01.1996 zur Durchführung der Künstlersozialversicherung).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat zur Begründung auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden verwiesen. Darüber hinaus stünden die Angaben im Klageverfahren im Widerspruch zu den Angaben im Verwaltungsverfahren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Das SG hat Herrn B zum Verfahren beigeladen und den Beigeladenen schriftlich sowie mündlich im Termin am 26.10.2018 und den Kläger mündlich in Terminen am 24.01.2018 und 26.10.2018 weiter befragt. Der Kläger hat angegeben, er frage je nach Auftrag mehrere Kameramänner an, er habe keinen davon als Arbeitnehmer angestellt. Er frage an und stelle dann das Team zusammen. Bei Zusage erfolge dann eine Vorbesprechung, bei der er nicht immer dabei sei. Er mache keine inhaltlichen oder zeitlichen Vorgaben. Dies ergebe sich aus dem Auftrag. Der Beigeladene benutze in 40 bis 50 Prozent der Aufträge seine eigene Kamera, in 40 Prozent der Fälle seine und in 10 bis 20 Prozent die des Kunden. Er werde höher bezahlt, wenn er seine eigene Kamera einsetze, für den Softwareeinsatz erhalte er keine höhere Bezahlung. Der Beigeladene hat angegeben, dass die gestalterische Freiheit hinsichtlich der Kameraführung bei ihm selbst gelegen habe. Beim Powerpointoperating sei der Inhalt vom Kunden vorgegeben, in seinem Ermessen liege jedoch die zeitliche Steuerung und wie welche Bilder auf die Leinwand projiziert würden. Bei den Aufträgen des Klägers sei immer mindestens eins von seinen Notebooks im Einsatz. Seine eigene Kamera sei bei ca. 50 Prozent der Aufträge des Klägers zum Einsatz gekommen, ansonsten stelle der Kläger oder direkt der Kunde die Kamera bzw. die Technik. In eigene Ausrüstung, die auch auf seine Kosten versichert sei, habe er wie folgt investiert: Asus Notebook X751L 749 EUR, Asus Notebook VivoBook Pro 1.199 EUR, LackMagic ATEM Television Studio Pro HD 999 EUR, BlackMagic WebPresenter 469 EUR, Panasonic AG-AC 160EJ 5.699 EUR, diverse Adapter, USB Sticks, Speicherkarten usw. ca. 1.000 EUR, Videoschnitt PC 1.699 EUR. Er habe ungefähr 30 Kunden, die ihn regelmäßig anfragten. Die Aufträge des Klägers machten etwa 10 bis 15 Prozent seiner Aufträge aus.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Mit Urteil vom 26.10.2018 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 19.08.2016 und den Widerspruchsbescheid vom 08.05.2017 aufgehoben. Die Beklagte habe die Tätigkeit des Beigeladenen im Zeitraum 01.04.2011 bis 31.12.2014 zu Unrecht als abhängig beurteilt und damit rechtswidrig eine Nachforderung in Höhe von 13.857,76 EUR festgesetzt. Zur Begründung hat es unter Darlegung der rechtlichen Grundlagen ausgeführt, dass es nur wenige, schwach wiegende Umstände gebe, die für die Annahme einer abhängigen Beschäftigung sprächen. Die Kriterien, die für eine selbstständige Tätigkeit sprächen, seien zahlreicher, stärker zu gewichten und überwögen. Es sei keine Eingliederung des Beigeladenen in den Betrieb des Klägers erkennbar und er trage ein unternehmerisches Risiko, da er ein erhebliches Wagniskapital eingesetzt habe. Insoweit sei die Beklagte im Rahmen des Verwaltungsverfahrens von einem falschen Sachverhalt ausgegangen. Der Beigeladene habe im Rahmen der mündlichen Verhandlung detailliert und stringent erklärt, dass er für seine Tätigkeit Notebooks, Kamera, Software und weitere Hardware erworben habe. Er habe damit Betriebsmittel in erheblichem Umfang (Volumen etwa 12.000 EUR) angeschafft. Hinzu kämen die laufenden jährlichen Kosten für Softwarelizenzen und eine Betriebshaftpflichtversicherung. Dass der Beigeladene nicht nur seine eigene Kamera nutze, sondern auch die Kameras der Kunden oder des Klägers, spreche nicht entscheidend gegen ein unternehmerisches Risiko des Beigeladenen (mit Hinweis auf Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 21.11.2011 - L 5 R 5703/09 -). Angesichts der erheblichen Kosten und der Vielfalt der erforderlichen Technik wäre es für den Beigeladenen unwirtschaftlich, nur mit eigenen Betriebsmitteln zu arbeiten. Es sei auch keine Eingliederung in den Betrieb des Klägers erkennbar. Der Beigeladene habe die Möglichkeit, Aufträge abzulehnen und dies auch getan. Er habe bei der Erfüllung der Aufträge keine Weisungen des Klägers erhalten. Wenn der Kläger mit vor Ort gewesen sei – was nicht immer der Fall gewesen sei – hätten beide als Kollegen auf Augenhöhe gearbeitet. Der Beigeladene müsse sich vor allem nach den Bedürfnissen des Auftraggebers richten, wie dies zweifellos auch ein selbstständiger Handwerker tun müsse. Für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit spreche außerdem die Bezahlung des Beigeladenen. Im streitigen Zeitraum habe er bei einer Tätigkeit bis zehn Stunden – hierunter fielen auch Aufträge, die nur drei Stunden gedauert hätten – einen Tagessatz von 200 EUR erhalten und bei Aufträgen über zehn Stunden 250 EUR. Dieses Entgelt liege deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und ermögliche dem Beigeladenen, davon zu leben (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 31.03.2017 - B 12 R 7/15 R -). Demgegenüber deute wenig auf eine abhängige Beschäftigung hin. Arbeitnehmertypisch sei der Umstand, dass der Beigeladene Reisekosten und Spesen erhalte. Dies sei aber auch bei Unternehmern verbreitet, weshalb dies eine selbstständige Tätigkeit nicht widerlege.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Gegen das ihr am 09.11.2018 zugestellte Urteil richtet sich die am 27.11.2018 beim LSG Baden-Württemberg eingelegte Berufung der Beklagten, die zur Begründung ausführt, das SG habe mit seinem angefochtenen Urteil zu Unrecht angenommen, dass der Beigeladene nicht abhängig beschäftigt gewesen sei. Den knappen Urteilsgründen sei bereits keine umfassende Würdigung der für eine abhängige bzw. für eine selbstständige Tätigkeit sprechenden Kriterien zu entnehmen. Das erstinstanzliche Gericht stütze seine Entscheidung letztlich nur auf die unzutreffende Annahme, dass keine Eingliederung des Beigeladenen in den Betrieb des Klägers erkennbar sei und er ein unternehmerisches Risiko trage. Im Ergebnis überwögen demgegenüber die Merkmale für eine abhängige Beschäftigung. Auch und insbesondere mit Blick auf die vom BSG in den jüngsten Entscheidungen vom 19.10.2021 (B 12 R 9/20 R Rn. 27 und B 12 KR 29/19 R Rn. 23) aufgestellten Grundsätze sei der Beigeladene als Erfüllungsgehilfe in die (fremde) Betriebsorganisation des Klägers eingegliedert gewesen und habe unter kostenloser Nutzung der zur Verfügung gestellten sächlichen und personellen (fremden) Betriebsmittel gegen Zahlung einer Tagespauschale funktionsgerecht dienend die Leistungspflichten des Klägers gegenüber dessen Kunden erfüllt. Dies folge insbesondere aus den Angaben des Beigeladenen und des Klägers im Verwaltungsverfahren. Danach sei der Beigeladene vom Kläger als Erfüllungsgehilfe eingesetzt worden, um die vom Kläger gegenüber dem Endkunden übernommenen Leistungspflichten zu erfüllen. Diese ursprünglichen Angaben von Kläger und Beigeladenem seien erst im Laufe des Verfahrens relativiert worden. Der Beigeladene sei jedoch auch danach für den Kläger als Kameramann, Videotechniker und Powerpointoperator tätig gewesen, er habe technische und kreative Vorgaben des Klägers umgesetzt, dem die Produktionsleitung oblegen habe. Er habe lediglich seine Arbeitskraft gegen einen festen Tagessatz zur Verfügung gestellt, ganz überwiegend die kostenlos vom Kläger zur Verfügung gestellte Technik benutzt, überwiegend im Team gearbeitet. Dass ihm bei der Tätigkeitsausübung keine fachlichen Weisungen erteilt werden müssten und „auf Augenhöhe“ gearbeitet werde, sei typisch für höher qualifiziertes Personal und spreche für eine funktionsgerecht dienende Teilhabe an dem vom Kläger verantwortlich organisierten Produktionsprozess. Es erschließe sich der Beklagten nicht, dass der Beigeladene programmgestaltend tätig gewesen sein sollte. Bei der Aufzeichnung von Veranstaltungen handele es sich um einen technischen Vorgang; für eine gestalterische Einflussnahme bleibe dabei kaum Raum. Nachdem der Kläger in dem von ihm ausgefüllten Fragebogen angegeben habe, dass Arbeitsmittel kostenlos zur Verfügung gestellt würden, sei auch die Feststellung des SG, dass der Beigeladene ein unternehmerisches Risiko trage, da er eigene Betriebsmittel in erheblichem Umfang angeschafft habe, nicht nachvollziehbar, insbesondere nicht das angegebene Volumen von 12.000 EUR. Letztendlich habe der Beigeladene für die Tätigkeit bei dem Kläger nur sein Laptop und – selten – seine Kamera eingesetzt. Letzteres sei aufgrund des durch den Kläger zur Verfügung gestellten Equipments aber nicht zwingend erforderlich. Die Nutzung eigener Arbeitsmittel sei von völlig untergeordneter Bedeutung und keineswegs prägend für das Beschäftigungsverhältnis. Soweit der Beigeladene über eigene Betriebsmittel verfüge, die er bei Aufträgen für weitere Auftraggeber einsetze, sei dies für das vorliegend zu beurteilende Vertragsverhältnis nicht relevant. Die Schlussfolgerung des SG, dass keine Eingliederung in den Betrieb des Klägers erkennbar sei, sei nach alledem fehlerhaft. Jedenfalls nach Annahme des jeweiligen einzelnen Auftragsangebots sei der Beigeladenen in die betrieblichen Abläufe – das Team – des Klägers eingegliedert gewesen. Schließlich überzeugten auch nicht die Erwägungen des SG zur Entgelthöhe. Wie das SG zu der Erkenntnis komme, dass der Tagessatz von 200 bzw. 250 EUR deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liege, bleibe offen. Im Übrigen dürfe die Honorarhöhe ausschließlich in Fällen unklarer Einordnung der Tätigkeit den Ausschlag geben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Beklagte beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="16"/>das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 26. Oktober 2018 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 19. August 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Mai 2017 abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="18"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Das SG habe den Bescheid der Beklagten vom 19.08.2016 und den Widerspruchsbescheid vom 08.05.2016 zu Recht aufgehoben, da die Tätigkeit des Beigeladenen für den Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum bei Gesamtwürdigung aller Umstände nicht als Beschäftigung im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB IV zu qualifizieren sei. Die Ausführungen im Rahmen der Berufungsbegründung rechtfertigten keine andere rechtliche Beurteilung. Insbesondere nach der Anhörung des Klägers und des Beigeladenen in den Terminen vor dem SG am 24.01. und am 26.10.2018 sei (teilweise anders als von der Beklagten im Verwaltungsverfahren angenommen) von folgendem Sachverhalt auszugehen: Der Kläger betreibe ein Einzelunternehmen für Medien- und Tontechnik. Er arbeite mit verschiedenen Kameraleuten, Videotechnikern und Powerpointoperatoren zusammen, die er je nach Format der Kundenveranstaltung (z.B. Betriebsversammlungen, Hausmessen und Unternehmenspräsentationen) und Kundenwunschanfrage. Er habe selbst keine eigenen Kameraleute, Videotechniker oder Powerpointoperatoren angestellt. Der Beigeladene sei im streitgegenständlichen Zeitraum projektbezogen als Kameramann, Videotechniker und Powerpointoperator für den Kläger tätig gewesen. Schriftliche Vereinbarungen zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen hätten nicht bestanden, weder in Form auftragsbezogener Einzelvereinbarungen noch in Form einer Rahmenvereinbarung. Der Beigeladene sei in der Auftragsannahme frei gewesen und habe seine diesbezüglichen Entscheidungen jeweils in Abhängigkeit von seiner eigenen zeitlichen Verfügbarkeit getroffen. Bei der Erledigung angenommener Aufträge habe der Beigeladene in sämtlichen Einzelfällen ein eigenes Notebook mit einer speziellen Software sowie in 40 bis 50 Prozent der Aufträge eine eigene Kamera eingesetzt. In den übrigen 50 bis 60 Prozent der Fälle, namentlich wenn der Endkunde selbst über eine geeignete Kameraausrüstung verfügt habe oder die eigene Kamera des Beigeladenen den Anforderungen des jeweiligen Auftrags in technischer Hinsicht nicht genügt habe, sei die Kamera vom Endkunden bzw. vom Kläger zur Verfügung gestellt worden. Für sein eigenes Equipment habe der Beigeladene ca. 12.000 EUR investiert, die jährlichen Lizenzgebühren für die Schnittsoftware betrügen 1.600 bis 1.700 EUR. Der Beigeladene unterhalte eine eigene Betriebshaftpflichtversicherung, für die er Versicherungsprämien von ca. 1.200 EUR jährlich aufwende. Zeit und Ort der Durchführung der einzelnen Aufträge seien vom Kunden vorgegeben worden. Hierüber hinausgehende Vorgaben des Klägers hätten nicht bestanden. Am jeweiligen Drehort habe der Beigeladene (unter Berücksichtigung der Wünsche des Endkunden) eigenverantwortlich darüber bestimmt, welche Bilder und Szenen aus welcher Perspektive mit welcher Lichtgestaltung er aufgenommen und den Veranstaltungsteilnehmern gezeigt habe. Der Kläger selbst sei nur bei ca. 50 Prozent der Veranstaltungen selbst vor Ort gewesen; auch in diesen Fällen habe der Beigeladene eigenständig über Kameraführung und Bildschnitt entschieden. Auch bei von Endkunden für deren Firmenarchiv in Auftrag gegebenen Veranstaltungsmitschnitten habe der Beigeladene eigenständig darüber entschieden, welche Bilder und Szenen er in diese Mitschnitte aufgenommen habe. Der Beigeladene habe rund 30 regelmäßige Auftraggeber. Die Einnahmen aus den Aufträgen des Klägers hätten 10 bis 15 Prozent seiner Gesamteinnahmen betragen. Er habe keinen Arbeitsplatz in den Geschäftsräumen des Klägers gehabt. Die Anfertigung vom Endkunden gewünschter Veranstaltungsmitschnitte sowie Verwaltungsarbeiten habe er im Homeoffice erledigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Unter Zugrundelegung der maßgeblichen Grundsätze überwögen, wie das SG im angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt habe, entgegen der Ansicht der Beklagten die für eine selbstständige Tätigkeit sprechenden Umstände die für eine abhängige Beschäftigung sprechenden Umstände nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht deutlich. Der Beigeladene sei bei der Durchführung der ihm erteilten Aufträge weder in den Betrieb des Klägers eingegliedert gewesen noch sei er dessen Weisungsrecht in Bezug auf Zeit, Ort, Dauer und Art seiner Tätigkeit unterlegen. Das von der Beklagten gezeichnete Bild eines „Teams“ unter der Produktionsleitung des Klägers sei schlichtweg falsch. Eine Eingliederung des Beigeladenen in ein Team unter der Leitung des Klägers sei in den Fällen, in denen der Kläger nicht selbst vor Ort gewesen sei, bereits denklogisch ausgeschlossen. Aber auch bei den Veranstaltungen, bei denen der Kläger vor Ort gewesen sei, habe der Beigeladene seine Tätigkeit inhaltlich nicht nach Weisung des Klägers, sondern eigenverantwortlich ausgeführt. Nicht der Kläger, sondern der Beigeladene habe entschieden, welche Bilder und Szenen er während der jeweiligen Veranstaltung aus welcher Perspektive und mit welcher Lichtgestaltung aufgezeichnet, in der Veranstaltung auf der Leinwand gezeigt und in einer nachgelagerten Aufzeichnung geschnitten habe. Er habe die einzelnen Veranstaltungen nicht nur technisch aufgezeichnet, sondern (anders als beispielsweise Kameraleute bei Sportveranstaltungen, die von der Regie konkret Anweisungen erhielten, welche Bilder und Szenen wie aufzunehmen seien) selbst Bild- und Tonregie geführt. Angesichts der Anschaffungskosten des vom Beigeladenen verwendeten eigenen Equipments (Notebook und Kamera u.a. für rund 12.000 EUR) und der laufenden Kosten für die Schnittsoftware (1.600 bis 1.700 EUR jährlich) könne keine Rede davon sein, dass der Einsatz eigener Arbeitsmittel des Beigeladenen von völlig untergeordneter Bedeutung gewesen sei und er deshalb keinem unternehmerischen Risiko unterlegen sei, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass bei der Tätigkeit des Beigeladenen der Einsatz von K und Arbeitszeit im Vordergrund gestanden hätten. Selbst wenn der Beigeladene wie von der Beklagten angenommen nur in weniger als 40 bis 50 Prozent der Aufträge seine eigene Kamera benutzt habe, spreche dies entgegen deren Auffassung nicht gegen ein Unternehmerrisiko, denn der Beigeladene habe bei jedem Auftrag mindestens ein eigenes Notebook und die von ihm selbst angeschaffte Schnittsoftware eingesetzt. Im Übrigen sei entscheidendes Kriterium für ein Unternehmerrisiko des Beigeladenen, dass er zur Ausübung seiner Tätigkeit Investitionen in einem berufsspezifisch erheblichen Umfang angeschafft habe, und nicht, ob er diese auch in jedem Einzelfall einsetze. Es habe auch keine einem Arbeitnehmer vergleichbare persönliche Abhängigkeit des Beigeladenen gegenüber dem Kläger bestanden. Da der Beigeladene dem Kläger seine Arbeitskraft nicht umfassend, sondern nur zu 10 bis 15 Prozent zur Verfügung gestellt habe, habe insbesondere keine wirtschaftliche Abhängigkeit bestanden. Dass der Beigeladene seine Leistungen unter Zugrundelegung eines gestaffelten Tageshonorars abgerechnet habe, stehe einer selbstständigen Tätigkeit nicht entgegen, weil bei überwiegend dienstleistungsbezogenen Tätigkeiten ein erfolgsabhängiges Entgelt nicht zu erwarten sei. Vielmehr sei die Tatsache, dass das zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen vereinbarte Tageshonorar von 200 EUR bzw. 250 EUR deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gelegen habe und dadurch Eigenvorsorge zugelassen habe, nach der Rechtsprechung des BSG ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Der Senat hat die Kaufmännische Krankenkasse Hannover und die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 75 Abs. 2b SGG hinsichtlich einer in Betracht kommenden Beiladung angehört. Keiner der weiteren Versicherungsträger hat seine Beiladung beantragt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Berichterstatterin des Senats hat am 27.04.2022 einen Termin zur Erörterung des Sachverhalts durchgeführt, in dem der Kläger und der Beigeladene weitere Angaben gemacht haben. Insoweit wird auf das Protokoll vom 27.04.2022 Bezug genommen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Mit Schriftsätzen vom 12.06., 20.06. und 21.06.2022 haben die Beteiligten einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die gemäß § 141 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entschieden hat, ist gemäß § 143 SGG statthaft und insgesamt zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG liegen nicht vor. Die Berufung ist jedoch unbegründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 19.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.05.2017, mit dem die Beklagte in Bezug auf die Tätigkeiten des Beigeladenen Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung und nach dem Recht der Arbeitslosenversicherung festgestellt und entsprechende Beiträge und Umlagen in Höhe von insgesamt 13.857,76 EUR nachgefordert hat. Das SG hat der hiergegen erhobenen Klage zu Recht stattgegeben. Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und unbegründet. Der genannte Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 28p Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 SGB IV. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV) mindestens alle vier Jahre (Satz 1). Die Träger der Rentenversicherung erlassen nach Satz 5 dieser Vorschrift im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte (verkörpert im sog. Prüfbescheid, BSG, Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, juris) zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern; insoweit gelten § 28h Abs. 2 SGB IV sowie § 93 i.V.m. § 89 Abs. 5 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht. Mit § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV ist klargestellt, dass die Zuständigkeit der Träger der Rentenversicherung unabhängig von den eigentlich nach § 28h Abs. 2 Satz 1 SGB IV für solche Feststellungen zuständigen Einzugsstellen besteht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die Beklagte war als Rentenversicherungsträgerin auch zur Überwachung des Umlageverfahrens (sog. U1- und U2-Umlage) nach dem Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (Aufwendungsausgleichsgesetz - AAG -) und zum Erlass eines entsprechenden Umlagebescheids befugt. Denn § 10 AAG stellt die Beiträge zum Ausgleichsverfahren insoweit den Beiträgen zur GKV gleich, die ihrerseits Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28d S 1 SGB IV) sind, der von der Beklagten im Rahmen einer Betriebsprüfung (§ 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV) geltend zu machen ist (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 26.09.2017 - B 1 KR 31/16 R -, juris). Gleiches gilt seit dem 01.01.2009 in Bezug auf die Insolvenzgeldumlage. Nach § 359 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist die Umlage zusammen mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle zu zahlen. Nach Satz 2 finden die für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag geltenden Vorschriften des SGB IV entsprechende Anwendung und damit wiederum § 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV mit seiner die Zuständigkeit der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung begründenden Wirkung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Der angefochtene Bescheid ist formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X. Den für sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen notwendigen Angaben einer bestimmbaren Arbeit und der gerade hiermit in Zusammenhang stehenden Entgeltlichkeit (vgl. näher BSG, Urteile vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R - und vom 04.06.2009 - B 12 R 6/08 R -, Juris) ist die Beklagte gerecht geworden. Zudem handelt es sich nicht um die isolierte Feststellung des Vorliegens einer abhängigen Beschäftigung (sog. unzulässige Elementenfeststellung, vgl. BSG, Urteil vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R -, Juris). Der Kläger ist vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheides mit Schreiben vom 13.04.2016 auch ordnungsgemäß angehört worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Der angefochtene Bescheid ist jedoch materiell rechtswidrig, weil der Beigeladene im streitgegenständlichen Zeitraum nicht beschäftigt im Sinne der gesetzlichen Vorgaben war. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB IV sind in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung nach Maßgabe der besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige unter anderem Personen versicherungspflichtig, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Entsprechende Regelungen (Versicherungspflicht von Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind) finden sich für die Arbeitslosenversicherung in § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III, für die gesetzliche Rentenversicherung in § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, für die Krankenversicherung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V sowie in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB XI als akzessorische Regelung zur gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Dabei liegt der Beitragsbemessung für den vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag gemäß den §§ 28d, 28e SGB IV das Arbeitsentgelt zu Grunde (§ 342 SGB III, § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, auf die Regelung im SGB V verweisend § 57 Abs. 1 SGB XI, § 162 Nr. 1 SGB VI). Dies gilt auch in Bezug auf die Umlagen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AAG bzw. § 358 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Arbeitsentgelt sind gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV definiert den Begriff der Beschäftigung als nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach Satz 2 der Regelung sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich, ausgehend von den genannten Umständen, nach dem Gesamtbild der Tätigkeit und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 19.10.2021 - B 12 R 10/20 R -, juris Rn. 21; zum Ganzen u.a. BSG, Urteile vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R -, vom 30.04.2013 - B 12 KR 19/11 R -, vom 30.10.2013 - B 12 KR 17/11 R - und vom 30.03.2015 - B 12 KR 17/13 R -, juris, Rdnr. 15 – jeweils juris und m.w.N.; zur Verfassungsmäßigkeit der anhand dieser Kriterien häufig schwierigen Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20.05.1996 - 1 BvR 21/96 -, juris). Maßgebend ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung (zum Ganzen u.a. BSG, Urteile vom 24.01.2007 - B 12 KR 31/06 R -, vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R - und vom 30.10.2013 - B 12 KR 17/11 R -, jeweils juris und m.w.N.). Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine abhängige Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine - formlose - Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG, Urteil vom 08.12.1994 - 11 RAr 49/94 -, juris). In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von den Vereinbarungen abweichen (BSG, Urteile vom 01.12.1977 - 12/3/12 RK 39/74 -, vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 R - und vom 10.08.2000 - B 12 KR 21/98 R -, juris). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (vgl. hierzu insgesamt BSG, Urteile vom 24.01.2007 - B 12 KR 31/06 R - und vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R -, juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Für die Statusabgrenzung ist sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) als auch des BSG grundsätzlich nicht entscheidend, ob der Betreffende auch für andere Auftraggeber tätig ist bzw. war (BAG, Urteil vom 09.10.2002 - 5 AZR 405/01 -, juris). Erforderlich ist selbst im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses stets eine Bewertung der einzelnen Arbeitseinsätze am Maßstab der von der Rechtsprechung für die Abgrenzung zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung entwickelten Grundsätze (BSG, Urteile vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R - und vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R -, juris). Abzustellen ist daher zunächst nur auf die Tätigkeit des Beigeladenen für den Kläger.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Das SG hat diese maßgeblichen rechtlichen Grundlagen im Urteil vom 26.10.2018 ohne Rechtsfehler dargestellt und den Sachverhalt unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung zutreffend gewürdigt. Es überwiegen in der Zusammenschau aller Aspekte diejenigen, die gegen eine abhängige Beschäftigung des Beigeladenen beim Kläger sprechen. Hierzu verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG, denen er sich nach eigener Prüfung vollumfänglich anschließt und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück, § 153 Abs. 2 SGG.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Ergänzend und mit Blick auf das Vorbringen der Beklagten in der Berufungsbegründung weist der Senat auf Folgendes hin:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Ausgangspunkt für die vorzunehmende rechtliche Bewertung sind die tatsächlichen Umstände, unter denen der Beigeladene im streitgegenständlichen Zeitraum für den Kläger tätig war. Diese Umstände stehen für den Senat aufgrund des Gesamtinhalts des Verfahrens, insbesondere der aktenkundigen Angaben des Klägers und des Beigeladenen sowie deren Angaben in den vom SG durchgeführten Verhandlungen und in dem von der Berichterstatterin des Senats am 27.04.2022 durchgeführten Erörterungstermin fest.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Danach ist der Kläger Inhaber eines Einzelunternehmens auf dem Gebiet der Medientechnik. Sein zentrales Geschäftsfeld ist (und war auch im streitgegenständlichen Zeitraum) die Vermietung von Beamern, Großbildwänden, Kameras und weiterer Medientechnik für die Durchführung von größeren und kleineren Veranstaltungen. Der Kläger selbst übernimmt bei derartigen Veranstaltungen im Auftrag des jeweiligen Kunden die Medienregie. Kameramann ist der Kläger selbst nicht, er verfügt weder über das technische Knowhow noch über die Ausrüstung (z.B. Schnittsoftware) für die Herstellung beispielsweise von Videomitschnitten der Veranstaltungen. Fest angestellte Kameraleute hatte er im streitgegenständlichen Zeitraum nicht. Benötigt der jeweilige Kunde einen Kameramann, fragt der Kläger bei ihm bekannten Kameraleuten, darunter dem Beigeladenen an, ob diese die angefragte Kameratätigkeit übernehmen können. Im streitgegenständlichen Zeitraum 2011 bis 2014 war das in Bezug auf den Beigeladenen wie folgt der Fall: 2011 an 12 Tagen für 8 Projekte, 2012 an 24 Tagen für 14 Projekte, 2013 an 25 Tagen für 8 Projekte und 2014 an 36 Tagen für 11 Projekte. Der Beigeladene hat im Zusammenhang mit seinen Tätigkeiten für den Kläger in jedem Fall sein eigenes Notebook eingesetzt, in einem Teil der Einsätze seine eigene Kamera, in den anderen Einsätzen Kameras des Klägers oder des jeweiligen Veranstalters. Waren Videomitschnitte zu erstellen, hat der Beigeladene diese im Homeoffice unter Verwendung seines eigenen Notebooks und eigener Schnittsoftware hergestellt. Der Beigeladene hat dem Kläger für seine Tätigkeiten im streitgegenständlichen Zeitraum Tagessätze von 200 EUR (Einsatz bis zu 10 Stunden pro Tag) bzw. 250 EUR (Einsatz mehr als 10 Stunden pro Tag) insgesamt rund 33.000 EUR in Rechnung gestellt, die der Kläger bezahlt und als „Fremdleistungen“ in seine Bilanz eingestellt hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Auch nach der Überzeugung des Senats überwiegen ausgehend von den dargelegten Abgrenzungsmaßstäben, die auch das SG schon seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, und vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen die Indizien gegen das Vorliegen von Beschäftigung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Zunächst ist sozialversicherungsrechtlich nicht ausschlaggebend, dass der Kläger und der Beigeladene, zwischen denen schriftliche Vereinbarungen nicht bestehen, die Tätigkeit des Beigeladenen für den Kläger übereinstimmend als eine selbstständige wollten und auch als solche angesehen haben, insbesondere auch vom Kläger keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden, denn der besondere Schutzzweck der Sozialversicherung schließt es aus, dass über die rechtliche Einordnung einer Person – als selbstständig oder beschäftigt – allein die Vertragsschließenden entscheiden. Über zwingende Normen kann nicht im Wege der Privatautonomie verfügt werden. Vielmehr kommt es entscheidend auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung der Vertragsverhältnisse an (BSG, Urteil vom 04.06.2019 - B 12 R 11/18 R -, juris Rn.19).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Ohne entscheidendes Gewicht, jedoch eher gegen abhängige Beschäftigung sprechend ist für den Senat die Tatsache, dass der Beigeladene nach den übereinstimmenden Angaben von Kläger und Beigeladenem in der Übernahme der einzelnen Aufträge bzw. Anfragen des Klägers frei war und die Entscheidung hierüber nach seiner jeweiligen zeitlichen Verfügbarkeit getroffen hat. Insoweit hat zwar die Beklagte zutreffend darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des BSG auch im Rahmen abhängiger Beschäftigungen Vertragsgestaltungen nicht unüblich sind, die es weitgehend dem Arbeitnehmer überlassen, ob er im Anforderungsfall tätig werden will oder ob er ein konkretes Angebot im Einzelfall ablehnt, weil allein diese grundsätzliche Ablehnungsmöglichkeit eine ansonsten in persönlicher Abhängigkeit in einem fremden Betrieb ausgeübte Tätigkeit nicht zu einer selbstständigen macht (BSG, Urteil vom 31.03.2017 - B 12 KR 16/14 -, juris Rn. 29). Fehlt es jedoch an dieser in persönlicher Abhängigkeit ausgeübten Tätigkeit in einem fremden Betrieb (hierzu sogleich), bleibt es dabei, dass die Möglichkeit der Ablehnung von einzelnen Aufträgen eher ein Indiz für Selbstständigkeit ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Vom Grundsatz her zutreffend hat die Beklagte betont, dass nach der Rechtsprechung des BSG, die in den Entscheidungen vom 19.10.2021 (B 12 R 10/20 R, juris Rn. 27; B 12 KR 29/19 R, juris Rn. 23: Notärzte im Rettungsdienst) nochmals bestätigt und weiter ausdifferenziert wurde, ein maßgebendes Kriterium für das Vorliegen von abhängiger Beschäftigung wäre, wenn der Beigeladene im Rahmen der tatsächlichen Ausgestaltung des Auftragsverhältnisses einem Weisungsrecht des Klägers unterlegen und in einer seine Tätigkeit prägenden Weise in dessen Betriebsabläufe und -strukturen eingegliedert gewesen wäre. Zwar kann, wenn die zu beurteilende Tätigkeit Teil eines größeren Auftrags (Projekt) ist, den der Auftraggeber von einem Dritten (Endkunden) übernommen hat, eine betriebliche Einordnung in die Arbeitsorganisation dieses Auftraggebers vorliegen, wenn dieser den Arbeitsablauf durch organisatorische und koordinierende Maßnahmen steuert (vgl. umfassend Segebrecht in: JurisPK-SGB IV § 7 Abs. 1 Rdnr. 80 ff)<em>. </em>Anders als die Beklagte meint, sind diese Kriterien jedoch vorliegend nicht erfüllt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Vom Kläger vorgegebene feste Betriebsstrukturen, in die der Beigeladene (etwa vergleichbar den Organisationsstrukturen eines Rettungsdienstes, wie es der zitierten Entscheidung des BSG zugrunde lag) eingegliedert worden wäre, vermag der Senat in der vorliegenden Fallkonstellation nicht zu erkennen. Zwar wurde der Kläger, wie er mehrfach und glaubhaft geschildert hat, regelmäßig von seinen Kunden mit einem „Gesamtpaket“ beauftragt, zu dem die Bereitstellung erforderlicher Technik (Beamer, Großbildwand, Kameras), ggf. diese Technik bedienender Personen und ggf. die anschließende Herstellung einer Videodokumentation gehörte. Hierbei übernahm der Kläger selbst regelmäßig Aufgaben der Medienregie. Allein die Übernahme solcher „Gesamtpakete“ begründet jedoch nach der Überzeugung des Senats keine Organisationsstrukturen im Sinne der Rechtsprechung des BSG. Sie hindert den Kläger nicht daran, abgrenzbare Bestandteile des Auftrags durch weitere Personen - hier den Beigeladenen - erfüllen zu lassen. Diese abgrenzbaren Aufgaben - sei es das Filmen einer Veranstaltung, sei es die Herstellung der anschließenden Dokumentation - hat der Beigeladene in eigener Verantwortung erfüllt. Durch den Kläger vorgegebener Strukturen bedurfte es hierbei nicht, geschweige denn eines wie die Beklagte meint „vom Kläger verantwortlich organisierten Produktionsprozesses“. Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass die Leistung des Beigeladenen ihr „Gepräge“ von der Ordnung des Betriebes des Klägers erhalten würde. Selbst wenn man eine gewisse Einbindung annehmen würde, wäre diese derart locker, dass dies nicht als ausreichend für die Annahme einer persönlichen Abhängigkeit des Beigeladenen vom Kläger anzusehen wäre.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Der Kläger hat dem Beigeladenen auch keine konkreten Weisungen hinsichtlich der Art und Weise seiner Tätigkeit, etwa wann welche Aufnahmen aus welcher Perspektive oder mit welchen Einstellungen zu erfolgen haben, erteilt. Dies hat sich letztlich aus der zu erfüllenden Aufgabe, nicht jedoch aus konkreten Einzelweisungen des Klägers etwa hinsichtlich Kameraführung, Kameraposition o.ä. ergeben. Der Beigeladene war nach den übereinstimmenden Angaben von Kläger und Beigeladenem, die von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen wurden, allein für die fachlich handwerkliche Durchführung seiner Kameraarbeit zuständig, so etwa lag die konkrete Art und Weise der Kameraführung allein in seiner fachlichen Kompetenz (vgl. insoweit LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.11.2011 – L 5 R 5703/09 -, juris Rn. 70ff.: dort Kamerawerk als „abgrenzbares Teilwerk“ angesehen). Soweit die Beklagte die übereinstimmenden Angaben von Kläger und Beigeladenem im Erörterungstermin, wonach die Zusammenarbeit von Kameramann oder Kameraleuten, Tontechnikern und Medientechnikern im Team erfolgt sei, dahingehend gewürdigt hat, dass dieses Team der Produktionsleitung durch den Kläger und damit dessen Weisungen unterstanden habe, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Zwar hat der Kläger bei gemeinsamen Einsätzen Aufgaben der Medienregie übernommen. Allein die Tatsache, dass er im Rahmen dieser Medienregie entschieden hat, ob Filmaufnahmen, Präsentationen oder Sonstiges auf den Großbildwänden gezeigt wurden, macht ihn gegenüber dem Kameramann, also dem Beigeladenen nicht zum Weisungsbefugten. Zusammenarbeit und Absprachen zwischen Technikern verschiedener Bereiche (z.B. Beleuchtung, Ton, Kamera, Medienregie) sind zur Gewährleistung eines insgesamt reibungslosen Ablaufs einer Veranstaltung erforderlich und gerade kein wesentliches Indiz für arbeitnehmertypische Weisungsgebundenheit (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2016 - L 13 R 192/17 -, sozialgerichtsbarkeit.de: Veranstaltungstechniker; LSG Hamburg, Urteil vom 10.05.2017 - L 2 R 12/17 -, juris Rn. 29: auch bei Einbindung in ein Produktionsteam keine Weisungsabhängigkeit bei gleichberechtigter Kooperation aller beteiligten Gewerke; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.11.2015 - L 1 KR 136/13 -, juris Rn. 24f.: maßgeblich ist Weisungsfreiheit im Kernbereich der Aufgaben des Kameramanns: Optiken, Lichtgestaltungen, Kranfahrten, bewegte oder statische Bilder). Im Übrigen haben sowohl der Kläger als auch der Beigeladene betont, dass eventuelle Vorgaben hinsichtlich der Art und Weise der Auftragserfüllung Sache des jeweiligen Veranstalters waren, mit dem der Beigeladene auch jeweils eigene Absprachen getroffen hat (z.B. hinsichtlich der Standorte der Kamera). Solche Vorgaben beruhten dann gerade nicht auf Weisungen, die der Kläger im eigenen Interesse und aufgrund eigener arbeitgeberseitiger Erwägungen erteilt hätte. Hieraus resultierte kein mit Weisungsbefugnis bzw. Weisungsunterworfenheit verbundenes Über- oder Unterordnungsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen, das für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprechen könnte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Auch das gewichtige Kriterium eines eigenen Unternehmerrisikos des Beigeladenen ist nach der Überzeugung des Senats erfüllt. Soweit die Beklagte ein solches maßgebliches Unternehmerrisiko deswegen verneint, weil im Fall des Beigeladenen die Nutzung eigener Arbeitsmittel („Laptop und – selten – eigene Kamera“) von völlig untergeordneter Bedeutung sei, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Maßgebendes Kriterium für ein unternehmerisches Risiko ist nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen (vgl. etwa BSG, Urteile vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -, juris Rn. 36; vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 R -; vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R -, vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, jeweils juris), ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der sächlichen oder persönlichen Mittel also ungewiss ist. Allerdings ist ein unternehmerisches Risiko nur dann Hinweis auf eine selbstständige Tätigkeit, wenn diesem Risiko auch größere Freiheiten in der Gestaltung und der Bestimmung des Umfangs beim Einsatz der eigenen Arbeitskraft (vgl. schon BSG, Urteile vom 13.07.1978 - 12 RK 14/78 -; vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, juris) oder größere Verdienstchancen gegenüberstehen (BSG, Urteile vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R - und vom 31.03.2015 - B 12 KR 17/13 R -, juris). Aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft gegebenenfalls nicht verwerten zu können, folgt hingegen kein Unternehmerrisiko bezüglich der einzelnen tatsächlich erbrachten Einsätze (BSG, Urteil vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die ersten Angaben von Kläger und Beigeladenem in ihren Fragebögen weiter davon ausgeht, dass die sächlichen Betriebsmittel (Kamera, sonstiges Equipment) nahezu vollständig vom Kläger gestellt worden seien, ist darauf hinzuweisen, dass die in den Fragebögen vorgegebenen Antwortmöglichkeiten (ja oder nein) eher eng gefasst sind und differenzierende Antworten kaum zulassen. Es steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der Angaben des Beigeladenen im Klage- und Berufungsverfahrens vielmehr fest, dass er für seine Tätigkeit als Kameramann/Medientechniker unternehmertypische Investitionen getätigt hat und zwar durch den Erwerb diverser Ausrüstungsgegenstände (Asus Notebook X751L 749 EUR, Asus Notebook VivoBook Pro 1.199 EUR, LackMagic ATEM Television Studio Pro HD 999 EUR, BlackMagic WebPresenter 469 EUR, Panasonic AG-AC 160EJ 5.699 EUR, diverse Adapter, USB Sticks, Speicherkarten usw. ca. 1.000 EUR, Videoschnitt PC 1.699 EUR). Dies wird von der Beklagten als solches auch nicht in Zweifel gezogen. Soweit sie darauf hingewiesen hat, dass der Beigeladene diese Betriebsmittel möglicherweise für seine weiteren Auftraggeber, nicht jedoch für seine Tätigkeiten für den Kläger eingesetzt habe und daher in Bezug auf diese Tätigkeit kein maßgebliches Unternehmerrisiko anzunehmen sei, ist dem nicht zu folgen: Zum einen erscheint in diesem Zusammenhang die Betrachtung nur der Verhältnisse bei Durchführung der einzelnen Aufträge zu eng: Ein typisches unternehmerisches Risiko kann sich nämlich gerade daraus ergeben, dass vorgreiflich Investitionen (auch) im Hinblick auf eine ungewisse Vielzahl zukünftig am Markt noch einzuwerbende Aufträge getätigt werden (so auch BSG, Urteil vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -, juris Rn. 35). Auf die Frage, ob der Beigeladene bei jedem seiner Einsätze für den Kläger seine eigene Kamera und weiteres Equipment genutzt hat, kommt es daher nicht an. Ausreichend ist – und der Senat ist davon überzeugt, dass das vorliegend der Fall war –, dass der Beigeladene die von ihm getätigten Investitionen auch bei seinen Tätigkeiten für den Kläger eingesetzt hat. So hat der Kläger mehrfach betont, dass er selbst weder über Ausrüstung noch über das notwendige Knowhow für die Herstellung von Videodokumentationen verfüge. Die hierfür notwendige Software (Lizenzkosten etwa 1.600 EUR pro Jahr) hat der Beigeladene ebenso selbst vorgehalten wie eine Betriebshaftpflichtversicherung. Er hat ferner bei seinen Kameraeinsätzen ein eigenes Laptop sowie – soweit nach den Anforderungen des Kunden ausreichend – seine eigene Kamera im Einsatz gehabt. Von „völlig untergeordneter Bedeutung“ (so die Beklagte) des Einsatzes eigener Arbeitsmittel kann insoweit keine Rede sein (Unternehmerrisiko auch bejaht etwa durch LSG Hamburg, Urteil vom 10.05.2017 - L 2 R 12/17 -, juris Rn. 32 bei Einsatz eines Laptops mit Schneideprogramm, Fotokamera, zeitweise Filmkamera; SG München, Urteil vom 16.03.2017 - S 31 R 388/16 -, juris Rn. 46: Nutzung auch fremden Kamera-Equipments nicht schädlich, wenn auch eigene Kameraausrüstung eingesetzt, bestätigt durch Bayerisches LSG, Urteil vom 22.04.2021 - L 14 R 5052/17, juris - Leitsatz). Ein unternehmerisches Risiko sieht der Senat auch darin, dass im Fall ausbleibender Aufträge für den Beigeladenen die von ihm getätigten Investitionskosten brachliegen (Kameraausrüstung, Laptop) bzw. weiter anfallen (Lizenzkosten für Software, Betriebshaftpflichtversicherung; vgl. zu diesem Kriterium auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2012 - L 4 R 761/11 -, juris Rn.53; Sächsisches LSG, Urteil vom 22.04.2016 - L 1 KR 228/11 -, juris Rn. 40).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Anders als die Beklagte meint, sind die Tätigkeiten des Beigeladenen für andere Auftraggeber und die hieraus erzielten Einkünfte auch nicht vollständig irrelevant für die vorliegend zu treffenden Beurteilung. Zwar können auch Teilzeitbeschäftigte nebeneinander für mehrere Arbeitgeber tätig sein. Eine Tätigkeit für mehrere Auftraggeber erhält damit erst in der Zusammenschau mit weiteren typischen Merkmalen einer selbständigen Tätigkeit Gewicht, wie z.B. einem werbenden Auftreten am Markt für die angebotenen Leistungen. Wenn aber in relevantem Umfang eine Tätigkeit auch für andere Auftraggeber stattfindet, sind solche anderweitigen Tätigkeiten ein Indiz für eine ganz erhebliche Dispositionsfreiheit in Bezug auf die zu beurteilende Tätigkeit. Dies folgt bereits daraus, dass sie die zeitliche Verfügbarkeit des Auftragnehmers erheblich einschränken (BSG, Urteil vom 04.09.2018 - B 12 KR 11/17 R -, juris Rn. 23). Für eine selbstständige Tätigkeit des Beigeladenen spricht insoweit, dass er zwar nicht offensiv, aber doch werbend am Markt auftritt (vgl. zu diesem Kriterium auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 01.11.2017 - L 2 R 227/17 -, juris Rn. 40 ff.): Er ist mit seiner unternehmerischen Tätigkeit auffindbar in Plattformen wie Xing und LinkedIn. Seine Aufträge erhält er vornehmlich über Mund-zu-Mund-Propaganda; insgesamt hatte er im streitgegenständlichen Zeitraum etwa 30 weitere Auftraggeber gewerblicher und privater Art. Der Anteil der Aufträge des Klägers betrug nach den Angaben des Beigeladenen lediglich 10 bis 15 Prozent seines gesamten Geschäftsvolumens. Dies erscheint dem Senat mit Blick auf die Anzahl der im Auftrag des Klägers übernommenen Projekte (zwischen acht und vierzehn Projekte pro Jahr) im streitgegenständlichen Zeitraum auch plausibel. Der Beigeladene war insoweit weder wirtschaftlich von den Aufträgen des Klägers abhängig noch stand er diesem quasi „auf Abruf“ zur Verfügung. Er hatte vielmehr in ganz erheblichem Umfang auch Verpflichtungen gegenüber anderen Auftraggebern und stand damit dem Kläger nur in dem (eingeschränkten) Umfang zur Verfügung, in dem er nicht schon andere Aufträge eingeplant hatte. Dass dies auch von den tatsächlichen Abläufen her so war, der Beigeladene dem Kläger insbesondere dann abgesagt hat, wenn er schon anderweitig „gebucht“ war, haben sowohl der Kläger als auch der Beigeladene im Rahmen der Angaben gegenüber dem SG und der Berichterstatterin des Senats deutlich zum Ausdruck gebracht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Art und Höhe der vereinbarten Vergütung kommt vorliegend als nur einem von vielen zu würdigenden Indizien weniger Bedeutung zu. Die Vereinbarung eines pauschalen Tageshonorars spricht nicht notwendig gegen die Selbstständigkeit und für eine Beschäftigung des Beigeladenen; ebenso wenig die Tatsache, dass er vom Kläger Fahrtkosten bezahlt bekommen hat. Denn die Übernahme von Anfahrts- und Wegekosten ist auch z.B. bei selbständigen Handwerkern durchaus üblich. Bei der Erbringung von vorwiegend Dienstleistungen (hier: Kameratätigkeiten) ist ein erfolgsabhängiges Entgelt regelmäßig nicht zu erwarten (vgl. nur BSG, Urteil vom 31.03.2017 - B 12 R 7/15 R -, juris Rn. 46, 48).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Nachdem der Beigeladene nach alledem seine Tätigkeiten für den Kläger nicht im Rahmen abhängiger Beschäftigung, sondern als Selbstständiger ausgeübt hat, kommt es auf die zwischen den Beteiligten schriftsätzlich diskutierte Frage, ob der Beigeladene eine „programmgestaltende Tätigkeit“ ausgeübt hat, die schon als solche zu seiner Einordnung als freier Mitarbeiter zu führen hätte (vgl. ausführlich zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit Urteil des Senats vom 18.05.2021- L 9 BA 1059/19 -, juris Rn. 31 ff.: Radiomoderatorin), nicht an: Dies kann dahinstehen, weil sich bereits unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze ergeben hat, dass der Beigeladene nicht als abhängig Beschäftigter zu beurteilen ist (so auch Sächsisches LSG, Urteil vom 17.09.2015 - L 1 KR 10/11 -, juris Rn. 39).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Auch die darüber hinaus insbesondere im Rahmen des Erörterungstermins aufgeworfenen Fragen, ob ein durchgängiges Beschäftigungsverhältnis aufgrund einer durchgängigen Verpflichtung oder jeweils tageweise nach einzelner Beauftragung anzunehmen ist und ob ggf. eine unständige Beschäftigung vorliegen könnte, die jedenfalls zu Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung führen könnte (§ 27 Abs. 3 Nr. 1 SGB III), ist nicht entscheidungserheblich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die Berufung war daher zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, da weder der Kläger noch die Beklagte zu dem in § 183 SGG genannten Personenkreis gehören. Es entspricht nicht der Billigkeit, dem Kläger auch die Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da dieser Sachanträge im Berufungsverfahren nicht gestellt und damit ein Prozessrisiko nicht übernommen hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Der Streitwert für das Berufungsverfahren war gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 3, § 47 Abs. 1 GKG in Höhe des Betrags der streitigen Beitragsforderung (13.857,76 EUR) festzusetzen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Senat hat seiner Entscheidung die vom BSG zur Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit entwickelten Grundsätze zugrunde gelegt, so dass der Revisionsgrund der Divergenz (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG) nicht in Betracht kommt. Auch der Revisionsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) ist nicht erfüllt, weil der Sache keine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zukommt. Dass sich für eine unbestimmte Anzahl von Kameraleuten in einer unbestimmten Anzahl ähnlicher Fälle vergleichbare Rechtsfragen stellen, ist weder von der Beklagten dargetan noch für den Senat sonst ersichtlich.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die gemäß § 141 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entschieden hat, ist gemäß § 143 SGG statthaft und insgesamt zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG liegen nicht vor. Die Berufung ist jedoch unbegründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 19.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.05.2017, mit dem die Beklagte in Bezug auf die Tätigkeiten des Beigeladenen Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung und nach dem Recht der Arbeitslosenversicherung festgestellt und entsprechende Beiträge und Umlagen in Höhe von insgesamt 13.857,76 EUR nachgefordert hat. Das SG hat der hiergegen erhobenen Klage zu Recht stattgegeben. Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und unbegründet. Der genannte Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 28p Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 SGB IV. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV) mindestens alle vier Jahre (Satz 1). Die Träger der Rentenversicherung erlassen nach Satz 5 dieser Vorschrift im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte (verkörpert im sog. Prüfbescheid, BSG, Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R -, juris) zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern; insoweit gelten § 28h Abs. 2 SGB IV sowie § 93 i.V.m. § 89 Abs. 5 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht. Mit § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV ist klargestellt, dass die Zuständigkeit der Träger der Rentenversicherung unabhängig von den eigentlich nach § 28h Abs. 2 Satz 1 SGB IV für solche Feststellungen zuständigen Einzugsstellen besteht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die Beklagte war als Rentenversicherungsträgerin auch zur Überwachung des Umlageverfahrens (sog. U1- und U2-Umlage) nach dem Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (Aufwendungsausgleichsgesetz - AAG -) und zum Erlass eines entsprechenden Umlagebescheids befugt. Denn § 10 AAG stellt die Beiträge zum Ausgleichsverfahren insoweit den Beiträgen zur GKV gleich, die ihrerseits Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28d S 1 SGB IV) sind, der von der Beklagten im Rahmen einer Betriebsprüfung (§ 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV) geltend zu machen ist (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 26.09.2017 - B 1 KR 31/16 R -, juris). Gleiches gilt seit dem 01.01.2009 in Bezug auf die Insolvenzgeldumlage. Nach § 359 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist die Umlage zusammen mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle zu zahlen. Nach Satz 2 finden die für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag geltenden Vorschriften des SGB IV entsprechende Anwendung und damit wiederum § 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV mit seiner die Zuständigkeit der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung begründenden Wirkung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Der angefochtene Bescheid ist formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X. Den für sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen notwendigen Angaben einer bestimmbaren Arbeit und der gerade hiermit in Zusammenhang stehenden Entgeltlichkeit (vgl. näher BSG, Urteile vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R - und vom 04.06.2009 - B 12 R 6/08 R -, Juris) ist die Beklagte gerecht geworden. Zudem handelt es sich nicht um die isolierte Feststellung des Vorliegens einer abhängigen Beschäftigung (sog. unzulässige Elementenfeststellung, vgl. BSG, Urteil vom 11.03.2009 - B 12 R 11/07 R -, Juris). Der Kläger ist vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheides mit Schreiben vom 13.04.2016 auch ordnungsgemäß angehört worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Der angefochtene Bescheid ist jedoch materiell rechtswidrig, weil der Beigeladene im streitgegenständlichen Zeitraum nicht beschäftigt im Sinne der gesetzlichen Vorgaben war. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB IV sind in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung nach Maßgabe der besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige unter anderem Personen versicherungspflichtig, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Entsprechende Regelungen (Versicherungspflicht von Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind) finden sich für die Arbeitslosenversicherung in § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III, für die gesetzliche Rentenversicherung in § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, für die Krankenversicherung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V sowie in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB XI als akzessorische Regelung zur gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Dabei liegt der Beitragsbemessung für den vom Arbeitgeber zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag gemäß den §§ 28d, 28e SGB IV das Arbeitsentgelt zu Grunde (§ 342 SGB III, § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, auf die Regelung im SGB V verweisend § 57 Abs. 1 SGB XI, § 162 Nr. 1 SGB VI). Dies gilt auch in Bezug auf die Umlagen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AAG bzw. § 358 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Arbeitsentgelt sind gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV definiert den Begriff der Beschäftigung als nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach Satz 2 der Regelung sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich, ausgehend von den genannten Umständen, nach dem Gesamtbild der Tätigkeit und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 19.10.2021 - B 12 R 10/20 R -, juris Rn. 21; zum Ganzen u.a. BSG, Urteile vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R -, vom 30.04.2013 - B 12 KR 19/11 R -, vom 30.10.2013 - B 12 KR 17/11 R - und vom 30.03.2015 - B 12 KR 17/13 R -, juris, Rdnr. 15 – jeweils juris und m.w.N.; zur Verfassungsmäßigkeit der anhand dieser Kriterien häufig schwierigen Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20.05.1996 - 1 BvR 21/96 -, juris). Maßgebend ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung (zum Ganzen u.a. BSG, Urteile vom 24.01.2007 - B 12 KR 31/06 R -, vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R - und vom 30.10.2013 - B 12 KR 17/11 R -, jeweils juris und m.w.N.). Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine abhängige Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine - formlose - Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG, Urteil vom 08.12.1994 - 11 RAr 49/94 -, juris). In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von den Vereinbarungen abweichen (BSG, Urteile vom 01.12.1977 - 12/3/12 RK 39/74 -, vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 R - und vom 10.08.2000 - B 12 KR 21/98 R -, juris). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (vgl. hierzu insgesamt BSG, Urteile vom 24.01.2007 - B 12 KR 31/06 R - und vom 29.08.2012 - B 12 KR 25/10 R -, juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Für die Statusabgrenzung ist sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) als auch des BSG grundsätzlich nicht entscheidend, ob der Betreffende auch für andere Auftraggeber tätig ist bzw. war (BAG, Urteil vom 09.10.2002 - 5 AZR 405/01 -, juris). Erforderlich ist selbst im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses stets eine Bewertung der einzelnen Arbeitseinsätze am Maßstab der von der Rechtsprechung für die Abgrenzung zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung entwickelten Grundsätze (BSG, Urteile vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R - und vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R -, juris). Abzustellen ist daher zunächst nur auf die Tätigkeit des Beigeladenen für den Kläger.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Das SG hat diese maßgeblichen rechtlichen Grundlagen im Urteil vom 26.10.2018 ohne Rechtsfehler dargestellt und den Sachverhalt unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung zutreffend gewürdigt. Es überwiegen in der Zusammenschau aller Aspekte diejenigen, die gegen eine abhängige Beschäftigung des Beigeladenen beim Kläger sprechen. Hierzu verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG, denen er sich nach eigener Prüfung vollumfänglich anschließt und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück, § 153 Abs. 2 SGG.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Ergänzend und mit Blick auf das Vorbringen der Beklagten in der Berufungsbegründung weist der Senat auf Folgendes hin:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Ausgangspunkt für die vorzunehmende rechtliche Bewertung sind die tatsächlichen Umstände, unter denen der Beigeladene im streitgegenständlichen Zeitraum für den Kläger tätig war. Diese Umstände stehen für den Senat aufgrund des Gesamtinhalts des Verfahrens, insbesondere der aktenkundigen Angaben des Klägers und des Beigeladenen sowie deren Angaben in den vom SG durchgeführten Verhandlungen und in dem von der Berichterstatterin des Senats am 27.04.2022 durchgeführten Erörterungstermin fest.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Danach ist der Kläger Inhaber eines Einzelunternehmens auf dem Gebiet der Medientechnik. Sein zentrales Geschäftsfeld ist (und war auch im streitgegenständlichen Zeitraum) die Vermietung von Beamern, Großbildwänden, Kameras und weiterer Medientechnik für die Durchführung von größeren und kleineren Veranstaltungen. Der Kläger selbst übernimmt bei derartigen Veranstaltungen im Auftrag des jeweiligen Kunden die Medienregie. Kameramann ist der Kläger selbst nicht, er verfügt weder über das technische Knowhow noch über die Ausrüstung (z.B. Schnittsoftware) für die Herstellung beispielsweise von Videomitschnitten der Veranstaltungen. Fest angestellte Kameraleute hatte er im streitgegenständlichen Zeitraum nicht. Benötigt der jeweilige Kunde einen Kameramann, fragt der Kläger bei ihm bekannten Kameraleuten, darunter dem Beigeladenen an, ob diese die angefragte Kameratätigkeit übernehmen können. Im streitgegenständlichen Zeitraum 2011 bis 2014 war das in Bezug auf den Beigeladenen wie folgt der Fall: 2011 an 12 Tagen für 8 Projekte, 2012 an 24 Tagen für 14 Projekte, 2013 an 25 Tagen für 8 Projekte und 2014 an 36 Tagen für 11 Projekte. Der Beigeladene hat im Zusammenhang mit seinen Tätigkeiten für den Kläger in jedem Fall sein eigenes Notebook eingesetzt, in einem Teil der Einsätze seine eigene Kamera, in den anderen Einsätzen Kameras des Klägers oder des jeweiligen Veranstalters. Waren Videomitschnitte zu erstellen, hat der Beigeladene diese im Homeoffice unter Verwendung seines eigenen Notebooks und eigener Schnittsoftware hergestellt. Der Beigeladene hat dem Kläger für seine Tätigkeiten im streitgegenständlichen Zeitraum Tagessätze von 200 EUR (Einsatz bis zu 10 Stunden pro Tag) bzw. 250 EUR (Einsatz mehr als 10 Stunden pro Tag) insgesamt rund 33.000 EUR in Rechnung gestellt, die der Kläger bezahlt und als „Fremdleistungen“ in seine Bilanz eingestellt hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Auch nach der Überzeugung des Senats überwiegen ausgehend von den dargelegten Abgrenzungsmaßstäben, die auch das SG schon seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, und vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen die Indizien gegen das Vorliegen von Beschäftigung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Zunächst ist sozialversicherungsrechtlich nicht ausschlaggebend, dass der Kläger und der Beigeladene, zwischen denen schriftliche Vereinbarungen nicht bestehen, die Tätigkeit des Beigeladenen für den Kläger übereinstimmend als eine selbstständige wollten und auch als solche angesehen haben, insbesondere auch vom Kläger keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden, denn der besondere Schutzzweck der Sozialversicherung schließt es aus, dass über die rechtliche Einordnung einer Person – als selbstständig oder beschäftigt – allein die Vertragsschließenden entscheiden. Über zwingende Normen kann nicht im Wege der Privatautonomie verfügt werden. Vielmehr kommt es entscheidend auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung der Vertragsverhältnisse an (BSG, Urteil vom 04.06.2019 - B 12 R 11/18 R -, juris Rn.19).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Ohne entscheidendes Gewicht, jedoch eher gegen abhängige Beschäftigung sprechend ist für den Senat die Tatsache, dass der Beigeladene nach den übereinstimmenden Angaben von Kläger und Beigeladenem in der Übernahme der einzelnen Aufträge bzw. Anfragen des Klägers frei war und die Entscheidung hierüber nach seiner jeweiligen zeitlichen Verfügbarkeit getroffen hat. Insoweit hat zwar die Beklagte zutreffend darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des BSG auch im Rahmen abhängiger Beschäftigungen Vertragsgestaltungen nicht unüblich sind, die es weitgehend dem Arbeitnehmer überlassen, ob er im Anforderungsfall tätig werden will oder ob er ein konkretes Angebot im Einzelfall ablehnt, weil allein diese grundsätzliche Ablehnungsmöglichkeit eine ansonsten in persönlicher Abhängigkeit in einem fremden Betrieb ausgeübte Tätigkeit nicht zu einer selbstständigen macht (BSG, Urteil vom 31.03.2017 - B 12 KR 16/14 -, juris Rn. 29). Fehlt es jedoch an dieser in persönlicher Abhängigkeit ausgeübten Tätigkeit in einem fremden Betrieb (hierzu sogleich), bleibt es dabei, dass die Möglichkeit der Ablehnung von einzelnen Aufträgen eher ein Indiz für Selbstständigkeit ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Vom Grundsatz her zutreffend hat die Beklagte betont, dass nach der Rechtsprechung des BSG, die in den Entscheidungen vom 19.10.2021 (B 12 R 10/20 R, juris Rn. 27; B 12 KR 29/19 R, juris Rn. 23: Notärzte im Rettungsdienst) nochmals bestätigt und weiter ausdifferenziert wurde, ein maßgebendes Kriterium für das Vorliegen von abhängiger Beschäftigung wäre, wenn der Beigeladene im Rahmen der tatsächlichen Ausgestaltung des Auftragsverhältnisses einem Weisungsrecht des Klägers unterlegen und in einer seine Tätigkeit prägenden Weise in dessen Betriebsabläufe und -strukturen eingegliedert gewesen wäre. Zwar kann, wenn die zu beurteilende Tätigkeit Teil eines größeren Auftrags (Projekt) ist, den der Auftraggeber von einem Dritten (Endkunden) übernommen hat, eine betriebliche Einordnung in die Arbeitsorganisation dieses Auftraggebers vorliegen, wenn dieser den Arbeitsablauf durch organisatorische und koordinierende Maßnahmen steuert (vgl. umfassend Segebrecht in: JurisPK-SGB IV § 7 Abs. 1 Rdnr. 80 ff)<em>. </em>Anders als die Beklagte meint, sind diese Kriterien jedoch vorliegend nicht erfüllt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Vom Kläger vorgegebene feste Betriebsstrukturen, in die der Beigeladene (etwa vergleichbar den Organisationsstrukturen eines Rettungsdienstes, wie es der zitierten Entscheidung des BSG zugrunde lag) eingegliedert worden wäre, vermag der Senat in der vorliegenden Fallkonstellation nicht zu erkennen. Zwar wurde der Kläger, wie er mehrfach und glaubhaft geschildert hat, regelmäßig von seinen Kunden mit einem „Gesamtpaket“ beauftragt, zu dem die Bereitstellung erforderlicher Technik (Beamer, Großbildwand, Kameras), ggf. diese Technik bedienender Personen und ggf. die anschließende Herstellung einer Videodokumentation gehörte. Hierbei übernahm der Kläger selbst regelmäßig Aufgaben der Medienregie. Allein die Übernahme solcher „Gesamtpakete“ begründet jedoch nach der Überzeugung des Senats keine Organisationsstrukturen im Sinne der Rechtsprechung des BSG. Sie hindert den Kläger nicht daran, abgrenzbare Bestandteile des Auftrags durch weitere Personen - hier den Beigeladenen - erfüllen zu lassen. Diese abgrenzbaren Aufgaben - sei es das Filmen einer Veranstaltung, sei es die Herstellung der anschließenden Dokumentation - hat der Beigeladene in eigener Verantwortung erfüllt. Durch den Kläger vorgegebener Strukturen bedurfte es hierbei nicht, geschweige denn eines wie die Beklagte meint „vom Kläger verantwortlich organisierten Produktionsprozesses“. Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass die Leistung des Beigeladenen ihr „Gepräge“ von der Ordnung des Betriebes des Klägers erhalten würde. Selbst wenn man eine gewisse Einbindung annehmen würde, wäre diese derart locker, dass dies nicht als ausreichend für die Annahme einer persönlichen Abhängigkeit des Beigeladenen vom Kläger anzusehen wäre.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Der Kläger hat dem Beigeladenen auch keine konkreten Weisungen hinsichtlich der Art und Weise seiner Tätigkeit, etwa wann welche Aufnahmen aus welcher Perspektive oder mit welchen Einstellungen zu erfolgen haben, erteilt. Dies hat sich letztlich aus der zu erfüllenden Aufgabe, nicht jedoch aus konkreten Einzelweisungen des Klägers etwa hinsichtlich Kameraführung, Kameraposition o.ä. ergeben. Der Beigeladene war nach den übereinstimmenden Angaben von Kläger und Beigeladenem, die von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen wurden, allein für die fachlich handwerkliche Durchführung seiner Kameraarbeit zuständig, so etwa lag die konkrete Art und Weise der Kameraführung allein in seiner fachlichen Kompetenz (vgl. insoweit LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.11.2011 – L 5 R 5703/09 -, juris Rn. 70ff.: dort Kamerawerk als „abgrenzbares Teilwerk“ angesehen). Soweit die Beklagte die übereinstimmenden Angaben von Kläger und Beigeladenem im Erörterungstermin, wonach die Zusammenarbeit von Kameramann oder Kameraleuten, Tontechnikern und Medientechnikern im Team erfolgt sei, dahingehend gewürdigt hat, dass dieses Team der Produktionsleitung durch den Kläger und damit dessen Weisungen unterstanden habe, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Zwar hat der Kläger bei gemeinsamen Einsätzen Aufgaben der Medienregie übernommen. Allein die Tatsache, dass er im Rahmen dieser Medienregie entschieden hat, ob Filmaufnahmen, Präsentationen oder Sonstiges auf den Großbildwänden gezeigt wurden, macht ihn gegenüber dem Kameramann, also dem Beigeladenen nicht zum Weisungsbefugten. Zusammenarbeit und Absprachen zwischen Technikern verschiedener Bereiche (z.B. Beleuchtung, Ton, Kamera, Medienregie) sind zur Gewährleistung eines insgesamt reibungslosen Ablaufs einer Veranstaltung erforderlich und gerade kein wesentliches Indiz für arbeitnehmertypische Weisungsgebundenheit (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2016 - L 13 R 192/17 -, sozialgerichtsbarkeit.de: Veranstaltungstechniker; LSG Hamburg, Urteil vom 10.05.2017 - L 2 R 12/17 -, juris Rn. 29: auch bei Einbindung in ein Produktionsteam keine Weisungsabhängigkeit bei gleichberechtigter Kooperation aller beteiligten Gewerke; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.11.2015 - L 1 KR 136/13 -, juris Rn. 24f.: maßgeblich ist Weisungsfreiheit im Kernbereich der Aufgaben des Kameramanns: Optiken, Lichtgestaltungen, Kranfahrten, bewegte oder statische Bilder). Im Übrigen haben sowohl der Kläger als auch der Beigeladene betont, dass eventuelle Vorgaben hinsichtlich der Art und Weise der Auftragserfüllung Sache des jeweiligen Veranstalters waren, mit dem der Beigeladene auch jeweils eigene Absprachen getroffen hat (z.B. hinsichtlich der Standorte der Kamera). Solche Vorgaben beruhten dann gerade nicht auf Weisungen, die der Kläger im eigenen Interesse und aufgrund eigener arbeitgeberseitiger Erwägungen erteilt hätte. Hieraus resultierte kein mit Weisungsbefugnis bzw. Weisungsunterworfenheit verbundenes Über- oder Unterordnungsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen, das für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprechen könnte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Auch das gewichtige Kriterium eines eigenen Unternehmerrisikos des Beigeladenen ist nach der Überzeugung des Senats erfüllt. Soweit die Beklagte ein solches maßgebliches Unternehmerrisiko deswegen verneint, weil im Fall des Beigeladenen die Nutzung eigener Arbeitsmittel („Laptop und – selten – eigene Kamera“) von völlig untergeordneter Bedeutung sei, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Maßgebendes Kriterium für ein unternehmerisches Risiko ist nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen (vgl. etwa BSG, Urteile vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -, juris Rn. 36; vom 04.06.1998 - B 12 KR 5/97 R -; vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R -, vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, jeweils juris), ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der sächlichen oder persönlichen Mittel also ungewiss ist. Allerdings ist ein unternehmerisches Risiko nur dann Hinweis auf eine selbstständige Tätigkeit, wenn diesem Risiko auch größere Freiheiten in der Gestaltung und der Bestimmung des Umfangs beim Einsatz der eigenen Arbeitskraft (vgl. schon BSG, Urteile vom 13.07.1978 - 12 RK 14/78 -; vom 28.05.2008 - B 12 KR 13/07 R - und vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, juris) oder größere Verdienstchancen gegenüberstehen (BSG, Urteile vom 25.01.2001 - B 12 KR 17/00 R - und vom 31.03.2015 - B 12 KR 17/13 R -, juris). Aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft gegebenenfalls nicht verwerten zu können, folgt hingegen kein Unternehmerrisiko bezüglich der einzelnen tatsächlich erbrachten Einsätze (BSG, Urteil vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, juris).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die ersten Angaben von Kläger und Beigeladenem in ihren Fragebögen weiter davon ausgeht, dass die sächlichen Betriebsmittel (Kamera, sonstiges Equipment) nahezu vollständig vom Kläger gestellt worden seien, ist darauf hinzuweisen, dass die in den Fragebögen vorgegebenen Antwortmöglichkeiten (ja oder nein) eher eng gefasst sind und differenzierende Antworten kaum zulassen. Es steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der Angaben des Beigeladenen im Klage- und Berufungsverfahrens vielmehr fest, dass er für seine Tätigkeit als Kameramann/Medientechniker unternehmertypische Investitionen getätigt hat und zwar durch den Erwerb diverser Ausrüstungsgegenstände (Asus Notebook X751L 749 EUR, Asus Notebook VivoBook Pro 1.199 EUR, LackMagic ATEM Television Studio Pro HD 999 EUR, BlackMagic WebPresenter 469 EUR, Panasonic AG-AC 160EJ 5.699 EUR, diverse Adapter, USB Sticks, Speicherkarten usw. ca. 1.000 EUR, Videoschnitt PC 1.699 EUR). Dies wird von der Beklagten als solches auch nicht in Zweifel gezogen. Soweit sie darauf hingewiesen hat, dass der Beigeladene diese Betriebsmittel möglicherweise für seine weiteren Auftraggeber, nicht jedoch für seine Tätigkeiten für den Kläger eingesetzt habe und daher in Bezug auf diese Tätigkeit kein maßgebliches Unternehmerrisiko anzunehmen sei, ist dem nicht zu folgen: Zum einen erscheint in diesem Zusammenhang die Betrachtung nur der Verhältnisse bei Durchführung der einzelnen Aufträge zu eng: Ein typisches unternehmerisches Risiko kann sich nämlich gerade daraus ergeben, dass vorgreiflich Investitionen (auch) im Hinblick auf eine ungewisse Vielzahl zukünftig am Markt noch einzuwerbende Aufträge getätigt werden (so auch BSG, Urteil vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -, juris Rn. 35). Auf die Frage, ob der Beigeladene bei jedem seiner Einsätze für den Kläger seine eigene Kamera und weiteres Equipment genutzt hat, kommt es daher nicht an. Ausreichend ist – und der Senat ist davon überzeugt, dass das vorliegend der Fall war –, dass der Beigeladene die von ihm getätigten Investitionen auch bei seinen Tätigkeiten für den Kläger eingesetzt hat. So hat der Kläger mehrfach betont, dass er selbst weder über Ausrüstung noch über das notwendige Knowhow für die Herstellung von Videodokumentationen verfüge. Die hierfür notwendige Software (Lizenzkosten etwa 1.600 EUR pro Jahr) hat der Beigeladene ebenso selbst vorgehalten wie eine Betriebshaftpflichtversicherung. Er hat ferner bei seinen Kameraeinsätzen ein eigenes Laptop sowie – soweit nach den Anforderungen des Kunden ausreichend – seine eigene Kamera im Einsatz gehabt. Von „völlig untergeordneter Bedeutung“ (so die Beklagte) des Einsatzes eigener Arbeitsmittel kann insoweit keine Rede sein (Unternehmerrisiko auch bejaht etwa durch LSG Hamburg, Urteil vom 10.05.2017 - L 2 R 12/17 -, juris Rn. 32 bei Einsatz eines Laptops mit Schneideprogramm, Fotokamera, zeitweise Filmkamera; SG München, Urteil vom 16.03.2017 - S 31 R 388/16 -, juris Rn. 46: Nutzung auch fremden Kamera-Equipments nicht schädlich, wenn auch eigene Kameraausrüstung eingesetzt, bestätigt durch Bayerisches LSG, Urteil vom 22.04.2021 - L 14 R 5052/17, juris - Leitsatz). Ein unternehmerisches Risiko sieht der Senat auch darin, dass im Fall ausbleibender Aufträge für den Beigeladenen die von ihm getätigten Investitionskosten brachliegen (Kameraausrüstung, Laptop) bzw. weiter anfallen (Lizenzkosten für Software, Betriebshaftpflichtversicherung; vgl. zu diesem Kriterium auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2012 - L 4 R 761/11 -, juris Rn.53; Sächsisches LSG, Urteil vom 22.04.2016 - L 1 KR 228/11 -, juris Rn. 40).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Anders als die Beklagte meint, sind die Tätigkeiten des Beigeladenen für andere Auftraggeber und die hieraus erzielten Einkünfte auch nicht vollständig irrelevant für die vorliegend zu treffenden Beurteilung. Zwar können auch Teilzeitbeschäftigte nebeneinander für mehrere Arbeitgeber tätig sein. Eine Tätigkeit für mehrere Auftraggeber erhält damit erst in der Zusammenschau mit weiteren typischen Merkmalen einer selbständigen Tätigkeit Gewicht, wie z.B. einem werbenden Auftreten am Markt für die angebotenen Leistungen. Wenn aber in relevantem Umfang eine Tätigkeit auch für andere Auftraggeber stattfindet, sind solche anderweitigen Tätigkeiten ein Indiz für eine ganz erhebliche Dispositionsfreiheit in Bezug auf die zu beurteilende Tätigkeit. Dies folgt bereits daraus, dass sie die zeitliche Verfügbarkeit des Auftragnehmers erheblich einschränken (BSG, Urteil vom 04.09.2018 - B 12 KR 11/17 R -, juris Rn. 23). Für eine selbstständige Tätigkeit des Beigeladenen spricht insoweit, dass er zwar nicht offensiv, aber doch werbend am Markt auftritt (vgl. zu diesem Kriterium auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 01.11.2017 - L 2 R 227/17 -, juris Rn. 40 ff.): Er ist mit seiner unternehmerischen Tätigkeit auffindbar in Plattformen wie Xing und LinkedIn. Seine Aufträge erhält er vornehmlich über Mund-zu-Mund-Propaganda; insgesamt hatte er im streitgegenständlichen Zeitraum etwa 30 weitere Auftraggeber gewerblicher und privater Art. Der Anteil der Aufträge des Klägers betrug nach den Angaben des Beigeladenen lediglich 10 bis 15 Prozent seines gesamten Geschäftsvolumens. Dies erscheint dem Senat mit Blick auf die Anzahl der im Auftrag des Klägers übernommenen Projekte (zwischen acht und vierzehn Projekte pro Jahr) im streitgegenständlichen Zeitraum auch plausibel. Der Beigeladene war insoweit weder wirtschaftlich von den Aufträgen des Klägers abhängig noch stand er diesem quasi „auf Abruf“ zur Verfügung. Er hatte vielmehr in ganz erheblichem Umfang auch Verpflichtungen gegenüber anderen Auftraggebern und stand damit dem Kläger nur in dem (eingeschränkten) Umfang zur Verfügung, in dem er nicht schon andere Aufträge eingeplant hatte. Dass dies auch von den tatsächlichen Abläufen her so war, der Beigeladene dem Kläger insbesondere dann abgesagt hat, wenn er schon anderweitig „gebucht“ war, haben sowohl der Kläger als auch der Beigeladene im Rahmen der Angaben gegenüber dem SG und der Berichterstatterin des Senats deutlich zum Ausdruck gebracht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Art und Höhe der vereinbarten Vergütung kommt vorliegend als nur einem von vielen zu würdigenden Indizien weniger Bedeutung zu. Die Vereinbarung eines pauschalen Tageshonorars spricht nicht notwendig gegen die Selbstständigkeit und für eine Beschäftigung des Beigeladenen; ebenso wenig die Tatsache, dass er vom Kläger Fahrtkosten bezahlt bekommen hat. Denn die Übernahme von Anfahrts- und Wegekosten ist auch z.B. bei selbständigen Handwerkern durchaus üblich. Bei der Erbringung von vorwiegend Dienstleistungen (hier: Kameratätigkeiten) ist ein erfolgsabhängiges Entgelt regelmäßig nicht zu erwarten (vgl. nur BSG, Urteil vom 31.03.2017 - B 12 R 7/15 R -, juris Rn. 46, 48).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Nachdem der Beigeladene nach alledem seine Tätigkeiten für den Kläger nicht im Rahmen abhängiger Beschäftigung, sondern als Selbstständiger ausgeübt hat, kommt es auf die zwischen den Beteiligten schriftsätzlich diskutierte Frage, ob der Beigeladene eine „programmgestaltende Tätigkeit“ ausgeübt hat, die schon als solche zu seiner Einordnung als freier Mitarbeiter zu führen hätte (vgl. ausführlich zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit Urteil des Senats vom 18.05.2021- L 9 BA 1059/19 -, juris Rn. 31 ff.: Radiomoderatorin), nicht an: Dies kann dahinstehen, weil sich bereits unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze ergeben hat, dass der Beigeladene nicht als abhängig Beschäftigter zu beurteilen ist (so auch Sächsisches LSG, Urteil vom 17.09.2015 - L 1 KR 10/11 -, juris Rn. 39).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Auch die darüber hinaus insbesondere im Rahmen des Erörterungstermins aufgeworfenen Fragen, ob ein durchgängiges Beschäftigungsverhältnis aufgrund einer durchgängigen Verpflichtung oder jeweils tageweise nach einzelner Beauftragung anzunehmen ist und ob ggf. eine unständige Beschäftigung vorliegen könnte, die jedenfalls zu Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung führen könnte (§ 27 Abs. 3 Nr. 1 SGB III), ist nicht entscheidungserheblich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die Berufung war daher zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, da weder der Kläger noch die Beklagte zu dem in § 183 SGG genannten Personenkreis gehören. Es entspricht nicht der Billigkeit, dem Kläger auch die Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da dieser Sachanträge im Berufungsverfahren nicht gestellt und damit ein Prozessrisiko nicht übernommen hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Der Streitwert für das Berufungsverfahren war gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 3, § 47 Abs. 1 GKG in Höhe des Betrags der streitigen Beitragsforderung (13.857,76 EUR) festzusetzen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Senat hat seiner Entscheidung die vom BSG zur Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit entwickelten Grundsätze zugrunde gelegt, so dass der Revisionsgrund der Divergenz (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG) nicht in Betracht kommt. Auch der Revisionsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) ist nicht erfüllt, weil der Sache keine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zukommt. Dass sich für eine unbestimmte Anzahl von Kameraleuten in einer unbestimmten Anzahl ähnlicher Fälle vergleichbare Rechtsfragen stellen, ist weder von der Beklagten dargetan noch für den Senat sonst ersichtlich.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,512 | vghbw-2022-07-19-4-s-187721 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 S 1877/21 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-09-10T10:01:31 | 2022-10-17T11:10:01 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen durch die Beteiligten hinsichtlich der Versorgungsauskunft des Landesamts für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg vom 2. Oktober 2018 und dessen Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2019 wird das Verfahren insoweit eingestellt. Das diesbezügliche Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 24. März 2021 - 5 K 652/19 - ist wirkungslos.</p><p>Der Beklagte wird verpflichtet, die Ausbildung des Klägers zum Maler und Lackierer vom 13. September 1976 bis 20. Juni 1979 im Umfang von nur einem Jahr, die Tätigkeit als Lehrer vom 17. August 1992 bis 12. August 1993 im Umfang von 23/23 und die Tätigkeit als Lehrer vom 16. August 1993 bis 21. August 1994 im Umfang von 22/23 als ruhegehaltfähige Dienstzeiten zu berücksichtigen. Der in das Berufungsverfahren einbezogene Versorgungsfestsetzungsbescheid des Landesamts für Besoldung und Versorgung vom 10. Juni 2022 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.</p><p>Der Kläger trägt 3/4 und der Beklagte trägt 1/4 der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.</p><p>Die Revision wird zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Anerkennung ruhegehaltfähiger Zeiten und die Berücksichtigung derartiger Zeiten über die Teilzeitquote hinaus im Umfang des tatsächlichen Arbeitsumfangs. Er ist 1961 geboren und steht als Oberstudienrat (Besoldungsgruppe A 14) im Dienst des Beklagten. Mit Ablauf des 31.08.2022 wird er wegen Erreichens der Antragsaltersgrenze bei Schwerbehinderten in den Ruhestand treten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Vom 13.09.1976 bis zum 20.06.1979 durchlief der Kläger eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Vom 02.11.1982 bis zum 29.02.1984 absolvierte er seinen Zivildienst. Vom 01.10.1984 bis zum 16.02.1989 studierte er das Fach Farbtechnik und Raumgestaltung und legte am 16.02.1989 die erste Staatsprüfung für das Lehramt an berufsbildenden Schulen ab. Vom 01.04.1989 bis zum 31.03.1990 studierte er Architektur und bestand am 05.09.1990 die Diplomvorprüfung. Vom 01.05.1990 bis zum 30.04.1992 absolvierte er den Vorbereitungsdienst im Beamtenverhältnis auf Widerruf. Am 05.03.1992 legte er die zweite Staatsprüfung für das Lehramt an beruflichen Schulen im Land Niedersachsen ab. Vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 war er an der badischen Malerfachschule in L. im Anstellungsverhältnis mit einem reduzierten Deputat von 11 von 23 Stunden pro Woche tätig. In dieser Zeit leistete er Mehrarbeit, sodass seine Arbeitszeit tatsächlich 23 von 23 Stunden pro Woche betrug. Am 16.08.1993 (laut Vermerk in der Personalakte mit Wirkung vom 13.08.1993) wurde er in das Beamtenverhältnis auf Probe berufen und zum Studienassessor ernannt. Ab (zumindest) dem 16.08.1993 war er an der badischen Malerfachschule in einem Umfang von 17 von 23 Stunden pro Woche tätig. Auch in diesem Zeitraum leistete er Mehrarbeit, sodass der tatsächliche Umfang seiner Tätigkeit 22 von 23 Wochenstunden betrug. Ab dem 22.08.1994 war er dort mit einem vollen Deputat tätig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Mit Datum vom 02.10.2018 erteilte der Beklagte eine Versorgungsauskunft nach § 77 Landesbeamtenversorgungsgesetz Baden-Württemberg (LBeamtVG). Hierin wurde die Zeit der Ausbildung zum Maler (in „Verschlechterung“ gegenüber einer früheren Auskunft) in einem Umfang von (nur) 90 Tagen berücksichtigt, das Lehramtsstudium in einem Umfang von 855 Tagen, die Dienstzeit im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 unter Zugrundelegung einer Teilzeitquote von 11/23 in einem Umfang von 172,65 Tagen und die Dienstzeit im Beamtenverhältnis auf Probe vom 16.08.1993 bis zum 21.08.1994 unter Zugrundelegung einer Teilzeitquote von 17/23 in einem Umfang von 274,22 Tagen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Schreiben vom 15.09.2018, vom 23.09.2018 und vom 23.11.2018 begehrte der Kläger, die Zeit der Ausbildung zum Maler und Lackierer vom 13.09.1976 bis zum 20.06.1979, die Zeit des Architekturstudiums in der Zeit vom 01.04.1989 bis zum 31.03.1990, die Zeit im Angestelltenverhältnis vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 mit einem Deputat in Höhe von 23 Stunden pro Woche sowie die Zeit im Beamtenverhältnis auf Probe vom 16.08.1993 bis zum 21.08.1994 mit einem Deputat von 22 Stunden pro Woche als ruhegehaltfähige Dienstzeit zu berücksichtigen. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) betrachtete dabei das Schreiben vom 23.11.2018 als Leistungswiderspruch gegen die zuvor erteilte Versorgungsauskunft vom 02.10.2018 und wies diesen mit Widerspruchsbescheid vom 22.01.2019 zurück. Die Zeit vom 13. bis 15.08.1993 wurde ergänzend in die Versorgungsauskunft aufgenommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Der Kläger hat am 15.10.2019 Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 24.03.2021 - 5 K 652/19 - den Beklagten verpflichtet, die Zeit der Ausbildung zum Malergesellen im Umfang von einem Jahr als ruhegehaltfähig anzuerkennen, den Widerspruchsbescheid aufgehoben, soweit er dem entgegensteht, die Klage im Übrigen abgewiesen und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass die Klage als Verpflichtungsklage statthaft sei. Zwar stelle die Versorgungsauskunft nach § 77 LBeamtVG ebenso wie die Auskunft nach § 10 Abs. 10 (gemeint § 49 Abs. 10) LBeamtVG keinen Verwaltungsakt dar, anderes gelte jedoch für den Widerspruchsbescheid, weil darin eine für den Kläger verbindliche Regelung der Höhe seiner Versorgungsbezüge im Hinblick auf die in Streit stehenden Zeiten zu sehen sei. Die Klage sei jedoch nur teilweise begründet, und zwar soweit sie sich auf die im Widerspruchsbescheid nur in der Höhe von 90 Tagen als ruhegehaltfähig anerkannte Zeit der Ausbildung zum Malergesellen beziehe. In diesem Umfang sei der Widerspruchsbescheid rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten, denn er habe einen Anspruch auf Anerkennung der Ruhegehaltfähigkeit der Zeit der Ausbildung zum Malergesellen im Umfang von einem Jahr, weil es sich insoweit um eine vorgeschriebene Ausbildung gehandelt habe. Im Übrigen sei der Widerspruchsbescheid rechtmäßig. Es gebe keine Rechtsgrundlage für die Anerkennung bloß förderlicher Zeiten. Der Kläger habe auch keinen Anspruch darauf, dass seine Tätigkeit als Lehrer vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 im Angestelltenverhältnis sowie vom 16.08.1993 bis zum 21.08.1994 im Beamtenverhältnis über die jeweiligen Teilzeitquoten hinaus unter Berücksichtigung der jeweiligen Mehrarbeit anerkannt werde. Darin liege kein Verstoß gegen das in § 4 des Anhangs der RL 97/81/EG normierte Diskriminierungsverbot von Teilzeitbeschäftigten oder den in Art. 157 AEUV normierten Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Zwar sei im vorliegenden Fall eine Ungleichbehandlung von Vollzeitbeschäftigten einerseits und Teilzeitbeschäftigten andererseits gegeben. Diese Ungleichbehandlung sei jedoch durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt, nämlich das Alimentationsprinzip sowie das Leistungsprinzip. Bezugspunkt der Angemessenheit der Beamtenversorgung sei das Statusamt des Beamten und damit von vornherein ein normativer Anknüpfungspunkt. Der Dienstherr sei zur Zahlung entsprechender Versorgungsbezüge auch dann verpflichtet, wenn die tatsächlich geleistete Dienstzeit - beispielsweise durch Krankheit - hinter der normativ festgelegten zurückbleibe. Dies sei aus Sicht des Beamten der Vorteil, der aus einer Zugrundelegung der normativ festgelegten Dienstzeit resultiere und daher im Zusammenhang mit dem Nachteil zu sehen sei, der sich aus einer fehlenden Berücksichtigung von geleisteter Mehrarbeit ergebe. Außerdem könne auf die praktischen Schwierigkeiten verwiesen werden, die mit einer Berücksichtigung der Ruhegehaltfähigkeit von Überstunden verbunden wären.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Der Kläger hat am 02.06.2021 Berufung gegen das ihm am 06.05.2021 zugestellte Urteil eingelegt. Die Berufungsbegründungsfrist ist auf seinen Antrag vom 06.07.2021 bis 06.08.2021 verlängert worden. Am 06.08.2021 hat der Kläger die Berufung begründet, mit der er sein erstinstanzliches Begehren in vollem Umfang weiterverfolgt. Zur Begründung führt er unter anderem aus, es sei mehr als zweifelhaft, ob Gründe des Verwaltungsaufwandes und der -praktikabilität eine Diskriminierung der Teilzeitbeschäftigung wirklich objektiv sachlich rechtfertigen könnten, wenn dieses Argument als Sachgrund noch nicht einmal vom beklagten Land selbst behauptet worden sei. Diese offenbar auch ohne jegliche Amtsermittlung vom Verwaltungsgericht selbst gesetzte Begründung sei aber auch inhaltlich falsch. Die tatsächlichen Arbeitszeitquoten, die der Kläger im Laufe seines Berufslebens gearbeitet habe, seien durch das LBV selbst stets (digital) erfasst und auch entsprechend vergütet worden. Es stelle sich daher die Frage, worin der unverhältnismäßige Verwaltungsaufwand liegen solle, wenn die ruhegehaltfähige Dienstzeit zusammengestellt werden müsse.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Der Beklagte ist dem Anliegen entgegengetreten. Hinsichtlich der Nichtberücksichtigung von Mehrarbeit hat er ausgeführt, dass bereits keine Ungleichbehandlung vorliege, weil Mehrarbeit auch bei Vollzeitbeschäftigten nicht berücksichtigt werde. Auch habe die im Teilzeitbewilligungsbescheid festgelegte Quote gerade den Zweck, die Höhe der Bezüge festzulegen, sodass diese auch von der festgelegten Teilzeitquote abhängen müssten. Es sei nicht möglich, in den für die Beamten günstigen Fällen auf die aus der Teilzeitquote resultierende Arbeitszeit abzustellen, und dann, wenn sich dies etwa bei Krankheit für die Beamten nachteilig auswirke, auf die tatsächlich geleistete Arbeitszeit. Ein Abstellen auf die aus der Teilzeitquote resultierende Arbeitszeit habe grundsätzlich auch nicht zur Folge, dass Beamte, die regelmäßig Mehrarbeit leisten, um ihre Versorgungsbezüge gebracht würden. Der Kläger hätte, wenn er regelmäßig Mehrarbeit geleistet habe und diese Mehrarbeit von Seiten der Schule auch fest eingeplant worden sei, auf die Erhöhung seiner Teilzeitquote hinwirken können, denn ein Beamter habe grundsätzlich einen Anspruch darauf, nicht über seine Teilzeitquote hinaus beschäftigt zu werden. Es sei offenkundig, dass durch eine etwaige Berücksichtigung von geleisteter Mehrarbeit bei der Ermittlung der ruhegehaltfähigen Dienstzeit ein unverhältnismäßig hoher Verwaltungsaufwand entstünde. Jede einzelne im Wege der Mehrarbeit geleistete Arbeitsminute eines jeden Beamten müsste dokumentiert werden. Diese Dokumentation müsste aufbewahrt werden. Für die Berechnung des Ruhegehalts müssten die durch diese Vorgehensweise dann möglicherweise über einen Zeitraum von 40 oder mehr Dienstjahren dokumentierten Arbeitszeiten genau ausgewertet werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Mit Schriftsatz vom 20.06.2022 hat der Kläger einen Versorgungsfestsetzungsbescheid des LBV vom 10.06.2022 vorgelegt. Dieser legt einen Ruhegehaltssatz von 59,52 v.H. zugrunde, gemindert um 9,90 v.H.; des Weiteren wird ein Kürzungsbetrag auf Grund durchgeführten Versorgungsausgleichs ausgewiesen. Die streitigen Zeiten werden im selben Umfang wie in der Versorgungsauskunft berücksichtigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung zunächst den bereits beim Verwaltungsgericht gestellten Antrag (angepasst an die Berufungssituation) wiederholt. Nach Erörterung der Bedenken des Senats hinsichtlich der Verwaltungsaktqualität der angegriffenen Versorgungsauskunft sowie des Rechtsschutzbedürfnisses nach zwischenzeitlichem Erlass des Versorgungsfestsetzungsbescheids haben die Beteiligten erklärt, diesen in das Berufungsverfahren einbeziehen zu wollen, und übereinstimmend den Rechtsstreit hinsichtlich der Versorgungsauskunft des Beklagten vom 02.10.2018 sowie hinsichtlich dessen Widerspruchsbescheids vom 22.01.2019 für erledigt erklärt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Der Kläger beantragt nunmehr,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="11"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 24.03.2021 - 5 K 652/19 - abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, für den Kläger dessen Zeit seiner Ausbildung zum Maler und Lackierer vom 13.09.1976 bis zum 20.06.1979 insbesondere auch hinsichtlich der über ein Jahr hinausgehenden Zeit, d.h. vollumfänglich, dessen Zeit eines Hochschulstudiums des Faches Architektur vom 01.04.1989 bis zum 31.03.1990, dessen Zeit im Angestelltenverhältnis im öffentlichen Dienst vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 mit einem Deputat von 23/23 und dessen Zeit im Beamtenverhältnis vom 16.08.1993 bis zum 21.08.1994 mit einem Deputat von 22/23 Wochenstunden als ruhegehaltfähige Dienstzeiten anzuerkennen, und den Versorgungsfestsetzungsbescheid des Beklagten vom 10.06.2022 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="13"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Dem Senat haben die Akten des Verwaltungsgerichts und des LBV sowie die Personalakten des Klägers vorgelegen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird darauf und auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Berufung ist zulässig und im sich aus dem Tenor ergebenden Umfang auch begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>I. Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie gemäß § 124a Abs. 3 Sätze 1 und 3 VwGO fristgerecht begründet worden. Die Klageänderung durch Einbeziehung des Versorgungsfestsetzungsbescheids ist mit Einverständnis des Beklagten erfolgt und daher nach § 125 Abs. 1 Satz 1, § 91 Abs. 1 VwGO zulässig. Weitere Hindernisse stehen der Überprüfung des - unstreitig wegen Einlegung eines noch nicht beschiedenen Widerspruchs nicht bestandskräftig gewordenen - Versorgungsfestsetzungsbescheids durch den Senat nicht entgegen. Insbesondere ist die Durchführung des Vorverfahrens entbehrlich. Denn der Beklagte hat sich hinsichtlich der Ruhegehaltfähigkeit der Zeiten bereits im noch gegen die Versorgungsauskunft gerichteten Verfahren festgelegt (BVerwG, Urteil vom 30.10.2013 - 2 C 23.12 -, Juris Rn. 37).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Soweit die Beteiligten - hinsichtlich der ursprünglich streitgegenständlichen Versorgungsauskunft - übereinstimmend das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war es in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und das Urteil des Verwaltungsgerichts in entsprechender Anwendung von § 173 Satz 1 VwGO, § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO deklaratorisch für wirkungslos zu erklären.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>II. Die Berufung des Klägers ist nur teilweise begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>1. Die Ausbildung zum Maler und Lackierer ist lediglich im Umfang von einem Jahr als ruhegehaltfähig zu berücksichtigen; nur insoweit hat der Kläger einen Anspruch auf Änderung des Versorgungsfestsetzungsbescheids (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Hat - wie im Falle des Klägers - das Beamtenverhältnis oder ein unmittelbar vorangegangenes anderes öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, aus dem der Beamte in den Ruhestand tritt, bereits am 31.12.2010 bestanden, finden gemäß 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG im Einzelnen bezeichnete Vorschriften des (Bundes-)Beamtenversorgungsgesetzes in der bis zum 31.08.2006 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) hinsichtlich der Bestimmung der ruhegehaltfähigen Dienstzeit neben den § 24 Abs. 1 und 2 und § 26 LBeamtVG weiterhin mit der Maßgabe Anwendung, dass sich die Berücksichtigung von Hochschulausbildungszeiten nach den § 23 Abs. 6, § 101 LBeamtVG richtet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG a.F. kann die nach Vollendung des siebzehnten Lebensjahres verbrachte Mindestzeit der außer der allgemeinen Schulbildung vorgeschriebenen Ausbildung (Fachschul-, Hochschul- und praktische Ausbildung, Vorbereitungsdienst, übliche Prüfungszeit) als ruhegehaltfähige Dienstzeit berücksichtigt werden. „Vorgeschrieben“ ist eine Ausbildung, wenn sie zur der Zeit ihrer Ableistung aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zur Übertragung des ersten statusrechtlichen Amtes erforderlich ist (Senatsurteil vom 17.12.2015 - 4 S 1211/14 -, Juris Rn. 23 m.w.N.). Es kommt daher nicht wie geltend gemacht darauf an, welche Anforderungen in Niedersachsen galten, als der Kläger dort Studium und Vorbereitungsdienst absolviert hat. Maßgeblich ist vielmehr die baden-württembergische Verordnung des Ministeriums für Kultus und Sport über den Vorbereitungsdienst und die Zweite Staatsprüfung für die Laufbahn des höheren Dienstes an beruflichen Schulen (APrObSchhD) vom 31.08.1984 (GBl. S. 584). Gemäß deren § 2 Abs. 3 mussten „übrige“ Bewerber, d.h. solche, die - wie der Kläger - nicht die Wissenschaftliche oder die Künstlerische Prüfung für das Lehramt an Gymnasien abgelegt haben, eine ihrer Fachrichtung und zugleich dem Lehramt dienliche Betriebspraxis von (nur) mindestens einem Jahr nachweisen, um zum Vorbereitungsdienst zugelassen zu werden. Eine Berücksichtigung der Ausbildung zum Maler und Lackierer in größerem Umfang kommt daher nicht in Betracht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Vorgeschriebene Ausbildungszeiten im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG a.F. sind in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang als ruhegehaltfähig zu berücksichtigen, wenn der Beamte für die Ausbildungszeiten keine andere Anwartschaft auf eine Altersversorgung erworben hat. Das nach dem Gesetzeswortlaut eröffnete behördliche Ermessen ist dann auf Null reduziert (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.2012 - 2 C 49.10 -, Juris Rn. 14). Für eine derartige Anwartschaft bestehen keine Anhaltspunkte. Solche hat insbesondere auch der Beklagte weder gesehen, als er die Ausbildungszeit - in wechselndem Umfang - in Versorgungsauskünften berücksichtigt hat, noch zum Anlass genommen, seinerseits gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berufung einzulegen, als er zur Anerkennung der Ausbildung im Umfang von einem Jahr verurteilt wurde. Auch andere Umstände, die eine auf Nichtberücksichtigung zielende Ermessensbetätigung tragen könnten, hat der Beklagte nicht geltend gemacht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Eine weitergehende Berücksichtigung der Ausbildungszeit kommt hingegen nicht in Betracht. § 12 BeamtVG a.F., nach dem sich im Falle des Klägers die Berücksichtigung von Ausbildungszeiten richtet, sieht die Berücksichtigung von Zeiten, die für die Wahrnehmung des Amtes bloß förderlich, aber nicht vorgeschrieben sind, nur gemäß Absatz 2 Satz 1 für Beamte des Vollzugsdienstes und des Einsatzdienstes der Feuerwehr vor. Indem § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG nur einzelne Vorschriften dieses Gesetzes für anwendbar erklärt - § 24 Abs. 1 und 2 und § 26 LBeamtVG sowie hinsichtlich der Berücksichtigung von Hochschulausbildungszeiten § 23 Abs. 6, § 101 LBeamtVG -, bringt die Norm auch zum Ausdruck, dass bei Beamten, deren Beamtenverhältnis bereits am 31.12.2010 (also vor Inkrafttreten des Gesetzes) bestanden hat, weitere „aktuelle“ Vorschriften zu Vordienst- und Ausbildungszeiten keine Anwendung finden sollen (vgl. auch LT-Drs. 14/6694, S. 555 f. zu § 106 Abs. 5 LBeamtVG: „Für vorhandene Beamte gilt hinsichtlich der Berücksichtigung von Ausbildungs-, Vordienstzeiten und sonstigen Zeiten die bisher geltende Rechtslage grundsätzlich fort.“). Nicht einschlägig ist daher insbesondere auch § 23 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 LBeamtVG, der die Ruhegehaltfähigkeit förderlicher Zeiten regelt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>2. Der Kläger hat des Weiteren keinen Anspruch auf die Berücksichtigung seines Architekturstudiums. Wie bereits unter 1. ausgeführt, sind im Falle des Klägers keine Vorschriften einschlägig, die eine Berücksichtigung bloß förderlicher Zeiten vorsehen. Im Übrigen gibt § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG vor, dass die bezeichneten Vorschriften des (Bundes-)Beamtenversorgungsgesetzes alter Fassung mit der Maßgabe Anwendung finden, dass sich die Berücksichtigung von Hochschulausbildungszeiten nach den § 23 Abs. 6, § 101 LBeamtVG richtet. Nach § 23 Abs. 6 LBeamtVG sind bis zu einer Gesamtzeit von 855 Tagen Zeiten einer abgeschlossenen, förderlichen Hochschulausbildung ruhegehaltfähig. Damit scheidet eine Berücksichtigung des Architekturstudiums aus, weil bereits sein Studium der Farbtechnik und Raumgestaltung im Umfang von 855 Tagen als ruhegehaltfähig anerkannt und damit die für die Berücksichtigung von Hochschulzeiten geltende Höchstgrenze erreicht wurde und er im Übrigen das Architekturstudium nicht abgeschlossen, sondern „nur“ das Vordiplom erworben hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>3. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch darauf, dass die Zeit vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 im Umfang von 23/23 und die Zeit vom 16.08.1993 bis zum 21.08.1994 im Umfang von 22/23 Wochenstunden als ruhegehaltfähig berücksichtigt wird, d.h. unter Berücksichtigung der geleisteten Mehrarbeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>a) Die ab Mitte August 1993 im Beamtenverhältnis auf Probe verbrachte Zeit ist nach § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG a.F. ruhegehaltfähig. Allerdings sind nach § 6 Abs. 1 Satz 3 HS 1 BeamtVG a.F. Zeiten einer Teilzeitbeschäftigung nur zu dem Teil ruhegehaltfähig, der dem Verhältnis der ermäßigten zur regelmäßigen Arbeitszeit entspricht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Auf die vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 im Angestelltenverhältnis verbrachte Zeit findet § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG i.V.m. § 10 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG a.F. Anwendung. Danach sollen als ruhegehaltfähig auch Zeiten berücksichtigt werden, in denen ein Beamter nach Vollendung des siebzehnten Lebensjahres vor der Berufung in das Beamtenverhältnis im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis im Dienst eines öffentlich-rechtlichen Dienstherrn ohne von dem Beamten zu vertretende Unterbrechung tätig war, sofern diese Tätigkeit zu seiner Ernennung geführt hat und es sich um Zeiten einer hauptberuflichen in der Regel einem Beamten obliegenden oder später einem Beamten übertragenen entgeltlichen Beschäftigung handelt. Diese Voraussetzungen sind im Falle der unmittelbar vor der Ernennung zum Beamten auf Probe im Angestelltenverhältnis verbrachten Lehrtätigkeit des Klägers unstreitig erfüllt; atypische Umstände, die trotz der Soll-Vorschrift gegen eine Anrechnung sprechen, sind nicht erkennbar (vgl. allgemein zur Vorschrift BVerwG, Beschluss vom 05.12.2011 - 2 B 103.11 -, Juris Rn. 7-10 m.w.N. sowie speziell zur Ausgestaltung als Soll-Vorschrift Senatsurteil vom 22.11.1988 - 4 S 2669/87 -, Juris Rn. 33). Dabei dürfen nach § 10 Satz 3 BeamtVG a.F. Zeiten mit einer geringeren als der regelmäßigen Arbeitszeit nur zu dem Teil als ruhegehaltfähig berücksichtigt werden, der dem Verhältnis der tatsächlichen zur regelmäßigen Arbeitszeit entspricht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>§ 6 Abs. 1 Satz 3 HS 1 sowie § 10 Satz 3 BeamtVG a.F. tragen dem unionsrechtlichen Grundsatz „pro rata temporis“ Rechnung (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 24.09.2013 - 2 C 52.11 -, Juris Rn. 22 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>b) Das Abstellen auf die festgesetzte Teilzeitquote unter Außerachtlassung der tatsächlich geleisteten Mehrarbeit stellt eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten dar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>aa) Der Anhang der Richtlinie Nr. 97/81/EG des Rates vom 15.12.1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeiter enthält die von der Union der europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände, dem Europäischen Gewerkschaftsbund und dem Europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft geschlossene Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit. Aufgrund der Übernahme als Anhang in die Richtlinie Nr. 97/81/EG wird diese Vereinbarung zu einem Bestandteil der Richtlinie und nimmt an deren Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten teil. Diese sind verpflichtet, ihr Recht den inhaltlichen Vorgaben der Rahmenvereinbarung anzupassen (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV). Nach der Präambel des Anhangs der Richtlinie 97/81/EG verfolgt die Rahmenvereinbarung den Zweck, Diskriminierungen von Teilzeitbeschäftigten zu beseitigen und einen Beitrag zur Entwicklung der Teilzeitarbeitsmöglichkeiten zu leisten. Dementsprechend schreibt § 4 Nr. 1 vor, dass Teilzeitbeschäftigte in ihren Beschäftigungsbedingungen nicht nur deswegen gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten schlechter behandelt werden dürfen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus sachlichen Gründen gerechtfertigt. Nach § 4 Nr. 2 gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-temporis-Grundsatz. Daraus folgt, dass sich Teilzeitbeschäftigung nur in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht von gleicher oder gleichwertiger Vollzeitbeschäftigung unterscheiden darf. Folglich sind ungleiche Beschäftigungsbedingungen für Voll- und Teilzeitbeschäftigte nach § 4 Nr. 1 und 2 des Anhangs der Richtlinie im Regelfall nur insoweit zulässig, als die Ungleichbehandlung dem unterschiedlichen zeitlichen Arbeitsumfang Rechnung trägt. Nach dem Zweck des Anhangs umfasst der in § 4 Nr. 1 verwendete Begriff der Beschäftigungsbedingungen die Gesamtheit der Rechte und Pflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis. Hierzu gehören Entgelte für die Arbeitsleistung und damit auch Leistungen der Altersversorgung wie das Ruhegehalt, die nach Grund und Höhe auf das Beschäftigungsverhältnis zurückzuführen sind. Nach § 4 Nr. 1 und 2 des Anhangs sind derartige Leistungen Teilzeitbeschäftigten entsprechend dem zeitlichen Verhältnis der Teilzeit zur Vollzeit, d.h. strikt zeitanteilig zu gewähren (BVerwG, Urteil vom 25.03.2010 - 2 C 72.08 -, Juris Rn. 17 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Eine Ungleichbehandlung liegt immer dann vor, wenn bei gleicher Arbeit und gleicher Anzahl Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, die den Vollzeitbeschäftigten gezahlte Vergütung höher ist als diejenige, die Teilzeitbeschäftigten gezahlt wird. Sie liegt insbesondere dann vor, wenn ein teilzeitbeschäftigter Lehrer, der über seine individuelle Arbeitszeit hinaus Mehrarbeit leistet, für diese Arbeit weniger Vergütung erhält als ein vollzeitbeschäftigter Lehrer für dieselbe Arbeitszeit (BVerwG, Urteil vom 13.03.2008 - 2 C 128.07 -, Juris Rn. 16 zu Art. 141 Abs. 2 Satz 2 EGV, nunmehr Art. 157 Abs. 1 und 2 AEUV), wobei zur „Vergütung“ auch das Ruhegehalt zählt (s.o.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>bb) Nach diesen Maßstäben stellt die Nichtberücksichtigung der vom Kläger geleisteten Mehrarbeit eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung dar. Denn obwohl er vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 wie ein Vollzeitbeschäftigter als Lehrer im Angestelltenverhältnis gearbeitet hat, wird nach den gesetzlichen Vorschriften die Zeit nur im Umfang seiner festgesetzten Teilzeitquote von 11/23 als ruhegehaltfähig berücksichtigt, während sie bei einem Vollzeitbeschäftigten vollständig, d.h. im Umfang von 23/23 berücksichtigt würde. Eine Ungleichbehandlung liegt auch für die Zeit bis Mitte August 1994 vor, während der der Kläger im Beamtenverhältnis beschäftigt war. Indem die Zeit nicht entsprechend dem tatsächlichen Beschäftigungsumfang von 22/23, sondern nur mit der festgesetzten Teilzeitquote von 17/23 berücksichtigt wurde, erfolgte eine über den Grundsatz „pro rata temporis“ hinausgehende Schlechterbehandlung - obwohl der Kläger nur im Umfang von 1/23 der Arbeitszeit weniger gearbeitet hat als ein Vollzeitbeschäftigter, wurde seine Dienstzeit im Umfang von 6/23 weniger bei der Festsetzung des Ruhegehalts berücksichtigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Der Senat teilt damit nicht die Auffassung des Beklagten, es liege bereits keine Ungleichbehandlung vor. Zwar ist geleistete Mehrarbeit auch bei Vollzeitbeschäftigten nicht ruhegehaltfähig. Entscheidend ist jedoch, dass ein Vollzeitbeschäftigter ein höheres Ruhegehalt erhält als ein Teilzeitbeschäftigter, auch wenn dieser unter Berücksichtigung seiner Mehrarbeit - die im Falle des Klägers unstreitig sogar für beide Schuljahre von seiner Beschäftigungsstelle eingeplant war, um ihm eine finanzielle Aufstockung zu ermöglichen - gleich viel gearbeitet hat. Dass auch von Teilzeitbeschäftigten entsprechend ihrer Teilzeitquote eine gewisse Anzahl Mehrarbeitsstunden ausgleichsfrei zu leisten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.2010 - 2 C 27.09 -, Juris), ist insoweit für das Ruhegehalt nicht von Bedeutung. Eine der Richtlinie 97/81/EG ebenfalls widersprechende Schlechterstellung der Vollzeitbeschäftigten durch Überkompensation der Teilzeitbeschäftigte treffenden Nachteile liegt darin nicht (vgl. wiederum BVerwG, a.a.O., Rn. 25).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>c) Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>aa) Sachliche Gründe, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (§ 4 Nr. 1 des Anhangs zur Richtlinie 97/81/EG), sind Gründe, die nichts mit einer Diskriminierung auf Grund des Beschäftigungsumfangs zu tun haben und auch nicht dazu führen, dass tragende Grundsätze des Unionsrechts ausgehöhlt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.2010 - 2 C 27.09 -, Juris Rn. 14). Eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten und Vollzeitbeschäftigten kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie in einer allgemeinen und abstrakten Norm des nationalen Rechts wie einem Gesetz oder einem Tarifvertrag vorgesehen ist. Die festgestellte Ungleichbehandlung muss durch das Vorhandensein genau bezeichneter, konkreter Umstände gerechtfertigt sein, die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien für die Prüfung der Frage kennzeichnen, ob die Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entspricht und ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist. Diese Umstände können sich etwa aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung Teilzeitarbeitsverträge geschlossen wurden, und deren Wesensmerkmalen oder gegebenenfalls aus der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben (EuGH, Urteil vom 05.05.2022 - C-265/20 -, Juris Rn. 53 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>bb) Das Verwaltungsgericht hat angenommen, ein Rechtfertigungsgrund sei im aus Art. 33 Abs. 5 GG folgenden beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip sowie im Leistungsprinzip zu sehen und in der Art und Weise, in welcher dies bei der Berechnung der Altersversorgungsbezüge im Falle von Teilzeitbeschäftigung verwirklicht werde, nämlich in Orientierung an der normativen Arbeitszeit und damit am Statusamt und nicht an der tatsächlich geleisteten Arbeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Aus Sicht des Senats rechtfertigt dies die Ungleichbehandlung nicht. Zwar ist, wie das Verwaltungsgericht herausgestellt hat, der Dienstherr wegen des Alimentationsprinzips zur Zahlung am Statusamt ausgerichteter Bezüge verpflichtet, und zwar auch dann, wenn die tatsächlich geleistete Dienstzeit insbesondere wegen Krankheit hinter der normativ festgelegten zurückbleibt. Dieses Prinzip gilt für alle Beamten und kann hier keine Ungleichbehandlung rechtfertigen. So wie sich mit dieser Erwägung nicht bezogen auf die Besoldung rechtfertigen lässt, dass ein teilzeitbeschäftigter Lehrer, der über seine individuelle Arbeitszeit hinaus Mehrarbeit leistet, für diese Arbeit weniger Vergütung erhält als ein vollzeitbeschäftigter Lehrer für dieselbe Arbeitszeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.03.2008 - 2 C 128.07 -, Juris), lässt sich damit auch eine Ungleichbehandlung bei den Versorgungsbezügen nicht rechtfertigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Eine Rechtfertigung ergibt sich auch nicht aus den vom Verwaltungsgericht hervorgehobenen praktischen Schwierigkeiten, die mit einer Anerkennung der Ruhegehaltfähigkeit von Überstunden verbunden sein können. Zwar verweist das Gericht zutreffend darauf, dass der mit der Vergütung von Mehrarbeit verbundene Verwaltungsaufwand ein anderer ist als der, der mit ihrer Berücksichtigung als ruhegehaltfähig einhergeht. Denn während die Vergütung in der Regel zeitnah und abschnittsweise erfolgt, erfolgt die Berechnung des Ruhegehalts zumeist nach jahrzehntelanger Dienstzeit. Auch dürfte ein Fall wie der des Klägers, der zum Ausgleich für die Einstellungsteilzeit für ein ganzes Schuljahr mit festem Mehrarbeitsumfang eingeplant war, eher die Ausnahme und Mehrarbeit in der Regel vereinzelt und in wechselndem Umfang geleistet sein, sodass der Berechnung des Ruhegehalts ein mitunter sehr hoher Berechnungsaufwand zugrunde läge.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Zwar hat auch der Europäische Gerichtshof im Falle eines Besoldungssystemwechsels anerkannt, dass „nicht verlangt werden (kann), dass jeder Einzelfall individuell geprüft wird, um frühere Erfahrungszeiten im Nachhinein und individuell festzustellen, da die fragliche Regelung in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht handhabbar bleiben muss“ (EuGH, Urteil vom 19.06.2014 - C-501/12 u.a. -, Juris Rn. 78 zum Verbot der Diskriminierung wegen des Alters nach Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Grundsätzlich jedoch vermögen administrative Schwierigkeiten eine Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen (EuGH, a.a.O. Rn. 77). Hinzu kommt, dass eine individuelle Entgeltberechnung bei Mehrarbeit im Besoldungssystem bereits angelegt ist (vgl. zu diesem Aspekt EuGH, Urteil vom 26.09.2013 - C-546/11 -, Juris Rn. 71). Zeiträume der Mehrarbeit sind aktenmäßig dokumentiert bzw. können ohne weiteres dokumentiert werden und müssen im Rahmen der Berechnung des Ruhegehalts nicht erstmals festgestellt, sondern allein rechnerisch berücksichtigt werden. Daher lässt sich die Ungleichbehandlung hier auch nicht mit dem Verwaltungsaufwand rechtfertigen, obwohl er wie dargelegt bei der Versorgung größer ist als bei der Besoldung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Soweit schließlich der Beklagte darauf verweist, dass der Kläger auf die Erhöhung seiner Teilzeitquote hätte hinwirken können, wird dies dem Umstand nicht gerecht, dass der Kläger - unstreitig - stets vollzeitbeschäftigt sein wollte, ihm aber nur eine Teilzeitbeschäftigung mit Aufstockung „angeboten“ wurde. Wegen der Beschäftigung im tatsächlich gewünschten Umfang - wenn auch nicht im Status eines (nahezu) Vollzeitbeschäftigten - kann auch die Frage nach der Rechtswidrigkeit der Einstellungsteilzeit und der Möglichkeit von Primärrechtsschutz offenbleiben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Auf das in Art. 157 Abs. 1 AEUV normierte Diskriminierungsverbot kommt es damit nicht mehr an.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>III. Soweit der Rechtsstreit nicht für erledigt erklärt wurde, beruht die Kostenentscheidung auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger begehrte eine Erhöhung der als ruhegehaltfähig anerkannten Zeit um insgesamt ungefähr vierdreiviertel Jahre (drei Jahre Ausbildung, ein Jahr Studium, ungefähr ein halbes Jahr durch Anerkennung der ein Jahr lang im Angestelltenverhältnis verrichteten Lehrtätigkeit im Umfang von 23/23 statt 11/23 und ungefähr ein viertel Jahr durch Anerkennung seines ersten Jahres im Beamtenverhältnis bis Mitte 1994 im Umfang von 22/23 statt 17/23). Erfolg hatte die Klage insoweit im Umfang von ungefähr eindreiviertel Jahren. Dabei hätte - nach den unbestrittenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts in seinem Streitwertbeschluss - eine Anerkennung aller vom Kläger geltend gemachter Zeiten zu einer Erhöhung des Ruhegehalts um monatlich 332,91 EUR geführt, wobei für die Kostenquote entsprechend der Regelung des § 42 Abs. 1 Satz 1 GKG der dreifache Jahresbetrag i.H.v. 11.984,76 EUR zugrunde zu legen ist. Der Kläger obsiegt insoweit im Umfang von 7/19, der Beklagte von 12/19.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Soweit die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es, die Kosten dem Kläger aufzuerlegen. Denn für die auf Korrektur der Versorgungsauskunft gerichtete Klage bestand voraussichtlich kein Rechtsschutzbedürfnis. Die Versorgungsauskunft stellt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 LBeamtVG keine verbindliche Zusage über die Höhe der späteren Versorgungsansprüche dar und steht unter dem Vorbehalt künftiger Sach- und Rechtsänderungen. Die Versorgungsauskunft soll „über den aktuellen Versorgungs-‚Anspruch‘ des Beamten Aufschluss geben“ (LT-Drs. 14/6694, S. 532; vgl. Hebeler, Die beamtenrechtliche Versorgungsauskunft, DÖD 2015, S. 301 und 305 Fn. 24). Ob die Auskunft eher darauf gerichtet ist, Auskunft über den gegenwärtigen Stand der Versorgungsanwartschaft zu geben, oder - zur Anregung weiterer Altersvorsorge - eine Prognose über die künftige Versorgung enthält, kann dahingestellt bleiben. Beide Zwecke lassen nicht erkennen, welcher Mehrwert für den Kläger mit einer geänderten Auskunft einhergehen sollte. Eine Entscheidung über die Anerkennung ruhegehaltfähiger Dienstzeiten ermöglicht bereits § 3 Abs. 2 LBeamtVG (vgl. auch § 49 Abs. 2 Satz 2 BeamtVG a.F.). Über die tatsächliche Anerkennung als ruhegehaltfähig wird erst mit dem Versorgungsfestsetzungsbescheid entschieden. Soweit das Verwaltungsgericht in dem Widerspruchsbescheid eine verbindliche Regelung gesehen hat, ergibt sich allein daraus noch kein Rechtsschutzbedürfnis. Insoweit ist im Rahmen der Kostenquote ein Wert von 5.000 EUR anzusetzen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Insgesamt obsiegt der Kläger damit zu einem Anteil von (11.984,76 x 7/19) / (11.984,76 x 12/19 + 5.000), was eine Kostenquote von ungefähr ein Viertel zu drei Viertel ergibt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die Revision wird zugelassen, weil die Frage der Ruhegehaltfähigkeit von Mehrarbeit grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/><strong>Beschluss vom 19. Juli 2022</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 42 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG auf <strong>16.984,76 EUR </strong>(11.984,76 + 5.000) festgesetzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Berufung ist zulässig und im sich aus dem Tenor ergebenden Umfang auch begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>I. Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie gemäß § 124a Abs. 3 Sätze 1 und 3 VwGO fristgerecht begründet worden. Die Klageänderung durch Einbeziehung des Versorgungsfestsetzungsbescheids ist mit Einverständnis des Beklagten erfolgt und daher nach § 125 Abs. 1 Satz 1, § 91 Abs. 1 VwGO zulässig. Weitere Hindernisse stehen der Überprüfung des - unstreitig wegen Einlegung eines noch nicht beschiedenen Widerspruchs nicht bestandskräftig gewordenen - Versorgungsfestsetzungsbescheids durch den Senat nicht entgegen. Insbesondere ist die Durchführung des Vorverfahrens entbehrlich. Denn der Beklagte hat sich hinsichtlich der Ruhegehaltfähigkeit der Zeiten bereits im noch gegen die Versorgungsauskunft gerichteten Verfahren festgelegt (BVerwG, Urteil vom 30.10.2013 - 2 C 23.12 -, Juris Rn. 37).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Soweit die Beteiligten - hinsichtlich der ursprünglich streitgegenständlichen Versorgungsauskunft - übereinstimmend das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war es in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und das Urteil des Verwaltungsgerichts in entsprechender Anwendung von § 173 Satz 1 VwGO, § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO deklaratorisch für wirkungslos zu erklären.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>II. Die Berufung des Klägers ist nur teilweise begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>1. Die Ausbildung zum Maler und Lackierer ist lediglich im Umfang von einem Jahr als ruhegehaltfähig zu berücksichtigen; nur insoweit hat der Kläger einen Anspruch auf Änderung des Versorgungsfestsetzungsbescheids (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Hat - wie im Falle des Klägers - das Beamtenverhältnis oder ein unmittelbar vorangegangenes anderes öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, aus dem der Beamte in den Ruhestand tritt, bereits am 31.12.2010 bestanden, finden gemäß 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG im Einzelnen bezeichnete Vorschriften des (Bundes-)Beamtenversorgungsgesetzes in der bis zum 31.08.2006 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) hinsichtlich der Bestimmung der ruhegehaltfähigen Dienstzeit neben den § 24 Abs. 1 und 2 und § 26 LBeamtVG weiterhin mit der Maßgabe Anwendung, dass sich die Berücksichtigung von Hochschulausbildungszeiten nach den § 23 Abs. 6, § 101 LBeamtVG richtet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG a.F. kann die nach Vollendung des siebzehnten Lebensjahres verbrachte Mindestzeit der außer der allgemeinen Schulbildung vorgeschriebenen Ausbildung (Fachschul-, Hochschul- und praktische Ausbildung, Vorbereitungsdienst, übliche Prüfungszeit) als ruhegehaltfähige Dienstzeit berücksichtigt werden. „Vorgeschrieben“ ist eine Ausbildung, wenn sie zur der Zeit ihrer Ableistung aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zur Übertragung des ersten statusrechtlichen Amtes erforderlich ist (Senatsurteil vom 17.12.2015 - 4 S 1211/14 -, Juris Rn. 23 m.w.N.). Es kommt daher nicht wie geltend gemacht darauf an, welche Anforderungen in Niedersachsen galten, als der Kläger dort Studium und Vorbereitungsdienst absolviert hat. Maßgeblich ist vielmehr die baden-württembergische Verordnung des Ministeriums für Kultus und Sport über den Vorbereitungsdienst und die Zweite Staatsprüfung für die Laufbahn des höheren Dienstes an beruflichen Schulen (APrObSchhD) vom 31.08.1984 (GBl. S. 584). Gemäß deren § 2 Abs. 3 mussten „übrige“ Bewerber, d.h. solche, die - wie der Kläger - nicht die Wissenschaftliche oder die Künstlerische Prüfung für das Lehramt an Gymnasien abgelegt haben, eine ihrer Fachrichtung und zugleich dem Lehramt dienliche Betriebspraxis von (nur) mindestens einem Jahr nachweisen, um zum Vorbereitungsdienst zugelassen zu werden. Eine Berücksichtigung der Ausbildung zum Maler und Lackierer in größerem Umfang kommt daher nicht in Betracht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Vorgeschriebene Ausbildungszeiten im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG a.F. sind in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang als ruhegehaltfähig zu berücksichtigen, wenn der Beamte für die Ausbildungszeiten keine andere Anwartschaft auf eine Altersversorgung erworben hat. Das nach dem Gesetzeswortlaut eröffnete behördliche Ermessen ist dann auf Null reduziert (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.2012 - 2 C 49.10 -, Juris Rn. 14). Für eine derartige Anwartschaft bestehen keine Anhaltspunkte. Solche hat insbesondere auch der Beklagte weder gesehen, als er die Ausbildungszeit - in wechselndem Umfang - in Versorgungsauskünften berücksichtigt hat, noch zum Anlass genommen, seinerseits gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berufung einzulegen, als er zur Anerkennung der Ausbildung im Umfang von einem Jahr verurteilt wurde. Auch andere Umstände, die eine auf Nichtberücksichtigung zielende Ermessensbetätigung tragen könnten, hat der Beklagte nicht geltend gemacht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Eine weitergehende Berücksichtigung der Ausbildungszeit kommt hingegen nicht in Betracht. § 12 BeamtVG a.F., nach dem sich im Falle des Klägers die Berücksichtigung von Ausbildungszeiten richtet, sieht die Berücksichtigung von Zeiten, die für die Wahrnehmung des Amtes bloß förderlich, aber nicht vorgeschrieben sind, nur gemäß Absatz 2 Satz 1 für Beamte des Vollzugsdienstes und des Einsatzdienstes der Feuerwehr vor. Indem § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG nur einzelne Vorschriften dieses Gesetzes für anwendbar erklärt - § 24 Abs. 1 und 2 und § 26 LBeamtVG sowie hinsichtlich der Berücksichtigung von Hochschulausbildungszeiten § 23 Abs. 6, § 101 LBeamtVG -, bringt die Norm auch zum Ausdruck, dass bei Beamten, deren Beamtenverhältnis bereits am 31.12.2010 (also vor Inkrafttreten des Gesetzes) bestanden hat, weitere „aktuelle“ Vorschriften zu Vordienst- und Ausbildungszeiten keine Anwendung finden sollen (vgl. auch LT-Drs. 14/6694, S. 555 f. zu § 106 Abs. 5 LBeamtVG: „Für vorhandene Beamte gilt hinsichtlich der Berücksichtigung von Ausbildungs-, Vordienstzeiten und sonstigen Zeiten die bisher geltende Rechtslage grundsätzlich fort.“). Nicht einschlägig ist daher insbesondere auch § 23 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 LBeamtVG, der die Ruhegehaltfähigkeit förderlicher Zeiten regelt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>2. Der Kläger hat des Weiteren keinen Anspruch auf die Berücksichtigung seines Architekturstudiums. Wie bereits unter 1. ausgeführt, sind im Falle des Klägers keine Vorschriften einschlägig, die eine Berücksichtigung bloß förderlicher Zeiten vorsehen. Im Übrigen gibt § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG vor, dass die bezeichneten Vorschriften des (Bundes-)Beamtenversorgungsgesetzes alter Fassung mit der Maßgabe Anwendung finden, dass sich die Berücksichtigung von Hochschulausbildungszeiten nach den § 23 Abs. 6, § 101 LBeamtVG richtet. Nach § 23 Abs. 6 LBeamtVG sind bis zu einer Gesamtzeit von 855 Tagen Zeiten einer abgeschlossenen, förderlichen Hochschulausbildung ruhegehaltfähig. Damit scheidet eine Berücksichtigung des Architekturstudiums aus, weil bereits sein Studium der Farbtechnik und Raumgestaltung im Umfang von 855 Tagen als ruhegehaltfähig anerkannt und damit die für die Berücksichtigung von Hochschulzeiten geltende Höchstgrenze erreicht wurde und er im Übrigen das Architekturstudium nicht abgeschlossen, sondern „nur“ das Vordiplom erworben hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>3. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch darauf, dass die Zeit vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 im Umfang von 23/23 und die Zeit vom 16.08.1993 bis zum 21.08.1994 im Umfang von 22/23 Wochenstunden als ruhegehaltfähig berücksichtigt wird, d.h. unter Berücksichtigung der geleisteten Mehrarbeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>a) Die ab Mitte August 1993 im Beamtenverhältnis auf Probe verbrachte Zeit ist nach § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG a.F. ruhegehaltfähig. Allerdings sind nach § 6 Abs. 1 Satz 3 HS 1 BeamtVG a.F. Zeiten einer Teilzeitbeschäftigung nur zu dem Teil ruhegehaltfähig, der dem Verhältnis der ermäßigten zur regelmäßigen Arbeitszeit entspricht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Auf die vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 im Angestelltenverhältnis verbrachte Zeit findet § 106 Abs. 5 Satz 1 LBeamtVG i.V.m. § 10 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG a.F. Anwendung. Danach sollen als ruhegehaltfähig auch Zeiten berücksichtigt werden, in denen ein Beamter nach Vollendung des siebzehnten Lebensjahres vor der Berufung in das Beamtenverhältnis im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis im Dienst eines öffentlich-rechtlichen Dienstherrn ohne von dem Beamten zu vertretende Unterbrechung tätig war, sofern diese Tätigkeit zu seiner Ernennung geführt hat und es sich um Zeiten einer hauptberuflichen in der Regel einem Beamten obliegenden oder später einem Beamten übertragenen entgeltlichen Beschäftigung handelt. Diese Voraussetzungen sind im Falle der unmittelbar vor der Ernennung zum Beamten auf Probe im Angestelltenverhältnis verbrachten Lehrtätigkeit des Klägers unstreitig erfüllt; atypische Umstände, die trotz der Soll-Vorschrift gegen eine Anrechnung sprechen, sind nicht erkennbar (vgl. allgemein zur Vorschrift BVerwG, Beschluss vom 05.12.2011 - 2 B 103.11 -, Juris Rn. 7-10 m.w.N. sowie speziell zur Ausgestaltung als Soll-Vorschrift Senatsurteil vom 22.11.1988 - 4 S 2669/87 -, Juris Rn. 33). Dabei dürfen nach § 10 Satz 3 BeamtVG a.F. Zeiten mit einer geringeren als der regelmäßigen Arbeitszeit nur zu dem Teil als ruhegehaltfähig berücksichtigt werden, der dem Verhältnis der tatsächlichen zur regelmäßigen Arbeitszeit entspricht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>§ 6 Abs. 1 Satz 3 HS 1 sowie § 10 Satz 3 BeamtVG a.F. tragen dem unionsrechtlichen Grundsatz „pro rata temporis“ Rechnung (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 24.09.2013 - 2 C 52.11 -, Juris Rn. 22 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>b) Das Abstellen auf die festgesetzte Teilzeitquote unter Außerachtlassung der tatsächlich geleisteten Mehrarbeit stellt eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten dar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>aa) Der Anhang der Richtlinie Nr. 97/81/EG des Rates vom 15.12.1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeiter enthält die von der Union der europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände, dem Europäischen Gewerkschaftsbund und dem Europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft geschlossene Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit. Aufgrund der Übernahme als Anhang in die Richtlinie Nr. 97/81/EG wird diese Vereinbarung zu einem Bestandteil der Richtlinie und nimmt an deren Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten teil. Diese sind verpflichtet, ihr Recht den inhaltlichen Vorgaben der Rahmenvereinbarung anzupassen (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV). Nach der Präambel des Anhangs der Richtlinie 97/81/EG verfolgt die Rahmenvereinbarung den Zweck, Diskriminierungen von Teilzeitbeschäftigten zu beseitigen und einen Beitrag zur Entwicklung der Teilzeitarbeitsmöglichkeiten zu leisten. Dementsprechend schreibt § 4 Nr. 1 vor, dass Teilzeitbeschäftigte in ihren Beschäftigungsbedingungen nicht nur deswegen gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten schlechter behandelt werden dürfen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus sachlichen Gründen gerechtfertigt. Nach § 4 Nr. 2 gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-temporis-Grundsatz. Daraus folgt, dass sich Teilzeitbeschäftigung nur in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht von gleicher oder gleichwertiger Vollzeitbeschäftigung unterscheiden darf. Folglich sind ungleiche Beschäftigungsbedingungen für Voll- und Teilzeitbeschäftigte nach § 4 Nr. 1 und 2 des Anhangs der Richtlinie im Regelfall nur insoweit zulässig, als die Ungleichbehandlung dem unterschiedlichen zeitlichen Arbeitsumfang Rechnung trägt. Nach dem Zweck des Anhangs umfasst der in § 4 Nr. 1 verwendete Begriff der Beschäftigungsbedingungen die Gesamtheit der Rechte und Pflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis. Hierzu gehören Entgelte für die Arbeitsleistung und damit auch Leistungen der Altersversorgung wie das Ruhegehalt, die nach Grund und Höhe auf das Beschäftigungsverhältnis zurückzuführen sind. Nach § 4 Nr. 1 und 2 des Anhangs sind derartige Leistungen Teilzeitbeschäftigten entsprechend dem zeitlichen Verhältnis der Teilzeit zur Vollzeit, d.h. strikt zeitanteilig zu gewähren (BVerwG, Urteil vom 25.03.2010 - 2 C 72.08 -, Juris Rn. 17 ff.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Eine Ungleichbehandlung liegt immer dann vor, wenn bei gleicher Arbeit und gleicher Anzahl Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, die den Vollzeitbeschäftigten gezahlte Vergütung höher ist als diejenige, die Teilzeitbeschäftigten gezahlt wird. Sie liegt insbesondere dann vor, wenn ein teilzeitbeschäftigter Lehrer, der über seine individuelle Arbeitszeit hinaus Mehrarbeit leistet, für diese Arbeit weniger Vergütung erhält als ein vollzeitbeschäftigter Lehrer für dieselbe Arbeitszeit (BVerwG, Urteil vom 13.03.2008 - 2 C 128.07 -, Juris Rn. 16 zu Art. 141 Abs. 2 Satz 2 EGV, nunmehr Art. 157 Abs. 1 und 2 AEUV), wobei zur „Vergütung“ auch das Ruhegehalt zählt (s.o.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>bb) Nach diesen Maßstäben stellt die Nichtberücksichtigung der vom Kläger geleisteten Mehrarbeit eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung dar. Denn obwohl er vom 17.08.1992 bis zum 12.08.1993 wie ein Vollzeitbeschäftigter als Lehrer im Angestelltenverhältnis gearbeitet hat, wird nach den gesetzlichen Vorschriften die Zeit nur im Umfang seiner festgesetzten Teilzeitquote von 11/23 als ruhegehaltfähig berücksichtigt, während sie bei einem Vollzeitbeschäftigten vollständig, d.h. im Umfang von 23/23 berücksichtigt würde. Eine Ungleichbehandlung liegt auch für die Zeit bis Mitte August 1994 vor, während der der Kläger im Beamtenverhältnis beschäftigt war. Indem die Zeit nicht entsprechend dem tatsächlichen Beschäftigungsumfang von 22/23, sondern nur mit der festgesetzten Teilzeitquote von 17/23 berücksichtigt wurde, erfolgte eine über den Grundsatz „pro rata temporis“ hinausgehende Schlechterbehandlung - obwohl der Kläger nur im Umfang von 1/23 der Arbeitszeit weniger gearbeitet hat als ein Vollzeitbeschäftigter, wurde seine Dienstzeit im Umfang von 6/23 weniger bei der Festsetzung des Ruhegehalts berücksichtigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Der Senat teilt damit nicht die Auffassung des Beklagten, es liege bereits keine Ungleichbehandlung vor. Zwar ist geleistete Mehrarbeit auch bei Vollzeitbeschäftigten nicht ruhegehaltfähig. Entscheidend ist jedoch, dass ein Vollzeitbeschäftigter ein höheres Ruhegehalt erhält als ein Teilzeitbeschäftigter, auch wenn dieser unter Berücksichtigung seiner Mehrarbeit - die im Falle des Klägers unstreitig sogar für beide Schuljahre von seiner Beschäftigungsstelle eingeplant war, um ihm eine finanzielle Aufstockung zu ermöglichen - gleich viel gearbeitet hat. Dass auch von Teilzeitbeschäftigten entsprechend ihrer Teilzeitquote eine gewisse Anzahl Mehrarbeitsstunden ausgleichsfrei zu leisten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.2010 - 2 C 27.09 -, Juris), ist insoweit für das Ruhegehalt nicht von Bedeutung. Eine der Richtlinie 97/81/EG ebenfalls widersprechende Schlechterstellung der Vollzeitbeschäftigten durch Überkompensation der Teilzeitbeschäftigte treffenden Nachteile liegt darin nicht (vgl. wiederum BVerwG, a.a.O., Rn. 25).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>c) Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>aa) Sachliche Gründe, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (§ 4 Nr. 1 des Anhangs zur Richtlinie 97/81/EG), sind Gründe, die nichts mit einer Diskriminierung auf Grund des Beschäftigungsumfangs zu tun haben und auch nicht dazu führen, dass tragende Grundsätze des Unionsrechts ausgehöhlt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.2010 - 2 C 27.09 -, Juris Rn. 14). Eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten und Vollzeitbeschäftigten kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie in einer allgemeinen und abstrakten Norm des nationalen Rechts wie einem Gesetz oder einem Tarifvertrag vorgesehen ist. Die festgestellte Ungleichbehandlung muss durch das Vorhandensein genau bezeichneter, konkreter Umstände gerechtfertigt sein, die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien für die Prüfung der Frage kennzeichnen, ob die Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entspricht und ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist. Diese Umstände können sich etwa aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung Teilzeitarbeitsverträge geschlossen wurden, und deren Wesensmerkmalen oder gegebenenfalls aus der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben (EuGH, Urteil vom 05.05.2022 - C-265/20 -, Juris Rn. 53 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>bb) Das Verwaltungsgericht hat angenommen, ein Rechtfertigungsgrund sei im aus Art. 33 Abs. 5 GG folgenden beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip sowie im Leistungsprinzip zu sehen und in der Art und Weise, in welcher dies bei der Berechnung der Altersversorgungsbezüge im Falle von Teilzeitbeschäftigung verwirklicht werde, nämlich in Orientierung an der normativen Arbeitszeit und damit am Statusamt und nicht an der tatsächlich geleisteten Arbeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Aus Sicht des Senats rechtfertigt dies die Ungleichbehandlung nicht. Zwar ist, wie das Verwaltungsgericht herausgestellt hat, der Dienstherr wegen des Alimentationsprinzips zur Zahlung am Statusamt ausgerichteter Bezüge verpflichtet, und zwar auch dann, wenn die tatsächlich geleistete Dienstzeit insbesondere wegen Krankheit hinter der normativ festgelegten zurückbleibt. Dieses Prinzip gilt für alle Beamten und kann hier keine Ungleichbehandlung rechtfertigen. So wie sich mit dieser Erwägung nicht bezogen auf die Besoldung rechtfertigen lässt, dass ein teilzeitbeschäftigter Lehrer, der über seine individuelle Arbeitszeit hinaus Mehrarbeit leistet, für diese Arbeit weniger Vergütung erhält als ein vollzeitbeschäftigter Lehrer für dieselbe Arbeitszeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.03.2008 - 2 C 128.07 -, Juris), lässt sich damit auch eine Ungleichbehandlung bei den Versorgungsbezügen nicht rechtfertigen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Eine Rechtfertigung ergibt sich auch nicht aus den vom Verwaltungsgericht hervorgehobenen praktischen Schwierigkeiten, die mit einer Anerkennung der Ruhegehaltfähigkeit von Überstunden verbunden sein können. Zwar verweist das Gericht zutreffend darauf, dass der mit der Vergütung von Mehrarbeit verbundene Verwaltungsaufwand ein anderer ist als der, der mit ihrer Berücksichtigung als ruhegehaltfähig einhergeht. Denn während die Vergütung in der Regel zeitnah und abschnittsweise erfolgt, erfolgt die Berechnung des Ruhegehalts zumeist nach jahrzehntelanger Dienstzeit. Auch dürfte ein Fall wie der des Klägers, der zum Ausgleich für die Einstellungsteilzeit für ein ganzes Schuljahr mit festem Mehrarbeitsumfang eingeplant war, eher die Ausnahme und Mehrarbeit in der Regel vereinzelt und in wechselndem Umfang geleistet sein, sodass der Berechnung des Ruhegehalts ein mitunter sehr hoher Berechnungsaufwand zugrunde läge.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Zwar hat auch der Europäische Gerichtshof im Falle eines Besoldungssystemwechsels anerkannt, dass „nicht verlangt werden (kann), dass jeder Einzelfall individuell geprüft wird, um frühere Erfahrungszeiten im Nachhinein und individuell festzustellen, da die fragliche Regelung in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht handhabbar bleiben muss“ (EuGH, Urteil vom 19.06.2014 - C-501/12 u.a. -, Juris Rn. 78 zum Verbot der Diskriminierung wegen des Alters nach Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Grundsätzlich jedoch vermögen administrative Schwierigkeiten eine Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen (EuGH, a.a.O. Rn. 77). Hinzu kommt, dass eine individuelle Entgeltberechnung bei Mehrarbeit im Besoldungssystem bereits angelegt ist (vgl. zu diesem Aspekt EuGH, Urteil vom 26.09.2013 - C-546/11 -, Juris Rn. 71). Zeiträume der Mehrarbeit sind aktenmäßig dokumentiert bzw. können ohne weiteres dokumentiert werden und müssen im Rahmen der Berechnung des Ruhegehalts nicht erstmals festgestellt, sondern allein rechnerisch berücksichtigt werden. Daher lässt sich die Ungleichbehandlung hier auch nicht mit dem Verwaltungsaufwand rechtfertigen, obwohl er wie dargelegt bei der Versorgung größer ist als bei der Besoldung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Soweit schließlich der Beklagte darauf verweist, dass der Kläger auf die Erhöhung seiner Teilzeitquote hätte hinwirken können, wird dies dem Umstand nicht gerecht, dass der Kläger - unstreitig - stets vollzeitbeschäftigt sein wollte, ihm aber nur eine Teilzeitbeschäftigung mit Aufstockung „angeboten“ wurde. Wegen der Beschäftigung im tatsächlich gewünschten Umfang - wenn auch nicht im Status eines (nahezu) Vollzeitbeschäftigten - kann auch die Frage nach der Rechtswidrigkeit der Einstellungsteilzeit und der Möglichkeit von Primärrechtsschutz offenbleiben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Auf das in Art. 157 Abs. 1 AEUV normierte Diskriminierungsverbot kommt es damit nicht mehr an.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>III. Soweit der Rechtsstreit nicht für erledigt erklärt wurde, beruht die Kostenentscheidung auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger begehrte eine Erhöhung der als ruhegehaltfähig anerkannten Zeit um insgesamt ungefähr vierdreiviertel Jahre (drei Jahre Ausbildung, ein Jahr Studium, ungefähr ein halbes Jahr durch Anerkennung der ein Jahr lang im Angestelltenverhältnis verrichteten Lehrtätigkeit im Umfang von 23/23 statt 11/23 und ungefähr ein viertel Jahr durch Anerkennung seines ersten Jahres im Beamtenverhältnis bis Mitte 1994 im Umfang von 22/23 statt 17/23). Erfolg hatte die Klage insoweit im Umfang von ungefähr eindreiviertel Jahren. Dabei hätte - nach den unbestrittenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts in seinem Streitwertbeschluss - eine Anerkennung aller vom Kläger geltend gemachter Zeiten zu einer Erhöhung des Ruhegehalts um monatlich 332,91 EUR geführt, wobei für die Kostenquote entsprechend der Regelung des § 42 Abs. 1 Satz 1 GKG der dreifache Jahresbetrag i.H.v. 11.984,76 EUR zugrunde zu legen ist. Der Kläger obsiegt insoweit im Umfang von 7/19, der Beklagte von 12/19.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Soweit die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es, die Kosten dem Kläger aufzuerlegen. Denn für die auf Korrektur der Versorgungsauskunft gerichtete Klage bestand voraussichtlich kein Rechtsschutzbedürfnis. Die Versorgungsauskunft stellt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 LBeamtVG keine verbindliche Zusage über die Höhe der späteren Versorgungsansprüche dar und steht unter dem Vorbehalt künftiger Sach- und Rechtsänderungen. Die Versorgungsauskunft soll „über den aktuellen Versorgungs-‚Anspruch‘ des Beamten Aufschluss geben“ (LT-Drs. 14/6694, S. 532; vgl. Hebeler, Die beamtenrechtliche Versorgungsauskunft, DÖD 2015, S. 301 und 305 Fn. 24). Ob die Auskunft eher darauf gerichtet ist, Auskunft über den gegenwärtigen Stand der Versorgungsanwartschaft zu geben, oder - zur Anregung weiterer Altersvorsorge - eine Prognose über die künftige Versorgung enthält, kann dahingestellt bleiben. Beide Zwecke lassen nicht erkennen, welcher Mehrwert für den Kläger mit einer geänderten Auskunft einhergehen sollte. Eine Entscheidung über die Anerkennung ruhegehaltfähiger Dienstzeiten ermöglicht bereits § 3 Abs. 2 LBeamtVG (vgl. auch § 49 Abs. 2 Satz 2 BeamtVG a.F.). Über die tatsächliche Anerkennung als ruhegehaltfähig wird erst mit dem Versorgungsfestsetzungsbescheid entschieden. Soweit das Verwaltungsgericht in dem Widerspruchsbescheid eine verbindliche Regelung gesehen hat, ergibt sich allein daraus noch kein Rechtsschutzbedürfnis. Insoweit ist im Rahmen der Kostenquote ein Wert von 5.000 EUR anzusetzen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Insgesamt obsiegt der Kläger damit zu einem Anteil von (11.984,76 x 7/19) / (11.984,76 x 12/19 + 5.000), was eine Kostenquote von ungefähr ein Viertel zu drei Viertel ergibt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die Revision wird zugelassen, weil die Frage der Ruhegehaltfähigkeit von Mehrarbeit grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/><strong>Beschluss vom 19. Juli 2022</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 42 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG auf <strong>16.984,76 EUR </strong>(11.984,76 + 5.000) festgesetzt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,433 | vg-gelsenkirchen-2022-07-19-14-k-420719 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 14 K 4207/19 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-09-06T10:01:33 | 2022-10-17T11:09:47 | Urteil | ECLI:DE:VGGE:2022:0719.14K4207.19.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Es wird festgestellt, dass die Auflösung der Eilversammlung der Klägerin am 13. September 2019 auf dem E. O.-markt rechtswidrig gewesen ist.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils gegen ihn vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline"><strong>Tatbestand:</strong></span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflösung einer Eilversammlung.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin meldete, vertreten durch ihren stellvertretenden Landesvorsitzenden, mit E-Mail vom 9. September 2019 bei dem Beklagten eine Versammlung für den 13. September 2019, einen Freitag an. Diese sollte als Mahnwache von 19:30 bis 22:00 Uhr auf dem E. O.-markt mit dem Thema „Während die Polizei in E2. eine Wand ‚bewacht‘, entfaltet sich auf dem O.-markt überwiegend fremdvölkische Kriminalität“ stattfinden. Als verantwortlicher Leiter der Versammlung wurde der stellvertretende Landesvorsitzende der Klägerin benannt. In der Anmeldung wurde außerdem mitgeteilt, dass für die Versammlung 30 bis 50 Teilnehmer zu erwarten seien. Als Hilfsmittel wurde neben Fahnen, Transparenten, einem Infotisch und Megaphonen auch eine Lautsprecheranlage nebst Lautsprecherwagen angegeben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte bestätigte zunächst mit Bescheid vom 12. September 2019 gegenüber der Klägerin die angemeldete Versammlung und machte deren Durchführung nach § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersG) von insgesamt elf Auflagen abhängig.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 13. September 2019 erließ der Beklagte unter Aufhebung des vorherigen Bescheides eine neue, weitgehend gleichlautende Versammlungsbestätigung, durch die eine der erlassenen Auflagen inhaltlich abgeändert wurde.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Wie bereits die ursprüngliche Versammlungsbestätigung enthielt auch dieser Bescheid neben den als solche gekennzeichneten Auflagen die folgende Formulierung:</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">„Ich weise Sie darauf hin, dass die Anreise und die Abreise keinen Aufzugscharakter durch einen gemeinsamen Marsch/Aufzug oder die Verwendung von Hilfsmitteln (Transparente/Fahnen etc.) haben dürfen. Ich würde dies rechtlich als unangemeldeten Aufzug werten.“</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am Abend des 13. September 2019 wurde die Versammlung zunächst wie angemeldet durchgeführt. Gegen 19:30 Uhr erreichten 40-50 Versammlungsteilnehmer mit der U-Bahn die Haltestelle M.-straße in E. und wurden von dort als Gruppe von der Polizei zu dem ca. 1 Kilometer entfernten O.-markt geführt. Gegen 19:45 Uhr begann die Kundgebung der Klägerin, an der insgesamt etwa 60 Personen teilnahmen. Die Polizei war am Abend der streitgegenständlichen Versammlung mit insgesamt 280 Polizeivollzugsbeamten im Einsatz, insbesondere um die klägerische Versammlung auf dem O.-markt gegenüber den erwarteten Gegenprotesten zu sichern.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Gegen 20:30 Uhr traten die beiden von dem Beklagten eingesetzten Kommunikationsbeamten an den Versammlungsleiter C. heran und fragten an, wie die Abreise der Versammlungsteilnehmer geplant sei. Dieser teilte mit, dass es keine konkrete Planung gebe. Wichtig sei nur, dass das bei der Versammlung als Lautsprecherwagen eingesetzte Fahrzeug, ein Ford Transit Kleintransporter, geschlossen mit den Versammlungsteilnehmern „im Pulk“ aus dem Bereich der Innenstadt geführt werde, bis eine größere freie Straße erreicht sei, von der aus die Abfahrt beginnen könne. Hierdurch solle vermieden werden, dass Gegendemonstranten das Fahrzeug in den kleinen und verwinkelten Straßen um den O.-markt durch Flaschen- oder Steinwürfe beschädigen könnten. Ein effektiver Schutz des Fahrzeugs vor Gegendemonstranten sei nur gewährleistet, wenn es gemeinsam mit den Teilnehmern unter dem Schutz des gesamten Polizeiaufgebots aus der Innenstadt geführt werde.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Nach Rücksprache mit der Einsatzleitung teilten die Kommunikationsbeamten des Beklagten dem Versammlungsleiter mit, dass die Abreise der Versammlungsteilnehmer nicht „im Pulk“ mit dem Lautsprecherwagen, sondern als Fußgruppe erfolgen solle, da eine solche sich insbesondere im Falle von Blockaden flexibler bewegen könne. In der Folge kam es zu einer Diskussion über die Durchführung der Abreise, deren Einzelheiten teilweise zwischen den Beteiligten streitig sind<em>.</em></p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Um 21:00 Uhr erklärte der Versammlungsleiter der Klägerin die Kundgebung für beendet. Daraufhin traten die Kommunikationsbeamten des Beklagten schließlich erneut an den Versammlungsleiter heran und teilten ihm mit, dass eine gemeinsame Abreise der Teilnehmer zusammen mit dem Lautsprecherfahrzeug nicht zugelassen werde. Zur Begründung verwiesen die Beamten den Versammlungsleiter auf den in der Versammlungsbestätigung enthaltenen Hinweis, nach dem die An- und Abreise keinen Aufzugscharakter haben dürfe.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Versammlungsleiter der Klägerin erklärte sich damit nicht einverstanden und teilte gegenüber den Beamten mit, ab 21:15 Uhr eine „Spontandemonstration“ als Folgeveranstaltung zu der beendeten Kundgebung durchzuführen. Diese sollte am O.-markt beginnen und dann als Demonstrationszug zum Hauptbahnhof ziehen. Die Kommunikationsbeamten des Beklagten erklärten daraufhin, keine Versammlungsanmeldungen entgegenzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das Einsatztagebuch der Polizei enthält diesbezüglich unter Beleg Nr. 155 folgenden Eintrag:</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">„21.07: PF: C. meldet Spontandemo an gegen Maßnahme, dass sein Fz nicht mit den TN fahren darf:</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Es wird nicht kooperiert: Ablehnung aus folgenden Gründen:</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">1. bei der morgigen Demo kann er seinen Unmut über die Maßnahme kundtun</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">2. hat mit der heutigen Versammlungsbestätigung mitgeteilt bekommen, dass seine Abmarschphase keinen Aufzugscharakter haben darf. Das würde bei einem nachgeführten bzw. vorherfahrenden Fz den Eindruck eines Aufzuges kommen und deshalb abgelehnt. (…)“</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Um 21:15 Uhr begann der Versammlungsleiter der Klägerin die angekündigte Kundgebung zum Thema „Polizeiwillkür“, wofür die bereits abgebaute Lautsprecheranlage vor Ort auf dem O.-markt wieder aufgebaut wurde, teilte den Anwesenden den Grund für die Kundgebung mit und äußerte Kritik am Vorgehen der Polizeibehörde. Kurz nach Beginn dieser Lautsprecheransprache traten etwa zehn Polizeibeamte des Beklagten an den Versammlungsleiter heran und forderten ihn auf, die Lautsprecheranlage sofort abzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Auf Nachfrage gaben die Polizeibeamten gegenüber dem Versammlungsleiter bekannt, dass die Versammlung verboten und damit aufzulösen sei und sprachen Platzverweise gegen die anwesenden Teilnehmer aus. Zur Begründung verwiesen die Polizeibeamten darauf, dass das Versammlungsanliegen bis zu der bereits für den Folgetag durch die Klägerin ebenfalls in E. angemeldeten Versammlung warten könne und deshalb kein Grund für die begehrte Versammlung bestehe.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Das Einsatztagebuch der Polizei enthält diesbezüglich unter Beleg Nr. 159 folgenden Eintrag:</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">„21:19: PF teilt telefonisch mit, dass die Versammlung vor Ort durch Herrn C. nicht als Spontanversammlung (siehe Beleg 155) gewertet wurde und Herr C. aber weiter seine Lautsprecherdurchsagen betrieben hat, liegt kein Verstoß gegen die Auflagen vor, sondern ein Verstoß gegen LImschG.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Durch Einsatzkräfte erhält er eine Auflösungsverfügung, da er faktisch eine Versammlung betreibt. Er wird aufgefordert, die Lautsprecher abzustellen und einzuladen und erhält einen Platzverweis (auch Mitfahrer in seinem Fz) für die Örtlichkeit.“</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Versammlungsleiter teilte den Anwesenden sodann über die Lautsprecheranlage die Auflösung der Versammlung durch die Polizei mit. Die ca. 60 ehemaligen Versammlungsteilnehmer verließen daraufhin den O.-markt und begaben sich in einer Gruppe, die von den eingesetzten Polizeikräften umringt begleitet wurde, zur U-Bahnstation M.-straße. Der Lautsprecherwagen blieb zunächst auf dem O.-markt zurück. Während der Abreise skandierten die ehemaligen Versammlungsteilnehmer „Hier marschiert der nationale Widerstand“ und andere Parolen. Einzelne Gegendemonstranten, die sich am Straßenrand des Abreisewegs befanden, machten sich lautstark bemerkbar und beschimpften die Abreisenden. Zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam es nicht<em>.</em></p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 17. September 2019 Klage erhoben, mit der sie die Feststellung der Rechtswidrigkeit sowohl der Versammlungsauflösung als auch der erteilten Platzverweise begehrt hat.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt sie vor, dass die Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig sei. Die Klägerin sei insbesondere auch hinsichtlich der angeordneten Platzverweise klagebefugt, weil sich diese Maßnahmen gegen alle Teilnehmer der im Namen der Klägerin angemeldeten Spontan- bzw. Eilversammlung gerichtet hätten und insofern die Rechte der Klägerin betroffen seien.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Ferner habe die Klägerin auch das notwendige Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Es bestehe zum einen ein Rehabilitationsinteresse, weil die Klägerin durch die Maßnahmen des Beklagten in der Öffentlichkeit bloßgestellt worden sei. Außerdem bestehe Wiederholungsgefahr. Diese folge insbesondere daraus, dass die eingesetzten Kommunikationsbeamten des Beklagten nach der Beendigung der ursprünglichen Mahnwache die Entgegennahme der Anmeldung der Spontan- bzw. Eilversammlung zu Unrecht abgelehnt und den Versammlungsleiter der Klägerin zur Begründung darauf verwiesen hätten, dass das Versammlungsanliegen auch bis zu der für den Folgetag bereits angemeldeten Versammlung ebenfalls in E. warten könne. Es sei jedoch nicht die Aufgabe der Polizei, die Sinnhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit einer angemeldeten Versammlung zu hinterfragen<em>.</em> Zudem gehe die Polizeibehörde offenbar unzutreffend davon aus, dass es das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nur rationiert gebe und Versammlungen nur zulässig seien, wenn sie innerhalb der 48-Stunden Frist angemeldet würden. Auch der in der Versammlungsbestätigung des Beklagten enthaltene Hinweis zur An- und Abreise der Versammlungsteilnehmer suggeriere, dass die Behörde der unzutreffenden Auffassung sei, dass unangemeldete Versammlungen grundsätzlich zu untersagen seien. Daher sei zu befürchten, dass die Polizeibehörde auch in Zukunft entsprechend gegen Versammlungen der Klägerin vorgehen werde<em>.</em></p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei auch begründet, weil die Auflösung der Versammlung rechtswidrig gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin führt aus, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht vorgelegen habe. Eine solche sei von der Polizeibehörde in der Situation vor Ort nicht einmal behauptet worden. Erst dadurch, dass nach der Auflösung der Versammlung die Polizei nahezu alle Kräfte vom Ort der Kundgebung abgezogen habe, um die abreisenden Teilnehmer zu begleiten, und das Lautsprecherfahrzeug der Klägerin nur noch von wenigen Beamten geschützt zurückgeblieben sei, sei es zu einem Angriffsversuch der Gegendemonstranten auf das Fahrzeug gekommen, welchen die Polizei jedoch habe abwehren können.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin macht außerdem geltend, dass sie vorliegend nicht zur Abwehr der von den Gegendemonstranten ausgehenden Gefahren hätte polizeilich in Anspruch genommen werden dürfen. Die Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes hätten nicht vorgelegen. Die E. Polizei habe ausreichende Erfahrung mit Versammlungen in der E. O. , sei in der streitgegenständlichen Situation mit einem großen Aufgebot an Polizeikräften vor Ort gewesen und habe dem Kundgebungsort weiträumig abgesichert. Es sei nicht bekannt, dass es während der Anreise der Versammlungsteilnehmer und der Durchführung der Kundgebung zu Straftaten durch Gegendemonstranten gekommen sei. Dass es auf der Plattform Twitter von Seiten des linken Spektrums im Minutentakt zu Meldungen und Berichterstattung über den Verlauf der Versammlung komme, um den Gegenprotest zu organisieren, sei im Übrigen bei nahezu jeder Versammlung der Klägerin festzustellen. Die Polizei sei in der streitgegenständlichen Situation ausreichend präsent gewesen, um die Versammlung zu sichern. Dies zeige sich auch daran, dass die Polizeikräfte nach Auflösung der Versammlung die unverzüglich angetretene Abreise der Teilnehmer habe gewährleisten können. Wenn es tatsächlich große Gruppen von Störern gegeben hätte, hätte der Abreiseweg hingegen zunächst durch die Polizei abgesperrt werden müssen. Obwohl solche Absperrungen nicht errichtet gewesen seien, sei es bei der Abreise nur durch wenige Gegendemonstranten am Rande zu Pöbeleien gekommen. Übergriffe habe es hierbei jedoch nicht gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin meint ferner, dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb die kurzfristig angemeldete Folgeversammlung nicht wenigstens wie bereits die vorherige Mahnwache als Standkundgebung stattfinden durfte, sondern unmittelbar vor Ort aufgelöst wurde. Der Versammlungsleiter habe bei der Anmeldung der Folgeversammlung erklärt, dass auch diese zunächst als Standkundgebung stattfinden und – sobald die Polizei bereit sei – als Demonstrationszug zum Hauptbahnhof fortgesetzt werden solle. Diese Standkundgebung habe bereits mit der Lautsprecheransprache des Versammlungsleiters begonnen. Selbst wenn der Aufzug zum Hauptbahnhof angesichts dessen Gefahrenpotenzials nicht durchführbar gewesen sein sollte, sei die Auflösung der Kundgebung noch am Ort der vorherigen Versammlung jedenfalls unverhältnismäßig gewesen. Denn die vorherige Mahnwache sei ohnehin für eine reguläre Dauer bis 22:00 Uhr angemeldet und von der Polizeibehörde bestätigt worden. Zudem sei es in der Zwischenzeit weder zu einer Veränderung der Sicherheitsvorkehrungen der Polizei noch zu Störungen durch die Gegendemonstranten gekommen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung am 19. Juli 2022 das Verfahren hinsichtlich der ursprünglich begehrten Feststellung der Rechtswidrigkeit der erteilten Platzverweise für in der Hauptsache erledigt erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat sich der Erledigungserklärung nicht angeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">34</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">1. festzustellen, dass die Auflösung ihrer Spontanversammlung am 13. September 2019 auf demE. O.-markt rechtswidrig gewesen ist,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">2. festzustellen, dass sich der Rechtsstreit hinsichtlich der im Anschluss an die Auflösung durch die Polizei gegenüber allen Versammlungsteilnehmern erteilten Platzverweise in der Hauptsache erledigt hat.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"> die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt er vor, dass die Klage bereits unzulässig sei. Die Klägerin sei weder klagebefugt noch habe sie ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen. Durch die Versammlungsauflösung seien keinerlei Rechte und Interessen der Klägerin betroffen gewesen. Da es sich bei der aufgelösten Versammlung um eine Spontanversammlung gehandelt habe, sei die Klägerin nämlich weder Veranstalterin noch Leiterin der Versammlung gewesen. Insbesondere seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich gewesen, dass der stellvertretende Landesvorsitzende der Klägerin bei der Anmeldung der Folgeversammlung in deren Namen gehandelt habe, weshalb sich auch insofern eine Veranstaltereigenschaft der Klägerin nicht annehmen lasse.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei außerdem unbegründet. Denn die Auflösung der Versammlung sei rechtmäßig ergangen. Die öffentliche Sicherheit sei vorliegend unmittelbar gefährdet gewesen, weil mit einem unfriedlichen Verlauf der Versammlung zu rechnen gewesen sei. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Auflösung hätten konkrete Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass es bei Durchführung des Aufzugs zeitnah und höchstwahrscheinlich zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Teilnehmern und den Gegendemonstranten gekommen wäre. Insofern sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu befürchten gewesen, dass es zu Straftaten nach §§ 223 ff. Strafgesetzbuch (StGB) sowie Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit von Versammlungsteilnehmern, Gegendemonstranten, zum Einschreiten verpflichteter Polizeibeamter und unbeteiligter Dritter komme.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der Gefahrenprognose verweist der Beklagte darauf, dass es in der E. O. in jüngerer Vergangenheit bereits bei mehreren Versammlungen der Klägerin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Versammlungsteilnehmern und Angehörigen des linken Spektrums gekommen sei.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Der streitgegenständlichen Auflösungsverfügung habe im Erlasszeitpunkt zudem folgendes Lagebild zugrunde gelegen: Bereits im Vorfeld der angemeldeten Versammlung sei die Planungsgrundlage hinsichtlich des zu erwartenden Gegenprotests unklar gewesen, da keine Gegendemonstration angemeldet worden sei. Lediglich durch das stetige Überprüfen sozialer Medien habe festgestellt werden können, dass die linke Szene eine sehr große Anzahl von Gegendemonstranten mobilisiert habe. Die Anzahl der eingesetzten Polizeikräfte sei insofern für den Schutz der Standkundgebung sowie den erwarteten Gegenprotest dimensioniert gewesen. Am Tag der Versammlung seien die Gegendemonstranten in hohem Maße organisiert gewesen. Überall in der O. hätten sogenannte Späher die polizeilichen Bewegungen beobachtet, um daraus den Fortgang der Versammlung der Klägerin zu erkennen. Bereits bei der Anreise der Versammlungsteilnehmer der Klägerin hätten sich die linken Gegendemonstranten über Meldungen auf Twitter über die Bewegung der Versammlungsteilnehmer informiert, um den Gegenprotest dementsprechend zu positionieren. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich drei Gruppen des linken Spektrums von jeweils 20 bis 70 Personen an der N.-straße , an der N1.-straße und an der kleinen C1.-straße positioniert. Zudem sei die Anreise der Versammlungsteilnehmer durch eine Sitzblockade von circa 20 Personen auf der N.-straße gestört worden. Über den konkreten Verlauf der Anreise der rechten Versammlungsteilnehmer sei innerhalb der linken Szene im Minutentakt durch Twitter-Meldungen informiert worden. Nach Beginn der Standkundgebung der Klägerin hätten sich schließlich die einzelnen Gruppen des linken Spektrums zu einer großen Gruppe von insgesamt circa 300 Gegendemonstranten um den O.-markt versammelt, eine Hälfte südlich des O.-marktes im Bereich der N.-straße, die andere Hälfte im nördlichen Bereich an der Sperrlinie der Polizei. Der Beklagte führt aus, es habe zu jenem Zeitpunkt bereits Anhaltspunkte für die Konfliktbereitschaft der Gegendemonstranten gegeben. Szenekundige Polizeibeamte hätten unter den circa 150 Gegendemonstranten im nördlichen Bereich mindestens 20 gewaltbereite Personen erkannt. Mindestens 20 Personen hätten sich vermummt und gegen eine Person sei wegen des Mitführens von Vermummungsmaterial ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden. Kurz vor Beendigung der Standkundgebung der Klägerin hätten sich die Gegendemonstranten der linken Szene erneut über Twitter über das bevorstehende Ende der Versammlung sowie den mutmaßlichen Verlauf der Abreise der rechten Versammlungsteilnehmer informiert. Daraufhin hätten sich die beiden großen Personengruppen wieder in einzelne kleinere Gruppen zersplittert. 20 Gegendemonstranten hätten sich dabei an der Haltestelle Brunnenstraße positioniert, von der die Abreise der rechten Versammlungsteilnehmer geplant gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Im Zeitpunkt der sodann zwischen dem Versammlungsleiter der Klägerin und den Kommunikationsbeamten geführten Diskussion über die Modalitäten der Abreise sei es in den kleinen und unübersichtlichen Straßen um den O.-markt bereits dunkel gewesen. Die linken Gegendemonstranten hätten sich sodann über Twitter gegenseitig über die angemeldete Spontanversammlung sowie deren geplante Route informiert. Daraufhin sei es zu einem starken Rückfluss der Gegendemonstranten zum O.-markt gekommen, wobei jedoch eine genaue Zählung durch die Polizeibeamten aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse, der örtlichen Gegebenheiten sowie der mehrfachen Veränderung der Gruppen, in denen sich die Gegendemonstranten bewegten, nicht möglich gewesen sei. Die aggressiv skandierende Menge an Gegendemonstranten am O.-markt sei im Verlauf der Diskussion über die Abreise immer größer geworden. Im Zeitpunkt des Erlasses der Auflösungsverfügung durch den Polizeiführer sei von weit mehr als 300 Personen des linken Spektrums auszugehen gewesen, von denen nunmehr mindestens 150 als gewaltbereit einzustufen gewesen seien. In dieser Situation sei die Gruppendynamik der Gegendemonstranten darauf ausgelegt gewesen, die Polizeikräfte von der Kundgebung wegzulocken, um sodann die Versammlung der Klägerin anzugreifen. Die Beurteilungslage habe sich für die Polizei insgesamt sehr schwierig dargestellt.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die klägerische Versammlung sei ferner auch zu Recht in Anspruch genommen worden sei, da die Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes vorgelegen hätten. Maßnahmen gegen die vorrangig in Anspruch zu nehmenden Störer seien nicht oder nicht rechtzeitig möglich gewesen und hätten keinen Erfolg versprochen. Der Beklagte führt insofern aus, dass sich die Einsatzlage für die Polizei entscheidend geändert hätte, wenn die Klägerin ihre Standkundgebung als Aufzug fortgesetzt hätte. Das Aufgebot der 280 eingesetzten Polizeikräfte sei darauf ausgelegt gewesen, ausschließlich eine Standkundgebung abzusichern. Da ein Aufzug demgegenüber jedoch ein erhöhtes Gefahrenpotential für Angriffe von außen wie auch für Provokationen durch Versammlungsteilnehmer selbst aufweise, hätten die eingesetzten Polizeikräfte in Anbetracht der erheblichen Anzahl von 300 teils gewaltbereiten Gegendemonstranten die zu erwartenden Angriffe auf die Versammlung nicht mit hinreichender Sicherheit abwehren können. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit sei eine Sicherung des geplanten Aufzugs weder vorab noch auf andere Weise möglich gewesen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass zu Beginn der Spontanversammlung bereits ein Teil der Polizeikräfte vom Ort der Kundgebung entsandt worden sei, um die Abreise der Versammlungsteilnehmer vorzubereiten und die entsprechende Strecke zu sichern. Am O.-markt hätten sich deshalb nur noch etwa 100 bis 120 Einsatzkräfte befunden. Effektive Verstärkung habe aufgrund der kurzen Zeitspanne zwischen der Anmeldung und dem geplanten Beginn des Aufzugs von nur elf Minuten nicht angefordert und bereitgestellt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Auflösung der klägerischen Versammlung sei schließlich auch ermessenfehlerfrei ergangen. Der Beklagte beruft sich darauf, dass hinsichtlich der Versammlungsauflösung Ermessensfehler bereits deshalb nicht gegeben seien, weil mit der Auflösung lediglich ein zuvor verhängtes Verbot der Folgeversammlung umgesetzt worden sei und die insofern einschlägige Vorschrift des § 15 Abs. 4 VersG keinen Ermessenspielraum vorsehe. Die Versammlungsauflösung sei im Übrigen verhältnismäßig gewesen. Weniger eingriffsintensive Maßnahmen wie etwa eine versammlungsrechtliche Auflage zur zeitlichen Begrenzung oder örtlichen Verlegung der Versammlung seien angesichts der kurzen Zeitspanne nicht gleichermaßen zur Gefahrenabwehr geeignet gewesen. Die Polizeibehörde sei ferner nicht gehalten gewesen, der Klägerin anstelle des angemeldeten Aufzuges zum Hauptbahnhof eine Standkundgebung an derselben Stelle am O.-markt anzubieten bzw. aufzugeben. Dem stehe zum einen entgegen, dass die Klägerin durch die vorzeitige Beendigung der ursprünglich bis 22:00 Uhr gestatteten Standkundgebung auf die weitere Durchführung einer solchen verzichtet habe. Insofern verweist der Beklagte auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.09.2019 ‑ 15 A 3186/17). Zum anderen sei eine solche Auflage aufgrund des gegebenen Lagebildes nicht gleichermaßen zur Abwehr der beschriebenen Gefahren geeignet gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat mit Beschluss vom 19. Juli 2022 das Verfahren, soweit der Klageantrag zu 2. betroffen ist, abgetrennt.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Nach Abtrennung des Verfahrens hinsichtlich des Klageantrags zu 2. ist im vorliegenden Verfahren allein noch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Versammlungsauflösung Streitgegenstand.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Insoweit hat die Klage Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Sie ist als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die angegriffene Versammlungsauflösung hat sich unmittelbar mit deren Befolgung bzw. Durchsetzung am 13. September 2019 gemäß § 43 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW) „auf andere Weise“ erledigt. Über den Wortlaut des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO hinaus ist die Fortsetzungsfeststellungsklage auch dann statthaft, wenn die Erledigung wie hier bereits vor Klageerhebung eingetreten ist.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 27. Aufl. 2021, § 113 Rn. 99 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist auch klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Als Landesverband einer Partei kann sie sich auf eine mögliche Verletzung ihrer Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Inländische juristische Personen des Privatrechts und ihnen gleichgestellte nichtrechtsfähige Personenvereinigungen wie Parteien und Vereine können nach Art. 19 Abs. 3 GG als Veranstalter einer Versammlung Grundrechtsträger sein.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, Einleitung Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin war vorliegend als Veranstalterin der aufgelösten Versammlung anzusehen. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass es sich bei der aufgelösten Versammlung nicht mehr um die ursprünglich angemeldete und bestätigte Mahnwache der Klägerin handelte. Denn auch hinsichtlich der Folgeversammlung war die Klägerin als Veranstalterin anzusehen. Bei dieser Versammlung handelte es sich um eine Eilversammlung, da der Versammlungsleiter und stellvertretende Landesvorsitzende der Klägerin die geplante Versammlung – wenn auch äußerst kurzfristig – gegenüber den Kommunikationsbeamten des Beklagten vor Ort angemeldet hatte.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Zur Abgrenzung von Eil- und Spontanversammlung siehe Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 23.10.1991 - 1 BvR 850/88, juris Rn. 24.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Veranstaltereigenschaft der Klägerin hinsichtlich dieser Eilversammlung folgt daraus, dass der stellvertretende Landesvorsitzende der Klägerin erkennbar in ihrem Namen handelte, als er die Versammlung gegenüber der Polizei vor Ort anzeigte. Die aufgelöste Versammlung stand nämlich nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich in einem unmittelbaren Zusammengang mit der ursprünglichen Mahnwache der Klägerin, weil der Anlass für die Eilversammlung zum Thema „Polizeiwillkür“ die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Abreisemodalitäten zu der vorangegangenen Versammlung waren. Insofern diente die Eilversammlung ersichtlich der Ausübung der verbandsbezogenen Versammlungsfreiheit der Klägerin. Zudem hatte der stellvertretende Landesvorsitzende der Klägerin bereits in der Vergangenheit mehrfach Versammlungen in ihrem Namen bei der Versammlungsbehörde angemeldet.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung. Ein solches folgt vorliegend neben einer Wiederholungsgefahr auch daraus, dass mit der angegriffenen Versammlungsauflösung ein schwerwiegender Eingriff in die Versammlungsfreiheit der Klägerin aus Art. 8 Grundgesetz (GG) gegeben ist. Die Auflösung einer Versammlung stellt ‑ neben dem Verbot im Vorfeld ‑ den gravierendsten Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit dar. In diesen Fällen gebietet die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77, juris Rn. 37.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist auch begründet. Denn die Auflösung der Eilversammlung war rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und 4 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die streitgegenständliche Auflösungsverfügung beruhte auf einem Ermessensfehlgebrauch des Beklagten und war unverhältnismäßig. Zudem waren die Voraussetzungen für eine polizeirechtliche Inanspruchnahme der klägerischen Versammlung nicht gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat das ihm vorliegend nach dem im maßgeblichen Erlasszeitpunkt geltenden und der Verfügung als Ermächtigungsgrundlage zugrunde gelegten § 15 des Versammlungsgesetzes des Bundes (VersG) eingeräumte Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Nach § 15 Abs. 3 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung auflösen, wenn sie nicht angemeldet ist, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwidergehandelt wird oder wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 oder 2 gegeben sind.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Ansicht des Beklagten handelte es sich bei der streitgegenständlichen Versammlungsauflösung nicht um eine solche nach § 15 Abs. 4 VersG, durch die lediglich ein zuvor gemäß § 15 Abs. 1 VersG erlassenes Verbot der Versammlung vollzogen wurde. Denn ein solches Verbot ist gegen die Eilversammlung der Klägerin nicht erlassen worden. Ein Versammlungsverbot im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG ist die vor Beginn der Versammlung erfolgende Untersagung einer geplanten Versammlung mit dem Ziel, ihre Durchführung zu verhindern. In Abgrenzung zur Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG handelt es sich bei einem Versammlungsverbot um eine vorbeugende Maßnahme.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Vgl. Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, § 15 Rn. 115; Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2 . Aufl. 2020, § 15 Rn. 342.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vorliegend ist die Eilversammlung der Klägerin nicht vor ihrem Beginn durch den Beklagten untersagt worden. Ein Versammlungsverbot lässt sich insbesondere nicht darin erblicken, dass die eingesetzten Kommunikationsbeamten gegenüber dem Versammlungsleiter äußerten, eine Versammlungsanmeldung nicht entgegenzunehmen, als dieser nach Beendigung der ursprünglichen Mahnwache erklärte, kurzfristig eine weitere Versammlung durchführen zu wollen. Eine ausdrückliche Untersagung der Versammlung ist mit dieser Äußerung jedenfalls nicht gegeben. Aber auch unter Berücksichtigung der sonstigen Umstände lässt sich dieser Erklärung kein konkludent erteiltes Versammlungsverbot erblicken. Weil Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG genehmigungsfrei sind, dürfen sie auch dann durchgeführt werden, wenn die Versammlungsanmeldung nicht förmlich bestätigt oder entgegengenommen wird. Die Verweigerung oder auch Ablehnung der „Entgegennahme“ einer Versammlungsmeldung durch die Polizei enthält deshalb keinen verbindlichen Erklärungswert dahingehend, dass die Versammlung nicht durchgeführt werden darf. Eine Auflösung der Versammlung zur Durchsetzung eines vorbeugenden Verbotes war daher vorliegend nicht möglich.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon wäre selbst in dem Fall, dass ein vorbeugendes Verbot gegen die streitgegenständliche Eilversammlung - wie der Beklagte meint - anzunehmen wäre, das Klagebegehren dahingehend auszulegen, dass dann das Verbot und nicht erst die darauffolgende (zwingende) Auflösung Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung wäre. Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit eines solchen Versammlungsverbots nach § 15 Abs. 1 VersG würden dabei vorliegend dieselben Maßstäbe wie hinsichtlich der Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG gelten, weshalb auch ein derartiges Verständnis im Ergebnis zu keiner anderen Beurteilung führen würde.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die dem Beklagten nach § 15 Abs. 3 VersG hinsichtlich der Versammlungsauflösung eingeräumte Ermessensentscheidung unterliegt der gerichtlichen Überprüfung nach Maßgabe des § 114 Satz 1 VwGO. Danach prüft das Gericht, ob ein Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die Behörde die Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vorliegend beruhte die streitgegenständliche Auflösungsverfügung des Beklagten auf einem Ermessensfehlgebrauch. Denn die Ermessensausübung entsprach im konkreten Fall nicht dem Zweck der Ermächtigungsnorm. Vielmehr lagen der behördlichen Entscheidung sachfremde Erwägungen zugrunde.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Welche Belange bei der Ermessensausübung berücksichtigt und welche nicht berücksichtigt werden dürfen, ist durch Auslegung des ermächtigenden Gesetzes zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. Eyermann, VwGO Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 21; Sodan/Ziekow, VwGO Kommentar, 5 . Aufl. 2018, § 114 Rn. 172.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Vorschrift des § 15 Abs. 3 VersG dient dem Zweck der Gefahrenabwehr. Verbote und Auflösungen von Versammlungen dürfen bei der gebotenen verfassungskonformen Auslegung des § 15 VersG wegen des hohen Stellenwertes der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG stets nur zur Verhinderung einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung wichtiger Gemeinschaftsgüter erfolgen. Aus diesem Grund lässt sich eine Versammlungsauflösung entgegen dem Wortlaut des § 15 Abs. 3 VersG auch nicht einzig auf einen formellen Verstoß gegen die Anmeldungspflicht aus § 14 VersG stützen, sondern es müssen für die Rechtfertigung eines solchen Eingriffs stets weitere (Gefahren-)Umstände hinzutreten.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 ‑ 1 BvR 233/81, juris Rn. 72 ff., 80; Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 Rn. 162.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vorliegend stützte die Polizeibehörde ihre Ermessensentscheidung erkennbar auf Gesichtspunkte, die nicht dem Zweck der Gefahrenabwehr entsprachen.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der Auflösungsverfügung erklärten die Kommunikationsbeamten des Beklagten ausweislich der Eintragung im Einsatzbericht und darüber hinaus unstreitig gegenüber dem Versammlungsleiter der Klägerin, dass das Versammlungsanliegen der begehrten Eilversammlung bis zu der bereits für den Folgetag angemeldeten Versammlung der Klägerin, die ebenfalls in E3. stattfinden sollte, warten könne und für die Durchführung der Versammlung deshalb kein Grund bestehe. Im Einsatzbericht wird die Versammlungsauflösung maßgeblich damit begründet, dass die Versammlung der Klägerin nicht als solche gewertet worden sei (siehe Beleg Nr. 159). Diese Bewertung stützte die Polizeibehörde wiederum auf die durch die Klägerin bereits für den Folgetag angemeldete Versammlung in E3. sowie auf den Verstoß gegen den in der ursprünglichen Versammlungsbestätigung enthaltenen Hinweis, nach dem die Abreise der Versammlungsteilnehmer keinen Aufzugscharakter haben dürfe (siehe Beleg Nr. 155).</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Hierbei handelt es sich um sachfremde Ermessenserwägungen. Insbesondere die Erwägung, dass für die Durchführung der Eilversammlung angesichts der für den Folgetag angemeldeten Versammlung der Klägerin kein Grund bestehe, steht in keinem Zusammenhang mit dem legitimen Zweck der Gefahrenabwehr. Vielmehr maßt sich der Beklagte hierdurch eine inhaltliche Überprüfung der Berechtigung des klägerischen Versammlungsanliegens an. Eine derartige Inhaltskontrolle steht ihm nicht zu und bedeutet einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG, die das Recht gewährleistet, über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Versammlung selbst zu bestimmen.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 2794/10, juris Rn. 16; Urteil vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 699/06, BVerfGE 128, 226, juris Rn. 64.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Auch soweit die Polizeibehörde ihre Entscheidung darauf stützte, dass die Durchführung der klägerischen Eilversammlung gegen den in der Versammlungsbestätigung zur ursprünglichen Mahnwache enthaltenen Hinweis verstoßen würde, dass die An- und Abreise keinen Versammlungscharakter haben dürfe, entsprachen ihre Erwägungen nicht dem Zweck der Gefahrenabwehr. Denn es ist bereits nicht ersichtlich, dass der weder verbindliche noch näher begründete Hinweis zu den Modalitäten der An- und Abreise selbst auf einer Gefahrenprognose des Beklagten beruhte. Vielmehr lässt die konkret gewählte Formulierung („Ich würde dies rechtlich als unangemeldeten Aufzug werten.“) erkennen, dass durch diesen Hinweis lediglich die formale Einhaltung der Anmeldepflicht gewährleistet werden sollte. Dementsprechend ist auch in der schlichten Bezugnahme im Einsatzbericht der Polizei darauf, dass die klägerische Versammlung gegen diesen Hinweis verstoßen würde, eine Ermessensausübung zum Zweck der Gefahrenabwehr nicht zu erblicken, weil sich die angestellten Erwägungen insoweit in der Annahme eines „formalen“ Verstoßes gegen den Hinweis erschöpfen.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die sachfremden Erwägungen haben sich im Ergebnis der getroffenen Ermessensentscheidung niedergeschlagen. Etwas anderes folgt nicht daraus, dass sich im Einsatzbericht der Polizei neben den genannten Erwägungen auch der Hinweis findet, dass mit dem weiteren Betreiben von Lautsprecherdurchsagen durch den Versammlungsleiter der Klägerin ein Verstoß gegen das Landesimmissionsschutzgesetz gegeben sei (Beleg Nr. 159). Da ein immissionsschutzrechtlicher Verstoß vom Beklagten nicht ansatzweise - etwa unter Verweis auf entsprechende Messergebnisse - begründet wurde, ist bereits zweifelhaft, ob die Behörde den Aspekt etwaiger immissionsschutzrechtlicher Gefahren tatsächlich in ihre Ermessensentscheidung miteinbezogen hat. Jedenfalls waren immissionsschutzrechtliche Erwägungen vor diesem Hintergrund neben den sachfremden Erwägungen erkennbar nicht alleintragend für die erlassene Auflösungsverfügung und damit nicht geeignet eine Fehlerfreiheit der Entscheidung zu bewirken.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 19. Mai 1981 - 1 C 169/79, BVerwGE 62, 215, juris Rn. 22; Eyermann, VwGO Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 26.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Prognose, dass im Erlasszeitpunkt von gewaltbereiten Gegendemonstranten in der E. Innenstadt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgegangen sei, hat der Beklagte erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Begründung der Versammlungsauflösung angeführt. Dass dieser Umstand bereits im Zeitpunkt der der Ermessensausübung tatsächlich in die Entscheidung miteingeflossen ist, hat der Beklagte weder dargelegt noch ist dies unter Berücksichtigung der Einsatzdokumentation des Beklagten oder der mündlich geäußerten Begründung der Maßnahme durch die Kommunikationsbeamten sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Diese in der Klageerwiderung erstmals angeführte Erwägung ist nach Maßgabe des § 114 Satz 2 VwGO in die gerichtliche Überprüfung der Ermessensausübung des Beklagten miteinzubeziehen. Danach kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Ein zulässiges Nachschieben von Ermessenserwägungen liegt jedoch nur dann vor, wenn der Verwaltungsakt durch die nachträgliche Begründung nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird. Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen ist insbesondere dann unzulässig, wenn die ursprüngliche Ermessensentscheidung dadurch in ihrem Kern ausgetauscht wird.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 - 8 C 46/12, BVerwGE 147, 81, juris Rn. 32; Eyermann, VwGO Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 90a.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Behebung des Ermessensfehlers durch eine Ergänzung der bisherigen Erwägungen sind vorliegend nicht gegeben. Denn die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgetragene Gefahrenprognose erweist sich im Vergleich zu den tatsächlich angestellten Erwägungen deshalb als wesentlich anders, weil hierdurch die Versammlungsauflösung erstmals auf eine von gewaltbereiten Gegendemonstranten ausgehende Gefährdung und erstmals auf das Vorliegen eines polizeilichen Notstands gestützt worden ist. Die bisherigen Erwägungen, die sich allesamt auf unmittelbar von der klägerischen Versammlung ausgehende überwiegend mit der Anmeldepflicht im Zusammenhang stehende Umstände bezogen, wurden durch die nachträgliche Begründung damit im Kern ausgetauscht.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Auch wenn unterstellt wird, dass die - nachgeschobene - Gefahrenprognose auf tatsachengestützten Anhaltspunkten beruht, hat der Beklagte zudem das ihm eingeräumte Ermessen überschritten. Die Versammlungsauflösung war unverhältnismäßig, weil die Maßnahme selbst unter Zugrundelegung der nachgeschobenen Gefahrenprognose des Beklagten zur Gefahrenabwehr nicht erforderlich war.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Ein gefahrenabwehrrechtlicher Eingriff ist dann nicht erforderlich, wenn sich die Gefahr auch durch weniger grundrechtsbelastende Maßnahmen abwehren lässt. Für die Anwendung des § 15 Abs. 3 und 1 VersG folgt daraus eine Maßnahmenstaffelung: Das Verbot oder die Auflösung einer Versammlung setzen als ultima ratio voraus, dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.05.2020 - 6 B 1/20, juris Rn. 8; BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 - 1 BvR 233/81, juris Rn. 79; Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, § 15 Rn. 199.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Vorliegend hätte die von dem Beklagten behauptete Gefahrenlage auch durch eine Beschränkung der Versammlung auf eine Standkundgebung wirksam abgewehrt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Zu den Voraussetzungen einer derartigen Beschränkung vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 7. Oktober 2016 - 15 B 1154/16; BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 2794/10, juris Rn. 16; Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, § 15 Rn. 101.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Eine solche Auflage wäre gegenüber der Versammlungsauflösung das mildere Mittel gewesen, da sie die von Art. 8 GG geschützte Freiheitswahrnehmung nicht vollumfänglich unterbunden, sondern lediglich beschränkt hätte. Eine Beschränkung auf eine Standkundgebung wäre auch jedenfalls gleichermaßen zur Gefahrenabwehr geeignet gewesen. Der Beklagte hat die Versammlungsauflösung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren maßgeblich damit begründet, dass ein Demonstrationszug der Klägerin durch die umliegenden Straßen der E. Innenstadt aufgrund des erhöhten Gefahrenpotentials eines Aufzugs sowie angesichts der entlang der geplanten Route in Kleingruppen agierenden Gegendemonstranten besonders gefährdet gewesen wäre. Dass in der Situation unmittelbar auf dem O.-markt nach dem dortigen Beginn der Eilversammlung gewaltsame Übergriffe zu befürchten gewesen seien, hat der Beklagte hingegen weder behauptet noch ist dies sonst ersichtlich. Hiergegen spricht insbesondere, dass die kurz zuvor beendete Mahnwache der Klägerin auf dem O.-markt gegenüber den stattfindenden Gegenprotesten erfolgreich durch die Polizei abgesichert werden konnte. Vor diesem Hintergrund hätte es zur effektiven Vermeidung von gewalttätigen Angriffen der Gegendemonstranten auf den geplanten Demonstrationszug jedenfalls genügt, die Eilversammlung auf eine Standkundgebung am O.-markt zu beschränken, welche der Versammlungsleiter der Klägerin als Auftakt des geplanten Demonstrationszuges ohnehin bereits vor Ort begonnen hatte.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Zum Vorrang der Beschränkung auf eine Standkundgebung vgl. Kniesel/Poscher, in Handbuch des Polizeirechts, 7 Aufl. 2021, Kapitel J Rn. 352.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von dem Beklagten angeführten Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen,</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteil vom 24.09.2019 ‑ 15 A 3186/17 , juris Rn. 124,</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">nach der die Polizei den Veranstalter einer Versammlung vor deren Auflösung nicht auf die Durchführung einer Standkundgebung verweisen muss, wenn ausdrücklich nur ein Aufzug angemeldet wurde und an einer Standkundgebung ersichtlich kein Interesse besteht.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Diese Rechtsprechung lässt sich auf das vorliegende Verfahren nicht übertragen, da hier nicht anzunehmen war, dass die Klägerin an der Durchführung einer Standkundgebung kein Interesse hatte. Der Versammlungsleiter der Klägerin hatte nach deren unwidersprochenem Vortrag bei der Anmeldung der Eilversammlung gegenüber den Polizeibeamten ausdrücklich erklärt, dass diese zunächst als Standkundgebung auf dem O.-markt beginnen sollte, bis die Polizei bereit sei, den geplanten Demonstrationszug zu begleiten. Zudem hatte die Versammlung im Zeitpunkt der Auflösung in dieser Form bereits tatsächlich begonnen. Ein Interesse der Klägerin, die anlässlich der Diskussion zur Durchführung der Abreise kurzfristig begehrte Eilversammlung wenigstens als Standkundgebung durchzuführen, war somit eindeutig erkennbar. Dem steht auch nicht entgegen, dass die ursprüngliche Mahnwache, die ohnehin bis 22:00 Uhr angemeldet war, bereits gegen 21:00 Uhr vorzeitig durch den Versammlungsleiter beendet wurde. Auch wenn die Klägerin hierdurch auf die weitere Durchführung der ursprünglichen Mahnwache verzichtet hat, lässt sich dem jedenfalls nicht entnehmen, dass für den entsprechenden Zeitraum darüber hinaus auch endgültig und unwiderruflich auf die Durchführung sämtlicher anderer, unter Umständen kurzfristig begehrter Versammlungen verzichtet werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von den festgestellten Ermessensfehlern waren vorliegend auch bereits die Voraussetzungen für eine polizeiliche Inanspruchnahme der klägerischen Versammlung nicht gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte zur Begründung der Versammlungsauflösung vorgetragen hat, dass die (uneingeschränkte) Durchführung der Eilversammlung einschließlich des begehrten Aufzuges zum E. Hauptbahnhof wegen zu erwartender Angriffe von Seiten gewaltbereiter Gegendemonstranten mit einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG verbunden gewesen wäre, ging eine solche Gefahr jedenfalls nicht unmittelbar von der klägerischen Versammlung selbst aus. Insbesondere vermochte auch eine von der begehrten Eilversammlung ausgehende Provokationswirkung eine Störereigenschaft der klägerischen Versammlung nicht zu begründen, da es versammlungstypisch und damit grundgesetzlich geschützt ist, im Rahmen der Straffreiheit und der öffentlichen Ordnung zu provozieren. Weil die Klägerin somit Nichtstörerin war, durfte die Polizei gegen sie nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes einschreiten.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Sind Störungen der öffentlichen Sicherheit vorwiegend aufgrund des Verhaltens Dritter - insbesondere von Gegendemonstranten - zu befürchten, während sich Veranstalter und Versammlungsteilnehmer überwiegend friedlich verhalten, so sind behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten. Gegen die friedliche Versammlung selbst kann dann nur unter den besonderen, eng auszulegenden Voraussetzungen des polizeilichen Notstands eingeschritten werden. Dies setzt voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit andernfalls wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz der angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre. Keinesfalls darf der Nichtstörer einem Störer gleichgestellt und die Auswahl des Adressaten der versammlungsrechtlichen Verfügung von bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig gemacht werden. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes liegt wiederum bei der Behörde. Eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht nicht.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 2794/10 , juris Rn. 17; Beschluss vom 11. September 2015 - 1 BvR 2211/15 , juris Rn. 3; OVG NRW, Urteil vom 24. September 2019 - 15 A 3186/17, juris Rn. 109.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben war ein polizeilicher Notstand bei Erlass der streitgegenständlichen Auflösungsverfügung nicht gegeben. Hinreichende tatsachengestützte Anhaltspunkte dafür, dass die Polizei in der Situation am 13. September 2019 in E. nicht in der Lage war, die angemeldete Eilversammlung der Klägerin durch ein Einschreiten gegen die Gegendemonstranten als Primärstörer zu schützen, hat der Beklagte nicht dargelegt und sind auch sonst nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Die Annahme eines polizeilichen Notstandes ließ sich jedenfalls nicht pauschal auf den Umstand stützen, dass von einem Aufzug ein gegenüber einer Standkundgebung allgemein erhöhtes Gefahrenpotenzial ausgeht. Ein Einschreiten der Polizei gegen nichtstörende Demonstrationszüge wäre ansonsten stets ohne weiteres möglich und der grundrechtliche Schutz aus Art. 8 GG würde ausgehöhlt. Auch im Hinblick darauf, dass in der streitgegenständlichen Situation insgesamt 280 Polizeikräfte des Beklagten vor Ort im Einsatz waren, während die klägerische Eilversammlung, an der lediglich 60 Personen teilnahmen und bei der außerdem ein Lautsprecherfahrzeug mitgeführt werden sollte, von eher überschaubarer Größe war, ließ sich nicht ohne weiteres annehmen, dass eine effektive Absicherung des Aufzugs gegenüber den Gegendemonstranten nicht möglich gewesen wäre. Soweit sich der Beklagte darauf beruft, dass es bereits bei früheren Versammlungen der Klägerin zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sei und sich vorliegend die Gegendemonstranten bereits im Vorfeld der klägerischen Versammlung durch ein hohes Maß an Organisation ausgezeichnet hätten, hat er nicht dargelegt, weshalb aufgrund dieser Beobachtungen nicht schon frühzeitig weitere Polizeikräfte zur Verstärkung des Einsatzes mobilisiert worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Ein polizeilicher Notstand wäre vor diesem Hintergrund nur dann anzunehmen gewesen, wenn im Zeitpunkt der Auflösung der Versammlung davon auszugehen gewesen wäre, dass es von Seiten der Gegendemonstranten zu Übergriffen in einem so erheblichen Umfang kommen würde, dass der Aufzug der Klägerin nicht mehr geschützt werden könnte. Konkrete und tatsachengestützte Anhaltspunkte hierfür hat der Beklagte jedoch nicht benannt.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat zwar behauptet, dass bei Erlass der Auflösungsverfügung von den insgesamt mehr als 300 Gegendemonstranten am O.-markt mindestens 150 Personen als gewaltbereit einzustufen gewesen seien. Dabei bleibt jedoch bereits unklar, inwiefern die pauschale Einschätzung als „gewaltbereit“ bedeutete, dass von den Personen im konkreten Fall gewalttätige Übergriffe auf einen polizeilich geschützten Aufzug zu erwarten waren. Zudem hat der Beklagte nicht erläutert, an welchen konkreten Anhaltspunkten diese Einschätzung festzumachen war. Allein der Umstand, dass die Menge der Gegendemonstranten die Parole „Nazi Schweine“ skandierte, trägt diese Einschätzung jedenfalls nicht. Ansonsten hat der Beklagte lediglich ausgeführt, dass noch während der ursprünglichen Mahnwache szenekundige Beamte unter den 150 Gegendemonstranten nördlich des O.-marktes mindestens 20 gewaltbereite Personen erkannt hätten und sich zudem mindestens 20 Personen vermummt hätten. Worauf sich demgegenüber die zum späteren Zeitpunkt der Auflösung der Eilversammlung getroffene Einschätzung stützte, dass nunmehr von insgesamt mindestens 150 gewaltbereiten Personen auszugehen sei, ist jedoch nicht ersichtlich und lässt sich insbesondere auch nicht anhand der Einsatzdokumentation des Beklagten nachvollziehen. Vielmehr wurde mit Eintragung von 20:39 Uhr (Beleg Nr. 139) im Einsatztagebuch des Beklagten festgehalten, dass die Personengruppe südlich des O.-marktes „gut-bürgerlich“ und „völlig unproblematisch“ sei. Hinsichtlich der Personengruppe im nördlichen Bereich wurde mit Eintragung von 20:30 Uhr (Beleg Nr. 134) dokumentiert, dass von den 150 Personen 20 Personen der „Kategorie gelb“ und der Rest „grün“ zuzuordnen sei. Mit Eintragung von 20:45 Uhr (Beleg Nr. 143) wurde schließlich festgehalten, dass im „Bereich der Ordnungsdienste (alte Apotheke)“ 80 Personen als „eher gewaltbereit“ einzuschätzen seien. Auch die Einsatzdokumentation des Beklagten liefert insofern weder ein klares noch erkennbar tatsachengestütztes Bild zur Gewaltbereitschaft der Gegendemonstranten in der streitgegenständlichen Situation.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Ein polizeirechtlicher Notstand lässt sich ferner auch nicht damit begründen, dass nach Beendigung der ursprünglichen Mahnwache der Klägerin bereits einige Polizeikräfte den O.-markt verlassen hatten, um die Abreise vorzubereiten, und sich deshalb im Zeitpunkt der Versammlungsauflösung nur noch 100-120 Polizeibeamte am O.-markt befanden. Denn der Beklagte hat bereits nicht dargelegt, inwiefern die Absicherung der klägerischen Eilversammlung einerseits einen höheren Aufwand als die Vorbereitung der Abreise der Versammlungsteilnehmer bedeutet und andererseits die Anwesenheit der entsandten Polizeikräfte unmittelbar auf dem O.-markt erfordert hätte. Es erscheint vielmehr naheliegend, dass die Maßnahmen der entsandten Beamten zur Absicherung der Abreise der Versammlungsteilnehmer bis zur U‑Bahnhaltestelle M.-straße gerade auch geeignet gewesen wären, den angemeldeten Aufzug zum Hauptbahnhof oder wenigstens einen durch eine - im Verhältnis zur Auflösung der Versammlung weniger einschneidende - Auflage bis zur U‑Bahnhaltestelle verkürzten Aufzug zu sichern, weil die entsprechende Route (weitgehend) auf derselben Strecke wie die Abreise verlaufen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Da also schon nicht ersichtlich ist, inwiefern eine Rückkehr der entsandten Polizeikräfte zum O.-markt , bzw. der Einsatz weiterer - nicht zur Verfügung stehender - Einsatzkräfte überhaupt notwendig war, bietet auch die Behauptung des Beklagten, dass im Erlasszeitpunkt der Versammlungsauflösung nur noch elf Minuten bis zum geplanten Beginn des Aufzuges verblieben seien, keine tragfähige Grundlage für die Annahme eines polizeilichen Notstandes. Dies gilt insbesondere, weil der Versammlungsleiter der Klägerin nach unwidersprochenem Vortrag bei der Anmeldung erklärte, den Aufzug erst dann zu beginnen, wenn die Polizei dazu bereit sei.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Zudem ist nicht dargetan, weshalb die bereits zur Vorbereitung und Absicherung der Abreise entsendeten Polizeikräfte, soweit erforderlich, zur Absicherung einer Standkundgebung nicht auch kurzfristig zum O.-markt zurückkehren konnten.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung beruht auf § 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss findet Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Über die Beschwerde entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
|
346,432 | vg-gelsenkirchen-2022-07-19-14-k-176821 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 14 K 1768/21 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-09-06T10:01:18 | 2022-10-17T11:09:47 | Urteil | ECLI:DE:VGGE:2022:0719.14K1768.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Es wird festgestellt, dass die Auflage Nr. 1 aus dem Auflagenbescheid vom 30. April 2021 rechtswidrig war.</p>
<p> Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits</p>
<p> Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.</p>
<p> Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Am Freitag dem 23. April 2021 meldete der Kläger, für den Landesverband der Partei die Rechte, dessen Vorsitzender er ist, eine Mahnwache auf dem X.-platz in E. E1. am 1. Mai 2021 für die Zeit von 11:00 Uhr bis 12:00 Uhr an.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Als Versammlungsleiter wurde der Kläger benannt. Das Veranstaltungsthema lautete „Heraus zum Tag der Arbeit“, die erwartete Teilnehmerzahl wurde mit ca. 15 - 20 angegeben. Als Hilfsmittel wurden unter anderem eine Lautsprecheranlage und ein Lautsprecherfahrzeug angemeldet. Des Weiteren wurden Sicherheitsmaßnahmen bezüglich der Corona Pandemie dargestellt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 28. April 2021 fand gegen 11:00 Uhr ein telefonisches Kooperationsgespräch mit dem Kläger statt. Ausweislich des darüber vom Beklagten gefertigten Vermerks zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine erhebliche Mobilisierung der linken Szene ab. Der Kläger erläuterte, sich mit den Versammlungsteilnehmern am X.-platz versammeln zu wollen, dort einen Redebeitrag von I. stattfinden zu lassen und dann gemeinsam Richtung S-Bahn zu gehen um zu einer anschließenden Versammlung nach F. zu fahren. Ausweislich des Vermerks wurde ihm die Einschätzung des Beklagten in Bezug auf die „Rechts-Links“ Problematik und der daraus folgenden Infektionsrisiken erläutert. Insbesondere seine geplante Abreise, welche rein faktisch einen Aufzug darstelle, mache es unmöglich eine Konfrontation zu unterbinden. Der Kläger sei gefragt worden, ob für ihn auch der S-Bahn Vorplatz als Versammlungsort infrage kommen würde und habe darauf geantwortet, dass ihm der X.-platz schon recht wichtig sei und dass er, wenn irgend möglich, dort seine Versammlung abhalten wolle.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 29. April 2022 fand um 16:25 Uhr ein weiteres telefonisches Kooperationsgespräch mit dem Kläger statt, da sich die Gefahrenprognose erheblich verändert hatte. Dem Kläger wurde ausweislich des über das Gespräch angefertigten Vermerks mitgeteilt, die auf Tatsachen gestützte Gefährdungsanalyse lasse den Schluss zu, dass es zu erheblichen Konfrontationen während der Versammlung und vor allem während der Abreise kommen werde. Dies habe ein erhebliches Infektionsrisiko zur Folge. Die dahingehende Einschätzung werde durch die Kontaktierung der örtlichen Ordnungsbehörde und des Robert Koch Institutes gestützt. Einzige Möglichkeit dieses Risiko zu minimieren sei eine Standkundgebung am S-Bahn Vorplatz bzw. Parkplatz. Der Kläger habe darauf erwidert, dass Sinn seiner Versammlung sei, andere Personen zu erreichen, insbesondere Unterstützer aus E1. . Da im Umfeld der S-Bahn nichts wäre, wäre der Versammlungszweck verfehlt. Er würde sich noch auf einen anderen ortskernnahen Bereich einigen, wie die Dresdner Straße. Ihm sei darauf entgegnet worden, dass der Versammlungszeck keineswegs verloren gehe, da sein Versammlungsthema keinen örtlichen Bezug habe und eine Hauptverkehrsanbindung von E1. , welche auch nur knapp 500 m vom gewünschten Versammlungsort entfernt wäre, garantiere, dass Bürger erreicht würden. Der Kläger habe daraufhin einen Auflagenbescheid verlangt, dies sei durch die Vertreter des Beklagten verneint worden, da die vorgeschlagene Alternative rigoros abgelehnt worden sei. Folge sei nunmehr eine Verbotsverfügung auf Grundlage des Infektionsschutzes mit der oben genannten Begründung.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">In einer internen Stellungnahme des Beklagten vom 29. April 2021 wird dargelegt, dass am selbigen Tag dem Beklagten zwei Versammlungen im unmittelbaren Umfeld der Versammlung des Klägers bekannt geworden seien. Die Versammlungen seien als Gegenprotest zur Ursprungsanmeldung zu werten. Nach Angaben der Anmelder werde mit einer Gesamtteilnehmerzahl von 135 Personen gerechnet. Nach staatsschutzrechtlichen Bewertungen sei die vom Kläger angemeldete Teilnehmerzahl seiner Versammlung als zu gering zu erachten. Eine Teilnehmerzahl von bis zu 80 Personen erscheine dabei realistisch. Im Umfeld des zentralen X.-platzes könnten den jeweiligen Versammlungen Örtlichkeiten zugewiesen werden, welche einen Aufenthalt einer derartig großen Personenanzahl aus Infektionsschutzgründen unter Einhaltung der gebotenen Abstände zulasse. Für die als möglich erachteten Reisewege der klägerischen Versammlung entweder über den S-Bahnhof E. E1. oder das U-Bahn Stadtbahnnetz zur Weiterreise nach F. wurde folgende Gefahrenprognose abgegeben:</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Beide politischen Spektren befänden sich derzeit in einem hoch emotionalisierten Zustand. Aus Sicht des linksextremistischen Spektrums wögen staatliche Einschnitte durch getroffene Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona Pandemie schwer und zurückliegende Ereignisse, wie die Einführung des DEIG [„Taser“] und dessen Benutzung, die Feststellung rassistischer Chat-Gruppen, avisierte Videobeobachtung und generelle Rassismus Vorwürfe gegen die Polizei, wirkten erheblich. Die rechtsextremistische Szene befinde sich augenscheinlich in einem strukturellen Umbruch und sei in jüngerer Vergangenheit in der Öffentlichkeit wenig wahrnehmbar. Vorliegende Erkenntnisse, dass der vorgesehene Redner I. - eine wesentliche Reizfigur der rechtsextremistischen Szene - Teil der Versammlung des Klägers sei, dürfte gewaltbereite und erlebnisorientierte Versammlungsteilnehmer des Gegenprotestes maximal provozieren. Nicht zuletzt aufgrund der Ereignisse um den NSU-Komplex mit einem Tötungsdelikt in E. , einer bereits nachgewiesenen Verbindung des vorgesehenen Redners als Teil dieses Netzwerkes und dessen Nähe zur rechtsterroristischen Verbindung „Blood & Honour“ sowie der verbotenen Organisation „Combat 18“ müsse die Installation gerade dieser Person als versuchte Machtdemonstration der rechtsextremistischen Szene verstanden werden.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Eine der beiden Versammlungen des Gegenprotestes zeichne sich hinsichtlich der Teilnehmerzusammensetzung vornehmlich durch gewaltbereite Antifaschisten und Linksextremisten aus. Unter den Gegendemonstranten seien Personen zu erwarten, die dem C-Bündnis angehörten und es sich zum Ziel gemacht hätten rechtsextremistische Versammlungen, auch unter Anwendung von Gewalt, zu blockieren. Entsprechend seien Übergriffe und sich daraus entwickelnde wechselseitige Beschimpfungen und Schmähungen wahrscheinlich.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der durch die Anmelderin gewählte Standort der Versammlung befinde sich unmittelbar im Bereich des Aus- und Umstiegs der Stadtbahnhaltestelle. Abwandernde Versammlungsteilnehmer der Versammlung des Klägers müssten bis auf wenige Meter an beiden Versammlungen des Gegenprotestes vorbeigeführt werden. Bauliche Trennungen bestünden hier nicht. Der Versuch von Distanzunterschreitungen sei unausweichlich zu erwarten. Die Schaffung eines geschützten Korridors sei aufgrund der örtlichen und technisch vorgegebenen Gegebenheiten kaum möglich. Im vorliegenden Fall sei eine Stauchung der Teilnehmer aller Versammlungen unausweichlich. Abstände zur Infektionsvermeidung würden unterlaufen. Ebenso seien versammlungstypische Verhaltensweisen wie Schreien, Rufen, Pfeifen, die Benutzung von Trillerpfeifen und weiteren Blasinstrumenten wahrscheinlich, was ebenso zu einem erhöhten Aerosolausstoß führen würde. Die oberirdisch verlaufende U-Bahn Strecke sei im weiteren Verlauf erheblich störanfällig für die Einflussnahme von außen z.B. durch Blockaden. Dies führe zu einer unnötig langen Verweildauer in einer möglicherweise überfüllten Stadtbahn mit einer damit einhergehenden erhöhten Infektionsgefahr.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Bei einer Weiterreise mit der S-Bahn müssten die Versammlungsteilnehmer der klägerischen Versammlung fußläufig über einspurige Straßen, gegebenenfalls über Ausweichrouten zum S-Bahnhof E. E1. begleitet werden. Die Strecke vom Versammlungsort zum Bahnhof betrage ca. 500 m. Entlang dieser Strecke befänden sich aufgrund örtlicher Gegebenheiten Möglichkeiten der verdeckten Annäherung an die Versammlungsteilnehmer. In jedem Falle seien Sitzblockaden von Gegendemonstranten auf der Transitstrecke einzukalkulieren. Sich daran beteiligende Personen müssten zwangsläufig gebotene Abstände unterschreiten. Darüber hinaus müssten die Versammlungsteilnehmer der klägerischen Versammlung angehalten, aufgestaut, oder umgeleitet werden. Diese Maßnahmen wären einerseits zum Schutz der Personen erforderlich, andererseits würden sie ebenfalls zum Unterschreiten gebotener Abstände führen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">In jedem Fall sei festzustellen, dass alle Transitbewegungen bei gesteigerter Emotionalität bei allen Beteiligten zu einer Unterschreitung von Abständen führen werde. Ebenso werde infrage gestellt, dass sich alle Personen bei entsprechender Emotionalisierung weiterhin an das Gebot zum Tragen von Mundnaseschutz oder ähnlichen hielten.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Gefahrenprognose stütze sich auf Einsatzerfahrungen unter Beteiligung der gleichen Personenklientel, teilweise aufgrund von zu erwartenden Personenidentitäten. Ebenso werde auf die Gefahrenprognose der Stadt E. hinsichtlich der Durchführung von Aufzügen verwiesen. Der vorläufige Transit von Versammlungsteilnehmern anlässlich der durch sie beabsichtigten Weiterreise müsse aus hiesiger Sicht unwidersprochen zu einer Erhöhung des Infektionsrisikos führen. Er werde faktisch als Aufzug durchgeführt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Unter dem 30. April 2021 bestätigte der Beklagte dem Kläger die angemeldete Versammlung für den 1. Mai 2021 mit einer insgesamt einundfünfzig Seiten umfassenden Versammlungsbestätigung.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Abweichend von der Anmeldung wurde durch die Auflage Nr. 1 als Veranstaltungsort der Vorplatz des S-Bahnhofs E. E1. benannt. Der genaue Aufstellungsort werde vor Ort mit den Einsatzkräften abgestimmt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zur deren Begründung stellte der Beklagte im Kern auf die Rechtsgrundlage des § 15 Abs. 1 VersammlG ab. Diese werde durch die infektionsschutzrechtlichen Möglichkeiten, eine Versammlung einzuschränken, nicht beschränkt, was in Anbetracht der Tatsache, dass ein infektionsschutzrechtlicher Verstoß zugleich einen solchen gegen die Rechtsordnung darstellen könne, konsequent erscheine. Dabei werde nicht verkannt, dass das Gestaltungsrecht des Veranstalters einer Versammlung grundsätzlich auch die Art und Weise der Versammlung erfasse.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des Kooperationsgesprächs habe der Kläger den ihm angebotenen Kundgebungsort auf dem Vorplatz des S-Bahnhofs E. E1. abgelehnt, sodass die dadurch entstehende Kollision mit den öffentlichen Interessen durch die Versammlungsbehörde zum Ausgleich gebracht werden müsse.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund sei nach dem derzeitigen Kenntnisstand (30.04.2021) von einer Gesamtlage im Stadtgebiet mit fünf Versammlungen aus dem linken Spektrum und drei weiteren Versammlungen auszugehen. So seien auch für E1. - auf und an dem X.-platz - zwei Versammlungen angemeldet und bereits bestätigt worden. Nach Angaben der Anmelder werde derzeit mit einer Gesamtteilnehmerzahl von mindestens 135 Personen gerechnet. Auf Grund der polizeilichen Gefahrenprognose sei angesichts der Mobilisierung der linken Szene in den sozialen Medien mit einer hohen Teilnehmerzahl zu rechnen. Damit scheide der X.-platz für die Versammlung des Klägers als Standort aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und des Infektionsschutzes aus.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Es habe sich eine taktische Lage ergeben, die erhebliche Auseinandersetzungen zwischen den Versammlungsteilnehmern links und rechts erwarten lasse. Dabei sei zum einen I. als angegebener Redner und wesentliche Reizfigur der rechtsextremistischen Szene zu berücksichtigen, dessen aktiver Beitrag geeignet sei, gewaltbereite und erlebnisorientierte Versammlungsteilnehmer des Gegenprotestes maximal zu provozieren. Zum anderen weise die angemeldete Versammlung der linken Szene unter dem Motto „Gegen jeden Antisemitismus" hinsichtlich ihrer Teilnehmerzusammensetzung vornehmlich gewaltbereite Antifaschisten und Linksextremisten aus. Zudem sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass diese Versammlung weiteren Zulauf durch die vier zeitlich später beginnenden Versammlungen in E. mit 580 angemeldeten Versammlungsteilnehmern, welche in Teilen der linksextremistischen Szene zuzuordnen seien, erfahren werde.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">In Anbetracht dieser konfrontativ, aufgeladenen Gemengelage, bei der die gewählten Standorte der drei Versammlungen im unmittelbaren Nahbereich gelegen seien, sei eine konsequente Trennung bereits unter normalen Umständen schwer zu erreichen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Aus Gründen des Infektionsschutzes sei jedoch nach den in der Verfügung näher benannten Bestimmungen der CoronaSchVO ein notwendiger Abstand zwischen potentiellen Versammlungsteilnehmern von mindestens 1,5 Metern durchgehend sicherzustellen. Dies gelte erst recht im Rahmen der zu erwartenden, versammlungstypischen Verhaltensweisen, die einen erhöhten Aerosolausstoß zur Folge haben könnten.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">In Ermangelung einer vorhandenen baulichen Trennung, käme einzig die Schaffung eines geschützten Korridors als räumliche Trennung in Betracht, um diese Vorgaben durchzusetzen. Dieser sei jedoch aufgrund der in der Begründung - auf die insoweit Bezug genommen wird - näher aufgeführten örtlichen und technisch vorgegebenen Gegebenheiten kaum möglich.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Hinzu komme, dass die ursprüngliche Standkundgebung aufgrund der in Anbetracht der zu erwartenden Gegenproteste im Wege der Abreise der Teilnehmer in einer Form eskortiert werden müsse, durch die sich eine aufzugsähnliche Dynamik ergebe, die aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar sei.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Ergänzend wurde die infektionsrechtliche Bewertung der Stadt E. anlässlich einer Versammlung in E. am 28. April 2022 in Bezug genommen und hinsichtlich der medizinischen Einschätzung der Infektionsrisiken unter Berücksichtigung der Infektionslage in E. im Wortlaut zitiert.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der polizeilichen Gefahrenprognose gehe der Beklagte wegen der linksorientierten Versammlungen im gesamten Stadtgebiet und der Mobilisierung der linken Szene von einem massiven Gegenprotest aus, deshalb stelle sich die Verlegung des Versammlungsortes auch als verhältnismäßig dar.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Ausschlaggebend sei hierbei, dass die Gefahr für die körperliche Unversehrtheit nicht allein durch das Auftreten zu erwartender Gegendemonstranten eintrete, sondern durch die dadurch hervorgerufene erhöhte Gefahr einer Tröpfchen- oder Schmierinfektion mit dem Covid 19-Virus. Sowohl bei dem Transit von dem angemeldeten Versammlungsort als auch auf dem Weg von einem näher zum S-Bahnhof E. E1. gelegenen Versammlungsort sei zu erwarten, dass die zur Absicherung des Aufzuges des Klägers eingesetzten Polizeibeamten nicht nur vereinzelt im Wege des unmittelbaren Zwangs und durch körperlichen Einsatz gegen Gegendemonstranten und ggf. auch gegen Teilnehmer ihres Aufzuges vorgehen müssten, sodass eine Unterschreitung des Mindestabstandes mitunter nicht nur von kurzfristiger Dauer in Betracht komme.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Verlegung des Versammlungsortes sei auch angemessen, da sie geeignet sei, im Wege der praktischen Konkordanz die gegenläufigen Interessen der Versammlungsteilnehmer, Gegendemonstranten, Passanten und beteiligten Polizeibeamten, unbeteiligter Dritter und der objektiven Rechtsordnung schonend auszugleichen sowie die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens zu schützen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Hinzu komme, dass im Falle einer Infektion von Polizeibeamten oder (Gegen-) Demonstranten eine Nachverfolgung der Infektionsketten gänzlich ausgeschlossen sein dürfte.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Letztlich beschränke die Verlegung des Versammlungsortes auf den Vorplatz des S‑Bahnhofs E. -E1. weder die Teilnehmer noch den Wirkungsbereich der Versammlung.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Versammlungsbestätigung wurde, adressiert an den „Landesverband ‚Die Rechte‘, z.Hd. Herrn E2. “, dem Kläger ausweislich des Zusatzes im Adressfeld per E-Mail bekannt gegeben und dem Gericht am 30. April 2021 per Telefax übermittelt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 29. April 2021 Klage erhoben und einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt (‑ 14 L 618/21 ‑). Nach Durchführung der Versammlung hat der Kläger klargestellt, dass die Klage mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage Nr. 1 fortgeführt werden solle.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei zulässig, da nicht ausgeschlossen sei, dass auch in Zukunft Demonstrationen in einer pandemischen Lage stattfänden. Die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der hier ausgesprochenen Auflage sei daher geeignet auch für künftige Versammlungen Auswirkungen auf die Entscheidungspraxis des Beklagten zu haben. Zur Begründung der Klage werde im Übrigen auf die Gründe des Beschlusses der Kammer vom 30. April 2021 im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Ergänzend führt er aus, die originäre Versammlung sei mit 15 bis 20 Teilnehmern relativ klein. Der X.-platz in E. -E1. sei groß genug, um einer so geringen Zahl von Teilnehmern bei einer rein stationären Kundgebung die Einhaltung von Mindestabständen von 1,5 oder auch 2 Metern zueinander ohne Probleme zu ermöglichen. Außerdem sei die Gefahr sich anzustecken unter freiem Himmel ohnehin minimal. Auch unter Berücksichtigung der seinerzeitigen Infektionslage sei nicht nachzuvollziehen, warum in E3. und F. größere Umzüge möglich seien, währen in E. repressiver vorgegangen werde.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Mit dem Auftreten von nennenswerten Mengen von Meinungsgegnern, die vielleicht versuchten, auf die Kundgebung (oder mindestens auf die diese abschirmenden Polizeibeamten) körperlich einzuwirken und dabei den Mindestabstand missachteten, sei in E. nicht zu rechnen, wie die Erfahrung der letzten Jahre zeige.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus wären solche Störungen dem Kläger als Anmelder und Versammlungsleiter nicht zuzurechnen.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks"> festzustellen, dass die Auflage Nr. 1 aus dem Auflagenbescheid vom 30. April 2021 rechtswidrig war.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks"> die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die gegen die Auflage Nr. 1 gerichtete Klage sei unzulässig da dem Kläger das erforderliche Feststellungsinteresse fehle.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Versammlung habe nach Durchführung des Verfahrens im vorläufigen Rechtsschutz wie angemeldet stattfinden können. Die streitgegenständliche Auflage sei dadurch erledigt. Bei künftigen Anmeldungen von Versammlungen seien diese immer eigenständig und einzelfallbezogen zu prüfen und zu bewerten.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Unabhängig vom Fortbestand einer pandemischen Lage nationaler Bedeutung würde in der jetzigen Situation eine Verlegung der Versammlung - wie seinerzeit angedacht ‑ nunmehr nicht mehr per se aus infektionsschutzrechtlichen Gründen erfolgen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die vom Kläger angenommene Wiederholungsgefahr bestehe daher nicht.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei darüber hinaus unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Aufgrund der angemeldeten Versammlung des Klägers sowie der hierdurch zu erwartenden Gegenproteste sei von einer Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben gem. Art. 2 Abs. 2 GG für Versammlungsteilnehmer, unbeteiligte Dritte und die Polizeibeamte auszugehen gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick auf die der Gefahrenprognose zugrundegelegten Versammlungsdynamik zwischen der klägerischen Versammlung und den Gegendemonstranten habe davon ausgegangen werden müssen, dass eine konsequente Trennung der Versammlungen nicht ohne weiteres zu erreichen wäre, obgleich die Einhaltung des Mindestabstandes zur Minimierung der Infektionsgefahr von entscheidender Bedeutung gewesen sei. Zur weiteren Begründung wiederholt er die Gründe aus dem Auflagenbescheid.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Soweit die Kammer in ihrem Beschluss vom 30. April 2021 davon ausgegangen sei, der Kläger sei als Nichtstörer heranzuziehen, habe dieser Annahme eine zu einseitige, rein versammlungsrechtliche Bewertung des Störerbegriffs zugrundegelegen. Vorliegend habe nicht allein der dem Versammlungsrecht typische Interessenausgleich der einzelnen Versammlungen in den Blick genommen werden dürfen, sondern es könne ausschlaggebend sein, dass die Gefahr für die körperliche Unversehrtheit nicht allein durch das Auftreten zu erwartender Gegendemonstranten eintritt, sondern bereits – versammlungsunabhängig – von der durch eine Versammlung hervorgerufenen erhöhten Gefahr einer Tröpfchen- oder Schmierinfektion mit dem Coronavirus.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Teilnehmer einer Versammlung könnten daher jedenfalls dann als „Störer“ in Anspruch genommen werden, wenn die Versammlung in ihrer geplanten Form infektionsschutzrechtlich unvertretbar wäre.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dieser Möglichkeit einer versammlungsrechtlichen Regelung habe dabei auch nicht entgegengestanden, dass Maßnahmen zu Gunsten des Infektionsschutzes nur durch die zuständigen Behörden vorgenommen werden durften, da die an die Ordnungsbehörden adressierten Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes (maßgeblich §§ 28, 28a Abs. 1 Nr. 10, Abs. 2 Nr. 1 IfSG) gegenüber den versammlungsrechtlichen Vorschriften jedenfalls dann keine Sperrwirkung entfalteten, wenn die Versammlungsbehörde ihre Verfügung auch mit versammlungsspezifischen Gründen versehe.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Versammlungsbehörde habe zu prüfen, ob die infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit einer Versammlung durch Beschränkungen sichergestellt werden könne, wobei die angezeigte Teilnehmerzahl, die Versammlungsörtlichkeit bzw. Wegstrecke, die Art und Weise der Versammlung, die Gewährleistung der Einhaltung des Mindestabstands und der Maskenpflicht sowie die aktuelle pandemische Lage einschließlich der 7-Tage-Inzidenz zu berücksichtigen seien. Zu diesen könne, wie auch im streitgegenständlichen Fall angeführt, die Gefahr von Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten herangezogen werden.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Infolgedessen stelle daher die Annahme der Rechtsprechung, dass bei Menschenansammlungen Krankheitserreger besonders leicht übertragen werden können und daher gem. § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG auch (sonstige) Dritte („Nichtstörer“) Adressat von Maßnahmen sein können, eine Erweiterung des Störerbegriffs dar, so dass die Grundsätze des § 28 Abs. 1 IfSG dazu führen könnten, dass infektionsschutzrechtliche Belange es erforderlich werden lassen, eine Versammlung losgelöst von etwaigen Gegendemonstranten als infektionsschutzrechtlichen Störer in Anspruch zu nehmen.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Auch auf Rechtsfolgenseite seien keine Ermessensfehler des Beklagten ersichtlich. Zwar erscheine es richtig, dass als Störer nach dem Versammlungsgesetz auch die Gegendemonstration herangezogen werden könne. Allerdings ermögliche das Infektionsschutzgesetz entsprechend der obigen Ausführungen eine unmittelbare Störerauswahl im Hinblick auf die Versammlung des Klägers.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Interessen der Versammlungsteilnehmenden der am streitgegenständlichen Tag angemeldeten Versammlungen erschienen dabei jedenfalls unter Berücksichtigung der infektionsschutzrechtlichen Perspektive mindestens gleichwertig. Somit hätte grundsätzlich jede einzelne Versammlung herangezogen werden können, die zu erwartende Dynamik sowie die Provokationswirkung gingen jedoch von der Versammlung des Klägers aus und seien durch den beabsichtigten faktischen Aufzug der Versammlung des Klägers derart verstärkt worden, dass deren Inanspruchnahme als infektionsschutzrechtlicher Dritter als Auslöser nahe gelegen habe. Im Übrigen wären auch infektionsschutzrechtliche Beschränkungen gegenüber den linken Versammlungen letztlich nicht vergleichbar effektiv gewesen, da deren Teilnehmende trotzdem erschienen wären.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Die Verlegung der Versammlung sei auch verhältnismäßig, da sie geeignet und angemessen gewesen sei. Ein milderes Mittel sei nicht ersichtlich gewesen und die Einschränkung des Klägers gering, da mindestens gleichwertig ein unmittelbarer Zugang zur Weiterfahrt nach F. gewährleistet gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ergänzend sei neben dem Schutz der Versammlungsteilnehmer, der Schutz der eingesetzten Polizeikräfte maßgeblich.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat mit Beschluss vom 30. April 2021 ‑ 14 L 618/21 ‑, die aufschiebende Wirkung der Klage 14 K 1768/21 gegen die Auflage Nr. 1 der Versammlungsbestätigung vom selben Tag wiederhergestellt.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten auch des Verfahrens ‑ 14 L 618/21 ‑ einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte Heft 1 zu 14 L 618/21).</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO als Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft und im Übrigen auch zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist klagebefugt.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Zwar wurde die streitgegenständliche Versammlung durch ihn für den Landesverband der Partei „Die Rechte“ als Veranstalter angemeldet und die Versammlungsbestätigung an den Landesverband der Partei „z.Hd. Herrn E2. “ adressiert, während er die Klage offenbar als „Privatperson“, ohne Bezug zu seiner Funktion als Vertreter der Partei und nicht in deren Namen erhoben hat.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Als förmlicher Nichtadressat kommt es insoweit darauf an, ob subjektive Rechte oder zumindest anderweitig geschützte Interessen des Klägers verletzt sein können.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 21. Januar 1993 ‑ 4 B 206.92 ‑, m.w.N., juris.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Eine Klagebefugnis ist nur dann zu verneinen, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger behaupteten Rechte bestehen oder ihm zustehen können.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1963 ‑ V C 219.62 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran ist von einer Klagebefugnis auszugehen. Denn abgesehen davon, dass der Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid den Landesverband der Partei „Die Rechte“ ausdrücklich als Veranstalter benannt hat, hat er diesen Bescheid dem die Anmeldung durchführenden Landesvorsitzenden der Partei ‑ dem Kläger - als Anmelder und in seiner Eigenschaft als Versammlungsleiter, auf den der Veranstalter das Leitungsrecht gem. § 7 des hier anzuwendenden Versammlungsgesetz des Bundes (VersG) übertragen hatte, an dessen private E-Mail-Adresse übersandt. Im Rahmen dieser Funktion war der Kläger zumindest „Inhaltsadressat“,</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu auch OVG Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 9. Juni 2005 ‑ 9 A 1150/03 ‑. juris, VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Juli 2018 ‑ 2 S 1228/18 ‑, juris,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">der als verantwortlicher Versammlungsleiter im Rahmen der §§ 8, 10, 11 VersG u.a. zur Bekanntgabe der Auflagen in Anspruch genommen und von dem als verantwortlichem Leiter auch eine Kontrolle der Einhaltung der Auflagen mit einem Einschreiten bis hin zur Auflösung der Versammlung abverlangt wurde. Insoweit war der Bescheid mit seinen Auflagen bzw. mit einem Teil der Auflagen auch an den Kläger gerichtet,</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Rolle des Versammlungsleiters und seiner Klagebefugnis Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 10. Juli 2018 - 10 BV 17.2405 - , BayVBl. 2019, 20 f., VG Leipzig, Urteil vom 17. Juni 2016 - 1 K 259/12 -, juris, VG Karlsruhe, Urteil vom 14. Mai 2020 - 3 K 5923/18 -, juris,</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">der sich neben Veranstalter und Teilnehmern grundsätzlich auf das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) berufen kann.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Dieter/Ginztel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Aufl., § 8 Rdnr. 6.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Dass der Kläger insoweit (auch) als Leiter der von ihm angemeldeten Versammlung durch die streitgegenständliche Auflage in seinen Rechtspositionen verletzt sein könnte, erscheint mithin nicht unmöglich und der Kläger hat im Rechtsstaat einen Anspruch darauf, dass er in seinen Rechten nur durch Akte beeinträchtigt wird, die mit dem geltenden Recht in Einklang stehen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19. November 2021 -14 K 1638/15-, juris.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Es besteht für die Fortsetzungsfeststellungsklage auch unabhängig vom einer möglichen Wiederholungsgefahr ein berechtigtes Interesse Klägers an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Auflage.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Das erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers ist vorliegend bereits aufgrund der Möglichkeit einer kurzfristig erledigten, aber schwerwiegenden Beeinträchtigung der in Art. 8 GG garantierten Versammlungsfreiheit gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Das Grundrecht auf wirksamen und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG wird in erster Linie von den Prozessordnungen gewährleistet, die wiederum Vorkehrungen dafür treffen, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne die Möglichkeit fachgerichtlicher Prüfung zu tragen hat.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Die Zulässigkeit eines Rechtsschutzbegehrens ist allerdings vom Vorliegen eines schutzwürdigen Interesses bei der Verfolgung eines subjektiven Rechts abhängig. Damit der Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht unzumutbar beschränkt wird, dürfen an ein solches Rechtsschutzbedürfnis keine aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Anforderungen gestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, m.w.N., BVerfGE 110, 77ff und juris.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">In versammlungsrechtlichen Verfahren sind zudem die Anforderungen an das Fortsetzungsfeststellungsinteresse unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Versammlungsfreiheit anzuwenden. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gebietet darüber hinaus nämlich, die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen gewichtiger, allerdings in tatsächlicher Hinsicht überholter Grundrechtseingriffe zu eröffnen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. Beschluss vom 30. April 1997 ‑ 2 BvR 817/90 ‑,BVerfGE 96, 27ff und juris.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Solche Eingriffe können auch durch Beeinträchtigungen des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit bewirkt werden, gegen die Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren in dem dafür verfügbaren Zeitraum typischerweise nicht zu erreichen ist.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77ff und juris.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Zwar begründet nicht jeder Eingriff in die Versammlungsfreiheit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse. So ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse beispielsweise nicht begründet, wenn die Abweichungen bloße Modalitäten der Versammlungsdurchführung betroffen haben.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Die durch die hier streitige Auflage durch den Beklagten verfügte Verlegung des Versammlungsortes von dem in der Anmeldung benannten X.-platz in E. -E1. auf den Vorplatz des S-Bahnhofs E. -E1. betrifft jedoch nicht lediglich die Modalitäten der Versammlungsdurchführung. Eine Verlegung des Versammlungsortes durch die Versammlungsbehörde ist regelmäßig dazu geeignet, den geschützten Kernbereich des Art. 8 GG zu betreffen und demzufolge einen erheblichen Grundrechtseingriff zu bewirken.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Auch wenn das gewählte Motto der Versammlung keinen konkreten Ortsbezug hat, ist vorliegend die ‑ für die Annahme eines Feststellungsinteresses ausreichende ‑ Möglichkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Anders als der als Versammlungsort angemeldete X.-platz , der sich inmitten der Wohnbebauung des Stadtviertels befindet, wird der Vorplatz des S-Bahnhofs im Osten von dem Zugang zu den Bahnsteigen, im Norden und Süden durch Bahngleise und im Westen durch den umzäunten Parkplatz der „Eventkirche E1. “ begrenzt. Abgesehen von Personen, welche am 1. Mai die S - Bahn nutzen wollen, ist dort nicht mit Passanten oder vorbeifahrenden Fahrzeugen zu rechnen, so dass die Wahrnehmungsreichweite der Versammlung - unabhängig von ihrem Thema - stark eingeschränkt wird.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Ob diese Beeinträchtigung letztlich als eine (rechtswidrige) Grundrechtsbeeinträchtigung zu werten ist, ist für die Frage des Feststellungsinteresses ohne Belang, denn dafür ist ausreichend, dass eine Beeinträchtigung nicht von vornherein unter jedweder Betrachtungsweise auszuschließen ist.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Allein der Umstand, dass die Versammlung aufgrund des Beschlusses der Kammer vom 30. April 2022 - 14 L 618 21 - in der vom Anmelder und Veranstalter vorgesehenen Form auf dem X.-platz stattfinden konnte, lässt das Feststellungsinteresse nicht entfallen. Denn der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren wird durch das Eilverfahren nicht überflüssig.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77ff und juris.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Unterschiede bestehen in verfahrensrechtlicher und in materiellrechtlicher Hinsicht. Die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz wird allein auf Grundlage einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage im Weg einer materiell-akzessorischen Interessenabwägung getroffen, welche gerade keine endgültige Klärung tatsächlicher oder rechtlicher Fragen herbeiführt, sondern allein dem Ausgleich der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen an dem Suspensiveffekt eines Rechtsbehelfs - hier der Klage - dient.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Zwar entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die gerichtliche Prüfung in versammlungsrechtlichen Eilverfahren deutlich intensiver ausfällt, als es auf anderen Rechtsgebieten der Fall sein mag, da die Folgen von Anordnungen, die die Durchführung einer Versammlung beschränken, regelmäßig nicht reversibel sind. Das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren muss deshalb hier zum Teil Schutzfunktionen übernehmen, die sonst das Hauptsacheverfahren erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 ‑ 1 BvR 233/81 ‑, BVerfGE 69, 315ff.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">In der Sache bleibt es im vorläufigen Rechtsschutz aber im Grundsatz stets, also auch bei der Prüfung der Rechtmäßigkeitserfordernisse, bei einer nur vorläufigen Überprüfung der behördlichen Entscheidung, die ohne umfassende Sachaufklärung von Amts wegen und ohne abschließende Rechtsprüfung erfolgt. Der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren kann deshalb durch das Eilverfahren grundsätzlich nicht überflüssig werden.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77ff und juris.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von dem hier aufgrund des möglichen Grundrechtseingriffs anzunehmenden Feststellungsinteresses, besteht ein solches Interesse außerdem dann, wenn die Gefahr einer Wiederholung des Eingriffs besteht. Das Erfordernis der Wiederholungsgefahr setzt dabei zum einen die Möglichkeit einer erneuten Durchführung einer vergleichbaren Versammlung durch den Betroffenen voraus, zum anderen, dass die Behörde voraussichtlich an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77ff und juris.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Da der im Eilverfahren zu erreichende Schutz nicht dem Rechtsschutz, der im Hauptsacheverfahren erlangt werden kann, entspricht, entfällt das auf eine Wiederholungsgefahr gegründete Rechtsschutzinteresse nicht etwa deshalb, weil der Kläger in zukünftigen Fällen erneut Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen kann.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Insbesondere ist es weder dem Veranstalter einer Versammlung noch dem Kläger als dem regelmäßig bei den Versammlungen der Partei „Die Rechte“ angemeldeten Versammlungsleiter zuzumuten, den durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten Rechtsschutz stets nur vorläufig und mit Unsicherheit für die Behandlung zukünftiger Fälle erlangen zu können. Dies wäre auch dem Freiheitsrecht des GG Art. 8 abträglich und könnte sich langfristig auf die Funktionsweise der Demokratie auswirken.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist grundsätzlich insbesondere dann zu bejahen, wenn gerichtlicher Eilrechtsschutz erlangt worden ist, aber Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Behörde sich nicht an den im vorangegangenen Eilverfahren vorgenommenen gerichtlichen Bewertungen ausrichten wird.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 2011 ‑ 1 BvR 1946/06 ‑, juris</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Dabei reicht es aus, dass der Wille des Betroffenen erkennbar ist, in Zukunft Versammlungen abzuhalten, die ihrer Art nach zu den gleichen Rechtsproblemen und damit der gleichen Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit führen können. Angesichts des verfassungsrechtlich geschützten Rechts des Veranstalters, über das Ziel sowie die Art und Weise der Durchführung einer Versammlung selbst zu bestimmen, darf für die Bejahung des Feststellungsinteresses hingegen nicht verlangt werden, dass die möglichen weiteren Versammlungen unter gleichen Umständen, mit einem identischen Motto und am selben Ort durchgeführt werden. Jedoch sind Anhaltspunkte dafür zu fordern, dass die Behörde das Verbot solcher weiteren Versammlungen oder die Beschränkung ihrer Durchführung voraussichtlich wieder mit den gleichen Gründen rechtfertigen wird. Ist gerichtlicher Eilrechtsschutz erlangt worden, bestehen aber Anhaltspunkte dafür, dass eine Behörde sich nicht an den im vorangegangenen Eilverfahren vorgenommenen gerichtlichen Bewertungen ausrichten wird, ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen, es sei denn die konkret betroffene Behörde hat eindeutig erkennen lassen, in Zukunft von einer Wiederholung der Beschränkung unter Verwendung der von ihr ursprünglich gegebenen Begründung absehen zu wollen.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 2011 ‑ 1 BvR 1946/06 ‑, juris</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Letzteres ist vorliegend nicht der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat - insbesondere im Rahmen der Klageerwiderung, in welcher er seine Begründung erweitert und vertieft hat - zu erkennen gegeben, dass er die Rechtsauffassung der Kammer nicht teilt und sich folglich auch in Zukunft nicht an dieser ausrichten will.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Zwar hat der Beklagte im Rahmen der Klageerwiderung erklärt, dass unabhängig vom Fortbestand einer pandemischen Lage nationaler Bedeutung in der jetzigen Situation eine Verlegung der Versammlung - wie seinerzeit angedacht - nunmehr nicht mehr per se aus infektionsschutzrechtlichen Gründen erfolgen würde.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Diese Erklärung lässt jedoch nicht hinreichend deutlich erkennen, dass die hier zur Entscheidung stehende Konstellation sich in Zukunft nicht wiederholen kann.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Erklärung selbst, die eine Verlegung aus infektionsschutzrechtlichen Gründen nicht ausschließt, sondern lediglich deutlich macht, eine solche erfolge nicht „per se“, also „von selbst“.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Vor dem Hintergrund der für die Verlegung des Versammlungsortes sowohl in der Versammlungsbestätigung als auch nachfolgend im gerichtlichen Verfahren durch den Beklagten abgegebenen Begründung, die neben den Belangen des Infektionsschutzes als Ursache für die infektionsschutzrechtliche Gefahrenlage maßgeblich auf die Konfrontation mit Gegendemonstranten und die daraus zwangsläufig folgenden Abstandsunterschreitungen in der durch den Kläger geleiteten Versammlung abstellt, schließt diese Erklärung eine mögliche Wiederholungsgefahr nicht derart aus, dass ein Feststellungsinteresse des Klägers zu verneinen wäre. Denn, wie der Kammer aus zahlreichen Verfahren bekannt ist, begründet der Beklagte gegenüber der Partei „Die Rechte“ und auch dem Kläger, sofern er Anmelder der Versammlung ist, den Erlass von beschränkenden Auflagen hinsichtlich des Versammlungsortes oder der Art der Versammlung bis hin zu deren Auflösung regelmäßig mit der Gefahr von Übergriffen durch Gegendemonstranten. Auch wenn die Versammlungsbehörde mit ihrer Erklärung von der infektionsschutzrechtlichen Begründung (teilweise) abrückt, ohne jedoch insgesamt, insbesondere hinsichtlich der Inanspruchnahme der klägerischen Versammlung an Stelle der Gegendemonstrationen, deutlich zu machen, sich vollständig von der seinerzeitigen Begründung zu distanzieren, so liegen darin hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sie an ihrer Rechtsauffassung festhalten und deshalb vergleichbare Versammlungen der Partei „Die Rechte“ oder des Klägers, der gerichtsbekannt oftmals auch als Veranstalter von Versammlungen auftritt, aus den gleichen Gründen wie bisher durch Auflagen beschränken wird.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist auch begründet, denn die Auflage Nr. 1 in der Versammlungsbestätigung vom 30. April 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen, aus seiner Funktion als Versammlungsleiter folgenden, Rechten.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Insoweit nimmt die Kammer zunächst Bezug auf die Begründung des Beschlusses vom 30. April 2021, an der sie nach der Überprüfung der Sach- und Rechtslage im Hauptsacheverfahren auch angesichts der im Klageverfahren erfolgten weiteren Begründung des Beklagten festhält.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte in der weiteren Begründung im Rahmen der Klageerwiderung auf §§ 28 Abs. 2 und 28a Abs. 1 Nr. 10 Infektionsschutzgesetz IFSG abstellt, geht auch die Kammer auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung davon aus, dass infektionsschutzrechtliche Anforderungen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit grundsätzlich Grundlage für versammlungsrechtliche Auflagen und Beschränkungen nach § 15 Abs. 1 VersG sein können.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Neben der tatbestandlichen Voraussetzung, dass tatsachengestützte Anhaltspunkte dafür bestehen, die Durchführung der Versammlung könne eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellen, bedarf es auf der Rechtsfolgenseite einer Ermessensentscheidung der Behörde, ob und welche Maßnahmen gegen welchen Störer zu richten sind.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Zwar dürfte vorliegend die tatbestandliche Annahme des Beklagten, es könne zu Gefahren für die öffentliche Sicherheit kommen, weil die infektionsschutzrechtlich gebotenen Abstände im Fall von Störungen der durch den Kläger geleiteten Versammlung durch Gegendemonstranten nicht mehr einzuhalten wären, nicht zu beanstanden sein.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung, Maßnahmen - konkret die Verlegung des Versammlungsortes ‑ gegen die von dem Kläger geleitete Versammlung zu richten, stellt sich vorliegend jedoch als ermessensfehlerhaft dar.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Das auf der Rechtsfolgenseite zu betätigende Ermessen kann gerichtlich nur in den Grenzen des § 114 VwGO überprüft werden. Das Gericht prüft ausschließlich, ob die Behörde in der Erkenntnis des ihr eingeräumten Ermessens alle die den Rechtsstreit kennzeichnenden Belange in ihre Erwägung eingestellt hat, dabei von richtigen und vollständigen Tatsachen ausgegangen ist, die Gewichtung dieser Belange der Sache angemessen erfolgt ist und das Abwägungsergebnis vertretbar ist, insbesondere nicht gegen höherrangiges Recht verstößt. Dabei sind Ermessenserwägungen bis zur letzten Verwaltungsentscheidung zu berücksichtigen, die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch ergänzt werden können (§ 114 Satz 2 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Auch dann, wenn versammlungsrechtliche Beschränkungen - wie vorliegend auf infektionsschutzrechtliche Grundlagen gestützt werden, hat die Ermessensausübung unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen. Dies macht die Beachtung sämtlicher Umstände des Einzelfalls einschließlich des aktuellen Stands des dynamischen und tendenziell volatilen Infektionsgeschehens erforderlich.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Ablehnung einer einstweiligen Anordnung vom 30. August 2020 ‑ 1 BvQ 94/20 ‑, juris; OVG NRW Beschluss vom 9. März 2021 ‑ 15 B 339/21 ‑ m.w.N., www.nrwe.de und juris.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass um eine Unterschreitung notwendiger Mindestabstände zu verhindern, zu der es aufgrund der Dynamiken in einer großen Menschenmenge oder des Zuschnitts und Charakters einer Versammlung im Einzelfall selbst dann kommen kann, wenn bezogen auf die erwartete Teilnehmerzahl eine rein rechnerisch hinreichend groß bemessene Versammlungsfläche zur Verfügung steht, als weitere Regelungen der Modalitäten die Durchführung als ortsfeste Kundgebung anstatt als Aufzug oder auch die Verlegung an einen aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vorzugswürdigen Alternativstandort in Betracht kommen.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Die fehlerfreie Ermessensausübung erfordert - gerade im durch Art. 8 GG geschützten Bereich der Versammlungsfreiheit - eine sorgfältige Abwägung, gegen wen sich Maßnahmen richten müssen bzw. dürfen, um einer prognostizierten Gefahr zu begegnen.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Vorliegend hat der Beklagte maßgeblich darauf abgestellt, eine Verlegung der Versammlung auf den Platz vor dem S-Bahnhof mindere das Infektionsrisiko deshalb, weil dort nicht mit Übergriffen von Gegendemonstranten zu rechnen sei, bzw. die Versammlung besser vor solchen Übergriffen geschützt werden könne.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Die konkret prognostizierte Gefahr für die durch das Infektionsschutzgesetz geschützten Rechtsgüter, nämlich Leib und Leben der Versammlungsteilnehmer sowie Dritter, einschließlich der eingesetzten Polizeibeamtinnen und -beamten und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesen, geht vorliegend nicht von den Modalitäten der angemeldeten Versammlungsdurchführung aus. Dies gilt unabhängig davon, ob aus der hier maßgeblichen „ex-ante“ Sicht die Zahl der Versammlungsteilnehmer sich auf die in der Anmeldung genannten 20 beschränkt oder von der - auch im Klageverfahren nicht weiter substantiierten - Einschätzung des Beklagten mit einer Teilnehmerzahl von 80 Personen auszugehen war. Die Gefahr entsteht nach allen Prognosen erst durch die erwarteten Übergriffe Dritter auf die von dem Kläger geleitete Versammlung.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Wie die Kammer bereits in dem Beschluss vom 30. April 2021 im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ausgeführt hat, handelt es sich bei diesen Erwägungen um die klassische Situation der Inanspruchnahme eines Nichtstörers, die grundsätzlich nur unter besonders restriktiven Voraussetzungen zulässig ist und im Versammlungsrecht regelmäßig einen polizeilichen Notstand erfordert.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Sind nämlich Störungen der öffentlichen Sicherheit vorwiegend aufgrund des Verhaltens Dritter - insbesondere von Gegendemonstranten - zu befürchten, während sich Veranstalter und Versammlungsteilnehmer überwiegend friedlich verhalten, so sind behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten. Gegen die friedliche Versammlung selbst kann dann nur unter den besonderen, eng auszulegenden Voraussetzungen des polizeilichen Notstands eingeschritten werden. Dies setzt voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit andernfalls wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz der angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre. Keinesfalls darf der Nichtstörer einem Störer gleichgestellt und die Auswahl des Adressaten der versammlungsrechtlichen Verfügung von bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig gemacht werden. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes liegt wiederum bei der Behörde. Eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht nicht.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 ‑ 1 BvR 2794/10 -; Beschluss vom 11. September 2015 ‑ 1 BvR 2211/15 ‑; OVG NRW, Urteil vom 24. September 2019 ‑ 15 A 3186/17 ‑, sämtlich juris.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Daran ändern auch die von dem Beklagten in der Klageerwiderung herangezogenen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes nichts. Insbesondere lässt sich daraus nicht die Qualifikation der vom Kläger geleiteten Versammlung als Störerin ableiten.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Die §§ 28 und 28a IFSG modifizieren den Störerbegriff nicht so weit, dass die allgemeinen Grundsätze zur Störerauswahl sowie die im Versammlungsrecht maßgeblichen Ermessensmaßstäbe völlig in den Hintergrund treten.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IFSG in der am 30. April 2021 geltenden Fassung können die zuständigen Behörden Schutzmaßnahmen, insbesondere nach § 28a Absatz 1 IFSG treffen, soweit und solange es zur Verhinderung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Sie können insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihnen bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Nach Satz 2 dieser Bestimmung sind unter den Voraussetzungen des Satzes 1 die Beschränkung und das Verbot von Veranstaltungen oder sonstigen Ansammlungen von Menschen zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">§ 28a Abs. 1 Nr. 10 IFSG in der zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung geltenden und seither unveränderten Fassung vom 10. Dezember 2021 ergänzt und konkretisiert § 28 Abs. 1 IFSG hinsichtlich der zulässigen Maßnahmen dahingehend, dass für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den Deutschen Bundestag insbesondere die Erteilung von Auflagen für das Abhalten von Veranstaltungen, Ansammlungen, Aufzügen, und Versammlungen möglich sein kann.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Zwar ermöglichen die Generalklausel des § 28 IFSG sowie ihre Konkretisierung in § 28a IFSG für den Fall, dass Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Erkrankungen erforderlich sind, ein Vorgehen grundsätzlich nicht nur gegenüber den in § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG genannten Personen, also gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern, sondern - soweit erforderlich - auch gegenüber Dritten.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Dies führt jedoch nicht dazu, dass jeder potentiell Ansteckungsgefährdete oder jede Veranstaltung oder Versammlung als Störer angesehen werden könnte.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Allein eine im Gesetz ermöglichte Inanspruchnahme Dritter macht jene nicht zu Störern. Dies ergibt sich auch aus einem Vergleich mit den Bestimmungen zur Verantwortlichkeit im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht. Weder aus § 28 IFSG noch aus § 28a IFSG lassen sich Grundsätze über die Voraussetzungen der Inanspruchnahme der dort erwähnten Dritten ableiten, noch dass diese bei einer möglichen Auswahl parallel in Anspruch zu nehmenden Störern gleichgestellt wären. Folglich verbleibt es bei den allgemeinen Grundsätzen.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Die erforderliche Betrachtung im Einzelfall zeigt, dass die in der streitgegenständlichen Auflage zur Versammlung ausgesprochene Verlegung des Versammlungsortes nicht dazu dient, die Versammlung zu ermöglichen, etwa weil der zuvor ausgewählte Versammlungsort - unter Einbeziehung der seinerzeit geltenden infektionsschutzrechtlichen Anforderungen - nicht ausreichte, um die aus einer Menschenansammlung von ‑ je nach Betrachtungsweise - 20 bis 80 Personen folgende Infektionsgefahr zu vermeiden. Der Kläger als Vertreter der Versammlungsanmelderin hat in der Anmeldung ein Infektionsschutzkonzept vorgelegt, welches den seinerzeit üblichen Anforderungen entsprach.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Auch der Beklagte stellt - wie bereits dargelegt - für die Gefahrverursachung maßgeblich nicht auf die Modalitäten der Versammlung an dem vorgesehen Ort selber ab, sondern auf den Umstand, dass er zuvor zwei nach Anmeldung der durch den Kläger geleiteten Versammlung angemeldete Versammlungen aus dem linken Spektrum auf oder in unmittelbare Nähe des X.-platzes bestätigt hat, von denen er ausweislich der Gefahrenprognosen ausging, dass sie gegenüber der durch den Kläger angemeldeten Versammlung gewalttätig werden könnten.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Nach den hergebrachten Grundsätzen, welche - wie dargelegt - durch das Infektionsschutzrecht insoweit nicht grundlegend modifiziert werden, ist daher nicht die durch den Kläger geleitete Versammlung als Störerin anzusehen.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Auch die von dem Beklagten in der Klagebegründung zur Begründung seiner Auffassung, die von dem Kläger geleitete Versammlung sei unter den Voraussetzungen des Infektionsschutzgesetzes als Störer zu betrachten, herangezogene Rechtsprechung trägt diese Argumentation nicht.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Die Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein - Westfalen,</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2020 ‑ 13 B 398/20.NE ‑, juris,</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg,</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. März 2020 ‑ OVG 11 S 12/20 ‑, juris,</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">befassen sich im Rahmen der Normenkontrolle mit der generell bestehenden Möglichkeit, Maßnahmen zum allgemeinen Infektionsschutz zulässigerweise auch gegen nicht infizierte Personen (hier Betreiber von durch die Coronaschutzverordnung NRW generell geschlossenen Ladenlokalen und Menschenansammlungen) richten zu können.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Die herangezogenen Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, sowie des Verwaltungsgerichts Kassel und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs,</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 19. März 2021 ‑ 2 B 588/21 ‑; VG Kassel, Beschluss vom 17. März 2021 ‑ 6 L 573/21.KS ‑; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 21. Februar 2021 ‑ 10 CS 21.526 ‑, sämtlich juris,</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">betrafen Versammlungen mit 500 bis zu 6.000 Teilnehmenden, teilweise auf belebten Innenstadtplätzen.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">All diesen Entscheidungen ist gemein, dass die infektionsschutzrechtlich begründeten Gefahren stets unmittelbar von der Veranstaltung, bzw. Versammlung ausgingen, ohne dass die Gefahr erst durch das Hinzutreten gefahrerhöhender oder ‑begründender Handlungen Dritter drohte. Es bedurfte somit keiner weiteren Erwägungen, welche die von dem Beklagten vertretene Erweiterung des Störerbegriffs stützen könnten.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Im Gegenteil führt das Verwaltungsgericht Kassel in seinem Beschluss, unter Darstellung der allgemein geltenden versammlungsrechtlichen Grundsätze zum polizeilichen Notstand im Übrigen, ausdrücklich aus:</p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">„Ein Verbot lässt sich vorliegend auch nicht ohne Weiteres mit der Gefahr einer Auseinandersetzung zwischen den Teilnehmern der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung und potentiellen Gegendemonstranten oder anderen Gruppierungen sowie einer damit einhergehenden Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung rechtfertigen. Denn Störungen der öffentlichen Sicherheit, die vorwiegend aufgrund des Verhaltens Dritter – insbesondere durch Gegendemonstranten – zu befürchten sind, während sich Veranstalter und Versammlungsteilnehmer überwiegend friedlich verhalten, ist mit behördlichen Maßnahmen primär gegen die Störer zu begegnen. […]“</p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Weitere Umstände, welche die Inanspruchnahme der klägerischen Versammlung als Nichtstörerin rechtfertigen könnten, ergeben sich weder aus der Versammlungsbestätigung noch den im Klageverfahren ergänzten Ermessenserwägungen.</p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Die Einschätzung des Beklagten, die Interessen der Versammlungsteilnehmenden der am streitgegenständlichen Tag angemeldeten Versammlungen seien bei der Abwägung der gegenläufigen Interessen jedenfalls unter Berücksichtigung der infektionsschutzrechtlichen Perspektive mindestens gleichwertig, somit hätte grundsätzlich jede einzelne Versammlung herangezogen werden können, die zu erwartende Dynamik sowie die Provokationswirkung seien jedoch von der Versammlung des Klägers ausgegangen und durch den beabsichtigten faktischen Aufzug der Versammlung des Klägers derart verstärkt worden, dass deren Inanspruchnahme als infektionsschutzrechtlicher Dritter als Auslöser nahe gelegen habe, trägt die vorgenommene Störerauswahl folglich nicht, da sie außer Acht lässt, dass nicht die Versammlung des Klägers für die prognostizierte Gefahrenlage verantwortlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks">Allein die von dieser Versammlung ausgehende Provokationswirkung rechtfertigt ihre Inanspruchnahme nicht, solange die Provokationswirkung sich im Rahmen dessen bewegt, was als versammlungstypisches Verhalten anzusehen ist und aus sich selbst heraus keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung befürchten lässt.</p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Durch die Provokationswirkung einer Versammlung verursachte Übergriffe Dritter auf die Versammlung können versammlungsbeschränkende Maßnahmen der Versammlungsbehörde mithin nur dann rechtfertigen, wenn andere polizeiliche Maßnahmen, wie etwa die räumliche Trennung von Demonstration und Gegendemonstration, keinen Erfolg versprechen, oder unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unmöglich sind, mithin die Voraussetzungen eines polizeilichen Notstandes gegeben sind.</p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich, so dass die Kammer bei ihrer Einschätzung in dem Beschluss vom 30. April 2021 - 14 L 618/21 - auch nach der Überprüfung im Hauptsacheverfahren verbleibt.</p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte in der Gefahrenprognose auf zu erwartende Provokationen der vom Kläger geleiteten Versammlung abstellt, ergibt sich weder aus der vorliegenden Gefahrenprognose noch aus dem weiteren Vorbringen im Rahmen des Klageverfahrens, dass diese derart intendiert wären, dass die Versammlung unter dem Aspekt des „Zweckveranlassers“ für Übergriffe Dritter auf die Versammlung als Störer anzusehen sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">Abschließend ist ergänzend anzumerken, dass die im Rahmen der Klageerwiderung angestellte Erwägung des Beklagten,</p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">„Im Übrigen wären auch infektionsschutzrechtliche Beschränkungen gegenüber den linken Versammlungen letztlich nicht vergleichbar effektiv gewesen, da deren Teilnehmende trotzdem erschienen wären.“</p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">offensichtlich sachfremd ist und deshalb schon für sich einen erheblichen Ermessensfehler darstellt.</p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Reichte diese Einschätzung zur Rechtfertigung der Inanspruchnahme sich rechtmäßig verhaltender Versammlungen aus, wäre ein Einschreiten der Polizei gegen nichtstörende Demonstrationen stets ohne weiteres möglich und der grundrechtliche Schutz aus Art. 8 GG würde ausgehöhlt. Dies käme einer Kapitulation des Rechtsstaats gleich.</p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Die Möglichkeit Inanspruchnahme der durch den Kläger geleiteten Versammlung als Störerin unter anderen Gesichtspunkten ist nicht ersichtlich oder gar tatsachengestützt begründet.</p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung beruht auf § 52 Abs. 2 Satz des Gerichtskostengesetzes.</p>
<span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p>
<span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
|
346,389 | vg-gelsenkirchen-2022-07-19-14-k-369321 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 14 K 3693/21 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-09-01T10:01:44 | 2022-10-17T11:09:40 | Urteil | ECLI:DE:VGGE:2022:0719.14K3693.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Es wird festgestellt, dass die Auflage Nr. 4 der Versammlungsbestätigung vom 30. April 2021 rechtswidrig war, soweit jede sprachliche Verwendung der Parole „E. -E1. Nazi Kiez“ untersagt wurde.</p>
<p> Im Übrigen wird die Klage wird abgewiesen.</p>
<p> Der Beklagte und der Kläger tragen die Kosten des Rechtsstreits jeweils zur Hälfte.</p>
<p> Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.</p>
<p> Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Am Freitag dem 23. April 2021 meldete der Kläger, für den Landesverband der Partei „Die Rechte“, dessen Vorsitzender er ist, eine Mahnwache auf dem X.-platz in E. E1. am 1. Mai 2021 für die Zeit von 11:00 Uhr bis 12:00 Uhr an.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Als Versammlungsleiter wurde der Kläger benannt. Das Veranstaltungsthema lautete „Heraus zum Tag der Arbeit“, die erwartete Teilnehmerzahl wurde mit ca. 15-20 angegeben. Als Hilfsmittel wurden unter anderem eine Lautsprecheranlage und ein Lautsprecherfahrzeug angemeldet.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 30. April 2021 bestätigte das der Beklagte dem Kläger die angemeldete Versammlung für den 1. Mai 2021 mit einer insgesamt einundfünfzig Seiten umfassenden Versammlungsbestätigung.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Auflage Nr. 4 zu der Versammlungsbestätigung lautet:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">„Das Mitführen von Transparenten, Plakaten, Fahnen oder anderen Gegenständen mit der Aufschrift E. -E1. Nazi-Kiez" und „National befreite Zone" sowie das Skandieren und jede andere sprachliche Verwendung der Parolen „E. -E1. Nazi-Kiez" und „National befreite Zone" ist untersagt und daher zu unterlassen. Verboten sind ferner alle inhaltlich gleichbedeutenden Umgehungsformulierungen (z.B. E1. ist unser Kiez, „Nazi Kiez statt „E. -E1. Nazi-Kiez, „Nationalen... erkämpfen" statt „National befreit").“</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der Auflage in Ziffer 4. führte der Beklagte aus, diese Auflage werde erlassen, um die von den Versammlungen des Klägers ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu verhindern.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Eine solche könne insbesondere durch die Zurschaustellung von Transparenten, Fahnen, Plakaten oder anderen Gegenständen mit entsprechenden Aufschriften oder dem Skandieren von Parolen bewirkt werden, die nach dem Inhalt der Äußerungen für sich betrachtet noch nicht den Straftatbestand der Volksverhetzung verwirklichten, jedoch nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung prognostizierbaren Umständen durch die Art und Weise der Durchführung der Versammlung eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung begründen werden. Dazu gehörten auch die benannten Parolen „E. -E1. Nazi Kiez" und „National befreite Zone". Mit „inhaltlich gleichbedeutenden Formulierungen" seien solche Formulierungen gemeint, durch die in gleicher Weise ein territorialer Dominanzanspruch" im Hinblick auf das Stadtgebiet E1. geltend gemacht werde.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">In der Folge werden Verhaltensweisen und Vorfälle im Stadtteil E. E1. , insbesondere im Bereich des X.-platzes geschildert, welche diesen räumlichen Dominanzanspruch der „rechten Szene“ deutlich machten, die E. Bevölkerung mit Besorgnis erfüllten und ein besonderes Präsenzkonzept der E. Polizei in jenem Bereich erforderlich machten. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die den Beteiligten bekannte Begründung des Bescheides Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Da Rechtsextremisten Andersdenkenden nicht den allgemein üblichen und notwendigen Respekt bzw. die erforderliche Akzeptanz entgegenbrächten, sei ein gedeihliches Zusammenleben nicht nur in E1. gefährdet. Mit den Begriffen „Nazi-Kiez" und „National befreite Zone“ werde der Anspruch erhoben, Andersdenkende aus dem Stadtteil E1. zu vertreiben und einzuschüchtern. Dabei werde durch die Verwendung des Begriffs „Nazi-Kiez“ für die Partei „Die Rechte“ und deren Mitglieder eine unmittelbare Verbindung zum Nationalsozialismus hergestellt. Darüber hinaus mache die Verbindung der Begriffe „Nazi" und Kiez" deutlich, dass eine Vorherrschaft im Stadtteil E1. angestrebt werde. Zum anderen beinhalte der Ausspruch für Andersdenkende die Aufforderung und Drohung, sich aus dem vermeintlichen „Nazi-Kiez“ besser fernzuhalten.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Parolen dienten der gezielten Schaffung eines Angstraumes im Stadtteil E1. und verfolgten das Ziel, die „nationale Kontrolle“ über diesen Stadtteil zu gewinnen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass diese Parolen bzw. Transparente und/oder Plakate auch in der Versammlung in E. am 1. Mai 2021 skandiert bzw. mitgeführt werden.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Auflage sei verhältnismäßig und insbesondere erforderlich, da ein Einschreiten erst während der Versammlung und nach dem Skandieren dieser Parolen hier nicht gleich geeignet sei, die Gefahr für die öffentliche Ordnung abzuwehren. Dabei sei das Interesse unbeteiligter Dritter, insbesondere von Menschen mit Migrationshintergrund sowie anderer Minderheiten zu berücksichtigen und abzuwägen. Ein durch die Parolen zum Ausdruck kommender offener Bezug zum Nationalsozialismus sei nicht mit dem Standort der Versammlung vereinbar.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Versammlungsbestätigung ist mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, in der es u.a. heißt:</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">„Gegen diesen Bescheid kann innerhalb eines Monats nach Zustellung Klage erhoben werden“</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Versammlungsbestätigung wurde dem Kläger ausweislich des Zusatzes im Adressfeld per E-Mail bekannt gegeben und dem Gericht am 30. April 2021 per Telefax übermittelt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 24. September 2021 Fortsetzungsfeststellungsklage gegen die Auflage Nr. 4 erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung bezweifelt der Kläger, dass der durchschnittliche E. -Bürger mit dem aus dem Norddeutschen stammenden Begriff „Kiez“ überhaupt etwas anfangen könne. Bei der Bewertung einer Parole oder Wortfolge oder Meinungsäußerung komme es vornehmlich darauf an, wie der verständige Durchschnittshörer (oder Durchschnittsleser) sie verstehe. Es liege auf der Hand, dass es hier in Deutschland regionale Unterschiede gebe. Dies hätte der Beklagte berücksichtigen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon sei nicht hinreichend dargelegt, warum damit ein "territorialer Dominanzanspruch" hinsichtlich des Stadtteils E1. geltend gemacht werde, der andere "ausschließen und einschüchtern" solle.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Bloße Behauptungen seien kein Rechtsgrund für eine Einschränkung des Versammlungsrechts oder - verbunden mit einer Versammlung - des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Auch für die Behauptungen, die rechtsextremistische Szene habe gezeigt, dass sie sich "über jegliche Anstandsregeln hinwegsetze" und die "Atmosphäre gegenseitiger Rücksicht und Achtung in der E1. Wohnbevölkerung dadurch gefährdet sei, sowie dass „vielfache Beschwerden“ darüber vorlägen und ein polizeiliches Präsenzkonzept nötig geworden sei, um u.a. strafrechtlich relevantes Verhalten zu unterbinden, habe der Beklagte Beweis zu erbringen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">festzustellen, dass die Auflage Nr. 4 aus dem Auflagenbescheid vom 30. April 2021 rechtswidrig war soweit damit die Verwendung des Begriffes "E. –E1. -Nazi-Kiez" auf Transparenten, Fahnen, Plakaten oder anderen Gegenständen sowie das Skandieren und jede andere sprachliche Verwendung dieses Begriffes untersagt wird.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei unabhängig von der Einhaltung der Klagefrist unzulässig, weil die Zulässigkeit eines solchen ausnahmsweise zulässigen Rechtsschutzbegehrens vom Vorliegen eines schutzwürdigen Interesses bei der Verfolgung eines subjektiven Rechts abhänge. Daran fehle es jedoch, da durch die Auflage der spezifische Charakter der Versammlung nicht verändert und insbesondere das kommunikative Anliegen nicht wesentlich erschwert worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus seien wegen des Inkrafttretens des nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes Auflagen mit Bezug auf die öffentliche Ordnung nicht mehr zu erwarten, da dieses Schutzgut im Gesetz nicht mehr vorgesehen sei. Es fehle daher an einer Wiederholungsgefahr.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Klage sei außerdem unbegründet, denn es hätten zum Entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Rahmen der ex-ante Betrachtung konkrete Tatsachen dafür vorgelegen, dass das mit der Auflage untersagte Verhalten, sofern es nicht im Vorfeld unterbunden würde, durch die Versammlungsteilnehmer im Rahmen der Versammlung seine Wiederholung finde, obgleich bereits gerichtlich im Verfahren VG Gelsenkirchen - 14 L 1456/19 - durch Beschluss vom 20. September 2019 und mit Beschluss des OVG NRW vom 20. September 2019 - 15 B 1298/19 ‑ festgestellt worden sei, dass eben dieses Verhalten in Verbindung mit der Art und Weise der Durchführung einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung zu begründen vermag.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der Bewertung des Verwaltungsgerichts zum damaligen Entscheidungszeitpunkt der Versammlungsbestätigung sei daher einzig durch die gegenständliche Auflage der Schutz der öffentlichen Ordnung zu sichern gewesen. Die Gefahr der Wiederholung habe sich hinsichtlich des Klägers bzw. aus seiner Funktion als Versammlungsleiter sowie der zu erwartenden Versammlungsteilnehmer und der hiermit verbundenen Überschneidungen der Teilnehmerkreise zu den vorhergehenden Versammlungskonstellationen als hinreichend wahrscheinlich dargestellt. Insoweit sei zu erwarten gewesen, dass nicht nur erneut die inhaltliche Wiedergabe der Parole sondern vielmehr auch angesichts des Versammlungsortes am X.-platz die die Parole begleitenden Umstände auftreten würden.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vor dem Hintergrund des näher beschriebenen tatsächlichen Verhaltens der rechten Szene in E. –E1. erscheine es fernliegend, dass der Durchschnittliche E. -Bürger mit der Begrifflichkeit nichts anfangen könne.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Auflage, ein bewusst machtdominierendes Verhalten in Form des Skandierens der Parole sowie der Zurschaustellung auf Bannern und Transparenten zu untersagen, sei auch ermessensfehlerfrei und insbesondere verhältnismäßig. Sie sei geeignet ein Klima der Einschüchterung zu verhindern und unbeteiligte Dritte vor provokativen und aggressiven Wirkungen zu schützen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Sie sei auch erforderlich gewesen, da ein Verhindern der oben dargestellten Verhaltensweise nicht mit milderen Mitteln zu erreichen gewesen sei. Insbesondere sei es nicht zumutbar, einen Verstoß abzuwarten. Denn hinsichtlich einer möglichen Auflösung gegenüber dem präventiven Verbot könne darauf verwiesen werden, dass diese nicht gleich geeignet sei, um einer irreparablen Verwirklichung der Gefahrensituation zu begegnen. Anderenfalls liefe die Versammlungsbehörde stets sehenden Auges in eine sich ergebende Gefahr für die öffentliche Ordnung.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Versammlungsteilnehmer seien allein hinsichtlich der in der Auflage benannten Formulierung beschränkt worden. Die darüber hinaus bestehenden, generellen versammlungstypischen Formen gemeinsamer Meinungskundgabe, wie dem lauten gemeinsamen Rufen oder Skandieren sowie der Verwendung von Transparenten oder Flugblättern seien hierdurch nicht berührt. Dies gelte erst recht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Motto der hier gegenständlichen Versammlung „Heraus zum Tag der Arbeit“ keinen Bezug zu der untersagten Form der Parole aufweise.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten auch des Verfahrens ‑ 14 L 618/21 ‑ einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte Heft 1 zu 14 L 618/21).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO als Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft und im Übrigen auch zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist klagebefugt.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Zwar wurde die streitgegenständliche Versammlung durch ihn für den Landesverband der Partei „Die Rechte“ als Veranstalter angemeldet und die Versammlungsbestätigung an den Landesverband der Partei „z.Hd. Herrn E2. “ adressiert, während er die Klage offenbar als „Privatperson“, ohne Bezug zu seiner Funktion als Vertreter der Partei und nicht in deren Namen erhoben hat.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Als förmlicher Nichtadressat kommt es insoweit darauf an, ob subjektive Rechte oder zumindest anderweitig geschützte Interessen des Klägers verletzt sein können.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 21. Januar 1993 -4 B 206.92, m.w.N., juris.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Eine Klagebefugnis ist nur dann zu verneinen, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger behaupteten Rechte bestehen oder ihm zustehen können.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1963 ‑ V C 219.62 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran ist von einer Klagebefugnis auszugehen. Denn abgesehen davon, dass der Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid den Landesverband der Partei „Die Rechte“ ausdrücklich als Veranstalter benannt hat, hat er diesen Bescheid dem die Anmeldung durchführenden Landesvorsitzenden der Partei ‑ dem Kläger - unter dessen Privatanschrift als Anmelder und in seiner Eigenschaft als Versammlungsleiter, auf den der Veranstalter das Leitungsrecht gem. § 7 des Versammlungsgesetzes des Bundes (VersG), das bis zum Inkrafttreten des nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes am 18. Dezember 2021 und damit im Erlasszeitpunkt der Maßnahme gültig war, übertragen hatte, übersandt. Im Rahmen dieser Funktion war der Kläger zumindest „Inhaltsadressat“,</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu auch Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein - Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 9. Juni 2005 ‑ 9 A 1150/03 ‑. juris, Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Juli 2018 ‑ 2 S 1228/18 ‑, juris,</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">der als verantwortlicher Versammlungsleiter im Rahmen der §§ 8, 10, 11 VersG u.a. zur Bekanntgabe der Auflagen in Anspruch genommen und von dem als verantwortlichen Leiter auch eine Kontrolle der Einhaltung der Auflagen mit einem Einschreiten bis hin zur Auflösung der Versammlung abverlangt wurde. Insoweit war der Bescheid mit der in diesem Verfahren allein streitigen Auflage auch an den Kläger gerichtet,</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">vgl. zur Rolle des Versammlungsleiters und seiner Klagebefugnis Bayerischer VGH, Urteil vom 10. Juli 2018 ‑ 10 BV 17.2405 ‑ , BayVBl. 2019, 20 f., VG Leipzig, Urteil vom 17. Juni 2016 ‑ 1 K 259/12‑ , juris, VG Karlsruhe, Urteil vom 14. Mai 2020 ‑ 3 K 5923/18 ‑, juris,</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">der sich neben Veranstalter und Teilnehmern grundsätzlich auf das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen kann.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. Dieter/Ginztel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Aufl., § 8 Rdnr. 6.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Dass der Kläger insoweit (auch) als Leiter der von ihm angemeldeten Versammlung durch die streitgegenständliche Auflage in seinen Rechtspositionen verletzt sein könnte, erscheint mithin nicht unmöglich und der Kläger hat im Rechtsstaat einen Anspruch darauf, dass er in seinen Rechten nur durch Akte beeinträchtigt wird, die mit dem geltenden Recht in Einklang stehen.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19. November 2021 ‑ 14 K 1638/15 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Es besteht für die Fortsetzungsfeststellungsklage auch unabhängig von der Frage, ob angesichts des Inkrafttretens des Versammlungsgesetzes des Landes NRW eine Wiederholungsgefahr für eine auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gerichtete Auflage noch möglich ist, ein berechtigtes Interesse Klägers. Das erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers ist vorliegend bereits aufgrund der Möglichkeit einer kurzfristig erledigten, aber schwerwiegenden Beeinträchtigung der in Art. 8 des Grundgesetzes - GG - garantierten Versammlungsfreiheit gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">In versammlungsrechtlichen Verfahren sind die Anforderungen an das Fortsetzungsfeststellungsinteresse unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Versammlungsfreiheit anzuwenden. Zwar begründet nicht jeder Eingriff in die Versammlungsfreiheit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Beurteilung, ob der Kläger sich auf ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines in tatsächlicher Hinsicht bereits überholten Grundrechtseingriffs berufen kann, erfolgt im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG. Diese Norm enthält ein Grundrecht auf wirksamen und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. An das für die Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliche Rechtsschutzinteresse dürfen deshalb keine aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Anforderungen gestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 8. Februar 2011 ‑ 1 BvR 1946/06 ‑, juris; Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77 und juris.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">In versammlungsrechtlichen Verfahren sind bei der Beurteilung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses die Besonderheiten des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen. Auch hier begründet nicht jeder Eingriff ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit. Ein solches Interesse besteht aber insbesondere dann, wenn die angegriffene Maßnahme die Versammlungsfreiheit schwer beeinträchtigt.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77 und juris.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gerade auch in den Fällen gewichtiger Grundrechtseingriffe, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass ein vorheriger Rechtsschutz in der Hauptsache regelmäßig nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung gebietet.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77 und juris; Beschluss vom 5. Dezember 2001 ‑ 2 BvR 527/99 ‑, BVerfGE 104, 220 und juris; BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 ‑ 8 C 20/12 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist ein Forstsetzungsfeststellungsinteresse nicht nur dann anzunehmen, wenn eine Versammlung verboten oder aufgelöst wurde sondern ebenso zu bejahen, wenn die Versammlung zwar durchgeführt werden konnte, aber infolge von versammlungsbehördlichen Auflagen gemäß § 15 Abs. 1 VersG nur in einer Weise, die ihren spezifischen Charakter verändert, insbesondere die Verwirklichung ihres kommunikativen Anliegens wesentlich erschwert hat. Demgegenüber ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht begründet, wenn die Abweichungen bloße Modalitäten der Versammlungsdurchführung betroffen haben.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 ‑ 1 BvR 461/03 ‑, BVerfGE 110, 77 und juris.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Für die Frage, ob ein Feststellungsinteresse besteht, kommt es nicht darauf an, ob diese Beschränkung der Versammlung rechtmäßig war, oder nicht, dies ist eine Frage der Begründetheit der Klage.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Das streitgegenständliche Verbot jeglicher sprachlichen Verwendung der Parole „E. –E1. Nazi-Kiez“ auf Transparenten, Fahnen, Plakaten oder anderen Gegenständen sowie das Skandieren und jede andere sprachliche Verwendung dieses Begriffes, ist grundsätzlich dazu geeignet die Verwirklichung des kommunikativen Anliegens der von dem Kläger geleiteten Versammlung wesentlich zu erschweren.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Das angemeldete Versammlungsmotto „Heraus zum Tag der Arbeit“ hat zwar keinen unmittelbaren Bezug zu der untersagten Verwendung der streitgegenständlichen Parole. Wie sich aber aus der Begründung der Auflage Nr. 4 ergibt, geht der Beklagte jedoch davon aus, dass die Parole Ausdruck eines wesentlichen Kommunikationsanliegens der Versammlung sei. Sie diene der Raumergreifungsstrategie der Partei „Die Rechte“ und der gezielten Schaffung eines Angstraumes im Stadtteil E1. . Die Teilnehmer der Versammlung verfolgten danach das Ziel, die „nationale Kontrolle“ über diesen Stadtteil zu gewinnen, deshalb sei zu erwarten gewesen, dass diese Parole im Laufe der Versammlung verwendet werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von den Zweifeln hinsichtlich seiner Bestimmtheit begegnet die Reichweite des Verwendungsverbots Bedenken hinsichtlich seiner Verhältnismäßigkeit. Die Reichweite des Verbots war durch den Zusatz „und jede andere sprachliche Verwendung dieses Begriffes“ nicht konkret festgelegt. Es ließ sich für den Kläger jedenfalls nicht ohne weiteres überblicken wie weit dieses „globale“ Verwendungsverbot reichen soll. Dies machte er in der mündlichen Verhandlung plastisch deutlich, indem er darauf hinwies, dass nicht einmal ein inhaltliches Abrücken von dieser Parole in Redebeiträgen möglich sei, wenn das Verbot wörtlich genommen werde.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Ein nachträglicher Rechtsschutz im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage ist zudem auch deshalb geboten, weil sich die streitgegenständliche Beschränkung, welche dem Kläger mit der Versammlungsbestätigung vom 30. April 2021 bekanntgegeben wurde, bereits mit Ablauf der Versammlung am darauffolgenden Tag erledigte und ein vorheriger Rechtsschutz in der Hauptsache damit nicht zu erreichen war.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Das Feststellungsinteresse ist nicht dadurch entfallen, dass der Kläger die Klage erst am 24. September 2021, über vier Monate nach dem Erhalt der streitgegenständlichen Verfügung erhoben hat.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Erledigung der streitgegenständlichen Auflage trat mit dem Ende der Versammlung am 1. Mai 2021, also vor der Klageerhebung ein.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Zwar war der Auflagenbescheid vom 30. April 2021 mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen. Diese setzte jedoch die Klagefrist des § 74 VwGO nicht in Gang, denn im Text der Belehrung wird für den Beginn der Frist auf die Zustellung des Bescheides abgestellt. Dieser wurde dem Kläger jedoch lediglich per E-Mail bekannt gegeben, so dass die Klagefrist nie zu laufen begann.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Es kann deshalb vorliegend dahinstehen, ob das Feststellungsinteresse aufgrund des Grundsatzes, dass alleine die Erledigung eine unzulässige Anfechtungsklage nicht in eine zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage verwandeln kann, aufgrund des Ablaufs der einmonatigen Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO entfallen könnte. Ebenso kann offen bleiben, ob das Feststellungsinteresse entsprechend dem Grundsatz des § 58 Abs. 2 VwGO nach mehr als einem Jahr entfallen kann, denn die Klage wurde innerhalb von knapp fünf Monaten nach der Bekanntgabe erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist begründet, soweit sie die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Zusatzes „und jede andere sprachliche Verwendung dieses Begriffes [ist] untersagt“ verfolgt. Soweit die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untersagung der Parole „E. –E1. Nazi-Kiez“ Gegenstand des Feststellungsbegehrens ist, ist die Klage unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die angegriffene Auflage war § 15 Abs. 1 VersG. Nach der Vorschrift kann die zuständige Behörde die Durchführung einer Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte stellt hinsichtlich des Verbots der Parole „E. -E4. Nazi-Kiez“ auf die in der Verwendung dieses Begriffs gründende Gefahr für die öffentliche Ordnung ab.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Dabei wird in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 2001 ‑ 1 BvQ 17/01 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Für den Begriff der öffentlichen Ordnung ist demgegenüber kennzeichnend, dass er auf ungeschriebene Regeln verweist, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2007 ‑ 1 BvR 2793/04 ‑, NVwZ 2008, 671.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Soweit Beschränkungen mit dem Inhalt der während der Versammlung zu erwartenden Meinungsäußerungen begründet werden, ist die besondere Gewährleistung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG zu berücksichtigen. Der Inhalt von Meinungsäußerungen, der im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG nicht unterbunden werden darf, kann auch nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden, die das Grundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG beschränken. Die Vorschrift des § 15 Abs. 1 VersG dient zwar dem Schutz schlechthin geschützter Rechtsgüter unabhängig davon, ob sie durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise gefährdet werden. Der Inhalt von Meinungsäußerungen als solcher ist versammlungsrechtlich aber nur relevant, wenn es sich um Äußerungen handelt, die einen Straftatbestand erfüllen. Werden die entsprechenden Strafgesetze missachtet, liegt darin eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit, die durch die Ordnungsbehörden abgewehrt werden kann, und zwar auch mit Auswirkungen auf Versammlungen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Wertloyalität aber nicht. Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ist ebenso erlaubt wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Zudem bedarf § 15 Abs. 1 VersG wegen der Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG einer einschränkenden Auslegung dahingehend, dass eine Gefahr für die öffentliche Ordnung als Grundlage beschränkender Verfügungen ausscheidet, soweit sie im Inhalt von Äußerungen gesehen wird.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2007, ‑ 1 BvR 2793/04 ‑, NVwZ 2008, 671 und Beschluss vom 23. Juni 2004 ‑ 1BvQ 19/04 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Beschränkende Verfügungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung sind verfassungsrechtlich nur dann unbedenklich, als sich die in § 15 Abs. 1 VersG vorausgesetzte Gefahr nicht aus dem Inhalt der Äußerung, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung ergibt. Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung infolge der Art und Weise der Durchführung einer Versammlung kann beispielsweise bei einer aggressiven und provokativen, die Bürger einschüchternden Verhalten der Versammlungsteilnehmer bestehen, durch das ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugt wird. Ein entsprechender Anlass kann ferner gegeben sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust dienenden Feiertag so durchführen, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen. Gleiches gilt, wenn ein Aufzug sich durch sein Gesamtgepräge mit den Riten und Symbolen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft identifiziert und durch Wachrufen der Schrecken des vergangenen totalitären und unmenschlichen Regimes andere Bürger einschüchtert.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2007, ‑ 1 BvR 2793/04 ‑, NVwZ 2008, 671 und Beschluss vom 23. Juni 2004 ‑ 1BvQ 19/04 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die für eine beschränkende Verfügung notwendige unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung setzt dabei eine Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen führt. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde bei dem Erlass von vorbeugenden Verfügungen aber keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Es müssen zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung erkennbare Umstände vorliegen, aus denen sich die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ergibt. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2007, ‑ 1 BvR 2793/04 ‑, NVwZ 2008, 671.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Zwar betrifft das Verbot der Parole „E. –E1. Nazi Kiez“ in seinem Kern eine Meinungsäußerung, die - auch nach der Auffassung des Beklagten - die Grenzen der Strafbarkeit nicht überschreitet.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vorliegend treten neben die bloße Meinungsäußerung jedoch äußere Umstände hinzu, welche dazu geeignet sind, bei der Äußerung dieser Parole, sei es durch das skandieren aus der Versammlung heraus oder in schriftlicher Form auf Plakaten, Transparenten, etc., eine Gefahr für die öffentliche Ordnung zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Es ist namentlich zu berücksichtigen, dass die Versammlung auf dem X.-platz stattfand. Der Beklagte hat tatsachengestützt belegt, dass es sich bei diesem Platz um einen Raum handelt, der in besonderer Weise durch Angehörige der rechten Szene und namentlich durch Mitglieder der Partei „Die Rechte“, darunter auch der Kläger, im Zusammenhang mit dem sogenannten „Raumkampf“ exklusiv „für sich“ beansprucht wird.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Die Gefahrenprognose des Beklagten stützte sich nicht ausschließlich auf die Verwendung versammlungstypischer Ausdrucksformen. Insofern ist zu beachten, dass es mit der Bedeutung der Versammlungsfreiheit unvereinbar wäre, bereits aus den versammlungstypischen Formen gemeinsamer Meinungskundgabe, wie dem lauten gemeinsamen Rufen oder Skandieren sowie der Verwendung von Transparenten oder Flugblättern, jene versammlungsspezifischen Wirkungen ableiten zu wollen, die zu der bloßen Äußerung bestimmter Meinungsinhalte hinzutreten müssen, um Beschränkungen der Versammlungsfreiheit unter Berufung auf die öffentliche Ordnung zu rechtfertigen.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2007 ‑ 1 BvR 2793/04 ‑, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19. November 2021 ‑ 14 K 6634/18 ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat in der Begründung der hier streitgegenständlichen Auflage maßgeblich weder auf diese versammlungstypischen Verhaltensweisen noch allein auf den - nicht strafbaren - Inhalt der Parole abgestellt, sondern diese in den Zusammenhang mit der Örtlichkeit des X.-platzes in E. E1. und der daraus folgenden Wirkung auf die Bevölkerung dieses Stadtteile und der unmittelbaren Umgebung des X.-platzes gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Die Kammer folgt der Einschätzung, dass die hier allein streitgegenständliche Parole überwiegend unmittelbar auf die Ideologie und Herrschaft des Nationalsozialismus Bezug nimmt. Der Gesamtkontext, in dem die ausdrücklich untersagte Parole verwendet worden wäre, hätte der Versammlung ein Gepräge gegeben, welches darauf gerichtet und jedenfalls geeignet wäre, von anderen Bürgern als Herrschaftsanspruch und Geltung dieser Ideologie und seiner Normen auch speziell für den Bereich des X.-platzes in E1. verstanden zu werden mit der Folge, Andersdenkende einzuschüchtern und auszuschließen. In jener Parole kommt der auch territoriale Dominanzanspruch der Klägerin verbunden mit der Negation des staatlichen Gewaltmonopols für das von ihr - jedenfalls auch ‑ als Nazi-Kiez bezeichnete Gebiet in E. E1. zum Ausdruck.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 20. September 2019 ‑ 14 L 1456/19 ‑, juris</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Soweit die Kammer in ihrem Urteil vom heutigen Tage im Verfahren 14 K 4257/19 an dem oben genannten Beschluss nicht mehr festhält, sei zur Klarstellung angemerkt, dass dies lediglich das in dem oben genannten Klageverfahren allein streitgegenständliche Verbot von Umgehungsformulierungen betrifft. Dieses ist vorliegend nicht Streitgegenstand.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass der Kläger in der Klagebegründung und in der mündlichen Verhandlung die von dem Beklagten beschriebenen Verhaltensweisen auf dem X.-platz gegenüber Personen mit Migrationshintergrund oder einer offen zu erkennenden anderen politischen Auffassung bestritten bzw. relativiert hat, ist nicht geeignet, die Kammer davon zu überzeugen, dass die in der Begründung der Verfügung des Beklagten dargestellten Intentionen der Parole „E. –E1. Nazi Kiez“ unzutreffend wären. Bei diesem Vortrag handelt sich vielmehr offensichtlich um verfahrensangepasste Ausflüchte.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Die Verwendung der konkret untersagten Parole „E. –E1. Nazi Kiez“ bei einer Kundgebung unmittelbar auf dem X.-platz und in dessen näheren Umgebung stellt daher einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung dar.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Da die Parole bei vorhergehenden Versammlungen der Anmelderin unabhängig vom Thema der Versammlung bereits Verwendung fand und gelegentlich dieser Versammlungen, namentlich bei einer Versammlung am 12. September 2019, seitens Vertretern der Partei „Die Rechte“ deutlich gemacht wurde, diese Parole auch künftig verwenden zu wollen, durfte der Beklagte insbesondere angesichts des Versammlungsortes davon ausgehen, dass dies auch bei der hier streitgegenständlichen Versammlung der Fall sein würde.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Die Untersagung der Parole durch den Beklagten stellt sich auch als ermessensfehlerfrei und verhältnismäßig dar.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Da im hier allein zu entscheidenden konkreten Fall aufgrund der oben dargestellten Gesamtumstände bereits im Vorfeld der Versammlung die Gefahr für die öffentliche Ordnung hinreichend sicher zu erwarten war, ist es nicht zu beanstanden, dass der Beklagte ihr bereits in der Versammlungsbestätigung mit einer Auflage begegnete.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Ob die Verwendung dieser Parole an einem anderen Ort innerhalb oder außerhalb E. einer Versammlung ein solches, einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung begründendes Gepräge geben könnte, welches ein präventives Verbot der Parole rechtfertigen könnte, kann vorliegend offen gelassen werden. Streitgegenstand dieses Verfahrens ist allein die Untersagung der Parole in der Versammlungsbestätigung vom 30. April 2021 für den Bereich des X.-platzes.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Ohne dass es vorliegend darauf ankommt, geht die Kammer jedoch davon aus, dass die einschüchternde Wirkung dieser Parole und damit die Gefahr für die öffentliche Ordnung, mit zunehmender Entfernung von E. –E1. , möglicherweise sogar bis hin zur Bedeutungslosigkeit der in ihr zu sehenden Meinungsäußerung, abnimmt.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat allerdings Erfolg, soweit mit ihr die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untersagung jeder anderen sprachlichen Verwendung dieses Begriffes untersagt wird.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Die Auflage begegnet insoweit bereits Bedenken hinsichtlich ihrer Bestimmtheit. Vorliegend sind aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz der von der Auflage betroffenen Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit erhöhte Anforderungen an deren Bestimmtheit zu stellen. Ein versammlungsrechtliches Verbot von Parolen genügt nur dann dem in § 37 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) normierten Bestimmtheitsgrundsatz, wenn die untersagte Formulierung nicht bloß generalisierend, sondern konkret festgelegt wird.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Verbot von „Umgehungsformulierungen“ Urteil der Kammer vom heutigen Tage, 14 K 4257/19, m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Das Verbot „jedweder sprachlichen Verwendung“ geht trotz dessen eindeutig zu erkennenden Zwecks aufgrund der Kontextgebundenheit einer „sprachlichen Verwendung“, auch unter Heranziehung der Begründung der Verfügung im Rahmen einer Auslegung, mit erheblicher Unklarheit einher, welches die zu unterlassenden Äußerungen sind. Es sind vielerlei Grenzfälle denkbar, in denen sich die mit dem generalisierenden Verbot offen gelassene Subsumtion unter den Begriff der „sprachlichen Verwendung“ durchaus in die eine wie auch in die andere Richtung entscheiden ließe. Diese Entscheidung darf in der Verbotsverfügung jedoch nicht offengelassen werden. Denn für die Adressaten des Verbots würde anderenfalls nicht hinreichend klar, welches im Einzelnen die zu unterlassenden Äußerungen sind. Dies birgt jedenfalls abstrakt die Gefahr, dass die Adressaten zur Vermeidung unklarer Zweifelsfälle von dem Gebrauch der Meinungsfreiheit über Gebühr absehen.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Das Verbot jedweder sprachlicher Verwendung der Parole „E. –E1. Nazi Kiez“ stellt sich unabhängig von den Zweifeln an dessen Reichweite jedenfalls als unverhältnismäßig dar.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Zwar ist im vorliegenden Fall die Untersagung der Parole „E. –E1. Nazi Kiez“ im Rahmen der versammlungstypischen Verhaltensweisen, etwa durch Rufen oder auf Transparenten, rechtmäßig. Die Untersagung „jeder sprachlichen Verwendung“ geht jedoch weit darüber hinaus. Sie erfasst nämlich auch paraphrasierende Wiedergaben, etwa im Rahmen einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Verbot oder auch mit der Parole selbst, die aufgrund des Kontextes in dem sie stehen, den Zweck des Verbots, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu verhindern, nicht tangieren.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Dadurch beschränkt sich die Auflage allein auf die - nicht strafbewehrte - inhaltliche Äußerung, ohne die äußeren Umstände in die Betrachtung mit einzubeziehen. Dies ist - wie oben bereits dargelegt - keine taugliche Grundlage für eine auf die Gefahr für die öffentliche Ordnung gestützte versammlungsrechtliche Auflage.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Sie verletzt daher die Rechte des Klägers, der als Versammlungsleiter diese Auflage gegebenenfalls durchzusetzen hätte.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
|
346,200 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-07-19-12-b-1722 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
"slug": "vg-schleswig-holsteinisches",
"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 12 B 17/22 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-08-17T10:00:22 | 2022-10-17T17:56:00 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0719.12B17.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme derjenigen der Beigeladenen, die diese selbst tragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 18.126,84 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag des Antragstellers,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu untersagen, die gem. Stellenausschreibung vom 21. April 2021 für das ...-...-... in ... vorgesehenen Beförderungsstellen nach Bes.Gr. A 14 mit anderen Bewerbern zu besetzen, bis über seine Bewerbung bestandskräftig entschieden ist</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>1. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Antragsteller hat Tatsachen glaubhaft zu machen, aus denen sich ergibt, dass ihm ein Anspruch, ein Recht oder sonstiges schützenswertes Interesse zusteht (Anordnungsanspruch) und ferner, dass dieser Anordnungsanspruch infolge einer Gefährdung durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss, somit eine Eilbedürftigkeit besteht (Anordnungsgrund); vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>2. Der Antragsteller hat zwar den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Bewerber, der unter Beachtung des sich aus Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ergebenden Bewerbungsverfahrensanspruchs ausgewählt wurde, hat einen Anspruch auf die Verleihung des Amtes durch seine Ernennung. Die Bewerbungsverfahrensansprüche der unterlegenen Bewerber gehen durch die Ernennung unter, wenn das Auswahlverfahren hierdurch endgültig abgeschlossen wird. Dies ist regelmäßig der Fall, weil die Ernennung nach dem Grundsatz der Ämterstabilität nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. November 2010, Az. 2 C 16.09, Rn. 27, juris). Der Antragsgegner beabsichtigt, die Beigeladenen zu befördern. Dies hätte nach den aufgezeigten Grundsätzen zur Folge, dass der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers durch die Ernennung der Beigeladenen unterginge. Insoweit kann er nur im Wege der einstweiligen Anordnung sicherstellen, dass sein Anspruch auf eine rechtsfehlerfreie Auswahlentscheidung vorläufig gewahrt bleibt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>3. Der Antragsteller hat indes einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Entscheidung des Antragsgegners, den Antragsteller im Ergebnis nicht auszuwählen, verletzt nicht dessen Bewerbungsverfahrensanspruch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass Auswahlentscheidungen als Akt wertender Erkenntnis lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien (Verwaltungsvorschriften) verstoßen hat (BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2003, Az. 2 A 1.02, Rn. 11; OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 26, beide juris). Erweist sich anhand dieses Maßstabs die Auswahlentscheidung als fehlerhaft und lässt sich nicht ausschließen, dass der jeweilige Antragsteller bei einer erneuten Auswahlentscheidung zum Zuge kommt, erscheint eine Auswahl des jeweiligen Antragstellers also jedenfalls möglich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. September 2002, Az. 2 BvR 857/02, Rn. 11 ff.; BVerwG, Urteil vom 4. November 2010, Az. 2 C 16.09, Rn. 32; OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 26, alle juris), hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg. Dabei darf das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Prüfungsmaßstab, -umfang und -tiefe nicht hinter einem Hauptsacheverfahren zurückbleiben (BVerwG, Urteil vom 4. November 2010, Az. 2 C 16.09, Rn. 32, juris). Das bedeutet, dass sich die Verwaltungsgerichte nicht auf eine wie auch immer geartete summarische Prüfung beschränken dürfen, sondern eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Bewerberauswahl vornehmen müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>b) Der im Streitfall zu beachtende rechtliche Rahmen ergibt sich aus Art. 33 Abs. 2 GG. Nach der Rechtsprechung folgt aus Art. 33 Abs. 2 GG ein Bewerbungsverfahrensanspruch, der dem Bewerber um ein öffentliches Amt ein grundrechtsgleiches Recht auf leistungsgerechte Einbeziehung nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung in die Bewerberauswahl gibt; die Bewerbung darf nur aus Gründen abgelehnt werden, die durch Art. 33 Abs. 2 GG gedeckt sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2005, Az. 2 C 37.04, Rn. 18 f., juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>c) Der Vergleich der Bewerber im Rahmen einer Auswahlentscheidung hat vor allem anhand dienstlicher Beurteilungen zu erfolgen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2011, Az. 2 BvR 764/11, Rn. 11; BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2016, Az. 2 BvR 2223/15, Rn. 70, beide juris). Der Leistungsvergleich der Bewerber muss anhand aussagekräftiger, d.h. aktueller, hinreichend differenzierter und auf gleichen Bewertungsmaßstäben beruhender dienstlicher Beurteilungen vorgenommen werden. Maßgebend ist in erster Linie das abschließende Gesamturteil (Gesamtnote), das durch eine Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte zu bilden ist (BVerwG, Beschluss vom 22. November 2012, Az. 2 VR 5.12, Rn. 25; OVG Lüneburg, Beschluss vom 21. Dezember 2016, Az. 5 ME 151/16, Rn. 9, beide juris). Insbesondere bei der Gewichtung der leistungsbezogenen Kriterien, d.h. der Bestimmung ihrer Bedeutung für das Gesamturteil, entfaltet sich der Beurteilungsspielraum des Dienstherrn.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>d) Aus diesem Grund sind die Beigeladenen D. und E. bereits als besser geeignet anzusehen. Während der Antragsteller mit „Die Anforderungen werden voll erfüllt“ beurteilt wurde, wurden die Beigeladenen D. und E. mit dem Gesamturteil „Die Anforderungen werden übertroffen" beurteilt. Daher waren sie aus diesem Grunde bereits auszuwählen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>e) Für den Antragsteller sowie den Beigeladenen F. und zwei weitere Bewerber, die alle insgesamt mit „Die Anforderungen werden voll erfüllt" beurteilt sind, erfolgte im nächsten Schritt eine ausschärfende Betrachtung der dienstlichen Beurteilungen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Diese Vorgehensweise entspricht den Auswahlgrundsätzen des Antragsgegners, welche im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung stehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Sind Bewerber mit dem gleichen Gesamturteil bewertet worden, muss der Dienstherr zunächst die Beurteilungen unter Anlegung gleicher Maßstäbe umfassend inhaltlich auswerten und Differenzierungen in der Bewertung einzelner Leistungskriterien oder in der verbalen Gesamtwürdigung zur Kenntnis nehmen (BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 2014, Az. 2 VR 1.14, Rn. 35; BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2011, Az. 2 C 19.10, Rn. 17; BVerwG, Beschluss vom 22. November 2012, Az. 2 VR 5.12, Rn. 26; BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2013, Az. 2 VR 1.13, Rn. 46, alle juris). Der Dienstherr ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, vorrangig vor einem Rückgriff auf ältere (nicht unmittelbar den aktuellen Qualifikationsstand widerspiegelnde) Beurteilungen, den weiteren Inhalt der maßgeblichen aktuellen Beurteilungen daraufhin zu würdigen, ob sich aus ihm Anhaltspunkte für einen Qualifikationsvorsprung eines der Bewerber gewinnen lassen (BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 2014, Az. 2 VR 1.14, Rn. 35; OVG Lüneburg, Beschluss vom 21. Dezember 2016, Az. 5 ME 151/16, Rn. 16, beide juris). Dabei unterliegt die Entscheidung des Dienstherrn, welches Gewicht er den einzelnen Gesichtspunkten für das abschließende Gesamturteil und für die Auswahl zwischen im Wesentlichen gleich geeigneten Bewerbern beimisst, nur einer eingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung (BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 2014, Az. 2 VR 1.14, Rn. 36; BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2013, Az. 2 VR 1.13, Rn. 48, beide juris). Sind die Bewerber auch nach der umfassenden inhaltlichen Auswertung der aktuellen dienstlichen Beurteilungen („ausschärfende Betrachtung“) als im Wesentlichen gleich geeignet einzustufen, kann die zuständige Behörde auf andere leistungsbezogene Gesichtspunkte abstellen. So kann sie zum Beispiel der dienstlichen Erfahrung, der Verwendungsbreite oder der Leistungsentwicklung, wie sie sich aus dem Vergleich der aktuellen mit früheren dienstlichen Beurteilungen ergibt, Vorrang einräumen (BVerwG, Beschluss vom 22. November 2012, Az. 2 VR 5.12, Rn. 25, 37, juris). Es ist aber auch nicht zu beanstanden, auf das leistungsbezogene Erkenntnismittel eines so genannten strukturierten Auswahlgesprächs zurückzugreifen (BVerwG, Beschluss vom 27. April 2010, Az. 1 WB 39.09, Rn. 39; OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 28, beide juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Der Dienstherr ist nach der Rechtsprechung daher sogar verpflichtet, vor Durchführung eines strukturierten Auswahlgesprächs eine ausschärfende Betrachtung vorzunehmen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 30; OVG Lüneburg, Beschluss vom 21. Dezember 2016, Az. 5 ME 151/16, Rn. 20, beide juris). Wenn der Dienstherr also eine ausschärfende Betrachtung der dienstlichen Beurteilungen der Bewerber vornimmt und insoweit einen Leistungsvorsprung einer der Bewerber ermittelt, überprüfen die Verwaltungsgerichte mit Blick auf den dem Dienstherrn bei Auswahlentscheidungen zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielraum nur, ob diese Einschätzung plausibel, nicht aber, ob sie „inhaltlich richtig“ ist. Es liegt im Auswahlermessen der zuständigen Behörde, welche Einzelmerkmale einer dienstlichen Beurteilung sie überhaupt oder in besonderem Maße zur Bewertung der Eignung der Bewerber für das Beförderungsamt heranzieht (OVG Lüneburg, Beschluss vom 21. Dezember 2016, Az. 5 ME 151/16, Rn. 22, juris). Der Dienstherr kann schon bei einer − aus seiner Sicht − lediglich geringfügig besseren Bewertung einzelner Einzelleistungsmerkmale („Nuance“) einen Leistungsvorsprung des betreffenden Bewerbers annehmen. Ob er dies tut oder ob er darauf abhebt, es liege nach der ausschärfenden Betrachtung zweier nach dem Gesamturteil wesentlich gleicher dienstlicher Beurteilungen zwar ein leichter Vorsprung eines Bewerbers vor, dieser werde aber nicht als maßgeblich angesehen, liegt in seinem Ermessen und hängt u. a. auch davon ab, ob er einem bestimmten Kriterium des Anforderungsprofils ein besonderes Gewicht beimisst (OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 37, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Aus Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG folgt jedoch die Verpflichtung des Dienstherrn, die wesentlichen Auswahlerwägungen in den Akten schriftlich niederzulegen (BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 2007, Az. 2 BvR 206/07, Rn. 20; BVerfG, Beschluss vom 25. November 2011, Az. 2 BvR 2305/11, Rn. 12; BVerwG, Beschluss vom 26. März 2015, Az. 1 WB 26.14, Rn. 37; OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 34, alle juris). Nur durch eine schriftliche Fixierung der wesentlichen Auswahlerwägungen, deren Kenntnis sich der unterlegene Bewerber ggf. durch Akteneinsicht verschaffen kann, wird eine sachgerechte Kontrolle durch den Mitbewerber und ggf. durch das Gericht ermöglicht. Da es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Auswahlentscheidung regelmäßig auf den Zeitpunkt der Bewerberauswahl ankommt, überprüfen die Verwaltungsgerichte die Erwägungen des Dienstherrn hinsichtlich der Eignung der Kandidaten, wie sie zum Zeitpunkt der Auswahlentscheidung dokumentiert werden (OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 34, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>f) Die ausschärfende Betrachtung führte hier zu dem Ergebnis, dass der Beigeladene F. und ein weiterer Bewerber als besser geeignet beurteilt worden sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Antraggegner hat seine Auswahl in dem Auswahlvermerk (Bl. 230 d. Beiakte B) entsprechend begründet. Nach dem Auswahlvermerk (Bl. 230 d. Beiakte B) hat die ausschärfende Betrachtung ergeben, dass die Beurteilungen von einem der Bewerber und dem Beigeladenen F. einen Leistungsvorsprung bzw. ein insgesamt besseres Leistungsbild ergebe als u.a. die Beurteilung des Antragstellers. Insbesondere sei dieser Leistungsvorsprung im Bereich der Übernahme von besonderen Aufgaben bzw. von Funktionen für die Schule zu sehen, wobei die beiden genannten Lehrkräfte im Beurteilungszeitraum zugleich auch ein höheres Maß an Verantwortung übernommen hätten und dieser Verantwortung auch deutlich gerecht geworden seien. Zudem sei ihr Kooperations- und Konfliktverhalten positiv zu bewerten. Darüber hinaus seien noch weitere Leistungsunterschiede darin zu sehen, dass der andere Bewerber und der Beigeladene F. in den Bereichen „Förderung", „Beratung", „Fortbildungen" insgesamt relativ bessere Leistungen erzielten als der Antragsteller.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Diese Ausführungen sind nachvollziehbar und plausibel. Der Antragsteller erhielt in den einzelnen Kategorien der Leistungsbeurteilung dreimal den Ausprägungsgrad 2 („Die Anforderungen werden im Allgemeinen erfüllt") und ansonsten den Ausprägungsgrad 3 („Die Anforderungen werden voll erfüllt"). In der Befähigungsbeurteilung ist durchgehend der Ausprägungsgrad „normal" verzeichnet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Der ebenfalls zum Auswahlgespräch geladene, jedoch nicht ausgewählte, Bewerber wurde in seinen Leistungen einmal mit „Die Anforderungen werden in besonderem Maße übertroffen" (Ausprägungsgrad 5), elfmal mit „Die Anforderungen werden übertroffen" (Ausprägungsgrad 4) und im Übrigen mit „Die Anforderungen werden voll erfüllt" (Ausprägungsgrad 3) bewertet sowie hinsichtlich der Befähigung viermal mit dem Ausprägungsgrad „stark" und sonst mit dem Ausprägungsgrad „normal".</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Der Beigeladene F. wurde in der Leistungsbeurteilung 17-mal mit „Die Anforderungen werden übertroffen" (Ausprägungsgrad 4) und ansonsten mit „Die Anforderungen werden voll erfüllt" (Ausprägungsgrad 3) bewertet; in der Befähigungsbeurteilung wurde fünfmal der Ausprägungsgrad „stark" und siebenmal der Ausprägungsgrad „normal" festgestellt. Insofern waren die zum Auswahlgespräch geladenen Bewerber dem Antragsteller sowohl in der Leistungsbeurteilung als auch in der Befähigungsbeurteilung deutlich überlegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Dass der Antragsgegner dies im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens anhand der Beurteilungen noch vertiefend ausgeführt hat (vgl. Bl. 77ff. d. GA), ist unschädlich, denn Auswahlerwägungen können − in entsprechender Anwendung des § 114 Satz 2 VwGO − im gerichtlichen Verfahren konkretisiert werden (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2018, Az. 5 ME 104/18, Rn. 34, juris). Es handelt sich nicht um eine vollständige Nachholung oder die Auswechslung der die Auswahlentscheidung tragenden Gründe (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 2008, Az. 1 WB 19.08, Rn. 46, juris).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Sofern es noch auf die besonderen Aufgaben ankommt, sind diese – was der Antragsteller auch nicht bestreitet − umfassend in der Beurteilung dargelegt (Bl. 194, 197 der Beiakte B „Auswahlverfahren“). Welche Wertigkeit diesen Tätigkeiten beigemessen wird, obliegt der Entscheidung des Dienstherrn. Der Antragsgegner hat dies in der Gegenerklärung auch noch weiter erläutert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Der Antragssteller war daher nicht zu den strukturierten Auswahlgesprächen zu laden. Der Rückgriff auf das Auswahlgespräch erfolgte ausschließlich für die beiden Bewerber, deren Leistungen sich auch nach Durchführung einer ausschärfenden Betrachtung als im Wesentlichen gleich darstellten. Entsprechend der Rechtsprechung und der Auswahlgrundsätze (Nr. 2.3) dürfen Auswahlgespräche nur durchgeführt werden, wenn anhand der aktuellen dienstlichen Beurteilungen sowie davorliegender dienstlicher Beurteilungen keine Leistungsdifferenzierung möglich ist. Dies war hier jedoch der Fall.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>g) Der Antragsteller kann hier auch nicht mit seinem Vorbringen durchdringen, dass seine Beurteilung nicht zutreffend sei bzw. seine Leistungen nicht richtig wiedergebe. Eine dienstliche Beurteilung ist wegen der Beurteilungsermächtigung des Dienstherrn nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung zugänglich. Die Verwaltungsgerichte können nur prüfen, ob der Beurteiler einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, ob er den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem er sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob allgemeine Bewertungsmaßstäbe nicht beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt worden sind und ob das vorgeschriebene Verfahren eingehalten ist. Soweit der Dienstherr Richtlinien für die Abfassung der dienstlichen Beurteilung erlassen hat, ist vom Gericht zu prüfen, ob diese Richtlinien eingehalten sind und ob sie mit den gesetzlichen Regelungen in Einklang stehen (st. Rspr., BVerwG, Urteil vom 21. März 2007, Az. 2 C 2.06, Rn. 7; VGH München, Beschluss vom 11. März 2013, Az. 3 ZB 10.602, Rn. 4, beide juris). Verstöße entsprechend der obigen Maßstäbe sind von der Kammer nicht festgestellt worden, insbesondere hat der Antragsgegner Beurteilungsbeiträge eingeholt und diese verwertet. Dass diese aufgrund der untergeordneten Rolle (nur ca. 10 % seiner Unterrichtsverpflichtung und auch nicht für den gesamten Beurteilungszeitraum) nicht zu der gewünschten Aufwertung der Beurteilung geführt haben, ist nicht zu beanstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Sofern der Antragsteller rügt, dass seine Beurteilung zu „gleichmäßig“ sei, kann die Kammer auch darin keinen der oben genannten Fehler erkennen, der zur Rechtswidrigkeit der Beurteilung führt. Sofern der Antragsteller kritisiert, die nummerische Beurteilung decke sich nicht mit der Verbalbeurteilung, folgt die Kammer dieser Einschätzung ebenfalls nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antragsteller die Durchführung des Beförderungsverfahrens bzw. das Zustandekommen der Beurteilungen rügt, dringt er damit ebenfalls nicht durch. Hier mussten die Beurteilungen noch einmal überarbeitet werden, weil – wie der Antragsgegner glaubhaft schildert und durch eine entsprechende Email an den Antragssteller auch belegt (Bl. 88 d. GA) – zuerst veraltete Vordrucke verwendet worden waren. Es war auch richtig, dieses erneut durchzuführen, anderenfalls hätte sich der Antragsgegner im Widerspruch zu seinen eigenen Vorgaben gesetzt, was die Fehlerhaftigkeit der darauf fußenden Beurteilungen zur Folge gehabt hätte. Zudem ist der Schulleiter darauf hingewiesen worden, dass – bevor Auswahlgespräche stattfinden – eine ausschärfende Betrachtung vorzunehmen sei, so dass die ursprünglich fehlerhaften Aussagen dem Antragsteller gegenüber korrigiert werden mussten. Aus einem dann rechtskonformen Auswahlverfahren kann der Antragsteller keine Ansprüche herleiten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs.1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>5. Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs festgesetzt worden.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,052 | lagd-2022-07-19-3-ta-9022 | {
"id": 793,
"name": "Landesarbeitsgericht Düsseldorf",
"slug": "lagd",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Arbeitsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 Ta 90/22 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-08-04T10:00:57 | 2022-10-17T17:55:37 | Beschluss | ECLI:DE:LAGD:2022:0719.3TA90.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>I.Auf die sofortige Beschwerde des Klägers vom 11.02.2022 wird der Rechtswegbeschluss des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 25.01.2022 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 21.03.2022 abgeändert und der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für zulässig erklärt.</p>
<p>II.Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte. </p>
<p>III.Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.155,55 € festgesetzt.</p>
<p>IV.Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">G r ü n d e:</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlungsansprüche für September und Oktober 2021, über einen Schadensersatzanspruch wegen Entzugs der Privatnutzungsmöglichkeit hinsichtlich eines Dienstwagens für den Zeitraum vom 22.10. bis 30.11.2021, über einen Anspruch auf Urlaubsabgeltung für 17 Urlaubstage sowie in diesem Zusammenhang vorab insgesamt über die Zulässigkeit des Rechtsweges zu den Arbeitsgerichten.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der am 20.04.1969 geborene, verheiratete und gegenüber zwei Kindern unterhaltspflichtige Kläger war bei der Beklagten seit dem 01.06.2019 beschäftigt. Zunächst war er als Verkaufsleiter auf der Grundlage eines Anstellungsvertrages vom 22.05.2019 im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses für die Beklagte tätig.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Unter dem 31.08.2020 unterzeichneten der Kläger einerseits und Frau C. als Vertreterin des Gesellschafters der Beklagten andererseits einen Geschäftsführervertrag, wegen dessen Inhalts im Einzelnen auf Blatt 56 ff. der Akte Bezug genommen und der auszugsweise wörtlich wie folgt wiedergegeben wird:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">"I.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Aufgaben und Pflichten</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Geschäftsführer übernimmt ab dem 01. September 2020 die Stellung als Geschäftsführer der Gesellschaft. [...]</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">[...]</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">IV.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Dauer des Vertragsverhältnisses</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Vertrag wird auf unbestimmte Dauer geschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Er kann von jedem Vertragsteil mit einer Frist von 6 (sechs) Monaten zum Ende eines Kalendervierteljahres gekündigt werden, erstmalig zum 31. Dezember 2021.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grunde bleibt für die Gesellschaft und den Geschäftsführer unberührt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Kündigung bedarf der Schriftform.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Nach einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung dieses Vertrages ist die Gesellschaft jederzeit berechtigt, den Geschäftsführer von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung für die Gesellschaft sofort freizustellen. Dies gilt unabhängig davon, welcher Vertragsbeteiligter die ausgesprochen hatte.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Bestellung zum Geschäftsführer kann durch Gesellschafterbeschluss jederzeit und ohne besondere Voraussetzungen widerrufen werden. Dadurch werden die Vergütungsansprüche des Geschäftsführers aus diesem Vertrag nicht berührt. Der Widerruf der Geschäftsführerbestellung gilt als Kündigung dieses Vertrages zum nächstmöglichen Termin.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">[...]</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">V.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Bezüge</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Geschäftsführer erhält als Vergütung für seine Tätigkeit ein festes Jahresgehalt in Höhe von 96.000,- € [...], zahlbar in zwölf gleichen monatlichen Teilbeträgen von 8.000,- € [...] jeweils am Monatsende.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">[...]</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Dem Geschäftsführer wird für seine Tätigkeit im Rahmen dieses Vertrages ein Firmenwagen zur Verfügung gestellt, der auch zu privaten Zwecken genutzt werden darf. Die Steuer auf den geldwerten Vorteil der privaten Nutzung trägt der Geschäftsführer.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">VI.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Urlaub und Nebentätigkeit</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">[...]</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Geschäftsführer erhält 25 Werktage Urlaub. Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr. [...]</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">[...]</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">XI.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Schlussbestimmungen</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">[...]</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Dies gilt auch für eine Aufhebung des Erfordernisses der Schriftform."</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Demgemäß wurde der Kläger zum Geschäftsführer der Beklagten bestellt und als solcher tätig.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 05.07.2021 teilte ihm der Geschäftsführer der Gesellschafterin der Beklagten, Herr Q. W. von der W. Werkzeuge GmbH mit, dass der Kläger mit Gesellschafterbeschluss vom selben Tage mit sofortiger Wirkung als Geschäftsführer abberufen sei. Weiter heißt es in dem Schreiben wörtlich:</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">"Wir setzen Sie ab sofort im Rahmen des nach wie vor bestehenden, da im Rahmen der Geschäftsführerbestellung nicht beendeten Anstellungsvertrags vom 22.05.2019 wieder als Verkaufsleiter ein, jedoch werden Sie weiterhin im Rahmen des Geschäftsführervertrages bezahlt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen erklären wir die Kündigung des Anstellungsvertrages zum 31.12.2021."</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend ist der Kläger fortan wieder für die Beklagte als Verkaufsleiter tätig geworden. In der Zeit ab dem 04.08.2021 bis jedenfalls 26.10.2021 war der Kläger laut Bescheinigung der DAK vom 26.10.2021, wegen deren Inhalts im Übrigen auf Blatt 36 der Akte Bezug genommen wird, arbeitsunfähig erkrankt. Ab dem 22.10.2021 stand ihm der Firmenwagen nicht mehr zur Privatnutzung zur Verfügung.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Mit seiner am 01.10.2021 bei dem Arbeitsgericht Wuppertal eingegangenen und der Beklagten am 09.10.2021 zugestellten sowie nachfolgend mehrfach erweiterten Klage verlangt der Kläger von der Beklagten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für September 2021 in Höhe von 8.000,- € brutto, für die Zeit vom 01. - 23.10.2021 in Höhe von 6.133,33 € brutto, Schadensersatz wegen der Vorenthaltung des Firmenwagen für den Zeitraum vom 22.10. - 30.11.2021 in Höhe von 1.056,40 € brutto und Urlaubsabgeltung für 17 nach seiner Behauptung noch offene Urlaubstage in Höhe von 6.276,92 € brutto.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass das Arbeitsgericht zuständig sei und sich hierzu zum einen auf die zwischenzeitliche Abberufung als Geschäftsführer und zum anderen auf das Schreiben der Gegenseite vom 05.07.2021 berufen. Die Ansprüche würden daher auf den Verkaufsleitervertrag vom 22.05.2019 gestützt. Sie bezögen sich nicht auf die Zeit der Tätigkeit als Geschäftsführer. Hinsichtlich der Urlaubsabgeltung berufe sich der Kläger zudem auf das Vorliegen eines sog. sic-non-Falles, bei dem bereits die bloße Behauptung, Arbeitnehmer zu sein, die Rechtswegzuständigkeit zu den Arbeitsgerichten begründe.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat zuletzt die Anträge angekündigt,</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">1.die Beklagte zu verurteilen, an ihn 8.000,- € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszins seit 01.10.2021 zu zahlen;</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">2.die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.189,73 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszins seit 01.11.2021 zu zahlen;</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">3.die Beklagte zu verurteilen, an ihn 6.276,92 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszins seit 01.01.2022 zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat den Antrag angekündigt,</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Sie hat zudem Rechtswegrüge erhoben und die Ansicht vertreten, die Arbeitsgerichte seien nicht zuständig.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 25.01.2022, wegen dessen Begründung auf Blatt 74 ff. der Akte Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht Wuppertal den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Wuppertal verwiesen; der Beschluss wurde in einem Teilbereich der Gründe durch Beschluss vom 21.03.2022 (Blatt 96 der Akte) berichtigt.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist dem Kläger über seine Prozessbevollmächtigten am 03.02.2022 zugestellt worden. Mit am 11.02.2022 bei dem Arbeitsgericht Wuppertal eingegangener Beschwerdeschrift vom selben Tage hat er sofortige Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist der Ansicht, das Arbeitsgericht habe seine Zuständigkeit rechtsirrig verneint. Hinsichtlich des Urlaubsabgeltungsantrages liege ein sog. sic-non-Fall vor, denn allein in Betracht kommende Anspruchsgrundlage sei § 7 Abs. 4 BUrlG und diese Norm setze voraus, dass der Kläger Arbeitnehmer gewesen sei. Auch der geltend gemachte Schadensersatzanspruch begründe einen sic-non-Fall, ebenso der geltend gemachte Entgeltfortzahlungsanspruch. Im Übrigen sei das dem Geschäftsführervertrag vorausgehende Arbeitsverhältnis durch den Geschäftsführervertrag entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts nicht aufgehoben worden. Zwischen den Parteien habe Einvernehmen darüber bestanden, dass der Vertrag vom 22.05.2019 durch den Abschluss des Geschäftsführervertrages nicht beendet worden sei. Hierzu verweist der Kläger auf die Erklärung der Beklagten vom 05.07.2021. Das darin liegende Angebot auf Fortsetzung des Anstellungsvertrages vom 22.05.2019 als Verkaufsleiter, jedoch mit der Vergütung gemäß Geschäftsführervertrag habe der Kläger angenommen. Infolgedessen habe der alte Anstellungsvertrag fortbestanden und sei jedenfalls durch die Erklärungen der Parteien wieder in Kraft gesetzt worden. Schließlich habe der Kläger durchgehend detailliertesten Anweisungen unterstanden.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte tritt der Beschwerde entgegen. Der Kläger verkenne schon, dass Gesellschafter der Beklagten - unstreitig - die W. Werkzeuge GmbH sei, welche durch ihre Geschäftsführer L.-Q. W. und B. C. vertreten werde. Diese beiden Personen hätten sich jedoch niemals in das Tagesgeschäft der Beklagten eingeschaltet. Soweit der Kläger eine Weisungsbindung mit Weisungen durch Herrn E. W. und Frau T. K. begründe, sei darauf hinzuweisen, dass Herr E. W. Mitgeschäftsführer der Beklagten sei und die E-Mail-Korrespondenz sich darauf beziehe, dass der Kläger in dessen Zuständigkeitsbereich eingegriffen habe. Frau K. wiederum habe sich vermittelnd einschalten müssen. Richtig sei der Hinweis auf das Schreiben vom 05.07.2021, jedoch ändere die dortige rechtsirrige Annahme des Fortbestehens des Arbeitsvertrages nichts daran, dass dieser nach richtiger rechtlicher Bewertung nicht mehr bestanden habe. Insoweit nimmt die Beklagte Bezug auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses des Arbeitsgerichts Wuppertal. Grundlage zwischen den Parteien sei der gekündigte, noch bestehende Geschäftsführervertrag gewesen und lediglich der Tätigkeitsbereich des Klägers habe sich am früheren Anstellungsvertrag orientieren sollen. Ein sic-non-Fall liege schließlich ebenfalls nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 24.03.2022, wegen dessen Begründung auf Blatt 97 f. der Akte Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vorgelegt.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">1. Die gemäß §§ 17a Abs. 4 Satz 3 GVG, 48 Abs. 1, 78 Satz 1 ArbGG, 567 ff ZPO statthafte sofortige Beschwerde des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach der am 03.02.2022 erfolgten Zustellung des Beschlusses vom 25.01.2022 am 11.02.2022 bei dem Arbeitsgericht Wuppertal gemäß § 569 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 ZPO eingelegt worden.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">2. Die sofortige Beschwerde ist begründet. Der angefochtene Rechtswegbeschluss ist daher abzuändern und die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts festzustellen. Denn dessen Zuständigkeit folgt hier aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a), 5 Abs. 1 Satz 1 ArbGG. Hinsichtlich der Streitgegenstände handelt es sich um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit zwischen dem Kläger als Arbeitnehmer und der Beklagten als seiner Arbeitgeberin aus dem Arbeitsverhältnis. Dieses wurde - selbst wenn es wirksam durch den Geschäftsführervertrag vom 31.08.2020 aufgehoben worden sein sollte - jedenfalls ab 05.07.2021 einvernehmlich wieder in Kraft gesetzt und damit neu begründet. Die hier gegenständlichen Ansprüche sind solche aus diesem Arbeits- und nicht aus einem Geschäftsführeranstellungsverhältnis.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">a.Zu Recht weist das Arbeitsgericht zunächst darauf hin, dass die Fiktionswirkung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG mit der erfolgten und ihm bekanntgegebenen Abberufung des Klägers als Geschäftsführer geendet hat. Dies war hier bereits bei Klageerhebung der Fall, wäre aber selbst dann noch im Rechtswegverfahren zu berücksichtigen, wenn die Fiktionswirkung bei Rechtshängigkeit der Klage noch bestanden hätte und erst im laufenden Rechtsstreit bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Rechtsweg weggefallen wäre (BAG vom 08.09.2015 - 9 AZB 21/15, juris, Rz. 17; BAG vom 03.12.2014 - 10 AZB 98/14, juris, Rz. 21ff.; BAG vom 22.10.2014 - 10 AZB 46/14, juris, Rz. 26 ff., 30). Zutreffend ist auch die Rechtsansicht des Arbeitsgerichts, dass der bloße Wegfall der gesetzlichen Fiktion nicht automatisch bereits dann zur Zuständigkeit der Arbeitsgerichte führt, wenn die klagende Partei nur pauschal behauptet, in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt (gewesen) zu sein. Mit der Abberufung als Geschäftsführer entfällt nur die bisherige gesetzliche negative Fiktion. Nicht hingegen ändert sich der rechtliche Charakter des Anstellungsverhältnisses eines Organvertreters allein durch dessen Abberufung. Durch die Abberufung wird ein bisheriges Dienstverhältnis des Geschäftsführers nicht zum Arbeitsverhältnis (BAG vom 08.02.2022 - 9 AZB 40/21, juris, Rz. 18; BAG vom 21.01.2019 - 9 AZB 23/18, juris, Rz. 17; BAG vom 15.11.2013 - 10 AZB 28/13, juris, Rz. 16). Mithin ist nach Abberufung grundsätzlich festzustellen, ob der Tätigkeit des Klägers materiell-rechtlich ein Arbeitsverhältnis oder ein freies Dienstverhältnis zugrunde gelegen hat. Dabei trägt der Kläger die Darlegungslast für die die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte begründenden Umstände, hier also für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses, soweit nicht ein sog. sic-non-Fall vorliegt, bei dem allein bereits die Rechtsansicht der klagenden Partei, Arbeitnehmer (gewesen) zu sein, die Rechtswegzuständigkeit deshalb begründet, weil die Klage ausschließlich dann begründet sein kann, wenn ein Arbeitsverhältnis angenommen wird (vgl. BAG vom 08.02.2022 - 9 AZB 40/21, juris, Rz. 20).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">b.Soweit es die Zahlungsanträge für September und Oktober auf Entgeltfortzahlung betrifft, liegt entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts bereits ein sog. sic-non-Fall vor, so dass allein mit der - insoweit doppelrelevanten - Rechtsansicht des Klägers, im Streitzeitraum in einem Arbeitsverhältnis zur Beklagten gestanden zu haben, bereits die Rechtswegzuständigkeit der Arbeitsgerichte begründet wird.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Voraussetzung des sog. sic-non-Falles ist, dass hinsichtlich des streitigen Anspruchs die Statusfrage doppelrelevant ist, weil der Klageantrag allein im Falle der Annahme eines Arbeitsverhältnisses begründet sein kann. In diesen Fällen ist die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit schon aufgrund der von der klagenden Partei vertretenen Rechtsansicht, es habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, begründet (BAG vom 03.12.2014 - 10 AZB 98/14, juris, Rz. 17; BAG vom 22.10.2014 - 10 AZB 46/14, juris, Rz. 21; BAG vom 15.11.2013 - 10 AZB 28/13, juris, Rz. 21).</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Eine solche Doppelrelevanz liegt bzgl. der Entgeltfortzahlungsansprüche für September und Oktober 2021 vor. Diese werden von dem Kläger infolge einer durchgehend für den Zeitraum vom 01.09. - 23.10.2021 behaupteten, nicht mehr als sechs Wochen auf derselben Krankheitsursache beruhenden Arbeitsunfähigkeit allein auf § 3 Abs. 1 EFZG als Anspruchsgrundlage gestützt. Der Geschäftsführervertrag enthält keine entsprechende Anspruchsgrundlage. § 3 Abs. 1 EFZG wiederum gilt ausschließlich für Arbeitnehmer im Sinne von § 1 Abs. 2 EFZG; Geschäftsführer und andere selbständig Dienstleistende werden von dieser Norm nicht erfasst (vgl. HWK/Vogelsang, 10. Auflage, § 1 EFZG Rn. 4, 8; ErfK/Reinhard, 22. Auflage, § 1 EFZG Rn. 2). Der von dem Kläger geltend gemachte Entgeltfortzahlungsanspruch kann mithin allein Erfolg haben, wenn der Kläger im Streitzeitraum Arbeitnehmer war. Die Arbeitnehmereigenschaft und damit das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses ist für diesen Anspruch doppelrelevant gleichermaßen für die Begründung des Rechtsweges und auch für die Begründetheit der Klage (vgl. zur Annahme eines sic-non-Falls bei Entgeltfortzahlungsansprüchen auch Powietzka, Freie Mitarbeiter und Geschäftsführer vor den Arbeitsgerichten (Teil I), BB 2022, 827, 830).</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">c.Auch darüber hinaus, also auch hinsichtlich des Schadensersatz- und des Urlaubsabgeltungsanspruchs ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten begründet.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">aa) Das folgt jedoch nicht aus der Annahme einer Zusammenhangszuständigkeit im Hinblick auf die Entgeltfortzahlungsklage. Soweit die Rechtswegzuständigkeit für diese mit der Annahme eines sog. sic-non-Falls begründet wurde, kann dies keine Grundlage für eine Zusammenhangszuständigkeit nach § 2 Abs. 3 ArbGG sein. In Fällen, in denen die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte allein aus der Anwendung der sic-non-Rechtsprechung resultiert, findet § 2 Abs. 3 ArbGG keine Anwendung (BAG vom 04.09.2018 - 9 AZB 10/18, juris, Rz. 25; BAG vom 11.06.2003 - 5 AZB 43/02, juris, Rz. 24). Vielmehr muss für die neben einem Antrag, der als sic-non-Fall vor den Arbeitsgerichten zu verhandeln ist, gestellten weiteren Anträge jeweils gesondert die Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen nach § 2 Abs. 1 ArbGG festgestellt werden (BAG vom 04.09.2018 - 9 AZB 10/18, juris, Rz. 25).</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">bb) Entgegen der Rechtsansicht des Klägers begründet auch weder eine Schadensersatzklage wegen Entziehung der Privatnutzung eines Firmenwagens noch ein Urlaubsabgeltungsanspruch einen sog. sic-non-Fall. Denn der Schadensersatzanspruch ist ebenso im Geschäftsführeranstellungsverhältnis wie auch im Arbeitsverhältnis auf der Grundlage von § 280 BGB begründbar. Ein Urlaubsabgeltungsanspruch nach § 7 Abs. 4 BUrlG kann auch im Geschäftsführeranstellungsverhältnis begründbar sein, weil das BUrlG insoweit richtlinienkonform auszulegen ist, was - im Unterschied bspw. zum EFZG, das kein europäisches Recht umsetzt - die Erstreckung auf Fremdgeschäftsführer ermöglicht (vgl. BAG vom 08.02.2022 - 9 AZB 40/21, juris, Rz. 20 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">cc) Der Rechtsweg ist auch für den Schadensersatz- und den Urlaubsabgeltungsanspruch jedoch - im Übrigen dann ebenso wie zu den Entgeltfortzahlungsansprüchen und mithin unabhängig von der insoweit gegebenen sic-non-Konstellation - dadurch eröffnet, dass der Kläger sich seit 05.07.2021 und damit in dem für alle geltend gemachten Ansprüche relevanten Zeitraum aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falls wieder in einem Arbeitsverhältnis zur Beklagten als Verkaufsleiter befunden hat. Diesbezüglich folgt die Beschwerdekammer im Ergebnis den Rügen des Beschwerdeführers und hält die abweichende Ansicht des Arbeitsgerichts und der Beklagten nicht für überzeugend.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Zutreffend zitiert das Arbeitsgericht zwar die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der auch die Beschwerdekammer folgt, dass der Abschluss eines schriftlichen Geschäftsführerdienstvertrages mit einem bislang als Arbeitnehmer beschäftigten Mitarbeiter eine tatsächliche Vermutung begründet, dass damit zugleich zumindest konkludent das zuvor begründete Arbeitsverhältnis aufgelöst worden ist und der neue Vertrag die ausschließliche Grundlage der rechtlichen Beziehungen der Parteien darstellt, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist (BAG vom 26.10.2012 - 10 AZB 60/12, juris, Rz. 18; BAG vom 03.02.2009 - 5 AZB 100/08, juris, Rz. 8; BAG vom 05.06.2008 - 2 AZR 754/06, juris, Rz. 22; BAG vom 14.06.2006 - 5 AZR 592/05, juris, Rz. 18). Das gesetzliche Schriftformerfordernis nach § 623 BGB steht nicht entgegen (BAG vom 03.02.2009 - 5 AZB 100/08, juris, Rz. 8) und auch der Umstand, dass - wie hier im vorliegenden Fall - der Geschäftsführervertrag auf Unternehmensseite wegen § 46 Nr. 5 GmbHG von dem gesetzlichen Vertreter des Gesellschafters und nicht von der Geschäftsführung der Beklagten - die aber nach § 35 GmbHG die Vertretungsmacht hinsichtlich der Aufhebung des Arbeitsvertrages hätte - unterzeichnet worden ist, steht der wirksamen Aufhebung des ursprünglichen Arbeitsvertrages vom 22.05.2019 nicht entgegen. Mit der zutreffenden Rechtsansicht des LAG Hamburg ist vielmehr in diesen Fällen von einer Annexvertretungskompetenz der Gesellschafterversammlung und ihrer Vertretung auszugehen (LAG Hamburg vom 19.11.2008 - 4 Ta 20/08, juris, Rz. 32 ff. m.w.N., auch insoweit bestätigt durch BAG vom 03.02.2009 - 5 AZB 100/08, juris; vgl. ferner hierzu Kliemt in: Schwab/Weth, ArbGG, 6. Auflage, § 5 Rn. 280a m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Letztlich kommt es hierauf nicht entscheidend an, denn nähme man an, entgegen der Rechtsansicht der Beschwerdekammer hätte das Arbeitsverhältnis gemäß Anstellungsvertrag vom 22.05.2019 ruhend fortbestanden, wäre es am 05.07.2021 mit der Abberufung des Klägers wieder aufgelebt und damit gleichermaßen rechtliche Grundlage der Beziehungen der Parteien seitdem gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Nach der Überzeugung der Beschwerdekammer und auf der Grundlage des unstreitig vorgetragenen Sachverhalts ist hier jedoch zum einen wie dargelegt die Aufhebung des Arbeitsvertrags mit dem Geschäftsführervertrag vom 31.08.2020 anzunehmen. Zum anderen haben die Parteien zur Überzeugung der Beschwerdekammer aber ab 05.07.2021 ihr Rechtsverhältnis einvernehmlich wieder auf die Grundlage des alten Arbeitsvertrages als Verkaufsleiter vom 22.05.2019 gestellt, mit der einzigen Abweichung, dass die Vergütung sich weiter nach dem Geschäftsführervertrag richten sollte.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Eine solche Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses im Anschluss an die Abberufung als Geschäftsführer ist rechtlich ohne Weiteres möglich und aufgrund der allgemeinen Vertragsfreiheit auch zulässig. Richtig ist, dass der Geschäftsführerdienstvertrag sich nicht automatisch mit der Abberufung aus der Organstellung (wieder) in einen Arbeitsvertrag umwandelt (BAG vom 08.02.2022 - 9 AZB 40/21, juris, Rz. 18; BAG vom 05.06.2008 - 2 AZR 754/06, juris, Rz. 23; BAG vom 14.06.2006 - 5 AZR 592/05, juris, Rz. 18). Treten jedoch weitere Umstände hinzu, aus denen sich ergibt, dass nach der Abberufung ein Arbeitsverhältnis begründet worden ist, kommt dieses als Grundlage der Vertragsbeziehungen und damit auch zur Begründung des Rechtsweges zur Arbeitsgerichtsbarkeit für die hierauf beruhenden Ansprüche in Betracht (vgl. BAG vom 05.06.2008 - 2 AZR 754/06, juris, Rz. 23 a.E.).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Neben der ausdrücklichen Vereinbarung eines Arbeitsverhältnisses im Anschluss an die Abberufung als Geschäftsführer ist auch die konkludente Begründung eines Arbeitsverhältnisses möglich (Kliemt in: Schwab/Weth, ArbGG, 6. Auflage, § 5 Rn. 286; Powietzka, Freie Mitarbeiter und Geschäftsführer vor den Arbeitsgerichten (Teil II), BB 2022, 949, 951). Eine solche ist beispielsweise anzunehmen, wenn der frühere Geschäftsführer nach Abberufung weisungsabhängig mit "Arbeitnehmertätigkeiten" eingesetzt wird (Powietzka, Freie Mitarbeiter und Geschäftsführer vor den Arbeitsgerichten (Teil II), BB 2022, 949, 951). Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls (Kliemt in: Schwab/Weth, ArbGG, 6. Auflage, § 5 Rn. 286).</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Diese Umstände ergeben hier aus Sicht der Beschwerdekammer hinreichend deutlich, dass die Parteien im Anschluss an die Abberufung des Klägers als Geschäftsführer die Fortsetzung ihrer Vertragsbeziehung nicht auf der Grundlage des Geschäftsführervertrages, sondern auf der Grundlage des ursprünglichen und damit wieder in Kraft gesetzten Arbeitsvertrages vom 22.05.2019 als Verkaufsleiter wünschten, wobei lediglich das Entgelt unverändert nach dem Geschäftsführervertrag vom 31.08.2020 bemessen werden sollte. Dies ergibt sich aus der genau dahingehend zu verstehenden Erklärung des Gesellschaftervertreters Q. W. im Schreiben vom 05.07.2021. Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, dass dieser Erklärung die Annahme zugrunde gelegen haben mag, dass der Arbeitsvertrag vom 22.05.2019 durch den Geschäftsführervertrag gar nicht aufgehoben wurde und deshalb nun vermeintlich wieder auflebte. Zum einen ist diese Rechtsansicht nicht abwegig, wenngleich die Beschwerdekammer - insoweit mit dem Arbeitsgericht - eine andere rechtliche Würdigung vornimmt. Zum anderen ist entscheidend, dass die Parteien unbestritten ihr Vertragsverhältnis jedenfalls im Anschluss genau so einvernehmlich fortgesetzt haben. Der Kläger wurde also einvernehmlich als Verkaufsleiter bis zu der gut einen Monat später eingetretenen Arbeitsunfähigkeit für die Beklagte tätig und er war jedenfalls in dieser Zeit auch unbestritten weisungsgebunden - eben wie ein Arbeitnehmer - für diese tätig. Damit hat sich unabhängig von der auch hier nicht unproblematischen Frage einer Vertretungsmacht des Herrn Q. W. als Gesellschaftervertreter hinsichtlich der Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger die Beklagte bzw. deren Geschäftsführung - und diese mithin vertretungsberechtigt nach § 35 GmbHG - dessen Ankündigung durch die praktische Umsetzung ab 05.07.2021 zu eigen gemacht. Die einvernehmliche Beschäftigung gemäß der Ankündigung im Schreiben vom 05.07.2021 führte zur konkludenten Begründung eines entsprechenden Arbeitsverhältnisses als Verkaufsleiter mit der Vergütung gemäß Geschäftsführervertrag vom 31.08.2020 und dem Vertragsinhalt im Übrigen gemäß Anstellungsvertrag vom 22.05.2019.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die doppelte Schriftformklausel aus XI. 2. Absatz des Geschäftsführervertrages vom 31.08.2020 steht der Annahme der konkludenten Begründung eines Arbeitsverhältnisses als Verkaufsleiter ab 05.07.2021 nicht entgegen. Ungeachtet des Umstandes, dass diese kaum einer AGB-Kontrolle standhalten dürfte, betrifft sie allein Änderungen und Ergänzungen des Geschäftsführervertrages. Die Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses fällt nicht hierunter und kann mithin auch formlos vorgenommen werden. Welche Absprachen die Parteien in diesem Zusammenhang möglicherweise auch zum Geschäftsführervertrag getroffen haben mögen und wie sich die Schriftformklausel hierzu verhält, bedarf hier keiner Klärung, denn dies ist für die Rechtswegentscheidung unerheblich.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Damit war der Kläger ab 05.07.2021 und somit im Streitzeitraum Arbeitnehmer, die Beklagte Arbeitgeberin und die hier verfolgten Ansprüche sind allesamt solche aus dem Arbeitsverhältnis. Das Arbeitsgericht ist für die Entscheidung über diese Ansprüche zuständig gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a), 5 Abs. 1 Satz 1 ArbGG.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Danach hat die in dem kontradiktorisch geführten Rechtwegbeschwerdeverfahren unterlegene Beklagte die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">IV.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert beträgt für das Beschwerdeverfahren nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammer 1/3 des Hauptsachestreitwertes, beruhend auf den klägerseits gemachten Angaben. Der Hauptsachestreitwert beträgt für die Zahlungsanträge in Summe 21.466,65 €; daraus folgt die Wertfestsetzung in Höhe von 7.155,55 € für das Beschwerdeverfahren.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">V.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsbeschwerde wird mangels dies nach § 17a Abs. 4 Satz 5 GVG rechtfertigender Gründe nicht zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="h2 absatzLinks">R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss ist kein Rechtsmittel gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Klein</p>
|
346,037 | vghbw-2022-07-19-1-s-297521 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 S 2975/21 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-08-03T10:01:12 | 2022-10-17T17:55:35 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 04. August 2021 - 7 K 5004/19 - werden zurückgewiesen.</p><p>Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Berufungsverfahrens je zur Hälfte.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Klägerin begehrt die Verpflichtung des Beklagten, die Wahl zum Gemeinderat der Beigeladenen vom 26.05.2019 für ungültig zu erklären.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Am 26.05.2019 fand die Wahl zum Gemeinderat der Beigeladenen als unechte Teilortswahl gem. § 27 Abs. 2 Satz 1 GemO statt, die mit dem Zusammenschluss der Beigeladenen in den 1970er Jahren mit den ehemals selbständigen Gemeinden D ..., Dis ... x, Ditt ... , Ditt ..., H ... und I...-... eingeführt wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Zusammenschluss der Gemeinden wurde mit Ausnahme der Gemeinde Dittig ... aufgrund von Eingliederungsvereinbarungen vollzogen, die im Hinblick auf die unechte Teilortswahl weitere Regelungen enthielten. So bestimmte die Eingliederungsvereinbarung zwischen den Gemeinden Ditt ... und T ... - ... vom 26.04.1974, dass der Gemeinde Ditt ... mindestens ein Sitz im Gemeinderat garantiert werden und die Sitzverteilung auf die Teilorte im Übrigen nach dem Höchstzahlverfahren von d´Hondt erfolgen solle. Die Anzahl der Gemeinderatssitze sei entsprechend der nächsthöheren Gemeindegrößengruppe nach § 25 Abs. 2 GemO festzulegen. Gleichlautende Regelungen finden sich auch in den Eingliederungsvereinbarungen zwischen der Beigeladenen und D... (vom 22.12.1971) und Dis ... (vom 12.11.1974) sowie von I ... und H ... (vom 02.08.1971).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Mit Beschluss vom 27.01.1999 änderte der Gemeinderat der Beigeladenen den für die Sitzverteilung bei der unechten Teilortswahl maßgeblichen § 2 der Hauptsatzung. Ziel dieser Änderung war eine Reduzierung der Gesamtsitzzahl des Gemeinderats der Beigeladenen. Hierzu wählte der Gemeinderat die Eingruppierung in die nächst niedrigere Gemeindegrößengruppe und bestimmte:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="5"/>„(1) Die in § 9 Abs. 1 genannten Stadteile bilden je einen Wohnbezirk im Sinne von § 27 Abs. 2 Satz 1 GemO. Die Sitze im Gemeinderat sind nach Maßgabe des Absatzes 2 mit Vertretern dieser Wohnbezirke zu besetzen (unechte Teilortswahl). Die Zahl der Stadträte beträgt 18.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="6"/>(2) In Anwendung des Prinzips des Verhältniswahlrechts und der Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und des Bevölkerungsanteils der einzelnen Wohnbezirke sind die insgesamt 18 Sitze im Gemeinderat nach folgendem Verhältnis zu besetzen:</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt" class="Rsp"><tr><th colspan="0" rowspan="1"><rd nr="7"/></th></tr>
<tr>
<th colspan="2" rowspan="1"/>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">2.1 Wohnbezirk T ... ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">12 Sitze</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">2.2 Wohnbezirk D ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 Sitz</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">2.3 Wohnbezirk Dis ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 Sitz</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">2.4 Wohnbezirk Dittig ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 Sitz</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">2.5 Wohnbezirk Ditt ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 Sitz</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">2.6 Wohnbezirk H ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 Sitz</td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">2.7 Wohnbezirk I ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table style="margin-left:6pt" width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 Sitz"</td></tr></table>
</td>
</tr>
</table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Dem Satzungsänderungsbeschluss ging eine schriftliche Bürgerbefragung der beteiligten Gemeinden voraus. Die Beteiligung lag bei ca. 46 %. Die Mehrheit der Befragten in den Teilorten sprach sich für die Beibehaltung der unechten Teilortswahl aus, die Mehrheit der Befragten in der Kernstadt T ... ... - ... x für deren Abschaffung. Die Ergebnisse wurden ausweislich des Protokolls in der Sitzung des Gemeinderats diskutiert. Der Gemeinderat votierte mehrheitlich für die Verkleinerung des Gemeinderats auf 18 Sitze und die Beibehaltung der unechten Teilortswahl dergestalt, dass jedem Teilort außer der Kernstadt jeweils ein Sitz im Gemeinderat garantiert werden sollte. Der Gemeinderat verfolgte mit der Verkleinerung das Ziel, die Effizienz des Gremiums zu erhöhen, durch die Garantie eines Sitzes für jeden Teilort sollte den „berechtigten Interessen“ der ehemals selbständigen Gemeinden Rechnung getragen werden. Für sämtliche Teilorte mit Ausnahme der Kernstadt T ... ... x ist ein Ortschaftsrat vorgesehen (§ 12 Abs. 2 Hauptsatzung). Die Hauptsatzung wurde in der Folgezeit mehrfach geändert, die Bestimmungen zur Sitzverteilungen blieben jedoch unberührt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Zum Zeitpunkt der Satzungsänderung stellten sich die Einwohnerzahlen im Gebiet der Beigeladenen (zum Stichtag 01.01.1999) wie folgt dar:</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table border="1" class="Rsp"><tr><th colspan="0" rowspan="1"><rd nr="10"/></th></tr>
<tr>
<th colspan="2" rowspan="1"/>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">T ... ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">9.298 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">I ... </td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">955 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">H ... x</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">715 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">D ... </td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">322 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Ditt ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">820 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dittig ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1.100 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dis ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1.008 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Gesamt</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">14.218</td></tr></table>
</td>
</tr>
</table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Am 26.05.2019 fand die Wahl zum Gemeinderat der Beigeladenen statt. Die Ergebnisse der Gemeinderatswahl wurden am 05.06.2019 im Gemeindeblatt bekanntgegeben. Der gewählte Gemeinderat hatte aufgrund zweier Ausgleichssitze 20 Mitglieder.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Die maßgebliche Zahl der Einwohner zum Stichtag (30.09.2017, § 57 KomWG) stellte sich wie folgt dar:</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table border="1" class="Rsp"><tr><th colspan="0" rowspan="1"><rd nr="13"/></th></tr>
<tr>
<th colspan="2" rowspan="1"/>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">T ... ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">9.515 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">I ... </td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1.108 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">H ... x</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">766 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">D ... </td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">342 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Ditt ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">747 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dittig ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">968 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dis ...</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">942 </td></tr></table>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Gesamt</td></tr></table>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">14.388</td></tr></table>
</td>
</tr>
</table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Am 10.06.2019 erhob die Klägerin, wohnhaft im Ortsteil I ..., Einspruch gegen die Gemeinderatswahl am 26.05.2019. Zur Begründung ihres Einspruchs trug sie vor, dass sämtliche Wahlvorschläge vom Wahlausschuss unter Verstoß gegen § 18 Abs. 2 KomWO i.V.m. § 9 Abs. 6 KomWG zugelassen worden seien, wonach Männer und Frauen gleichermaßen bei der Aufstellung eines Wahlvorschlags berücksichtigt werden sollen. Denn dadurch, dass alle Wahlvorschläge überproportional mit Männern besetzt worden seien, würden in dem neu gewählten Gemeinderat nur zwei der 18 Sitze von Frauen eingenommen. Das „Durchwinken der Wahlvorschläge durch den Wahlausschuss“ sei gesetzeswidrig gewesen. Ihr sei als Wählerin die Möglichkeit genommen worden, gleichberechtigt von Männern und Frauen im Gemeinderat vertreten zu werden. Daher müsse die Wahl für ungültig erklärt und eine Neuwahl mit gesetzeskonformen Wahlvorschlägen durchgeführt werden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Außerdem sei die Konstruktion der unechten Teilortswahl verfassungswidrig, wodurch sie ebenfalls in ihren Rechten verletzt werde. So entsende jede der Ortschaften einen Vertreter in den Gemeinderat, obwohl bei den Einwohnerzahlen erhebliche Unterschiede bestünden. I ... sei die einwohnerstärkste Ortschaft, entsende aber nur einen Gemeinderat, genau wie die Ortschaft D ..., die im Vergleich zu I ... nur die Hälfte der Einwohner habe. Hinzu komme, dass die Kernstadt ca. 7mal mehr Einwohner als der Stadtteil I ... habe, aber mit 12 Vertretern im Gemeinderat vertreten sei. Somit wiege eine Stimme eines lmpfinger Wählers nicht gleich viel wie die Stimme eines Wählers aus den kleineren Ortschaften oder der Kernstadt. Dies sei undemokratisch und verstoße gegen Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 GG. Ein weiterer Verstoß sei darin zu sehen, dass der Ersatzkandidat der CDU für den Wohnbezirk I ..., Herr ... ..., mit nur 191 erhaltenen Stimmen theoretisch in den Gemeinderat nachrücken könnte, obwohl die Bewerber der Bürgerliste, Herr ... xx und Herr ... ..., mit je 1.331 und 501 Stimmen in ihrem Ergebnis um ein Vielfaches mehr demokratisch legitimiert seien. Auch dies sei undemokratisch und verstoße gegen Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 GG.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Darüber hinaus diskriminiere die unechte Teilortswahl sie als „Zugezogene“ in einem Ortsteil mit wenigen Sitzen im Gemeinderat in ihrer eigenen Wählbarkeit. Sie habe in Erwägung gezogen, für die Gemeinderatswahlen einen eigenen Wahlvorschlag aufzustellen. Aufgrund der unechten Teilortswahl habe sie diesen Aufwand nicht betrieben, denn den einzigen Sitz für den Gemeinderat könne praktisch nur eine allseits bekannte Person oder ein Einheimischer ergattern.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Schließlich seien die amtlichen Stimmzettel unverständlich. Obwohl sie Akademikerin mit abgeschlossenem Staatsexamen sei und den Stimmzettel nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt habe, sei ihre Stimmabgabe falsch und somit teilungültig gewesen. So habe sie den unter jedem Wahlvorschlag stehenden Hinweis, dass sie bei den Wahlvorschlägen unter dem Wahlbezirk I ... nicht mehr als einen Bewerber wählen dürfe, dahingehend verstanden, dass man im Wahlbezirk I ... nicht mehr als einen Bewerber je Wahlvorschlag wählen könne.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Beigeladene äußerte sich zum Einspruch der Klägerin nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Nach vorheriger Anhörung der Klägerin am 14.06.2019 wies das Landratsamt M ... ... den Einspruch der Klägerin gegen die Gemeinderatswahl in T ... ... mit Bescheid vom 21.06.2019 zurück. Zur Begründung führte es aus, dass der Einspruch weder zulässig noch begründet sei. Die von der Klägerin geltend gemachten Einspruchsgründe ließen in keiner Weise eine mögliche Verletzung subjektiver Rechte erkennen. Die in Bezug genommenen Vorschriften dienten allesamt öffentlichen Interessen und bezweckten nicht den Schutz subjektiver Rechte. Soweit die Klägerin nicht die Verletzung eigener Rechte geltend mache, fehle es ihr an dem gem. § 32 Abs. 1 Satz 3 KomWG erforderlichen Quorum von 100 Wahlberechtigten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Darüber hinaus sei der Einspruch auch nicht begründet. Ein Verstoß gegen § 9 Abs. 6 Satz 1 KomWG liege nicht vor. Soweit § 9 Abs. 6 Satz 2 KomWG die Möglichkeit eröffne, die Zielsetzung des § 9 Abs. 6 Satz 1 KomWG dadurch umzusetzen, dass man eine alternierende Reihenfolge innerhalb der Wahlvorschläge festsetze, handle es sich lediglich um eine Kann-Vorschrift. Der Gesetzgeber bringe in § 9 Abs. 6 Satz 3 KomWG unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Einhaltung des § 9 Abs. 6 Satz 1 und 2 KomWG kein Entscheidungskriterium für die Zulassung eines Wahlvorschlages sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Auch die Anwendung des Systems der unechten Teilortswahl führe nicht zu einem Wahlfehler. Diese bezwecke, für die räumlich getrennten Ortsteile eine Vertretung im Gemeinderat zu sichern. Die Einführung der unechten Teilortswahl stehe im Ermessen des Gemeinderats. Das Verhältnis der Vertreter aus der Kernstadt und den Ortsteilen werde durch die Hauptsatzung der Stadt festgelegt. Nach § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO seien bei der Bestimmung der Anzahl der Sitze die örtlichen Verhältnisse und die Bevölkerungszahl zu berücksichtigen. Insoweit sei das Verhältnis der Bevölkerungszahl alleine nicht maßgebend. Zu den örtlichen Verhältnissen gehörten neben gewachsenen Strukturen oder der eingeführten Ortschaftsverfassung auch Regelungen aus der Eingliederungsvereinbarung. Ob die Klägerin als „Zugezogene" in einem Ortsteil eine indirekte Einschränkung bei der Aufstellung eines Wahlvorschlags oder eine Einschränkung ihrer Wählbarkeit habe, sei rechtlich unerheblich. Allein der Umstand, dass es sich bei der unechten Teilortswahl um eine anspruchsvolle Wahl handle, führe nicht zur Verfassungswidrigkeit des Wahlsystems. Die von der Klägerin vorgetragenen Aspekte ließen in keiner Weise eine mögliche, aber erforderliche subjektive Rechtsverletzung der Klägerin erkennen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Am 24.07.2019 hat die Klägerin gegen den Einspruchsbescheid Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben und beantragt, die Einspruchsentscheidung des Landratsamts M ... ... vom 21.06.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Wahl der Gemeinderäte der Beigeladenen vom 26.05.2019 für ungültig zu erklären. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihr Einspruch sei zulässig und begründet. Als Wählerin, Frau und Mutter von vier Töchtern habe sie einen Anspruch auf gleichberechtigte Repräsentation von Männern und Frauen im Gemeinderat. Weil § 18 Abs. 2 KomWO i. V. m. § 9 Abs. 6 KomWG bei der Vorbereitung zur Wahl nicht beachtet worden sei, sei sie in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 2 GG verletzt. Im Ergebnis der Wahl spiegle sich aufgrund der männerfreundlichen Wahlvorschläge die Strategie zur männlichen Machterhaltung wider. Selbst wenn die Kann-Vorschrift des § 9 Abs. 6 Satz 2 KomWG nicht zwingend zu beachten sei, so habe man jedoch § 9 Abs. 6 Satz 1 KomWG zwingend umzusetzen. Eine Rechtsverletzung sei auch dadurch gegeben, dass das System der unechten Teilortswahl verfassungswidrig sei. Die weitere Begründung hat den Vortrag aus dem Einspruchsschreiben vom 10.06.2019 wiederholt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und zur Begründung seines Antrags auf seine Ausführung im Einspruchsbescheid verwiesen. Die Klage sei bereits mangels Klagebefugnis unzulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Mit Urteil vom 04.08.2019 hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben, den Einspruchsbescheid des Landratsamtes M ... ... ... vom 21.06.2019 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, die Wahl der Gemeinderäte der Beigeladenen vom 26.05.2019 für ungültig zu erklären. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass die Sitzverteilung im Gemeinderat durch die Hauptsatzung der Beigeladenen gegen die Vorschrift des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO verstoße. Als Einwohnerin eines Stadtteils habe die Klägerin ein Recht auf eine dem Gesetz entsprechende Repräsentation ihres Stadtteils im Gemeinderat. Da es sich hierbei um ein subjektives Recht der Klägerin handele, bedürfe es zur Geltendmachung auch keines Quorums. Zu den örtlichen Verhältnissen, die der Satzungsgeber zu berücksichtigen habe, gehörten auch die Regelungen in den jeweiligen Eingliederungsvereinbarungen, in denen die vertragsschließenden Gemeinden die Aufteilung der Sitze für die zukünftigen Wohnbezirke festgelegt hätten. Es seien vorliegend keine örtlichen Verhältnisse gegeben, die die Über- bzw. Unterrepräsentation der einzelnen Stadtteile rechtfertigten. Die Eingliederungsvereinbarungen mit den Stadtteilen I ... x, H ... xx und D ... seien so zu verstehen, dass eine Sitzverteilung entsprechend des Bevölkerungsanteils nach dem Höchstzahlverfahren d´Hondt mit vorherigem Abzug eines jeweils vorher garantierten Sitzes gewollt gewesen sei. Der Verstoß gegen § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO wirke sich zudem auf das Ergebnis der Wahl aus.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Soweit die Klägerin geltend mache, als „Zugezogene“ keine realistische Chance zu haben, gewählt zu werden, sei der Einspruch bereits unzulässig. Da sie sich nicht habe zur Wahl stellen lassen, komme auch keine Verletzung ihrer Rechte als passiv Wahlberechtigte in Betracht. Gleiches gelte für ihren Einwand, es liege ein Verstoß gegen § 9 Abs. 6 Satz 1 und 2 KomWG vor, durch den sie in ihrem Gleichheitsgrundrecht aus Art. 3 Abs. 2 GG verletzt sei. Bei § 9 Abs. 6 KomWG handle es sich nur um einen Appell, die Klägerin sei hierdurch nicht in ihren Rechten verletzt. Schließlich bestehe keine subjektive Betroffenheit der Klägerin soweit sie vortrage, das Wahlsystem sei zu kompliziert, es sei einem mündigen Bürger zuzumuten, sich vor der Stimmabgabe mit den jeweiligen Regelungen auseinander zu setzen. Darüber hinaus sei offensichtlich kein Verstoß gegen die Vorschriften zur Gestaltung der Stimmzettel gegeben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Das Verwaltungsgericht hat die Berufung zum Verwaltungsgerichtshof wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart haben der Beklagte am 15.09.2021 und die Beigeladene am 24.09.2021 Berufung eingelegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Der Beklagte begründet die Berufung insbesondere damit, dass die Klägerin schon nicht einspruchsbefugt gewesen sei, da keine subjektive Rechtsverletzung i.S.d. § 31 Abs. 1 Satz 3 KomWG i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG vorliege. Die von der Klägerin gerügte Verletzung des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO sei keine Vorschrift der „Wahlvorbereitung“, der „Wahlhandlung“ und der „Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses“ i.S.d. § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG. Diese Begriffe entstammten der Terminologie des Kommunalwahlrechts selbst und müssten daher auch gesetzessystematisch in diesem Sinne ausgelegt und angewendet werden. Eine Ausweitung auf die Anforderungen des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO i.V.m. der Hauptsatzung der Stadt T ... xx- ... x im Wahlanfechtungsverfahren - ungleich einem Normenkontrollverfahren i.S.d. § 47 VwGO - scheide daher aus.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Darüber hinaus sei weder dem Wortlaut noch dem Gesetzeszweck des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO zu entnehmen, dass ein einzelner Wähler, dessen Stimmenkontingent (§ 26 Abs. 2 Satz 3 GemO), auch bei der unechten Teilortswahl, auf die Gesamtgemeinde ausgelegt sei, ein eigenes Recht haben solle, dass „sein" Wohnbezirk (Stadt- bzw. Ortsteil) mit einer entsprechenden Anzahl von Personen im Gesamtgemeinderat repräsentiert bzw. ausgestattet sein solle. Die Beschlüsse im Gemeinderat würden mit Stimmenmehrheit aller Gemeinderäte aus allen Ortsteilen einschließlich Kernstadt gefasst (§ 37 Abs. 6 Satz 2 GemO), die Gemeinderäte seien zudem verpflichtet, das Allgemeinwohl der gesamten Einwohnerschaft zu fördern (§§ 1 Abs. 2, 17 Abs. 1, 32 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 GemO). Hieraus lasse sich kein Recht des einzelnen Wählers im Wohnbezirk ableiten, eine gewisse Repräsentanz zu erreichen. Vielmehr kompensierten diese Rechtsinstitute lediglich die im Zuge der Gebietsreform Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erfolgte Preisgabe der Selbstständigkeit der damaligen Gemeinden und berücksichtigten ausschließlich Kollektivinteressen, um den damaligen Gemeinden gewisse Interessensvertretungen der nun (neuen) Teilorte in der Gesamtgemeinde zu ermöglichen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Dies werde auch von dem insofern zu beachtenden Grundsatz der Bestandssicherung von Wahlen im öffentlichen Interesse und dem Gesichtspunkt eines verlässlichen Funktionierens von demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern getragen, deren legitime Existenz nicht wegen jedweder behaupteten Rechtsverletzung in Frage gestellt werden solle. Dieser Gedanke finde letztlich auch in dem in § 31 Abs. 1 Satz 3 KomWG normierten Quorum seinen Ausdruck. Eine „überspannte Auslegung“ von §§ 31, 32 KomWG hätte letztlich zur Folge, dass im Rahmen einer Wahlanfechtung jeder beliebige Rechtsverstoß im Zusammenhang mit einer Kommunalwahl eine verwaltungs- und finanzaufwändige Wahl zu Fall bringen könne. Die bringe für die 284 Kommunen in Baden-Württemberg, die die unechte Teilortswahl praktizierten, ein nicht mehr vertretbares Rechtsrisiko mit der Folge, dass nur noch die Abschaffung der unechten Teilortswahl als „einzige Lösung“ bliebe. Dies würde den gesetzgeberischen Zweck des Rechtsinstituts der unechten Teilortswahl konterkarieren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Ungeachtet der fehlenden Zulässigkeit des Einspruchs verstoße die Sitzverteilung nach der Hauptsatzung der Stadt T ... ... x auch nicht gegen § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO. Nach dieser Norm seien bei der Bestimmung der auf die einzelnen Wohnbezirke entfallenden Anzahl der Sitze die örtlichen Verhältnisse und der Bevölkerungsanteil zu berücksichtigen. Der Satzungsgeber habe dabei ein Ermessen. Die Grenze des Entscheidungsspielraums des Satzungsgebers sei überschritten, wenn die in der Satzung geregelte Sitzverteilung darauf beruhe, dass einer der beiden in § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO normierten Grundsätze völlig preisgegeben oder "in einer das Gerechtigkeitsgefühl grob verletzenden Weise" zurückgedrängt worden sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Diese Beschränkung des Satzungsermessens sei von der Stadt T ... xx- ... x bei der erstmaligen Reduzierung der Sitze im Gemeinderat durch Satzungsbeschluss vom 27.01.1999 von ursprünglich 26 auf 18 - zu der er gem. § 25 Abs. 2 GemO berechtigt gewesen sei - und der damit einhergehenden Aufteilung auf die einzelnen Wohnbezirke vollumfänglich beachtet worden. Es habe eine umfangreiche Abwägung stattgefunden, die Interessen der Einwohner seien in einer Bürgerbefragung eruiert und einbezogen worden. Sodann habe man sich aus Effizienzgründen für eine Reduzierung der Sitze und - entsprechend dem Ergebnis der Einwohnerbefragung - auch für die Beibehaltung der unechten Teilortswahl entschieden und den kleineren Teilorten jeweils einen Sitz zugeschlagen, wie es auch in den Eingliederungsvereinbarungen festgeschrieben gewesen sei. Hierbei sei auch den Wohngebieten „ohne Sitzgarantie“ aus Gründen des Interessensausgleichs ein Sitz zugebilligt worden. Auch infrastrukturelle Erwägungen die seit Jahrzehnten nach Abschluss der Eingliederungsvereinbarung eingesetzte städtebauliche Entwicklung seien berücksichtigt worden. Die Sitzanteile der Kernstadt mit 12 Sitzen seien dadurch tragfähig, dass die Kernstadt im Gegensatz zu den Ortsteilen nicht über eine Ortschaftsverfassung verfüge. Auf die Eingliederungsvereinbarungen aus dem Jahre 1971 komme es im Übrigen nicht mehr an, da der Satzungsgeber auf Grundlage von § 27 Abs. 6 GemO mittels Hauptsatzung eine Änderung der Sitzzahlen im Gemeinderat habe vornehmen und damit von den Eingliederungsvereinbarungen habe abweichen können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass es immer erhebliche Über- und Unterrepräsentationen geben könne. Dies habe zur Folge, dass dadurch künftige Wahlanfechtungen gleichsam „vorprogrammiert“ seien, weil die Vertretungsgewichte der Ortsteile in den Berechnungsvarianten nur „verschoben“ würden. Das Maß einer zulässigen Abweichung lasse sich nicht schematisch bestimmen. Auch das Verwaltungsgericht habe keine Berechnung vorgenommen, in der die von ihm in Bezug genommene 20 %-Grenze eingehalten werde. Dieses Ergebnis sei realitätsfern und vom Gesetzgeber der Gemeindeordnung und des Kommunalwahlrechts weder nach Wortlaut noch nach dem Sinn und Zweck des Regelungskanons gewollt. Andernfalls hätte jeder Wähler nach einer verwaltungs- und finanzaufwendigen Kommunalwahl - die Wahlkosten in T ... xx- ... x lägen bei rund 30.000,- Euro - die Möglichkeit, die Einhaltung der Hauptsatzung, mithin eine komplexe Rechtsfrage, im Wahlanfechtungsverfahren einer gerichtlichen Prüfung zu unterziehen, was künftig zu einer Vielzahl von Wahleinsprüchen mit allen Konsequenzen für die Gebietskörperschaften führen und den Grundsatz der Bestandssicherung von Wahlen im öffentlichen Interesse aushöhlen könne. Würde die unechte Teilortswahl in der Folge abgeschafft, so wäre die Repräsentanz einzelner Ortsteile gar nicht mehr gewährleistet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Die Beigeladene hat sich in ihrer Berufungsbegründung im Wesentlichen der Argumentation des Beklagten angeschlossen. Der Einspruch der Klägerin sei schon mangels Quorums nicht zulässig gewesen, da eine Verletzung ihrer eigenen Rechte gem. § 31 Abs. 1 Satz 3 KomWG nicht vorliege. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO sei keine Vorschrift, die im Rahmen von § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG zu prüfen sei, es handle sich nicht um eine Regelung der Wahlvorbereitung, der Wahlhandlung oder zu der Feststellung des Wahlergebnisses. Auch im Übrigen sei keine Verletzung von Wahlrechtsgrundsätzen erkennbar, jeder Wahlberechtigte habe im Rahmen seines aktiven Wahlrechts ein gleiches Stimmrecht. Auch die Sitzverteilung, wie sie die Hauptsatzung der Beigeladenen i.V.m. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO vorsehe, sei nicht zu beanstanden, sie sei im Wesentlichen Ausgleich zur Zustimmung der seinerzeitigen Eingliederung der einzelnen Gemeinden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="36"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 04.08.2021 - 7 K 5004/19 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="38"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Sie hält das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit es der Klage stattgeben hat, für zutreffend. Das Gericht komme überzeugend zu dem Ergebnis, dass die festgestellte Unterrepräsentation des Stadtteils I ... einen Wahlfehler darstelle, so dass die Wahl für ungültig zu erklären gewesen sei. Die Klägerin sei als Wahlberechtigte in subjektiven Rechten verletzt. Eines Quorums bedürfe es somit nicht. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO eine Vorschrift der Wahlvorbereitung und -durchführung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Überdies verfange auch der Einwand nicht, dass durch Satzung die Eingliederungsvereinbarungen hätten geändert werden können. Die Vereinbarungen stellten insoweit die koordinationsrechtlichen Verwaltungsverträge auf Grundlage des Art. 74 Abs. 2 Satz 1 Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) dar. Dass eine solche Vereinbarung durch Änderung der Hauptsatzung geändert werden könne, ergebe sich aus Art. 74 LV gerade nicht. Wenn aber schon die Beigeladene auf Grundlage von § 27 Abs. 6 GemO eine Änderung der Hauptsatzung zur Verteilung der Sitzzahlen vornehmen wolle, so gehe dies nur unter Beibehaltung der Sitzverteilung, wie sie in den Eingliederungsvereinbarungen angelegt sei - oder allenfalls im Rahmen der der Anteile der Teilorte entsprechenden notwendigen Repräsentanz.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Selbst wenn aber die Sitzverteilung geändert werden könne, so habe das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass die Beigeladene mit der hiesigen Sitzverteilung ihr Satzungsermessen überschritten habe. Die Sitzverteilung im Gemeinderat der Beigeladenen durch § 10 der Hauptsatzung führe nicht nur zu einer unzureichenden Berücksichtigung der Stimme der Klägerin, sondern stelle sich als eklatanter und offensichtlicher Verstoß gegen die Stimmrechtsgewichtung dar, so dass sie entgegen der Einschätzung des Berufungsklägers in ihrer Stellung als Wahlberechtigte betroffen sei. Dies verstoße gegen § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO, da sich die Über- bzw. Unterrepräsentation der einzelnen Stadtteile nicht durch die örtlichen Verhältnisse sachlich rechtfertigen ließen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Das Abwägungsergebnis stehe im klaren Widerspruch zu den tatsächlichen örtlichen Verhältnissen bezüglich des Kriteriums der eigenständigen Entwicklung der Stadtteile. In der Kernstadt sowie drei weiteren Stadtteilen sei es zu einem Anstieg der Bevölkerungszahlen gekommen. Den deutlichsten Anstieg verzeichne der Stadtteil I ... x mit 62,28 % bei gleichzeitiger Unterrepräsentation im Gemeinderat von 40,11 %. Auch das Argument der infrastrukturellen Entwicklung der Kernstadt als Schul- und Gewerbestandort seit den 1970er Jahren gehe fehl. Diese positive Entwicklung stehe im direkten Zusammenhang mit einem Anstieg der Einwohnerzahlen im gesamten Gemeindegebiet und rechtfertige nicht, dass die gegenüber dem Stadtteil I ... hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl siebenmal größere Kernstadt mit 12 Sitzen im Gemeinderat vertreten sei. Denn es seien die Eingliederungsvereinbarungen, soweit noch gültig, im Rahmen der örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Unabhängig von der Satzungsänderung hinsichtlich der Sitzzahl und Festlegung der Gemeindegrößengruppe liege zumindest den Eingliederungsvereinbarungen grundsätzlich der Wille der Vertragspartner zu Grunde, unter Inkaufnahme einer Benachteiligung der Kernstadt, den eingegliederten Stadtteilen eine Überrepräsentation einzuräumen. Dass dieser Wille zur dauerhaften Gewährung der besonderen Vertretung in den einzelnen Stadtteilen auch weiterhin bestehe, komme insbesondere durch die Befragungsergebnisse der Einwohner der betroffenen Stadtteile zum Ausdruck. Die Reduzierung der Gemeinderatssitze auf 18 laufe diesem Willen entgegen und führe im Ergebnis zu einer leichten Überrepräsentation der Kernstadt bei gleichzeitiger Unterrepräsentation von mehr als 20 % dreier Wohnbezirke.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Zudem komme es zwischen den „Ein-Sitz-Wohnbezirken“ auf Grund der stark voneinander abweichenden Einwohnerzahlen der Stadtteile zu einer Überrepräsentation der Stadtteile mit weniger als 800 Einwohnern und einer Unterrepräsentation der Stadtteile mit über 800 Einwohnern. Hierbei ergebe sich zwischen dem Stadtteil D ... mit 58,46 % Überrepräsentation und dem Stadtteil I ... mit 40,11 % Unterrepräsentation die größte Differenz. Dabei handele es sich um eine deutliche Abweichung des Vertretungsgewichts der einzelnen Wohnbezirke von ihrem Bevölkerungsanteil. Diese Diskrepanz werde, insbesondere durch die Festsetzung der nächstniedrigeren Gemeindegruppengröße bei der Bestimmung der Sitzzahl verursacht. Dieser Problematik könne allerdings durch die Festsetzung der nächstgrößeren Gemeindegruppengröße gemäß § 25 Abs. 2 GemO begegnet werden. Gehe man von 14.427 Einwohnern aus, so würde sich nach § 25 Abs. 2 GemO eine Gemeinderatszahl von 22 Sitzen ergeben. Durch die Festsetzung der nächstniedrigeren Gemeindegruppengröße durch Anpassung der Hauptsatzung sei zwar grundsätzlich eine Reduzierung auf 18 Gemeinderatssitze im Rahmen des § 25 Abs. 2 Satz 2 GemO möglich. Dies führe allerdings zu einer immer stärker nachteilig wirkenden Unterrepräsentanz und damit zu ungleicher Stimmgewichtung. Eine solche Änderung der Sitzzahlen sei daher stets am Prüfungsmaßstab des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO zu messen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Aus dem Beklagtenvortrag werde gerade nicht deutlich, inwieweit sich dieses unterschiedliche Vertretungsgewicht der „Ein-Sitz-Wohnbezirke“ durch die örtlichen Verhältnisse hinsichtlich der infrastrukturellen Ausstattung der Ortsteile, der eigenständigen Entwicklung der Wohnbezirke oder des in der Bürgerbefragung zum Ausdruck gekommenen Einwohnerwillens rechtfertigen lasse. Offensichtlich sei im Rahmen der Abwägung gerade bewusst und gewollt außer Acht geblieben, inwieweit der Grundgedanke einer effizienten Verwaltung überhaupt mittels Reduzierung der Sitze im Gemeinderat mit dem System der unechten Teilortswahl und den vorherrschenden örtlichen Verhältnissen und der Verteilung der Bevölkerungsanteile in der Gemeinde vereinbar sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Neben den beschriebenen Punkten der Über- bzw. Unterrepräsentation zeige sich daran auch die konkrete Möglichkeit der Beeinflussung des Wahlergebnisses. Gerade die kommunalwahlrechtlichen Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens würden ausgeschlossen, wenn die Klägerin hier gehalten sei, hinsichtlich des unterrepräsentierten Teils I ... zwangsläufig anders wählen zu müssen als sie dies dürfte, wenn ihr die Möglichkeit gegeben wäre, entsprechend der Anteile ihrer Einwohnerzahl mehrere Sitze im Gemeinderat mitbestimmen zu können. Schon deswegen sei der Verstoß gegen § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO „erheblich“ im Sinne des Gesetzes und des § 32 Abs. 1 KomWG.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Die örtlichen Verhältnisse in T ... ... x legten aber auch hinsichtlich der übrigen Punkte, in denen das Gericht eine Rechtsverletzung nicht angenommen habe, eine Überprüfung nahe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Die unechte Teilortswahl sei verfassungswidrig. Das Wahlsystem beeinträchtige durch die Bildung von Wohnbezirken die Klägerin als sogenannte „Zugezogene“ und Einwohnerin eines Ein-Sitz-Wohnbezirks in ihren Mitwirkungsrechten und hinsichtlich der Stimmgewichtung. Die Mitwirkungsrechte der Einwohner innerhalb der Gesamtgemeinde richteten sich nach ihrem Wohnort. Die Erfahrung mit der unechten Teilortswahl habe gezeigt, dass immer wieder dieselben Vertreter größerer Parteien das Mandat ihres „Ein-Sitz-Wohnbezirkes“ erhielten und somit Zugezogene aufgrund ihres Wohnorts in der Gemeinde als Bewerber keine realistische Chance hätten, gewählt zu werden. Selbst die Bildung einer wirkungsvollen Opposition gegen Entscheidungen des Gemeinderats bleibe verwehrt, da von vornherein die Aufstellung einer Liste mit Mitgliedern eines Ortsverbands ihres Wohnbezirks oder gar der Kernstadt versagt bleibe. Diese Abhängigkeit der Mitwirkungsrechte zum Wohnort sowie die starre Begrenzung auf einen Sitz im Gemeinderat führe zu einer Ungleichheit unter den Einwohnern. Um als engagierte Einwohnerin die Interessen der Gemeinde im Gemeinderat vertreten zu können, bedürfte es somit eines Umzuges der Klägerin vor ihrer Aufstellung als Bewerberin in den zentralen Wohnbezirk, denn nur die Kernstadt sei mit mehr als einem Gemeinderatssitz vertreten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Zudem führe die unechte Teilortswahl zwangsläufig zur Verhärtung veralteter und überkommener Strukturen. Mit der Einführung des Absatzes 6 des § 9 KomWG, gültig ab 20.04.2013, solle zumindest der Frauenanteil in den Gemeinderäten gefördert werden, um somit der gesellschaftlichen Realität, den örtlichen Verhältnissen und nicht zuletzt Art. 3 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen. Da das System der unechten Teilortswahl jedoch Neubewerbern in Wohnbezirken mit geringer Sitzzahl praktisch kaum Chancen gegenüber altbewährten Amtsträgern einräume, konterkariere dieses Wahlsystem zwangsläufig und langfristig den Appell des § 9 Abs. 6 KomWG. Fakt sei, dass seit Jahren der Anteil der Männer (aktuell 16 Sitze) den Anteil der Frauen im Gemeinderat weit übersteige. Die unechte Teilortswahl stelle insoweit sicher, dass sich dies - zumindest hinsichtlich der sechs „Ein-Sitz-Wohnbezirke“ - auch in Zukunft nicht ändern werde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Zusätzlich stelle die unechte Teilortswahl eine unnötige Verkomplizierung des ohnehin schon unübersichtlichen Wahlverfahrens dar. Im Ergebnis führe dies nicht nur zu einem unübersichtlichen Stimmzettel, sondern regelmäßig zu einem höheren Prozentsatz ungültiger Stimmabgaben und einer niedrigeren Stimmausschöpfungsquote. Dies führe damit jedenfalls zu einem Verstoß auch gegen Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. Auch bleibe es völlig im Dunkeln, inwieweit teilungültige Stimmen sich auf das Wahlergebnis insgesamt ausgewirkt hätten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (vgl. § 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Die zulässigen Berufungen des beklagten Landes sowie der Beigeladenen sind jeweils nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Verpflichtungsklage im Ergebnis zu Recht stattgegeben und das beklagte Land unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 21.06.2019 verpflichtet, die Wahl zum Gemeinderat der Beigeladenen für ungültig zu erklären. Der Einspruch der Klägerin war teilweise zulässig und soweit er zulässig war, überwiegend begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>I. Der fristgerecht von der Klägerin eingelegte Einspruch gem. § 31 Abs. 1 KomWG (Wahlanfechtung) gegen die Gemeinderatswahl in T ... ... - ... x am 26.05.2019 ist zulässig, soweit sich die Klägerin darauf beruft, dass die unechte Teilortswahl verfassungswidrig sei und sie in ihrem Recht auf angemessene Repräsentation ihres Teilorts verletzt werde (1). Unzulässig ist der Einspruch jedoch im Hinblick auf die weiteren von der Klägerin vorgebrachten Einwendungen (2).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Die Klägerin kann als Wahlberechtigte grundsätzlich die Gültigkeit der Gemeinderatswahl in T ... ... x im Wege der Wahlanfechtung (§ 31 Abs. 1 Satz 1 KomWG) zur Überprüfung stellen, soweit sie sich auf solche Gründe stützt, die in der abschließenden Regelung (Senat, Urt. v. 24.08.1981 - 1 S 400/81 - BWGZ 1982, 574 sowie vom 13.01.1987 - 1 S 1246/86 - VBlBW 1987, 420) des § 32 Abs. 1 KomWG aufgeführt sind. Als weitere Voraussetzung kommt hinzu, dass die Klägerin, die für ihren Einspruch kein Quorum gem. § 31 Abs. 1 Satz 3 a. E. KomWG nachgewiesen hat, die Verletzung eigener Rechte geltend machen muss (§ 31 Abs. 1 Satz 3 KomWG). Die gerichtliche Überprüfung ist auf diejenigen Einspruchsgründe beschränkt, die innerhalb der einwöchigen Einspruchsfrist des § 31 Abs. 1 Satz 1 KomWG geltend gemacht wurden (Senat, Urt. v. 07.03.2007 - 1 S 19/06 - UA S. 11).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Vorliegend kommen einzig Wahlanfechtungsgründe nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG in Betracht, wonach die Wahl für ungültig zu erklären ist, wenn ihr Ergebnis dadurch beeinflusst werden konnte, dass wesentliche Vorschriften über die Wahlvorbereitung, die Wahlhandlung oder über die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses unbeachtet geblieben sind. Dabei ist in der Rechtsprechung des Senats anerkannt, dass - anders als der Beklagte und die Beigeladene meinen - über das reine Wahlverfahren und die ordnungsgemäße Anwendung der Wahlvorschriften des Kommunalwahlgesetzes hinaus auch die Rechtsgrundlagen der Wahl als solche zum Gegenstand der Wahlanfechtung gemacht werden können (vgl. Senat, Beschl. v. 09.06.1980 - 1 S 952/80 - juris Rn. 25; Beschl. v. 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38, BA S. 5; Beschluss v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86 - VBlBW 1987, 420; Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 - BWGZ 1993, 506, BA S. 5; Urt. v. 26.02.1996 - 1 S 2570/95 - juris Rn. 24; Beschl. v. 17.10.2002 - 1 S 2114/99 -, juris Rn. 56; Urt. v. 07.03.2007 - 1 S 19/06 - UA. S. 11). Als wesentliche Vorschriften über die Wahlvorbereitung, die Wahlhandlung oder über die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses i.S.d. § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG sind daher alle Vorschriften zu verstehen, die entweder die tragenden Grund-sätze des Wahlrechts (die allgemeine, gleiche, unmittelbare, freie und geheime Wahl) sichern sollen, oder solche, welche die Öffentlichkeit des Verfahrens und korrekte wahlrechtliche Entscheidungen sowie die richtige Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses gewährleisten sollen (Quecke/Bock/Königsberg, Das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg, 7. Aufl., § 32, Rn. 98). Denn die Überprüfung der Rechtsgrundlagen für die Ermittlung des Wahlergebnisses i.S.v. § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG ist eine notwendige Voraussetzung für die Prüfung der Frage, ob das Wahlergebnis korrekt ermittelt wurde (vgl. Senat, Beschl. v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86 - VBlBW 1987, 420). Dabei hat der Einzelne kein Recht auf ein ordnungsgemäßes Wahlverfahren (vgl. Senat, Urt. v. 08.03.1976 - I 1346/75 - EKBW KomWG § 31 E 7 und v. 24.08.1981 -1 S 400/81 - BWGZ 1982, 574), sondern muss die Verletzung eigener Rechte geltend machen. Zu prüfen ist daher, welche Vorschriften im Sinne des § 32 Abs. 1 KomWG subjektive Rechte begründen, indem sie neben dem öffentlichen Interesse an einem ordnungsgemäßen Wahlverfahren auch den Schutz des Einzelnen in seiner Stellung als Wahlberechtigten oder als Bewerber bezwecken (Senat, Urt. v. 24.08.1981 - 1 S 400/81 - BWGZ 1982, 574).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>1. Gemessen hieran hat die Klägerin mit ihrem rechtzeitig erhobenen Einspruch und dem Vortrag, dass die Vorschriften der unechten Teilortswahl in verfassungswidriger Weise gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV und 28 Abs. 2 Satz 2 GG) verstoßen und sie darüber hinaus durch die in der Hauptsatzung festgelegte Sitzverteilung in ihrem Recht auf angemessene Repräsentation ihres Teilorts aus § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO verletzt ist, einen tauglichen Wahlanfechtungsgrund geltend gemacht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Die unechte Teilortswahl, die sich dadurch auszeichnet, dass durch Gemeindesatzung Teilorten eine Vertretung im Gemeinderat gesichert werden kann (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV und 28 Abs. 2 Satz 2 GG), läuft dem allgemeinen Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit der Wahl zuwider (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV und 28 Abs. 2 Satz 2 GG), denn aus der Garantie einer bestimmten Anzahl von Sitzen für einen Wohnbezirk ergibt sich regelmäßig ein stärkerer Erfolgswert der Stimmen, die für die als Vertreter des Wohnbezirks gewählten Bewerber abgegeben werden (vgl. Senat, Beschl. v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86 -, VBlBW 1987, 420). Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl hat neben dem objektivrechtlichen Gehalt für die Bildung des Vertretungsorgans, auch Bedeutung für die subjektiven Rechte der Wahlberechtigten, nämlich auf formal möglichst gleiche Berücksichtigung ihrer abgegebenen Stimmen (st. Rspr. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <102>, juris Rn. 102; Urt. v. 10.04.1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 <417>, juris Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Auch die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob die Sitzverteilung in der Hauptsatzung den Anforderungen des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO gerecht wird, betrifft eine subjektive Rechtsposition der Klägerin. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO bestimmt für die Verteilung der Sitze auf die Wohnbezirke im Vorfeld einer Wahl durch die Hauptsatzung einer Gemeinde, dass die örtlichen Verhältnisse und der Bevölkerungsanteil zu berücksichtigen sind. So soll bei der unechten Teil-ortswahl sichergestellt werden, dass die systembedingten Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit, die sich durch die Sicherung von Gemeinderatssitzen der eingegliederten Stadtteile ergeben, nicht willkürlich erfolgen. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass auch die Interessen der Einwohner meist kleinerer Stadtteile, die im Zuge der Eingliederung ihre Selbstständigkeit verloren haben, durch eine entsprechende Repräsentation im Gemeinderat vertreten werden. Die Klägerin hat als Bürgerin und Bewohnerin eines von der Sitzverteilung betroffenen Wohnbezirks daher ein subjektives Recht auf die dem Gesetz entsprechende Repräsentation ihres Wohnbezirks im Gemeinderat (Senat, Beschl. v. 17.10.2002 - 1 S 2114/99 -, UA S. 19; Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 -; 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38; Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - UA S. 5; Beschl. v. 25.05.1981 - 1 S 277/81; Beschl. v. 09.06.1980 - 1 S 952/80 - juris; von Rotberg, VBlBW 1984, 297 <303>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>2. Die Wahlanfechtung kann hingegen nicht auf die weiteren von der Klägerin geltend gemachten Einspruchsgründe gestützt werden, da insoweit keine Verletzung subjektiver Rechte in Betracht kommt und die Klägerin kein Quorum gem. § 31 Abs. 1 Satz 3 KomWG nachgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Soweit die Klägerin vorträgt, dass sie als Zugezogene eines Teilorts mit (nur) einem garantierten Sitz im Gemeinderat benachteiligt und in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt sei, weil sie im Fall einer eigenen Kandidatur selbst keine „realistische Chance“ gehabt hätte, gewählt zu werden, dringt sie hiermit nicht durch. Da sie bei der angefochtenen Gemeinderatswahl gerade nicht selbst kandidiert hat, kann sie sich nicht auf die mögliche Verletzung ihres passiven Wahlrechts berufen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Mit dem weiter erhobenen Einwand, die vom Wahlleiter zugelassenen Wahlvorschläge verstießen gegen § 9 Abs. 6 Satz 1 und 2 KomWG, vermag die Klägerin ebenso keine subjektive Rechtsverletzung darzulegen. § 9 Abs. 6 KomWG bestimmt, dass Männer und Frauen gleichermaßen bei der Aufstellung eines Wahlvorschlags berücksichtigt werden sollen (Satz 1). Dies kann in der Weise erfolgen, dass in den jeweiligen Wahlvorschlägen Männer und Frauen abwechselnd berücksichtigt werden (Satz 2), wobei die Beachtung von § 9 Abs. 6 Satz 1 und 2 KomWG nicht Voraussetzung für die Zulassung eines Wahlvorschlags ist (Satz 3). Schon aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 6 KomWG ergibt sich, dass dieser weder verpflichtende Vorgaben für die Aufstellung der Wahlvorschläge enthält, noch dem einzelnen Wähler hieraus eine subjektive Rechtsposition erwächst (vgl. Quecke/Bock/Königsberg, a.a.O., § 9 Rn. 17a). Diese Auslegung entspricht auch dem gesetzgeberischen Willen, nach dem die Vorschrift lediglich appellativen Charakter haben soll und keine subjektiven Rechte vermittelt (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zur Einführung des § 9 Abs. 6 KomWG, LT.-Drucks. 15/3214).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Auch die Rüge der Klägerin, das Wahlsystem der unechten Teilortswahl sei zu kompliziert und die Stimmzettel zu verwirrend, es sei selbst ihr als Akademikerin nicht gelungen, einen gültigen Stimmzettel abzugeben, vermag keine Verletzung subjektiver Rechte der Klägerin zu begründen. Einem Wahlberechtigten kann grundsätzlich zugemutet werden, sich mit den jeweiligen Wahlmodalitäten rechtzeitig vor Stimmabgabe vertraut zu machen. Dass die Gestaltung der Stimmzettel nicht den gesetzlichen Vorgaben (§§ 18 KomWG, 24 KomWO iVm Anlage 6a) entsprochen hat, hat die Klägerin nicht geltend gemacht. Hierfür liegen auch keine Anhaltspunkte vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>II. Soweit die Wahlanfechtung zulässig ist, ist sie in Teilen begründet. Zwar bestehen keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der unechten Teilortswahl (1), jedoch wurde die Klägerin durch die Regelungen der Hauptsatzung der Beigeladenen über die Sitzverteilung im Gemeinderat in ihrem Recht auf angemessene Repräsentation ihres Wohnbezirks verletzt (2). Durch den Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften wurde auch das Ergebnis der Wahl beeinflusst (3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>1. Wie der Senat wiederholt und in ständiger Rechtsprechung - an der er weiter festhält - entschieden hat (vgl. Beschl. v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86; v. 12.10.1987 - 1 S 89/86 - BWVPr 1988, 259; Beschl.v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89, B.A. S. 6), ist die Ausgestaltung des Kommunalwahlrechts in der Form der unechten Teilortswahl verfassungsgemäß.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Charakteristisch für die nach Art. 72 Abs. 1 Satz 3 LV zugelassene und in § 27 Abs. 2 bis 5 GemO näher ausgestaltete unechte Teilortswahl - die württembergischer Tradition entspricht und 1953 landesweit eingeführt wurde (Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts v. 13.07.1953, GBl. S. 97) - ist die Sicherstellung einer Repräsentation des Teilorts einer durch Eingemeindung oder Zusammenschluss entstandenen (neuen) Gemeinde durch eine garantierte Anzahl von Gemeinderatsmitgliedern aus dem bestimmten Wohnbezirk. Die Bewerber sämtlicher Wohnbezirke (mit jeweils garantierten Sitzzahlen) stellen sich dabei jedoch für alle Wähler der Gemeinde im Sinne eines einheitlichen Wahlgebiet zur Wahl und sind so vom Votum der Wahlberechtigten nicht alleine des jeweiligen Wohnbezirks, sondern der ganzen Gemeinde abhängig. Diese Teilortswahl wird als „unecht“ bezeichnet, weil jeder Wahlberechtigte die Gemeinderäte aller Ortsteile und nicht nur die seines Wohnbezirks und Teilorts wählt, und somit seinen Einfluss auf die Bildung der gesamten Vertretung ausübt (§ 27 Abs. 2 Satz 3 GemO; § 25 Abs. 2 KomWG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Das System der unechten Teilortswahl läuft dabei in gewissem Umfang dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit der Stimmen zuwider. Denn aus der Garantie einer bestimmten Anzahl von Sitzen für einen Wohnbezirk ergibt sich regelmäßig ein stärkerer Erfolgswert der Stimmen, die für die als Vertreter des Wohnbezirks gewählten Bewerber abgegeben werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Für Gemeinderatswahlen gelten die verfassungsrechtlich verankerten Wahlgrundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV, Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG). Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verlangt, dass die Stimme jedes Wählers den gleichen Zählwert hat. Beim Verhältniswahlrecht - wie es in Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV für den Fall, dass mehr als eine gültige Wahlvorschlagsliste eingereicht ist, gefordert wird - muss darüber hinaus auch der gleiche Erfolgswert gewährleistet sein. Hieraus folgt, dass alle Wähler mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben müssen, und jede Stimme bei der Zuteilung von Mandaten in gleicher Weise berücksichtigt werden soll. Differenzierungen bedürfen immer besonderer Rechtfertigungsgründe (st. Rspr. BVerfG, Urt. v. 05.04.1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 <244>; BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <102>, juris Rn. 102; Urt. v. 10.04.1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 <417>, juris Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Da die tendenziell gegenläufigen Prinzipien der Sicherung einer Vertretung der Teilorte im Gemeinderat und der Wahlrechtsgleichheit gleichermaßen in der Landesverfassung normiert sind, besitzt der Gesetzgeber einen eng bemessenen Spielraum für Differenzierungen hinsichtlich des Erfolgswertes der Stimme und der Chance des Bewerbers, wenn ein besonderer, rechtfertigender, sachlich zwingender Grund vorliegt, der sich aus Zweck und Natur des Wahlverfahrens ergeben kann (vgl. BVerfG, Urt. v. 23.01.1957 - 2 BvE 2/56 - BVerfGE 6, 90, juris; Beschl. v. 06.12.1961 - 2 BvR 399/61 - BVerfGE 13, 246, juris). Im Interesse eines optimierenden Ausgleichs ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Grundsätze der Verhältniswahl soweit als möglich zu berücksichtigen, jedenfalls „das System der Verhältniswahl nicht völlig preiszugeben oder in einer das Gerechtigkeitsgefühl grob verletzenden Weise zurückzudrängen“ (StGH, Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 - ESVGH 29, 160 <164>). Um Verzerrungen im Hinblick auf die Erfolgswertgleichheit der Wahl entgegenzuwirken, hat der Gesetzgeber einen Verhältnisausgleich durch Zuteilung von Ausgleichssitzen (§ 25 Abs. 2 Satz 3 GemO, §§ 25 Abs. 2, 26 Abs. 2 KomWG) eingeführt (ausführlich dazu Finkbeiner, BWVPr. 1980, 50). Darüber hinaus bleibt das Recht der Bürger an der „gleichmäßigen Teilnahme“ an der Wahl sämtlicher Gemeinderäte unberührt (§ 27 Abs. 2 Satz 3 GemO), d.h. die für die Kandidaten in den Teilorten abgegebenen Stimmen bleiben bei der Feststellung des Gesamtwahlergebnisses relevant (§ 25 Abs. 2 Satz 5 KomWG), auch wenn der vom einzelnen Wahlberechtigten gewählte Kandidat im jeweiligen Teilort nicht den Sitz gewonnen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Entsprechend dieser Maßstäbe geht auch der Einwand der Klägerin, dass der Ersatzkandidat der CDU für den Wohnbezirk I ..., Herr ... ..., mit nur 191 erhaltenen Stimmen theoretisch als Ersatzperson in den Gemeinderat nachrücken könnte, obwohl die Bewerber der Bürgerliste, Herr ... ... - und Herr ... x ..., mit je 1.331 und 501 Stimmen in ihrem Ergebnis um ein Vielfaches mehr demokratisch legitimiert seien, ins Leere. Das Nachrücken von Ersatzpersonen bei der unechten Teilortswahl bestimmt sich nach § 26 Abs. 2 Satz 1 und 2 KomWG und findet innerhalb des bei der Erstzuteilung obsiegenden Wahlvorschlags statt. Ersatzpersonen bei der Zweitzuteilung beim sog. Verhältnisausgleich hingegen werden aufgrund ihrer persönlich erreichten Stimmen bestimmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Die Grundsätze der Verhältniswahl werden schließlich auch dann hinreichend berücksichtigt, wenn die Wähler eines kleineren Teilorts anders als die Wähler des Hauptorts nicht sämtliche Stimmen an die Bewerber des Teilorts vergeben können. Dadurch wird das Erfordernis des gleichen Erfolgswerts nicht beeinträchtigt, denn Bezugsgröße ist nicht der einzelne Wohnbezirk, sondern das gesamte Wahlgebiet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>b) Die Wahlanfechtung ist jedoch begründet, soweit sich die Klägerin auf die mangelhafte Repräsentation ihres Wohnbezirks I ... im Gemeinderat beruft, denn die konkrete Ausgestaltung der unechten Teilortswahl durch die zum Zeitpunkt der Wahl gültige Hauptsatzung genügt den gesetzlichen Vorgaben des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Gem. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO sind bei der unechten Teilortswahl bei der Bestimmung der auf die einzelnen Wohnbezirke entfallenden Anzahl der Sitze die örtlichen Verhältnisse und der Bevölkerungsanteil zu berücksichtigen. Bereits aus dem Wortlaut folgt nach ständiger Rechtsprechung des Senats, dass der Gemeinderat bei der Sitzverteilung in der Hauptsatzung an die in § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO normierten Grundsätze nicht strikt gebunden ist, sondern sie im Rahmen seines Satzungsermessens in seine Erwägungen einzubeziehen und „soweit als möglich zu berücksichtigen“ hat (vgl. Senat, Beschl. vom 27.03.1980 - 1 S 378/80 -; Beschl. v. 10.03.1975 - I 238/75 - ESVGH 25, 54). Die Grenze des Entscheidungsspielraums des Gemeinderats ist überschritten, wenn bei der in der Satzung geregelten Sitzverteilung einer der beiden im § 27 Abs. 2 Satz 4 GO normierten Grundsätze völlig preisgegeben oder „in einer das Gerechtigkeitsgefühl grob verletzenden Weise“ zurückgedrängt worden ist. Erforderlich ist deshalb, dass die Entscheidung des Gemeinderats, wenn neben den immer relevanten Bevölkerungsanteilen noch besondere örtliche Verhältnisse zu berücksichtigen sind, auf einer Abwägung dieser beiden Gesichtspunkte untereinander beruht, die an dem Erfordernis grundsätzlicher Gleichwertigkeit der Vertretung orientiert ist. Dass dabei in Einzelfällen das öffentliche Interesse an einer dem Bevölkerungsanteil entsprechenden oder zumindest möglichst nahekommenden Sitzverteilung zugunsten besonderer örtlicher Verhältnisse in der Gemeinde vernachlässigt werden kann, entspricht den Besonderheiten der unechten Teilortswahl, deren vom Gesetz gewollter Zweck es ist, durch eine gesonderte Vertretung räumlich getrennter Teile eines einheitlichen Wahlgebiets den gemeindepolitisch erwünschten Ausgleich von Interessengegensätzen unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erreichen (vgl. Senat, Beschl. vom 27.03.1980 - 1 S 378/80 -; Beschl. v. 10.03.1975 - I 238/75 - ESVGH 25, 54). In dem Urteil des Staatsgerichtshofs vom 14.07.1979 (Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 - ESVGH 29, 160 <164>) wird ebenso wie in der ständigen Rechtsprechung des Senats zur unechten Teilortswahl hervorgehoben, dass die Notwendigkeit eines Ausgleichs der verschiedenen, möglicherweise auch kontroversen Interessen in den einzelnen Ortsteilen eine besondere Bedeutung durch die Eingemeindungen und Gemeindezusammenschlüsse während der Kommunalreform erhalten hat, und dass dieser Gesichtspunkt in Einzelfällen auch Überrepräsentationen von Gemeindeteilen im Gemeinderat rechtfertigen kann, die bei dieser Reform ihre ursprüngliche Eigenständigkeit als politische Gemeinde verloren haben (vgl. Senat, Beschl. v. 25.06.1968 - I 75/68 - ESVGH 19, 18, Beschl. v. 09.06.1980 - 1 S 952/80 -, juris Rn. 33; Beschl. v. 04.08.1989 - 1 S 1754/89, B.A. 9; Urt. v. 26.05.1996 - 1 S 2570/95 - juris Rn. 33).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Gemessen an diesen Kriterien hat die Klägerin zu Recht darauf hingewiesen, dass die Sitzverteilung, wie sie in der im Zeitpunkt der Wahl gültigen Hauptsatzung vom 19.10.2016 festgelegt war, zu erheblichen Über- bzw. Unterrepräsentationen zwischen den einzelnen Teilorten und der Kernstadt T ... - ... führt, welche nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Diese Über- bzw. Unterrepräsentation lässt sich berechnen, indem der Quotient von Gesamteinwohnerzahl und Zahl der Gemeinderatssitze (sog. Schlüsselzahl) mit der dem Teilort zugeteilten Sitzzahl multipliziert (ergibt die sog. Einwohnerrichtzahl) und die Differenz zwischen dieser Einwohnerrichtzahl und der tatsächlichen Einwohnerzahl des Teilorts durch die Einwohnerrichtzahl dividiert wird (vgl. Senat, Beschl. v. 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38; Runderlass des Innenministeriums v. 30.08.1978, GABl. S. 920 Nr. 2 zu § 27).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Entsprechend der Einwohnerzahl zum maßgeblichen Stichtag am 30.09.2017 (§ 57 KomWG) ergibt sich folgende Repräsentationsquote:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table border="1" class="Rsp"><tr><th colspan="0" rowspan="1"><rd nr="76"/></th></tr><tr><th colspan="5" rowspan="1"/></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Ort </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Einwohner</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Sitze GR</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Einwohnerrichtzahl</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Repräsentation</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">T ... ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">9.515 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">12 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">9.592,0</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 0,80 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">I ... </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1.108 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">- 38,54 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">H ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">766 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 4,17 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">D ... </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">342 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 57,21 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Ditt ...</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">747 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 6,54 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dittig ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">968 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">- 21,10 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dis ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">942 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">- 17,85 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Gesamt</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">14.388</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>Ausgehend von der Einwohnerzahl ist somit der Wohnort der Klägerin I ... x- ... um 38,54 % unterrepräsentiert. Eine Unterrepräsentation liegt auch für die Teilorte Dittig ... x (- 21,1 %) und Dis ... x (- 17,85 %) vor. Eine signifikante Überrepräsentation zeigt sich hingegen für den Teilort D ... mit + 57,21 %, der die wenigsten Einwohner im Gemeindegebiet hat, aber ebenso über einen garantierten Sitz im Gemeinderat verfügt wie die anderen Teilorte. Leichte Überrepräsentationen liegen auch in den Teilorten H ... x (+ 4,17 %) und Ditt ... (+ 6,54 %) vor, wohingegen die Kernstadt mit 12 Sitzen gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil ein beinahe ausgeglichenes Verhältnis (+ 0,8 %) zeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Wie anhand der Kriterien für die Sitzverteilung in § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO gezeigt, lässt sich die Grenze der zulässigen Abweichung von einer an Einwohnerzahlen orientierten Sitzverteilung nicht schematisch festlegen (vgl. Senat, Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 - BWGZ 1993, 506), sondern erfordert immer eine Betrachtung des Einzelfalls. Teilweise orientierten sich die Gemeinden an einem - mittlerweile aufgehobenen - entsprechenden Runderlass des Innenministeriums vom 30.08.1978 (GABl. S. 920 Nr. 2 zu § 27), der eine Abweichung von bis zu 20% als zulässig erachtete, die mit zunehmender Größe der Wohnbezirke jedoch weniger betragen sollte. In der Rechtsprechung des erkennenden Senats wurde in der Vergangenheit eine Unterrepräsentation von 30 % nicht beanstandet, wenn in dem entsprechenden Teilort ein Ortschaftsrat eingeführt war (vgl. Senat, Beschl. v. 26.02.1996 - 1 S 2570/95 - juris Rn. 34), hingegen wurde in einem anderen Verfahren eine Unterrepräsentation von 22 % wegen des Fehlens eines rechtfertigenden Grundes gerügt (vgl. Senat, Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - VBlBW 1990,22). Ungeachtet starrer Prozentgrenzen gilt daher: Eine über die bei unechter Teilortswahl systembedingte Verzerrung der Vertretungsgewichte hinausgehende Über- oder Unterrepräsentation einzelner Ortsteile im Gemeinderat ist rechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie am Maßstab der örtlichen Verhältnisse durch überwiegende sachliche Gründe gerechtfertigt ist (vgl. Senat, Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - ESVGH 39, 301). Dies ist hier nicht der Fall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Der Beklagte und die Beigeladene als Satzungsgeberin haben für die Teilorte Ditt ..., Dis ... x und den hier zu prüfenden Teilort I ... nicht dargelegt, ob und wie die Unter- bzw. Überrepräsentation der einzelnen Wohnbezirke - wie sie sich durch die in der im Zeitpunkt der Wahl gültigen Hauptsatzung vom 19.10.2016 festgelegten Verteilung der Sitze (die seit der Hauptsatzungsänderung vom 27.01.1999 unverändert war) ergibt - am Maßstab der örtlichen Verhältnisse durch überwiegend sachliche Gründe gerechtfertigt wären. Das Satzungsermessen ist insoweit fehlerhaft ausgeübt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>Soweit der Beklagte darauf verweist, dass der Gemeinderat der Beigeladenen bei der Änderung der Hauptsatzung die sich aus § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO ergebende „Beschränkung des Satzungsermessens“ vollumfänglich beachtet habe, substantiiert er dies nicht ausreichend. Ausweislich des - erst im Berufungsverfahren vorgelegten - Sitzungsprotokolls der Gemeinderatssitzung vom 27.01.1999, in der die Änderung der Hauptsatzung im Hinblick auf die Sitzverteilung zwischen der Kernstadt T ... ... und den sechs Teilorten beschlossen wurde, bezweckte der Satzungsgeber (der Gemeinderat der Beigeladenen) eine Reduzierung der Sitzzahl des Gremiums von vormals 26 auf 18 Sitzen bei gleichzeitiger Beibehaltung der unechten Teilortswahl. Durch die Reduzierung der Gesamtsitzzahl sollte die Effizienz des Gremiums gesteigert und dem anlässlich einer schriftlichen Bürgerbefragung eruierten Mehrheitswillen in den sechs Teilorten bezüglich der Beibehaltung des Systems der unechten Teilortswahl Rechnung getragen werden, indem jedem Teilort ein Sitz im Gemeinderat garantiert wurde. Bei der Festlegung der Gesamtsitzzahl von 18 orientierte sich der Satzungsgeber an der für die Beigeladene relevanten nächstniedrigeren Gemeindegrößengruppe gem. § 25 Abs. 2 GemO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Dem Sitzungsprotokoll ist auch zu entnehmen, dass das Problem der Über- bzw. Unterrepräsentation von den beteiligten Gemeinderäten erörtert wurde. Eine Begründung für die teils gravierende Über- bzw. Unterrepräsentation ist jedoch allenfalls in Ansätzen erkennbar: Die deutliche Überrepräsentation des Teilorts D ... von 57 % dürfte mit dem ausdrücklichen Willen des Satzungsgebers, jedem Teilort einen Sitz zu garantieren, erklärbar sein. Un-</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>problematisch erscheint auch die Zuteilung je eines garantierten Sitzes für Ditt- ... und H ... x, die gemessen an ihrer Einwohnerzahl nur leicht über der Einwohnerrichtzahl liegen. Gleiches gilt für die Kernstadt T ... ..., deren zwölf garantierte Sitze genau proportional dem Bevölkerungsanteil entsprechen. Eine darüber hinaus gehende Erklärung für die Unterrepräsentation von jeweils ca. 20% der Teilorte Dis ... x und Dittig ... x findet sich jedoch nicht, erst Recht fehlt eine Begründung, warum dem einwohnerstärksten Teilort I ... nur ein garantierter Sitz zugeteilt wurde, was im Vergleich zu den anderen Teilorten zu einer Unterrepräsentation von 38,5 % führt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Die Garantie von zwölf Sitzen für die Kernstadt T ... ... x, die nach den obigen Berechnungen genau proportional dem Bevölkerungsanteil entspricht, begründen der Beklagte und die Beigeladene mit der infrastrukturellen Entwicklung und der gestiegenen Bedeutung als Schul- und Gewerbestandort, sowie der Tatsache, dass für die Kernstadt kein Ortschaftsrat bestehe und die Zahl von zwölf Sitzen daher gerechtfertigt sei. Diese Argumentation, die sich nur hinsichtlich des fehlenden Ortschaftsrats in den Materialien zur Satzungsänderung wiederfindet, bietet keine Erklärung für die differierenden Repräsentationsanteile der kleineren Teilorte. Grundsätzlich kann das Vorhandensein eines Ortschaftsrats zwar eine Unterrepräsentation kompensieren (vgl. erneut Senat, Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 - BWGZ 1993, 906), auch dies führt hier jedoch zu keiner Rechtfertigung der Diskrepanz der Vertretungsanteile, da außer der Kernstadt T ... ... für jeden Teilort ein eigener Ortschaftsrat eingerichtet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>Als Kriterien für die bei der Sitzzuteilung gem. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO zu berücksichtigenden „örtliche Verhältnisse“ können nicht, wie die Beteiligten mit unterschiedlichen Argumenten meinen, die Eingliederungsvereinbarungen aus den 1970er Jahren zwischen dem „Hauptort“ T ... ... und den Teilorten herangezogen werden, denn mit der Neuverteilung der Gemeinderatssitze durch die Hauptsatzung vom 27.01.1999 ist die Bindungswirkung der Eingliederungsvereinbarungen entfallen. Zwar wurden die Eingliederungsvereinbarungen zwischen dem Hauptort T ... ... x und den Teilorten nach ihrem Wortlaut jeweils auf unbestimmte Zeit und ohne Anpassungsklauseln geschlossen, daraus folgt jedoch nicht, dass die Bestimmungen in den Eingliederungsvereinbarungen unbefristete Geltung beanspruchen können. Denn wenn dem Satzungsgeber gem. § 27 Abs. 6 GemO die Möglichkeit eingeräumt ist, durch Änderung der Hauptsatzung die durch Eingemeindungsvereinbarung nach § 8 Abs. 2 und 9 Abs. 4 GemO auf unbestimmte Zeit eingeführte unechte Teilortswahl - frühestens zur übernächsten regelmäßigen Wahl der Gemeinderäte nach ihrer erstmaligen Anwendung - aufzuheben, dann kann er gleichsam als „Weniger“ gegenüber der Aufhebung entscheiden, die Sitzverteilung - in Einklang mit § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO - zu ändern (so schon Senat, Beschl. v. 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38; vgl. auch Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums zur Gemeindeordnung für Baden-Württemberg - VwV GemO vom 01.12.1985, GBl. 1113, § 27 Ziff. 2; Bock, in: Kunze/Bronner/Katz, Stand April 2021, § 27 GemO, Rn. 20; Pautsch, in: Kommunalverfassungsrecht Baden-Württemberg, November 2018, § 27 GemO, S. 2). Mit der Neuregelung der Gesamtsitzzahl waren somit die Regelungen in den Eingliederungsvereinbarungen hinsichtlich der garantierten Sitzzahlen sowie die überwiegend festgeschriebene Verpflichtung, die Zahl der Gemeinderäte nach der nächsthöheren Gemeindegrößengruppe zu bestimmen (§ 5 Nr. 2 Eingliederungsvereinbarung Ditt ... vom 26.04.1974) hinfällig, und die Beigeladene verpflichtet, die Sitzverteilung entsprechend der Kriterien des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO neu zu regeln.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="85"/>Auch sonstige historische Gründe, die die vorgenommene Sitzverteilung und damit auch die Unterrepräsentation von I ... rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Satzungsgeber hat bei der Änderung der Sitzverteilung im Gemeinderat ausdrücklich beschlossen, die unechte Teilortswahl aufrecht zu erhalten und jedem der sechs Teilorte eine Repräsentation im Gemeinderat durch garantierte Zuteilung eines Sitzes zu gewährleisten. Eine Erklärung für die Unterrepräsentation von I ... folgt hieraus jedoch ebenfalls nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="86"/>Soweit der Beklagte und die Beigeladene anführen, dass entsprechend der nach § 25 GemO „gesetzlich möglichen Sitzzahlfestlegung“ auf „Basis des status quo“ es „wohl irgendwo (immer) zu einer Überschreitung der 20-Prozent-Grenze“ komme und auch das Verwaltungsgericht keine Berechnung aufgezeigt habe, in der die 20 %-Grenze „unter diesen Prämissen eingehalten“ werde und Wahlanfechtungen vorprogrammiert seien, da eine gerechte Berechnung „realitätsfern“ sei und daher im Ergebnis nur eine Abschaffung der unechten Teilortswahl rechtssichere Zustände schaffen könne, verfängt dies nicht. § 25 Abs. 2 Satz 2 2. HS GemO räumt den Gemeinden mit unechter Teilortswahl ausdrücklich die Möglichkeit ein, eine zwischen den Gemeindegrößengruppen liegende Zahl an Gemeinderäten festzulegen. Diese Sonderregelung nur für Gemeinden mit unechter Teilortswahl soll gerade dem Prüfungsmaßstab des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO Rechnung tragen und eine flexible Verteilung der Sitzzahlen ermöglichen. Der einzelnen Gemeinde wird hierdurch ermöglicht, eine den besonderen örtlichen Verhältnissen angepasste Größe der Gemeinderatsgremien zu finden (Bock, in: Kunze/Bronner/Katz, Stand April 2021, § 25 GemO, Rn. 5; LT-Drs. 11/2376 Gesetzentwurf zur Änderung der GemO, Neueinführung § 25 Abs. 2 Satz 2, 2. Hs.) und durch eine passgenaue Festlegung der garantierten Sitzzahlen zu verhindern, dass es zu gesetzeswidrigen Schieflagen bei den Repräsentationsverhältnissen kommt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="87"/>Der Senat verkennt nicht, dass die Besonderheiten der unechten Teilortswahl in manchen Konstellationen rein rechnerisch dazu führen können, dass gänzlich ausgeglichene Repräsentationsverhältnisse nicht - oder nur unter erheblicher Erhöhung der Gesamtsitzzahl - hergestellt werden können. Darüber hinaus kann es durchaus vorkommen, dass sich die Repräsentationsverhältnisse auch bei Änderung des Bevölkerungsanteils oder sonstiger örtlicher Verhältnisse wieder verschieben können. Der Gemeinde obliegt daher eine Verpflichtung zur regelmäßigen Überprüfung, ob die Kriterien des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO noch eingehalten werden. Ändern sich beispielsweise die Einwohnerzahlen stark, so ist gegebenenfalls eine Anpassung der Regelungen zur unechten Teilortswahl in der Hauptsatzung zu prüfen. Dabei ist zu beachten, dass bei Änderung der Sitzzahl in einem Wohnbezirk, die Sitzverteilung auch im Übrigen neu geregelt werden muss (vgl. Senat, Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - ESVGH 39, 301). Für eine solche Neuregelung kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht. Es ist Sache des Gemeinderats über die Ausgestaltung im Rahmen des Zulässigen zu entscheiden und im Falle der Beibehaltung der unechten Teilortswahl entsprechend seines Satzungsermessens zu begründen, auf welcher Basis die sich ergebenden Repräsentationsverhältnisse gewählt wurden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="88"/>3. Der festgestellte Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften hat auch Auswirkungen auf das Wahlergebnis, da bei einer den Anforderungen des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO genügenden Sitzverteilung die Zusammensetzung des Gemeinderats eine andere wäre.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="89"/>Die Erheblichkeitsklausel des § 32 Abs. 1 KomWG dient dem Zweck, die Wahl möglichst aufrecht zu erhalten, da die Wählerschaft im Rahmen des Vertretbaren vor unnötiger Belastung mit Neuwahlen und die Gemeinden und Landkreise vor dem damit verbundenen Aufwand bewahrt werden sollen (Quecke/Bock/Königsberg, a.a.O., § 32, Rn. 104). Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG ist die Wahl für ungültig zu erklären, wenn ihr Ergebnis dadurch beeinflusst werden konnte, dass wesentliche Vorschriften über die Wahlvorbereitung, die Wahlhandlung oder über die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses unbeachtet geblieben sind. Dabei reicht nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs eine bloß abstrakte Möglichkeit des Einflusses auf das Wahlergebnis nicht aus. Notwendig ist eine konkrete und nach der Lebenserfahrung nicht ganz fernliegende Möglichkeit der Beeinflussung des Wahlergebnisses. Nur wenn unbehebbare Zweifel an der Richtigkeit des Wahlergebnisses vorliegen, kommt eine Ungültigerklärung der Wahl in Betracht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.03.1959 - 4 F 171/58 - EKBW KomWG § 32 E 3; Urt. v. 18.02.1964 - III 405/61 - ESVGH 14, 11 = EKBW KomWG § 32 E 4; Urt. v. 18.08.1964 - III 733/63 - ESVGH 14, 193 = EKBW KomWG § 32 E 5; Urt. v. 04.03.1970 - I 703/69 - ESVGH 21, 93 = EKBW KomWG § 32 E 19; Urt. v. 26.04.1982 - 1 S 2416/83 - VBlBW 1983, 34; Urt. v. 02.12.1985 - 1 S 2083/85 - EKBW § 32 E 36; Urt. v. 17.02.1992 - 1 S 2266/91 - EKBW KomWG § 32 E 39; Urt. v. 27.01.1997 - 1 S 1741/96 - EKBW KomWG § 32 E 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="90"/>Wie gezeigt verstößt die in der Hauptsatzung festgelegte Sitzverteilung im Rahmen der unechten Teilortswahl gegen das Recht der Klägerin auf angemessene Repräsentation ihres Teilortes. Sachliche Gründe, warum der Teilort I ... mit nur einem Sitz im Verhältnis zur Einwohnerzahl und Gesamtsitzverteilung mit ca. 38 % unterrepräsentiert ist, sind nicht ersichtlich. Die in der Hauptsatzung festgelegte Sitzverteilung war somit rechtswidrig. Dieser Wahlfehler hat Einfluss auf das Wahlergebnis, weil es bei anderer - den Anforderungen des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO entsprechender - Sitzverteilung zu abweichenden Wahlvorschlägen, einer abweichenden Verteilung der Wählerstimmen und damit wahrscheinlich zu einem anderen Wahlergebnis gekommen wäre.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="91"/>III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und Abs. 3 VwGO. Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="92"/>Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="93"/><strong>Beschluss</strong><br/><strong>vom 18. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,- EUR festgesetzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>95 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="95"/>Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 1 GKG, in Anlehnung an Nr. 22.1.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, da Streitgegenstand die Anfechtung einer Wahl durch eine Bürgerin ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>96 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="96"/>Die Abänderung des Streitwerts für das erstinstanzliche Verfahren beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>97 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="97"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (vgl. § 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Die zulässigen Berufungen des beklagten Landes sowie der Beigeladenen sind jeweils nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Verpflichtungsklage im Ergebnis zu Recht stattgegeben und das beklagte Land unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 21.06.2019 verpflichtet, die Wahl zum Gemeinderat der Beigeladenen für ungültig zu erklären. Der Einspruch der Klägerin war teilweise zulässig und soweit er zulässig war, überwiegend begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>I. Der fristgerecht von der Klägerin eingelegte Einspruch gem. § 31 Abs. 1 KomWG (Wahlanfechtung) gegen die Gemeinderatswahl in T ... ... - ... x am 26.05.2019 ist zulässig, soweit sich die Klägerin darauf beruft, dass die unechte Teilortswahl verfassungswidrig sei und sie in ihrem Recht auf angemessene Repräsentation ihres Teilorts verletzt werde (1). Unzulässig ist der Einspruch jedoch im Hinblick auf die weiteren von der Klägerin vorgebrachten Einwendungen (2).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Die Klägerin kann als Wahlberechtigte grundsätzlich die Gültigkeit der Gemeinderatswahl in T ... ... x im Wege der Wahlanfechtung (§ 31 Abs. 1 Satz 1 KomWG) zur Überprüfung stellen, soweit sie sich auf solche Gründe stützt, die in der abschließenden Regelung (Senat, Urt. v. 24.08.1981 - 1 S 400/81 - BWGZ 1982, 574 sowie vom 13.01.1987 - 1 S 1246/86 - VBlBW 1987, 420) des § 32 Abs. 1 KomWG aufgeführt sind. Als weitere Voraussetzung kommt hinzu, dass die Klägerin, die für ihren Einspruch kein Quorum gem. § 31 Abs. 1 Satz 3 a. E. KomWG nachgewiesen hat, die Verletzung eigener Rechte geltend machen muss (§ 31 Abs. 1 Satz 3 KomWG). Die gerichtliche Überprüfung ist auf diejenigen Einspruchsgründe beschränkt, die innerhalb der einwöchigen Einspruchsfrist des § 31 Abs. 1 Satz 1 KomWG geltend gemacht wurden (Senat, Urt. v. 07.03.2007 - 1 S 19/06 - UA S. 11).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Vorliegend kommen einzig Wahlanfechtungsgründe nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG in Betracht, wonach die Wahl für ungültig zu erklären ist, wenn ihr Ergebnis dadurch beeinflusst werden konnte, dass wesentliche Vorschriften über die Wahlvorbereitung, die Wahlhandlung oder über die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses unbeachtet geblieben sind. Dabei ist in der Rechtsprechung des Senats anerkannt, dass - anders als der Beklagte und die Beigeladene meinen - über das reine Wahlverfahren und die ordnungsgemäße Anwendung der Wahlvorschriften des Kommunalwahlgesetzes hinaus auch die Rechtsgrundlagen der Wahl als solche zum Gegenstand der Wahlanfechtung gemacht werden können (vgl. Senat, Beschl. v. 09.06.1980 - 1 S 952/80 - juris Rn. 25; Beschl. v. 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38, BA S. 5; Beschluss v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86 - VBlBW 1987, 420; Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 - BWGZ 1993, 506, BA S. 5; Urt. v. 26.02.1996 - 1 S 2570/95 - juris Rn. 24; Beschl. v. 17.10.2002 - 1 S 2114/99 -, juris Rn. 56; Urt. v. 07.03.2007 - 1 S 19/06 - UA. S. 11). Als wesentliche Vorschriften über die Wahlvorbereitung, die Wahlhandlung oder über die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses i.S.d. § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG sind daher alle Vorschriften zu verstehen, die entweder die tragenden Grund-sätze des Wahlrechts (die allgemeine, gleiche, unmittelbare, freie und geheime Wahl) sichern sollen, oder solche, welche die Öffentlichkeit des Verfahrens und korrekte wahlrechtliche Entscheidungen sowie die richtige Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses gewährleisten sollen (Quecke/Bock/Königsberg, Das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg, 7. Aufl., § 32, Rn. 98). Denn die Überprüfung der Rechtsgrundlagen für die Ermittlung des Wahlergebnisses i.S.v. § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG ist eine notwendige Voraussetzung für die Prüfung der Frage, ob das Wahlergebnis korrekt ermittelt wurde (vgl. Senat, Beschl. v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86 - VBlBW 1987, 420). Dabei hat der Einzelne kein Recht auf ein ordnungsgemäßes Wahlverfahren (vgl. Senat, Urt. v. 08.03.1976 - I 1346/75 - EKBW KomWG § 31 E 7 und v. 24.08.1981 -1 S 400/81 - BWGZ 1982, 574), sondern muss die Verletzung eigener Rechte geltend machen. Zu prüfen ist daher, welche Vorschriften im Sinne des § 32 Abs. 1 KomWG subjektive Rechte begründen, indem sie neben dem öffentlichen Interesse an einem ordnungsgemäßen Wahlverfahren auch den Schutz des Einzelnen in seiner Stellung als Wahlberechtigten oder als Bewerber bezwecken (Senat, Urt. v. 24.08.1981 - 1 S 400/81 - BWGZ 1982, 574).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>1. Gemessen hieran hat die Klägerin mit ihrem rechtzeitig erhobenen Einspruch und dem Vortrag, dass die Vorschriften der unechten Teilortswahl in verfassungswidriger Weise gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV und 28 Abs. 2 Satz 2 GG) verstoßen und sie darüber hinaus durch die in der Hauptsatzung festgelegte Sitzverteilung in ihrem Recht auf angemessene Repräsentation ihres Teilorts aus § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO verletzt ist, einen tauglichen Wahlanfechtungsgrund geltend gemacht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Die unechte Teilortswahl, die sich dadurch auszeichnet, dass durch Gemeindesatzung Teilorten eine Vertretung im Gemeinderat gesichert werden kann (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV und 28 Abs. 2 Satz 2 GG), läuft dem allgemeinen Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit der Wahl zuwider (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV und 28 Abs. 2 Satz 2 GG), denn aus der Garantie einer bestimmten Anzahl von Sitzen für einen Wohnbezirk ergibt sich regelmäßig ein stärkerer Erfolgswert der Stimmen, die für die als Vertreter des Wohnbezirks gewählten Bewerber abgegeben werden (vgl. Senat, Beschl. v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86 -, VBlBW 1987, 420). Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl hat neben dem objektivrechtlichen Gehalt für die Bildung des Vertretungsorgans, auch Bedeutung für die subjektiven Rechte der Wahlberechtigten, nämlich auf formal möglichst gleiche Berücksichtigung ihrer abgegebenen Stimmen (st. Rspr. BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <102>, juris Rn. 102; Urt. v. 10.04.1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 <417>, juris Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Auch die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob die Sitzverteilung in der Hauptsatzung den Anforderungen des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO gerecht wird, betrifft eine subjektive Rechtsposition der Klägerin. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO bestimmt für die Verteilung der Sitze auf die Wohnbezirke im Vorfeld einer Wahl durch die Hauptsatzung einer Gemeinde, dass die örtlichen Verhältnisse und der Bevölkerungsanteil zu berücksichtigen sind. So soll bei der unechten Teil-ortswahl sichergestellt werden, dass die systembedingten Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit, die sich durch die Sicherung von Gemeinderatssitzen der eingegliederten Stadtteile ergeben, nicht willkürlich erfolgen. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass auch die Interessen der Einwohner meist kleinerer Stadtteile, die im Zuge der Eingliederung ihre Selbstständigkeit verloren haben, durch eine entsprechende Repräsentation im Gemeinderat vertreten werden. Die Klägerin hat als Bürgerin und Bewohnerin eines von der Sitzverteilung betroffenen Wohnbezirks daher ein subjektives Recht auf die dem Gesetz entsprechende Repräsentation ihres Wohnbezirks im Gemeinderat (Senat, Beschl. v. 17.10.2002 - 1 S 2114/99 -, UA S. 19; Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 -; 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38; Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - UA S. 5; Beschl. v. 25.05.1981 - 1 S 277/81; Beschl. v. 09.06.1980 - 1 S 952/80 - juris; von Rotberg, VBlBW 1984, 297 <303>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>2. Die Wahlanfechtung kann hingegen nicht auf die weiteren von der Klägerin geltend gemachten Einspruchsgründe gestützt werden, da insoweit keine Verletzung subjektiver Rechte in Betracht kommt und die Klägerin kein Quorum gem. § 31 Abs. 1 Satz 3 KomWG nachgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Soweit die Klägerin vorträgt, dass sie als Zugezogene eines Teilorts mit (nur) einem garantierten Sitz im Gemeinderat benachteiligt und in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt sei, weil sie im Fall einer eigenen Kandidatur selbst keine „realistische Chance“ gehabt hätte, gewählt zu werden, dringt sie hiermit nicht durch. Da sie bei der angefochtenen Gemeinderatswahl gerade nicht selbst kandidiert hat, kann sie sich nicht auf die mögliche Verletzung ihres passiven Wahlrechts berufen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Mit dem weiter erhobenen Einwand, die vom Wahlleiter zugelassenen Wahlvorschläge verstießen gegen § 9 Abs. 6 Satz 1 und 2 KomWG, vermag die Klägerin ebenso keine subjektive Rechtsverletzung darzulegen. § 9 Abs. 6 KomWG bestimmt, dass Männer und Frauen gleichermaßen bei der Aufstellung eines Wahlvorschlags berücksichtigt werden sollen (Satz 1). Dies kann in der Weise erfolgen, dass in den jeweiligen Wahlvorschlägen Männer und Frauen abwechselnd berücksichtigt werden (Satz 2), wobei die Beachtung von § 9 Abs. 6 Satz 1 und 2 KomWG nicht Voraussetzung für die Zulassung eines Wahlvorschlags ist (Satz 3). Schon aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 6 KomWG ergibt sich, dass dieser weder verpflichtende Vorgaben für die Aufstellung der Wahlvorschläge enthält, noch dem einzelnen Wähler hieraus eine subjektive Rechtsposition erwächst (vgl. Quecke/Bock/Königsberg, a.a.O., § 9 Rn. 17a). Diese Auslegung entspricht auch dem gesetzgeberischen Willen, nach dem die Vorschrift lediglich appellativen Charakter haben soll und keine subjektiven Rechte vermittelt (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zur Einführung des § 9 Abs. 6 KomWG, LT.-Drucks. 15/3214).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Auch die Rüge der Klägerin, das Wahlsystem der unechten Teilortswahl sei zu kompliziert und die Stimmzettel zu verwirrend, es sei selbst ihr als Akademikerin nicht gelungen, einen gültigen Stimmzettel abzugeben, vermag keine Verletzung subjektiver Rechte der Klägerin zu begründen. Einem Wahlberechtigten kann grundsätzlich zugemutet werden, sich mit den jeweiligen Wahlmodalitäten rechtzeitig vor Stimmabgabe vertraut zu machen. Dass die Gestaltung der Stimmzettel nicht den gesetzlichen Vorgaben (§§ 18 KomWG, 24 KomWO iVm Anlage 6a) entsprochen hat, hat die Klägerin nicht geltend gemacht. Hierfür liegen auch keine Anhaltspunkte vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>II. Soweit die Wahlanfechtung zulässig ist, ist sie in Teilen begründet. Zwar bestehen keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der unechten Teilortswahl (1), jedoch wurde die Klägerin durch die Regelungen der Hauptsatzung der Beigeladenen über die Sitzverteilung im Gemeinderat in ihrem Recht auf angemessene Repräsentation ihres Wohnbezirks verletzt (2). Durch den Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften wurde auch das Ergebnis der Wahl beeinflusst (3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>1. Wie der Senat wiederholt und in ständiger Rechtsprechung - an der er weiter festhält - entschieden hat (vgl. Beschl. v. 13.01.1987 - 1 S 1246/86; v. 12.10.1987 - 1 S 89/86 - BWVPr 1988, 259; Beschl.v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89, B.A. S. 6), ist die Ausgestaltung des Kommunalwahlrechts in der Form der unechten Teilortswahl verfassungsgemäß.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Charakteristisch für die nach Art. 72 Abs. 1 Satz 3 LV zugelassene und in § 27 Abs. 2 bis 5 GemO näher ausgestaltete unechte Teilortswahl - die württembergischer Tradition entspricht und 1953 landesweit eingeführt wurde (Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts v. 13.07.1953, GBl. S. 97) - ist die Sicherstellung einer Repräsentation des Teilorts einer durch Eingemeindung oder Zusammenschluss entstandenen (neuen) Gemeinde durch eine garantierte Anzahl von Gemeinderatsmitgliedern aus dem bestimmten Wohnbezirk. Die Bewerber sämtlicher Wohnbezirke (mit jeweils garantierten Sitzzahlen) stellen sich dabei jedoch für alle Wähler der Gemeinde im Sinne eines einheitlichen Wahlgebiet zur Wahl und sind so vom Votum der Wahlberechtigten nicht alleine des jeweiligen Wohnbezirks, sondern der ganzen Gemeinde abhängig. Diese Teilortswahl wird als „unecht“ bezeichnet, weil jeder Wahlberechtigte die Gemeinderäte aller Ortsteile und nicht nur die seines Wohnbezirks und Teilorts wählt, und somit seinen Einfluss auf die Bildung der gesamten Vertretung ausübt (§ 27 Abs. 2 Satz 3 GemO; § 25 Abs. 2 KomWG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Das System der unechten Teilortswahl läuft dabei in gewissem Umfang dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit der Stimmen zuwider. Denn aus der Garantie einer bestimmten Anzahl von Sitzen für einen Wohnbezirk ergibt sich regelmäßig ein stärkerer Erfolgswert der Stimmen, die für die als Vertreter des Wohnbezirks gewählten Bewerber abgegeben werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Für Gemeinderatswahlen gelten die verfassungsrechtlich verankerten Wahlgrundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV, Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG). Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verlangt, dass die Stimme jedes Wählers den gleichen Zählwert hat. Beim Verhältniswahlrecht - wie es in Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV für den Fall, dass mehr als eine gültige Wahlvorschlagsliste eingereicht ist, gefordert wird - muss darüber hinaus auch der gleiche Erfolgswert gewährleistet sein. Hieraus folgt, dass alle Wähler mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben müssen, und jede Stimme bei der Zuteilung von Mandaten in gleicher Weise berücksichtigt werden soll. Differenzierungen bedürfen immer besonderer Rechtfertigungsgründe (st. Rspr. BVerfG, Urt. v. 05.04.1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 <244>; BVerfG, Urt. v. 13.02.2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <102>, juris Rn. 102; Urt. v. 10.04.1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 <417>, juris Rn. 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Da die tendenziell gegenläufigen Prinzipien der Sicherung einer Vertretung der Teilorte im Gemeinderat und der Wahlrechtsgleichheit gleichermaßen in der Landesverfassung normiert sind, besitzt der Gesetzgeber einen eng bemessenen Spielraum für Differenzierungen hinsichtlich des Erfolgswertes der Stimme und der Chance des Bewerbers, wenn ein besonderer, rechtfertigender, sachlich zwingender Grund vorliegt, der sich aus Zweck und Natur des Wahlverfahrens ergeben kann (vgl. BVerfG, Urt. v. 23.01.1957 - 2 BvE 2/56 - BVerfGE 6, 90, juris; Beschl. v. 06.12.1961 - 2 BvR 399/61 - BVerfGE 13, 246, juris). Im Interesse eines optimierenden Ausgleichs ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Grundsätze der Verhältniswahl soweit als möglich zu berücksichtigen, jedenfalls „das System der Verhältniswahl nicht völlig preiszugeben oder in einer das Gerechtigkeitsgefühl grob verletzenden Weise zurückzudrängen“ (StGH, Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 - ESVGH 29, 160 <164>). Um Verzerrungen im Hinblick auf die Erfolgswertgleichheit der Wahl entgegenzuwirken, hat der Gesetzgeber einen Verhältnisausgleich durch Zuteilung von Ausgleichssitzen (§ 25 Abs. 2 Satz 3 GemO, §§ 25 Abs. 2, 26 Abs. 2 KomWG) eingeführt (ausführlich dazu Finkbeiner, BWVPr. 1980, 50). Darüber hinaus bleibt das Recht der Bürger an der „gleichmäßigen Teilnahme“ an der Wahl sämtlicher Gemeinderäte unberührt (§ 27 Abs. 2 Satz 3 GemO), d.h. die für die Kandidaten in den Teilorten abgegebenen Stimmen bleiben bei der Feststellung des Gesamtwahlergebnisses relevant (§ 25 Abs. 2 Satz 5 KomWG), auch wenn der vom einzelnen Wahlberechtigten gewählte Kandidat im jeweiligen Teilort nicht den Sitz gewonnen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Entsprechend dieser Maßstäbe geht auch der Einwand der Klägerin, dass der Ersatzkandidat der CDU für den Wohnbezirk I ..., Herr ... ..., mit nur 191 erhaltenen Stimmen theoretisch als Ersatzperson in den Gemeinderat nachrücken könnte, obwohl die Bewerber der Bürgerliste, Herr ... ... - und Herr ... x ..., mit je 1.331 und 501 Stimmen in ihrem Ergebnis um ein Vielfaches mehr demokratisch legitimiert seien, ins Leere. Das Nachrücken von Ersatzpersonen bei der unechten Teilortswahl bestimmt sich nach § 26 Abs. 2 Satz 1 und 2 KomWG und findet innerhalb des bei der Erstzuteilung obsiegenden Wahlvorschlags statt. Ersatzpersonen bei der Zweitzuteilung beim sog. Verhältnisausgleich hingegen werden aufgrund ihrer persönlich erreichten Stimmen bestimmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Die Grundsätze der Verhältniswahl werden schließlich auch dann hinreichend berücksichtigt, wenn die Wähler eines kleineren Teilorts anders als die Wähler des Hauptorts nicht sämtliche Stimmen an die Bewerber des Teilorts vergeben können. Dadurch wird das Erfordernis des gleichen Erfolgswerts nicht beeinträchtigt, denn Bezugsgröße ist nicht der einzelne Wohnbezirk, sondern das gesamte Wahlgebiet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>b) Die Wahlanfechtung ist jedoch begründet, soweit sich die Klägerin auf die mangelhafte Repräsentation ihres Wohnbezirks I ... im Gemeinderat beruft, denn die konkrete Ausgestaltung der unechten Teilortswahl durch die zum Zeitpunkt der Wahl gültige Hauptsatzung genügt den gesetzlichen Vorgaben des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Gem. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO sind bei der unechten Teilortswahl bei der Bestimmung der auf die einzelnen Wohnbezirke entfallenden Anzahl der Sitze die örtlichen Verhältnisse und der Bevölkerungsanteil zu berücksichtigen. Bereits aus dem Wortlaut folgt nach ständiger Rechtsprechung des Senats, dass der Gemeinderat bei der Sitzverteilung in der Hauptsatzung an die in § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO normierten Grundsätze nicht strikt gebunden ist, sondern sie im Rahmen seines Satzungsermessens in seine Erwägungen einzubeziehen und „soweit als möglich zu berücksichtigen“ hat (vgl. Senat, Beschl. vom 27.03.1980 - 1 S 378/80 -; Beschl. v. 10.03.1975 - I 238/75 - ESVGH 25, 54). Die Grenze des Entscheidungsspielraums des Gemeinderats ist überschritten, wenn bei der in der Satzung geregelten Sitzverteilung einer der beiden im § 27 Abs. 2 Satz 4 GO normierten Grundsätze völlig preisgegeben oder „in einer das Gerechtigkeitsgefühl grob verletzenden Weise“ zurückgedrängt worden ist. Erforderlich ist deshalb, dass die Entscheidung des Gemeinderats, wenn neben den immer relevanten Bevölkerungsanteilen noch besondere örtliche Verhältnisse zu berücksichtigen sind, auf einer Abwägung dieser beiden Gesichtspunkte untereinander beruht, die an dem Erfordernis grundsätzlicher Gleichwertigkeit der Vertretung orientiert ist. Dass dabei in Einzelfällen das öffentliche Interesse an einer dem Bevölkerungsanteil entsprechenden oder zumindest möglichst nahekommenden Sitzverteilung zugunsten besonderer örtlicher Verhältnisse in der Gemeinde vernachlässigt werden kann, entspricht den Besonderheiten der unechten Teilortswahl, deren vom Gesetz gewollter Zweck es ist, durch eine gesonderte Vertretung räumlich getrennter Teile eines einheitlichen Wahlgebiets den gemeindepolitisch erwünschten Ausgleich von Interessengegensätzen unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erreichen (vgl. Senat, Beschl. vom 27.03.1980 - 1 S 378/80 -; Beschl. v. 10.03.1975 - I 238/75 - ESVGH 25, 54). In dem Urteil des Staatsgerichtshofs vom 14.07.1979 (Urt. v. 14.07.1979 - GR 4/78 - ESVGH 29, 160 <164>) wird ebenso wie in der ständigen Rechtsprechung des Senats zur unechten Teilortswahl hervorgehoben, dass die Notwendigkeit eines Ausgleichs der verschiedenen, möglicherweise auch kontroversen Interessen in den einzelnen Ortsteilen eine besondere Bedeutung durch die Eingemeindungen und Gemeindezusammenschlüsse während der Kommunalreform erhalten hat, und dass dieser Gesichtspunkt in Einzelfällen auch Überrepräsentationen von Gemeindeteilen im Gemeinderat rechtfertigen kann, die bei dieser Reform ihre ursprüngliche Eigenständigkeit als politische Gemeinde verloren haben (vgl. Senat, Beschl. v. 25.06.1968 - I 75/68 - ESVGH 19, 18, Beschl. v. 09.06.1980 - 1 S 952/80 -, juris Rn. 33; Beschl. v. 04.08.1989 - 1 S 1754/89, B.A. 9; Urt. v. 26.05.1996 - 1 S 2570/95 - juris Rn. 33).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Gemessen an diesen Kriterien hat die Klägerin zu Recht darauf hingewiesen, dass die Sitzverteilung, wie sie in der im Zeitpunkt der Wahl gültigen Hauptsatzung vom 19.10.2016 festgelegt war, zu erheblichen Über- bzw. Unterrepräsentationen zwischen den einzelnen Teilorten und der Kernstadt T ... - ... führt, welche nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Diese Über- bzw. Unterrepräsentation lässt sich berechnen, indem der Quotient von Gesamteinwohnerzahl und Zahl der Gemeinderatssitze (sog. Schlüsselzahl) mit der dem Teilort zugeteilten Sitzzahl multipliziert (ergibt die sog. Einwohnerrichtzahl) und die Differenz zwischen dieser Einwohnerrichtzahl und der tatsächlichen Einwohnerzahl des Teilorts durch die Einwohnerrichtzahl dividiert wird (vgl. Senat, Beschl. v. 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38; Runderlass des Innenministeriums v. 30.08.1978, GABl. S. 920 Nr. 2 zu § 27).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Entsprechend der Einwohnerzahl zum maßgeblichen Stichtag am 30.09.2017 (§ 57 KomWG) ergibt sich folgende Repräsentationsquote:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table border="1" class="Rsp"><tr><th colspan="0" rowspan="1"><rd nr="76"/></th></tr><tr><th colspan="5" rowspan="1"/></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Ort </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Einwohner</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Sitze GR</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Einwohnerrichtzahl</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Repräsentation</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">T ... ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">9.515 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">12 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">9.592,0</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 0,80 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">I ... </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1.108 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">- 38,54 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">H ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">766 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 4,17 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">D ... </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">342 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 57,21 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Ditt ...</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">747 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">+ 6,54 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dittig ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">968 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">- 21,10 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Dis ... x</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">942 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">1 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">799,3 </td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">- 17,85 %</td></tr></table></td></tr><tr><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">Gesamt</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><table width="100%"><tr><td style="text-align:justify">14.388</td></tr></table></td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td><td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>Ausgehend von der Einwohnerzahl ist somit der Wohnort der Klägerin I ... x- ... um 38,54 % unterrepräsentiert. Eine Unterrepräsentation liegt auch für die Teilorte Dittig ... x (- 21,1 %) und Dis ... x (- 17,85 %) vor. Eine signifikante Überrepräsentation zeigt sich hingegen für den Teilort D ... mit + 57,21 %, der die wenigsten Einwohner im Gemeindegebiet hat, aber ebenso über einen garantierten Sitz im Gemeinderat verfügt wie die anderen Teilorte. Leichte Überrepräsentationen liegen auch in den Teilorten H ... x (+ 4,17 %) und Ditt ... (+ 6,54 %) vor, wohingegen die Kernstadt mit 12 Sitzen gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil ein beinahe ausgeglichenes Verhältnis (+ 0,8 %) zeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Wie anhand der Kriterien für die Sitzverteilung in § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO gezeigt, lässt sich die Grenze der zulässigen Abweichung von einer an Einwohnerzahlen orientierten Sitzverteilung nicht schematisch festlegen (vgl. Senat, Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 - BWGZ 1993, 506), sondern erfordert immer eine Betrachtung des Einzelfalls. Teilweise orientierten sich die Gemeinden an einem - mittlerweile aufgehobenen - entsprechenden Runderlass des Innenministeriums vom 30.08.1978 (GABl. S. 920 Nr. 2 zu § 27), der eine Abweichung von bis zu 20% als zulässig erachtete, die mit zunehmender Größe der Wohnbezirke jedoch weniger betragen sollte. In der Rechtsprechung des erkennenden Senats wurde in der Vergangenheit eine Unterrepräsentation von 30 % nicht beanstandet, wenn in dem entsprechenden Teilort ein Ortschaftsrat eingeführt war (vgl. Senat, Beschl. v. 26.02.1996 - 1 S 2570/95 - juris Rn. 34), hingegen wurde in einem anderen Verfahren eine Unterrepräsentation von 22 % wegen des Fehlens eines rechtfertigenden Grundes gerügt (vgl. Senat, Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - VBlBW 1990,22). Ungeachtet starrer Prozentgrenzen gilt daher: Eine über die bei unechter Teilortswahl systembedingte Verzerrung der Vertretungsgewichte hinausgehende Über- oder Unterrepräsentation einzelner Ortsteile im Gemeinderat ist rechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie am Maßstab der örtlichen Verhältnisse durch überwiegende sachliche Gründe gerechtfertigt ist (vgl. Senat, Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - ESVGH 39, 301). Dies ist hier nicht der Fall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Der Beklagte und die Beigeladene als Satzungsgeberin haben für die Teilorte Ditt ..., Dis ... x und den hier zu prüfenden Teilort I ... nicht dargelegt, ob und wie die Unter- bzw. Überrepräsentation der einzelnen Wohnbezirke - wie sie sich durch die in der im Zeitpunkt der Wahl gültigen Hauptsatzung vom 19.10.2016 festgelegten Verteilung der Sitze (die seit der Hauptsatzungsänderung vom 27.01.1999 unverändert war) ergibt - am Maßstab der örtlichen Verhältnisse durch überwiegend sachliche Gründe gerechtfertigt wären. Das Satzungsermessen ist insoweit fehlerhaft ausgeübt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>Soweit der Beklagte darauf verweist, dass der Gemeinderat der Beigeladenen bei der Änderung der Hauptsatzung die sich aus § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO ergebende „Beschränkung des Satzungsermessens“ vollumfänglich beachtet habe, substantiiert er dies nicht ausreichend. Ausweislich des - erst im Berufungsverfahren vorgelegten - Sitzungsprotokolls der Gemeinderatssitzung vom 27.01.1999, in der die Änderung der Hauptsatzung im Hinblick auf die Sitzverteilung zwischen der Kernstadt T ... ... und den sechs Teilorten beschlossen wurde, bezweckte der Satzungsgeber (der Gemeinderat der Beigeladenen) eine Reduzierung der Sitzzahl des Gremiums von vormals 26 auf 18 Sitzen bei gleichzeitiger Beibehaltung der unechten Teilortswahl. Durch die Reduzierung der Gesamtsitzzahl sollte die Effizienz des Gremiums gesteigert und dem anlässlich einer schriftlichen Bürgerbefragung eruierten Mehrheitswillen in den sechs Teilorten bezüglich der Beibehaltung des Systems der unechten Teilortswahl Rechnung getragen werden, indem jedem Teilort ein Sitz im Gemeinderat garantiert wurde. Bei der Festlegung der Gesamtsitzzahl von 18 orientierte sich der Satzungsgeber an der für die Beigeladene relevanten nächstniedrigeren Gemeindegrößengruppe gem. § 25 Abs. 2 GemO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Dem Sitzungsprotokoll ist auch zu entnehmen, dass das Problem der Über- bzw. Unterrepräsentation von den beteiligten Gemeinderäten erörtert wurde. Eine Begründung für die teils gravierende Über- bzw. Unterrepräsentation ist jedoch allenfalls in Ansätzen erkennbar: Die deutliche Überrepräsentation des Teilorts D ... von 57 % dürfte mit dem ausdrücklichen Willen des Satzungsgebers, jedem Teilort einen Sitz zu garantieren, erklärbar sein. Un-</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>problematisch erscheint auch die Zuteilung je eines garantierten Sitzes für Ditt- ... und H ... x, die gemessen an ihrer Einwohnerzahl nur leicht über der Einwohnerrichtzahl liegen. Gleiches gilt für die Kernstadt T ... ..., deren zwölf garantierte Sitze genau proportional dem Bevölkerungsanteil entsprechen. Eine darüber hinaus gehende Erklärung für die Unterrepräsentation von jeweils ca. 20% der Teilorte Dis ... x und Dittig ... x findet sich jedoch nicht, erst Recht fehlt eine Begründung, warum dem einwohnerstärksten Teilort I ... nur ein garantierter Sitz zugeteilt wurde, was im Vergleich zu den anderen Teilorten zu einer Unterrepräsentation von 38,5 % führt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Die Garantie von zwölf Sitzen für die Kernstadt T ... ... x, die nach den obigen Berechnungen genau proportional dem Bevölkerungsanteil entspricht, begründen der Beklagte und die Beigeladene mit der infrastrukturellen Entwicklung und der gestiegenen Bedeutung als Schul- und Gewerbestandort, sowie der Tatsache, dass für die Kernstadt kein Ortschaftsrat bestehe und die Zahl von zwölf Sitzen daher gerechtfertigt sei. Diese Argumentation, die sich nur hinsichtlich des fehlenden Ortschaftsrats in den Materialien zur Satzungsänderung wiederfindet, bietet keine Erklärung für die differierenden Repräsentationsanteile der kleineren Teilorte. Grundsätzlich kann das Vorhandensein eines Ortschaftsrats zwar eine Unterrepräsentation kompensieren (vgl. erneut Senat, Beschl. v. 14.09.1989 - 1 S 1958/89 - BWGZ 1993, 906), auch dies führt hier jedoch zu keiner Rechtfertigung der Diskrepanz der Vertretungsanteile, da außer der Kernstadt T ... ... für jeden Teilort ein eigener Ortschaftsrat eingerichtet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>Als Kriterien für die bei der Sitzzuteilung gem. § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO zu berücksichtigenden „örtliche Verhältnisse“ können nicht, wie die Beteiligten mit unterschiedlichen Argumenten meinen, die Eingliederungsvereinbarungen aus den 1970er Jahren zwischen dem „Hauptort“ T ... ... und den Teilorten herangezogen werden, denn mit der Neuverteilung der Gemeinderatssitze durch die Hauptsatzung vom 27.01.1999 ist die Bindungswirkung der Eingliederungsvereinbarungen entfallen. Zwar wurden die Eingliederungsvereinbarungen zwischen dem Hauptort T ... ... x und den Teilorten nach ihrem Wortlaut jeweils auf unbestimmte Zeit und ohne Anpassungsklauseln geschlossen, daraus folgt jedoch nicht, dass die Bestimmungen in den Eingliederungsvereinbarungen unbefristete Geltung beanspruchen können. Denn wenn dem Satzungsgeber gem. § 27 Abs. 6 GemO die Möglichkeit eingeräumt ist, durch Änderung der Hauptsatzung die durch Eingemeindungsvereinbarung nach § 8 Abs. 2 und 9 Abs. 4 GemO auf unbestimmte Zeit eingeführte unechte Teilortswahl - frühestens zur übernächsten regelmäßigen Wahl der Gemeinderäte nach ihrer erstmaligen Anwendung - aufzuheben, dann kann er gleichsam als „Weniger“ gegenüber der Aufhebung entscheiden, die Sitzverteilung - in Einklang mit § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO - zu ändern (so schon Senat, Beschl. v. 15.08.1984 - 1 S 1250/84 - ESVGH 35, 38; vgl. auch Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums zur Gemeindeordnung für Baden-Württemberg - VwV GemO vom 01.12.1985, GBl. 1113, § 27 Ziff. 2; Bock, in: Kunze/Bronner/Katz, Stand April 2021, § 27 GemO, Rn. 20; Pautsch, in: Kommunalverfassungsrecht Baden-Württemberg, November 2018, § 27 GemO, S. 2). Mit der Neuregelung der Gesamtsitzzahl waren somit die Regelungen in den Eingliederungsvereinbarungen hinsichtlich der garantierten Sitzzahlen sowie die überwiegend festgeschriebene Verpflichtung, die Zahl der Gemeinderäte nach der nächsthöheren Gemeindegrößengruppe zu bestimmen (§ 5 Nr. 2 Eingliederungsvereinbarung Ditt ... vom 26.04.1974) hinfällig, und die Beigeladene verpflichtet, die Sitzverteilung entsprechend der Kriterien des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO neu zu regeln.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="85"/>Auch sonstige historische Gründe, die die vorgenommene Sitzverteilung und damit auch die Unterrepräsentation von I ... rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Satzungsgeber hat bei der Änderung der Sitzverteilung im Gemeinderat ausdrücklich beschlossen, die unechte Teilortswahl aufrecht zu erhalten und jedem der sechs Teilorte eine Repräsentation im Gemeinderat durch garantierte Zuteilung eines Sitzes zu gewährleisten. Eine Erklärung für die Unterrepräsentation von I ... folgt hieraus jedoch ebenfalls nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="86"/>Soweit der Beklagte und die Beigeladene anführen, dass entsprechend der nach § 25 GemO „gesetzlich möglichen Sitzzahlfestlegung“ auf „Basis des status quo“ es „wohl irgendwo (immer) zu einer Überschreitung der 20-Prozent-Grenze“ komme und auch das Verwaltungsgericht keine Berechnung aufgezeigt habe, in der die 20 %-Grenze „unter diesen Prämissen eingehalten“ werde und Wahlanfechtungen vorprogrammiert seien, da eine gerechte Berechnung „realitätsfern“ sei und daher im Ergebnis nur eine Abschaffung der unechten Teilortswahl rechtssichere Zustände schaffen könne, verfängt dies nicht. § 25 Abs. 2 Satz 2 2. HS GemO räumt den Gemeinden mit unechter Teilortswahl ausdrücklich die Möglichkeit ein, eine zwischen den Gemeindegrößengruppen liegende Zahl an Gemeinderäten festzulegen. Diese Sonderregelung nur für Gemeinden mit unechter Teilortswahl soll gerade dem Prüfungsmaßstab des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO Rechnung tragen und eine flexible Verteilung der Sitzzahlen ermöglichen. Der einzelnen Gemeinde wird hierdurch ermöglicht, eine den besonderen örtlichen Verhältnissen angepasste Größe der Gemeinderatsgremien zu finden (Bock, in: Kunze/Bronner/Katz, Stand April 2021, § 25 GemO, Rn. 5; LT-Drs. 11/2376 Gesetzentwurf zur Änderung der GemO, Neueinführung § 25 Abs. 2 Satz 2, 2. Hs.) und durch eine passgenaue Festlegung der garantierten Sitzzahlen zu verhindern, dass es zu gesetzeswidrigen Schieflagen bei den Repräsentationsverhältnissen kommt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="87"/>Der Senat verkennt nicht, dass die Besonderheiten der unechten Teilortswahl in manchen Konstellationen rein rechnerisch dazu führen können, dass gänzlich ausgeglichene Repräsentationsverhältnisse nicht - oder nur unter erheblicher Erhöhung der Gesamtsitzzahl - hergestellt werden können. Darüber hinaus kann es durchaus vorkommen, dass sich die Repräsentationsverhältnisse auch bei Änderung des Bevölkerungsanteils oder sonstiger örtlicher Verhältnisse wieder verschieben können. Der Gemeinde obliegt daher eine Verpflichtung zur regelmäßigen Überprüfung, ob die Kriterien des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO noch eingehalten werden. Ändern sich beispielsweise die Einwohnerzahlen stark, so ist gegebenenfalls eine Anpassung der Regelungen zur unechten Teilortswahl in der Hauptsatzung zu prüfen. Dabei ist zu beachten, dass bei Änderung der Sitzzahl in einem Wohnbezirk, die Sitzverteilung auch im Übrigen neu geregelt werden muss (vgl. Senat, Beschl. v. 03.08.1989 - 1 S 1754/89 - ESVGH 39, 301). Für eine solche Neuregelung kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht. Es ist Sache des Gemeinderats über die Ausgestaltung im Rahmen des Zulässigen zu entscheiden und im Falle der Beibehaltung der unechten Teilortswahl entsprechend seines Satzungsermessens zu begründen, auf welcher Basis die sich ergebenden Repräsentationsverhältnisse gewählt wurden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="88"/>3. Der festgestellte Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften hat auch Auswirkungen auf das Wahlergebnis, da bei einer den Anforderungen des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO genügenden Sitzverteilung die Zusammensetzung des Gemeinderats eine andere wäre.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="89"/>Die Erheblichkeitsklausel des § 32 Abs. 1 KomWG dient dem Zweck, die Wahl möglichst aufrecht zu erhalten, da die Wählerschaft im Rahmen des Vertretbaren vor unnötiger Belastung mit Neuwahlen und die Gemeinden und Landkreise vor dem damit verbundenen Aufwand bewahrt werden sollen (Quecke/Bock/Königsberg, a.a.O., § 32, Rn. 104). Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 KomWG ist die Wahl für ungültig zu erklären, wenn ihr Ergebnis dadurch beeinflusst werden konnte, dass wesentliche Vorschriften über die Wahlvorbereitung, die Wahlhandlung oder über die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses unbeachtet geblieben sind. Dabei reicht nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs eine bloß abstrakte Möglichkeit des Einflusses auf das Wahlergebnis nicht aus. Notwendig ist eine konkrete und nach der Lebenserfahrung nicht ganz fernliegende Möglichkeit der Beeinflussung des Wahlergebnisses. Nur wenn unbehebbare Zweifel an der Richtigkeit des Wahlergebnisses vorliegen, kommt eine Ungültigerklärung der Wahl in Betracht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.03.1959 - 4 F 171/58 - EKBW KomWG § 32 E 3; Urt. v. 18.02.1964 - III 405/61 - ESVGH 14, 11 = EKBW KomWG § 32 E 4; Urt. v. 18.08.1964 - III 733/63 - ESVGH 14, 193 = EKBW KomWG § 32 E 5; Urt. v. 04.03.1970 - I 703/69 - ESVGH 21, 93 = EKBW KomWG § 32 E 19; Urt. v. 26.04.1982 - 1 S 2416/83 - VBlBW 1983, 34; Urt. v. 02.12.1985 - 1 S 2083/85 - EKBW § 32 E 36; Urt. v. 17.02.1992 - 1 S 2266/91 - EKBW KomWG § 32 E 39; Urt. v. 27.01.1997 - 1 S 1741/96 - EKBW KomWG § 32 E 41).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="90"/>Wie gezeigt verstößt die in der Hauptsatzung festgelegte Sitzverteilung im Rahmen der unechten Teilortswahl gegen das Recht der Klägerin auf angemessene Repräsentation ihres Teilortes. Sachliche Gründe, warum der Teilort I ... mit nur einem Sitz im Verhältnis zur Einwohnerzahl und Gesamtsitzverteilung mit ca. 38 % unterrepräsentiert ist, sind nicht ersichtlich. Die in der Hauptsatzung festgelegte Sitzverteilung war somit rechtswidrig. Dieser Wahlfehler hat Einfluss auf das Wahlergebnis, weil es bei anderer - den Anforderungen des § 27 Abs. 2 Satz 4 GemO entsprechender - Sitzverteilung zu abweichenden Wahlvorschlägen, einer abweichenden Verteilung der Wählerstimmen und damit wahrscheinlich zu einem anderen Wahlergebnis gekommen wäre.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="91"/>III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und Abs. 3 VwGO. Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="92"/>Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="93"/><strong>Beschluss</strong><br/><strong>vom 18. Juli 2022</strong></td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,- EUR festgesetzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>95 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="95"/>Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 1 GKG, in Anlehnung an Nr. 22.1.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, da Streitgegenstand die Anfechtung einer Wahl durch eine Bürgerin ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>96 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="96"/>Die Abänderung des Streitwerts für das erstinstanzliche Verfahren beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>97 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="97"/>Der Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
|
346,009 | vghbw-2022-07-19-1-s-112122 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 S 1121/22 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-07-30T10:02:12 | 2022-10-17T17:55:30 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 22. April 2022 - 4 K 4006/21 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass im ersten und zweiten Absatz des Tenors des Beschlusses hinter den Worten „solange nicht“ jeweils die Worte „im Klageverfahren rechtskräftig“ eingefügt werden.</p><p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1, aber mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2 und zu 3, die diese jeweils selbst tragen.</p><p>Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 10.000,-- EUR festgesetzt.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Beteiligten streiten um die Vergabe von Baugrundstücken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Antragsgegnerin beabsichtigt, sechs in ihrer Gemarkung im Baugebiet „Obere Halde“ liegende und ihrem Eigentum stehende Grundstücke zu veräußern. Die Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der ein allgemeines Wohngebiet (Bauplätze Nrn. 28 und 38) bzw. ein eingeschränktes Mischgebiet (Bauplätze Nrn. 51, 61/1, 61/2 und 62) festsetzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 14.07.2021 beschloss der Gemeinderat der Antragsgegnerin „Vergaberichtlinien für die Zuteilung von gemeindeeigenen Baugrundstücken nach Konzeptvergabe im Baugebiet Obere Halde“ (im Folgenden: Vergaberichtlinien). Nach den Richtlinien erfolgt die Vergabe im Wege einer sog. Konzeptvergabe nach dem Bestpreis, der sich aus dem Kaufpreis (Gewichtung 30%) und der Konzeptqualität (Gewichtung 70%) ermittelt. Um „festzustellen, ob Bewerber als Einzelpersonen oder als bewerbende Gemeinschaft zum Vergabeverfahren zugelassen“ werden können, wurden in den Richtlinien zum einen sog. Eignungskriterien („Allgemeine Nachweise der Bewerber“) aufgestellt. Die Bewerber sollten dazu u.a. die „Befähigung zur Berufsausübung“ nachweisen und eine „Unternehmensbeschreibung“ sowie die „Umsatzzahlen der letzten drei Jahre“ vorlegen. Zum Zweiten wurden sog. Bewertungskriterien zur „Sicherstellung der Qualität der einzelnen Angebote/Konzepte und des positiven Nutzens für das Quartier“ festgelegt und gewichtet („Qualität des Bewerbers“ x2, „Soziale Qualität“ x2, „Ökologische/Energetische Qualität“ x2, „Architektonische Qualität“ x4, „Parkierungskonzept“ x1) sowie bestimmt, dass die Bewerber für jedes einzelne Kriterium 0 bis 3 Punkte erhalten könnten. Zum Dritten wurden in den Richtlinien die (weiteren) „einzureichenden Unterlagen“ festgelegt, darunter ein „Bewerbungsschreiben mit Konzeptbeschreibung und Erläuterung der Planung“. Wegen der Einzelheiten der Richtlinien wird auf die von der Antragsgegnerin vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Der Beschluss und die Richtlinien vom 14.07.2021 wurden im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 29.07.2021 bekannt gemacht. Sie wies dort u.a. darauf hin, dass Bewerbungen bis zum 05.10.2021 eingereicht werden könnten und die Bewerber ihr Konzept auf eigene Kosten und Risiken erstellten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Bei den Antragstellern handelt es sich um sieben Privatpersonen, die auf dem Grundstück Nr. 28 als Bauherrengemeinschaft vier Doppelhaushälften errichten möchten. Sie beabsichtigen, dieses Vorhaben gegebenenfalls von der ... GmbH als Bauträgerin umsetzen zu lassen. Diese GmbH fragte im Rahmen eines Telefonats - dessen Inhalt im Übrigen zwischen den Beteiligten umstritten ist - bei der Antragsgegnerin nach, ob sich auch private Bauherrengemeinschaften auf die Bauplätze Nr. 28 und 38 bewerben könnten, was die Antragsgegnerin bejahte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Bei den Beigeladenen zu 1 bis 3 handelt es sich jeweils um Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die als Bauträger am Markt agieren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Auf den Bauplatz Nr. 28 bewarben sich die Antragsteller und die Beigeladene zu 3, auf den Bauplatz Nr. 38 die Beigeladene zu 3 (und weitere, nicht am vorliegenden Gerichtsverfahren beteiligte Bauherrengemeinschaften), auf den Bauplatz Nr. 51 die Beigeladene zu 3, auf die die Bauplätze Nrn. 61/1 und 61/2 jeweils die Beigeladenen zu 1 und zu 2 und auf den Bauplatz Nr. 62 die Beigeladene zu 2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Antragsteller reichten ihre Bewerbung selbst als Privatpersonen - d.h. nicht etwa über die ... GmbH - ein und traten als Bauherrengemeinschaft auf. Sie legten ein Kaufpreisangebot, einen Lageplan mit Baugrenzen im Maßstab 1:500, Grundrisse, Ansichten und Schnitte der geplanten Doppelhaushälften, eine Wohnflächenberechnung, eine Berechnung der GFZ und GRZ sowie jeweils ein Vorstellungsschreiben der vier Familien der Antragsteller nebst Finanzierungsbestätigungen vor. Zusätzlich beschrieben sie ihr Vorhaben wie folgt: „[...] zur Bebauung mit 4 Doppelhaushälften nach Konzeptvergabe. Errichtet werden die Doppelhäuser in KFW 55 Massivbauweise mit regionalen Handwerksbetrieben. Ausgestattet mit erneuerbaren Energien, wie Wärmepumpe mit Fußbodenheizung, Installation/bzw. Vorbereitung Photovoltaikanlagen mit Batteriespeicher (deswegen Haus mit Satteldach Ausrichtung Süden), Vorbereitung E-Ladestationen. Des Weiteren begrünte Flachdachgaragen. Die Neuvermessung und zusätzlich benötigte innere Erschließung wird ebenfalls von uns übernommen. [...] Die Unterlagen entsprechen dem Bebauungsplan – alle Vorschriften wurden eingehalten!“.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der von dem Gemeinderat der Antragsgegnerin gebildete Grundstücksvergabeausschuss, dem ihre Bürgermeisterin und fünf weitere Mitglieder des Gemeinderats angehören, erörterte die Bewerbungen in einer nichtöffentlichen Sitzung am 11.10.2021. Dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Protokoll der Sitzung ist zu entnehmen, dass die Bürgermeisterin u.a. ausführte, für die Bauplätze Nrn. 28 und 38 seien mehrere Bewerbungen eingegangen, allerdings könne nur das Konzept der Beigeladenen zu 3 berücksichtigt werden, weil die Bewerbungen der Bauherrengemeinschaften (darunter die Antragsteller) nicht vollständig seien. Es seien nicht alle geforderten Unterlagen beigelegt worden und es handele sich weniger um Konzepte, sondern eher um Baugesuche. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll verwiesen. Dieses wurde von der Antragsgegnerin allerdings in Absprache mit dem Verwaltungsgericht wegen von der Beigeladenen zu 2 geltend gemachter Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nur mit Schwärzungen vorgelegt und ist daher nur auszugsweise lesbar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Am 20.10.2021 wurde die Grundstücksvergabe im Gemeinderat erörtert. In dem - von der Antragsgegnerin ebenfalls nur mit Schwärzungen vorgelegten - Protokoll der Sitzung ist u.a. festgehalten, dass der Gemeinderat auf Vorschlag der Bürgermeisterin einem Vorschlag des Grundstücksvergabeausschusses zur punktemäßigen Bewertung der von den Beigeladenen zu 1 bis 3 für die Grundstücke 61/1, 61/2 bzw. 62 vorgelegten Konzepte sowie dem Vorschlag, diese Grundstücke an die Beigeladene zu 2 zu vergeben, zustimmte. Dem Protokoll ist weiter zu entnehmen, dass die Bürgermeisterin erklärte, dass in Bezug auf die Vergabe der Grundstücke 28 und 38 nur ein Konzept eingegangen sei, „das nach den Vergaberichtlinien gewertet werden könne. Die anderen Bewerbungen der Bauherrengemeinschaften (darunter die Antragsteller) erfüllten die Kriterien der Vergaberichtlinien nicht und die Unterlagen sind nicht vollständig“. Weitere Erläuterungen dazu sind dem auch insoweit teilgeschwärzten Protokoll nicht zu entnehmen. Dem Vorschlag des Vergabeausschusses entsprechend beschloss der Gemeinderat, die Grundstücke Nrn. 28, 38 und 51 an die Beigeladene zu 3 zu vergeben. Die Beschlüsse wurden in der öffentlichen Sitzung des Gemeinderats vom 17.11.2021 bekannt gegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Mit Schreiben vom 19.11.2021 unterrichtete die Antragsgegnerin die Beigeladenen zu 2 und 3 von den zu ihren Gunsten ausgefallenen Beschlüssen und teilte ihnen mit, dass notarielle Kaufverträge vorbereitet würden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Mit Schreiben vom 24.11.2021 teilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen zu 1 mit, dass ihre Bewerbung „aufgrund der zu geringen Punktzahl“ nicht habe berücksichtigt werden können. Den Antragstellern teilte die Antragsgegnerin mit vier weiteren Schreiben ebenfalls vom 24.11.2021 mit, dass ihre Bewerbung „aufgrund der zu geringen Punktzahl und der fehlenden Erfüllung der Voraussetzungen“ nicht habe berücksichtigt werden können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Am 29.11.2021 legten die Antragsteller Widerspruch gegen die Vergabeentscheidung betreffend das Grundstück Nr. 28 ein. Die Beigeladene zu 1 widersprach der Entscheidung betreffend die Grundstücke 61/1 und 61/2.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Am 21.12.2021 haben die Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht beantragt, es der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, „die Bauplätze des Baugebiets ‚Obere Halde‘“ zu vergeben und notarielle Kaufverträge über sie abzuschließen, solange nicht „über die Rechtswirksamkeit der Vergaberichtlinien“ vom 14.07.2021 entschieden ist. Zur Begründung haben sie u.a. vorgetragen, die Vergaberichtlinien enthielten mehrere Regelungen, die zu unbestimmt und daher nichtig seien. Sie verlangten z.B., dass ein „Konzept“ vorgelegt werde, ohne näher zu bestimmen, was dies sein solle. Auch die Regelungen über die Bewertungskriterien selbst seien rechtswidrig. Über die Bewerbernachweise würden von Privatpersonen Unterlagen verlangt, die diese nicht vorlegen könnten, nämlich die Befähigung zur Berufsausbildung, eine Unternehmensbeschreibung, Umsatzzahlen und eine Berufshaftpflichtversicherung. Welche Unterlagen Privatleute insoweit vorzulegen hätten und wie dies jeweils bewertet würde, sei in den Vergaberichtlinien nicht geregelt. Auch die Anwendung der Vergaberichtlinien sei fehlerhaft erfolgt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Antragsgegnerin ist dem Eilantrag entgegengetreten. Sie hat u.a. geltend gemacht, die Vergaberichtlinien seien rechtmäßig und auch ihre Anwendung im Einzelfall sei nicht zu beanstanden. Die Antragsteller hätten kein Konzept eingereicht, sondern lediglich ein Bewerbungsschreiben. Entgegen den Vergaberichtlinien hätten die Antragsteller ihre Planung nicht näher erläutert. Ausführungen zu deren sozialen, ökologischen sowie architektonischen Qualität sowie der ihres Parkierungskonzepts hätten sie nicht gemacht. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin das Grundstück Nr. 28 nicht an die Antragsteller vergeben habe. Ferner sei es so, dass die Antragsteller gemäß den Richtlinien ungeeignet für den Erwerb des Grundstücks seien. Sie verfügten über keinerlei Fachkunde bezüglich der Errichtung von Reihenhäusern und der Umsetzung von Konzepten zur Sicherung der geordneten städtebaulichen Entwicklung. Da ihre Bewerbung unvollständig sei, seien sie zu Recht vom weiteren Verfahren ausgeschlossen worden. Mangels konzeptioneller Ausführungen in ihrem Angebot sei dieses auch mit 0 Punkten zu bewerten gewesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Mit Beschluss vom 28.02.2022 hat das Verwaltungsgericht die Beigeladenen zu 1 bis 3 zu dem Verfahren beigeladen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Die Beigeladene zu 1 hat ebenfalls einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und beantragt, der Antragsgegnerin zu untersagen, „die Bauplätze des Baugebiets ‚Obere Halde‘ ... zu vergeben“ und notarielle Kaufverträge über sie abzuschließen, „bis die Rechtmäßigkeit der Vergabeentscheidung und Zurückweisung der Bewerbung der Beigeladenen (zu 1) rechtskräftig entschieden ist“. Sie hat geltend gemacht, sie sei durch die Vergabeentscheidung der Antragsgegnerin in ihrem Anspruch auf eine sachgerechte, willkürfreie und transparente Entscheidung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Bereits die Vergaberichtlinie sei rechtswidrig, weshalb jede auf ihr basierende Vergabeentscheidung ebenfalls rechtswidrig sei. Die einzelnen Bewertungskriterien seien zu unbestimmt und daher nichtig. Das bei Vergabeentscheidungen zu beachtende Transparenzgebot verlange, dass die aufgestellten Vergabekriterien so klar, eindeutig und unmissverständlich formuliert seien, dass jeder verständige und durchschnittliche Bewerber sie gleichermaßen verstehen und seine Chancen hierauf abschätzen könne. Dem genügten die Vergaberichtlinien nicht. Die Antragsgegnerin habe sich im Laufe des Vergabeverfahrens auch intransparent verhalten, was einen eigenständigen Rechtsverstoß darstelle. Sie habe der Beigeladenen zu 1 zugesagt, sie erhalte die Bewertungsmatrix der Punktevergabe, um sich ein eigenes Bild hinsichtlich ihres Angebots machen zu können. Dem sei sie indessen nie nachgekommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Beigeladene zu 2 hat erstinstanzlich u.a. vorgetragen, der Beigeladenen zu 1 fehle zum Teil schon die Antragsbefugnis. Im Hinblick auf eine Unbestimmtheit der Vergaberichtlinien sei sie zudem präkludiert. Die Vergaberichtlinien seien aber ohnehin rechtmäßig. In den Vergaberichtlinien sei detailliert aufgeführt und erläutert, nach welchen einzelnen Kriterien die eingereichten Konzepte bewertet würden. Die in den Vergaberichtlinien verwendeten Eignungskriterien entsprächen dem Standardkatalog des § 45 VgV und seien daher nicht zu beanstanden. Auch die von ihr behauptete Intransparenz des Vergabeverfahrens liege nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Mit Beschluss vom 22.04.2022 - 4 K 4006/21 - hat das Verwaltungsgericht auf den Antrag der Antragsteller der Antragsgegnerin untersagt, den Bauplatz Nr. 28 zu vergeben und notarielle Kaufverträge über ihn abzuschließen, solange nicht über die Rechtswirksamkeit der Vergaberichtlinien vom 14.07.2021 entschieden ist. „Auf den Antrag der Beigeladenen zu 1“ hat das Verwaltungsgericht eine auf die Bauplätze Nrn. 61/1 und 61/2 bezogenen und im Übrigen gleichlautende einstweilige Anordnung erlassen. Im Übrigen hat es die Anträge abgelehnt. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, die Anträge der Antragsteller und der Beigeladenen zu 1 seien unzulässig, soweit sie Bauplätze beträfen, auf die sie sich nicht beworben hätten. Soweit sie zulässig seien, seien die Anträge auch begründet. Die Antragsteller und die Beigeladene zu 1 hätten insbesondere jeweils einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Dieser folge aus Art. 3 Abs. 1 GG. Es sei Ausfluss der in Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 71 Abs. 1 und 2 LV verbürgten kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, dass eine Gemeinde frei darüber entscheiden könne, ob und inwieweit sie in ihrem Eigentum stehende Grundstücke veräußere. Entschließe sie sich zu einem solchen Schritt, habe der betroffene Bürger einen Anspruch im Rahmen der Vergabepraxis auf ermessensfehlerfreie Entscheidung und Berücksichtigung im Auswahlverfahren (Vergabeverfahrensanspruch). Die Gemeinde könne dabei das ihr zustehende Ermessen durch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften - hier Vergaberichtlinien - ausgestalten. In einem solchen Fall binde sich die Gemeinde bei künftigen Entscheidungen selbst mit der Folge, dass ein Bewerber sich allein deshalb auf einen Verstoß seines Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung berufen könne, wenn die Gemeinde von der in der Richtlinie vorgesehenen Anwendungspraxis abweiche. Eine solche Selbstbindung der Verwaltung setze voraus, dass die Richtlinie ihrerseits mit dem höherrangigen Recht, insbesondere mit Verfassungsrecht, vereinbar sei. Das Recht der Antragsteller und der Beigeladenen zu 1 auf ermessensfehlerfreie Entscheidung habe die Antragsgegnerin durch ihre Auswahlentscheidung verletzt. Dies folge daraus, dass die Vergaberichtlinien jedenfalls materiell rechtswidrig seien, weil sie gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstießen. Die sog. Eignungskriterien in den Vergaberichtlinien führten zu einer ungerechtfertigten Schlechterstellung von privaten Bauplatzbewerbern gegenüber Bauträgern und anderen gewerblichen Bauplatzbewerbern. Die Vergaberichtlinien sähen vor, dass nur Bewerber, die die Eignungskriterien erfüllen, zum Vergabeverfahren zugelassen werden könnten. Personen, die hiernach ungeeignet seien, würden von vornherein vom Vergabeverfahren ausgeschlossen, ungeachtet der Qualität ihres Bebauungskonzepts. Zum Nachweis der Eignung sollen nach den Vergaberichtlinien Unterlagen beigebracht werden, darunter die Befähigung zur Berufsausübung, einschließlich Auflagen hinsichtlich der Eintragung in einem Berufs- oder Handelsregister, eine Unternehmensbeschreibung, Umsatzzahlen der letzten drei Jahre, eine Berufshaftpflichtversicherung und Referenzen früherer Bauprojekte. Diese Liste an vorzulegenden Unterlagen sei offensichtlich § 45 Abs. 1 und 4 VgV nachgebildet, der sich ausweislich der amtlichen Überschrift des 5. Unterabschnitts in Abschnitt 2 der Vergabeverordnung („Anforderungen an Unternehmen; Eignung“) ausschließlich auf Unternehmen beziehe - bei denen die Eignungskriterien ihre Berechtigung hätten -, nicht aber auf Privatpersonen (Verbraucher). Die Art der vorzulegenden Unterlagen seien Dokumente mit Kennzahlen, die eine natürliche Person, die einen Bauplatz zur Errichtung eines Eigenheims erwerben wolle, typischerweise nicht vorlegen könne, ein gewerblicher Bauplatzbewerber (z.B. Bauträger) hingegen schon. Die Eignungskriterien mit den vorzulegenden Unterlagen bewirkten damit, dass private Bauplatzbewerber regelmäßig mangels Eignung vom weiteren Vergabeverfahren ausgeschlossen würden, obwohl sich die hier streitgegenständliche Konzeptvergabe von Bauplätzen nach eigenen Angaben der Antragsgegnerin gerade auch an private Bauplatzbewerber richten sollte. Einen sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung von privaten Bauplatzbewerbern (Verbrauchern) gegenüber gewerblichen Bauplatzbewerbern habe die Antragsgegnerin nicht vorgetragen und sei auch für das Gericht nicht ersichtlich. Wenn die Antragsgegnerin mit den Eignungskriterien habe sicherstellen wollen, dass der Bauplatzbewerber wirtschaftlich in der Lage sei, sein Bebauungskonzept auch zu verwirklichen, hätte es in den Eignungskriterien näherer Vorgaben dazu bedurft, wie auch Privatpersonen (Verbraucher) ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gegenüber der Antragsgegnerin belegen könnten. Derartige Regelungen enthielten ihre Vergaberichtlinien aber nicht. Art. 3 Abs. 1 GG verlange, dass die Vergaberichtlinien so ausgestaltet seien, dass jede der beiden Bewerbergruppen bei Bewerbung auf denselben Bauplatz eine bei abstrakter Betrachtung gleich hohe Chance habe, den Zuschlag zu erhalten. Vergabekriterien, die für beide Bewerbergruppen Anwendung fänden, jedoch von einer Bewerbergruppe typischerweise nicht erfüllt werden könnten, seien nichtig. Entsprechendes gelte für das Bewertungskriterium der „Qualität des Bewerbers“. Auch dieses Kriterium führe zu einer nicht von Sachgründen getragenen Benachteiligung privater Bauplatzbewerber (Verbraucher) gegenüber gewerblichen Bauplatzbewerbern. Das Gericht habe angesichts der besonderen Diskriminierungsverbote aus Art. 3 Abs. 3 GG schon erhebliche Bedenken, ob die nach den Vergaberichtlinien vorgesehene Bewertung der „Qualität“ eines Menschen rechtlich überhaupt zulässig sei. Sachliche Gründe für die Schlechterstellung privater Bauplatzbewerber durch das Kriterium der Qualität seien im Übrigen weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerde, mit der sie beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses die Anträge der Beschwerdegegner (Antragsteller) und der Beigeladenen zu 1 abzulehnen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Antragsgegnerin macht u.a. geltend, ihre Vergaberichtlinien seien rechtmäßig. Die Eignungskriterien in den Vergaberichtlinien führten nicht zu einer Schlechterstellung von privaten Bauherrengemeinschaften gegenüber gewerblichen Bauplatzbewerbern. Sie (die Antragsgegnerin) verfolge mit der Aufstellung der Eignungskriterien den Zweck, zu gewährleisten, dass Bauplatzbewerber, die einen Zuschlag für eines der im Baugebiet „Obere Halde“ gelegenen Grundstücke erhielten, das geplante Bauvorhaben auch tatsächlich errichteten und der Errichtung keine finanziellen Gründe bzw. kein Mangel an Fachkenntnissen entgegenstünden. Das Verwaltungsgericht habe übersehen, dass private Einzelpersonen in der Regel weder die finanziellen Möglichkeiten noch die notwendigen Fachkenntnisse hätten, um Mehrfamilien- sowie Reihen- oder Doppelhäuser in einem Zug zu bauen. Private Einzelpersonen müssten sich daher eines (gewerblichen) Bauträgers bedienen, der ihr Bauvorhaben erstellen könne. Im Hinblick auf die Vergaberichtlinien wäre es privaten Einzelpersonen problemlos möglich gewesen, einen gewerblichen Bauträger zu finden, der die Eignungskriterien erfülle, um so zu dem Vergabeverfahren zugelassen zu werden. Dieser gewerbliche Bauträger hätte als Unterauftragnehmer beauftragt werden können. Ferner hätten private Einzelpersonen mit gewerblichen Bauträgern Bietergemeinschaften gründen können. Die Vergaberichtlinien der Beschwerdeführerin hätten nicht zur Voraussetzung, dass die Eignungskriterien in der Person der sich bewerbenden privaten Einzelperson selbst vorliegen müssten. Es bestehe - jedenfalls - ein sachlich gerechtfertigter Grund für die (ggf.) Ungleichbehandlung. Das genannte Ziel, die Verwirklichung der Bauvorhaben zu gewährleisten, könne nur durch die Aufstellung von Eignungskriterien erreicht werden, die einen Schluss auf die finanzielle Potenz und das fachliche Know-How der Bewerber zuließen. Das Bewertungskriterium „Qualität des Bewerbers“ in den Vergaberichtlinien der Beschwerdeführerin vom 14.07.2021 führe dementsprechend ebenfalls nicht zu einer Schlechterstellung von privaten Bauherrengemeinschaften gegenüber gewerblichen Bauplatzbewerbern. Sie (die Antragsgegnerin) habe ihre Vergaberichtlinien im Rahmen des Vergabeverfahrens auch zutreffend auf die Antragsteller angewandt. Die Antragsteller hätten kein Konzept und keine Referenzen vorgelegt. Damit sei von vornherein ihre fachliche Eignung nicht nachgewiesen. Allein die Vorlage eines Lageplans mit Grundrissen zu Ansichten und Schnitten sowie der Wohnflächenberechnung ergebe noch kein „Konzept“, wie dies seitens der Vergaberichtlinien gefordert gewesen sei. Ferner fehlten Aussagen zu Mobilitäts- und Parkierungskonzepten. Selbst wenn die Bewerbung der Antragsteller in die Wertung einbezogen worden wäre, hätten diese nicht obsiegt, da mangels Konzept deren Bewerbung nach den hierfür einschlägigen Kriterien der Vergaberichtlinien keine Punkte im Vergleich zum Bestbieter erhalten hätte. Ebenso wären sie bei der Preisbewertung unterlegen, weil der Bestbieter der Beschwerdeführerin einen deutlich höheren Preis angeboten habe. Auch auf die Beigeladene zu 1 seien die Vergaberichtlinien zutreffend angewandt worden. Die Beigeladene zu 1 habe ebenfalls nicht obsiegen können, da ihr Angebot gegenüber dem des begünstigten Bewerbers weniger Punkte erhalten habe. Der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts sei unabhängig davon bereits deshalb rechtswidrig und aufzuheben, weil der Tenor letztlich zu einem dauerhaften Veräußerungsverbot im Hinblick auf die Grundstücke der Beschwerdeführerin führen würde. Sollte keiner der Beteiligten einen Antrag im Hauptsacheverfahren stellen, bestünde für sie (die Antragsgegnerin) die nicht hinzunehmende Gefahr, die Grundstücke Nrn. 28, 61/1 und 61/ 2 auf ewig nicht veräußern zu können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Beigeladene zu 2 hat sich den Ausführungen der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren angeschlossen. Ergänzend trägt sie u.a. vor, der Eilantrag der Beigeladenen zu 1 sei unzulässig und jedenfalls unbegründet, weil diese (auch) ausgehend von der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts nicht in ihren Rechten verletzt sei. Das Gericht habe seine Entscheidung ausschließlich mit dem Argument begründet, dass die Vergaberichtlinien gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen würden, weil sie zu einer ungerechtfertigten Schlechterstellung von privaten Bauplatzerwerbern gegenüber Bauträgern und anderen gewerblichen Bauplatzerwerbern führen würden. Selbst wenn man diese Auffassung als zutreffend unterstellen würde, würde die Beigeladene zu 1 durch diese Rechtsverletzung nicht benachteiligt, sondern sogar bevorteilt, da es sich bei ihr um einen gewerblichen Bewerber handele. Nach dem Grundsatz „venire contra factum proprium“ könne sich die Beigeladene zu 1 nicht auf die Unwirksamkeit einer für sie günstigen Regelung berufen. Das Verwaltungsgericht sei unabhängig davon über die Anträge der Antragsteller und der Beigeladenen zu 1 hinausgegangen und habe insbesondere den Antrag dieser Beigeladenen auch im Tatbestand des Beschlusses unzutreffend wiedergegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Antragsteller beantragen,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="25"/>die Beschwerde zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Sie verteidigen den angefochtenen Beschluss unter Vertiefung und Ergänzung ihres erstinstanzlichen Vorbringens und tragen vor, sie beabsichtigten, zeitnah einen Antrag im Hauptsacheverfahren zu stellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Beigeladene zu 1 beantragt ebenfalls,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="28"/>die Beschwerde zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Der Vortrag der Beigeladenen zu 2 zum Grundsatz „venire contra factum proprium“ liege neben der Sache. Weder habe sie (die Beigeladene zu 1) einen hierfür erforderlichen Vertrauenstatbestand gesetzt noch habe das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung festgestellt, dass die Vergaberichtlinien in identischer Weise erneut erlassen werden könnten. Zutreffend habe es angenommen, dass die Vergaberichtlinien jedenfalls private Bewerber erheblich benachteiligten und mithin rechtswidrig seien. Bereits auf dieser Grundlage können die Vergaberichtlinien keine geeignete Grundlage für ein Vergabeverfahren darstellen, sodass auch gegenüber ihr (der Beigeladenen zu 1) das Vergabeverfahren rechtswidrig gewesen sei. Die Rechtsverletzung liege bereits darin, dass ihr auf Grundlage eines rechtswidrigen Vergabeverfahrens kein Zuschlag erteilt worden sei. Im Übrigen verstießen die Vergaberichtlinien gegen das gleichheitsrechtliche Transparenzgebot und seien auch deshalb nicht als Grundlage für die Vergabeentscheidung geeignet. Bereits hinsichtlich des Kriteriums der „Qualität des Bewerbers“ sei nicht erkennbar, was dieses Kriterium von dem allgemeinen Eignungskriterium unterscheide. Auch die weiteren festgesetzten Kriterien erfüllen nicht das Gebot der Transparenz, da lediglich eine exemplarische Erläuterung erfolge, sodass nicht abgeschätzt werden könne, ob weitere Kriterien in die Vergabekriterien miteinbezogen werden sollten und gegebenenfalls welche. Insofern seien die Vergabekriterien derart offen gefasst, dass diese der Willkür geöffnet seien, da letztlich nicht definiert werde, was konkret in die Bewertung miteinfließe und was nicht. Im Übrigen seien die Vergabekriterien auch fehlerhaft angewendet worden. Die Entscheidung sei seitens des Gemeinderats letztlich wohl allein vom Ergebnis her getroffen worden. Die Antragsgegnerin hebe etwa hervor, dass es ihr um die Sicherstellung der „finanziellen Potenz“ der Bewerber gegangen sei, die Beigeladene zu 2 habe aber keine Finanzierungsbestätigung vorgelegt. Auch im Übrigen sei davon auszugehen, dass die Kriterien nicht ordnungsgemäß angewendet worden seien. Seitens der Antragsgegnerin seien lediglich so umfangreich geschwärzte Unterlagen vorgelegt wurden, dass ein Vergleich der Kriterien nicht möglich sei. Damit werde eine entsprechende Nachprüfung der Entscheidung vereitelt, was nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung zu ihren Lasten zu berücksichtigen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze der Beteiligten und die von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgänge, soweit diese lesbar sind, verwiesen.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td>II.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, aber nicht begründet. Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung des Senats grundsätzlich beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), geben dem Senat keinen Anlass, über die Anträge der Antragsteller und der Beigeladenen zu 1 auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abweichend vom Verwaltungsgericht zu entscheiden. Das Vorbringen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zu 2 gegen die Tenorierung des erstinstanzlichen Beschlusses (1.), gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Antragsauslegung (2.) und gegen dessen Sachentscheidung zum Eilantrag der Antragsteller (3.) sowie der Beigeladenen zu 1 (4.) rechtfertigt keine wesentliche Änderung des angefochtenen Beschlusses.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>1. Ohne Erfolg machen die Antragsgegnerin und die Beigeladene zu 2 geltend, der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts sei bereits deshalb aufzuheben, weil der von dem Verwaltungsgericht formulierte Tenor zu einem „dauerhaften Veräußerungsverbot“ in Bezug auf die Grundstücke der Antragsgegnerin führen würde, falls keiner der Beteiligten einen Antrag im Hauptsacheverfahren stellen (d.h. Klage erheben) sollte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Unabhängig davon, dass die Antragsteller eine Klageerhebung angekündigt haben, übersehen die Antragsgegnerin und die Beigeladenen zu 2, dass es die Antragsgegnerin im Bedarfsfall selbst in der Hand hat, den Eintritt eines „dauerhaften Veräußerungsverbotes“ zu verhindern. Das ergibt sich aus § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 ZPO. Nach der zuletzt genannten, für den Erlass einstweiliger Anordnungen gemäß § 123 Abs. 3 VwGO entsprechend geltenden Vorschrift hat, wenn die Hauptsache (noch) nicht anhängig ist, das Arrestgericht (hier das Verwaltungsgericht) auf Antrag ohne mündliche Verhandlung anzuordnen, dass die Partei, die den Arrestbefehl (hier die einstweilige Anordnung) erwirkt hat, binnen einer zu bestimmenden Frist Klage zu erheben hat (Abs. 1). Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, ist auf Antrag die Aufhebung des Arrestes (hier der einstweiligen Anordnung) auszusprechen (vgl. § 926 Abs. 2 ZPO und näher zum sog. Klageerzwingungsverfahren OVG NRW, Beschl. v. 18.06.2021 - 13 B 331/21 - NVwZ-RR 2021, 823; Schoch, in: dems./Schneider, Verwaltungsrecht, Stand 42. Erg.-Lfg., § 123 VwGO Rn. 181; jeweils m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>2. Ebenfalls ohne Erfolg bleibt der ergänzende Einwand der Beigeladenen zu 2, das Verwaltungsgericht habe den erstinstanzlichen Eilantrag der Beigeladenen zu 1 im Tatbestand des Beschlusses unzutreffend wiedergegeben und sei inhaltlich weit über diesen hinausgegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Das Verwaltungsgericht hat den von der Beigeladenen zu 1 in deren Schriftsatz vom 29.03.2022 formulierten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Tatbestand seines Beschlusses zwar in der Tat nicht wörtlich wiedergegeben. Dazu war es indes auch nicht verpflichtet. Denn es ist an die Fassung der Anträge nicht gebunden (vgl. § 122 Abs. 1 i.V.m. 88 Halbs. 2 VwGO) und zur sachdienlichen, am inhaltlichen Begehren der Beteiligten ausgerichteten Auslegung von Anträgen berufen. Die vom Verwaltungsgericht der Sache nach vorgenommene Auslegung des Eilantrags der Beigeladenen zu 1 weist gemessen an dem im deren Schriftsatz vom 29.03.2022 im Kern zum Ausdruck gebrachten Begehren, eine Schaffung von vollendeten Tatsachen zu verhindern, solange über die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Vergabeentscheidung, die ihrerseits auf den Vergaberichtlinien vom 14.07.2021 beruht, nicht rechtskräftig entschieden wurde, keine Rechtsfehler auf. Die Beigeladene zu 1 ist der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung ihres Antrags dementsprechend im Beschwerdeverfahren nicht entgegengetreten, sondern hat die angefochtene Entscheidung (auch insoweit) verteidigt. Erst recht ist das Verwaltungsgericht mit dem in Ausübung der ihm bei dem Erlass einer einstweiligen Anordnung zustehenden weiten Gestaltungsbefugnis (vgl. nur Schoch, a.a.O., §123 Rn. 133 m.w.N.) gewählten Tenor nicht unter Verstoß gegen § 88 Halbs. 1 VwGO inhaltlich über das Antragsbegehren hinausgegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Lediglich klarstellend ergänzt der Senat den Sachausspruch in Ausübung derselben, im Beschwerdeverfahren auch ihm zustehenden Befugnis wie aus dem Tenor seines vorliegenden Beschlusses ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>3. Gründe, über den Eilantrag der Antragsteller inhaltlich abweichend vom Verwaltungsgericht zu entscheiden, hat die Antragsgegnerin nicht dargelegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>a) Das diesbezügliche Beschwerdevorbringen genügt bereits den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Das Verwaltungsgericht hat in Bezug auf den Eilantrag der Antragsteller im Kern entschieden, die Antragsgegnerin habe den von ihm näher umschriebenen Vergabeverfahrensanspruch verletzt, weil es sein Ermessen bei der Vergabeentscheidung auf die Vergaberichtlinien vom 14.07.2021 gestützt habe, die ihrerseits gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstießen, weil die sog. Eignungskriterien und das Bewertungskriterium „Qualität der Bewerber“ jeweils private Bauplatzbewerber gegenüber gewerblichen Bewerbern ohne sachlichen Grund benachteilige. Wenn die Antragsgegnerin mit den Eignungskriterien habe sicherstellen wollen, dass der Bauplatzbewerber wirtschaftlich in der Lage sei, sein Bebauungskonzept auch zu verwirklichen, hätte es in den Eignungskriterien näherer Vorgaben dazu bedurft, wie auch Privatpersonen (Verbraucher) ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gegenüber der Antragsgegnerin belegen könnten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Mit dieser Begründung des Verwaltungsgerichts setzt sich die Antragsgegnerin nicht in einer § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügenden Weise auseinander. Denn sie geht nur auf die erste, nicht aber auf die zweite der beiden genannten und selbständig tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts ein. Die Antragsgegnerin hat zwar dargelegt, aus welchen Gründen ihres Erachtens entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keine Benachteiligung von privaten Bewerbern vorliege, und zur Begründung u.a. ausgeführt, dass die Eignungs- und Qualitätskriterien nicht in der Person von sich bewerbenden Privatpersonen vorliegen müssten und dass diese ihre Bewerbung auf verschiedene Weisen zusammen mit gewerblichen Beiträgern einreichen könnten. Mit der zweiten sinngemäßen Erwägung des Verwaltungsgerichts, dass es dann näherer Vorgaben gerade in der Richtlinie selbst dazu bedurft hätte, welche Schritte Privatpersonen aus Sicht der Antragsgegnerin konkret unternehmen müssten, um eine zulassungsfähige und inhaltlich berücksichtigungsfähige Bewerbung abzugeben, setzt sich die Antragsgegnerin hingegen nicht auseinander.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Es ist unabhängig von diesem Darlegungsdefizit auch in der Sache nicht erkennbar, dass die Vergaberichtlinie der Antragsgegnerin die vom Verwaltungsgericht als fehlend beanstandeten Vorgaben enthält. Das Gegenteil ist der Fall. Die Richtlinie definiert den Begriff des „Bewerbers“, der eine Bewerbung einreichen kann, in den auf S. 3 enthaltenen „Hinweisen“ durch einen Klammerzusatz als „Bauträger, Investor, Bauherrengemeinschaft“. Nach der Richtlinie können sich demnach - wie es die Antragsgegnerin im vorgerichtlichen Verfahren auf Nachfrage der ... GmbH eigens bestätigt hatte - auch private Bauherrengemeinschaften bewerben. Hinweise dazu, dass Bauherrengemeinschaften - wie die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren wohl sinngemäß geltend machen will - eine Bewerbung nur zusammen mit einem gewerblichen Bauträger einreichen können oder auf welche sonstige Weise Private die in den Richtlinien genannten Angaben machen und Nachweise führen können, finden sich in den Richtlinien hingegen nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>b) Unabhängig davon weist die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zum Eilantrag der Antragsteller auch in der Sache keine Rechtsfehler auf.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Der von dem Verwaltungsgericht zutreffend umschriebene (vgl. § 122 Abs. 3 Satz 3 VwGO), in Art. 3 Abs. 1 GG wurzelnde sog. Vergabeverfahrensanspruch vermittelt den Bewerbern einen Anspruch auf eine ermessens-, insbesondere materiell gleichheitsrechtsfehlerfreie Vergabeentscheidung. Jeder Mitbewerber muss aufgrund seines Anspruchs auf Gleichbehandlung eine faire Chance erhalten, nach Maßgabe der für die spezifische Vergabe wesentlichen Kriterien und des vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt zu werden (vgl. zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen BVerfG, Beschl. v. 13.06.2006 - 1 BvR 1160/03 - BVerfGE 116, 135, m.w.N.). Das setzt voraus, dass der die Vergabeentscheidung treffende Hoheitsträger etwaige ermessenslenkende Richtlinien im Hinblick auf die Vergabekriterien so klar und eindeutig formuliert, dass jeder verständige Bewerber sie gleichermaßen verstehen, seine Chancen abschätzen und insbesondere erkennen kann, welche Unterlagen er einreichen und Angaben er machen muss, um im Vergabeverfahren zugelassen und inhaltlich berücksichtigt zu werden. Ohne eine in diesem Sinne transparente, d.h. hinreichend bestimmte Ausgestaltung und Formulierung der Vergaberichtlinien ist es in der Regel nicht möglich, die gebotene Chancengleichheit zu gewährleisten und fehlt es daher an einer verfahrensmäßigen Grundlage, auf der eine gleichheitskonforme Auswahl getroffen werden kann (vgl. zu diesem sog. Transparenzgebot speziell in kommunalrechtlichen Bauplatzvergabeverfahren VG Sigmaringen, Beschl. v. 03.03.2022 - 14 K 4018/21 - juris, und v. 21.12.2020 - 7 K 3840/20 - juris; VG Weimar, Beschl. v. 30.07.2018 - 8 E 841/16 We [„allgemeiner Grundsatz des öffentlichen Vergabewesens“]; zu strukturierten Bieterverfahren zur Veräußerung von Vermögensgegenständen durch die öffentliche Hand Brbg. OLG, Urt. v. 24.04.2012 - 6 W 149/11 - ZfBR 2012, 508; LG Stuttgart, Urt. v. 24.03.2011 - 17 O 115/11 - juris; zum Vergaberecht i.e.S. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.11.2017 - VII-Verg 16/17 - NZBau 2018, 248; zu „Einheimischenmodellen“ bei der Vergabe von Liegenschaften im Lichte des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts EuGH, Urt. v. 08.05.2013 - C-197/11 u.a. - DVBl 2013, 1041; zum ggf. auch aus dem unionsrechtlichen Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit folgenden Transparenzgebot für Vergabeentscheidungen EuGH, Urt. v. 13.10.2005 - C-458/03 - Slg. 2005, I-8585; zu Marktzulassungsentscheidungen auf der Grundlage von § 70 Abs. 3 GewO BayVGH, Beschl. v. 12.08.2013 - 22 CE 13.970 - NVwZ-RR 2013, 933; zur Ausschreibung von öffentlichen Ämtern BVerwG, Beschl. v. 20.06.2013 - 2 VR 1.13 - BVerwGE 147, 20; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.11.2020 - 4 S 2582/20 - VBlBW 2021, 208; jeweils m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Diesem gleichheitsrechtlichen Transparenzgebot werden die verfahrensgegenständlichen Vergaberichtlinien der Antragsgegnerin nicht gerecht. Das betrifft bereits die in den Richtlinien mit den sog. Eignungskriterien geregelte erste, die Zulassung zum Verfahren betreffende Stufe. Die Richtlinien suggerieren, wie gezeigt (oben a)), einerseits, dass sich auch Private (Bauherrengemeinschaften) eigenständig um die Bauplätze bewerben können. Sie benennen aber andererseits Eignungskriterien - Zulassungsvoraussetzungen -, die ersichtlich nur auf gewerbliche Bewerber zugeschnitten sind, ohne klarzustellen, ob diese Kriterien ggf. auch - und dann mit welchen Modifikationen - für Private gelten. Ebenso wenig ist den Richtlinien mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen, wie ein privater Bewerber, falls er zugelassen ist, seine „Qualität“ im Sinne der sog. Bewertungskriterien darlegen kann. Erst recht enthalten die Richtlinien, wie gezeigt, keinen Hinweis darauf, dass die Antragsgegnerin wohl - und entgegen der abschließenden „Hinweise“ in den Richtlinien - Bewerbungen von Privaten nur zulassen und ggf. bewerten will, falls diese zusammen mit einem gewerblichen Bauträger eingereicht werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die Richtlinien versetzten einen privaten Interessenten damit insgesamt nicht in die Lage, seine Chancen abschätzen und erkennen zu können, welche Unterlagen er einreichen und Angaben er machen musste, um im Vergabeverfahren zugelassen und inhaltlich berücksichtigt zu werden. Die Vergabeentscheidung der Antragsgegnerin war an den mithin gleichheitswidrigen und deshalb unwirksamen Vergaberichtlinien ausgerichtet und ihrerseits rechtswidrig. Denn die Antragsgegnerin ließ die Bewerbung der Antragsteller bereits auf der ersten Stufe des Auswahlverfahrens mit der Begründung, die Antragsteller hätten nicht alle erforderlichen Unterlagen eingereicht, nicht zu, obwohl die Antragsgegnerin es zuvor unterlassen hatte, zu gewährleisten, dass die Antragsteller erkennen konnten, welche Unterlagen sie als Private einreichen mussten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Aus im Wesentlichen demselben Grund kann die Antragsgegnerin auch nicht mit Erfolg geltend machen, die Bewerbung der Antragsteller wäre selbst bei einer Zulassung wegen der fehlenden Unterlagen nicht ausreichend hoch gepunktet worden, um zum Zuge kommen zu können. Auch insoweit gilt, dass die Vergaberichtlinien Private wie die Antragsteller von vornherein nicht dazu in die Lage versetzten, zu erkennen, was sie vorlegen mussten, um mit Aussicht auf Erfolg berücksichtigt zu werden. Deshalb wäre auch eine auf den Einwand fehlender Unterlagen gestützte inhaltliche Auswahlentscheidung gleichheitswidrig gewesen. Unabhängig davon spricht - was keiner abschließenden Entscheidung bedarf - viel dafür, dass die Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren eine tatsächlich unterlassene Auswahlentscheidung nicht durch Vortrag hypothetischer Überlegungen zu einer tatsächlich nicht durchgeführten Auswahl heilen kann. Denn zuständig für die Auswahl war der Gemeinderat (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 GemO) und es ist nicht erkennbar, dass dieser sich inhaltlich mit der Bewerbung der Antragsteller auseinandergesetzt hätte (vgl. zur Ergänzung von Ermessensentscheidungen aus dem Zuständigkeitsbereich des Gemeinderats im gerichtlichen Verfahren den erkennenden Senat, Beschl. v. 09.08.2021 - 1 S 1764/21 - NVwZ-RR 2022, 55, und Urt. v. 02.11.2021 - 1 S 3252/20 - juris).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>4. Gründe, über den Eilantrag der Beigeladenen zu 1 inhaltlich abweichend vom Verwaltungsgericht zu entscheiden, haben weder die Antragsgegnerin noch die Beigeladene zu 2 dargelegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>a) Ohne Erfolg macht die Beigeladene zu 2 geltend, der Eilantrag der Beigeladenen zu 1 sei bereits unzulässig, weil sie mit ihrem Vortrag gegen das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) verstoßen habe und ihr deshalb das Rechtsschutzbedürfnis fehle.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Einem Beteiligten fehlt das Rechtsschutzbedürfnis grundsätzlich nur dann, wenn das prozessuale Vorgehen seine Rechtsstellung nicht verbessern kann und daher nutzlos ist (st. Rspr., vgl. nur Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 42 Rn. 350, m.w.N.). Das ist nur anzunehmen, wenn die Klage bzw. der Antrag für den Kläger bzw. Antragsteller offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile erbringen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.04.2004 - 3 C 25.03 - BVerwGE 121, 1 <3>; Urt. v. 06.03.2014 - 1 C 5.13 - juris Rn. 8). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Der von der Beigeladenen zu 1 gestellte Eilantrag vermag ihr tatsächliche und rechtliche Vorteile zu vermitteln. Denn im Falle einer - wie hier erstinstanzlich teilweise geschehen - Stattgabe kann sie die Schaffung vollendet Tatsachen verhindern und sich eine Chance in dem Vergabeverfahren erhalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Unabhängig davon ist auch der Vorwurf der Beigeladenen zu 2, die Beigeladene zu 1 verhalte sich rechtsmissbräuchlich, nicht begründet. Es ist insbesondere nicht missbräuchlich, dass sie eine Vergabeentscheidung mit dem sinngemäßen Einwand angreift, die der Entscheidung zugrunde gelegten Richtlinien seien (u.a.) aus Gründen rechtswidrig, die unmittelbar andere Bewerbergruppen betreffen, ihres Erachtens aber gleichwohl zur Gesamtunwirksamkeit der Richtlinie führen. Ein dahingehender Vortrag ist nicht widersprüchlich. Unabhängig davon stützt die Beigeladene zu 1 ihren Vortrag auch auf andere, nicht nur private, sondern auch gewerbliche Bewerber wie sie selbst betreffende Einwände.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>b) Ebenfalls ohne Erfolg bleibt der Vortrag der Beigeladenen zu 2, die Beigeladene zu 1 sei mit ihren Einwänden zur Rechtmäßigkeit der Vergaberichtlinien „präkludiert“, weil sie diese nicht bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist oder aus anderen Gründen rechtzeitig geltend gemacht habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Falls die Beigeladene zu 2 diesen inhaltlich nur andeutungsweise ausgeführten Einwand unter Verweis auf die Regelung zur Zurückweisung von Angriffs- und Verteidigungsmitteln aus § 531 ZPO begründen möchte, übersieht sie, dass diese Vorschrift im Verwaltungsprozessrecht nicht anwendbar ist. Falls sie mit ihrem Einwand auch oder stattdessen an die in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur teils vertretene Auffassung anknüpfen möchte, wonach im vergaberechtlichen sog. Unterschwellenbereich eine ungeschriebene Pflicht zur rechtzeitigen Rüge von etwaigen Fehlern im Ausschreibungsverfahren bestehe, rechtfertigt auch das keine „Präklusion“ des Vortrags der Beigeladenen zu 2. Die zur Begründung der genannten Rügepflicht (tatsächlich -obliegenheit) für zivilrechtliche Verfahren erwogenen dogmatischen Begründungsansätze wie eine analoge Anwendung des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB oder eine Anknüpfung an § 241 Abs. 2 BGB oder an § 242 BGB (vgl. LG Bielfeld, Urt. v. 27.02.2014 - 1 O 23/14 - juris) kommen in einem - wie hier - öffentlich-rechtlich ausgestalteten, an Art. 3 Abs. 1 GG auszurichtenden Vergabeverfahren nicht in Betracht. Es ist bereits nicht erkennbar, dass die für eine Analogie erforderliche planwidrige Regelungslücke vorliegt. Eine im Ergebnis rechtsschutzverkürzende Präklusion für ein öffentlich-rechtliches Vergabeverfahren bedürfte einer dahingehenden Entscheidung des Gesetzgebers (vgl. aus dem Planungsrecht etwa § 73 Abs. 4 Satz 3 [L]VwVfG oder im Verwaltungsprozessrecht § 87b Abs. 3 VwGO), an der es hier fehlt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>c) Eine Änderung der angefochtenen Entscheidung rechtfertigt auch nicht das sinngemäße Vorbringen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zu 2, jedenfalls in Bezug auf gewerbliche Bewerber seien die Vergaberichtlinien vom 14.07.2021 entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts rechtmäßig. Es bedarf keiner Entscheidung, ob der oben genannte Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wie das Verwaltungsgericht wohl angenommen hat, bereits per se die Gesamtunwirksamkeit der Richtlinien zur Folge hat und schon deshalb auch die die Beigeladene zu 1 betreffende Auswahlentscheidung rechtswidrig ist. Diese Entscheidung erweist sich unabhängig davon als rechtswidrig, weil die Vergaberichtlinien auch in Bezug auf gewerbliche Bewerber dem o.g. Transparenzgebot nicht genügen. Es kommt nicht darauf an, ob die Antragsgegnerin die Maßstäbe für die Punktevergabe innerhalb der einzelnen Bewertungskriterien ausreichend transparent und in einer gerichtlich nachprüfbaren Weise bestimmt hat. Jedenfalls sind den Richtlinien, wie das Verwaltungsgericht bereits in Zweifel gezogen hat, zu dem Kriterium „Parkierungskonzept“ keine transparenten Vorgaben zu entnehmen. Die Antragsgegnerin hat sich insoweit auf den Hinweis beschränkt, dass flächensparende und „zukunftsträchtige Mobilitäts- und Parkierungskonzepte“ Einfluss auf die Gesamtqualität eines Wohnbaukonzepts hätten, ohne wenigstens ansatzweise zu erläutern, welche Konzepte sie als „zukunftsträchtig“ ansieht und deshalb in einer Bewerbung mit einer hohen Punktzahl bewerten würde, und ob dies unabhängig von der Zahl der zu erstellenden Wohneinheiten gelten soll.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht billigem Ermessen (§ 162 Abs. 3 VwGO), dass die Beigeladene zu 2 ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da sie auf eigene Rechtsmittel und eine Antragstellung verzichtet und sich damit keinem eigenen Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 Satz 1 VwGO ausgesetzt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>6. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG und folgt der von den Beteiligten nicht beanstandeten Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr></table> |
|
345,988 | ovgnrw-2022-07-19-19-a-91922 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 19 A 919/22 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-07-29T10:01:03 | 2022-10-17T17:55:26 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0719.19A919.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat versteht das am 3. Mai 2022 per Fax übermittelte undatierte Schreiben und das am selben Tag per De-Mail ohne Absenderbestätigung übermittelte Schreiben des Klägers jeweils mit der Überschrift „PKH Antrag und Begründung“ nach § 88 VwGO als Prozesskostenhilfeantrag für einen Berufungszulassungsantrag, den ein nach § 67 VwGO vertretungsberechtigter Prozessbevollmächtigter noch stellen soll. Auf den Vertretungszwang nach § 67 VwGO nimmt der Kläger in den beiden genannten Schreiben sinngemäß selbst Bezug („… unterstehen dem anwaltlich unterzeichneten Schriftsatz.“) und beantragt ausdrücklich Prozesskostenhilfe. Unschädlich ist unter diesen Umständen, dass er das anwaltlich einzulegende Rechtsmittel unzutreffend als „Berufung“ bezeichnet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Senat lässt offen, ob der ohne Angabe einer ladungsfähigen Anschrift nur mit dem Vermerk „postalisch: Box XXXXXX, XXXXX C. “ versehene Prozesskostenhilfeantrag zulässig ist.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zum Rechtsschutzbedürfnis für einen Prozesskostenhilfeantrag für eine Klage, die wegen unterlassener Angabe der ladungsfähigen Anschrift unzulässig ist, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Januar 2012 ‑ 18 E 1327/11 ‑, juris, Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Prozesskostenhilfeantrag ist jedenfalls unbegründet. Im Prozesskostenhilfeverfahren für einen noch zu stellenden Antrag auf Zulassung der Berufung muss der nicht anwaltlich vertretene Antragsteller die hinreichende Aussicht des Rechtsmittels auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) innerhalb der für die Begründung des Zulassungsantrags geltenden Frist so weit darlegen, wie dies ohne anwaltlichen Beistand möglich und zumutbar ist. Erforderlich ist, dass sich aus der Begründung des Prozesskostenhilfeantrags das Vorliegen eines Zulassungsgrunds in groben Zügen erkennen lässt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 14. Mai 2020 ‑ 19 A 3060/19 ‑, juris, Rn. 4 m. w. N.; OVG Bremen, Beschluss vom 25. Januar 2022 ‑ 2 LA 392/21 ‑, juris, Rn. 10 m. w. N.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 23. März 2021 ‑ A 12 S 91/21 ‑, juris, Rn. 13 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das am 3. Mai 2022 per Fax übermittelte undatierte Schreiben des Klägers verfehlt diese reduzierte Begründungspflicht. Der Kläger kündigt darin lediglich an, die Begründung per De-Mail übersenden zu wollen. Auch das per De-Mail übermittelte Schreiben vom 3. Mai 2022 verfehlt die reduzierte Begründungspflicht. Es genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen an die elektronische Einreichung im Sinn des § 55a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 VwGO, weil der Kläger es ohne Absenderbestätigung übermittelt hat.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Abgesehen davon trägt der Kläger auch in diesem Schreiben in der Sache nichts vor, das auch nur ansatzweise ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer entscheidungstragenden Annahme des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) oder das Vorliegen eines anderen Zulassungsgrunds im Sinn von § 124 Abs. 2 VwGO naheliegend erscheinen lassen könnte. Die maßgebliche Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Klage sei mangels ladungsfähiger Anschrift des Klägers unzulässig, steht im Einklang mit der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung, auch derjenigen des Senats.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 15. August 2019 - 1 A 2.19 -, Buchholz 310 § 82 VwGO, Nr. 28, juris, Rn. 14 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 4. November 2021 ‑ 19 A 2056/21.A ‑, juris, Rn. 5, vom 30. September 2021 ‑ 19 A 2026/20 -, juris, Rn. 4, und vom 4. Mai 2021 ‑ 19 A 2888/20.A ‑, juris, Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Senat teilt insbesondere auch die Würdigung der Kammer, der Kläger verschweige seine ladungsfähige Anschrift u. a. auch deshalb bewusst, um der Justiz die Heranziehung zu Gerichtskosten unmöglich zu machen. Denn unabhängig vom Fehlen hinreichender Erfolgsaussicht hat er auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer Prozesskostenhilfebewilligung nicht glaubhaft gemacht. Nach seiner Prozesskostenhilfeerklärung vom 3. Mai 2022 und der beigefügten Rentenbezugsbescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 9. April 2021 bezieht er als ledige kinderlose Person Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von 907,12 Euro netto monatlich, ohne dass er Wohnkosten oder sonstige Abzüge geltend macht. Kann er danach Prozesskostenhilfe allenfalls mit Ratenzahlung erhalten, spricht es für sich, dass er in seinem Prozesskostenhilfeantrag seine ladungsfähige Anschrift weder mitteilt noch eine solche Mitteilung für das Klageverfahren wenigstens ankündigt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Schließlich lässt sich aus den Ausführungen des Klägers auch kein Verfahrensmangel in groben Zügen erkennen, auf dem die erstinstanzliche Entscheidung beruhen könnte (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Sein Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit des Einzelrichters im Sinn des § 54 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 42 Abs. 2 ZPO enthält ausschließlich Ausführungen, die zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet sind.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu etwa BVerfG, Entscheidung vom 11. Mai 2022 ‑ 2 BvQ 43/22 ‑, juris, Rn. 2 ff.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss, für den keine Gerichtskosten anfallen, ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p>
|
345,987 | ag-koln-2022-07-19-203-c-19921 | {
"id": 686,
"name": "Amtsgericht Köln",
"slug": "ag-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Ordentliche Gerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": "Amtsgericht"
} | 203 C 199/21 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-07-29T10:01:02 | 2022-10-17T17:55:26 | Urteil | ECLI:DE:AGK:2022:0719.203C199.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Beklagte zu 1) wird verurteilt, der Herausgabe der 832 im Rahmen des Wohnraummietverhältnisses über die Wohnung in der O. Str.. 40, DG links, Köln, durch den Beklagten zu 2) treuhänderisch verwalteten Stückaktien an der Beklagten zu 1) an die Klägerin durch den Beklagten zu 2) zuzustimmen.</p>
<p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) werden der Klägerin auferlegt. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) trägt diese selbst. Die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen diese und die Beklagte zu 1) jeweils hälftig.</p>
<p>Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckende Betrages vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 1) vermietete im Jahre 1960 an die fortan als solche bezeichneten Rechtsvorgänger der Klägerin, Frau H. F. und Herrn I. F. , eine Wohnung.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der 1960 geschlossene Mietvertrag („Alter Mietvertrag“) enthielt unter § 4 folgende Klausel:</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">„(1) Der Mieter hat vor Abschluss des Mietvertrages einen Geschäftsanteil in Höhe von 800 DM zu zahlen, den ihm die Vermieterin als Darlehen schuldet und den sie mit dem gleichen Prozentsatz an zu verzinsen hat, der auf ihre Vorzugsaktien jeweils als Dividende ausgeschüttet wird. Er wird nach Maßgabe der Bestimmung in Absatz 3 Satz 1 zur Rückzahlung fällig.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">(2) Die Vermieterin ist berechtigt, den Geschäftsanteil für den Mieter ganz oder teilweise in eigenen Aktien anzulegen. Die Anlegung erfolgt zum Nominalbetrag der Aktien auf den Namen eines Treuhänders in der Weise, daß dieser für alle Mieter, deren Geschäftsanteile in Aktien angelegt sind (Treuhandaktien) die Aktien verwaltet und die damit verbundenen Rechte ausübt. Während der Dauer des Mietverhältnisses kann der Mieter dem Treuhänder diese Befugnisse nicht entziehen. Ihm steht nur das Recht zu, nach Beendigung des Mietverhältnisses von dem Treuhänder nach Maßgabe der Bestimmungen in Absatz 3 Satz 2 – 4 die Herausgabe der entsprechenden Stücke zu verlangen. Der Treuhänder wird von der Vermieterin bestellt und abberufen; sie trägt auch die Kosten der Treuhandverwaltung.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">(3) Einen Monat nach Beendigung des Mietverhältnisses, jedoch nicht vor ordnungsgemäßer Rückgabe der Mieträume ist der Geschäftsanteil an den Mieter zurückzuzahlen. Wenn und soweit er in Treuhandaktien angelegt ist, sind diese ihm im gleichen Zeitpunkt herauszugeben. Der Vermieterin steht jedoch das Recht zu, vom Mieter zu verlangen, daß er sie einem von ihr zu benennenden Dritten zum Nominalbetrag überlässt. Gegenforderungen kann die Vermieterin dabei von dem Geschäftsanteil in Abzug bringen oder aus den Treuhandaktien in der Weise abdecken, dass sie den Treuhänder anweist, die Aktien freihändig zu veräußern und sie aus dem Erlös zu befriedigen.“</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des Vertragsschlusses im Jahre 1960 zahlten die Rechtsvorgänger der Kläger einen sogenannten Geschäftsanteil in Höhe von 800,00 DM an die Beklagte zu 1). Diese legte ihn sodann vollständig in 409 eigenen Aktien an. Aufgrund zweier Kapitalerhöhungen erhöhte sich die Anzahl der Aktien auf 832 Stückaktien an der Beklagten zu 1), wobei der rechnerische Anteil am Grundkapital seitdem 1,00 Euro pro Aktie beträgt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Mietvertrag vom 09.03.2005 vermietete die Beklagte zu 1) den Rechtsvorgängern der Klägerin die im Dachgeschoss links gelegene Wohnung in der O-str. 40, Köln zum 16.04.2005. Im Zeitpunkt des Mietvertragsschlusses im Jahre 2005 betrug der Kurswert 21,00 Euro pro Aktie.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Im Mietvertrag aus dem Jahr 2005 („Neuer Mietvertrag“, Bl. 24 GA) heißt es in § 3 Abs. 6 und Abs. 7:</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">„(6) Die bisherige Wohndauer von 44 Jahren und 6,5 Monaten wird auf das neue Mietverhältnis übertragen und findet so Berücksichtigung bei einer ordentlichen Kündigung seitens der Vermieterin.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">(7) Die in dem ursprünglichen Mietvertrag vom 01.10.1960 vereinbarte Kündigungsfrist seitens des Mieters von einem Monat bis zum Ende eines Kalendermonates wird auf das neue Mietverhältnis übertragen und setzt somit die Kündigungsfrist nach Nr. 10 Abs. 2, Satz 1 der Allgemeinen Mietvereinbarung außer Kraft.“</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">In § 4 Abs. 1 ist Folgendes geregelt:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">„Zur Sicherung von Ansprüchen der Vermieterin gegen den Mieter aus Schäden an der Wohnung oder unterlassenen Schönheitsreparaturen hinterlegt der Mieter</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>409,03 €</strong></p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">für die Dauer der Vertragszeit. Dieser Betrag wird von dem derzeitigen Mietverhältnis in der bisherigen Form (Geschäftsanteil) übertragen.“</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Aktien werden aufgrund eines zwischen den Beklagten geschlossenen Treuhandvertrages vom 01.01.2013 (Anl. B3, Bl. 102 GA) durch den Beklagten zu 2) treuhänderisch verwaltet.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">In dem Treuhandvertrag heißt es in der Präambel auszugsweise:</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">„Der Treuhänder ist Eigentümer dieser Aktien und übt die Aktionärsrechte eigenverantwortlich aus. Die Dividenden aus den Treuhandaktien zahlt der Treuhänder durch die J. als Zahlstelle für die Dauer der jeweiligen Mietzeit an diejenigen J-Mieter aus, die in das Treuhandaktien-Modell einbezogen sind. Bei Beendigung eines Mietverhältnisses erhält der ausscheidende Mieter den von ihm eingezahlten Betrag zurück und verliert seine Ansprüche gegen den Treuhänder.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Seit dem 1. Januar 1989 werden die entsprechenden Mietvertragsklauseln in den neuen Mietverträgen der J. in der Regel nicht mehr verwendet. Dadurch werden nach und nach Aktien frei, die im Rahmen des Treuhandaktien-Modells nicht mehr benötigt werden. Sie fallen wirtschaftlich der J. zu.“</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">§ 1 Abs. 2 des Treuhandvertrags zwischen den Beklagten lautet wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">„Der Treuhänder hält die Treuhandaktien fremdnützig im eigenen Namen. Der Treuhänder hat eine Liste mit den in das Treuhandaktienmodell einbezogenen Mietern erhalten, die auf seine Aufforderung zur Hauptversammlung und zum Jahresende aktualisiert wird.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">[…].</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Mit Beendigung der Mietverhältnisse hält der Treuhänder die nominal den mitgeteilten Geschäftsanteilen/Sicherheitsleistungen entsprechende Zahl von Treuhandaktien für Rechnung der J., soweit nicht eine andere Weisung der J. vorliegt.“</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">§ 1 Abs. 3 des Treuhandvertrags lautet auszugsweise wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">„Im Außenverhältnis ist der Treuhänder Vollrechtsinhaber. […] Im Innenverhältnis steht die Dividende für die Dauer der Mietverhältnisse den dem Treuhänder von der J. bekanntgegebenen Mietern zu, an die der Treuhänder vorsorglich alle Ansprüche auf Dividendenzahlung abtritt.“</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">§ 2 des Treuhandvertrages lautet auszugsweise wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">(2) Das Rechtsverhältnis zwischen dem Treuhänder und einem Mieter endet mit Beendigung des betreffenden Mietverhältnisses.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">(3) Der Treuhänder ist nicht verpflichtet, durch Beendigung von Mietverhältnissen von ihrer treuhänderischen Bindung freigewordene Treuhandaktien an ausgeschiedene Mieter herauszugeben. Vielmehr hat die J. das Recht, die freigewordenen Treuhandaktien für eigene Rechnung zu verwerten und den Treuhänder entsprechend anzuweisen. Der Treuhänder verpflichtet sich, diese Aktien nach Anweisung der J. einem von der J. benannten Erwerber zu übereignen. Sollte dem Treuhänder in diesem Zusammenhang ein Erlös zufließen, ist dieser an die J. abzuführen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls in den Jahren ab 2005 schüttete die Beklagte zu 1) zunächst an die Rechtsvorgänger der Klägerin, später an die Klägerin persönlich, jährlich Beträge in Höhe von über 100 % des gezahlten Geschäftsanteils aus, die jeweils mit der Miete verrechnet und in den von der Beklagten zu 1) übermittelten Steuerbescheinigungen als „Dividende“ bezeichnet wurden.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Nach dem Tod ihrer Mutter kündigte die Klägerin den neuen Mietvertrag mit Schreiben vom 04.04.2018 zum nächstmöglichen Zeitpunkt, frühestens aber zum 31.05.2018. Mit Schreiben vom 05.04.2018 stimmte die Beklagte zu 1) einer Beendigung des Mietvertrages zum 31.05.2018 zu, woraufhin die Klägerin die Wohnung zu diesem Zeitpunkt geräumt an die Beklagte zu 1) zurückgab.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Bereits zuvor forderte die Klägerin die Beklagte zu 1) mit Schreiben vom 13.04.2018 und 15.05.2018 zur Auskunft über die Anzahl und den Nominalbetrag der mit dem Geschäftsanteil erworben Aktien auf. Gleichzeitig kündigte die Klägerin unter Berufung auf § 4 des alten Mietvertrages bereits an, mit Beendigung des Mietverhältnisses Herausgabe der Aktien zu verlangen. Mit Schreiben vom 22.08.2018 erteilte die Beklagte zu 1) Auskunft und teilte erstmalig – ebenfalls unter Verweis auf § 4 des alten Mietvertrages – mit, zeitnah einen Dritten zu benennen, dem die Klägerin die Aktien zum Nominalbetrag überlassen solle.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Aufforderung der Klägerin vom 03.05.2019, ihr die 832 Aktien binnen zwei Wochen herauszugeben, kam die Beklagte zu 1) nicht nach. Stattdessen zahlte die Beklagte zu 1) am 31.05.2019 an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 409,03 Euro. Die Klägerin teilte daraufhin mit, hierin keine Erfüllung zu sehen. Mit Schreiben vom 17.07.2019 forderte die Beklagte zu 1) die Klägerin zur Zustimmung zur Überlassung der Aktien an die Nachmieter Q.und H. K.auf. Die Klägerin erteilte die begehrte Zustimmung nicht.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Am 15.12.2018 trat der einzige Bruder der Klägerin sämtliche im Zusammenhang mit dem Mietverhältnis über die Wohnung in der O.Str.. 40, DG links, Köln stehenden Ansprüche an die Klägerin ab.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin meint, die Regelungen aus dem Mietvertrag des Jahres 1960 gölten uneingeschränkt fort. Die Beklagte zu 1) könne sich allerdings auf ihr Recht, anstatt der Rückgabe der Aktien eine Herausgabe an Dritte zum Nominalbetrag zu verlangen, nicht berufen. Dieses Recht habe nämlich innerhalb eines Monats nach Beendigung des Mietvertrages ausgeübt werden müssen.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">den Beklagten zu 1) zu verurteilen, die Zustimmung dazu zu erteilen, dass der Beklagte zu 2) die 832 von ihm für die Klägerin im Rahmen des Wohnraummietverhältnisses über die Wohnung in der O.Str.. 40, DG links, Köln, treuhänderisch verwalteten Aktien an der Beklagten zu 1) an die Klägerin herausgibt;</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">den Beklagten zu 2) zu verurteilen, die 832 von ihm für die Klägerin im Rahmen des Wohnraummietverhältnisses über die Wohnung in der O. Str.. 40, DG links, Köln, treuhänderisch verwalteten Aktien an der Beklagten zu 1) an die Klägerin herauszugeben.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Beklagten erheben die Einrede der Verjährung.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Sie sind der Ansicht, der Abschluss des neuen Mietvertrages schließe eine Fortgeltung der Regelungen des alten Mietvertrages im Zusammenhang mit dem „Geschäftsanteil“ aus. Durch diesen sei die Vereinbarung dahingehend geändert worden, dass die Beklagte zu 1) nach Beendigung des Mietverhältnisses nur 409,03 € habe zurückerstatten müssen. Ab Abschluss des neuen Mietvertrages habe die Klägerin allenfalls noch 20 StückAktien mit einem Kurswert von jeweils 21 € als Sicherheit eingebracht. Ein damals gegebenenfalls entstandener Anspruch auf Herausgabe der übrigen Aktien sei zwischenzeitlich jedenfalls verjährt.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte zu 1) sei im Übrigen jedenfalls berechtigt gewesen, die Aktien nicht herauszugeben, sondern deren Nominalwert an die Klägerin zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Ein Anspruch auf Herausgabe gegen den Beklagten zu 2) scheide schon mangels Vertragsbeziehung zwischen der Klägerin und ihm aus.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die am 21.12.2021 eingegangene Klage ist der Beklagten zu 1) am 17.01.2022 und dem Beklagten zu 2) am 13.01.2022 zugestellt worden.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist gegen die Beklagte zu 1) begründet, gegen den Beklagten zu 2) unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">A.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Das Gericht kann in der Sache trotz der Klagerücknahme entscheiden und muss die mündliche Verhandlung auch nicht wiedereröffnen.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Der in der Spruchfrist erklärten Klagerücknahme der Klägerin haben die Beklagten die nach § 269 Abs. 1 ZPO erforderliche Zustimmung verweigert; die Klagerücknahme ist damit unwirksam.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Das Gericht kann die hiernach erforderliche Sachentscheidung auch unmittelbar treffen; es muss die mündliche Verhandlung nicht wiedereröffnen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Dem steht nicht entgegen, dass es seine Entscheidung, soweit es der Klage stattgibt, auf von den Parteien schriftsätzlich nicht ausführlich erörterte Punkte stützt. Zwar hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass es allein auf Basis der von der Klägerin vorgetragenen Rechtsausführungen nicht von einer Begründetheit der Klage ausgeht. Es hat aber zugleich erklärt, einen Erfolg der Klage im Hinblick auf die einseitige Möglichkeit der Beklagten zu 1), die Verpflichtung zur Herausgabe der Aktien abzuwenden, für denkbar zu halten; die Vereinbarung könne insoweit unwirksam sein. Es hat sich insoweit eine Prüfung in der Spruchfrist vorbehalten und erklärt, dass den Parteien Rechtsausführungen in der Spruchfrist freistehen.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">B.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht gegen die Beklagte zu 1) ein Anspruch auf Erteilung der Zustimmung zur Herausgabe der 832 vom Beklagten zu 2) im Rahmen des Wohnraummietverhältnisses über die Wohnung in der O.Str. 40, DG links, Köln, treuhänderisch verwalteten Aktien an der Beklagten zu 1) zu. Ein derartiger Anspruch ergibt sich aus der zwischen den Parteien geschlossenen Sicherungsabrede, wobei offenbleiben kann, ob jene aus dem Vertrag von 1960 oder aus dem Jahre 2005 maßgeblich ist.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist nach dem Tod ihrer Mutter jedenfalls als (Mit-)Erbin gemeinsam mit ihrem Bruder mit allen Rechten und Pflichten in das Mietverhältnis mit der Beklagten zu 1) bestehende Mietrechtsverhältnis eingerückt. Jedenfalls infolge der Abtretung aller im Zusammenhang mit dem Mietverhältnis stehender Ansprüche durch ihren Bruder und Miterben, wurde sie nach § 398 BGB alleinige Anspruchsinhaberin.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Rechtsvorgänger der Klägerin hatten zuletzt eine Mietsicherheit in Form von 832 Aktien an der Beklagten zu 1) geleistet. Durch Abschluss des neuen Mietvertrages im Jahr 2005 hat sich hieran nichts geändert.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Unstreitig ist zwischen den Parteien zunächst, dass die Rechtsvorgänger der Klägerin im Jahr 1960 eine Zahlung von 800 DM erbracht haben. Diesen Betrag hat die Beklagte zu 1) seinerzeit auf Rechnung der Rechtsvorgänger der Klägerin in eigenen Aktien angelegt, die jedenfalls ab dem Jahr 2000 – wie von Anfang an vertraglich vorgesehen – durch einen Treuhänder im eigenen Namen, aber auf Rechnung der Rechtsvorgänger der Klägerin verwaltet wurden. Auch wenn die Vertragsparteien diese Leistung der Mieter als Darlehen bezeichnet haben, hat es sich bei Lichte betrachtet schon seinerzeit um eine Sicherungsleistung gehandelt, denn aus dem Geschäftsanteil durfte der Vermieter bei Beendigung des Mietverhältnisses gemäß § 4 Abs. 3 S. 4 des alten Mietvertrages auch eigene Forderungen in Abzug bringen. Auf die Vorschriften zum (Sach-)Darlehen kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Diese Sicherheitsleistung hat sich in der Folge durch die Kapitalerhöhung der Beklagten auf 832 Stückaktien erhöht.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Durch den Abschluss des neuen Mietvertrages hat sich hieran nichts geändert.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">§ 4 Abs. 1 S. 2 legt insoweit ausdrücklich fest, dass der als Mietsicherheit geschuldete Betrag „von dem derzeitigen Mietverhältnis <span style="text-decoration:underline">in der bisherigen Form (Geschäftsanteil)</span> übertragen“ wird. Die „bisherige Form“ bedeutet nichts anderes als 832 Stückaktien der Beklagten zu 1). Eine Angabe des Kurswertes brauchte es hierfür natürlich nicht, denn es sollten die von dem Treuhänder mittelbar für die Klägerin verwalteten Aktien übertragen werden, welchen Wert sie auch gehabt haben mochten. Eine Angabe des volatilen Kurswertes hätte keinen Mehrwert gehabt. Hätten die Parteien beabsichtigt, die Art und den Umfang der Sicherheitsleistung zu ändern, wäre die Wahl dieser Formulierung geradezu widersinnig gewesen, denn die Übertragung der Sicherheit in der „bisherigen Form“ ist das genaue Gegenteil der Rückumwandlung in eine bloße Barkaution, die von der Beklagten zu 1) nunmehr behauptet wird. Hätten die Parteien derartiges regeln wollen, hätten sie mit Sicherheit eine andere Formulierung gewählt, die Mietsicherheit zum Beispiel als „Barkaution“ oder ähnliches bezeichnet oder hätten es dabei belassen, klarzustellen, dass die Mietsicherheit durch Zahlung von 800 DM (=409,03 €) erbracht worden sei und durch Zahlung dieses Betrages rückzuerstatten sei. Derartiges haben die Vertragsparteien gerade nicht vereinbart.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Parteien die Höhe der Mietsicherheit in § 4 Abs. 1 S. 1 des neuen Mietvertrages mit 409,03 Euro beziffert haben und zumindest nach dem Wortlaut des neuen Vertrages eben <em>diese</em> Sicherheit <em>in der bisherigen Form</em> übertragen werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">aa)</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Angabe der ursprünglichen Sicherheitsleistung der Mieter aus dem Jahr 1960 entspricht der Regelungsstruktur des ursprünglichen Mietvertrags. Der neue Mietvertrag wiederholt insoweit letztlich die Systematik des ursprünglichen, in dem einerseits die von den Mietern erbrachte Barzahlung erwähnt wurde und andererseits die Möglichkeit der Anlage dieses Geldbetrages geregelt wurde. Entsprechendes findet sich im neuen Mietvertrag. Sofern die Beklagte zu 1) versucht, aus der Nennung des ursprünglichen Zahlungsbetrages eine grundsätzliche Änderung der Vertragsstruktur zu konstruieren, kann sie damit nicht durchdringen. Die Angabe des ursprünglich gezahlten Betrages war, wenn auch die ursprünglichen Rückzahlungsbedingungen samt Wahlrecht der Beklagten zu fortbestehen sollte, schon deshalb erforderlich, weil anderenfalls der von der Beklagten zu 1) bzw. einem Dritten zu zahlenden Nominalwert nicht hätte ermittelt werden können.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die von den Beklagten favorisierte Lesart liegt auch deshalb fern, weil sie ein Abstellen auf den Kurswert der als Sicherheit zu übertragenden Aktien erfordern würde. Wäre dies gewollt, hätte es zum einen auf der Hand gelegen, eine Übertragung von Aktien mit einem Kurswert von insgesamt 409,03 € ausdrücklich zu vereinbaren und aufgrund augenblicklicher Kursschwankungen einen konkreten Zeitpunkt für die Bestimmung des maßgeblichen Wertes zu vereinbaren. Demgegenüber ist es – ohne dass es darauf ankäme – naheliegender gewesen, dass die Parteien den (nach der Kapitalerhöhung nicht mehr zutreffenden) Nominalwert der Aktien haben angeben wollen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">bb)</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Hätten die Parteien durch Abschluss des neuen Mietvertrages tatsächlich eine Zäsur herbeiführen wollen, hätte es weiter nahegelegen, eine Mietsicherheit in dem nach § 551 BGB maximal zulässigen (etwa dreimal so hohen) Umfang zu vereinbaren, zumindest aber Höhe eines geraden Betrages (z.B. 400,00 oder 450,00 Euro). Die Vereinbarung eines derart niedrigen und „krummen“ Betrages, der gleichzeitig auf den Cent genau dem Umrechnungswert der bisherigen Mietsicherheit entspricht, lässt sich dahingegen nur so erklären, dass die Parteien die bisherige Mietsicherheit – gegebenenfalls auch zur Vermeidung bürokratischen und buchhalterischen Aufwands – vollständig in der bisherigen Form in das neue Mietverhältnis übernehmen wollten ohne irgendwelche Änderungen herbeizuführen.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">cc)</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus entsprach auch nur eine vollständige Übertragung aller Aktien aus dem alten Mietverhältnis dem Interesse der Parteien. Die Aktien hatten im Zeitpunkt des Abschlusses des neuen Mietvertrages einen Kurswert in Höhe von 17.472,00 Euro. Es liegt fern, dass die Rechtsvorgänger der Klägerin durch den Abschluss des neuen Mietvertrages auf Aktien im Wert von über 17.000 Euro verzichten wollten. Ein derartiger Wille ist ihrer Erklärung, die einzig auf den Abschluss des neuen Mietvertrages gerichtet war, nicht ansatzweise zu entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Aber auch der Beklagten zu 1) kann kein Interesse an der Aufgabe der höheren Mietsicherheit unterstellt werden. Der Kursgewinn erhöht nach § 4 Abs. 3 S. 4 des alten Mietvertrages, ebenso wie nach der gesetzlichen Konzeption die Mietsicherheit des Vermieters. Dass die Beklagte zu 1) mit Abschluss des neuen Mietvertrages auf diese erhöhte Mietsicherheit verzichten, den Rechtsvorgängern der Klägerin die überschüssigen Aktien im Wert von über 17.000 Euro auskehren und gleichzeitig eine neue, deutlich unter dem zulässigen Höchstmaß des § 551 BGB liegende Mietsicherheit vereinbaren wollte, liegt fern.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Bezeichnend ist auch, dass dieser Vertrag nicht regelt, was mit den dann überzähligen Aktien passieren soll. Dass die Beklagte zu 1) seinerzeit den Rechtsvorgängern der Klägerin eine Vertragsänderung unterjubeln wollte, um diese unbemerkt um die weitere Partizipation an Kursgewinnen zu bringen und um die bis dahin erwirtschafteten und den Rechtsvorgängern der Klägerin zustehenden Kursgewinne nicht auszuzahlen, um sich später auf die Einrede der Verjährung zu berufen, möchte das Gericht nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Dass es aufgrund eines Versehens nicht zu bei einer nach dieser Lesart erforderlichen Herausgabe der Aktien an die Rechtsvorgänger der Klägerin gekommen sein sollte, hält das Gericht ebenfalls für ausgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">dd)</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Dieses Ergebnis wird durch eine Gesamtschau des neuen Mietvertrages bestätigt. Dem neuen Mietvertrag lässt sich entnehmen, dass letztlich sämtliche Vorteile, die sich aus dem vorherigen Mietvertrag ergeben haben, den Rechtsvorgängern der Klägerin weiter zugutekommen sollten. Ergänzend zu der den ursprünglichen Mietvertrag wiederholenden Regelung zur Mietsicherheit sollte gemäß § 3 Abs. 6 des neuen Mietvertrages die bisherige Mietdauer und gemäß § 3 Abs. 7 die bisherige Kündigungsfrist für die Rechtsvorgänger der Klägerin in das neue Mitverhältnis übertragen werden. Diese Regelungen lassen sich im Gesamtkontext des neuen Mietvertrages nur dahingehend auslegen, dass die Rechtsvorgänger der Klägerin nach dem übereinstimmenden Parteiwillen durch den Abschluss des neuen Mietvertrages nicht schlechter stehen sollte als bei Beibehaltung des alten Mietvertrages.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht grundsätzlich ein Anspruch auf Herausgabe der Mietsicherheit in Form von Aktien zu. Sie muss sich nicht mit der Rückzahlung der ursprünglich durch ihre Rechtsvorgänger um 1960 erbrachten Sicherheitsleistung in Höhe von umgerechnet 409,03 € begnügen. Das gilt unabhängig davon, ob nicht nur die Mietsicherheit aus dem vorherigen Mietverhältnis übertragen werden sollte, oder aber auch die Regelungen zur Rückgabe der Mietsicherheit fortgelten sollten.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Soweit die entsprechenden Regelungen des alten Mietvertrags nicht mehr gelten sollten und allein die Sicherheit übertragen worden sein, folgt die grundsätzliche Verpflichtung der Beklagten zu 1) zur Herausgabe der Aktien unmittelbar aus der Sicherungsabrede. Ein Recht, die Aktien nicht herauszugeben, steht ihr dann bereits nach dem Wortlaut des Vertrages nicht zu.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Auch wenn man von der Fortgeltung der Rückzahlungsmodalitäten des alten Mietvertrages ausgeht, kann die Beklagte zu 1) sich nicht darauf berufen, anstelle der Herausgabe der Aktien zur Zahlung berechtigt zu sein; durch die Zahlung der Beklagten zu 1) in Höhe von 409,03 Euro ist Erfüllung im Sinne des § 362 Abs. 1. BGB nicht eingetreten.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 4 Abs. 3 S. 2 des alten Mietvertrages sind dem Mieter binnen eines Monats nach Beendigung des Mietverhältnisses und ordnungsgemäßer Räumung der Mieträume die Treuhandaktien herauszugeben, wenn und soweit der Geschäftsanteil gemäß § 4 Abs. 2 des alten Mietvertrages in Treuhandaktien angelegt wurde. Der von den Rechtsvorgängern der Klägerin im Jahre 1960 gezahlte Betrag von 800,00 DM wurde vollständig in mittlerweile 832 Aktien angelegt. Die von den Beklagten geschuldete Leistung bestand mithin in der Herausgabe der 832 Aktien. Nur durch Bewirkung dieser Leistung konnte der Anspruch der Klägerin gemäß § 362 Abs. 1 BGB durch Erfüllung erlöschen.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 4 Abs. 3 S. 3 des alten Mietvertrages, da die Bestimmung gemäß § 551 Abs. 3 S. 3, Abs. 4 BGB unwirksam ist. Auf den Streit der Parteien über die rechtliche Einordnung und Auslegung dieser Bestimmung kommt es nicht an. Im Einzelnen:</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">aa)</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Die Vorschrift des § 551 Abs. 3 S. 3 BGB sieht vor, dass die Erträge aus der Mietsicherheit unabhängig von der Anlageform dem Mieter zustehen. Vorliegend haben die Parteien – was unstreitig ist – die Anlage in Aktien der Beklagten zu 1) vereinbart. Bei dieser Form der Anlage gehören zu den Erträgen neben den unstreitig an die Klägerin bzw. ihre Rechtsvorgänger ausgezahlten Dividenden auch etwaige Kursgewinne.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">bb)</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Von dieser Vorschrift abweichende Vereinbarungen sind nach § 551 Abs. 4 BGB unwirksam. Bei dem im ursprünglichen Mietvertrag vereinbarten Recht der Beklagten zu 1), anstatt der Aktien den Nominalwert auszuzahlen, handelt es sich um eine derartige Vereinbarung. Hierdurch wird nämlich der Beklagten zu 1) als Vermieterin das Recht eingeräumt, unilateral einen Teil der Erträge, nämlich etwaige Kursgewinne, für sich in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig erlaubt die Regelung es ihr sogar, Verluste durch Herausgabe der Aktien auf den Mieter abzuwälzen, was im Kontext des § 551 BGB allerdings nicht entscheidend ist.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">cc)</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die bei Abschluss des ursprünglichen Mietvertrags 1960 noch nicht existente Vorschrift des § 551 BGB findet Anwendung.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">(1)</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Parteien im Jahr 2005 einen <span style="text-decoration:underline">neuen Mietvertrag</span> über eine andere Wohnung geschlossen haben und dabei lediglich die Übertragung der Mietsicherheit und bestimmter Regelungen aus dem alten Mietvertrag vereinbart haben.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">(2)</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob die Vorschrift auch bei Fortbestehen des ursprünglichen Mietvertrags schon aufgrund des Fehlens einer abweichenden Übergangsvorschrift mit Inkrafttreten von § 551 Abs. 3 S. 3 BGB am 01.09.2001 anwendbar wäre (recht deutlich dafür: BGH, Beschluss vom 21. August 2018 – VIII ZR 92/17 –, Rn. 15, juris unter Bezugnahme auf BGH, Urteil vom 30. Juni 2004 – VIII ZR 243/03 –, Rn. 16, juris; vgl. auch BGH, Urteil vom 11. März 2009 – VIII ZR 184/08 –, Rn. 9 f).</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">(3)</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage der Anwendbarkeit der §§ 307 ff. BGB, insbesondere des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, in der heute geltenden Fassung auf Grundlage der Übergangsvorschrift des Art. 229 § 5 S. 2 EGBGB (bejahend: BGH, Beschluss vom 21. August 2018 – VIII ZR 92/17 –, Rn. 6, juris) kommt es vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht an, auch wenn im Hinblick darauf, dass die Klausel es der Beklagten zu 1) erlaubt, Kursverluste durch Nichtgebrauch ihres vertraglich ausbedungenen Wahlrechts auf die Mieter abzuwälzen, Gewinne ihnen aber vorzuenthalten (und – wie zuletzt geschehen –entgegen vertraglichen Konstruktion für sich in Anspruch zu nehmen, statt die Aktien an Dritte weiterzugeben) bei Anwendbarkeit auch unter diesem Gesichtspunkt viel für eine Unwirksamkeit spräche. Es liegt nämlich nahe, in diesem Auseinanderfallen von Gewinn- und Verlustrisiko insbesondere vor dem Hintergrund, dass die geleistete Mietsicherheit lediglich der Absicherung von Ansprüchen des Vermieters dient und daher wirtschaftlich weiterhin dem Mieter zusteht, eine unangemessene Benachteiligung des Mieters zu erblicken ist.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">IV.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Die weiteren Einwände der Beklagten zu 1) gegen den klägerischen Anspruch auf Übertragung der Aktien bzw. Zustimmung hierzu führen nicht weiter. Die von ihr als unzumutbar und treuwidrig empfundenen Ansprüche der Klägerin ergeben sich aus der gesetzlichen Wertung des § 551 BGB, die auch in der Sache angemessen ist: Der Mieter als Sicherungsgeber trägt das Risiko eines Wertverlustes der Sicherheit bei Rückgabe, er erhält aber auch die Chance auf Gewinne und ihm steht die Rendite in Form von Dividenden zu. Dass sich infolge veränderter Umstände die damalige Kapitalbeschaffung für die Beklagte zu 1) aus heutiger Sicht nicht mehr so günstig darstellt, ist ihr eigenes Risiko. Im Übrigen ist zu beachten, dass die Beklagte zu 1) hätte sie die Vertragspraxis nicht umgestellt, sondern fortgeführt, von den Kursgewinnen und den Dividenden ebenfalls nicht hätte profitieren können.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">V.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerin die Beklagte zu 1) – insoweit der vertraglichen Konstruktion aus dem Jahre 1960 folgend – nicht unmittelbar auf Herausgabe der Aktien, sondern nur auf Zustimmung zur Herausgabe durch den Beklagten zu 2) in Anspruch genommen hat, besteht ein derartiger Anspruch. Es ist dabei nicht von Bedeutung, ob die Klägerin die Herausgabe unmittelbar von der Beklagten zu 1) fordern könnte, denn aus §§ 241 Abs. 2, 242 BGB ergibt sich, selbst wenn ein derartiger Anspruch bestünde, als „Minus“ jedenfalls auch ein Anspruch auf Zustimmung zur Herausgabe der von dem Beklagten zu 2) treuhänderisch gehaltenen Aktien.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">VI.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Dem Anspruch der Klägerin steht auch nicht etwa die durch die Beklagte zu 1) erhobene Einrede der Verjährung, § 214 Abs. 1 BGB, entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, hat die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist (§ 195 BGB) nicht bereits nach Abschluss des neuen Mietvertrages zum 01.01.2006 begonnen, denn seinerzeit war der Anspruch auf Herausgabe durch die vereinbarte Übertragung der Sicherheit gerade nicht fällig.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Verjährung ist auch nicht etwa deshalb eingetreten, weil den Rechtsvorgängern der Klägerin im Zweifel ab dem Jahr 2005 aufgrund des Abschlusses des neuen Mietvertrages ein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 BGB auf Herausgabe der Mietsicherheit zugestanden hätte.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Es ist zwar denkbar, dass die Sicherungsabrede ab dem Jahr 2005 wegen Verstoßes gegen § 551 Abs. 1 S1 BGB wegen Übersicherung nach § 551 Abs. 4 BGB unwirksam war, <em>soweit</em> (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juni 2011 – VIII ZR 91/10 –, Rn. 19 f., juris) die Sicherungsabrede eine Sicherheit von damals mehr als drei Monatsmieten vorsah, weil § 551 Abs. 3 S. 4 BGB durch den Abschluss eines neuen Mietvertrages womöglich keine Anwendung mehr gefunden hat. Hiermit einhergehend stand den Rechtsvorgängern der Klägerin ein Bereicherungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB auf Herausgabe des drei Monatsmieten übersteigenden Teils der Mietsicherheit zu, der im Jahr 2005 entstanden ist und wohl verjährt sein dürfte (vgl. BGH, a. a. O.)</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Hierauf kommt es jedoch nicht an, denn verjährt ist allenfalls der Anspruch auf <em>vorzeitige</em> Herausgabe des Teils der Sicherheitsleistung, der die nach § 551 Abs. 1 BGB zulässige Sicherheitsleistung übersteigt. Von diesem Anspruch ist der aus der Sicherungsabrede selbst folgende Herausgabeanspruch nach Beendigung des Mietverhältnisses streng zu trennen. Die teilweise Unwirksamkeit einer Mietkautionsvereinbarung berührt auch nicht die Pflicht zur Herausgabe der gesamten Mietsicherheit, inklusive des überhöhten Teils, nach Beendigung des Mietverhältnisses (<em>Witt</em>, NZM 2012, 545, 552). Eine derartige Rechtsfolge ließe sich erkennbar mit dem Sinn und Zweck der Regelung des § 551 Abs. 4 BGB nicht vereinbaren, sondern würde ihn in sein Gegenteil verkehren.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch auf Herausgabe der Mietsicherheit aus der Sicherungsabrede ist ebenfalls nicht verjährt. Dieser Anspruch unterliegt seinerseits der regelmäßigen dreijährigen Verjährungsfrist gemäß §§ 195, 199 BGB, die noch nicht abgelaufen ist.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Nach § 4 Abs. 3 S. 2 des alten Mietvertrages wird der Anspruch auf Herausgabe der Aktien erst einen Monat nach Beendigung des Mietverhältnisses, nicht jedoch vor ordnungsgemäßer Rückgabe der Mieträume, fällig. Sollte die ursprüngliche Regelung keine Anwendung mehr finden, wäre der Anspruch nach Ablauf einer angemessenen Abrechnungsfrist, also jedenfalls nicht früher, fällig geworden.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Hiernach hat die Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 BGB frühestens am 01.01.2019 zu laufen begonnen, da das streitgegenständliche Mietverhältnis zum 31.05.2018 wirksam beendet wurde und die Mieträume im selben Zeitpunkt ordnungsgemäß an die Beklagte zu 1) zurückgegeben wurden. Der Anspruch auf Herausgabe der Aktien entstand somit frühestens am 30.06.2018.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">c)</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die Verjährungsfrist ist nach wie vor nicht abgelaufen, weil sie nach § 204 Abs. 1 Nr.1 Var. 1 BGB durch Klageerhebung seit dem 21.12.2021 gehemmt ist. Zwar setzt die Erhebung der Klage gemäß § 253 Abs. 1 ZPO grundsätzlich die Zustellung der Klage an den Beklagten voraus, allerdings kommt es gemäß § 167 ZPO ausnahmsweise auf den Zeitpunkt des Eingangs der Klage bei Gericht an, wenn die Zustellung demnächst erfolgt. Dies ist eindeutig der Fall, da die Klage den Beklagten am 13.01.2022 bzw. 17.01.2022 zugestellt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">C.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat gegen den Beklagten zu 2) unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf Herausgabe der Beklagten zu 1).</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Soweit sich die Klägerin auf die Regelung in § 4 Abs. 2 S. 4 des alten Mietvertrages stützt, der einen Direktanspruch gegen den Treuhänder auf Herausgabe der Aktien nach Beendigung des Mietverhältnisses nach Maßgabe der Bestimmung des § 4 Abs. 3 S. 2 – 4 des alten Mietvertrages vorsieht, hat sie hiermit keinen Erfolg. Der Mietvertrag entfaltet schuldrechtliche Wirkungen nur zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1), nicht aber zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 2). Einen Direktanspruch der Klägerin gegen den Beklagten zu 2) anzunehmen, würde bedeuten, einen Anspruch aus einem Vertrag zulasten Dritter anzuerkennen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Der Klägerin steht gegen den Beklagten zu 2) auch kein Anspruch aus § 328 Abs. 1 BGB in Verbindung mit dem zwischen den Beklagten geschlossenen Treuhandvertrag zu.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Nach der Vorschrift des § 328 Abs. 1 BGB ist es den Vertragsparteien möglich, eine Leistung an einen Dritten dergestalt zu vereinbaren, dass der Dritte unmittelbar das Recht erlangen soll, die Leistung zu fordern.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Derartiges ergibt sich aus dem Treuhandvertrag gerade nicht. Im Einzelnen:</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Ausweislich der Vereinbarung zwischen den Beklagten war zunächst der Beklagte zu 2) Vollrechtsinhaber der Aktien.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Der Vertrag sieht dabei ausdrücklich vor, dass die Rechtsbeziehung zwischen dem Treuhänder und dem Mieter mit Beendigung des Mietverhältnisses enden soll, § 2 Abs. 2 des Treuhandvertrages. In § 2 Abs. 3 des Treuhandvertrages ist überdies ausdrücklich geregelt, dass der Treuhänder nach Beendigung des jeweiligen Mietverhältnis gerade nicht verpflichtet sein soll, die Aktien an den jeweiligen Mieter herauszugeben. Vielmehr soll er mit den Aktien letztlich nach Weisung der Beklagten zu 1) verfahren. In Einklang hiermit sieht die Präambel des Treuhandvertrages weiter ausdrücklich vor, dass mit Beendigung der Mietverhältnisse der eingezahlte Betrag erstattet werden, nicht aber die Aktien durch den Treuhänder an die Mieter herausgegeben werden sollen.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Parteien des Treuhandvertrages der Klägerin bzw. ihren Rechtsvorgängern einen eigenständigen Anspruch gegen den Beklagten zu 1) verschaffen wollten. Das Gericht verkennt nicht, dass dies für die Klägerin unglücklich sein mag; die in der mit der mietvertraglichen Vereinbarung nicht kongruente Ausgestaltung des Treuhandvertrags zu erblickende Pflichtverletzung der Beklagten zu 1) gegenüber der Klägerin geht aber nicht zulasten des Beklagten zu 2), sondern führt gegebenenfalls zu einer Verpflichtung der Beklagten zu 1) zum Schadensersatz.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">c)</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der Treuhandvertrag an anderer Stelle durchaus Regelungen zugunsten der Mieter trifft, und etwa auch vorsieht, dass dem Treuhänder die Namen der jeweiligen Mieter mitzuteilen sind. Über einen Direktanspruch der Klägerin gegen den Beklagten zu 2) sagt dies im Übrigen nichts aus.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">d)</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls würde ein Direktanspruch der Klägerin aber nach dem Treuhandvertrag die Zustimmung der Beklagten zu 1) verlangen. Diese hat die Beklagte zu 1) nicht erteilt und eine Zustimmung dürfte auch erst nach Rechtskraft der Entscheidung gegen die Beklagte zu 1) erfolgen bzw. als erfolgt gelten. Auch vor diesem Hintergrund wäre die Klage gegen den Beklagten zu 2) jedenfalls zurzeit unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">D.</p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO; im Hinblick auf den Beklagten zu 1) unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens des § 91 Abs. 1 ZPO. .</p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">D.</p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 S. 1, S. 2 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks"><strong>Streitwert: 115.648,00 Euro</strong></p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">R e c h t s b e h e l f s b e l e h r u n g :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">A) <strong>Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung</strong> für jeden zulässig, der durch dieses Urteil in seinen Rechten benachteiligt ist,</p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">1. wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,00 EUR übersteigt oder</p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Berufung in dem Urteil durch das Amtsgericht zugelassen worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Die Berufung muss <strong>innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung</strong> dieses Urteils bei dem Landgericht Köln, eingegangen sein. Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklärung, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde, enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist, sofern nicht bereits in der Berufungsschrift erfolgt, binnen zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils gegenüber dem Landgericht Köln zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Die Parteien müssen sich vor dem Landgericht Köln durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere müssen die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift von einem solchen eingereicht werden. Die Einreichung muss daher nach § 130d ZPO elektronisch unter Wahrung der insoweit geltenden Anforderungen erfolgen.</p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">B) <strong>Gegen die Streitwertfestsetzung ist die Beschwerde</strong> an das Amtsgericht Köln statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR übersteigt oder das Amtsgericht die Beschwerde zugelassen hat. Die Beschwerde ist spätestens innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem Amtsgericht Köln, schriftlich in deutscher Sprache oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerde kann auch zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichtes abgegeben werden. Erfolgt die Einlegung durch einen Rechtsanwalt, hat sie nach § 130d ZPO elektronisch zu erfolgen. Im Übrigen kann sie elektronisch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts erfolgen. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden.</p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann die Beschwerde noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
|
345,949 | ovgni-2022-07-19-5-me-5522 | {
"id": 601,
"name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht",
"slug": "ovgni",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": null
} | 5 ME 55/22 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-07-27T10:01:34 | 2022-10-17T17:55:22 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 2. Kammer - vom 6. Mai 2022 geändert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, die in der ... ausgeschriebene Stelle „Leitende Oberstaatsanwältin oder Leitenden Oberstaatsanwalt (w/m/d) - BesGr. R 4 -“ bei der Staatsanwaltschaft F. mit dem Beigeladenen zu besetzen und diesen zum Leitenden Oberstaatsanwalt zu befördern, bis über die Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden worden und eine Wartefrist von zwei Wochen nach Bekanntgabe einer für ihn negativen Auswahlentscheidung an ihn abgelaufen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 53.566,50 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Auswahlentscheidung des Antragsgegners, die Stelle „Leitende Oberstaatsanwältin oder Leitenden Oberstaatsanwalt (w/m/d) - BesGr. R 4 -“ bei der Staatsanwaltschaft F. mit dem Beigeladenen zu besetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der im Jahr 1963 geborene Antragsteller wurde im ... 1993 in das Richterverhältnis auf Probe berufen (vgl. Bl. 15, 21/Beiakte 003) und zur Erprobung im richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst dem Oberlandesgerichtsbezirk G. zugeordnet. Am ... 1996 wurde er unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Staatsanwalt ernannt (Bl. 51, 54/Beiakte 003), und ihm wurde das Amt eines Staatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt übertragen. Nach seiner Abordnung an die Generalstaatsanwaltschaft G. zum Zwecke der Erprobung (... 2000 bis zum ... 2000; Bl. 57, 59/Beiakte 003) kehrte er an die Staatsanwaltschaft B-Stadt zurück. Am ... 2003 wurde er zum Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 2) befördert, und ihm wurde zunächst das Amt eines Oberstaatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft F. übertragen (Bl. 72 f., 69/Beiakte 003); am 4. September 2003 wurde er zur Generalstaatsanwaltschaft G. versetzt (Bl. 77, 79/Beiakte 003). Im Zeitraum vom ... 2006 bis zum ... 2006 war er zur Dienstleistung an das Niedersächsische H. abgeordnet (Bl. 84/Beiakte 003); danach kehrte er an die Generalstaatsanwaltschaft G. zurück. Mit Wirkung vom 22. August 2008 wurde der Antragsteller an die Staatsanwaltschaft B-Stadt versetzt (Bl. 108, 110/Beiakte 003). Nach erfolgreicher Bewerbung wurde ihm mit Wirkung vom ... 2011 der höherwertige Dienstposten eines Leitenden Oberstaatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft I. (Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage) übertragen (Bl. 121, 123, 126/Beiakte 003); mit Wirkung vom ... 2012 wurde er zum Leitenden Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage) befördert (Bl. 132 f./Beiakte 003). Seit dem 1. August 2017 ist der Antragsteller als Abteilungsleiter der seinerzeit bei der Generalstaatsanwaltschaft G. neu eingerichteten, landesweit tätigen „Zentralstelle J.“ eingesetzt. Am ... 2018 wurde er zum Leitenden Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 3) befördert (Bl. 174 f./Beiakte 003).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der im Jahr 1970 geborene Beigeladene wurde im ... 1998 in das Richterverhältnis auf Probe berufen (vgl. Bl. 11, 21/Beiakte 002) und zur Erprobung im richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst dem Oberlandesgerichtsbezirk G. zugeteilt. Am ... 2001 wurde er unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Staatsanwalt ernannt, und ihm wurde das Amt eines Staatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt übertragen (Bl. 39, 42, 45/Beiakte 002). Nach seiner Abordnung an die Generalstaatsanwaltschaft G. zum Zwecke der Erprobung (1. Dezember 2006 bis zum 31. März 2007; Bl. 56/Beiakte 002) und weiteren Abordnungen dorthin (1. April 2007 bis 30. Juni 2007 [Bl. 60/Beiakte 002] und 1. Juli 2007 bis 30. September 2007 [Bl. 70/Beiakte 002]) wurde er am ... 2007 zum Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 2) befördert, und ihm wurde das Amt eines Oberstaatsanwalts bei der Generalstaatsanwaltschaft G. übertragen (Bl. 76, 77, 73/Beiakte 002). Am 26. August 2011 wurde der Beigeladene an die Staatsanwaltschaft B-Stadt versetzt (Bl. 90, 92/Beiakte 002). Nach erfolgreicher Bewerbung wurde ihm mit Wirkung vom ... 2015 der höherwertige Dienstposten eines Oberstaatsanwalts (Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage) als Hauptabteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt übertragen (Bl. 107, 109, 111/Beiakte 002); am ... 2016 wurde er zum Oberstaatsanwalt der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage befördert (Bl. 116 f./Beiakte 002). Seit dem 18. März 2019 ist der Beigeladene als ständiger Vertreter des Leitenden Oberstaatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt (Besoldungsgruppe R 3) tätig (Bl. 138 f., 141/Beiakte 002). Am ... 2019 wurde er zum Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 3) befördert (Bl. 160, 161/Beiakte 003).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>In der ... schrieb der Antragsgegner die Stelle „Leitende Oberstaatsanwältin oder Leitenden Oberstaatsanwalt (w/m/d) - BesGr. R 4 - “ bei der Staatsanwaltschaft F. aus. Weitere textliche Darstellungen zu etwaigen Anforderungen in Bezug auf die ausgeschriebene Stelle enthielt der Ausschreibungstext nicht. Auf diese Stelle bewarben sich u. a. der Antragsteller und der Beigeladene.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>In der aus Anlass seiner Bewerbung gefertigten <strong>aktuellen dienstlichen (Anlass-)Beurteilung</strong> vom <strong>11. Mai 2021</strong> (Beurteilungszeitraum: 6. März 2020 bis 11. Mai 2021) erhielt der Antragsteller für das ausgeübte Amt eines Leitenden Oberstaatsanwalts (Besoldungsgruppe R 3) das Gesamturteil „vorzüglich geeignet“ (= höchste von insgesamt 7 Notenstufen). Dabei erzielte er auch im Hinblick auf alle der beurteilten 11 Einzelleistungsmerkmale mit „übertrifft die Anforderungen herausragend“ die höchstmögliche Bewertung (= höchste der insgesamt 7 Notenstufen). In der in Bezug auf das angestrebte Amt eines Leitenden Oberstaatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft F. (Besoldungsgruppe R 4) angestellten Eignungsprognose wurde der Antragsteller ebenfalls mit „vorzüglich geeignet“ beurteilt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>In seiner <strong>Vorbeurteilung</strong> vom <strong>6. März 2020</strong> (Beurteilungszeitraum: „1. August 2017 bis zum 31. Juli 2019“; gemeint erkennbar: „1. August 2019 bis zum 6. März 2020“) - während dieses Beurteilungszeitraums hatte der Antragsteller das Statusamt eines Leitenden Oberstaatsanwalts der Besoldungsgruppe der Besoldungsgruppe R 3 inne - war auf die vorausgegangene Anlassbeurteilung vom 31. Juli 2019 Bezug genommen und festgestellt worden,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„die damaligen Beurteilungsgrundlagen und die Gesamtbeurteilung der dienstlichen Eignung und Leistung als</em><br><strong><em>vorzüglich geeignet</em></strong><br><em>treffen weiterhin zu“.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>In jener <strong>(Vor-)Vorbeurteilung</strong> vom <strong>31. Juli 2019</strong> (Beurteilungszeitraum: 1. August 2017 bis 31. Juli 2019) - in diesem Beurteilungszeitraum war der Antragsteller bis zu seiner Beförderung mit Wirkung vom ... 2018 als Leitender Oberstaatsanwalt der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage und nach seiner Beförderung als Leitender Oberstaatsanwalt der Besoldungsgruppe R 3 tätig - erhielt der Antragsteller für das ausgeübte Amt eines Leitenden Oberstaatsanwalts (Besoldungsgruppe R 3) das Gesamturteil „vorzüglich geeignet“. Dabei erzielte er auch in dieser Beurteilung im Hinblick auf alle der beurteilten 11 Einzelleistungsmerkmale mit „übertrifft die Anforderungen herausragend“ die höchstmögliche Bewertung. In der in Bezug auf das angestrebte Amt eines Leitenden Oberstaatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft K. (Besoldungsgruppe R 4; vgl. Nds. Rpfl. 2019, S. 145) angestellten Eignungsprognose wurde der Antragsteller ebenfalls mit „vorzüglich geeignet“ beurteilt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>In der aus Anlass seiner Bewerbung gefertigten <strong>aktuellen dienstlichen (Anlass-)Beurteilung</strong> vom <strong>22. April 2021</strong> (Beurteilungszeitraum: 17. Juli 2018 bis 22. April 2021) erhielt der Beigeladene für das ausgeübte Amt eines Oberstaatsanwalts (Besoldungsgruppe R 3) das Gesamturteil „vorzüglich geeignet“. Dabei erzielte er auch im Hinblick auf alle der beurteilten 11 Einzelleistungsmerkmale mit „übertrifft die Anforderungen herausragend“ die höchstmögliche Bewertung. In der in Bezug auf das angestrebte Amt eines Leitenden Oberstaatsanwalts bei der Staatsanwaltschaft F. (Besoldungsgruppe R 4) angestellten Eignungsprognose wurde der Beigeladene ebenfalls mit „vorzüglich geeignet“ beurteilt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>In seiner <strong>Vorbeurteilung</strong> vom <strong>16. Juli 2018</strong> (Beurteilungszeitraum: 28. März 2017 bis zum 16. Juli 2018) - hierbei handelt es sich um die Beurteilung aus Anlass der (zweiten) Bewerbung des seinerzeit im Statusamt eines Oberstaatsanwalts der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage stehenden Beigeladenen vom 23. November 2017 (Bl. 131/Beiakte 002) um den höherwertigen Dienstposten des stellvertretenden Behördenleiters bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt (Besoldungsgruppe R 3; ...) - war auf die vorausgegangene Anlassbeurteilung vom 27. März 2017 Bezug genommen und festgestellt worden,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„die damaligen Beurteilungsgrundlagen und die Gesamtbeurteilung der dienstlichen Eignung und Leistung als</em><br><em>vorzüglich geeignet</em><br><em>treffen ebenso weiterhin zu wie meine Einschätzung der Eignung für das angestrebte Amt eines stellvertretenden Behördenleiters bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt als</em><br><em>vorzüglich geeignet“.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>In jener <strong>(Vor-)Vorbeurteilung</strong> vom <strong>27. März 2017</strong> (Beurteilungszeitraum: 16. Oktober 2015 bis 27. März 2017) - diese Beurteilung wurde aus Anlass der (ersten) Bewerbung des seit dem ... 2016 im Statusamt eines Oberstaatsanwalts der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage stehenden Beigeladenen vom ... 2016 (Bl. 120/Beiakte 002) um den höherwertigen Dienstposten des stellvertretenden Behördenleiters bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt (Besoldungsgruppe R 3) erstellt; die entsprechende Stellenausschreibung (...) war im November 2017 zurückgenommen worden (...) - hatte der Beigeladene für das ausgeübte Amt eines Oberstaatsanwalts der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage das Gesamturteil „vorzüglich geeignet“ (= höchste von insgesamt 7 Notenstufen) erhalten. Dabei hatte er im Hinblick auf alle der beurteilten 11 Einzelleistungsmerkmale die höchstmögliche Bewertung „übertrifft die Anforderungen herausragend“ erhalten. In der in Bezug auf das angestrebte Amt eines Oberstaatsanwalts der Besoldungsgruppe R 3 angestellten Eignungsprognose war der Beigeladene ebenfalls mit „vorzüglich geeignet“ beurteilt worden.<br>...</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner entschied sich indes dafür, die streitgegenständliche Stelle mit dem Beigeladenen zu besetzen. In dem Auswahlvermerk des Niedersächsischen L. vom 19. August 2021/ 10. Dezember 2021 (Bl. 55 bis 59/Beiakte 001) wurde ausgeführt, die aktuellen Anlassbeurteilungen aller Bewerber seien schlüssig, aussagekräftig und vergleichbar. Dem Beigeladenen sei gegenüber dem Antragsteller der Vorrang einzuräumen. Zwar stünden beide Bewerber im Statusamt der Besoldungsgruppe R 3 und hätten hinsichtlich des ausgeübten Amtes jeweils das bestmögliche Gesamturteil („vorzüglich geeignet“) erhalten. Sie seien zudem in allen Einzelleistungsmerkmalen mit der höchsten Notenstufe („übertrifft die Anforderungen herausragend“) beurteilt worden; Entsprechendes gelte für den Vergleich der jeweiligen Eignungsprognose, die gesondert sowie nachvollziehbar und tragfähig begründet sei. Allerdings ergebe sich zugunsten des Beigeladenen „sowohl hinsichtlich der Leistungsentwicklung als auch der dienstlichen Erfahrung ein geringer, aber entscheidender Leistungsvorsprung“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Betrachte man die Leistungsentwicklung der beiden Bewerber, komme dem Beigeladenen unter Berücksichtigung seiner ca. 5,5 Jahre späteren Ernennung zum Richter auf Probe in der niedersächsischen Justiz gegenüber dem Antragsteller ein maßgeblicher Vorsprung zu. Beide Bewerber hätten zwar dieselben Statusämter (R 2 sowie R 2 + Amtszulage) durchlaufen; allerdings habe der Beigeladene im Verhältnis zu seinem Dienstalter „alle Beförderungsämter früher [erreicht] als [der Antragsteller]“. Die besondere Leistungsfähigkeit des Beigeladenen habe sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn gezeigt, als er ungefähr ein Jahr nach seinem Eintritt in die niedersächsische Justiz an die Generalstaatsanwaltschaft G. abgeordnet und im Verhältnis zu seinem Dienstalter herausragend gut beurteilt worden sei. Seine Ernennung zum Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 2) sei „ca. 9 Jahre“ nach seinem Dienstantritt als Proberichter und unmittelbar im Anschluss an seine Erprobung erfolgt. Nach weiteren 8,5 Jahren - am ... 2016 - sei er in das Amt eines Oberstaatsanwalts der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage befördert worden; am ... 2019 sei ihm der Dienstposten des ständigen Vertreters der Behördenleitung der Staatsanwaltschaft B-Stadt übertragen und 6 Monate später sei er zum Oberstaatsanwalt der Besoldungsgruppe R 3 ernannt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Demgegenüber sei die Leistungsentwicklung des Antragstellers „zeitlich gesehen etwas langsamer“ verlaufen. So sei er erst ca. 10 Jahre und 4 Monate nach seinem Eintritt in die niedersächsische Justiz zum Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 2) ernannt worden. Seine Beförderung zum Oberstaatsanwalt der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage sei ca. 8 Jahre und 9 Monate später erfolgt. Seine Ernennung zum Leitenden Oberstaatsanwalt (Besoldungsgruppe R 3) sei knapp 6 Jahre später vollzogen worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die Gegenüberstellung der Leistungsentwicklung zeige nicht nur die „insgesamt schnellere statusrechtliche Entwicklung“ des Beigeladenen, sondern mache gerade mit Blick auf die jüngere Vergangenheit seine Überlegenheit gegenüber dem Mitbewerber deutlich. So habe der Beigeladene im Amt der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage lediglich gut 3 Jahre verweilt und damit signifikant kürzer als der Antragsteller (knapp 6 Jahre). Auch wenn nicht verkannt werde, dass gerade in den höheren Besoldungsgruppen Beförderungen immer auch von freiwerdenden Planstellen und dem jeweiligen Bewerberfeld abhingen, sei dies - insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die Karrieren beider Bewerber gleichermaßen im Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft G. abgespielt hätten - nicht geeignet, den zugunsten des Beigeladenen anzunehmenden Vorsprung im Bereich der Leistungsentwicklung zu verringern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Nehme man die dienstliche Erfahrung in Bezug auf die Anforderungen des angestrebten Amtes in den Blick, sei dem Beigeladenen ebenfalls gegenüber dem Antragsteller der Vorzug zu geben. Die Leitung einer Staatsanwaltschaft erfordere neben sehr guten juristischen Kenntnissen insbesondere eine ausgeprägte Leitungskompetenz. Der Beigeladene nehme seit dem ... den - damals neu geschaffenen - Dienstposten eines Hauptabteilungsleiters bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt und seit dem ... 2019 den Dienstposten des ständigen Vertreters der dortigen Behördenleitung wahr. Bis März 2019 habe er somit als Leiter der größten Hauptabteilung der Staatsanwaltschaft B-Stadt weit über 50 Dezernenten geführt. Diese Aufgabe habe er nicht nur von Beginn an dienstübergreifend hervorragend gemeistert, sondern habe sich daneben auch ideenreich für weitere Verbesserungen im Dienstbetrieb der gesamten Staatsanwaltschaft eingebracht (z. B. Leitung des Projekts zur Neugestaltung des Eildienstes, Anstoß zur Neuregelung der Entlastung der Gegenzeichner von Assessoren). Seit seinem Wechsel auf den Dienstposten des ständigen Vertreters der Behördenleitung leite der Beigeladene die Hauptabteilung ..., in der die sensiblen und regelmäßig presseträchtigen ... ... ... ... . Daneben seien ihm als ständigem Vertreter der Behördenleitung der mit Abstand größten Staatsanwaltschaft Niedersachsens zahlreiche Aufgabenbereiche übertragen, die in anderen Staatsanwaltschaften ausschließlich von der jeweiligen Behördenleitung wahrgenommen würden; hierzu gehörten u. a. die vollständige Verantwortung für die Amtsanwaltschaft, die Personalangelegenheiten der Laufbahngruppe 2, 1. Einstiegsamt sowie der Laufbahngruppe 1, 1. und 2. Einstiegsamt, das Beurteilungswesen bezüglich aller bei der Staatsanwaltschaft tätigen Proberichter (pro Jahr über 40 Beurteilungen) sowie bestimmte Verwaltungsbereiche aus den Generalienvorgängen wie z. B. Rechtshilfe, Staatsschutz, Eildienst sowie die Geschäftsverteilung. Hierbei habe der Beigeladene von Anfang an Spitzenleistungen erbracht. Dass diesem originär verantwortlichen Bereich ein erhebliches Gewicht zukomme, spiegele sich in der - niedersachsenweit bei der Staatsanwaltschaft B-Stadt einzigartigen - statusrechtlichen Wertigkeit der stellvertretenden Behördenleitung (Besoldungsgruppe R 3) wieder.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Demgegenüber seien dem Antragsteller als dem Leiter der bei der Generalstaatsanwaltschaft G. angesiedelten Zentralstelle J. vier Dezernenten zugeordnet; außerdem sei er stellvertretender Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft G.. Führungsaufgaben, die mit der Leitung einer Staatsanwaltschaft verbunden seien, nehme er nur in Teilbereichen und auch in deutlich geringerem Umfang wahr. Zu seinen Gunsten sei zwar zu berücksichtigen, dass er sechs Jahre lang den mit der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage bewerteten Dienstposten des Behördenleiters der Staatsanwaltschaft I. bekleidet habe und für dieses Amt mit „vorzüglich geeignet“ beurteilt worden sei. Dabei dürfe jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei der Staatsanwaltschaft I. um die im landesweiten Vergleich kleinste Staatsanwaltschaft handle, was sich in der Bewertung des Dienstpostens der Behördenleitung mit Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage zeige. Im Vergleich hierzu seien die aktuell und in der jüngeren Vergangenheit wahrgenommenen Führungsaufgaben bei der größten Staatsanwaltschaft Niedersachsens durch den Beigeladenen als höherwertig anzusehen. Hinzu komme, dass er Mitte des Jahres 2020 während einer mehrmonatigen Vakanz der Behördenleitung der Staatsanwaltschaft B-Stadt (Besoldungsgruppe R 5) die Behörde trotz der zusätzlichen pandemiebedingten Herausforderungen und bei gleichzeitigem krankheitsbedingten Ausfall der Leitung der größten Hauptabteilung beeindruckend souverän geführt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>In der Gesamtschau überträfen daher die Erfahrungen des Beigeladenen in einer für das angestrebte Amt aussagekräftigen Führungsposition in Bedeutung und Umfang die Erfahrungen des Antragstellers. Diese Wertung berücksichtige zum einen den Umstand, dass es sich bei der Staatsanwaltschaft F. um eine im Vergleich zu der Staatsanwaltschaft I. deutlich größere, im Vergleich zu der Staatsanwaltschaft B-Stadt dagegen um eine deutlich kleinere Organisationseinheit handle. Zum anderen werde auch in den Blick genommen, dass der Beigeladene die für das angestrebte Amt erforderlichen Leitungskompetenzen in seinem derzeitigen Amt täglich herausragend demonstriere. Dies beinhalte nicht zuletzt auch den souveränen Umgang mit den Herausforderungen, die die zunehmende Digitalisierung heute in einem erheblich größeren Maße als noch vor 5 Jahren an die Behördenleitung stelle. Gerade im Hinblick auf die anstehenden Veränderungen durch die Einführung „der elektronischen Akte bei den Staatsanwaltschaften“ seien vertiefte EDV-Kenntnisse erforderlich, über die der Beigeladene in besonderem Maße verfüge.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Nach Gremienbeteiligung (vgl. Bl. 68/Beiakte 001) und Zustimmung der Landesregierung am 11. Januar 2022 (vgl. Bl. 92/Beiakte 001) teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit Schreiben vom 17. Januar 2022 (Bl. 110 bis 115/Beiakte 001) unter Wiedergabe der ihn und den Beigeladenen betreffenden Ausführungen des Auswahlvermerks mit, dass beabsichtigt sei, die ausgeschriebene Stelle mit dem Beigeladenen zu besetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Gegen diese Entscheidung hat der Antragsteller am 2. Februar 2022 bei dem Verwaltungsgericht Hannover um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht und zur Begründung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Soweit das Verwaltungsgericht einen vermeintlichen Leistungsvorsprung an eine „bessere Leistungsentwicklung“ des Beigeladenen knüpfe, überzeuge dies nicht. Bei dem Gesichtspunkt der „kurzen Verweilzeit“ (bzw. Standzeit) eines Bewerbers in den zurückgelegten Ämtern handle es sich nicht um eine Tatsache, die einen leistungsbezogenen Vergleich im Rahmen der Bestenauslese zulasse. Ein vergleichsfähiges Leistungskriterium liege schon deshalb nicht vor, weil der individuelle Beförderungsaufstieg von zahlreichen äußeren Umständen - etwa der Verfügbarkeit von Beförderungsstellen und dem jeweils zu berücksichtigenden Bewerberfeld - abhänge, die der Bewerber letztlich nicht beeinflussen könne. Hinzu träten weitere Rahmenumstände, die für den individuellen Aufstieg bestimmend sein könnten, aber ebenfalls keine belastbaren Rückschlüsse auf das Leistungsvermögen zuließen, etwa die persönliche Entscheidung des Bewerbers, ob er sich auf verfügbare Stellenausschreibungen bewerbe; diese individuelle Entscheidung werde z. B. auch durch die privaten, insbesondere familiären, Lebensumstände des Bewerbers geprägt. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Urteil vom 19.3.2015 - BVerwG 2 C 12.14 -, juris) sei es zulässig, in einem gewissen Rahmen eine bestimmte (Mindest-)Verweildauer in einem Amt vorauszusetzen, um die grundlegende Eignung für eine Beförderung festzustellen; mit einer längeren Verweildauer werde also typischerweise ein Zuwachs an Erfahrung und damit an Eignung und Befähigung verknüpft. Vor diesem Hintergrund spreche ein zu kurz bemessener Zeitraum also gegen und nicht für die vorrangige Eignung eines Bewerbers. ... ... ... ... . Die Betrachtung der Dienstzeiten, die ein Bewerber in früheren Ämtern verbracht habe, wiesen somit keinen eindeutig verwertbaren Leistungsbezug auf. Im Übrigen würden in der Rechtsprechung, soweit der Gesichtspunkt der Leistungsentwicklung der Bewerber in den Blick genommen werde, allein die früheren dienstlichen Beurteilungen betrachtet. Vergleiche man indes seine älteren Beurteilungen und die des Beigeladenen, sei eine „bessere“ Leistungsentwicklung des Beigeladenen nicht ersichtlich. Ungeachtet dessen ergebe sich bei genauer Betrachtung eine signifikante Differenz beim Vergleich der „Verweilzeiten“ lediglich in den Ämtern der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage (3 Jahre und 4 Monate für den Beigeladenen und 6 Jahre für ihn). Insoweit sei schon die Feststellung eines hinreichend zu differenzierenden Sachverhalts zweifelhaft.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Auch das Kriterium der dienstlichen Erfahrung sei durch den Antragsgegner zu Unrecht zugunsten des Beigeladenen ausgewertet worden. Ausweislich des Auswahlvermerks werde dem Beigeladenen jene „ausgeprägte Leistungskompetenz“ attestiert, die für das angestrebte Amt vorauszusetzen sei. Da insoweit ein einheitlicher Maßstab anhand des Statusamtes der Bewerber anzulegen sei, könne letztlich kein Vorsprung des Beigeladenen festgestellt werden, denn auch er - der Antragsteller - habe im Hinblick auf seine Führungsqualitäten die höchstmöglichen Leistungsanforderungen erfüllt. Beide Bewerber hätten nach Maßgabe des einheitlichen Bewertungsmaßstabes für die Leistungen in einem Amt der Besoldungsgruppe R 3 bei dem Leistungsmerkmal der Führungskompetenz das bestmögliche Ergebnis erzielt. Der Antragsgegner versuche, die aktuell durch ihn - den Antragsteller - wahrzunehmende Führungsverantwortung abzuwerten, indem er darauf verweise, er habe auf seinem aktuellen Dienstposten einen „überschaubaren“ Personalbestand zu führen. Abgesehen davon, dass auch seine aktuelle Funktion erhebliche Anforderungen an die einzubringende Führungskompetenz stelle, sei zu berücksichtigen, dass er über einen Zeitraum von rund 6 Jahren sämtliche Aufgaben eines Behördenleiters wahrgenommen habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antragsgegner in seiner Antragserwiderung darauf abgestellt haben sollte, dass es sich bei den seiner Entscheidung zugrunde gelegten Kriterien der Leistungsentwicklung und der dienstlichen Erfahrung um selbständig tragende handle, sei dies dem Auswahlvorgang nicht zu entnehmen und stellte daher eine unzulässige Ergänzung der Auswahlerwägungen im gerichtlichen Verfahren dar. Sämtliche Formulierungen in den einschlägigen Vermerken deuteten stattdessen darauf hin, dass der Antragsgegner den vermeintlichen Leistungsvorsprung des Beigeladenen nach einer kumulativen Betrachtung der bezeichneten Kriterien festgestellt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag mit Beschluss vom 6. Mai 2022 mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller habe zwar einen Anordnungsgrund, nicht aber auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner sei zutreffend von im Wesentlichen gleichen aktuellen Beurteilungen der Bewerber ausgegangen. Von einer Berücksichtigung der Vorbeurteilungen als weitere leistungsunmittelbare Erkenntnisquelle habe er in rechtlich nicht zu beanstandender Weise abgesehen, weil auch diese von im Wesentlichen gleichen Leistungen zeugten. Sodann habe er sich entschieden, die Leistungsentwicklung - beurteilt anhand der Schnelligkeit des Aufstiegs bzw. der Verweildauer im jeweiligen Beförderungsamt - und die für das angestrebte Statusamt relevante Berufserfahrung als weiteres leistungsnahes Kriterium heranzuziehen, und zwar - wie eine Auslegung des Auswahlvermerks ergebe - als zwei selbständig tragende Kriterien. Die Heranziehung dieser Kriterien und die hieraus gezogene Schlussfolgerung begegneten keinen rechtlichen Bedenken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, welcher der Antragsgegner entgegentritt. Der Beigeladene hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - beschränkt ist, rechtfertigen die vom Antragsteller begehrte Änderung der vorinstanzlichen Entscheidung im tenorierten Sinne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>1. Das Verwaltungsgericht hat zunächst zutreffend darauf abgehoben (Beschlussabdruck - BA -, S. 8), dass Auswahlentscheidungen als Akt wertender Erkenntnis lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien (Verwaltungsvorschriften) verstoßen hat (BVerwG, Urteil vom 30.1.2003 - BVerwG 2 A 1.02 -, juris Rn. 11; Nds. OVG, Beschluss vom 15.11.2010 - 5 ME 244/10 -, juris Rn. 20; Beschluss vom 6.10.2011 - 5 ME 296/11 -, juris Rn. 3). Erweist sich die Auswahlentscheidung anhand dieses Maßstabs als fehlerhaft und lässt sich nicht ausschließen, dass der jeweilige Antragsteller bei einer erneuten Auswahlentscheidung zum Zuge kommt, erscheint eine Auswahl des jeweiligen Antragstellers also jedenfalls möglich (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.9.2002 - 2 BvR 857/02 -, juris Rn. 11 ff.; BVerwG, Urteil vom 4.11.2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 32; Nds. OVG, Beschluss vom 8.9.2011 - 5 ME 234/11 -, juris Rn. 27), hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg. Dabei darf das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Prüfungsmaßstab, -umfang und -tiefe nicht hinter einem Hauptsacheverfahren zurückbleiben (BVerwG, Urteil vom 4.11.2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 32). Das bedeutet, dass sich die Verwaltungsgerichte nicht auf eine wie auch immer geartete summarische Prüfung beschränken dürfen, sondern eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Bewerberauswahl vornehmen müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Der im Streitfall zu beachtende rechtliche Rahmen ergibt sich aus Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG), wonach öffentliche Ämter im statusrechtlichen Sinne nur nach Kriterien vergeben werden dürfen, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung betreffen. Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die darüber Aufschluss geben, in welchem Maße der Beamte den Anforderungen des Amtes genügen wird. Der Dienstherr darf das Amt nur demjenigen Bewerber verleihen, den er aufgrund eines den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG entsprechenden Leistungsvergleichs als den am besten geeigneten ausgewählt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.6.2013 - BVerwG 2 VR 1.13 -, juris Rn. 19). Dementsprechend darf die Bewerbung des Konkurrenten nur aus Gründen zurückgewiesen werden, die durch den Leistungsgrundsatz gedeckt sind (BVerwG, Urteil vom 4.11.2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 21; Urteil vom 29.11.2012 - BVerwG 2 C 6.11 -, juris Rn. 10; Nds. OVG, Beschluss vom 10.8.2020 - 5 ME 99/20 -, juris Rn. 17; Beschluss vom 23.6.2022 - 5 ME 43/22 -, juris Rn. 29).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Dem Grundsatz der Bestenauslese entspricht es, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerber in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Dies sind regelmäßig die aktuellen dienstlichen Beurteilungen (BVerwG, Urteil vom 27.2.2003 - BVerwG 2 C 16.02 -, juris Rn. 12; Beschluss vom 20.6.2013 - BVerwG 2 VR 1.13 -, juris Rn. 21; Urteil vom 17.9.2020 - BVerwG 2 C 2.20 -, juris Rn. 15; Nds. OVG, Beschluss vom 10.10.2012 - 5 ME 235/12 -, juris Rn. 18; Beschluss vom 14.11.2013 - 5 ME 228/13 -, juris Rn. 12; Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 13; Beschluss vom 11.5.2022 - 5 ME 161/21 -, juris Rn. 18), weil für die zu treffende Entscheidung hinsichtlich Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung auf den aktuellen Stand abzustellen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Maßgebend für den Leistungsvergleich ist in erster Linie das abschließende Gesamturteil, das durch eine Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte zu bilden ist (BVerwG, Beschluss vom 20.6.2013 - BVerwG 2 VR 1.13 -, juris Rn. 21). Ist aufgrund dieser aktuellen Beurteilungen von einer im Wesentlichen gleichen Beurteilung auszugehen, ist für die Auswahlentscheidung (zunächst) auf weitere unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.8.2003 - BVerwG 2 C 14.02 -, juris Rn. 22 f.; Nds. OVG, Beschluss vom 27.5.2005 - 5 ME 57/05 -, juris Rn. 20), ehe die Heranziehung nicht leistungsbezogener Hilfskriterien in Betracht kommt. Sofern Bewerber mit dem gleichen Gesamturteil bewertet worden sind, hat der Dienstherr (als weiteres unmittelbar leistungsbezogenes Kriterium) zunächst die Beurteilungen umfassend inhaltlich auszuwerten und Differenzierungen in der Bewertung einzelner Leistungskriterien oder in der verbalen Gesamtwürdigung zur Kenntnis zu nehmen (BVerwG, Beschluss vom 19.12.2014 - BVerwG 2 VR 1.14 -, juris Rn. 35; Nds. OVG, Beschluss vom 21.12.2016 - 5 ME 151/16 -, juris Rn. 19; Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 13). Sind die Bewerber auch nach der umfassenden inhaltlichen Auswertung der aktuellen dienstlichen Beurteilungen („ausschärfende Betrachtung“) als im Wesentlichen gleich geeignet einzustufen, kann die zuständige Behörde auf andere leistungsbezogene Gesichtspunkte abstellen (BVerwG, Beschluss vom 22.11.2012 - BVerwG 2 VR 5.12 -, juris Rn. 25). So kann sie z. B. der dienstlichen Erfahrung, der Verwendungsbreite oder der Leistungsentwicklung, wie sie sich aus dem Vergleich der aktuellen mit früheren dienstlichen Beurteilungen ergibt, Vorrang beimessen (BVerwG, Urteil vom 4.11.2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 46; Beschluss vom 22.11.2012 - BVerwG 2 VR 5.12 -, juris Rn. 25, 37; Nds. OVG, Beschluss vom 28.1.2020 - 5 ME 166/19 -, juris Rn. 12). Es ist aber auch nicht zu beanstanden, auf das leistungsbezogene Erkenntnismittel eines so genannten strukturierten Auswahlgesprächs zurückzugreifen (BVerwG, Beschluss vom 27.4.2010 - BVerwG 1 WB 39.09 -, juris Rn 39; Nds. OVG, Beschluss vom 16.12.2014 - 5 ME 177/14 -, juris Rn 29; Beschluss vom 21.12.2016 - 5 ME 151/16 -, juris Rn 23). Anderen - nicht leistungsbezogenen - Gesichtspunkten wie etwa dem Dienst- oder Lebensalter darf nur Bedeutung beigemessen werden, wenn sich aus dem Vergleich von unmittelbar leistungsbezogenen Gesichtspunkten kein Vorsprung von Bewerbern ergibt, diese also als im Wesentlichen gleich beurteilt anzusehen sind (BVerwG, Urteil vom 25.8.1988 - BVerwG 2 C 51.86 -, juris Rn. 26; Urteil vom 28.10.2004 - BVerwG 2 C 23.03 -, juris Rn. 13, 15; Beschluss vom 19.7.2010 - BVerwG 2 B 114.09 -, juris Rn. 10).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Mit Blick auf diese Grundsätze hält die Feststellung des Verwaltungsgerichts, die von dem Antragsgegner zugunsten des Beigeladenen getroffene Auswahlentscheidung sei rechtmäßig, der beschwerdegerichtlichen Überprüfung nicht stand.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>a) Der Antragsteller rügt zu Recht (so BB, S. 2 bis 4 [Bl. 106 bis 108/GA]), dass der Antragsgegner mit dem Kriterium der „Schnelligkeit des Aufstiegs“ bzw. der „kürzeren Verweildauer im vorausgegangenen Statusamt“ ein Auswahlkriterium herangezogen hat, dass sich nicht zur Feststellung einer bestimmten Leistungsentwicklung eignet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Das Bundesverwaltungsgericht geht - wie ausgeführt - bei wesentlicher Gleichheit der einer Auswahlentscheidung zugrunde liegenden aktuellen dienstlichen Beurteilungen von Bewerbern im Hinblick auf das Gesamturteil sowie eine „ausschärfende Betrachtung“ davon aus, dass die zuständige Behörde auf andere leistungsbezogene Gesichtspunkte abstellen kann. So könne sie, so heißt es wörtlich (so etwa BVerwG, Urteil vom 4.11.2010 - BVerwG 2 C 16.09 -, juris Rn. 46; Urteil vom 30.6.2011 - BVerwG 2 C 19.10 -, juris Rn. 16; Beschluss vom 22.11.2012 - BVerwG 2 VR 5.12 -, juris Rn. 25; Hervorhebungen durch den beschließenden Senat):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„der dienstlichen Erfahrung, der Verwendungsbreite oder </em><em><span style="text-decoration:underline">der Leistungsentwicklung, wie sie sich aus dem Vergleich der aktuellen mit früheren Beurteilungen ergibt</span></em><em>“</em>,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>besondere Bedeutung beimessen bzw. den Vorrang einräumen (in diesem Sinne auch BVerwG, Urteil vom 19.12.2002 - BVerwG 2 C 31.01 -, juris Rn. 15; Urteil vom 27.2.2003 - BVerwG 2 C 16.02 -, juris Rn. 15). Aus dieser Passage wird deutlich, dass das Bundesverwaltungsgericht den Gesichtspunkt der Leistungsentwicklung an den Ergebnissen der Vorbeurteilungen festmacht. Dementsprechend ist in der Entscheidung des seinerzeit für den Bereich des öffentlichen Dienstrechts ebenfalls zuständigen 2. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. September 2003 von den</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„die Leistungsentwicklung der Bewerber abbildenden älteren Beurteilungen“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>die Rede (Nds. OVG, Beschluss 15.9.2003 - 2 ME 312/03 -, juris Rn. 10), und auch der beschließende Senat ist stets davon ausgegangen, dass mit dem Gesichtspunkt der Lei-stungsentwicklung die Ergebnisse der Vorbeurteilungen angesprochen sind. Dies ergibt sich etwa aus seiner folgenden Darstellung der weiteren Prüfungsreihenfolge für den Fall, dass die Auswertung der aktuellen dienstlichen Beurteilungen der Bewerber eine wesentliche Gleichheit ergibt (Nds. OVG, Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 13):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Sind die Bewerber auch nach der umfassenden inhaltlichen Auswertung der aktuellen dienstlichen Beurteilungen ('ausschärfende Betrachtung') als im Wesentlichen gleich geeignet einzustufen, kann die zuständige Behörde auf andere leistungsbezogene Gesichtspunkte - wie etwa die Vorbeurteilung - abstellen“.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Bei dem Gesichtspunkt der „Schnelligkeit des Aufstiegs“ bzw. der „kürzeren Verweildauer im vorausgegangenen Statusamt“ handelt es sich indes nicht um einen „anderen leistungsbezogenen Gesichtspunkt“ im Sinne derjenigen Prüfungskriterien, die im Falle der Feststellung der wesentlichen Gleichheit der Bewerber aufgrund der Auswertung ihrer aktuellen dienstlichen Beurteilungen zum Tragen kommt, sondern um einen nicht-leistungsbezogenen Gesichtspunkt. Der Antragsteller hat zutreffend darauf hingewiesen (so BB vom 8.6.2022, S. 3 [Bl. 107/GA]), dass die Vergleichbarkeit des schnelleren Beförderungsaufstiegs keine objektivierbare Größe darstellt, weil die Umstände der jeweiligen Beförderung von zahlreichen, nicht von dem einzelnen Bewerber zu beeinflussenden Umständen abhängen (z. B. Anzahl und Verfügbarkeit entsprechender Planstellen, Anzahl und Leistungsniveau der Mitbewerber, vorübergehende Beförderungsverbote nach § 20 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NBG bzw. Zulassung einer diesbezüglichen Ausnahme nach § 20 Abs. 4 NBG Zeitpunkt des Eintritts in die Laufbahn). Soweit der Antragsgegner den Gesichtspunkt der „Schnelligkeit des Aufstiegs“ bzw. der „kürzeren Verweildauer im vorausgegangenen Statusamt“ also als unmittelbar leistungsbezogenes Kriterium - nämlich als Bestandteil der Leistungsentwicklung - angesehen und seine Auswahlentscheidung hierauf gestützt hat, ist diese fehlerhaft. Es handelt sich bei diesem Kriterium letztlich um die „Umkehr“ des nicht-leistungsbezogenen Kriteriums der „Stehzeit im Amt“, welches den Ausschlag geben kann, wenn eine Auswertung aller leistungsbezogenen Kriterium keinen Leistungsvorsprung eines der Bewerber ergibt; typischerweise wird in einem solchen Fall aus der längeren - nicht der kürzeren - „Stehzeit im Amt“ der Vorrang eines Bewerbers abgeleitet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>b) Was den vom Antragsgegner herangezogenen Gesichtspunkt der dienstlichen Erfahrung betrifft, so handelt es sich bei diesem zwar um ein unmittelbar leistungsbezogenes Kriterium, das nach der dargestellten Rechtsprechung grundsätzlich geeignet ist, bei wesentlicher Gleichheit der aktuellen dienstlichen Beurteilungen der Bewerber einen Leistungsvorsprung zu begründen. Soweit der Antragsgegner einen Leistungsvorsprung des Beigeladenen im Bereich der dienstlichen Erfahrung allerdings auch („nicht zuletzt“; vgl. S. 6 des Auswahlvermerks [Bl. 59/Beiakte 001]) mit vertieften EDV-Kenntnissen des Beigeladenen im Verhältnis zum Antragsteller begründet hat, hat der Antragsteller auch diese Auswahlerwägung, welche die Vorinstanz nicht beanstandet hat (BA, S. 13 f.), mit seinem Beschwerdevorbringen durchgreifend in Frage gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Dass die zunehmende Digitalisierung der Arbeit alle im Bereich der Niedersächsischen Justiz einschließlich der Niedersächsischen Staatsanwaltschaften Tätigen - und damit auch die entsprechenden Behördenleitungen - vor Herausforderungen stellt, ist allgemein bekannt. Somit ist auch gegen den Ansatz des Antragsgegners, die Behördenleitung einer Staatsanwaltschaft beinhalte den souveränen Umgang mit den Herausforderungen, welche die zunehmende Digitalisierung heute in einem erheblich größeren Maße als noch vor 5 Jahren an die Behördenleitung stelle (so Auswahlvermerk, S. 6 [Bl. 59/Beiakte 001]), rechtlich nichts zu erinnern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Zutreffend ist auch, dass dem Beigeladenen in seiner aktuellen dienstlichen Beurteilung (S. 7; hierauf hinweisend Beschwerdeerwiderung - BE - vom 17.6.2022, S. 3 [Bl. 116/GA]) bescheinigt wird, er bringe</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„[i]m Hinblick auf seine erheblichen EDV-Kenntnisse und seinen professionellen Umgang mit den in der Staatsanwaltschaft genutzten digitalen Programmen [...] auch wichtige Voraussetzungen mit, die für die Einführung der elektronischen Akte notwendig sein werden“.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat jedoch in seiner Beschwerdebegründung unter Beifügung einer entsprechenden Bestätigung der Verwaltungsabteilung der Generalstaatsanwaltschaft G. vom 24. Juni 2022 (Bl. 121/GA) und einer Passage der „Ergänzenden Dienstvereinbarung über die Einführung einer elektronischen Verwaltungsakte mit dem Produkt VIS in der Niedersächsischen Justiz“ (Bl. 122 f./GA) schlüssig dargelegt, dass er selbst seit über einem Jahr - nämlich seit Mai des Jahres 2021 - bei der Erfüllung seiner dienstlichen Aufgaben bereits die rein elektronisch geführte Generalakte VIS verwende, die bislang bei der Staatsanwaltschaft, in der der Beigeladene tätig ist, noch nicht eingeführt worden sei; vielmehr sei die entsprechende Einführung erst ab dem 3. Quartal 2022 geplant. Dementsprechend arbeitete der Antragsteller zum Zeitpunkt der Erstellung des Auswahlvermerks (19.8.2021/ 10.12.2021) bereits mehrere Monate in Verwaltungsangelegenheiten ausschließlich elektronisch über die VIS Suite, während dies für den Beigeladenen erst noch bevorsteht. Vor diesem Hintergrund hält die im Auswahlvermerk des Antragsgegners zum Ausdruck gebrachte Einschätzung, der Beigeladene werde den Herausforderungen im Hinblick auf die Einführung der elektronischen Akte bei den Staatsanwaltschaften besser gerecht werden als der Antragsteller, mangels hinreichender Tatsachengrundlage - nämlich der fehlenden Ermittlung und Auswertung der EDV-Kenntnisse und -Erfahrungen des Antragstellers - der beschwerdegerichtlichen Überprüfung nicht stand.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>c) Schon aus den dargestellten Fehlern ergibt sich, dass im Rahmen einer erneuten Auswahlentscheidung eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers möglich ist, was für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ausreicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>aa) Dieses Ergebnis folgt allerdings nicht bereits daraus, dass - wie der Antragsteller meint (so BB vom 8.6.2022, S. 2 [Bl. 106/GA]) - ein Vergleich der Vorbeurteilungen der Bewerber im Rahmen des Vergleichs ihrer Leistungsentwicklung zu seinen Gunsten ausfiele.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Zutreffend ist zwar, dass sich die Vorbeurteilung des Antragstellers vom 6. März 2020 (Beurteilungszeitraum: 1. August 2019 bis 6. März 2020), welche auf die Vor-Vorbeurteilung vom 31. Juli 2019 (Beurteilungszeitraum: 1. August 2017 bis 31. Juli 2019) verweist, bereits auf das Statusamt R 3 bezieht. Demgegenüber stand der Beigeladene während des Beurteilungszeitraums seiner Vorbeurteilung vom 16. Juni 2018 (Beurteilungszeitraum: 28. März 2017 bis 16. Juni 2018), die auf die Vor-Vorbeurteilung vom 27. März 2017 (Beurteilungszeitraum: 16. Oktober 2015 bis 27. März 2017) verweist, noch im Statusamt R 2 + Amtszulage, denn er war erst mit Wirkung vom ... 2016 in das Statusamt R 2 + Amtszulage befördert worden; seine Beförderung in ein Statusamt der Besoldungsgruppe R 3 war erst mit Wirkung vom ... 2019 - und damit erst während des Zeitraums seiner aktuellen dienstlichen Beurteilung - erfolgt. Richtig ist auch, dass - sofern sich Beurteilungen miteinander konkurrierender Bewerber auf unterschiedliche Statusämter beziehen - die Beurteilung des Bewerbers im höheren Statusamt bei gleichem Gesamturteil grundsätzlich besser ist als diejenige des in einem niedrigeren Statusamt stehenden Konkurrenten (Nds. OVG, Beschluss vom 28.1.2020 - 5 ME 166/19 -, juris Rn. 33), und dass das Amt der Besoldungsgruppe R 3 gegenüber dem Amt der Besoldungsgruppe R 2 + Amtszulage ein um eine Stufe höheres Amt darstellt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1.12.2017 - 5 ME 204/17 -, juris Rn. 24).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>Die Vorbeurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen sind jedoch aufgrund der unterschiedlichen Länge der ihnen zugrunde liegenden Beurteilungszeiträume letztlich nicht miteinander vergleichbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Die höchstmögliche Vergleichbarkeit von Regelbeurteilungen wird grundsätzlich durch den gemeinsamen Stichtag und den gleichen Beurteilungszeitraum erreicht (BVerwG, Urteil vom 18.7.2001 - BVerwG 2 C 41.00 -, juris Rn. 16; Urteil vom 26.9.2012 - BVerwG 2 A 2.10 -, juris Rn. 10; Urteil vom 9.5.2019 - BVerwG 2 C 1.18 -, juris Rn. 58). Bei Anlassbeurteilungen stellt sich die Frage, ob sich die Beurteilungszeiträume decken oder in erheblicher Weise divergieren, indes in anderer Weise als bei Regelbeurteilungen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1.2.2018 - 5 ME 231/17 -; Beschluss vom 11.4.2018 - 5 ME 21/18 -, juris Rn. 10; Beschluss vom 1.6.2018 - 5 ME 47/18 -; Beschluss vom 19.6.2019 - 5 ME 87/19 -). Regelbeurteilungen sollen Aussagen über die Leistung der Beurteilten nicht nur punktuell, sondern in ihrer gesamten zeitlichen Entwicklung und unabhängig von einer konkreten Personalentscheidung erfassen (BVerwG, Urteil vom 18.7.2001 - BVerwG 2 C 41.00 -, juris Rn. 15 f.). Eine Regelbeurteilung hat sich grundsätzlich zu Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung des Beurteilten während des gesamten Beurteilungszeitraums umfassend zu äußern und mit einem Gesamturteil abzuschließen. Um das in der Regelbeurteilung zu zeichnende Bild hinsichtlich der Vergleichbarkeit der zum gleichen Zeitpunkt beurteilten Beamten zu gewährleisten, muss soweit wie möglich gleichmäßig verfahren werden. Anlassbeurteilungen kommt hingegen die Aufgabe zu, bei einem Fehlen vergleichbarer periodischer (Regel-)Beurteilungen eine am Leistungsgrundsatz orientierte Auswahlentscheidung zu ermöglichen, indem sie einen aktuellen Leistungsvergleich herstellen und Aussagen zur Eignung der einzelnen Bewerber bezogen auf das angestrebte Amt treffen (Nds. OVG, Beschluss vom 11.4.2018 - 5 ME 21/18 -, juris Rn. 10). Anlassbeurteilungen liegen im Unterschied zu Regelbeurteilungen regelmäßig keine einheitlichen Beurteilungszeiträume zugrunde. Dies begründet für sich genommen noch keine Fehlerhaftigkeit der Anlassbeurteilungen, solange auf der Grundlage der Anlassbeurteilungen ein Qualifikationsvergleich nach den Grundsätzen des Art. 33 Abs. 2 GG ohne eine ins Gewicht fallende Benachteiligung eines Bewerbers möglich ist (Nds. OVG, Beschluss vom 11.4.2018 - 5 ME 21/18 -, juris Rn. 10; Beschluss vom 19.6.2019 - 5 ME 87/19 -; Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 20). Die auf der Grundlage dienstlicher Anlassbeurteilungen durchzuführende „Klärung einer Wettbewerbssituation“ setzt deshalb voraus, dass sich - erstens - der jeweils maßgebliche Beurteilungszeitraum der Beurteilung selbst eindeutig entnehmen lässt, dieser Beurteilungszeitraum - zweitens - aufgrund nachvollziehbarer Kriterien willkürfrei festgelegt worden ist und der Beurteilungszeitraum - drittens - so lang bemessen sein muss, dass über den einzelnen Bewerber verlässliche, auch langfristige Aussagen getroffen werden können (Nds. OVG, Beschluss vom 11.4.2018 - 5 ME 21/18 -, juris Rn. 10). Wann die einem Leistungsvergleich zugrunde liegenden Beurteilungen nicht mehr hinreichend miteinander vergleichbar sind, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.8.2016 - 2 BvR 1287/16 -, juris Rn. 61; Nds. OVG, Beschluss vom 8.10.2019 - 5 ME 113/19 -; Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 20).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Da für die Bewerberauswahl der aktuelle Leistungsstand ausschlaggebend ist, während Erkenntnisse, die einen länger zurückliegenden Zeitraum betreffen, in der Regel von geringerem Gewicht sind, ist es für die Vergleichbarkeit dienstlicher Beurteilungen von größerer Bedeutung, dass der von ihnen abgedeckte Zeitraum zu nicht erheblich auseinanderfallenden Stichtagen endet, als dass der insgesamt erfasste Zeitraum zum gleichen Stichtag beginnt (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 30.4.2012 - 1 B 679/12 -, juris Rn. 3; OVG NRW, Beschluss vom 27.2.2012 - 6 B 181/12 -, juris Rn. 8; Nds. OVG, Beschluss vom 8.10.2019 - 5 ME 113/19 -, m. w. Nw.; Beschluss vom 29.5.2020 - 5 ME 187/19 -, juris Rn. 32). Im Streitfall liegt indes zwischen dem Ende des Vor-Beurteilungszeitraums des Antragsstellers - 6. März 2020 - und dem Ende des Vor-Beurteilungszeitraums des Beigeladenen - 16. Juli 2018 - ein Zeitraum von rund 20 Monaten, so dass diese Vorbeurteilungen nicht mehr hinreichend miteinander vergleichbar sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.4.2013 - 1 WDS-VR 1.13 -, juris Rn. 37 ff. [keine Vergleichbarkeit von Regel- und Anlassbeurteilung bei einer Abweichung von 8 Monaten zwischen dem Ende der Beurteilungszeiträume bei einem Regel-Beurteilungszeitraum von 24 Monaten, also einer Abweichung von etwa 1/3 des Regel-Beurteilungszeitraums]; Nds. OVG, Beschluss vom 18.2.2016 - 5 ME 2/16 -, juris Rn. 22f. [keine Vergleichbarkeit frühestens bei einer Abweichung von mehr als einem Jahr bei dreijährigem Regelbeurteilungszeitraum, daher Vergleichbarkeit bei einer Abweichung von nur 8,5 Monaten]; Beschluss vom 19.6.2019 - 5 ME 87/19 - BA, S. 11 f. [Vergleichbarkeit bei einer Abweichung der Endzeitpunkte einer Anlass- und einer Regelbeurteilung von 6 ½ Monaten bei einem Regelbeurteilungszeitraum von grundsätzlich drei Jahren]). Dies ergibt sich bereits, wenn man diese Abweichung von etwa 20 Monaten ins Verhältnis zum Regelbeurteilungszeitraum für Richter und Staatsanwälte auf Lebenszeit - grundsätzlich alle 5 Jahre bis zur Vollendung des 45. Lebensjahres (vgl. Abschnitt 5 Ziffer 1. a) aa) der [mit Ablauf des 31. März 2022 außer Kraft getretenen] AV „Dienstliche Beurteilung der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte“ des Niedersächsischen L. vom 4.2.2015), setzt, denn nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei einer Abweichung von 1/3 des Regelbeurteilungszeitraums keine Vergleichbarkeit der Beurteilungszeiträume mehr gegeben. Jedenfalls aber scheidet eine Vergleichbarkeit im Streitfall auch deshalb aus, weil nach der zitierten Beurteilungsregelung eine Regelbeurteilung von Richtern und Staatsanwälten auf Lebenszeit ab der Vollendung des 45. Lebensjahres nicht mehr stattfindet, und dieser Zeitpunkt bei beiden Bewerbern zeitlich vor Beginn ihres Vorbeurteilungszeitraums erreicht war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>bb) Die Möglichkeit der Auswahl des Antragstellers bei einer erneuten Auswahlentscheidung besteht aber deshalb, weil der Antragsgegner in seinem Auswahlvermerk vom 19. August 2021/ 10. Dezember 2021 nicht hinreichend deutlich gemacht hat, ob der angenommene Vorrang des Beigeladenen auf einer alternativen oder kumulativen Betrachtung der angeführten Gesichtspunkte - „Schnelligkeit des Aufstiegs“ und dienstliche Erfahrung in Form der Leitungs- und EDV-Kompetenz - beruht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Die einleitende Formulierung des Vergleichs zwischen dem Antragsteller und dem Beigeladenen (Bl. 56/Beiakte 001),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Allerdings ergibt sich zugunsten [des Beigeladenen] sowohl hinsichtlich der Leistungsentwicklung als auch der dienstlichen Erfahrung ein geringer, aber entscheidender Leistungsvorsprung“,</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>spricht eher für eine kumulative Betrachtungsweise, hätte es ansonsten doch sprachlich „ein geringer, aber <span style="text-decoration:underline">jeweils</span> entscheidender Leistungsvorsprung“ heißen müssen. Dies hätte zur Folge, dass der Wegfall schon einer der lediglich gemeinsam die Entscheidung tragenden Gründe - also schon die Fehlerhaftigkeit des Kriteriums „Schnelligkeit des Aufstiegs“ - dazu führte, den Ausgang der erneuten Auswahlentscheidung als offen anzusehen, weil dann der ohnehin nur festgestellte „geringe“ Leistungsvorsprung des Beigeladenen nicht mehr gegeben und offen wäre, worauf die Auswahlentscheidung nunmehr gestützt werden würde. Andererseits deuten die weiteren Ausführungen im Auswahlvermerk (S. 57),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„[n]immt man die dienstliche Erfahrung in Bezug auf die Anforderungen des angestrebten Amtes in den Blick[,] ist [der Beigeladene] ebenfalls gegenüber [dem Antragsteller] der Vorzug zu geben“,</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>eher auf eine alternative - also selbständig tragende - Betrachtungsweise der Gesichtspunkte „Leistungsentwicklung“ und „dienstliche Erfahrung“ hin mit der Folge, dass der Antragsgegner auch bei Wegfall des Gesichtspunktes der „Leistungsentwicklung“ gleichwohl noch von einem geringen, die Entscheidung rechtfertigenden Vorsprung des Beigeladenen aufgrund des Gesichtspunktes der „dienstlichen Erfahrung“ ausgegangen wäre. In diesem Fall wäre aber weiter zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner den Vorsprung des Beigeladenen im Bereich der „dienstlichen Erfahrung“ wiederum an zwei Komponenten - nämlich die Leitungskompetenz und die EDV-Kompetenz - geknüpft hat, die er wiederum nicht ausdrücklich als selbständig tragend bzw. kumulativ eingreifend bezeichnet hat. Die Formulierung „nicht zuletzt“ (Bl. 59 2. Abs./Beiakte 001) deutet stark auf eine kumulative Betrachtungsweise hin, was wiederum zur Folge hätte, dass auch ein Eignungsvorsprung des Beigeladenen nicht anzunehmen und der Ausgang der erneuten Auswahlentscheidung offen wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>Diese Unklarheiten gehen letztlich zu Lasten des Antragsgegners. Soweit er in der Antragserwiderung vom 9. März 2022 ausgeführt (S. 3 [Bl. 70/GA]),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„[d]er Vergleich der Leistungsentwicklung sowie der dienstlichen Erfahrung in Bezug auf das angestrebte Amt weist einen entscheidenden Leistungsvorsprung des Beigeladenen [auf]“,</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>und damit argumentiert hat, beide Gesichtspunkte stellten selbständig tragende Auswahlerwägungen dar, handelt es sich hierbei um nachgeschobene - und damit unbeachtliche - Erwägungen. Denn maßgeblich für die verwaltungsgerichtliche Überprüfung einer Auswahlentscheidung sind diejenigen Erwägungen, die bis zum Zeitpunkt der Auswahlentscheidung in den Akten dokumentiert worden sind (Nds. OVG, Beschluss vom 3.12.2018 - 5 ME 141/18 -, juris Rn. 21), und diese sind - wie ausgeführt - im Hinblick auf eine selbständig tragende Argumentation nicht eindeutig. Außerdem lässt die Darstellung des Antragsgegners, sowohl aus dem Bereich der Leistungsentwicklung als auch aus dem Bereich der Erfahrung resultiere selbständig tragend ein Vorsprung des Beigeladenen gegenüber dem Antragsteller, unberücksichtigt, dass der Antragsgegner den Vorsprung des Beigeladenen im Bereich der Erfahrung auf zwei Komponenten gestützt hat, deren eine der rechtlichen Überprüfung nicht standhält, ohne ausdrücklich klarzustellen, einen Erfahrungsvorsprung auch ohne die Komponente EDV-Kompetenz angenommen zu haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p>Nach alledem erscheint derzeit offen, auf welchen Kriterien der Antragsgegner eine neue Auswahlentscheidung zwischen den Bewerbern stützen wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei immer geringer werdenden Unterschieden im Bereich der dienstlichen Erfahrung - wobei sich der Antragsgegner in Bezug auf den Gesichtspunkt der Leitungskompetenz des Antragstellers auch mit dessen aktueller Aufgabenbewältigung bei der Leitung der landesweit zuständigen Zentralstelle J. auseinanderzusetzen hätte (so zu Recht BB vom 8.6.2022, S. 5 [Bl. 109/GA]) - die Durchführung eines strukturierten Auswahlgesprächs in Betracht käme, dessen Ausgang offen ist. Der für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch ist mithin gegeben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>2. Ein Anordnungsgrund liegt ebenfalls vor. Für eine einstweilige Anordnung gegen die Besetzung einer Beförderungsstelle mit einem Konkurrenten besteht regelmäßig ein Anordnungsgrund, weil dessen Ernennung grundsätzlich unumkehrbar wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p>3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen in beiden Verfahren sind nicht nach § 162 Abs. 3 VwGO aus Billigkeitsgründen der Antragsgegnerin aufzuerlegen und für erstattungsfähig zu erklären, weil der Beigeladene keine Anträge gestellt und sich damit keinem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus §§ 40, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 6 Satz 4 in Verbindung mit Satz 1 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG - in der zum Zeitpunkt der Einleitung des zweiten Rechtszuges (18. Mai 2022) geltenden Fassung vom 9. August 2019 (BGBl. I S. 1202), bemisst sich also nach der Hälfte der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltfähiger Zulagen. Auszugehen ist insoweit von den im Zeitpunkt der Einleitung des zweiten Rechtszugs maßgeblichen Bezügen der Besoldungsgruppe R 4 in Höhe von 8.927,75 EUR (§ 2 Abs. 2 Nr. 1, § 7 Abs. 1, Abs. 2 des Niedersächsischen Besoldungsgesetzes - NBesG - in Verbindung mit der zum Zeitpunkt der Einleitung des zweiten Rechtszugs geltenden Anlage 5). Dementsprechend errechnet sich ein Streitwert in Höhe von <span style="text-decoration:underline">53.566,50 EUR</span> (8.927,75 EUR x 6); eine Halbierung für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes findet nicht statt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 16.5.2013 - 5 ME 92/13 -, juris Rn. 28).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006607&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
345,886 | ovgni-2022-07-19-14-pa-24722 | {
"id": 601,
"name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht",
"slug": "ovgni",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": null
} | 14 PA 247/22 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-07-21T10:00:54 | 2022-10-17T17:55:13 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover – Einzelrichter der 3. Kammer - vom 27. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des erstinstanzlichen Klageverfahrens ist nicht begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens ist davon auszugehen, dass das Verwaltungsgericht die beantragte Prozesskostenhilfe jedenfalls mangels hinreichender Erfolgsaussicht i.S.d. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu Recht verneint hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, juris Rn. 26).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Letzteres ist hier der Fall. Die Klage hat keine hinreichende Erfolgschance. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Kläger voraussichtlich keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung für sein zum Wintersemester 2020/2021 an der Beklagten aufgenommenes Bachelorstudium Maschinenbau hat, weil er den mit der Aufnahme dieses Studiums verbundenen Fachrichtungswechsel jedenfalls nicht unverzüglich vorgenommen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG wird nach einem Ausbildungsabbruch oder einem Fachrichtungswechsel Ausbildungsförderung auch für eine andere Ausbildung geleistet, wenn der Abbruch oder Fachrichtungswechsel aus wichtigem (Nr. 1) oder unabweisbaren (Nr. 2) Grund erfolgt. Bei Auszubildenden an Hochschulen gilt dies nur, wenn der Ausbildungsabbruch bzw. Fachrichtungswechsel bis zum vierten Fachsemester erfolgt (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 BAföG). Anschließend ist förderungsrechtlich ein unabweisbarer Grund erforderlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Das Vorliegen eines wichtigen oder unabweisbaren Grundes kann im Übrigen nur dann angenommen werden, wenn der Auszubildende seiner Obliegenheit zur verantwortungsbewussten, vorausschauenden und umsichtigen Planung sowie zur zügigen zielstrebigen Durchführung der Ausbildung nachgekommen ist. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird dem Auszubildenden entsprechend seinem Ausbildungsstand und Erkenntnisvermögen zugemutet, den Gründen, die einer Fortsetzung der bisherigen Ausbildung entgegenstehen, rechtzeitig zu begegnen. Sobald der Auszubildende sich Gewissheit über die Gründe für den Wechsel des Studienfachs verschafft hat, muss er deshalb, damit ein wichtiger bzw. unabweisbarer Grund im Sinne des § 7 Abs. 3 BAföG bejaht werden kann, unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB), die erforderlichen Konsequenzen ziehen und die bisherige Ausbildung aufgeben (BVerwG, Urt. v. 21.6.1990 - 5 C 45.87 -, juris Rn. 13 m.w.N.). Ist dem Auszubildenden der wichtige bzw. unabweisbare Grund klar, ist der Fachrichtungswechsel jedenfalls dann nicht mehr unverzüglich, wenn die bisherige Ausbildung zunächst noch ein oder gar mehrere Semester fortgesetzt wird. Entscheidend ist die rechtzeitige Beendigung der bisherigen Ausbildung. Danach muss nicht zwingend im unmittelbaren zeitlichen Anschluss die andere Ausbildung aufgenommen werden (Buter, in Rothe/Blanke, BAföG, Stand: Juli 2019, § 7 Rn. 48 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat zutreffend dargelegt, dass der Kläger unter Berücksichtigung dieser Umstände sein im Wintersemester 2018/2019 zum 10. September 2018 an der Middle East Technical University in Ankara/Türkei begonnenes Bachelorstudium der Architektur im Hinblick auf den beabsichtigten Fachrichtungswechsel bereits nach dem Verlassen der Türkei und seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Juni 2019 hätte abbrechen müssen, der Abbruch jedoch tatsächlich erst mit seiner Exmatrikulation mit Wirkung zum 18. November 2020 erfolgt sei. Bis zu diesem Zeitpunkt sei kein Abbruch des Erststudiums erfolgt, vielmehr habe sich der Kläger ausweislich seiner eigenen Ausführungen gegenüber der Beklagten im Verwaltungsverfahren eine Wiederaufnahme seines Studiums in der Türkei offen halten wollen, bis er tatsächlich in Deutschland einen Studienplatz erhalten habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Soweit der Kläger geltend macht, zumindest im Zeitpunkt der Entscheidungsreife seines Prozesskostenhilfeantrags am 9. Juli 2021, spätestens aber am 3. August 2021, sei noch offen gewesen, ob sein „Abbruchwille“ bereits zum Zeitpunkt des Umzugs aus der Türkei nach Deutschland bestanden habe, kann er damit nicht durchdringen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Ob ein solcher „Abbruchwille“ vorgelegen hat, ist für die Erfolgsaussichten der Klage unerheblich. Allein der innere Wille, das Erststudium nicht weiter fortsetzen bzw. abbrechen zu wollen, reicht für einen Abbruch des Erststudiums im Sinne von § 7 Abs. 3 BAföG nicht aus. Aus Gründen der Rechtsklarheit ist vielmehr die äußere Kundgabe des Entschlusses des Auszubildenden, die Ausbildung abzubrechen bzw. die Fachrichtung zu wechseln, entscheidend. Um die Annahme auszuschließen, dass er die Ausbildung nur unterbrochen hat, muss der Auszubildende eindeutig zu erkennen geben, dass er die Ausbildung nicht mehr aufnehmen wird. Bei einer Hochschulausbildung ist deshalb grundsätzlich zu verlangen, dass der Auszubildende sich exmatrikuliert (BVerwG, Beschl. v. 4.8.1988 - 5 B 119.87 -, juris Rn. 2; Beschl. v. 13.11.1987 - 5 B 121.86 -, juris Rn. 3; Urt. v. 17.9.1987 - 5 C 75.84 -, juris Rn. 13; vgl. Buter, in Rothe/Blanke, BAföG, Stand: 46. Aktualisierung Juli 2019, § 7 Rn. 48).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Ausgehend von diesen Grundsätzen bestand und besteht vorliegend keine hinreichende Grundlage für die Annahme, der Kläger habe sein Architekturstudium an der Middle East Technical University in Ankara/Türkei bereits mit seinem Umzug nach Deutschland im Juni 2019 abgebrochen. Aus dem Umzug allein ergibt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit der (eventuelle) subjektive Entschluss des Klägers, sein Studium in Ankara abzubrechen. Auch eine anderweitige eindeutige Kundgabe seines Willens, die Ausbildung in der Türkei zu beenden, ist jedenfalls vor Beginn des Wintersemesters 2020/2021 nicht erkennbar geworden. Im Gegenteil sprechen die Ausführungen des Klägers in seiner vom Verwaltungsgericht zitierten E-Mail deutlich dafür, dass er seinen Studienplatz in der Türkei vorsorglich noch nicht aufgeben wollte. Erst mit seiner Exmatrikulation mit Wirkung zum 18. November 2020 hat er daher sein Erststudium abgebrochen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Vorliegend greift zugunsten des Klägers auch nicht die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3 Satz 4 BAföG. Danach wird beim erstmaligen Fachrichtungswechsel oder Abbruch der Ausbildung in der Regel vermutet, dass die Voraussetzungen nach Satz 1 Nr. 1 BAföG erfüllt sind. Die gesetzliche Regelvermutung erstreckt sich auch darauf, dass der Fachrichtungswechsel unverzüglich erfolgt, nachdem der wichtige Grund eingetreten ist (BT-Drs. 15/3655, S. 9; Buter, in Rothe/Blanke, BAföG, Stand: 46. Aktualisierung Juli 2019, § 7 Rn. 48). Die Vermutung greift nach der gesetzlichen Regelung jedoch nur, wenn der Fachrichtungswechsel oder Abbruch der Ausbildung bis zum Beginn des dritten Fachsemesters erfolgt ist. Das ist bei dem Kläger nicht der Fall. Der Kläger hat den Fachrichtungswechsel - wie ausgeführt - erst mit seiner Exmatrikulation mit Wirkung zum 18. November 2020, also während des Wintersemesters 2020/2021 vollzogen. Zu diesem Zeitpunkt dürfte er sich bei seinem im Wintersemester 2018/2019 begonnenen Erststudium aber bereits im fünften Fachsemester befunden haben. In der Türkei beginnt das akademische Jahr in der Regel Mitte September und endet Mitte Juni und ist in zwei Semester gegliedert (https://www.daad.de/de/laenderinformationen/asien/tuerkei/studieren-und-leben-in-der-tuerkei/). Auch wenn nach der Regelung in § 5a Satz 1 BAföG ein Jahr, mithin zwei Fachsemester, unberücksichtigt bleiben (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 11.12.2019 - 4 ME 206/19 -, juris Rn. 6; BVerwG, Urt. v. 18.10.1990 - 5 C 67/86 -, juris Rn. 10), erfolgte der Fachrichtungswechsel somit nicht mehr „bis zum Beginn des dritten Fachsemesters“, sondern während des dritten Fachsemesters.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass der Kläger auch den für seinen Fachrichtungswechsel während des dritten Semesters erforderlichen wichtigen oder unabweisbaren Grund bislang nicht dargelegt hat. Auch insoweit greift die Vermutungsregelung nicht, da er – wie dargelegt – den Fachrichtungswechsel nicht vor Beginn des dritten Fachsemesters, sondern während des dritten Fachsemesters vollzogen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 188 Abs. 2 Halbs. 1 VwGO. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO werden die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006548&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
345,877 | ovgni-2022-07-19-14-me-27722 | {
"id": 601,
"name": "Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht",
"slug": "ovgni",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": null
} | 14 ME 277/22 | 2022-07-19T00:00:00 | 2022-07-20T10:00:34 | 2022-10-17T17:55:13 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 14. Juni 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet hat, der am 15. Januar 2017 geborenen Antragstellerin zum 1. Juli 2022 einen dem individuellen Bedarf entsprechenden integrativen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte zu verschaffen, hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat auch unter Berücksichtigung des für die Prüfung des Senats nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein maßgeblichen Beschwerdevorbringens voraussichtlich zu Recht festgestellt, dass die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das - wie die Antragstellerin - das dritte Lebensjahr vollendet hat, bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Kinder, die - wie die Antragstellerin - nach § 99 SGB IX i. V. m. § 53 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB XII in der am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung leistungsberechtigt sind, haben nach der Sonderregelung in § 20 Abs. 2 des niedersächsischen Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder (NKiTaG) einen Anspruch auf Betreuung in einer Gruppe, in der sich ausschließlich Kinder befinden, die Leistungen nach dem SGB IX erhalten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Dem nach dem Verlust des Integrationsplatzes bei der Kinderbetreuungseinrichtung „D.“ vom Verwaltungsgericht bejahten Anspruch der Antragstellerin auf Förderung in einer integrativen Tageseinrichtung aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (vgl. hierzu NdsOVG, Beschl. v. 15.12.2021 - 10 ME 170/21 -, juris Rn. 6) steht nach vorläufiger Einschätzung des Senats entgegen dem Vorbringen des Antragsgegners kein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Vaters der Antragstellerin entgegen. Ob einem Anspruch der Antragstellerin auf Förderung in einer Tageseinrichtung überhaupt entgegengehalten werden könnte, wenn die Kündigung auf ein rechtsmissbräuchliches - der Antragstellerin zuzurechnendes Verhalten ihres Vaters - zurückzuführen wäre, kann vorliegend - wie auch in der von dem Antragsgegner zitierten Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2021 (10 ME 170/21, juris Rn. 6) - dahingestellt bleiben. Denn der Antragsgegner legt entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO bereits nicht dar, dass ein solches rechtsmissbräuchliches Verhalten tatsächlich vorliegt; ein solches Verhalten wird vielmehr unter pauschalem Verweis auf den Verwaltungsvorgang lediglich behauptet. Unabhängig davon geht der Senat nach vorläufiger Einschätzung auch nicht von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Vaters aus. Allein der Umstand, dass es zu Auseinandersetzungen zwischen dem Vater der Antragstellerin und der Kinderbetreuungseinrichtung „D.“ kam, wodurch die Kinderbetreuungseinrichtung den Betreuungsvertrag schriftlich fristlos gekündigt hat, stellt keinen Rechtsmissbrauch dar. Ein solcher könnte eventuell dann vorliegen, wenn der Vater der Antragstellerin es bewusst hätte drauf ankommen lassen, dass der Betreuungsvertrag gekündigt wird und sachwidrige Gründe dafür vorgeschoben hätte. Dies ist vorliegend nicht ansatzweise erkennbar. Zwar hat der Vater der Antragstellerin in verschiedenen Emails seinen Unmut über die Betreuungssituation der Antragstellerin kundgetan und war dabei ersichtlich emotional. Auch waren die Ausführungen des Vaters der Antragstellerin - wie das Amtsgericht Stade in seiner Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung vom 24. Januar 2022 (61 C 662/21) richtig festgestellt hat - sicherlich nicht freundlich, dennoch waren sie mit Sachbezug. Gegen eine provozierte und somit rechtsmissbräuchliche Kündigung spricht vor allem auch, dass der Vater der Antragstellerin nach der ausgesprochenen Kündigung grundsätzlich Interesse an einer außergerichtlichen Einigung mit der Kindertageseinrichtung „D.“ hatte, was unter anderem durch den zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze vom 27. und 28. Januar 2022 deutlich wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antragsgegner rügt, das Verwaltungsgericht habe die von ihm zitierten Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2005 (12 ME 422/05, juris) sowie des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2006 (1 BvR 91/06, juris) zu der Regelung des § 20 Abs. 2 NKiTaG (vormals § 12 Abs. 2 NKiTaG) nicht gewürdigt, genügt dieses Vorbringen schon nicht dem Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung ausgeführt, dass entgegen der offenbar vom Antragsgegner vertretenen Auffassung die Regelung des § 20 Abs. 2 NKiTaG nicht lediglich einen Anspruch auf Betreuung in einer Gruppe vermittle, in der sich ausschließlich Kinder befinden, die Leistungen nach dem SGB IX beziehen. In diesem Zusammenhang hat es zur Begründung auf einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg verwiesen, in dem die vom Antragsgegner genannte Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2005 (12 ME 422/05, juris) zitiert wird, und hat die Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung zur Vorgängernorm (§ 12 Abs. 2 NKiTaG) auf den nunmehr geltenden § 20 Abs. 2 NKiTaG bejaht. Auch die in diesem Zusammenhang stehenden Ausführungen des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren, dass der konkrete Förderbedarf der Antragstellerin nicht feststehe und ein Anspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Integrationsgruppe wegen fehlender Kapazität nicht bestehe, hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss gewürdigt. Der pauschale Verweis des Antragsgegners auf die beiden o.g. Entscheidungen genügt daher nicht dem Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Auch wenn das Verwaltungsgericht die zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die Verfassungsmäßigkeit der Vorgängernorm des § 12 Abs. 2 NiKitaG festgestellt wird, nicht ausdrücklich erwähnt hat, führt dies nicht zu der Annahme, dass es dieses Vorbringen nicht gewürdigt hat. Es hätte dem Antragsgegner oblegen, in Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Beschluss darzulegen, aus welchen Gründen sich dieser mit Blick auf die von ihm angeführte Rechtsprechung als unzutreffend darstellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der Anspruch der Antragstellerin auch nicht dadurch erfüllt, dass sie derzeit offensichtlich in Kindertagespflege betreut wird. Anders als zu dem Anspruch der unter Dreijährigen (vgl. § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) kann der Anspruch auf Förderung nicht alternativ durch die Vermittlung von Tagespflegepersonen erfüllt werden. Nach dem klaren Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist der Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung gerichtet (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 20.6.2019 - 10 ME 134/19 -, juris Rn 4; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 - 12 BV 15.719 -, juris Rn. 43; OVG Berl.-Bbg., Beschl. v. 28.9.2015 - 6 S 41/15 -, juris Rn. 4; Struck/Schweigler, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Auflage 2022, § 24 Rn. 69). Zwar kann gemäß § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII das Kind bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege, also etwa bei einer Tagesmutter, gefördert werden. Ein besonderer Bedarf liegt hier jedoch nicht vor. Ein solcher kann beispielsweise eine Krankheit oder Behinderung des Kindes sein, wodurch im Einzelfall die Betreuung in einer kleinen, familienähnlichen Kindertagespflegegruppe, in der stärker auf die individuellen Bedürfnisse eingegangen werden kann, die tatsächlich gegenüber der Förderung in Tageseinrichtungen geeignetere Betreuungsform darstellen (Beckmann, in: Münder/Meysen/Trenczek, 9. Aufl. 2022, SGB VIII, § 24 Rn. 56). Im Hinblick auf die Gruppensituation kann eine besondere Bedarfslage auch bei Kindern in Betracht kommen, die generell oder zumindest noch über das dritte Lebensjahr hinaus Schwierigkeiten mit der Gruppenkonfiguration und insbesondere mit großen Gruppen, wie sie zumeist in Tageseinrichtungen bestehen, haben (Beckmann, in: Münder/Meysen/Trenczek, 9. Aufl. 2022, SGB VIII, § 24 Rn. 56). Anhaltspunkte dafür, dass die Förderung der Antragstellerin wegen ihrer gesundheitlichen Situation in einer Tageseinrichtung unzumutbar wäre, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist auch nicht erkennbar, dass die Antragstellerin Schwierigkeiten mit der Gruppenkonfiguration in Tageseinrichtungen haben könnte (vgl. OVG Berl.-Bbg., Beschl. v. 28.9.2015 - 6 S 41/15 -, juris Rn. 7: zum Erfordernis einer spezifischen ärztlichen Bescheinigung für die Annahme eines besonderen Bedarfs i.S.d. § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII). Der Antragsgegner hat hierzu auch nichts Konkretes vorgetragen, sondern lediglich einen besonderen Bedarf im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII behauptet. Der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20. Januar 2022 zufolge ist wegen der deutlichen Sprachentwicklungsstörung und des kognitiven Entwicklungsrückstandes bei der Antragstellerin vielmehr der Wechsel in eine heilpädagogische Gruppe und ggfs. in einen Sprachheilkindergarten empfohlen. Im Übrigen wäre selbst bei der Annahme eines besonderen Bedarfs auch nicht geklärt, ob die zurzeit besuchte Kindertagespflege, die die Eltern der Antragstellerin offensichtlich selbst beschafft haben, für die Förderung der Antragstellerin überhaupt geeignet wäre (vgl. Beckmann in: Münder/Meysen/Trenczek, 9. Aufl. 2022, SGB VIII, § 24 Rn. 57).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220006544&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,322 | olgsh-2022-07-18-16-u-18121 | {
"id": 1070,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht",
"slug": "olgsh",
"city": null,
"state": 17,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 16 U 181/21 | 2022-07-18T00:00:00 | 2022-08-27T10:00:39 | 2022-10-17T11:09:31 | Urteil | ECLI:DE:OLGSH:2022:0718.16U181.21.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong> Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels hinsichtlich des Antrags zu 1 im Übrigen im Wege des Teilurteils das Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck vom 10. November 2021 teilweise abgeändert:</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die ihm erteilten Nachtragsversicherungsscheine zu dem Krankenversicherungsvertrag zur Nummer 46.906.352/1/01 aus der Zeit vom 1. Juni 2014 bis zum 31. Dezember 2018 erneut auszustellen; im Übrigen wird die Klage mit dem Antrag zu 1 abgewiesen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</strong></p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Kläger unterhält bei der Beklagten seit dem Dezember 1987 eine private Kranken- und Pflegeversicherung, in der verschiedentliche Beitragsanpassungen stattfanden, über die die Beklagte den Kläger zuvor schriftlich informierte. Seit dem August 2020 wird, da der Kläger seiner Beitragszahlungspflicht nicht nachgekommen war, der Krankenversicherungsvertrag im Notlagentarif geführt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Mit anwaltlicher E-Mail vom 7. Oktober 2020 nebst Vollmacht ließ der Kläger die Übersendung von Kopien sämtlicher Unterlagen zu sämtlichen Beitragserhöhungen seit dem Januar 2010 verlangen, die ihm nicht mehr vorlägen. Die Beklagte wies das mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 unter Verweis auf eine ungenügende Vollmacht, die den Gegenstand der Vertretung nicht erkennen ließ, zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Mit seiner im Dezember 2020 eingereichten und im April 2021 zugestellten Klage hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Auskunft über alle Beitragsanpassungen ab dem Juni 2014 unter Beifügung geeigneter Unterlagen zu Höhen und Tarifen, zu den übermittelten Anschreiben und Nachträgen sowie zu den Begründungsschreiben und Beiblättern verlangt, weiter die Feststellung, dass die noch näher zu bezeichnenden Erhöhungen unwirksam seien und er nicht zur Beitragszahlung verpflichtet sei, sowie schließlich die Rückzahlung eines nach der Auskunft noch zu beziffernden Betrages. Er hat geltend gemacht, er könne im Wege der Stufenklage zunächst Auskunft und sodann Feststellung und Zahlung verlangen. Aufgrund der Weigerung der Beklagten bestehe begründeter Anlass zu der Annahme, dass Prämienanpassungen durchgeführt worden seien, die der Begründungspflicht des § 203 Abs. 5 VVG nicht genügten, sodass er, der Kläger, zu Unrecht erhöhte Beiträge gezahlt habe. Das wolle er, so hat er anfänglich vorgetragen, prüfen lassen; später hat er behauptet, die mit den jeweiligen Erhöhungen wortgleich in der ganzen Republik versandten Begründungen seien defizitär (Bl. 64). Da ihm die einzelnen Nachträge zum Versicherungsschein sowie die Begründungsschreiben nicht mehr vorlägen (vgl. dazu die Verlusterklärung vom 9. Juni 2021), benötige er die verlangten vollständigen Unterlagen. Diese habe ihm die Beklagte nach § 3 Abs. 4 VVG, § 810 BGB analog, § 666 BGB, Art. 15 DS-GVO und Treu und Glauben (§ 242 BGB) zur Verfügung zu stellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die Beklagte hat sich dem entgegengestellt. Die Stufenklage sei schon unzulässig. Dem Kläger stehe auch kein Auskunftsanspruch zu. Da, worauf sie sich berufe, etwaige Zahlungsansprüche des Klägers vor dem Jahr 2017 ohnehin verjährt seien, bestehe für weiter zurückreichende Auskünfte auch kein Informationsbedürfnis. Ohnehin seien ihre Anpassungsmitteilungen förmlich wirksam gewesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Das Landgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Als Stufenklage sei die Klage nicht zulässig. Es fehle an dem nötigen Zusammenhang zwischen Auskunfts- und Leistungsbegehren, wenn die Auskunft erst die Beurteilung ermöglichen solle, ob ein Anspruch dem Grunde nach bestehe. Es handele sich danach, umgedeutet, um eine Klagehäufung im Sinne von § 260 ZPO; denn dem Kläger sei ein – zumindest für die Rechtsschutzgewährung ausreichendes – berechtigtes Interesse an den begehrten Auskünften nicht abzusprechen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Indes habe er unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Anspruch auf die verlangten Auskünfte. Das folge aus keiner der von ihm genannten Anspruchsgrundlagen. § 3 Abs. 3 VVG greife nicht, da der Kläger keine Ersatzausfertigung begehre, sondern, was damit nicht deckungsgleich sei, umfassend Auskunft und Überlassung von Unterlagen. § 15 DS-GVO greife nicht, die Norm lediglich ein Recht zur Auskunft, nicht aber ein Recht auf Vorlage und Herausgabe von Unterlagen gewähre; bei den Begründungsschreiben und den Beiblättern handele es sich auch nicht um personenbezogene Daten. Es greife auch nicht § 242 BGB. Unwidersprochen habe die Beklagte dem Kläger die Schreiben zur Beitragsanpassung rechtzeitig und vollständig übersandt. Bei ordnungsgemäßer Verwaltung sei zu erwarten, dass diese beim Empfänger verblieben. Für eine unverschuldete Unkenntnis bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte; vielmehr stehe zu vermuten, dass der Kläger die Erhöhungen in der Vergangenheit schlicht hingenommen und die ihm zugegangenen Unterlagen nicht verwahrt habe. Die weiteren Anträge seien mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, der seine erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Er macht geltend, seine Klage sei als Stufenklage zulässig. Es genüge, wenn das Auskunftsbegehren der Vorbereitung gerade der auf der letzten Stufe noch nachzuholenden bestimmten Angabe diene, und so liege es hier, da die Begründungsschreiben der Beklagten aus den letzten Jahren den Anforderungen des § 203 Abs. 5 VVG nicht genügten. Die Anspruchshöhe könne auch nicht durch den Abgleich der monatlichen Zahlungen anhand der Kontoauszüge hergeleitet werden, da auf diese Weise nicht festgestellt werden könne, ob der Mehrbetrag auf einer Beitragsanpassung – und nicht etwa auf einem Tarifwechsel oder einer Erhöhung der Pflegepflichtversicherung – beruhe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">In der Sache stehe ihm ein Anspruch auf Auskunft über die Höhe der tariflich konkretisierten Beitragsanpassungen zu, und zwar aus § 3 Abs. 3 Satz 1 VVG, aus Art. 15 DS-GVO, aus § 810 BGB und aus Treu und Glauben, § 242 BGB. Was den letztgenannten Anspruch angehe, so könne er ohne die Nachträge zum Versicherungsschein weder feststellen, in welchen Tarifen die Beitragsanpassungen erfolgt seien, noch ob der veränderte Zahlbetrag, der auch auf vertraglich vereinbarte Umstufungen, veränderte Zuschläge oder die Pflegeversicherung zurückgehen könne, überhaupt auf eine begründungsbedürftige Beitragsanpassung zurückzuführen sei. Das Fehlen der Unterlagen sei auch entschuldbar; wenn die Wirksamkeit der Prämienerhöhung bedingungsgemäß allein von einer Benachrichtigung abhängen solle, so gehe der Versicherungsnehmer zu Recht davon aus, dass älteren Versicherungsscheinen nach Übersendung der aktuellen Version kein Eigenwert mehr zukomme; eine Aufbewahrungsobliegenheit bestehe nicht. Die Beklagte könne Auskunft unschwer geben. Entsprechend nehme der BGH (Urteil vom 4. Juli 1985, III ZR 144/84) einen Anspruch auf Übermittlung von Vertragsunterlagen gegenüber Kreditinstituten an, wenn der Kunde nur glaubhaft mache, die betreffenden Schriftstücke seien ihm später verloren gegangen; nichts anderes könne für nicht mehr vorhandene Versicherungsscheine gelten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Kläger beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">das angefochtene Urteil abzuändern und</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Beklagte zu verurteilen, ihm Auskunft über alle Beitragsanpassungen zu erteilen, die sie in dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag zur Versicherungsnummer (…) ab 1. Juni 2014 bis Rechtshängigkeit (23. April 2021, Bl. 34R) vorgenommen hat und hierzu geeignete Unterlagen zur Verfügung zu stellen, in denen mindestens die folgenden Angaben enthalten sind:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">- die Höhe der Beitragsanpassungen unter Benennung der jeweiligen Tarife im Versicherungsverhältnis zu ihm,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">- die ihm zu diesem Zwecke übermittelten Informationen in Form von Versicherungsscheinen und Nachträgen zum Versicherungsschein sowie</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">- die ihm zum Zwecke der Beitragserhöhung übermittelten Informationen aus den Begründungsschreiben sowie der Beiblätter</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">festzustellen, dass alle Erhöhungen in seinen Krankenversicherungstarifen, die die Beklagte ihm gegenüber im Rahmen des zwischen ihnen bestehenden Krankenversicherungsverhältnisses zur Versicherungsnummer (…) ab 1. Juni 2014 bis Rechtshängigkeit vorgenommen hat, und die nach Erteilung der Auskunft gemäß dem Antrag zu Ziffer 1) noch genauer zu bezeichnen sind, unwirksam sind und er nicht zur Zahlung des jeweiligen Erhöhungsbetrags verpflichtet ist, sowie, dass der monatlich fällige Gesamtbetrag für die Zukunft auf einen nach Erteilung der Auskunft gemäß dem Klageantrag zu 1) noch genau zu beziffernden Betrag zu reduzieren ist;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Beklagte zu verurteilen, an ihn einen nach Erteilung der Auskunft zu 1) noch zu beziffernden Betrag nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Berufung zurückzuweisen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Sie verteidigt – nach einem Hinweisbeschluss des Senats vom 1. März 2022, in dem ein Anspruch aus § 3 Abs. 3 VVG für angängig erachtet worden ist – die angefochtene Entscheidung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die vom Senat erörterten Vorzeichen stellten eine Umdeutung in eine von der Stufung unabhängige objektive Klagehäufung, § 260 ZPO dar; diese komme aber nicht in Betracht, da sie nur möglich sei, wenn nach dem Rechtsschutzziel die Verbindung von Auskunfts- und Leistungsanträgen nicht derartig eng sein soll, dass die Rechtsverfolgung – so aber hier – mit dieser Stufung stehen und fallen solle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Einen Anspruch aus § 3 Abs. 3 VVG mache der Kläger auch gar nicht geltend. Ein solcher bestehe Übrigen auch gar nicht: der Kläger verlange umfassend Auskunft über umfangreiche Unterlagen; das Begehren auf Ersatzausfertigungen sei kein minus dazu, sondern ein aliud.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Dass dem Kläger die Versicherungsscheine abhandengekommen oder sie vernichtet worden seien, bestreitet sie mit Nichtwissen. Des weiter behauptet sie, sie habe sogar im selben Anpassungsjahr je nach Vertragssituation, Änderungsart und Unternehmen (…/…) unterschiedliche Anpassungsschreiben und Beiblätter verwendet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die Berufung des Klägers hat auf der ersten Stufe teilweise Erfolg, § 513 Abs. 1 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">A.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Kläger kann, was sein mit dem Antrag zu 1 verfolgtes Auskunftsbegehren angeht, die Ausstellung der ihm im Zuge von Beitragserhöhungen erteilten Nachtragsversicherungsscheine verlangen, aber auch nur diese.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Ein Anspruch auf die erneute Erteilung der Nachtragversicherungsscheine ergibt sich für den Zeitraum von Juni 2014 bis zum Dezember 2018 aus § 3 Abs. 3 Satz 1 VVG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Nach dieser Vorschrift kann der Versicherungsnehmer, ist ein Versicherungsschein abhandengekommen oder vernichtet, vom Versicherer die Ausstellung eines neuen Versicherungsscheines verlangen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Unter keinen Umständen steht dem entgegen, dass der Kläger sich erstinstanzlich auf § 3 Abs. 3 VVG nicht gestützt hat – iudex novit curia.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die Vorschrift bezieht sich auch auf Nachträge (vgl. Prölss/Martin-<em>Rudy</em>, VVG, Kommentar, 31. Auflage, § 3 Rn. 1), das ergibt sich – „<em>ein</em> Versicherungsschein“ – schon aus dem Wortlaut. Da der Versicherungsschein den Versicherungsnehmer über den Inhalt des Vertrages informieren soll (Prölss/Martin-<em>Rudy</em>, a.a.O.) und – wie nicht zuletzt die hier gegebene Konstellation zeigt – auch ein Interesse an der Wiederbeschaffung überholter Versicherungsscheine bestehen kann, besteht auch kein zureichender Grund für eine Beschränkung des Anspruchs auf den aktuell geltenden Versicherungsschein, dies umso weniger, da gemäß § 3 Abs. 5 VVG die Kosten für die Erteilung eines neuen Versicherungsscheins vom Versicherungsnehmer zu tragen und auf Verlangen vorzuschießen sind. Das Abhandenkommen umfasst auch das freiwillige Verlieren (Langheid/Rixecker-<em>Rixecker</em>, VVG, Kommentar, 6. Auflage § 3 Rn. 5; Prölss/Martin-<em>Rudy</em>, § 3 Rn. 8 m. N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Nachdem es gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 VVG einer Kraftloserklärung nur bedarf, wenn der Versicherungsschein der Kraftloserklärung unterliegt, es sich also (wie hier nicht) um eine Orderpolice handelt oder um einen Versicherungsschein, der ein Legitimationspapier (§ 808 Abs. 2 Satz 2 BGB) ist (vgl. Prölss/Martin-<em>Rudy</em>, § 3 Rn. 8), und nachdem, wie schon erwähnt, der Versicherungsnehmer die Kosten der Ersatzausstellung zu tragen hat, können an die Darlegung des Verlusts keine hohen Anforderungen gestellt werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Anspruch lässt sich – entgegen dem Landgericht (U 5) – auch nicht schon im Ansatz damit verneinen, dass der Kläger nicht <em>nur</em> die Nachträge, sondern <em>umfassend</em> Auskunft über alle mit dem Erhöhungsverlangen überlassenen Unterlagen verlangt. Die Nachträge zum Versicherungsschein sind Bestandteil des Auskunftsantrags und werden auch in der Klagbegründung ausdrücklich erwähnt, sodass – auch wenn weder § 3 Abs. 3 VVG noch die Wendung der „Ausstellung eines neuen Versicherungsscheins“ Erwähnung finden – das (Teil-)Ziel des Rechtsschutzbegehrens hinreichend erkennbar geworden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der im Termin angehörte Kläger hat den Senat davon überzeugt, dass er die Nachträge von 2014 bis 2018 nicht mehr besitzt, §§ 141, 286 ZPO, weil er sie, nachdem er sie mit anderen Unterlagen im Keller gelagert hatte, nach einem Wasserschaden entsorgt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">c)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Anspruch, den der Kläger auf die ab dem Juni 2014 erteilten Nachträge erstreckt, ist auch nicht etwa, wie die Beklagte geltend macht, durch ihren Verjährungseinwand begrenzt. Allein mit dem – allerdings zutreffenden – Hinweis darauf, dass (bei einer Klageerhebung im Jahr 2021) Rückforderungsansprüche vor dem Jahr 2017 verjährt wären, lässt sich der Anspruch nicht infrage stellen. Der Anspruch nach § 3 Abs. 3 VVG setzt lediglich voraus, dass der Versicherungsschein abhandengekommen oder vernichtet ist. In zeitlicher Hinsicht wird er begrenzt durch die der Beklagten obliegenden Aufbewahrungspflichten. Innerhalb dieser Grenzen besteht kein Grund zur Verweigerung, dies insbesondere deshalb nicht, weil, wie schon erwähnt, die Beklagte vom Kläger die Kosten für die Erteilung der Nachträge verlangen könnte, deren Vorlage nebst dem Anschreiben und aller weiteren damit verbundenen Unterlagen der Beklagten nach den Erfahrungen des Senats aus einer Vielzahl gleichgelagerter Verfahren ohnehin keine erkennbare Mühe zu bereiten scheint. Der Kläger hat an den Nachträgen, die vor 2018 erteilt wurden, auch das erforderliche Interesse, können sich etwaige Beitragsanpassungen vor diesem Zeitpunkt auch in unverjährter Zeit auf den Leistungsanspruch auswirken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Anspruch ist allerdings „nach hinten“ begrenzt auf den Zeitpunkt des Juni 2018. Der Kläger hat angegeben, dass ihm Unterlagen ab dem Jahr 2019 erteilt worden sind, die verfügbar sein müssten. Warum der Kläger, wie er beantragt, die Versicherungsscheine <em>bis Rechtshängigkeit</em> (und also auch noch nach der Beauftragung seiner späteren Prozessbevollmächtigten und in die Zukunft hinein) fehlen sollten, hat sich dem Senat ohnehin nicht erschlossen, kann aber nach der Anhörung des Klägers auch dahin stehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">d)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Ein Verlangen auf Vorschuss auf die Kosten für die erneute Erteilung der Nachträge hat die Beklagte nicht gestellt. Es bleibt ihr überlassen, ob sie diese nachträglich berechnen will oder nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Aus § 810 BGB ergibt sich – insgesamt – kein Anspruch für den Kläger.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Danach kann derjenige, der ein rechtliches Interesse daran hat, eine in fremdem Besitz befindliche Urkunde einzusehen, von dem Besitzer die Gestattung der Einsicht verlangen, wenn die Urkunde in seinem Interesse errichtet oder in der Urkunde ein zwischen ihm und einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Auf diese Vorschrift kann sich der Kläger schon deshalb nicht stützen, weil er nicht Einsicht in Unterlagen, sondern eine Auskunft in Gestalt ihrer Überlassung verlangt. Das gibt – so zutreffend auch das Landgericht (U 5) – § 810 BGB nicht her.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Auch aus Art. 15 DS-GVO kann der Kläger keine Rechte herleiten, jedenfalls keine, die über jene aus § 3 Abs. 3 VVG hinausgingen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Nach Art. 15 DS-GVO hat jede betroffene Person, nach Art. 4 Nr. 1 DS-GVO also jede durch personenbezogene Daten identifizierbare oder identifizierte Person, das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende personenbezogene Daten verarbeitet werden; ist dies der Fall, so hat diese Person u. a. ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und über zahlreiche weitere Informationen zu deren Verarbeitung usw.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Das Auskunftsrecht nach Art. 15 DS-GVO zielt auf eine faire und transparente Verarbeitung und speist sich nicht zuletzt aus der Möglichkeit für die betroffene Person, sich problemlos und in angemessenen Abständen (Erwägungsgrund 63) nicht nur über die Existenz des Verarbeitungsvorganges und seine Zwecke (Erwägungsgrund 60) zu informieren, sondern insbesondere darüber hinaus auch über verschiedene weitere mit der Verarbeitung zusammenhängende Absichten und Rechtsfolgen; das Auskunftsrecht soll dem Betroffenen die informierte Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung eröffnen (vgl. nur Paal/Pauly/<em>Paal</em>, DS-GVO, Kommentar, 3. Auflage 2021, Art. 15 Rn. 3), um ggf. eine Korrektur oder eine Beschränkung der Verarbeitungszwecke zu erreichen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Um solche Zwecke geht es dem Kläger aber von vornherein nicht, dies umso weniger, da sich sein Auskunftsbegehren nicht auf die aktuell von der Beklagten noch genutzten Tarif- und Beitragsdaten, sondern auf für die Führung des Vertrages nicht mehr relevante Informationen aus der Vergangenheit bezieht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Auch wenn es anders wäre, so gäbe Art. 15 DS-GVO keine weitergehenden Rechte, als sie die speziellere und damit vorgehende Regelung des § 3 Abs. 3 VVG gewährt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Begriff der "personenbezogenen Daten" nach Art. 4 DS-GVO ist weit gefasst und umfasst nach der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 1 DS-GVO alle Informationen, die sich auf eine identifizierbare natürliche Person beziehen. Es lassen sich persönliche und sachliche Angaben unterscheiden. Persönliche Angaben beziehen sich unmittelbar auf den Betroffenen, sachliche Angaben auf dessen Beziehung zu seiner Umwelt, mithin zu Sachen oder zu Dritten. Persönliche Angaben sind z.B. Name, Alter, Herkunft, Geschlecht, Ausbildung, Familienstand, Anschrift, Geburtsdatum, Augenfarbe, Fingerabdrücke, genetische Daten, Gesundheitszustand, Fotos und Videoaufzeichnungen, persönliche Überzeugungen, Vorlieben, Verhaltensweisen oder Einstellungen. Sachliche Angaben sind etwa die Beziehungen des Betroffenen zu Dritten, aber auch Angaben zum Umfeld, seiner finanziellen Situation (Vermögen, Gehalt, Kreditwürdigkeit), Vertragsbeziehungen, Freundschaften, Eigentumsverhältnisse, Konsum- oder Kommunikationsverhalten, Arbeitszeiten (vgl. Paal/Pauly/<em>Ernst</em>, Art. 4 Rn. 14 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Danach könnte der Kläger dem Umfange nach lediglich Bestätigung der Daten verlangen, die sich aus den Nachtragversicherungsscheinen ergeben. Nur diese haben einen persönlichen Bezug in dem oben ausgeführten Sinne, weil sie die Information enthalten, welche vertraglichen Forderungen die Beklagte ihm gegenüber in den einzelnen von ihm persönlich bei ihr gehaltenen Tarifen hat(te), womöglich darüber hinaus auch, in welchem Umfang sich diese Forderungen im Rahmen der Beitragserhöhung verändern sollen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Für alle weiteren Informationen, die der Kläger begehrt, gilt das indessen nicht. Sowohl das Anschreiben wie auch alle weiteren Beilagen zu den Beitragserhöhungen enthalten einzig und allein Informationen, die die Beklagte selbst betreffen, nämlich Erläuterungen dazu, warum die Beiträge erhöht werden und worauf das rechtlich und kalkulatorisch beruht. Keines der zahlreichen Erhöhungsverlangen der verschiedensten Versicherer, mit denen sich der Senat bisher beschäftigt hat, enthielt insoweit auch nur ein einziges Datum, das in Beziehung zu einem konkreten einzelnen (identifizierbaren) Versicherungsnehmer gestanden hätte. Und das gilt insbesondere auch für die Erhöhungsschreiben der Beklagten, über die der Senat (jedenfalls für die Jahre 2012, 2017, 2018 und 2020) bereits in dem Verfahren 16 U 133/21 (Az. der Klägervertreter 356948-20; Az. der Beklagtenvertreter 37568/21 KH) beschäftigt und über welche er jüngst (mit Urteil vom 31. Januar 2022) befunden hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Auch aus der Entscheidung des BGH vom 15. Juni 2021 (VI ZR 376/19) lässt sich nicht entnehmen, dass die Korrespondenz des Versicherers mit dem Versicherungsnehmer stets insgesamt dem Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 DS-GVO unterfällt. Die Fallkonstellation, die jener Entscheidung zugrunde lag, ist mit der vorliegenden nicht zu vergleichen. Anders als dort enthalten die Beitragsanpassungsschreiben nebst Beilagen gerade keine Informationen über den Kläger.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">4.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Weitergehende Ansprüche auf Auskünfte stehen dem Kläger auch nicht aus Treu und Glauben zu, § 242 BGB.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben besteht eine Auskunftspflicht bei jedem Rechtsverhältnis, dessen Wesen es mit sich bringt, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen oder Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, er sich die zur Vorbereitung und Durchsetzung seines Anspruchs notwendigen Auskünfte nicht in zumutbarer Weise selbst beschaffen kann und der Verpflichtete unschwer die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderlichen Auskünfte zu geben vermag. Allerdings begründet allein die Tatsache noch keine Auskunftspflicht, dass jemand über Sachverhalte informiert ist oder sein könnte, die für einen anderen von Bedeutung sind. Voraussetzung ist vielmehr, dass zwischen dem Berechtigten und dem Verpflichteten eine besondere rechtliche Beziehung besteht (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 25. Juli 2017 - VI ZR 222/16 –, juris Rn. 13 m.w.N.; <em>Grüneberg</em>, BGB, Kommentar, 81. Auflage, § 260 Rn. 5).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Besteht – wie hier – eine vertragliche Beziehung, reicht es aus, dass für den Leistungsanspruch oder die Einwendung, die mithilfe der Information geltend gemacht werden soll, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht (BGH, Urteil vom 17. Juli 2002 - VIII ZR 64/01, NJW 2002, 3771). Des Weiteren muss der Berechtigte in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang seines Rechts im Ungewissen sein und sich die erforderliche Information nicht selbst auf zumutbare Weise beschaffen können; der Anspruch ist daher ausgeschlossen, wenn der Berechtigte sich aus ihm zugänglichen Unterlagen informieren kann oder wenn ihm ein vorrangiger Auskunftsanspruch gegen einen anderen Beteiligten zusteht (BGH, Urteil vom 8. Februar 2018 - III ZR 65/17, NJW 2018, 2629, 2631 Rn 26). Schließlich muss der Verpflichtete in der Lage sein, die Auskunft unschwer, d. h. ohne unbillige Belastung zu erteilen; maßgeblich ist, ob ihm der mit der Ermittlung und der Erteilung der Auskunft verbundene Arbeitsaufwand zugemutet werden kann (<em>Grüneberg</em>, § 260 Rn. 8 m.w.N).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Dies vorausgeschickt, kann der Kläger derzeit keine und jedenfalls keine weiteren Auskünfte verlangen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Das lässt sich indes – entgegen dem Landgericht (U7/8) – nicht damit begründen, dass die Unkenntnis des Klägers hinsichtlich des genauen Inhalts des Erhöhungsschreibens und der weiteren begründungshalber erteilten Informationen nicht unverschuldet sei. Es kommt nicht darauf an, ob der Kläger die Unkenntnis zu vertreten hat, sondern darauf, ob er sich insoweit entschuldigen kann. Und es ist zweifellos ein hinreichender Entschuldigungsgrund, dass er die durch einen Wasserschaden betroffenen Unterlagen entsorgt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Indessen ist bislang schon nicht zureichend dargetan, dass für einen Rückforderungsanspruch des Klägers oder eine zukünftige teilweise Beitragsbefreiung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bestünde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">In der Klagschrift wird noch nicht einmal behauptet, dass einzelne vorgenommene Beitragserhöhungen förmlich zu beanstanden seien; vielmehr heißt es dort, dass der Kläger das aufgrund der noch zu erteilenden Auskünfte lediglich prüfen lassen wolle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Hinreichenden Vortrag hat der Kläger auch im Verlaufe des Prozesses nicht gehalten. In der Replik wird zwar im Ansatz richtig ausgeführt, dem Grunde nach ergäben sich die verfolgten Ansprüche aus den mit den jeweiligen Erhöhungen verschickten defizitären Begründungen (Bl. 64). Das hat der Kläger indessen ungeachtet des Bestreitens der Beklagten – bzw. ihres Vorbringens, die gegenüber dem Kläger vorgenommenen Beitragserhöhungen seien formell wirksam – nicht weiter substantiiert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Dieses Manko lässt sich nicht damit entschuldigen, dass dem Kläger „seine“ Erhöhungsschreiben nicht vorlägen. Tatsächlich ist der Kläger durchaus dazu in der Lage, zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Unwirksamkeit der Erhöhungsverlangen näher vorzutragen. In der Replik lässt er selber darlegen, dass (was erstinstanzlich unstreitig geblieben ist) die Beklagte die mit den jeweiligen Erhöhungen verbundenen Begründungen wortlautgleich in der ganzen Republik versandt habe und sie der Klägerseite vorlägen. Nachdem der Kläger eingeräumtermaßen aus seinen Kontoauszügen auch ersehen kann, in welchen Jahren er erhöhte Beiträge gezahlt hat, kann er durchaus sinnvoll vortragen, dass und warum die Anpassungsmitteilungen in den einzelnen Jahren ungenügend gewesen sein sollen, und daran wird er auch nicht dadurch gehindert, dass er dabei – in dem seltenen Fall, dass Beitragserhöhungen allein auf einem Tarifwechsel und/oder einer Erhöhung der Pflegepflichtversicherung beruhen sollten – vorsorglich auch zu Jahren vorträgt, die dann nachher für seinen Feststellungs- und Zahlungsantrag ohne Relevanz bleiben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">c)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Unabhängig davon und in jedem Fall ist der Kläger auf die Vorlage der Unterlagen auch keinesfalls angewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Er hat selbst vortragen lassen, dass die Beklagte Erhöhungsschreiben mit defizitären Begründungen wortlautgleich in der ganzen Republik versandt habe. Soweit die Beklagte dies (auf den Hinweisbeschluss des Senats vom 1. März 2022 hin) hat bestreiten wollen, kann sie damit nicht durchdringen. Die förmliche Abwicklung von Beitragserhöhungen ist für die Krankenversicherer ein Massengeschäft. Dieses erledigen sie, wie der Senat aus zahlreichen diesbezüglichen Verfahren verschiedener Versicherer weiß und daher offenkundig (§ 291) ist, mit standardisierten Anschreiben und Beiblättern, die sämtliche in dem betreffenden Jahr vorgenommene Beitragserhöhungen abdecken sollen; individualisiert sind im Hinblick auf die jeweiligen Tarife und deren Erhöhung oder Beibehaltung die damit zugleich erteilten Nachträge. Dass das ausgerechnet bei der Beklagten anders sein sollte, ist nicht nachvollziehbar und wird auch nicht substantiiert dargelegt, sondern erscheint vielmehr lediglich als der untaugliche Versuch, einen Auskunftsanspruch des Klägers noch irgendwie zu Fall zu bringen. Darauf, dass das Vorbringen darüber hinaus auch verspätet ist, § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO, kommt es schon nicht einmal mehr an.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die nötigen allgemeinen Unterlagen liegen bei den Prozessbevollmächtigten des Klägers, deren Profession u.a. in der Verfolgung von Beitragsrückforderungen in der privaten Krankenversicherung für hunderte von rechtsschutzversicherten Versicherungsnehmern liegt, offensichtlich für jedes hier in Betracht kommende Jahr vor. Für die hier (u.a.) in Rede stehenden Jahre 2017, 2018 und 2020 weiß der Senat das positiv aus dem schon erwähnten und erst jüngst abgeschlossenen Verfahren 16 U 133/21. Mit der ihm zuzuerkennenden Überlassung der Nachträge hat der Kläger alle Informationen, die er für eine schlüssige Darlegung seiner Ansprüche zu Grund und Höhe benötigt. Das gilt auch, soweit die Beklagte darauf hinaus will, dass es Unterschiede gebe je nachdem, ob es sich um eine genuin bei ihr gehaltene Versicherung oder um eine solche handele, die anfänglich bei dem von ihr übernommenen deutschen Ring gehalten worden ist. Denn es wird sich für den Kläger aus den Nachträgen ergeben, welche insoweit das richtigerweise anzugreifen Erhöhungsverlangen sein wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">B.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Besteht danach ein Anspruch aus § 3 Abs. 3 VVG, so erweist sich die Stufenklage als zulässig, § 254 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Danach gilt: Wird mit der Klage auf Rechnungslegung oder auf Vorlegung eines Vermögensverzeichnisses oder auf Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung die Klage auf Herausgabe desjenigen verbunden, was der Beklagte aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis schuldet, so kann die bestimmte Angabe der Leistungen, die der Kläger beansprucht, vorbehalten werden, bis die Rechnung mitgeteilt, das Vermögensverzeichnis vorgelegt oder die eidesstattliche Versicherung abgegeben ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Entgegen dem Gesetzeswortlaut werden Informationsansprüche jeglicher Art erfasst, insbesondere solche zur Auskunft und Rechnungslegung (Zöller/<em>Greger</em>, ZPO, Kommentar, 34. Auflage, § 254, Rn. 6 m.N.); das erfasst auch das Begehren nach den Informationen, die in den Nachträgen ihre Gestalt gefunden haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die Verbindung zwischen Auskunfts- und Leistungsansprüchen in der in § 254 ZPO vorgesehenen Weise ist entsprechend dem Zweck der Vorschrift nur dann zulässig, wenn die begehrte Auskunft dazu dient, den Leistungsanspruch zu beziffern oder in sonstiger Weise zu konkretisieren. Liegen diese Voraussetzungen vor, steht es der Zulässigkeit nicht entgegen, dass die begehrten Auskünfte für sich gesehen zur Bezifferung oder Konkretisierung nicht ausreichen (BGH, Versäumnisurteil vom 6. April 2016 – VIII ZR 143/15, BGHZ 209 Rn. 16 bei juris). Eine Stufenklage ist aber unzulässig, wenn die begehrte Auskunft nicht der Bestimmung des Leistungsanspruchs dient, sondern dem Kläger sonstige Informationen für seine Rechtsverfolgung verschaffen soll (BGH, Urteil vom 18. April 2002, VII ZR 260/01, NJW 2002, 2952, Rn. 16 bei juris). Der erforderliche Zusammenhang zwischen Auskunfts- und Leistungsbegehren fehlt etwa, wenn die Auskunft dem Kläger die Beurteilung ermöglichen soll, ob ihm dem Grunde nach ein Anspruch zusteht, ob also z.B. ein zum Schadensersatz verpflichtendes Verhalten des Beklagten vorliegt und ob dieses für einen dem Kläger entstandenen Schaden kausal ist (BGH, Versäumnisurteil vom 6. April 2016, a.a.O., Rn. 15 m.w.N.; vgl. zu all dem auch BeckOK ZPO-Bacher, § 254 Rn. 4 - 6.1. m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Die Stufenklage und damit die einstweilige Befreiung von der Bezifferungspflicht nach § 253 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 ZPO („bestimmter Antrag“) ist danach nur dann ausgeschlossen, wenn der in erster Stufe verfolgte Auskunftsanspruch <em>in keiner Weise</em> der näheren Bestimmung eines noch nicht hinreichend bestimmten, in einer nachfolgenden Stufe geltend gemachten Leistungsbegehrens, sondern anderen Zwecken dient. Sie ist dagegen schon dann zulässig, wenn <em>nur ein Teil</em> der für die Bezifferung benötigten Informationen im Wege der Auskunftsklage zu erlangen ist und es darüber hinaus weiterer Informationen bedarf (BGH, Versäumnisurteil vom 6. April 2016, Rn. 16 bei juris m.w.N; im Fall des BGH war danach die Stufenklage zulässig, die in der ersten Stufe auf den Inhalt eines einem Vorkaufsrecht unterliegenden Vertrages gerichtet war, obwohl es für die anschließende Leistungsklage weiterer Informationen in Gestalt des tatsächlichen Werts der Wohnung zum Zeitpunkt ihres Verkaufes bedurfte, die anderweitig zu beschaffen waren, vgl. Rn. 13, 17).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">In Anwendung dieser Grundsätze ist die Stufenklage zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Kläger bedarf im Ansatz der Nachträge, um auf diese Weise seine Zahlungsanträge beziffern zu können. Und er bedarf dazu auch <em>nur</em> der Nachträge, da alle weiteren Unterlagen, namentlich die immer gleichen Anschreiben und Beilagen zu den Beitragsanpassungen seinen Prozessbevollmächtigten vorliegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Entgegen der Auffassung der Beklagten (Schriftsatz vom 3. Mai 2022, S. 2, Bl. 194R) nimmt der Senat nicht etwa eine unzulässige Umdeutung vor in eine von einer Stufung unabhängige objektiven Klagehäufung, § 260 ZPO. Mit der beanspruchten Auskunft kann der Kläger in die zweite Stufe gehen. Er benötigt dazu nicht auch noch die weiter verlangten Unterlagen, insbesondere nicht die jeweiligen Erhöhungsschreiben der einzelnen Jahre. Diese sind nach seinem eigenen Vortrag nämlich seinen Prozessbevollmächtigten bekannt. Selbst wenn zutreffen sollte, dass der Beklagte im selben Anpassungsjahr je nach Vertragssituation, Änderungsart und Unternehmen unterschiedliche Anpassungsschreiben versandt hat, so wäre dies eine Frage der Begründetheit der Leistungsstufe, auf der regelmäßig im Anschluss an lediglich rudimentäre Anlagen zur Klage der Versicherer die vollständigen Unterlagen zu der jeweiligen Beitragsanpassung mit der Klagerwiderung vorzulegen pflegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_70">70</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Es geht danach richtigerweise nicht darum, dass sich der Kläger auf der Auskunftsstufe mit der Bestimmbarkeit als solcher nicht in Zusammenhang stehende Informationen für seine Rechtsverfolgung verschaffte, und es besteht dementsprechend kein guter Grund dafür, den Kläger mit dem Verdikt der Unzulässigkeit seiner gesamten Klage allein deshalb abzustrafen, weil seine Prozessbevollmächtigten dem Umfange nach auf der Auskunftsstufe über das Ziel hinausgeschossen sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_71">71</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst; sie ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Vollstreckbarkeitsentscheidung folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,293 | ovgnrw-2022-07-18-1-a-188620 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 1 A 1886/20 | 2022-07-18T00:00:00 | 2022-08-24T10:01:15 | 2022-10-17T11:09:26 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0718.1A1886.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.</p>
<p>Auf die Berufung des Beklagten wird das angefochtene Urteil geändert.</p>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.</p>
<p>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begehrt, ihm als "Chroniker" Beihilfe im Wege einer Härtefallregelung für das Jahr 2014 zu gewähren, und zwar wegen in diesem Jahr entstandener, bestandskräftig als nicht erstattungsfähig eingestufter Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Medikamente und Medizinprodukte in Höhe von 3.848,19 Euro sowie wegen der für das Jahr 2014 mit Bescheid vom 20. Januar 2014 festgesetzten Kostendämpfungspauschale (190,00 Euro). Er ist Ruhestandsbeamter des Beklagten, als Empfänger von Versorgungsbezügen mit einem Bemessungssatz von 70 vom Hundert beihilfeberechtigt und nach dem Bescheid des Versorgungsamtes Düsseldorf vom 5. Mai 1997 mit einem Grad der Behinderung von 30 körperbehindert. Aufgrund eines durchgeführten Versorgungsausgleichs werden dem danach ausgleichspflichtigen Kläger entsprechend gekürzte Versorgungsbezüge ausgezahlt.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Unter dem 22. Oktober 2015 beantragte der Kläger, soweit hier von Interesse, bei dem Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen (LBV NRW) sinngemäß, ihm zu den im Jahr 2014 entstandenen Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige, in den ergangenen Bescheiden als nicht beihilfefähig behandelte Arzneimittel im Wege einer Härtefallregelung Beihilfe zu gewähren. Zur Begründung führte er aus: Er leide an einer Vielzahl von chronischen Erkrankungen, die zumeist schon seit vielen Jahren andauerten. Die Arzneimittel, um die es hier gehe, seien ihm von seinem vorwiegend nach naturheilmedizinischen Verfahren arbeitenden Hausarzt S. I. als Teil seiner notwendigen Heilbehandlung verordnet worden. Dies sei geschehen, weil er seit langem "schulmedizinisch austherapiert" sei und häufig eine Hypersensibilität in Bezug auf multiple, in schulmedizinischen chemischen Mitteln enthaltene Substanzen gezeigt habe. Die ihm insoweit bisher verbliebenen Beschaffungskosten überstiegen seine finanziellen Möglichkeiten. Der geltend gemachte Anspruch ergebe sich aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn; zur näheren Begründung berufe er sich insbesondere auf die Senatsurteile vom 12. September 2014 – 1 A 1601/13 – und ‑1 A 1602/13 –. Der Anspruch auf Nacherstattung von Beihilfe belaufe sich auf <strong>2.625,99 Euro</strong>. Dieser Betrag ergebe sich, indem von der Summe der ihm verbliebenen "Eigenanteile" (nicht geleistete Beihilfe i. H. v. 2.693,90 Euro + 190,00 Euro Kostendämpfungspauschale = 2.883,90 Euro) die zumutbare Eigenbelastung i. H. v. 1 Prozent des von ihm zugrunde gelegten Vorjahresbruttoeinkommens (257,91 Euro) abgezogen werde.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 16. November 2015 bewilligte das LBV NRW dem Kläger hierauf eine als "Zuschuss" bezeichnete Beihilfe i. H. v. <strong>211,31 Euro</strong>. Von den (tabellarisch aufgeführten) Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel könnten nur diejenigen Aufwendungen berücksichtigt werden, die weder homöopathische noch der Pflanzenheilkunde zuzuordnende Arzneimittel beträfen. Das seien hier Aufwendungen i. H. v. 812,38 Euro. Von der danach möglichen Beihilfe von 568,67 Euro (70 v. H.) sei noch die Gesamtbelastungsgrenze abzuziehen, die nach § 15 Abs. 3 und 4 BVO NRW zu berechnen sei und 357,36 Euro (Summe aus dem Grundbetrag von 200,00 Euro und eines Betrages von 0,5 Prozent der Vorjahresbruttobezüge i. H. v. 31.471,88 Euro) betrage; das führe auf den als "Zuschuss" gewährten Betrag.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Hiergegen erhob der Kläger unter dem 5. Dezember 2015 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus: Das LBV NRW hätte nicht nur einige, sondern <span style="text-decoration:underline">alle</span> Aufwendungen nicht verschreibungspflichtigen Medikamente berücksichtigen müssen. Zudem seien die tabellarischen Übersichten fehlerhaft. Namentlich habe das LBV NRW einerseits viele Arzneimittel doppelt und andererseits das Medikament "Alkala 'T'" zu Unrecht gar nicht in seine Berechnung eingestellt. Letzteres sei ein echtes Arzneimittel mit dem chemischen Wirkstoff Natriumhydrogencarbonat, das eine Zulassungsnummer besitze und trotz fehlender Bezeichnung als apothekenpflichtig nur in Apotheken verkauft werden dürfe. Ferner beliefen sich seine Vorjahresbruttobezüge ausweislich des Ausdrucks der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für 2013 nicht auf 31.471,88 Euro, sondern nur auf 25.790,96 Euro. Die Kürzungen wegen des Versorgungsausgleichs dürften nicht berücksichtigt werden, weil die Beträge nicht ihm, sondern seiner geschiedenen Ehefrau zuflössen. Nach erfolgter Zahlung von 211,31 Euro verbleibe noch ein ihm zu erstattender Betrag i. H. v <strong>2.414,68 Euro</strong>.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 2. Februar 2017 wies das LBV NRW den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus: Nach näherer Überprüfung beliefen sich die berücksichtigungsfähigen Aufwendungen nicht, wie im Grundbescheid angenommen, auf 812,38 Euro, sondern nur auf 529,66 Euro. Abzuziehen seien 13 Doppelerfassungen (Tabelle 1, 201,18 Euro), vier Aufwendungen, für die jeweils eine Beihilfe gezahlt worden sei (Tabelle 2, 104,37 Euro), sowie Aufwendungen für das fehlerhaft berücksichtigte homöopathische Präparat "Biolectra" (Tabelle 3, 9,80 Euro). Hinzuzusetzen seien die zuvor nicht erfassten Aufwendungen für Canesten und Effortil (Tabelle 4, 32,63 Euro). Nicht zu berücksichtigen sei weiterhin das Präparat "Alkala 'T'". Es sei unerheblich, ob der Kläger dies tatsächlich in einer Apotheke gekauft habe, weil es ausweislich der "Gelben Liste" nicht apothekenpflichtig sei. Die Gesamtbelastungsgrenze betrage bei der gebotenen Berücksichtigung der Bruttobezüge des Jahres 2014 (32.397,98 Euro) 361,99 Euro (200,00 Euro + 161,99 Euro). Die zustehende Nachzahlung, die sich aus der Differenz zwischen dem fraglichen Beihilfebetrag (529,66 Euro X 70 v. H. = 370,76 Euro) und der Gesamtbelastungsgrenze ergebe, betrage (nur noch) 8,77 Euro. Da der Kläger bereits 211,31 Euro erhalten habe, könne ihm keine weitere Beihilfe gezahlt werden; auf eine Rückforderung des überschießenden Betrages werde verzichtet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Hiergegen hat der Kläger am 16. Februar 2017 Klage erhoben. Zur Begründung hat er ergänzend vorgetragen: Das LBV NRW habe seinen Anspruch fehlerhaft berechnet. Richtig sei die klägerseitige Berechnungsweise, die sich an der Berechnungsformel des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (Urteil vom 26. April 2013 – 26 K 1337/12 –) orientiere und zu einem noch zu zahlenden Betrag von 2.414,68 Euro (2.625,99 Euro – 211, 31 Euro) gelange. Die Aufwendungen für das Präparat "Alkala 'T'" seien zu berücksichtigen, da Arzneimittel mit einer Zulassungsnummer nur in Apotheken verkauft werden dürften. Er falle unter die Chroniker-Richtlinie, da er ausweislich des Attestes seines Hausarztes vom 30. Oktober 2017 unter schwerwiegenden chronischen Erkrankungen leide. Hierfür spreche auch, dass er bereits im Alter von 47 Jahren aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt worden sei. Dass ein Härtefall vorliege, ergebe sich auch aus weiteren finanziellen Belastungen. Er habe nämlich bis 2004, 2007 bzw. 2009 Unterhalt für seine drei Töchter gezahlt und unterstütze bis heute auf freiwilliger Basis seine schwerbehinderte Tochter T. , die zusammen mit ihrem ebenfalls schwerbehinderten Ehemann Grundsicherung für Behinderte beziehe.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">das beklagte Land zu verpflichten, ihm über die durch Bescheid des LBV NRW vom 16. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2017 bereits bewilligte Beihilfe hinaus eine weitere Beihilfe in Höhe von 2.414,68 Euro zu bewilligen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">und zur Begründung ergänzend ausgeführt: Die Klage sei unbegründet. Das LBV NRW habe die dem Kläger für das Kalenderjahr 2014 nachträglich zu zahlende Beihilfe zutreffend auf der Grundlage des § 15 Abs. 3 bis 5 BVO NRW festgesetzt, mit dem der Verordnungsgeber der von dem Kläger angeführten Rechtsprechung hinreichend Rechnung getragen habe und der einen unmittelbaren Rückgriff auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn auch für Chroniker ausschließe. Im Ergebnis bleibe es dabei, dass dem Kläger auf sein Härtefallbegehren hin bereits zu viel Beihilfe bewilligt worden sei und der überschießende Betrag lediglich aus Billigkeitsgründen nicht zurückgefordert werde.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Bei der Berechnung der Belastungsgrenze sei nicht, wie im insoweit unbeachtlichen Widerspruchsbescheid geschehen, auf die Bruttoversorgungsbezüge des Jahres 2014 abzustellen, sondern auf die des Vorjahres der Aufwendungen (2013). Diese beliefen sich, wie im Ausgangsbescheid zutreffend zugrunde gelegt sei, auf 31.471,88 Euro. Nach Ziffer 15.1.4 VVzBVO NRW in der seit dem 24. November 2011 unveränderten Fassung bleibe ein "Versorgungsabschlag (‑ausgleich)" bei der Berechnung u. a. der Versorgungsbezüge unberücksichtigt; auszugehen sei danach "von der ungekürzten Brutto-Versorgung". Dies sei auch sachgerecht. Der Abzug des Versorgungsausgleichs erfolge nämlich nicht aufgrund einer speziellen beamtenrechtlichen Kürzungsvorschrift, sondern sei gesetzliche Folge einer Ehescheidung und damit eindeutig dem Bereich der privaten Lebensführung des Beamten zuzuordnen. Der Dienstherr müsse den Beamten aber nicht (indirekt) von solchen finanziellen Belastungen freistellen, die ihre Ursache allein in der Risiko- bzw. Verantwortungssphäre des Beamten hätten. Damit verbleibe es bei der im Ausgangsbescheid zugrunde gelegten Belastungsgrenze von 357,36 Euro. Dieser Belastungsgrenze stehe eine nicht gewährte Beihilfe (zu berücksichtigende Aufwendungen x 70 v. H.) von 484,93 Euro entgegen, wenn die Aufwendungen für das Präparat "Alkala 'T'" (165,90 Euro) in die Berechnung eingestellt würden. Es ergebe sich daher auch bei Einbeziehung der Aufwendungen für das Präparat "Alkala 'T'" ein zwar den Härtefalleigenanteil übersteigender, aber hinter dem bereits gezahlten und dem Kläger voll belassenen Betrag von 211,31 Euro zurückbleibender Betrag von 127,57 Euro. Zutreffend sei es allerdings, die Aufwendungen für das Präparat "Alkala 'T'" nicht zu berücksichtigen, weil sich aus einer – nie bestrittenen – Zulassung/Registrierung des Präparats als Arzneimittel nicht automatisch eine Apothekenpflicht ergebe, diese sich vielmehr nach dem Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln richte. In diesem Fall seien Aufwendungen i. H. v. 526,85 Euro (692,75 Euro abzüglich 165,90 Euro) und damit eine nicht gewährte Beihilfe i. H. v. 368,79 Euro zu berücksichtigen. Da dem die Gesamtbelastungsgrenze von 357,36 Euro gegenüberstehe, ergebe sich überhaupt nur ein – bereits übererfüllter – Anspruch i. H. v. 11,43 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger stehe ein Anspruch auch dann nicht zu, wenn (die Regelungen nach § 13 Abs. 3 bis 5 BVO NRW im Lichte der vor Einführung dieser Norm ergangenen Rechtsprechung für rechtswidrig gehalten würden und daher weiterhin) von einer Belastungsgrenze von 2 Prozent der Vorjahresbezüge auszugehen wäre, bei der als Belastungen auch die Kostendämpfungspauschale und die Eigenbehalte i. S. V. § 15 Abs. 1 BVO NRW einbezogen würden. Der in diesem Fall anzunehmenden Gesamtbelastung von 547,56 Euro (357,36 Euro zuzüglich der sich nach dem Beihilfebescheid vom 22. Januar 2015 ergebenden Belastungen i. H. v. 190,20 Euro) stünde nämlich eine Belastungsgrenze von 629,43 Euro gegenüber. Eine (einheitliche) Belastungsgrenze von einem Prozent des Vorjahresbruttobezüge bestehe hier nicht. Sie ergebe sich schon nicht zwingend aus den von dem Kläger angeführten Entscheidungen. So habe der Senat in seinem Urteil vom 12. September 2014 – 1 A 1602/13 – ausgeführt, dass es einer möglichen Absenkung der Belastungsgrenze von 2 Prozent der Vorjahresbruttobezüge für die Kostendämpfungspauschale und gewisse Eigenbehalte im Ergebnis entspreche, wenn der absolute Wert von 2 Prozent unverändert bleibe, zu seiner Berechnung aber weitere Parameter hinzugezogen würden. Bei einer Härtefallberechnung nach den Regeln, die das Verwaltungsgericht Düsseldorf und der Senat vor Aufnahme der Absätze 3 bis 5 in den § 15 BVO NRW aufgestellt hätten, würde die Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 1 BVO NRW mithin schon durch den bloßen Einbezug der (Aufwendungen für die) apothekenpflichtigen, nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel im Ergebnis (hinreichend) abgesenkt. Die Regelungen des § 62 SGB V i. V. m. der "Richtlinie zur Umsetzung der Regelungen in § 62 für schwerwiegend chronisch Erkrankte" ("Chroniker-Richtlinie") seien nicht auf die einschlägigen beihilferechtlichen Vorschriften übertragbar. Ihnen liege nämlich ein gänzlich anderes Regelwerk zugrunde, weshalb ihre Heranziehung für das nordrhein-westfälische Beihilferecht das eigenständig ausgeübte Regelungsermessen des nordrhein-westfälischen Verordnungsgebers unterlaufen würde. Dieses Instrumentarium der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) betreffe nämlich nur Zuzahlungen zu <span style="text-decoration:underline">verschreibungspflichtigen</span> Arzneimitteln und lege für die Belastungsgrenze außerdem die Einnahmen des Jahres der Aufwendungen und nicht die typischerweise niedrigeren Einnahmen des Vorjahres zugrunde. Nicht auf diesem Wege anrechnungsfähig seien hingegen die Kosten <span style="text-decoration:underline">nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel</span>, die vorbehaltlich der Ausnahmetatbestände der Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung – AM-RL – grundsätzlich nicht zu Lasten der GKV erbracht werden dürften. Ebenso wenig könne hier die für Chroniker geltende Vorschrift des § 50 Bundesbeihilfeverordnung herangezogen werden, die ebenfalls ein abweichendes Regelwerk etabliere.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Durch das angefochtene, nach entsprechenden Verzichtserklärungen der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat das Verwaltungsgericht den Beklagten zur Gewährung einer weiteren Beihilfe i. H. v. 45,23 Euro verpflichtet und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es im Kern ausgeführt: Der zugesprochene Anspruch folge unmittelbar aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Der Kläger habe einen Härtefallanspruch auf Bewilligung von Beihilfe zu den ihm im Jahr 2014 entstandenen Aufwendungen für ärztlich verordnete nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel, soweit diese mit der Kostendämpfungspauschale und anderen Selbstbehalten die für ihn maßgebliche Belastungsgrenze überschreiten. Diese mache hier 1 Prozent der Vorjahresbruttobezüge aus, weil der Kläger nach der fachärztlichen Bescheinigung vom 30. Oktober 2017 "zweifelsfrei" "Chroniker" i. S. d. § 2 Abs. 2 lit. c) der Chroniker-Richtlinie sei.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der – vorbehaltlich der Ausnahmeregelungen des § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 4 bis 7 der Beihilfenverordnung NRW in der 2014 geltenden Fassung (BVO NRW) geltende – Ausschluss der Beihilfefähigkeit auch notwendiger und angemessener Aufwendungen für nichtverschreibungspflichtige apothekenpflichtige und nicht apothekenpflichtige Arzneimittel für Erwachsene nach § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Nr. 2, Satz 2 und 3 BVO NRW widerspreche zwar grundsätzlich nicht höherrangigem Recht und namentlich nicht dem Fürsorgegrundsatz. Letzterer gebiete nach dem Senatsurteil vom 12. September 2014 – 1 A 1602/13 – aber, dass der Dienstherr normative Vorkehrungen treffe, damit dem Beamten nicht im Einzelfall erhebliche, mit Blick auf die Höhe der Alimentation nicht mehr zumutbare Aufwendungen verblieben; dies könne etwa bei chronischen Erkrankungen der Fall sein, wenn deren Behandlung die Einnahme nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel erfordere. Es bedürfe daher einer normativen, nach abstrakt-generellen Kriterien bestimmten Härtefallregelung, die die von der Beihilfe nicht getragenen notwendigen und angemessenen Kosten in ihrer Gesamtheit erfasse und der Höhe nach begrenze. Diesen Vorgaben werde das Regelungsgefüge, das die ab dem 1. Januar 2010 geltende Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 1 BVO NRW und die mit Wirkung vom 1. Januar 2015 eingeführte, schon für Belastungen im Kalenderjahr 2014 geltende eigenständige Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 3 bis 5 BVO NRW umfasse, nicht hinreichend gerecht. Dies führe zur Rechtswidrigkeit des § 15 BVO NRW. Zu beanstanden sei schon, dass der Normgeber keine einheitliche, alle Belastungen erfassende Belastungsgrenze geschaffen habe, deren absolute Obergrenze – unabhängig von der Frage einer niedrigeren Obergrenze für "Chroniker" – jedenfalls bei 2 Prozent der Bruttovorjahresbezüge erreicht sei. Unabhängig davon, ob die Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 3 und 4 BVO NRW aus dem Sockelbetrag von 200 Euro zuzüglich des 0,5 Prozent-Betrages bestehe oder sich nach Letzterem bemesse, aber mindestens 200 Euro betragen müsse, werde die Obergrenze (2 Prozent nach § 15 Abs. 1 BVO NRW zuzüglich einer mindestens 0,5 Prozent betragenden Belastung nach § 15 Abs. 3 bis 5 BVO NRW) überschritten. Zudem komme es wegen der einkommensunabhängigen Komponente zu einer die Bezieher geringerer Bezüge höher belastenden und damit sozial ungerechten Staffelung. Hinzu trete, dass § 15 BVO NRW fürsorgepflichtwidrig keine auf 1 Prozent herabgesetzte Belastungsgrenze für "Chroniker" vorsehe, die typischerweise Jahr für Jahr vorhersehbar mit erheblichen Krankheitskosten belastet seien und daher nicht im gleichen Maße wie "Nicht-Chroniker" Rücklagen für Krankheitsfälle bilden könnten. Die Rechtswidrigkeit des § 15 BVO NRW berühre, wie das Verwaltungsgericht Münster in seinem Urteil vom 22. Februar 2017 – 5 K 1046/16 –, juris, Rn. 24 ff., zutreffend dargelegt habe, nicht die Wirksamkeit des grundsätzlichen Beihilfeausschlusses für nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel im Jahr 2014. Dieser sei in den allermeisten Fällen nicht zu beanstanden. Härtefällen könne zumindest für eine Übergangszeit zulässigerweise durch Herleitung von Ansprüchen unmittelbar aus der Fürsorgepflicht Rechnung getragen werden.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch des Klägers belaufe sich auf den tenorierten Betrag von 45,23 Euro. Die berücksichtigungsfähigen Aufwendungen (571,26 Euro) überstiegen die Belastungsgrenze (314,72 Euro) um 256,54 Euro. Der Beklagte habe bislang lediglich 211,31 Euro geleistet. Hinsichtlich der zu berücksichtigenden Aufwendungen gelte Folgendes: Nicht zu berücksichtigen seien zunächst die Aufwendungen für nicht apothekenpflichtige Arzneimittel, zu denen das hier in Rede stehende Präparat "Alkala 'T'" nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Anlage 1 (gemeint: 1a) der Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimitten (AMVerkRV) zähle. Ferner hätten auch sämtliche Aufwendungen für Arzneimittel und Medizinprodukte der besonderen Therapierichtungen unberücksichtigt zu bleiben, weil der Ausschluss derartiger Aufwendungen von der Beihilfefähigkeit nach § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 5 BVO NRW sich beanstandungsfrei auch auf einen unmittelbar aus der Fürsorgepflicht herzuleitenden Beihilfeanspruch erstrecke. Nicht zu berücksichtigen seien schließlich die Aufwendungen des Klägers für die – nicht von § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 1 BVO NRW erfassten – Medizinprodukte und für die von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossenen diätetischen Lebensmittel (§ 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 6 BVO NRW i. V. m. Anlage 2 Nr. 7 lit a) zur BVO NRW). Bei Beachtung dieser Maßgaben verblieben berücksichtigungsfähige Aufwendungen i. H. v. 544,65 Euro und nach Anwendung des Bemessungssatzes von 70 v. H. eine nicht gewährte Beihilfe i. H. v. 381,26 Euro. Hinzuzusetzen sei die für 2014 bestandskräftig festgesetzte Kostendämpfungspauschale von 190,00 Euro, so dass sich insgesamt ein Betrag von 571,26 Euro ergebe. Hinsichtlich der Ermittlung der für den Kläger 2014 geltenden Belastungsgrenze sei auf dessen Vorjahresbruttobezüge vor Abzug der Kürzungen wegen des Versorgungsausgleichs abzustellen. Art. 33 Abs. 5 GG erfordere nämlich keine weitere Alimentation, wenn die Ursache dafür, dass der amtsangemessene Lebensunterhalt nicht gewährleistet sei, in der Sphäre des Beamten selbst liege, wie es vorliegend mit der Kürzung der Versorgungsbezüge nach § 57 BeamtVG der Fall sei. Seien mithin als Bruttoversorgungsbezüge des Klägers im Jahr 2013 31.471,88 Euro anzusetzen, so betrage die Belastungsgrenze (aufgerundet) 314,72 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Ein höherer Härtefallanspruch folge nicht aus den geltend gemachten besonderen familiären Umständen des Klägers. Dabei könne offen bleiben, ob individuelle familiäre Umstände überhaupt geeignet sein könnten, einen höheren Härtefallanspruch auszulösen. Aus Unterhaltsleistungen, die freiwillig erfolgten und daher zugunsten von Ausgaben für Medikamente aufgegeben werden könnten, ergäben sich nämlich jedenfalls keine beachtlichen Umstände des Einzelfalls.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Gegen das den Beteiligten jeweils am 18. Juni 2020 zugestellte Urteil haben der Beklagte am 8. Juli 2020 und der Kläger am 15. Juli 2020 Berufung eingelegt.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seiner Berufung macht der Kläger über sein bisheriges Vorbringen hinausgehend geltend: Ihm stehe neben dem zugesprochenen Betrag noch eine weitere Beihilfe i. H. v. 2.369,45 Euro (2.414,68 Euro – 45,23 Euro) zu. Das Verwaltungsgericht hätte richtigerweise annehmen müssen, dass die– zutreffend festgestellte – Rechtswidrigkeit des § 15 BVO NRW zur Unwirksamkeit des § 4 BVO NRW führe, ein grundsätzlicher Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel im Jahr 2014 daher nicht bestehe und folglich alle hier geltend gemachten Aufwendungen zu berücksichtigen seien. Es fehle vorliegend nämlich genauso an einer einheitlichen abstrakt-generellen Härtefallregelung wie in dem – daher vergleichbaren - Fall, in dem der Senat den Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in der damals geltenden Bundesbeihilfeverordnung für unwirksam erklärt habe, weil der damalige Verordnungsgeber es bewusst unterlassen habe, (den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts zu folgen und) eine abstrakt-generelle Härtefallregelung zu schaffen. Unrichtig sei ferner die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Bruttoversorgungsbezüge 2013 mit 31.471,88 Euro anzusetzen, weil er die Kürzungsbeträge nie erhalten habe. Dem entspreche es, dass die Besoldungsmitteilungen als "Gesamtbrutto" erst den Betrag bezeichneten, der sich nach Abzug des Betrags für den Versorgungsausgleich von dem Ruhegehalt ergebe, und dass auch die Einkommensteuer nach dem entsprechenden Jahresbetrag berechnet werde. Sähe man dies anders, so würden geschiedene Ehemänner benachteiligt. Eine erhebliche finanzielle Belastung resultiere auch aus seiner frühen Zurruhesetzung und den daher geringen Versorgungsbezügen. Der Härtefallanspruch sei ferner noch deshalb zu erhöhen, weil er sich moralisch verpflichtet fühle, seine schwerbehinderte Tochter, die den täglichen Bedarf des Lebens nicht mit der geleisteten Grundsicherung decken könne, zu unterstützen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">den Beklagten unter Änderung des angefochtenen Urteils zu verpflichten, ihm – dem Kläger – über die durch den Bescheid des LBV NRW vom 16. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2017 bereits bewilligte Beihilfe hinaus eine weitere Beihilfe i. H. v. 2.369,45 Euro zu bewilligen, sowie die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">unter Änderung des angefochtenen Urteils die Klage auch insoweit abzuweisen, als er verpflichtet worden ist, dem Kläger eine weitere Beihilfe i. H. v. 45,23 Euro zu gewähren, und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen vor: Mit seiner Ansicht, § 15 BVO NRW treffe die gebotenen Vorkehrungen für Härtefälle nicht hinreichend und verstoße daher gegen den Fürsorgegrundsatz, verkenne das Verwaltungsgericht das komplexe "System" zur Erstattung von Aufwendungen für Arzneimittel, das bereits 2007 den Regelungen für die GKV angeglichen worden sei. Danach seien zunächst grundsätzlich alle zugelassenen verschreibungspflichtigen Arzneimittel beihilfefähig. Zwar seien Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel und Medizinprodukte grundsätzlich nicht beihilfefähig; aufgrund der Ausnahmeregelungen des § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 4 BVO NRW, der zu dem dortigen Fall 1 bestehenden Praxis des Finanzministeriums und der zu Fall 2 getroffenen Regelung in der Anlage 2 zur BVO NRW seien im Ergebnis aber alle medizinisch notwendigen Arzneimittel originär beihilfefähig. Arzneimittel, die medizinisch nicht notwendig seien, seien im Rahmen der Belastungsgrenze nicht einzubeziehen. Dem entspreche es, dass der Senat in seinem Urteil vom 9. April 2019 – 1 A 208/17 – entschieden habe, dass Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen nicht im Rahmen der Belastungsgrenze berücksichtigt werden müssten. Vor diesem Hintergrund sei auch die Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht nachvollziehbar, es bedürfe zwingend einer einheitlichen – für alle Selbstbehalte des § 15 BVO NRW zusammen geltenden – Obergrenze von 2 Prozent der Bruttobezüge des Vorjahres. Ein solches Zusammenfassen verbleibender Belastungen wegen nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel mit anderen Selbstbehalten wie der Kostendämpfungspauschale und Selbstbehalten im Rahmen von stationären Klinikaufenthalten und für zahntechnische Leistungen sei vielmehr nicht sachgerecht. Die Forderung nach einer einheitlichen Belastungsgrenze setze sich nämlich darüber hinweg, dass die Kostenarten "im Grundsatz beihilfefähig" und "im Grundsatz nicht beihilfefähig" nach dem Regelwerk der Beihilfenverordnung NRW strikt voneinander zu trennen seien. Während für erstere die (allgemeine) Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 1 BVO NRW bestehe, gebe es für letztere die (spezielle) Belastungsgrenze des § 15 Abs. 3 BVO NRW. Fehlerhaft sei auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, für "Chroniker" habe in Anwendung der "Chroniker-Richtlinie" beihilferechtlich eine Belastungsgrenze von 1 Prozent der Vorjahresbruttobezüge zu gelten. Die einschlägige, der "Chroniker-Richtlinie" zugrunde liegende Regelung des § 62 SGB V könne nämlich nicht auf die in Rede stehenden Beihilfevorschriften des Landes übertragen werden. Nach § 62 SGB V seien die Zuzahlungen, die die GKV-Versicherten grundsätzlich (u. a.) zu den zu Lasten der GKV verordneten Arzneimitteln zu leisten hätten, im Rest des Kalenderjahres nicht mehr zu leisten, wenn die Belastungsgrenze bereits innerhalb eines Kalenderjahres erreicht werde, wobei diese Belastungsgrenze für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, 1 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt betrage. Auch für "Chroniker" nicht anrechnungsfähig seien aber Kosten für gesetzlich von der Verordnung ausgeschlossene Leistungen, die nicht zu Lasten der GKV erbracht werden dürften. Da zu diesen u. a. auch die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel zählten, würden die von dem Kläger im Rahmen der Belastungsgrenze geltend gemachten nur apothekenpflichtigen Arzneimittel gerade nicht bei der "Chroniker-Regelung" nach § 62 SGB V berücksichtigt. Das Präparat "Alkala 'T'" werde traditionell als mild wirkendes Arzneimittel gegen Sodbrennen und Magenbeschwerden eingenommen. Als solches sei es auch nach Ziffer 4.1.7.5 (zu § 4 BVO NRW) VVzBVO nicht beihilfefähig. Ein höherer Härtefallanspruch ergebe sich auch nicht aus der finanziellen Unterstützung der Tochter des Klägers, die bereits durch die Grundsicherung, bei der auch etwaige Mehrbedarf berücksichtigt würden, ausreichend alimentiert sei.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 24. Juni 2022 sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und durch den Berichterstatter anstelle des Senats erklärt; die entsprechende schriftsätzliche Erklärung des Klägers datiert vom 8. Juni 2022.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (1 Heft) Bezug genommen. Das betrifft namentlich die von dem Beklagten mit Schriftsatz vom 10. Juli 2017 vorgelegte siebenseitige Liste sämtlicher Aufwendungen des Klägers für verordnete nicht verschreibungspflichtige Präparate im Jahr 2014, in der angegeben ist, ob die die Präparate einer besonderen Thera-pierichtung (Homöopathie, Phytotherapie oder Anthroposophie) zuzuordnen sind, Medizinprodukte darstellen oder apothekenpflichtig sind.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe</span></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung (§§ 87a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2, 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Berufung des Beklagten hat Erfolg, die Berufung des Klägers war zurückzuweisen. Die Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von weiterer Beihilfe für Aufwendungen aus dem Jahr 2014 weder auf der Grundlage des § 15 der Verordnung über Beihilfen in Geburts-, Krankheits-, Pflege- und Todesfällen (Beihilfenverordnung NRW – BVO NRW) vom 5. November 2009 in der Fassung der Fünften Verordnung zur Änderung der Beihilfenverordnung NRW vom 10. Dezember 2014, GV. NRW. S. 889 (im Folgenden: BVO NRW) zu (dazu I.) noch ergibt sich ein solcher Anspruch unmittelbar aus dem Fürsorgegrundsatz (dazu II.). Der Bescheid des LBV NRW vom 16. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2017 ist, soweit danach eine höhere Beihilfeleistung versagt wird, rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">I. Der Kläger kann den Anspruch nicht mit Erfolg auf § 15 Abs. 3 bis 5 BVO NRW stützen. Diese mit der Fünften Änderungsverordnung in die BVO NRW eingefügte, bis zum Ablauf des 31. Dezember 2015 unverändert gebliebene (vgl. Art. 1 Nr. 21, Art. 4 der Sechsten Verordnung zur Änderung der Beihilfenverordnung NRW vom 1. Dezember 2015, GV. NRW. S. 844) Regelung ist hier anzuwenden, weil sie nach Art. 2 Satz 2 dieser Änderungsverordnung ausdrücklich bereits für Aufwendungen gilt, die nach dem 31. Dezember 2013 entstanden sind, und damit auch die hier in Rede stehenden Aufwendungen aus dem Jahr 2014 erfasst.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BVO NRW werden ab dem Kalenderjahr 2014 auf Antrag des Beihilfeberechtigten nachträglich Beihilfen zu Aufwendungen für verordnete nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel gezahlt, soweit die im Grundsatz nicht beihilfefähigen Aufwendungen nach § 4 Absatz 1 Nummer 7 Satz 2 Nummer 2 BVO NRW – das sind Aufwendungen für nichtverschreibungspflichtige apothekenpflichtige und nicht apothekenpflichtige Arzneimittel – im Kalenderjahr den Betrag von 200 Euro (nicht berücksichtigungsfähiger Eigenbehalt) und die Belastungsgrenze nach Absatz 4 überschritten haben. Letztere beträgt 0,5 Prozent der Bruttojahresdienstbezüge oder Bruttojahresversorgungsbezüge nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen (Belastungsgrenze) des Beihilfeberechtigten (§ 15 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 BVO NRW), wobei für die Feststellung der Belastungsgrenze die jährlichen Bruttobezüge des vorangegangenen Kalenderjahres maßgebend sind (§ 15 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 BVO NRW). Die Aufwendungen nach Absatz 3 und 4 sind zum entsprechenden Bemessungssatz nach § 12 BVO NRW zu berücksichtigen (§ 15 Abs. 5 BVO NRW). Bei der Ermittlung, ob die Belastungsgrenze überschritten ist, nicht berücksichtigungsfähig sind Aufwendungen für Arzneimittel und Medizinprodukte der besonderen Therapierichtungen (§ 4 Absatz 1 Nummer 7 Satz 5) bei Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, sowie Aufwendungen, die nach Anlage 2 Nummer 7 ausgeschlossen sind (§ 15 Abs. 3 Satz 2 BVO NRW). Der Antrag des Beihilfeberechtigten kann frühestens nach Ablauf des Kalenderjahres und muss spätestens bis zum Ablauf des Jahres gestellt werden, das auf das Jahr folgt, in dem die Aufwendungen entstanden sind (§ 15 Abs. 3 Satz 3 BVO NRW).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat mit seinem Antrag vom 22. Oktober 2015, der nach der entsprechenden Angabe im Bescheid vom 16. November 2015 (jedenfalls) "am 16.11.2015" bei dem LBV NRW eingegangen ist, zwar die Antragsfrist des § 15 Abs. 3 Satz 3 BVO NRW und damit das bestehende formelle Erfordernis gewahrt. Der Antrag ist aber auf der Grundlage des § 15 Abs. 3 Satz 1, 2, Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 BVO NRW nicht begründet. Dem Kläger steht gemessen an diesen Vorschriften kein (weiterer) Härtefallanspruch für das Jahr 2014 zu, weil die nach Anwendung des einschlägigen Bemessungssatzes berücksichtigungsfähigen Aufwendungen i. H. v. 381,32 Euro (dazu nachfolgend 1. und 2.) zwar die die Gesamtbelastungsgrenze (§ 15 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 BVO NRW) i. H. v. 357,36 Euro (dazu nachfolgend 3.) um 23,96 Euro übersteigen, einem danach grundsätzlich i. H. v. 23,96 Euro gegebenen Anspruch aber entgegen steht, dass der Beklagte dem Kläger bereits einen Betrag i. H. v. 211,31 Euro als Härtefallleistung bewilligt und gezahlt hat (dazu nachfolgend 4.).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">1. Die nach § 15 Abs. 3 Satz 1 und 2 BVO NRW zunächst zu ermittelnden berücksichtigungsfähigen Aufwendungen des Klägers aus dem Jahr 2014, für die nach den bestandskräftigen Beihilfebescheiden seinerzeit keine Beihilfe gewährt wurde, belaufen sich in Auswertung der Auflistung vom 6. Juli 2017, die der Beklagte mit Schriftsatz vom 10. Juli 2017 vorgelegt hat, insgesamt auf (lediglich) <strong>544,74 Euro</strong>. Nicht zu berücksichtigen sind die dem Kläger entstandenen, in dieser Auflistung aufgeführten Aufwendungen für Arzneimittel und Präparate der besonderen Therapierichtungen (dazu nachfolgend a)), für die Medizinprodukte "Kijimea Reizdarm Kapseln" und "Luvos Heilerde Kapseln" (dazu nachfolgend b)), für das Arzneimittel "Alkala 'T'" (dazu nachfolgend c)) und für das Nahrungsergänzungsmittel "Biolectra Magnesium 300" (dazu nachfolgenden d)).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">a) Nicht berücksichtigungsfähig sind zunächst die Arzneimittel und Medizinprodukte, die unter die Ausschlussregelung des § 15 Abs. 3 Satz 2 BVO NRW fallen. Das sind bei Personen, die – wie der Kläger – das 18. Lebensjahr vollendet haben, Aufwendungen für Arzneimittel und Medizinprodukte der besonderen Therapierichtungen (§ 4 Absatz 1 Nummer 7 Satz 5 BVO NRW). Solche Aufwendungen liegen hier insoweit vor, als die aufgelisteten Arzneimittel nach den Angaben des Beklagten, die der Kläger nicht in Zweifel gezogen hat, der Homöopathie, der Phytotherapie oder der Anthroposophie zuzuordnen sind.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">aa) Hinsichtlich des Begriffs der „besonderen Therapierichtungen“ verweist § 15 Abs. 3 Satz 2 BVO NRW ausdrücklich auf § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 5 BVO NRW. Diese Vorschrift bestimmt bezogen auf die Rückausnahme nach § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 4 BVO NRW, die der Verordnungsgeber zu dem grundsätzlichen Ausschluss der Beihilfefähigkeit der Aufwendungen gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 BVO NRW vorgesehen hat, dass diese nicht gilt für Arzneimittel und Medizinprodukte der besonderen Therapierichtungen. Unter einer „besonderen Therapierichtung im Sinne dieser Regelung ist dabei das umfassende, zur Behandlung verschiedenster Erkrankungen bestimmte therapeutische Konzept zu verstehen, das auf der Grundlage eines von der naturwissenschaftlich geprägten „Schulmedizin“ sich abgrenzenden, weltanschaulichen Denkansatzes größere Teile der Ärzteschaft und weite Bevölkerungskreise für sich eingenommen hat. Zu diesen Therapierichtungen sind – wie sich aus § 34 Abs. 3 Satz 2 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) ergibt – jedenfalls die Homöopathie, Anthroposophie und Phytotherapie zu zählen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 9. April 2019– 1 A 208/17 –, juris, Rn. 29 f., m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Grund für die Ausschlussregelung in § 15 Abs. 3 Satz 2 BVO NRW wie auch in § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 5 BVO NRW ist, dass der klinische Nutzen bzw. die Wirksamkeit der Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen generell nicht im Sinne evidenzbasierter Medizin hinreichend belegt ist. Vor diesem Hintergrund verstößt es nicht gegen die Fürsorgepflicht des Dienstherrn und ist auch sonst nicht zu beanstanden, dass der Verordnungsgeber hinsichtlich dieser Arzneimittel (auch) bei der Regelung der besonderen Belastungsgrenze davon ausgegangen ist, dass eine medizinische Notwendigkeit einer Behandlung mit diesen Arzneimitteln ungeachtet einer abweichenden Einschätzung des verordnenden Arztes objektiv generell nicht gegeben ist.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 9. April 2019– 1 A 208/17 –, juris, Rn. 31 bis 34, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">bb) Der Beklagte hat in der Auflistung vom 6. Juli 2017 eine Zugehörigkeit von Arzneimitteln zu (mindestens) einer der drei besonderen Therapierichtungen der Homöopathie, der Anthroposophie oder der Phytotherapie dadurch kenntlich gemacht, dass er in der Spalte "bes. Fachrichtung" den Vermerk "Ja" gesetzt hat. Dass diese Zuordnung fehlerhaft sein könnte, macht der Kläger nicht geltend und ist auch sonst nicht erkennbar.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">b) Nicht zu berücksichtigen sind ferner die in der Auflistung wiederholt enthaltenen Medizinprodukte "Kijimea Reizdarm Kapseln" und "Luvos Heilerde Kapseln". Das ergibt sich zwar nicht schon aus einer ausdrücklichen Ausschlussregelung in § 15 BVO NRW. Es folgt aber ungeachtet dessen, dass § 15 Abs. 3 Satz 1 BVO NRW nach seinem Wortlaut nur (verordnete nicht verschreibungspflichtige) Arzneimittel betrifft, (jedenfalls) daraus, dass der Verordnungsgeber diese beiden Medizinprodukte generell als nicht beihilfefähig eingestuft hat und diese Einstufung gerade auf der beanstandungsfreien Erwägung beruht, dass es insoweit an einer Feststellung ihrer medizinischen Notwendigkeit fehlt. Diese Erwägung schlägt auch auf Härtefallansprüche durch.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Nach § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 1 BVO NRW umfassen die beihilfefähigen Aufwendungen u. a. die Kosten für die von den Behandlern nach Nr. 1 – also u. a. auch von Ärzten – nach Art und Umfang schriftlich verordneten Stoffe und Zubereitungen von Stoffen, die als Medizinprodukte nach § 3 Nr. 1 und 2 des Medizinproduktegesetzes in der jeweils aktuellen Fassung zur Anwendung im menschlichen Körper bestimmt und nach Anlage V der Arzneimittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach den dort genannten Maßgaben zur Verordnung zugelassen sind. Zu einer Zulassung der in Rede stehenden beiden Medizinprodukte, die nach §§ 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V, 27 Abs. 1 Satz 2, 29 Arzneimittel-Richtlinie eine medizinische Notwendigkeit verlangt, ist es aber ausweislich der Anlage V zum Abschnitt J der Arzneimittel-Richtlinie (Übersicht über die verordnungsfähigen Medizinprodukte) in der aktuellen Version sowie in den seit dem 30. November 2013 ergangenen Vorgängerversionen bislang nicht gekommen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Das ist, wie nur ergänzend ausgeführt werden soll, auch ohne weiteres nachvollziehbar.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Bei "Luvos Heilerde" handelt es sich nach der Packungsbeilage (lediglich) um ein "traditionell angewendetes, mild wirkendes Arzneimittel, das als mineralisches Magen-Darm-Mittel" bei "Sodbrennen und säurebedingten Magenbeschwerden" verwendet wird. Zudem sind, wie von unabhängiger Seite publiziert wurde, die positiven Effekte von Heilerde fraglich, gibt es für die Anwendungsgebiete keine seriösen Studien und sind Neben- und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten außerdem offenkundig.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. Dr. Bruhn, Heilerde – kritisch betrachtet, in: DAZ.online, 31. Januar 2016, und Matus, Heilerde: So wirkt das "Wundermittel" der Natur, in: FOCUS-Online, 4. Juni 2018, jeweils abgerufen am 10. Juni 2022.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Zu einem Präparat mit dem Lebendkeim "Bifidobacterium bifidum MIMBb75", der auch in dem Medizinprodukt "Kijimea Reizdarm" verwendet wird (vgl. die Packungsbeilage von "Kijimea Reizdarm"), gibt es lediglich eine kleine, insgesamt 122 Patienten umfassende Studie.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">S. Guglielmetti/ d. Mora/ M. Gschwender/K. Popp, Randomised clinical trial: Bifidobacterium bifidum MIMBb75 significantly alleviates irritable bowel syndrome and improves quality of life – a double blind, placebo-controlled study, in: Alimentary Pharmacology and Therapeutics 2011; 33: 1123 – 1132.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Diese Studie hat zwar gezeigt, dass das Präparat im Vergleich zu Placebo wirksamer zur Behandlung der globalen Symtomscores und Verbesserung der Lebensqualität ist und auch bei den typischen Einzelsymptomen des Reizdarmsyndroms Schmerzen, Blähungen und Stuhlunregelmäßigkeiten überlegen war.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. die Wiedergabe in: Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie. Gemeinsame Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) Juni 2021– AWMF-Registriernummer: 021/016, S. 1367.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Diese Studie wurde aber nicht nur von interessierter Seite, nämlich durch die "Naturwohl Pharma GmbH, München" finanziert ("Acknowledgements, S. 1131), die wohl jedenfalls bis zum Jahr 2015 zu derselben Unternehmensgruppe wie das "Kijimea Reizdarm" herstellende Unternehmen "Dr. Fischer Gesundheitsprodukte" gehörte.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu "Perrigo kauft Yokebe", in: Apotheke adhoc, 22. Juli 2015, abgerufen unter www.apotheke-adhoc.de am 13. Juni 2022, sowie das Interview mit Dr. Clemens Fischer, "Zweite Stufe des Marketing-Konzeptes zünden", in: Merkur.de vom 21. Januar 2016, abgerufen unter www.merkur.de am 10. Juni 2022; ferner "Jäger der verlorenen Schätze", in: ApoRisk vom 9. Oktober 2015 ("Dr. Clemens Fischer hat in den vergangenen Jahren mit Naturwohl und Dr. Fischer Gesundheitsprodukte gleich zwei Hersteller aus dem Boden gestampft"), abgerufen unter https://aporisk.de/apotheker-nachrich-ten-markt-43627.html am 13. Juni 2022.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Sie ist auch nur von begrenzter Aussagekraft, weil sie relativ klein und kurz war und nicht durch weitere Studien bestätigt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. arznei-telegramm 2018; 49:85, publiziert am 19. Oktober 2018 und unter www.arznei-telegramm.de abgerufen am 10. Juni 2022.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Eine entsprechende Bewertung enthält auch die bereits zitierte S3-Leitlinie. Zusammenfassend wird dort nämlich auch bezogen auf Präparate mit dem Lebendkeim "Bifidobacterium bifidum MIMBb75" festgehalten, dass die Studienlage keine solide Voraussage dazu erlaube, ob im Einzelfall ein gegebenes Präparat bei einem individuellen Patienten überhaupt anspreche, ggf. in welchem Ausmaß, und für welches Symptom. Dem entspricht es, dass nach dieser Leitlinie zu Präbiotika in der Behandlung des Reizdarmsyndroms keine Empfehlung abgegeben werden kann (Leitlinie, S. 1368).</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">c) Ebenfalls außer Betracht zu bleiben haben die Aufwendungen des Klägers für das Arzneimittel "Alkala 'T'". Der Ausschluss ergibt sich aus dem Umstand, dass dieses Arzneimittel, wie der Beklagte in der Auflistung zutreffend festgehalten hat, nicht apothekenpflichtig ist. Solche Arzneimittel sind nämlich, wie sich im Umkehrschluss aus § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 1 BVO NRW ergibt, schon generell nicht beihilfefähig, ohne dass dies unter Fürsorgegesichtspunkten zu beanstanden ist, weil das Fehlen einer Apothekenpflicht indiziert, dass das Verabreichen des betroffenen Arzneimittels nicht medizinisch notwendig, sondern der Gesundheit (allenfalls) sonst förderlich ist. Dieser systematischen und teleologischen Erwägung kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, verordnete nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel i. S. d. § 15 Abs. 3 Satz 1 BVO seien wegen des Verweises der Norm auf "die im Grundsatz nicht beihilfefähigen Aufwendungen nach § 4 Abs. 1 Nummer 7 Satz 2 Nummer 2" BVO NRW auch die dort ausdrücklich genannten nicht apothekenpflichtigen Arzneimittel.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">In diesem Sinne wohl VG Minden, Urteil vom 14. April 2016 – 4 K 2320/14 –, juris, Rn. 72.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Es ist nämlich nicht erkennbar, dass der Normgeber des § 15 Abs. 3 Satz 1 BVO NRW die Absicht gehabt haben könnte, im Bereich des Härtefallanspruchs über die dargestellte, in § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Nr. 2 BVO NRW nur noch einmal bekräftigte Grundentscheidung des § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 1 BVO NRW hinauszugehen, nach der nicht apothekenpflichtige Arzneimittel generell nicht beihilfefähig sind.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Dass das Arzneimittel "Alkala 'T'" nicht apothekenpflichtig ist, ergibt sich aus den einschlägigen Regelungen der Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel in der Fassung vom 28. September 1993, BGBl. I S. 1671 (AMVerkRV). Nach § 1 Abs. 1 AMVerkRV werden die in den Nr. 1 bis 3 dieser Vorschrift aufgeführten Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 des Arzneimittelgesetzes, die dazu bestimmt sind, zur Beseitigung oder Linderung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden zu dienen, für den Verkehr außerhalb der Apotheken freigegeben. Hierzu gehören nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 1 AMVerkRV Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen sowie Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Arzneimittelgesetzes, die in der Anlage 1a zu dieser Verordnung bezeichnet sind, nach näherer Bestimmung dieser Anlage. Nach der Anlage 1a in ihrer hier maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2014 geltenden Fassung vom 21. Februar 2011 freigegeben ist u. a. auch "Natriumhydrogencarbonat, als Tabletten, Granulat oder in Kapseln auch mit Zusatz arzneilich nicht wirksamer Stoffe oder Zubereitungen als Fertigarzneimittel". Dieser (im Übrigen bis heute unveränderten) Regelung unterfällt das Arzneimittel "Alkala 'T'" Tabletten. Nach der von dem Hersteller des Präparats ausgegebenen Gebrauchsinformation, die der Kläger als Anlage zu seinem Schriftsatz vom 10. Mai 2017 vorgelegt hat, enthält eine Tablette "Alkala 'T'" nämlich als einzigen arzneilich wirksamen Bestandteil 1 g Natriumhydrogencarbonat.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Ebenso die Punkte 2. und 6.1 der Fachinformation zu "Alkala® 'T' Tabletten", die in der sog. "Roten Liste" (www.rote-liste.de) über den dortigen blauen Button "FS" abrufbar ist.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Dass das Präparat frei verkäuflich ist, ergibt sich im Übrigen auch aus der genannten Fachinformation (Punkt 11., "Verkaufsabgrenzung").</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Die Bewertung, dass eine Verabreichung von "Alkala 'T'" (allenfalls) medizinisch nützlich, aber nicht notwendig ist, wird dadurch bestätigt, dass das ausweislich der Zulassungsnummer (vgl. auch insoweit die Fachinformation, Punkt 8.) zum Verkehr zugelassene Präparat nach der vom Kläger vorgelegten Gebrauchsinformation (Stichworte "Stoffgruppe" und "Anwendungsgebiete") und auch nach Punkt 4.1. der Fachinformation ein Arzneimittel ist, das "traditionell" als "mild wirkendes Arzneimittel bei Sodbrennen und säurebedingten Magenbeschwerden" angewendet wird. Diese Einstufung zeigt nämlich, dass die Zulassung statt des herkömmlichen, auf das konkrete Produkt bezogenen Wirksamkeitsnachweises nur einen pauschalierten Nachweis der arzneilichen Wirksamkeit für die beanspruchten Anwendungsgebiete voraussetzt, der bereits durch eine Bezugnahme auf die unter Beachtung des § 109a Abs. 3 Satz 2 und 3 AMG erstellte Aufstellung i. S. v. § 109a Abs. 3 Satz 1 AMG (Traditionsliste) erbracht wird.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. insoweit Heßhaus, in: Kügel/Müller/Hof-mann, AMG, 3. Aufl. 2022, AMG § 109a Rn. 14 bis 17 und Rn. 20 bis 23, Rehmann, in: Rehmann, AMG, 5. Aufl. 2020, AMG § 109a Rn. 2 f., und Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, 4. Aufl. 2018, § 52 (Zulassung/Registrierung von Arzneimitteln) Rn. 16; siehe im Übrigen auch die (bis heute der Sache nach unverändert geltende) Nummer 4.1.7.5 a. E. der Verwaltungsvorschriften zur Ausführung der Verordnung über die Gewährung von Beihilfen in Geburts-, Krankheits-, Pflege- und Todesfällen (VVzBVO), RdErl. des Finanzministeriums B 3100 – 0.7 – IV A 4 vom 24. November 2011, nach der Aufwendungen u. a. für solche (nicht apothekenpflichtigen) Arzneimittel nicht beihilfefähig sind, die nur mit dem Hinweis "Traditionell angewendet als mild wirkendes Arzneimittel" in den Verkehr gebracht werden.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Mit Blick auf das Vorstehende ist es ersichtlich irrelevant, dass das von dem Kläger beschaffte Präparat tatsächlich auch über Apotheken verkauft wird.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">d) Nicht zu berücksichtigen im Rahmen des Härtefallanspruchs sind schließlich die Aufwendungen des Klägers für die in der Auflistung vom 6. Juli 2017 mit "D" (Diätikum) gekennzeichnete Präparat "Biolectra Magnesium 300". Hierbei handelt es sich nämlich, wie schon die einschlägige, über www.biolectra-magnesium.de abrufbare Gebrauchsinformation besagt, um ein Nahrungsergänzungsmittel. Aufwendungen für Nahrungsergänzungsmittel aber sind – abgesehen von den hier nicht vorliegenden Ausnahmen i. S. v. § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 6 BVO NRW i. V. m. Nr. 7 lit. a) Satz 3 der Anlage 2 zur BVO NRW – nicht beihilfefähig (§ 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 6 BVO NRW i. V. m. Nr. 7 lit. a) Satz 1 und 2 der Anlage 2 zur BVO NRW), ohne dass dies unter Fürsorgegesichtspunkten zu beanstanden sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">2. Nach § 15 Abs. 5 BVO NRW sind die Aufwendungen nach § 15 Abs. 3 und 4 zum entsprechenden Bemessungssatz nach § 12 BVO NRW zu berücksichtigen, der vorliegend gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 lit. b) BVO NRW 70 v. H. beträgt. Das führt hier, da sich die genannten Aufwendungen auf 544,74 Euro belaufen, aufgerundet auf Aufwendungen i. H. v. <strong>381,32 Euro</strong> (monatlich im Durchschnitt 31,78 Euro).</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">3. Die vorliegend auf der Grundlage des § 15 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 BVO NRW zu ermittelnde Betrag beläuft sich, wie im Ausgangsbescheid zutreffend ausgeführt ist, auf <strong>357,36 Euro</strong> (Summe aus dem Eigenbehalt von 200,00 Euro und der Belastungsgrenze von 0,5 Prozent der Vorjahresbruttobezüge i. H. v. 31.471,88 Euro).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die Regelung des § 15 Abs. 3 Satz 1 BVO NRW verpflichtet zu einer (beantragten) nachträglichen Zahlung von Beihilfen (erst) dann, wenn die von ihr erfassten Aufwendungen im Kalenderjahr den Betrag von 200 Euro zuzüglich 0,5 Prozent der Bruttobezüge des Vorjahres überschritten haben.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">So auch das verlautbarte Verständnis des Ministeriums der Finanzen NRW, vgl. die im Netz, www.finanzverwaltung.nrw.de/belastungsgrenze, verfügbaren Informationen des LBV NRW: "zuzüglich" (abgerufen am 14. Juni 2022); unklar Nummer 15.3.1 VVzBVO, die drei Voraussetzungen (Überschreiten des Eigenbehalts; Überschreiten der Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 4 BVO NRW; nachträglicher Antrag) schlicht nebeneinander stellt.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Der Wortlaut („und“) lässt zwar auch ein abweichendes Verständnis der Norm dahingehend zu, dass ein Zahlungsanspruch schon dann besteht, wenn beide Beträge jeweils für sich genommen überschritten sind, im Ergebnis also der im konkreten Fall höhere der beiden Beträge die (Gesamt)Belastungsgrenze darstellt. Für beide Lesarten hätten dem Normgeber ohne weiteres klarere Formulierungen als die Verwendung des bloßen „und“ zur Verfügung gestanden. So hätte sich etwa für die hier als zutreffend angesehene Variante die Formulierung „den Betrag von 200 Euro zuzüglich der Belastungsgrenze nach Absatz 4 überschritten“ und für die zweite Variante die Formulierung „die Belastungsgrenze nach Absatz 4, mindestens aber einen Betrag von 200 Euro, überschritten“ angeboten.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Die Vorschrift des § 15 Abs. 3 Satz 1 BVO NRW ist aber aus folgenden Gründen im o. a. Sinne auszulegen. Der Betrag von 200,00 Euro ist vom Normgeber ausdrücklich nicht als Bestandteil („Mindestbetrag“) der Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 4 BVO NRW konzipiert worden, sondern als ein eigenständiger Grenzbetrag. Die Vorschrift unterscheidet nicht nur begrifflich zwischen dem sog. nicht berücksichtigungsfähigen Eigenbehalt und der (aufwendungsbezogenen) Belastungsgrenze des Absatzes 4. Die beiden Grenzen unterscheiden sich auch in sachlicher Hinsicht maßgeblich. Zwar wird jeweils festgelegt, inwieweit Beihilfeberechtigte die betroffenen Aufwendungen selbst (zumutbar) tragen müssen. Bei dem nicht berücksichtigungsfähigen Eigenbehalt handelt es sich jedoch um einen von allen Beihilfeberechtigten unabhängig von den Umständen des Einzelfalls zu tragenden statischen Festbetrag. Dieser Festbetrag markiert die Grenze, <strong>ab</strong> der getätigte Aufwendungen im Rahmen der Beihilfe überhaupt relevant, d.h. berücksichtigungsfähig, sind. Die Belastungsgrenze ist dagegen ein von der Höhe der jeweiligen Bezüge im Einzelfall abhängiger und damit sozialen Erwägungen Rechnung tragender dynamischer Betrag, der die Grenze markiert, <strong>bis</strong> zu der (berücksichtigungsfähige) Aufwendungen getragen werden müssen. Dieser Befund führt auf die Annahme, dass die Beträge unabhängig voneinander in die Berechnung einzustellen sind, dass die individuelle Belastungsgrenze also erst nach dem Festbetrag und damit im Ergebnis additiv zu berücksichtigen ist.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Der danach dem Eigenbehalt von 200,00 Euro hinzuzusetzende Betrag von 0,5 Prozent der Bruttojahresversorgungsbezüge des Klägers nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen i. S. v. § 15 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 BVO NRW beläuft sich hier auf 157,36 Euro. Maßgebend für die Feststellung der Belastungsgrenze sind dabei nach § 15 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2, Abs. 1 Satz 2 BVO NRW die jährlichen Bruttobezüge des vorangegangenen Kalenderjahres, hier also des Kalenderjahres 2013. In diesem Jahr beliefen sich die Bruttoversorgungsbezüge des Klägers, d. h. die Summe der in den Besoldungsmitteilungen als Ruhegehalt bezeichneten monatlichen Bezüge sowie der Sonderzahlung (für Versorgungsempfänger ab der Besoldungsgruppe A 9 22 Prozent des Dezemberbezugs) nach der unwidersprochen gebliebenen Berechnung des Beklagten im Schriftsatz vom 10. Juni 2017 auf insgesamt 31.471,88 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Ansicht des Klägers ist diese Summe nicht um die Beträge zu vermindern, um die sein Ruhegehalt (auch) im Jahr 2013 wegen des durchgeführten Versorgungsausgleichs nach § 57 BeamtVG bzw. – ab dem 1. Juni 2013 – nach § 57 LBeamtVG NRW gekürzt worden ist. Das ergibt sich schon daraus, dass diese Kürzungen die "Bezüge nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen", die nach § 15 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 BVO NRW zugrunde zu legen sind, unberührt lassen. Zwar sind sie in Anwendung beamtenversorgungsrechtlicher Vorschriften erfolgt; ihr Grund liegt aber nicht im Rechtsverhältnis des Klägers zu seinem Dienstherrn, sondern allein in den privaten Rechtsbeziehungen des Klägers. Die Kürzungen sind nämlich auf der Grundlage des Versorgungsausgleichs erfolgt, der bei der rechtskräftigen Scheidung der bis 1998 von dem Kläger und Frau N. H. geführten Ehe familiengerichtlich durchgeführt worden ist und eine Ausgleichspflicht des Klägers gegenüber seiner früheren Ehefrau begründet hat. Zielsetzung des § 57 BeamtVG bzw. des § 57 LBeamtVG NRW ist es nur, nachträglich das Rangverhältnis in der mehrpoligen Rechtsbeziehung zwischen Ausgleichsverpflichtetem und Ausgleichsberechtigtem, Rentenversicherungsträger und Träger der beamtenrechtlichen Versorgungslast so wieder herzustellen, dass letztlich der Ausgleichsverpflichtete die wirtschaftlichen Folgen der selbständigen Alterssicherung des Ausgleichsberechtigten trägt.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. Groepper/Tegethoff, in: Plog/Wiedow, Bundesbeamtengesetz, Stand: Mai 2022, BeamtVG § 57 Rn. 1 und 20; ferner BVerwG, Urteil vom 21. Februar 2019 – 2 C 24.17 –, juris, Rn. 28 f., auch zur Vereinbarkeit des Systems des Versorgungsausgleichs mit Art. 33 Abs. 5 GG.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat der Beklagte auch zutreffend geltend gemacht, dass der Dienstherr nicht verpflichtet sei, den Beamten (indirekt) von solchen finanziellen Belastungen freizustellen, die ihre Ursache allein in der Risiko- bzw. Verantwortungssphäre des Beamten hätten.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Mit Blick auf das Vorstehende ist es im vorliegenden Zusammenhang ersichtlich unerheblich, dass die Bezügemitteilungen das Ruhegehalt nach Kürzung wegen des Versorgungsausgleichs als "Gesamtbrutto" bezeichnen. Ebenso irrelevant ist es, dass die gesetzlichen Abzüge (Steuern) – zutreffend – erst ausgehend von diesem "Gesamtbrutto" berechnet und vorgenommen werden und dass dem Kläger die Kürzungsbeträge, die lediglich seiner Ausgleichsverpflichtung Rechnung tragen und nicht von ihm zu versteuern sind, dementsprechend "nie zugeflossen sind".</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">In der Berechnung der Belastungsgrenze anhand des Ruhegehalts vor einer etwaigen Kürzung wegen eines Versorgungsausgleichs liegt entgegen der Ansicht des Klägers auch keine (ungerechtfertigte) Benachteiligung geschiedener Ehemänner (oder –frauen). Diese Berechnungsweise stellt vielmehr gerade eine Gleichbehandlung zwischen geschiedenen, einem Versorgungsausgleich ausgesetzten Versorgungsempfängern und sonstigen Versorgungsempfängern sicher. Bei der Berechnungsweise, die der Kläger für richtig hält, würden Versorgungsempfänger, deren Ruhegehalt wegen eines Versorgungsausgleichs zu kürzen ist, bei sonst gleichen Verhältnissen nämlich gegenüber sonstigen Versorgungsempfängern ohne sachliche Rechtfertigung bevorzugt. Sie könnten die Belastungsgrenze schneller als die sonstigen Versorgungsempfänger erreichen, obwohl der Versorgungsausgleich allein in ihre Risiko- und Verantwortungssphäre fällt und ihrer Ausgleichspflicht gegenüber dem früheren Ehepartner Rechnung trägt.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">4. Zwar übersteigen die berücksichtigungsfähigen Aufwendungen die Gesamtbelastungsgrenze nach dem Vorstehenden um 23,96 Euro (381,32 Euro abzüglich 357,36 Euro); einem Anspruch in dieser Höhe steht aber entgegen, dass der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 16. November 2015 bereits einen Betrag i. H. v. 211,31 Euro als Härtefallleistung bewilligt und gezahlt hat.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">II. Ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer weiteren nachträglichen Beihilfe ergibt sich auch nicht unmittelbar aus dem durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Fürsorgegrundsatz.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die Fürsorgepflicht ergänzt die ebenfalls durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleistete Alimentationspflicht des Dienstherrn. Sie fordert, dass der Dienstherr den amtsangemessenen Lebensunterhalt des Beamten bzw. Versorgungsempfängers und seiner Familie auch in besonderen Belastungssituationen wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Geburt oder Tod sicherstellt. Ob er diese Pflicht über eine entsprechende Bemessung der Dienstbezüge, über Sachleistungen, Zuschüsse oder in sonst geeigneter Weise erfüllt, bleibt von Verfassungs wegen seiner Entscheidung überlassen. Für die genannten besonderen Belastungssituationen wird die Fürsorgepflicht grundsätzlich abschließend durch die Beihilfevorschriften konkretisiert. Im Ausnahmefall kann sich unmittelbar aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Fürsorgegrundsatz ein Beihilfeanspruch ergeben. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung der Fall, wenn anderenfalls dem Beamten eine auch unter Berücksichtigung des pauschalierenden und typisierenden Charakters der Beihilfevorschriften nicht mehr zumutbare Belastung abverlangt würde und die Ablehnung der Beihilfe die Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern verletzt. Die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht ist wegen des Zusammenhangs mit der sich ebenfalls aus Art. 33 Abs. 5 GG ergebenden Alimentationspflicht des Dienstherrn unter anderem verletzt, wenn der Beihilfeberechtigte infolge eines für bestimmte krankheitsbedingte Aufwendungen vorgesehenen Leistungsausschlusses oder einer Leistungsbegrenzung mit erheblichen finanziellen Kosten belastet bleibt, die er durch die Regelalimentation oder eine zumutbare Eigenvorsorge nicht bewältigen kann.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. statt aller BVerwG, Urteil vom 26. April 2018 – 5 C 4.17 –, juris, Rn. 12, und OVG NRW, Urteil vom 26. November 2021 – 1 A 46.17 –, juris, Rn. 87 bis 90, jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend muss der Dienstherr, wenn er Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige, aber medizinisch notwendige Arzneimittel mit Blick auf die insoweit typischerweise geringen Kosten – im Ansatz beanstandungsfrei – grundsätzlich von der Beihilfefähigkeit ausschließt,</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">vgl. insoweit etwa BVerwG vom 23. November 2017 – 5 C 6.16 –, juris, Rn. 20,</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">im Blick behalten, dass ein solcher pauschaler Ausschluss unter der Geltung des gegenwärtig praktizierten "Mischsystems" aus Beihilfe und darauf abgestimmter Eigenvorsorge in (seltenen) Einzelfällen die finanziellen Möglichkeiten des Beamten erheblich übersteigen kann. Für derartige Fallgestaltungen muss er deshalb durch normative Vorkehrungen sicherstellen, dass eine finanzielle Überforderung durch Aufwendungen für medizinisch notwendige nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel vermieden wird.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. September 2014 – 1 A 1602/13 – juris, Rn. 28 ff., m. w. N.; vgl. ferner auch das Urteil des BVerwG vom 23. November 2017 – 5 C 6.16 –, juris, Rn. 18, wonach die beihilferechtlich normierte Eigenbelastung des Beihilfeberechtigten allein durch das Kriterium der finanziellen Unzumutbarkeit begrenzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran hat der Kläger keinen Anspruch auf weitere Beihilfe. Der Kläger ist durch den pauschalen Ausschluss der medizinisch notwendigen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, der nach den obigen Ausführungen zu einem bezogen auf das Jahr 2014 nicht von der Beihilfe abgedeckten Betrag i. H. v. 381,32 Euro geführt hat, nicht mit erheblichen, nicht durch die Regelalimentation zu bewältigenden finanziellen Kosten belastet geblieben.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">1. Für diese Bewertung ist zunächst unerheblich, ob dem Ansatz des Verwaltungsgerichts zu folgen ist, die für das Jahr 2014 bestehende Belastungsgrenzenregelung des § 15 BVO NRW verstoße in ihrem Gesamtgefüge gegen Art. 33 Abs. 5 GG, weil sie die möglichen Belastungen nicht einheitlich erfasse.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vgl. insoweit auch das Senatsurteil vom 12. September 2014 – 1 A 1602/13 –, juris, Rn. 48 ff., m. w. N., das die Jahre 2008, 2009 und 2010 betroffen und einen Anspruch auf weitere Beihilfen unmittelbar aus der Fürsorgepflicht oder aus einer entsprechenden Anwendung der– damals nur vorhandenen – Belastungsgrenze nach §§ 77 Abs. 9 LBG NRW, 15 Abs. 1 BVO NRW für den Fall hergeleitet hat, dass die finanzielle Belastung des Beihilfeberechtigten durch Aufwendungen für medizinisch notwendige nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel "ggf. zusammen mit der Kostendämpfungspauschale und anderen Selbstbehalten" in dem jeweils maßgeblichen Jahr eine Belastungsgrenze von 2 Prozent der Bruttobezüge des Vorjahres übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Der behauptete Anspruch besteht nämlich auch dann nicht, wenn man diesen Ansatz als zutreffend unterstellt, den grundsätzlichen Ausschluss von Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel im Jahr 2014 gleichwohl richtigerweise</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">– vgl. insoweit VG Münster, Urteil vom 22. Februar 2017 – 5 K 1046/16 –, juris, Rn. 24 bis 28 –</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">unberührt sieht und daher mit dem Verwaltungsgericht – nur in Frage kommend – annimmt, dass unmittelbar abgeleitet aus Art. 33 Abs. 5 GG eine einheitliche Belastungsgrenze von 2 Prozent der Bruttoversorgungsbezüge des Vorjahres zu gelten hat. In einem solchen Fall stünde den maßgeblichen Aufwendungen des Klägers i. H. v. 571,52 Euro (381,32 Euro zuzüglich 190,20 Euro) nämlich eine (schon ungeachtet der hier erfolgten Zahlung von 211,31 Euro) nicht erreichte Belastungsgrenze von 629,44 Euro (2 Prozent von 31.471,88 Euro) gegenüber.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">2. Eine abweichende Bewertung ergibt sich auch nicht mit Blick auf den Vortrag des Klägers, für ihn als „Chroniker“ habe aus Fürsorgegründen eine Gesamtbelastungsgrenze zu gelten, die noch hinter dem von dem Verwaltungsgericht im Grundsatz für richtig gehaltenen Betrag von 2 Prozent der Bruttoversorgungsbezüge des Vorjahres zurückbleibe. Dieser Vortrag greift nämlich nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">a) Zunächst ergibt sich aus Art. 33 Abs. 5 GG nicht, dass eine – unterstellt: gebotene – Gesamtbelastungsgrenze von 2 Prozent der Bruttoversorgungsbezüge des Vorjahres für sog. "Chroniker" (und damit auch für den Kläger) auf 1 Prozent abgesenkt werden <span style="text-decoration:underline">muss</span>.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Offen gelassen in den Senatsurteilen vom 12. September 2014 – 1 A 1602/13 –, juris, Rn. 81 ff., und vom 9. April 2019 – 1 A 208/17 –, juris, Rn. 46.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Der gegenteiligen Ansicht des Verwaltungsgerichts, die hier auf einen Anspruch des Klägers von 45,49 Euro führen würde [571,52 Euro abzüglich 314,72 Euro (= 256,80 Euro) abzüglich des schon gezahlten Betrages von 211,31 Euro], kann nicht gefolgt werden. Das gilt schon ungeachtet der Frage, ob die ärztliche Bescheinigung vom 30. Oktober 2017 bereits hinreichend belegt, dass das hier wohl nur in Betracht kommende Merkmal nach § 2 Abs. 2 lit. c) der "Richtlinie zur Umsetzung der Regelungen in § 62 für schwerwiegend chronisch Erkrankte" (im Folgenden: "Chroniker-Richtlinie") erfüllt und der Kläger daher als "Chroniker" einzuordnen ist.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Es ist nämlich (jedenfalls) nicht erkennbar, aus welchen Sachgründen der Verordnungsgeber verpflichtet (und nicht lediglich berechtigt) sein sollte, für sog. "Chroniker" eine günstigere Belastungsgrenze als die für die übrigen Beihilfeberechtigten zu normieren, warum also "Chroniker" bezogen auf Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht auf eine allgemein geltende Belastungsgrenze verwiesen werden dürfen. Zwar mag anzunehmen sein, dass "Chroniker" eine Belastungsgrenze, die auch oder nur Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel zum Gegenstand hat, tendenziell ggf. häufiger, ggf. früher im Jahr und ggf. auch in einem höheren Maße überschreiten werden als sonstige Beihilfeberechtigte. Das verkennt die Gesetzesbegründung der Landesregierung zu dem Entwurf eines Gesetz zur Neuregelung des Landesreisekostenrechts sowie zur Anpassung einer beihilferechtlichen Regelung im Landesbeamtengesetz vom 24. Juni 2021, LT-Drs. 17/14306, S. 30. Diese betrifft den durch Art. 2 Nr. 4 des Gesetzentwurfs angefügten Satz 3 des § 75 Abs. 8 LBG NRW, nach dem "andere nicht beihilfefähige Aufwendungen" (als die Kostendämpfungspauschale und die normierten Eigenbehalte) "bei der Berechnung des den die Belastungsgrenze übersteigenden Betrages nicht berücksichtigt" werden. Zur Ablehnung einer Sonderregelung für "Chroniker" wird hier behauptet, dass es hinsichtlich der Beihilfe "über die Kostendämpfungspauschale hinaus keine steigende finanzielle Belastung in Abhängigkeit vom Schweregrad der individuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der beihilfeberechtigten oder berücksichtigungsfähigen Personen" gebe.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Die o. a. plausible statistische Erwartung verlangt aber keine Sonderregelung für "Chroniker", weil ein Überschreiten der hier in Rede stehenden (verordnungsrechtlichen bzw. unmittelbar aus der Fürsorgepflicht folgenden) Belastungsgrenzen gerade durch einen Anspruch auf weitere Beihilfen ausgeglichen wird. Für eine Rechtspflicht des Beihilfegebers, für "Chroniker" eine gegenüber der allgemeinen Belastungsgrenze niedrigere (einheitliche) Belastungsgrenze (von 1 Prozent der Bruttobezüge des Vorjahres) zu normieren, spricht auch nicht die Erwägung, dass chronisch Kranke typischerweise Jahr für Jahr vorhersehbar mit erheblichen Krankheitskosten belastet seien, so dass ihnen häufig geringere Mittel verblieben, etwa Rücklagen für Krankheitsfälle zu bilden.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">So noch das Senatsurteil vom 12. September 2014 – 1 A 1602/13 –, juris, Rn. 81.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">In tatsächlicher Hinsicht beachtet diese Argumentation zunächst nicht, dass es– wie gerade der Fall des vom Verwaltungsgericht als "Chroniker" eingestuften Klägers zeigt – auch bei "Chronikern" regelhaft nicht zu erheblichen, diese im jeweiligen Jahr finanziell überfordernden Aufwendungen für – ohnehin typischerweise preiswerte – nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel kommen wird. Diese Annahme ist gerechtfertigt, weil die – immer noch häufig verordneten – Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen insoweit außer Betracht bleiben dürfen (s. o.),</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">diesen Aspekt hat das Senatsurteil vom 12. September 2014 – 1 A 1602/13 –, juris, noch nicht beleuchtet, obwohl es nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt vornehmlich um Arzneimittel "der anthroposophischen Medizin und der Homöopathie" (juris, Rn. 7) ging,</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">und weil ferner nach der Ausnahmeregelung des § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 4 BVO NRW (heute: § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 5 BVO NRW) in medizinisch begründeten Einzelfällen die Gewährung von Beihilfen zu Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel möglich ist, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten oder die sich in der klinischen Erprobung befinden.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Aber auch in rechtlicher Hinsicht überzeugen die Erwägungen im Senatsurteil vom 12. September 2014 letztlich nicht. Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, die – ggf. erst zusammen mit weiteren dem Beihilfeberechtigten verbleibenden Belastungen (Selbstbehalte, Kostendämpfungspauschale) – die maßgebliche Belastungsgrenze regelmäßig, d. h. Jahr für Jahr überschreiten, führen nämlich bereits unmittelbar mit dem Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres (vgl. § 15 Abs. 3 Satz 3 BVO NRW) zu einem Anspruch auf Nachzahlung der eine Überforderung darstellenden Beträge. Wegen dieses ggf. Folgejahr für Folgejahr erfolgenden Ausgleichs unzumutbarer Belastungen aber ist nicht erkennbar, weshalb "Chroniker" auf die Bildung von Rücklagen für Krankheitsfälle angewiesen sein sollten. Für den – wohl bloß theoretischen – Fall, dass ein "Chroniker" schon während des laufenden Jahres im vorstehenden Sinne die Grenze einer finanziellen Überforderung deutlich überschreiten und dadurch in eine Notlage geraten sollte, besteht zudem die – ggf. im Wege des Eilrechtsschutzes durchsetzbare – Möglichkeit, diesem eine Abschlagszahlung nach § 13 Abs. 6 BVO NRW zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von dem Vorstehenden erscheint es auch nicht sachgerecht und damit erst recht nicht geboten, die Regelung des § 62 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGB V, der die 1 Prozent-Grenze entnommen ist und die der historische Gesetzgeber lediglich mit dem allgemeinen Ziel einer besonderen Verbesserung des sozialen Schutzes chronisch Kranker geschaffen hat,</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">vgl. die Begründung zu Art. 1 Nr. 1 des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (1: GKV-Neuordnungsgesetz – 1. NOG) vom 8. Oktober 1996, BT-Drs. 13/5724, S. 5,</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">i. V. m. der nach §§ 62 Abs. 1 Satz 8, 92 SGB V beschlossenen "Chroniker-Richtlinie" auf die einschlägigen beihilferechtlichen Vorschriften schlicht zu übertragen. § 62 SGB V will eine übermäßige Belastung des Versicherten durch Zuzahlungen (§ 61 SGB V) verhindern und betrifft, soweit es um Arzneimittel geht, grundsätzlich nur Zuzahlungen für verschreibungspflichtige Arzneimittel, mit denen die Beihilfeberechtigten in Nordrhein-Westfalen indes gerade nicht belastet sind. Die Vorschrift bezieht sich damit nicht auf (notwendige) Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Gerade solche Aufwendungen werden jedoch im Rahmen der Belastungsgrenze geltend gemacht und werden vom Verordnungsgeber (zulässig) nur wegen ihres typischerweise geringen Preises als grundsätzlich nicht beihilfefähig behandelt.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Zu diesem Aspekt vgl. etwa BVerwG vom 23. November 2017 – 5 C 6.16 –, juris, Rn. 20.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Damit sind sie im Übrigen zu der Kostenart "im Grundsatz beihilfefähig" zu zählen, was der Beklagte mit seinem diesbezüglichen Vortrag zu den zu trennenden Kostenarten und auch mit der Neuregelung nach den jeweils seit dem 15. Dezember 2021 bzw. 24. Dezember 2021 geltenden Fassungen der §§ 75 Abs. 8 LBG NRW, 15 BVO NRW deutlich verkennt.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Dass es im Rahmen des § 62 SGB V neben den sonstigen Zuzahlungen i. S. d § 61 SGB V nur um Zuzahlungen für verschreibungspflichtige Arzneimittel geht, ergibt sich daraus, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel in der GKV gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen sind, wenn nicht ein Ausnahmefall nach der (§ 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 4 BVO NRW ähnlichen) Regelung des § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V vorliegt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied des § 62 Abs. 1 Satz 2 SGB V zu § 15 BVO NRW besteht darin, dass § 62 Abs. 1 Satz 2 SGB V für die Ermittlung der Belastungsgrenzen nicht die typischerweise niedrigeren Bruttoeinnahmen des Vorjahres zugrunde legt, sondern die des laufenden Kalenderjahres.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls nicht unbesehen übertragbar auf das Beihilferecht des Landes Nordrhein-Westfalen ist § 50 Abs. 1 Satz 5 der Verordnung über Beihilfe in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen (Bundesbeihilfeverordnung – BBhV), nach dem die in § 50 BBhV normierte Belastungsgrenze für chronisch Kranke nach der "Chroniker-Richtlinie" 1 Prozent der jährlichen Einnahmen nach § 39 Absatz 3 Satz 2 BBhV beträgt. Auch dieser Vorschrift liegt nämlich ein Regelwerk zugrunde (vgl. im vorliegenden Zusammenhang insbesondere § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BBhV), das sich deutlich von dem der Beihilfenverordnung Nordrhein-Westfalen unterscheidet. Außerdem belegt die Übernahme der 1 Prozent-Grenze der GKV in das Beihilferecht des Bundes als solche noch nicht, dass sie für diesen Rechtsbereich rechtlich geboten (und nicht lediglich sozialpolitisch gewünscht) gewesen ist.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">b) Schließlich ist auch nicht erkennbar, dass Art. 33 Abs. 5 GG mit Blick auf die geltend gemachten Unterhaltsleistungen des Klägers gebieten könnte, die ermittelte Belastungsgrenze nach § 15 Abs. 3 bis 5 BVO (357,36 Euro) oder eine– unterstellt allenfalls geltende – Gesamtbelastungsgrenze von 2 Prozent der Bruttoversorgungsbezüge des Vorjahres (629,44 Euro) abzusenken. Dieses Ergebnis liegt schon deshalb auf der Hand, weil der Kläger in den Jahren 2013 und 2014, die hier allenfalls betrachtet werden können, bereits nach seinem eigenen Vortrag (Schriftsatz vom 14. August 2020, Punkt V., und handschriftliche Anlage zum Schriftsatz vom 11. November 2020) nur noch freiwillige Leistungen an seine verheiratete schwerbehinderte Tochter T. erbracht hat. Ein solches Verhalten ist zwar ohne weiteres nachvollziehbar und auch sehr anerkennenswert, aber nicht – worauf es hier nur ankommen kann – rechtlich geboten. Bei den Leistungen der Grundsicherung, die die Tochter des Klägers nach seinem Vorbringen erhält, werden nämlich etwaige behinderungsbedingte Mehrbedarfe berücksichtigt. Das hat auch der Kläger nicht in Zweifel gezogen.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach §§ 132 Abs. 2 VwGO, 127 BRRG nicht erfüllt sind.</p>
|
346,189 | lsgbw-2022-07-18-l-1-sv-180422-b | {
"id": 128,
"name": "Landessozialgericht Baden-Württemberg",
"slug": "lsgbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Sozialgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | L 1 SV 1804/22 B | 2022-07-18T00:00:00 | 2022-08-13T10:02:08 | 2022-10-17T17:55:58 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p/><p>Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 3. Juni 2022 wird zurückgewiesen.</p><p>Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p><p>Die weitere Beschwerde wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><table><tr><td/></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger (und Beschwerdegegner) hat durch seinen gesetzlichen Betreuer bei dem Sozialgericht (SG) Ulm Klage gegen die beklagte Betreiberin eines Pflegeheims (Beklagte und Beschwerdeführerin) wegen Rückzahlung von 7.209,54 Euro erhoben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Das SG hat darauf hingewiesen, dass es nicht rechtswegzuständig sei und die Sache an das Landgericht Ulm verweisen wolle, es hat den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Beklagte hat der Verweisung zugestimmt, der Kläger hat Fristverlängerung beantragt und nach Prüfung, zuletzt mit Schriftsatz vom 14. Januar 2022, erklärt: „Ich bitte Sie den Vorgang nicht an das Landgericht weiter zu leiten. Das heißt, ich ziehe meinen Klageantrag beim Sozialgericht zurück. ... Nachdem die Klage beim Landgericht nur mit anwaltlichem Rechtsbeistand erfolgen kann, werde ich die Aussichten auf Erfolg durch einen Anwalt prüfen lassen und gegebenenfalls den Klageantrag durch diesen beim Landgericht einreichen.“</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Unter dem 14. April 2022 hat sich für den Kläger ein Bevollmächtigter eingeschaltet und nach Akteneinsicht unter dem 15. Mai 2022 erklärt, eine Klagerücknahme liege nicht vor, der Rechtsstreit sei an das Amtsgericht (AG) zu verweisen, die Klageforderung werde auf 1.825,20 Euro reduziert.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Das SG hat sich mit Beschluss vom 3. Juni 2022 für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht (AG) Ulm verwiesen. Eine Angelegenheit, für die nach § 51 SGG die Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gegeben sei, liege nicht vor. Streitigkeiten um Leistungen aus Heimverträgen nach dem HeimG seien den ordentlichen Gerichten zur Entscheidung zugewiesen, aufgrund der Höhe der Forderung und dem Sitz des Beklagten sei das AG Ulm zuständig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Dagegen hat der Beklagte Rechtswegbeschwerde eingelegt und geltend gemacht. Das SG habe den Rechtsstreit nicht an das AG verweisen dürfen, da dieser sich durch Klagerücknahme erledigt habe. Diese Erledigung stehe der Verweisung entgegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Beklagte beantragt sinngemäß,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="7"/>festzustellen, dass das Klageverfahren S 1 SV 2713/21 erledigt und der Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Ulm vom 3. Juni 2022 gegenstandslos geworden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Der Kläger beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>die Beschwerde kostenpflichtig zurückzuweisen.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:12pt"><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Die statthafte und zulässige Beschwerde der Bf. (§ 17a Abs. 4 Satz 3 GVG) ist in der Sache unbegründet und daher zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Für Klagen mit dem hier vorliegenden Streitgegenstand, nämlich den Anspruch auf Rückzahlung von Entgelten aus Heimverträgen nach dem Gesetz zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen (Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz - WBVG), ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht gegeben. Es handelt sich nicht um eine Streitigkeit, für die gemäß § 51 SGG oder einer anderen Norm der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet wäre.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Bei der Klage auf Rückzahlung überhöhter Investitionskosten auf der Grundlage eines Heimvertrages handelt es sich weder um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit noch um eine privatrechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der gesetzlichen Kranken- oder Pflegeversicherung. Der Heimvertrag beruht auf § 1 WBVG und regelt die Rechte und Pflichten des Trägers sowie der Bewohner, vor allem die Leistungen des Trägers und das dafür insgesamt zu entrichtende Gesamtheimentgelt (§ 7 Abs. 2 Satz 1 WBVG). Der Heimvertrag ist seinem Wesen nach ein gemischter Vertrag. Rechtsstreitigkeiten aus derartigen Verträgen gehören zu den Angelegenheiten des Zivilrechts und sind an den einschlägigen zivilrechtlichen Normen zu messen (BSG, Urteil vom 9. Februar 2006 – B 3 SF 1/05 R = SozR 4-1500 § 51 Nr. 2 unter Hinweis auf BGHZ 148, 233; 157, 309; BGH, Urteil vom 4. November 2004, NJW 2005, 824, und Urteil vom 3. Februar 2005, NJW-RR 2005, 777).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Für solche zivilrechtlichen Streitigkeiten ist ausschließlich der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gegeben (§ 13 Gerichtsverfassungsgesetz – GVG). Angesichts der zuletzt geltend gemachten Klageforderung in Höhe von 1.825,20 EUR fällt der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Amtsgerichte (§§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG). Örtlich zuständig ist das AG Ulm, weil die Beklagte in Ulm ihren Sitz hat (§ 17 Abs. 1 GVG). An dieses Gericht ist das Verfahren zu verweisen (§ 17a Abs. 2 Satz 1 GVG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Dem steht nicht entgegen, dass im weiteren Verfahren das AG Ulm zunächst die Frage zu klären haben wird, ob der Rechtsstreit durch das Schreiben des Klägers vom 14. Januar 2022 zurückgenommen worden ist. Die Entscheidung über die Erledigung des Rechtsstreits nach § 102 SGG ist nicht gegenüber einer Entscheidung über die Rechtswegverweisung vorgreiflich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Zwar ist der Beklagten zuzugeben, dass das Verhältnis von Verweisung und Fortsetzungsstreit weitgehend ungeklärt ist. Die Beklagte meint, die Frage der Klagerücknahme sei vorgreiflich gegenüber einer Verweisung zu prüfen. Der Beklagten ist auch zuzustimmen, dass der Verweisungsbeschluss gegenstandslos wäre (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss v. 9. Januar 2017 – L 1 SV 19/16 B -, juris), wenn der Rechtsstreit (schon bei dem SG) unstreitig erledigt gewesen sein sollte. Allerdings ist das AG dafür rechtswegzuständig, in der Sache eine Streitentscheidung herbeizuführen. Deshalb hat das SG zutreffend den bei ihm anhängigen Fortsetzungsstreit an das AG verwiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Dem ist zu folgen, denn aufgrund der Verweisung wird das Verfahren in die prozessuale Situation versetzt, als hätte der Kläger sogleich am rechtswegzuständigen Gericht geklagt, eine mögliche Klagerücknahme erklärt und später geltend gemacht, das Verfahren sei fortzusetzen. Insbesondere ist das AG auch für den Fall das rechtswegzuständige Gericht, wenn das Verfahren fortzuführen sein sollte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Liegt eine Klagerücknahme, die sogar noch während des Verfahrens über die Rechtswegbeschwerde möglich wäre, unstreitig vor, hat sich der Rechtsstreit erledigt (§ 102 SGG) und das Gericht stellt das Verfahren ein. Eine Verweisung des zurückgenommenen Rechtstreits kann nicht erfolgen, weil es schon an einem anhängigen Rechtsstreit fehlt. Der Zweck der Fortdauer der Rechtshängigkeit des Verfahrens, den die §§ 17 f. GVG gewährleisten sollen, kann nicht mehr erreicht werden. Die Beklagte kann auch aus der Entscheidung des Bayerischen LSG (Beschluss vom 9. Januar 2017 – L 1 SV 19/16 B –, juris) nicht weiter für sich herleiten. Dort ist unstreitig die Klage während des Beschwerdeverfahrens zurückgenommen worden. Das hatte zur Folge, dass sich das Klageverfahren erledigt hat, sodass kein zu verweisenden Verfahren mehr vorgelegen hat. Dadurch war der vorinstanzliche Verweisungsbeschluss gegenstandslos worden ist, wie das LSG zutreffend feststellte. Entsprechend wäre hier zu verfahren gewesen, wenn es an einem Streit darüber, ob die Klage zurückgenommen worden ist, fehlte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Anders liegt der Fall hier. Der Kläger hat durch seinen Bevollmächtigten unter der Überschrift „Nichtvorliegen einer Klagerücknahme“ mit Schriftsatz vom 15. Mai 2022 vorgetragen, es liege bei sachgerechter Interpretation der auslegungsbedürftigen Erklärung vom 14. Januar 2022 keine Klagerücknahme vor. Er hat weiter beantragt, den Rechtsstreit an das AG Ulm zu verweisen. Damit sieht sich der Senat daran gehindert, der Auslegung der Beklagten zu folgen und die Erklärung so zu verstehen, als habe der Kläger die Fortsetzung des Verfahrens nicht beantragt. Bei einer sachgerechten Auslegung seiner Anträge (§ 123 SGG) liegt mit dem Bestreiten der Klagerücknahme und dem Antrag auf Verweisung ein Fortsetzungsstreit vor, in dem zu klären ist, ob sich das ursprüngliche Verfahren erledigt hat oder nicht. Folglich ist zur Zeit der Beschlussfassung sowohl des SG als auch des Senats ein Rechtstreit (weiterhin oder wieder) anhängig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Die Rechtswegzuständigkeit in Bezug auf den Fortsetzungsstreit richtet sich nach derjenigen, die für die Hauptsache eröffnet ist oder war (vgl. B. Schmidt, in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. A., § 102 Rn. 9b und 12f.). Vorliegend ist also (weiterhin) die Rechtswegzuständigkeit der ordentlichen Gerichte, konkret des AG Ulm, gegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>3. In Verfahren über eine Rechtswegbeschwerde ist – isoliert für das Beschwerdeverfahren - eine Kostenentscheidung zu treffen; im Übrigen gilt § 17b Abs. 2 GVG. Die Kostenentscheidung des Beschwerdeverfahrens beruht auf entsprechender Anwendung des § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO (BSG, Beschluss vom 9. Februar 2006 – B 3 SF 1/05 R – SozR 4-1500 § 51 Nr. 2 Rdnr. 13). Die Kosten hat hier die Beklagte zu tragen, da die Beschwerde keinen Erfolg hatte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Einer Entscheidung über den Streitwert bedarf es nicht, weil für das Verfahren Gerichtskosten in Höhe einer Festgebühr anfallen (Nr. 7504 der Anlage 1 zum GKG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die weitere Beschwerde wird nicht zugelassen (§ 17a Abs. 4 Satz 5 GVG).</td></tr></table></td></tr></table> |
|
346,188 | vg-karlsruhe-2022-07-18-2-k-39922 | {
"id": 158,
"name": "Verwaltungsgericht Karlsruhe",
"slug": "vg-karlsruhe",
"city": 42,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 2 K 399/22 | 2022-07-18T00:00:00 | 2022-08-13T10:02:08 | 2022-10-17T17:55:58 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>1. Die Anträge werden abgelehnt.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller zu 1. und 2. zu 1/8 als Gesamtschuldner, die Antragsteller zu 4. und 5. zu 1/8 als Gesamtschuldner und die Antragsteller zu 10. und. 11. zu 1/8 als Gesamtschuldner sowie die Antragsteller zu 3. und zu 6. bis 9. zu je 1/8, jeweils mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>3. Der Streitwert wird auf 40.000,00 EUR festgesetzt.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer bauaufsichtlichen Verfügung gegen die Beigeladenen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die Antragsteller zu 1. bis 5., zu. 7. und 8. sowie zu 10. und 11. sind Eigentümer verschiedener Grundstücke beiderseits entlang der ...straße im südlichen Bereich der Kernstadt der Antragsgegnerin. Die Antragstellerin zu 6. ist Eigentümerin eines Grundstücks in der ...straße. Der Antragsteller zu 9. ist Eigentümer eines nördlich an der ...straße gelegenen Grundstücks. Bei der ...straße handelt es sich um eine am nördlichen Rand des unteren Würmtals gelegene Wohnstraße, die von Norden her kommend vom ...weg abzweigt und von dort aus in einem linksgerichteten Bogen nach Osten verläuft und als Sackstraße mit einem Wendehammer endet. Nördlich (zu Beginn noch östlich) der ...straße verläuft die ...straße in gleicher Richtung wie die ...straße und ist etwas weiter hangaufwärts gelegen. Die ...straße zweigt in süd-süd-östlicher Richtung von der ...straße ab und verläuft westlich bzw. südlich der ...straße und hangabwärts in Richtung Würmtal bzw. Nagoldtal. Auch bei ihr handelt es sich um eine Wohnstraße, die als Sackstraße endet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Die Beigeladenen sind Eigentümer der Grundstücke ...straße 30 (Flst.-Nr. ...) und ...straße 32 (Flst.-Nr. ..., vormals bezeichnet als ...straße 41). Die beiden Grundstücke sind mit Wohngebäuden bebaut.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>die Grundstücke der Antragsteller und der Beigeladenen liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 490 „Teilgebiet ‚Südstadt II‘, Ausschnitt ‚Hälden-Würmtalhang‘ “ der Antragsgegnerin vom 27.02.1973. Der Bebauungsplan setzt im Bereich zwischen ...straße und ...straße sowie nördlich der ...straße jeweils reine Wohngebiete („WR“) fest. Modifizierende Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung enthält der Bebauungsplan nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Die Antragsteller teilten der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 29.09.2020 mit, dass die Gebäude auf den beiden Grundstücken der Beigeladenen als Apartmenthäuser bzw. für Ferienwohnungen genutzt würden. Für das Gebäude auf dem Grundstück ...straße 30 würden unter dem Namen „Aparthotel ...haus“ insgesamt 4 Ferienwohnungen zur Vermietung angeboten. Für das Gebäude auf dem Grundstück ...straße 32 würde unter dem Namen „Ferienwohnung ‚...‘ “ eine weitere Ferienwohnung angeboten. In diesem Gebäude befinde sich ferner der Firmensitz der „... Group“, welche den Beigeladenen zu 2. als Firmeninhaber ausweise. Die Nutzung der Gebäude verstoße gegen Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art der baulichen Nutzung und damit gegen den zu ihren Gunsten eingreifenden Gebietserhaltungsanspruch sowie zugleich gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Ferner handele es sich bei der Nutzung der ...straße in dem von den Beigeladenen in Anspruch genommenen Umfang um eine Sondernutzung, für die keine Genehmigung vorliege. Auch die Erschließung des Grundstücks ...straße 32 bzw. ...straße 41 über das Grundstück ...straße 30 sei unzulässig. Dementsprechend sei insbesondere die Nutzung der beiden Gebäude auf den Grundstücken durch die Antragsgegnerin zu untersagen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Die Antragsgegnerin hörte die Beigeladenen am 16.12.2020 unter Verweis auf die verschiedenen ungenehmigten gewerblichen Nutzungen und den nach Feststellungen der Baukontrolle vor Ort erkennbaren erheblichen Versiegelungsgrad der Grundstücksflächen auf den beiden Grundstücken zu den beabsichtigten Nutzungsuntersagungen und der hierauf bezogenen Anordnung der sofortigen Vollziehung an und gab den Beigeladenen Gelegenheit zur Stellungnahme.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Die Beigeladenen reichten hierauf am 22.02.2021 einen Bauantrag über den „Umbau Wohnhaus mit 4x Appartments“ hinsichtlich des Grundstücks ...straße 30 und einen weiteren Bauantrag über die Nutzungsänderung eines Raums im Untergeschoss in Büro für Hausmeisterservice und die Nutzungsänderung einer Wohnung in einen kleinen Beherbergungsbetrieb mit 6 Betten hinsichtlich des Grundstücks ...straße 32 ein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Antragsgegnerin teilte den Beigeladenen mit Schreiben vom 04.06.2021 mit, dass die zur Genehmigung gestellten Vorhaben voraussichtlich öffentlich-rechtlichen Vorschriften widersprechen und nicht genehmigungsfähig seien und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheid vom 09.09.2021 die beiden Bauanträge der Beigeladenen für die Grundstücke ...straße 30 und 32 ab (Ziffern 1 und 2), untersagte die Nutzung des Gebäudes ...straße 30 für gewerbliche Beherbergungszwecke mit einer Frist von 6 Wochen (Ziffer 3), und die Nutzung des Gebäudes ...straße 32 für gewerbliche Beherbergungszwecke sowie für die Unterbringung der Geschäftsräume des Hausmeisterservice des Beigeladenen zu 2. ebenfalls mit einer Frist von 6 Wochen (Ziffer 4) und drohte für den Fall der Nichtbefolgung der Ziffern 3 und 4 ein Zwangsgeld an (Ziffer 5). Eine Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Antragsgegnerin erfolgte nicht. Zur Begründung der Verfügungen führte sie im Wesentlichen aus, die bislang ohne Baugenehmigung erfolgte und nunmehr zur Genehmigung gestellte (teilweise) Nutzung der beiden Gebäude als Ferienwohnungen sei ein einheitlicher Beherbergungsbetrieb mit – ausweislich – der Bauvorlagen – insgesamt 21 Betten. Ein solcher sei in einem reinen Wohngebiet mit der vorliegenden Struktur nicht gebietsverträglich und auch nicht ausnahmsweise nach § 3 Abs. 3 Var. 3 BauNVO 1968 zulässig. Insbesondere werde hierdurch die im durch Bebauungsplan festgesetzten reinen Wohngebiet vorgesehene und auch tatsächlich gegebene Nutzungsdichte im Gebiet deutlich überschritten und verletze das gebietstypische Bedürfnis nach Wohnruhe. Auch die von den Beigeladenen zur Genehmigung gestellte Nutzungsänderung in Form eines Hausmeisterservice sei bauplanungsrechtlich nicht genehmigungsfähig. Es handele sich jedenfalls um keinen Handwerksbetrieb, der zur Deckung der Bedürfnisse der Bewohner des Gebiets diene. Bereits das Einzugsgebiet des Betriebs sei nach den Informationen der Beigeladenen überörtlich. Eine allgemeine Zulässigkeit nach § 13 BauNVO 1968 scheide gleichermaßen aus. Weder ein Gebäudereinigungsbetrieb als Ganzer noch die hierzu notwendigen Büroräume stellten eine freiberufliche Nutzung dar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Die Beigeladenen erhoben gegen den Bescheid vom 09.09.2021 am 16.09.2021 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Zur Begründung führten sie im Wesentlichen aus, es handele sich bei den insgesamt 5 Wohneinheiten, wie bei einem „Boarding House“ üblich, um Wohnnutzung im Sinne der Baunutzungsverordnung; sie wiesen den Zuschnitt von Wohnungen auf und es fehlten Gemeinschaftsräume. Jedenfalls seien sie als Ferienwohnungen ausnahmsweise zulässig, weil es sich in diesem Fall um einen „kleinen“ Betrieb des Beherbergungsgewerbes handeln würde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Antragsteller haben am 08.02.2021 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes einen Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagungen aus dem Bescheid vom 09.09.2021 gestellt und tragen zur Begründung über ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren hinaus im Wesentlichen vor, die Anträge seien auch ohne vorherige Antragstellung bei der Antragsgegnerin als Baurechtsbehörde zulässig, da das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis im Falle des § 80a Abs. 3 Satz 1 VwGO auch ohne einen vorhergehenden Behördenantrag gegeben sei. Der Antrag sei auch begründet, da der Widerspruch der Beigeladenen voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe, vorliegend auch Verstöße gegen nachbarschützende Vorschriften gegeben seien und schließlich die Antragsteller auch ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung geltend machen könnten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Insbesondere sei das Ermessen der Antragsgegnerin, welches dieser nach dem Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 2 LBO eingeräumt sei, hier auf Null reduziert, sodass ein Anspruch auf behördliches Einschreiten bestehe. Die von den Beherbergungsbetrieben ausgehenden Störungen und Belästigungen seien auch erheblich und nach den gesamten Umständen unzumutbar, sodass ein besonderes privates Vollzugsinteresse vorliege. Der Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot sei offensichtlich. Dies folge aus dem erheblichen An- und Abfahrtsverkehr der Gäste des Beherbergungsbetriebs, dem Parkierungsdruck in der Straße, auch unter regelmäßiger Begehung von Parkverstößen und den häufigen, gerade auch nächtlichen, Ruhestörungen durch Gäste. Diese Störungen seien durch genaue Aufzeichnungen des Antragstellers zu 2. belegt. Demgegenüber bestehe kein schützenswertes Interesse der Beigeladenen an der einstweiligen Fortführung ihres Betriebs.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Die Antragsteller beantragen, sachdienlich gefasst,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="14"/>die sofortige Vollziehung der Anordnungen in den Ziffern 3 und 4 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 09.09.2021 anzuordnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die Antragsgegnerin beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="16"/>die Anträge abzulehnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, die sofortige Vollziehung der Nutzungsuntersagung erfordere ein Überwiegen des privaten Vollzugsinteresses der Antragsteller, welches hier nicht hinreichend dargelegt sei. Gefahren oder unzumutbare Belästigungen, die zu einer Ermessensreduktion auf Null und zu einem Überwiegen ihrer Vollzugsinteressen notwendig seien, hätten die Antragsteller nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich. Das Maß der von den – bereits untersagten – Nutzungen ausgehenden Belästigungen sei nicht unzumutbar. Die insbesondere von den Antragstellern dargelegten wiederholten Parkverstöße im Bereich der Grundstücke ...straße 28 und 30 seien straßenverkehrsrechtlich geahndet worden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Die Beilgeladenen haben keinen Antrag gestellt und auch keine Ausführungen zur Sache gemacht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Dem Gericht lagen die Bauakten der Antragsgegnerin zu dem Nutzungsuntersagungsverfahren und zu den beiden Baugenehmigungsverfahren wegen der Nutzungsänderungen (insgesamt 3 Bände) sowie der Bebauungsplan Nr. 490 der Antragsgegnerin nebst Begründung vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird hierauf und auf die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.</td></tr></table>
<table><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die Anträge haben keinen Erfolg.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>1. Die Anträge sind zulässig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Anträge sind gemäß § 80a Abs. 2 und Abs. 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Nach § 80a Abs. 2 VwGO kann die Behörde, sofern ein Betroffener gegen einen an ihn gerichteten belastenden Verwaltungsakt, der einen Dritten begünstigt, einen Rechtsbehelf einlegt, auf Antrag des Dritten nach § 80 Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung anordnen. Die gleiche Möglichkeit steht nach § 80a Abs. 3 Satz 1 VwGO dem Verwaltungsgericht zu, mit der Folge, dass nach Satz 2 die Regeln des § 80 Abs. 5 bis 8 VwGO entsprechend gelten. Vorliegend haben die Beigeladenen gegen den an sie gerichteten Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.09.2021 Widerspruch erhoben, sodass die Antragsteller, zu deren Gunsten sich – jedenfalls – die Nutzungsuntersagungen in den Ziffern 3 und 4 des Bescheids auswirken, insofern die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegenüber den Beigeladenen durch das Verwaltungsgericht entsprechend § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO begehren können. Die Anträge sind auch im Übrigen zulässig. Insbesondere mangelt es den Antragstellern nicht an dem notwendigen allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis. Die umstrittene und von den Antragstellern auch im hiesigen Fall aufgeworfene Frage, ob für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 und § 80a Abs. 2 und 3 VwGO ohne vorhergehenden behördlichen Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis besteht, mag hier im Ergebnis unbeantwortet bleiben. Denn die Antragsteller haben bereits mit Schreiben vom 07.12.2020 die Nutzungsuntersagung wie auch die hierauf bezogene Anordnung der sofortigen Vollziehung gegenüber der Antragsgegnerin beantragt, sodass auch die – bisweilen geforderten (vgl. zum Meinungsstand Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80a Rn. 22) – weitergehenden Anforderungen des § 80 Abs. 6 VwGO vorliegend erfüllt sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>2. Die Anträge sind nicht begründet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffern 3 und 4 des Bescheids vom 09.09.2021 durch das Verwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 80a Abs. 2 und 3 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>a) Bei seiner Entscheidung über die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80a Abs. 3 Satz 1 und Abs. 2 VwGO hat das Gericht entsprechend § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO eine Interessenabwägung vorzunehmen. Es hat dabei zwischen dem von dem begünstigten Dritten – hier den Antragstellern – geltend gemachten besonderen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung (Vollzugsinteresse) und dem Interesse des von der belastenden Maßnahme Betroffenen – hier der Beigeladenen – an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs (Suspensivinteresse) abzuwägen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 02.03.2000 - 5 S 2597/99 -, VBlBW 2000, 397 = juris Rn. 16; Beschl. v. 08.08.1996 - 8 S 1954/96 -, VBlBW 1997, 17 = juris Rn. 3). Das Gewicht der gegenläufigen Interessen wird – wie auch im Falle des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO – unter anderem durch die summarisch zu prüfenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs des Betroffenen in der Hauptsache geprägt. Hierbei ist mit Blick auf die in der Konstellation des § 80a Abs. 2 und 3 VwGO allein streitgegenständliche Anordnung der sofortigen Vollziehung im Interesse eines Dritten der allgemeine Grundsatz zu berücksichtigen, dass der Rechtsbehelf eines Betroffenen aufschiebende Wirkung entfaltet (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO) und der Dritte diese gesetzlich vorgesehene aufschiebende Wirkung im eigenen subjektiven Interesse zu durchbrechen sucht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Daher muss der Antragsteller in diesen Fällen darüber hinaus zum einen Anspruch auf die von ihm zur Vollziehung zu bringende Maßnahme gegenüber der Behörde haben. Anderenfalls ist das Verwaltungsgericht von vorn herein gehindert, die sofortige Vollziehung anzuordnen, da ein Einschreiten, welches im Ermessen der Behörde verbleibt, aufgrund des Grundsatzes der eingeschränkten Überprüfung des behördlichen Ermessens vom Gericht – auch nicht vorläufig – vollzogen werden darf. Begehrt ein Nachbar die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit einer ihn begünstigenden Nutzungsuntersagung, muss er zum anderen geltend machen, dass der Sofortvollzug der auch objektiv rechtmäßigen Verfügung in seinem überwiegenden Interesse (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Alt. 2 VwGO) geboten ist (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.04.2002 - 3 S 590/02 -, VBlBW 2003, 72 = juris Rn. 4 m.w.N.). Anderenfalls ist – jedenfalls in Fällen der gesetzlich angeordneten aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO – kein hinreichender Grund ersichtlich, um in das – grundsätzlich bipolare Vollzugsverhältnis zwischen Behörde und Betroffenem einzugreifen (vgl. hierzu auch BayVGH, Beschl. v. 06.09.2016 - 8 CS 15.2510 -, UPR 2017, 191).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Das im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO und der dortigen Abwägung üblicherweise zu prüfende besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, 93 = juris Rn. 19; BVerfG, Beschl. v. 01.10.2008 - 1 BvR 2466/08 -, NVwZ 2009, 240; VG Karlsruhe, Beschl. v. 10.12.2020 - 2 K 5102/20 -, juris Rn. 43, 45) führt im Falle des dreipoligen Verhältnisses nach § 80a Abs. 2 und 3 VwGO nicht weiter. Denn der Dritte kann sich im Wege eines Antrags im Baunachbarstreitverfahren nicht darauf berufen, dass – objektiv-rechtliche – öffentliche Interessen die zu seinen Gunsten geltend gemachte sofortige Vollziehung erforderten. Ob solche öffentliche Vollzugsinteressen vorliegen betrifft allein das zweipolige Verhältnis der anordnenden Behörde gegenüber dem Betroffenen. Nach dem übergreifenden Prinzip des „Verletztenrechtsschutzes“ im Verwaltungsprozessrecht gilt im vorläufigen Rechtsschutz, dass die sofortige Vollziehung zugunsten eines Dritten nur soweit reichen kann wie die subjektiv-öffentlichen Rechte zu seinen Gunsten eines vorläufigen Schutzes bedürfen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 06.09.2016 - 8 CS 15.2510 -, UPR 2017, 191.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Der Dritte muss daher im Falle eines Baunachbarstreits geltend machen, dass er – angesichts der von dem bereits behördlich untersagten Vorhaben verletzten und zu seinem Schutz dienenden Vorschriften – gerade der Anordnung der sofortigen Vollziehung für die Dauer des Hauptsacherechtsbehelfsverfahrens des Betroffenen bedarf, um erheblich nicht in eigenen Rechten verletzt zu werden. Genügt zur Wahrung seiner Rechtspositionen indessen die (bereits erlassene) Verfügung als solche, auch ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung, überwiegt das besondere private Vollzugsinteresse des Dritten nicht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.06.2021 - 10 S 310/21 -, juris Rn. 5; Beschl. v. 19.04.2002 - 3 S 590/02 -, VBlBW 2003, 72 = juris Rn. 4). Eine sofortige Vollziehung kommt daher beispielsweise in Betracht, sofern das Vorhaben des Betroffenen gegenüber dem Dritten gegen das Gebot des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots verstößt, sofern insbesondere unzumutbare Belästigungen oder gar eine Gefahr für Leben oder Gesundheit von dem Vorhaben ausgehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.04.2002 - 3 S 590/02 -, VBlBW 2003, 72 = juris Rn. 6; so wohl auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.06.2021 - 10 S 310/21 -, juris Rn. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25.08.1993 - 11 B 4293/92 -, UPR 1994, 38 = juris Rn. 10). Gleiches mag für Verstöße gegen bauordnungsrechtliche Vorgaben des Brandschutzes (vgl. § 15 LBO) oder der Standsicherheit (vgl. § 13 LBO) gelten, die erhebliche Gefahren vom Dritten abwehren sollen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>b) Gemessen an diesen Maßstäben überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsteller im vorliegenden Fall nicht das Suspensivinteresse der Beigeladenen. Zwar dürfte dem Rechtsbehelf der Beigeladenen im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren gegen die Nutzungsuntersagung der Antragsgegnerin voraussichtlich kein Erfolg beschieden sein (aa). Jedoch mangelt es den Antragstellern angesichts der durch das Vorhaben ausgelösten bauplanungsrechtlich relevanten Beeinträchtigungen dennoch an der weiteren Voraussetzung eines besonderen privaten Vollzugsinteresses, welches die vorläufige Vollziehung der Nutzungsuntersagung begründet (bb).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>aa) Der Rechtsbehelf der Beigeladenen gegen die Nutzungsuntersagungen der Antragsgegnerin haben nach vorläufiger Prüfung keine Aussicht auf Erfolg. Die Nutzungsuntersagung erweist sich bei der insofern im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmenden vorläufigen Prüfung der Rechts- und summarischen Prüfung der Sachlage (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.02.2018 - 1 VR 11.17 -, juris Rn. 15; Beschl. v. 16.09.2014 - 7 VR 1/14 -, NuR 2014, 782 = juris Rn. 10; Schoch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 41. EL Juli 2021, § 80 VwGO Rn. 400 m.w.N.) voraussichtlich als insgesamt rechtmäßig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>(1) Die insgesamt 5 von den Beigeladenen als „Ferienwohnungen“ bezeichneten Wohnungen bilden gemeinsam einen Betrieb des Beherbergungsgewerbes, der in dem durch den Bebauungsplan Nr. 490 der Antragsgegnerin festgesetzten reinen Wohngebiet weder allgemein nach § 30 Abs. 1 BauGB noch nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 3 BauNVO 1968 ausnahmsweise zulässig ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>(a) Soweit die Beigeladenen im Widerspruchsverfahren angeführt haben, es handele sich bei den insgesamt 5 Wohnungen bzw. „Appartements“ um Wohnnutzungen, vergleichbar zu einem Boarding House, so folgt ihnen das Gericht hierin nicht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Für einen Beherbergungsbetrieb ist in Abgrenzung zum Wohnen kennzeichnend, dass Räume ständig wechselnden Gästen zum vorübergehenden Aufenthalt zur Verfügung gestellt werden, ohne dass diese typischerweise eine eigene Häuslichkeit begründen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.07.2013 - 4 B 8.13 -, BauR 2013, 1996 = juris Rn. 5; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 03.08.2017 - 5 S 1030/17 -, juris Rn. 15). Für eine Wohnnutzung und die insofern zu fordernde „eigene Häuslichkeit“ ist notwendige Voraussetzung das Vorhandensein von Einrichtungen, die einen dauerhaften, selbständigen Aufenthalt, erst ermöglichen (ausführlich hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 17.01.2017 - 8 S 1641/16 -, juris Rn. 17 f.). Das Vorhandensein entsprechender Einrichtungen reicht indessen nicht als Bedingung für eine „Wohnnutzung“ hin, sondern schafft gleichsam erst die Grundlage für eine eigene Häuslichkeit und besitzt somit indiziellen Charakter. Vielmehr kommt es auf das zugrundeliegende Nutzungskonzept – oder im Falle einer bereits ungenehmigt ausgeübten Nutzung auf die tatsächlich erkennbaren Nutzungsmuster – an, welche dem Vorhaben zugrunde liegen. Erfolgt hiernach eine Unterbringung nur übergangsweise für einen begrenzten Zweck, ohne eine zumindest grundsätzlich freiwillige Aufnahme der Nutzung und ohne einem über einen längeren Zeitraum gleichbleibenden Bewohnerkreis in einem Raum, handelt es sich um eine andere Nutzungsart als Wohnen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.05.2015 - 3 S 2420/14 -, juris Rn. 25 m.w.N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>So liegt der Fall hier. Denn nach den Aufzeichnungen der Antragsteller, die den Nutzerkreis der Wohnungen der Beigeladenen hinreichend anschaulich erkennen lassen, handelt es sich bei dem Kreis der vorübergehend in den Wohnungen aufhältigen Personen um einen regelmäßig (im Zeitraum von wenigen Tagen) wechselnden Bewohnerkreis, der sich zu einem überwiegenden Teil aus Handwerkern bzw. Monteuren und aus Feriengästen zusammensetzt. Nach den Recherchen des Gerichts auf einschlägigen Buchungsportalen im Internet (www.booking.com) ist zudem zu erkennen, dass einzelne Wohnungen derzeit wie auch in der Vergangenheit von Feriengästen jeweils für Zeiträume von lediglich wenigen Nächten (von wenigen Ausnahme abgesehen 2 bis 8 Nächte) aufgesucht wurden. Ferner haben auch die Beigeladenen eine andere Nutzungsweise, also einen dauerhaften wohnähnlichen Aufenthalt oder ein abweichendes Nutzungskonzept ihrer Wohnungen nicht substantiiert dargelegt, sondern lediglich pauschal behauptet, es handele sich um eine Boarding House mit der Folge, dass aus diesem Grund allgemein eine Wohnnutzung anzunehmen sei. Auch aus den Bauvorlagen ist nichts dergleichen zu entnehmen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>(b) Die von den Beigeladenen ungenehmigt ins Werk gesetzte Nutzung als Betrieb des Beherbergungsgewerbes ist in dem festgesetzten reinen Wohngebiet nach § 3 Abs. 2 BauNVO allgemein nicht zulässig. Auch eine ausnahmsweise Zulässigkeit nach § 3 Abs. 3 BauNVO 1968 scheidet entgegen dem Vorbringen der Beigeladenen aus.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Gemäß § 3 Abs. 3 BauNVO 1968 können im reinen Wohngebiet „kleine“ Betriebe des Beherbergungsgewerbes ausnahmsweise zugelassen werden. Was in diesem Sinne „klein“ ist, lässt sich nicht allgemein umschreiben, weil sein Bedeutungsgehalt auch von den tatsächlichen Auswirkungen des festgesetzten oder faktischen Baugebiets in der konkreten Örtlichkeit abhängt (BVerwG, Beschl. v. 27.11.1987 - 4 B 230.87 u. 231.87 -, BauR 1988, 184 = juris Rn. 3). Maßgeblich ist, ob sich der Betrieb nach Erscheinungsform, Betriebsform und Betriebsführung sowie unter Berücksichtigung der Zahl der Benutzer unauffällig in das Gebiet einordnet, wobei dem Schutz der Wohnruhe besondere Bedeutung zukommt. Wesentlicher Gesichtspunkt ist dabei, wie sich der Betrieb auf seine Umgebung auswirkt und welche Störungen von ihm ausgehen. Mit dem Merkmal „klein“ soll deshalb gewährleistet sein, dass nur solche Betriebe zugelassen werden können, die mit Blick auf die im Sinne des § 3 Abs. 1 BauNVO (1968) gebietstypische Gewährleistung einer ausgeprägten Wohnruhe gebietsverträglich sind. Daraus folgt, dass § 3 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO zwar eine feste, allgemein gültige Grenzziehung zum Beispiel anhand einer bestimmten Zahl von Betten, die einheitlich für alle nach § 3 BauNVO zu beurteilenden Baugebiete gälte, nicht zulässt. Es entspricht in diesem Zusammenhang aber allgemeiner Ansicht, dass die Frage, ob der Betrieb noch als „klein“ einzustufen ist, im Einzelfall nach der Bettenzahl als einem dafür maßgeblichen Merkmal (unter mehreren) beantwortet werden kann (BVerwG, Beschl. v. 27.11.1987, - 4 B 230.87 u. 231.87 -, BauR 1988, 184 = juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.05.2015 - 3 S 2420/14 -, juris Rn. 31; Urt. v. 31.1.1997 - 8 S 3167/96 -, BRS 59 Nr. 58 = juris Rn. 17; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.02.2014 - 3 L 212/12 -, BauR 2015, 81 = juris Rn. 52; VG Bremen, Beschl. v. 17.11.2014 - 1 V 1827/14 -, juris Rn. 31).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Hinzu kommen allerdings noch weitere Gesichtspunkte. Dem räumlichen Nebeneinander von dauerndem Wohnen und Erholungsuchenden sind städtebauliche Störpotenziale eigen. Diese gehen über die Frage nach dem Störgrad und der Störanfälligkeit von Nutzungen im Hinblick auf Immissionen hinaus (BVerwG, Urteil vom 25.11.1983 - 4 C 64.79 - BVerwGE 68, 207 = juris Rn. 10). So kann die Wohnruhe durch häufige Nutzerwechsel, Unterschiede im Tagesablauf oder vermehrte Nutzung von Außenwohnbereichen auch in den Abend- und Nachtstunden gestört werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.10.2017 - 4 C 5.16 -, BVerwGE 160, 104 = juris Rn. 33). Ebenso kann der Zu- und Abfahrtsverkehr aufgrund einer bestimmten Nutzungsart im Einzelfall einer Einordnung als „kleiner“ Beherbergungsbetrieb entgegenstehen, indem er mit dem Charakter der Wohnruhe, insbesondere in Gebieten ohne Durchgangsverkehr und mit bloßer innerer Erschließungsfunktion von Straßen, konfligiert. Daher ist keine bestimmte Bettenanzahl zu benennen, die einen Beherbergungsbetrieb als „klein“ qualifiziert oder diese Bewertung ausschließt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.05.2015 - 3 S 2420/14 -, juris Rn. 37).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Gemessen an diesen Maßstäben ist das Vorhaben der Beigeladenen nicht als „klein“ im Sinne des § 3 Abs. 3 BauNVO zu bewerten. Vorliegend handelt es sich bei der Umgebung der Grundstücke ...straße 30 und 32 im Geltungsbereich des Bebauungsplan Nr. 490 der Antragsgegnerin um ein Gebiet, das nach den durch Online-Kartendienste (www.maps.google.de; www.bing.com/maps) ersichtlichen tatsächlichen Umständen durch eine großzügige Bebauung überwiegend mit (teils villenartig gestalteten) Einfamilienhäusern und Doppelhäusern auf mehrheitlich großen Grundstücken bebaut sind. Diese Bebauung spiegelt die im Bebauungsplan festgesetzte moderate Grundflächenzahl von 0,25 wider, sodass auch die planerisch vorgesehene und tatsächlich verwirklichte Wohndichte für ein reines Wohngebiet eher unterdurchschnittlich ausfällt. Auch aufgrund der städtebaulichen Lage am Rand des Bebauungszusammenhangs der Kernstadt von Pforzheim, der topographischen Lage am nördlichen Rand des unteren Würmtals, unmittelbar angrenzend an den bewaldeten nördlichen Würmtalhang und der Erschließung der Umgebung der Baugrundstücke durch lediglich untergeordnete Wohnstraßen, von denen die ...straße und die südlich verlaufende ...straße als Sackstraßen enden, ist insgesamt von einem ruhigen Wohnquartier auszugehen. Die nähere Umgebung ist weder gebietseigenen noch erheblichen äußeren Störpotenzialen ausgesetzt. Insofern tragen auch die Beteiligten nichts Gegenteiliges vor. Mit dem Vorhaben geht – ausweislich der im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Aufzeichnungen der Antragsteller, denen die Beigeladenen nicht entgegengetreten sind – ein nicht unerheblicher Zu- und Abfahrtsverkehr und zudem ein Parkierungsdruck, der der näheren Umgebung ansonsten fremd ist, einher. Insofern führt das Vorhaben der Beigeladenen nach den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu gewinnenden Erkenntnissen sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht zu einer Intensivierung der Nutzung und ist somit nicht mehr als „gebietstypisch“ zu bewerten. Unter diesen Umständen bietet der völlig pauschale Verweis der Beigeladenen auf abweichende Feststellungen in – nicht konkret benannten – gerichtlichen Entscheidungen keinen Ansatzpunkt für eine abweichende Einschätzung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>(c) Mit Blick auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB ist weder etwas von den Beigeladenen vorgetragen noch wäre hierfür sonst etwas ersichtlich. Eine Befreiung von der Festsetzung eines reinen Wohngebiets als maßgebende Festsetzung der Art der baulichen Nutzung würde, ohne dass dies einer weiteren Vertiefung bedürfte, offenkundig die Grundzüge der Planung im Sinne des § 31 Abs.2 BauGB berühren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>bb) Ob die Antragsteller vorliegend allein aufgrund des zuvor festgestellten Verstoßes des Vorhabens der Beigeladenen gegen die Art der baulichen Nutzung, auf deren Erhalt sie als Gebietsanlieger einen von den qualifizierten Anforderungen des Rücksichtnahmegebots losgelösten Anspruch haben (sog. Gebietserhaltungsanspruch, vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 16.12.2008 - 4 B 68.08 -, ZfBR 2009, 376 f. = juris Rn. 4, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -, BVerwGE 94, 151 = juris Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 20.03.2012 - 3 S 223/12 -, juris Rn. 6; Rieger, in: Schrödter, BauGB, 9. Auflage 2019, § 34 Rn. 134), zwingend auch einen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten im Wege der Nutzungsuntersagung nach § 65 Abs. 1 Satz 2 LBO haben (vgl. zu dieser Frage VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.04.2002 - 3 S 590/02 -, VBlBW 2003, 72 = juris Rn. 6), mag hier dahinstehen. Denn jedenfalls überwiegt ihr Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung (Vollzugsinteresse) auch angesichts der von der – bereits untersagten – Nutzung der Beigeladenen ausgehenden und von den Antragstellern substantiiert dargelegten Beeinträchtigungen vorliegend nicht das Suspensivinteresse der Beigeladenen (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.06.2021 - 10 S 310/21 -, juris Rn. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein Anspruch des Nachbarn sich nach den Maßgaben der jeweiligen Eingriffsnorm des Landesbauordnungsrechts richtet (vgl. hierzu grundlegend BVerwG, Beschl. v. 10.12.1997 - 4 B 204/97 -, NVwZ 1998, 395 = juris Rn. 3) und zugunsten des Nachbarn im Falle eines Verstoßes gegen nachbarschützende Vorschriften nach dem Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck des § 65 Abs. 1 Satz 2 LBO zunächst allein ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Prüfung bauaufsichtlichen Einschreitens besteht. Ein sich auf Einschreiten im Sinne des Erlasses einer bestimmten bauaufsichtlichen Anordnung – hier der Nutzungsuntersagung – verdichtender Anspruch ist lediglich dann anzunehmen, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen ist. Diese kommt nur dann in Betracht kommt, wenn eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter, wie Leben oder Gesundheit, droht, eine bauliche Anlage gegen eine drittschützende Vorschrift, die unzumutbare Beeinträchtigungen verbietet, verstößt oder sonstige unzumutbare Belästigungen abzuwehren sind (st. Rspr. vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.08.2018 - 5 S 2083/17 -, VBlBW 2019, 77 = juris Rn. 14; Urt. v. 24.03.2014 - 8 S 1938/12 -, VBlBW 2015, 31 = juris Rn. 50; Urt. v. 20.05.2003 - 5 S 2750/01 - VBlBW 2003, 470 = juris Rn. 21; Beschl. v. 19.04.2002 - 3 S 590/02 -, VBlBW 2003, 72 = juris Rn. 6; Urt. v. 25.05.1992 - 5 S 2775/91 -, VBlBW 1993, 19 = juris Rn. 27; Beschl. v. 13.12.1991 - 3 S 2358/91 -, VBlBW 1992, 148 = juris Rn. 3).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Diese Bewertung gilt erst recht, wenn nicht allein der Anspruch auf Erlass einer bauaufsichtlichen Anordnung begehrt wird, sondern deren Vollziehung für die Dauer eines durch den Bauherrn angestrengten Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Nutzungsuntersagung, das grundsätzlich im Verhältnis zur Bauaufsichtsbehörde aufschiebende Wirkung entfaltet (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO). Sieht in diesem Fall die Bauaufsichtsbehörde von der Anordnung der sofortigen Vollziehung ab, müssen die privaten Interessen des Nachbarn an der umgehenden (vorläufigen) Umsetzung der erlassenen Anordnung jedenfalls auch diesen Maßstäben entsprechen, sodass auch in diesem Fall eine Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter oder eine unzumutbare Beeinträchtigung bzw. Belästigung hinzutreten muss (in diesem Sinne VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.06.2021 - 10 S 310/21 -, juris Rn. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Über den bereits zuvor festgestellten Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch der Antragsteller hinaus verstößt das Vorhaben der Beigeladenen nach den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu gewinnenden Erkenntnissen voraussichtlich weder gegen weitere nachbarschützende Vorschriften noch allgemein gegen das baunachbarrechtliche Rücksichtnahmegebot, der die begehrte Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagungen rechtfertigt (1). Der Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch an sich vermag ein Überwiegen des privaten Vollzugsinteresses der Antragsteller unter den hiesigen Umständen gleichfalls nicht zu begründen (2).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>(1) Das Vorhaben der Beigeladenen, die Nutzungsänderung der Gebäude auf den Grundstücken ...straße 30 und 32 in eine als Betrieb des Beherbergungsgewerbes einzuordnende Nutzungsart und die teilweise Nutzungsänderung des Gebäudes ...straße 32 in einen Betrieb des Gebäudereinigungshandwerks, verstößt voraussichtlich nicht gegen das nachbarschützende bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot. Da die Grundstücke vorliegend im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 490 der Antragsgegnerin liegen, findet das Rücksichtnahmegebot seine normative Anknüpfung in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO 1968.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO 1968 sind bauliche Anlagen insbesondere unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die für die Umgebung nach der Eigenart des Gebietes unzumutbar sind. Ob dies der Fall ist, ist nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen; gegeneinander abzuwägen sind die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 10.01.2013 - 4 B 48.12 -, BauR 2013, 934 = juris Rn. 7). Für die Beurteilung relevant sind dabei nur städtebaulich bedeutsame Auswirkungen (BVerwG, Urt. v. 25.01.2007 - 4 C 1.06 -, BVerwGE 128, 118 = juris Rn. 11).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Gemessen an diesen Maßstäben haben die Antragsteller keine für sie unzumutbaren Auswirkungen des Vorhabens glaubhaft gemacht. Die von ihnen vorgebrachten Beeinträchtigungen betreffen – ausweislich des von den Eigentümern des Grundstücks ...straße 28 gefertigten und als Anlage A 6 (Bl. 98 ff. der Gerichtsakte) zur Antragsbegründung beigefügten „Protokolls“ sowie des übrigen Vorbringens – im Wesentlichen die Parksituation im Bereich des östlichen Abschlusses der ...straße um den Wendehammer gegenüber dem Grundstück ...straße 28 und Ruhestörungen durch Gäste der einzelnen Ferienwohnungen, ausgehend von den dortigen Außenbereichen der einzelnen Ferienwohnungen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>(a) Die insofern geschilderten Beeinträchtigungen sind aufgrund der sich aus den Aufzeichnungen in dem Protokoll und aus dem sonstigen Vorbringen der Antragsteller ergebenden räumlich eng begrenzten Auswirkungen von vornherein überhaupt nur in Bezug auf einzelne Grundstücke bestimmter Antragsteller geeignet, hinreichend qualifizierte Störwirkungen zu zeitigen. Insofern kommen aufgrund ihrer räumliche Lage allein das westlich am nächsten gelegene Grundstück ...straße 28 der Antragsteller zu 1. und 2., das westlich des Wendehammers gelegene Grundstück ...straße 19 der Antragsteller zu 4. und 5. sowie das südwestlich gelegene Grundstück ...straße 37 des Antragstellers zu 9. für eine hinreichend gewichtige und damit „rücksichtslose“ Beeinträchtigung nachbarlicher Belange in Betracht. Alle weiteren Grundstücke können aufgrund ihrer weit größeren Entfernung zu den Vorhabengrundstücken und teilweise zusätzlich aufgrund ihrer Lage in völlig anderen Straßen bei lebensnaher Betrachtung offenkundig nicht qualifiziert betroffen sein.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>(b) Mit Blick auf die vorstehend genannten Grundstücke ...straße 28, ...straße 19 und ...straße 37 ist jedoch ebenfalls nach dem Vorbringen der Antragsteller wie auch sonst keine hinreichend qualifizierte Beeinträchtigung im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO 1968 zu erkennen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Auf einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot im Zusammenhang mit Park-Suchverkehr und dem Abstellen von Fahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum kann sich ein Nachbar etwa dann berufen, wenn der Stellplatzmangel geeignet ist, die bestimmungsgemäße Nutzung seines eigenen Grundstücks zu beeinträchtigen. Eine solche Beeinträchtigung liegt – jedenfalls solange der freie Zugang zum Grundstück möglich ist – allerdings nicht schon darin, dass die angrenzenden Straßen durch Fahrzeuge von Nutzern der baulichen Anlage zum Parken in Anspruch genommen werden und dem Nachbarn nur noch mit den daraus folgenden Einschränkungen zur Verfügung stehen. Das dem Nachbarn durch das Eigentum vermittelte Recht zur bestimmungsgemäßen Nutzung seines Grundstücks begründet kein Recht auf bevorzugte Nutzung des angrenzenden öffentlichen Straßenraums (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.03.1998 - 1 B 33.98 -, GewArch 1998, 254 = juris Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 01.10.2019 - 5 S 963/17 -, VBlBW 2020, 191 = juris Rn. 59; Beschl. v. 01.04.2019 - 5 S 2102/18 -, juris Rn. 14). Probleme, die sich aus der Verteilung knappen öffentlichen Straßenraums auf verschiedene Verkehrsteilnehmer ergeben, sind mit den Mitteln des Straßenverkehrsrechts zu regeln (vgl. für den ruhenden Verkehr etwa die Anwohnerparkregelung in § 45 Abs. 1b Satz 2 StVO). Als rücksichtslos kann der Verzicht auf die notwendigen Stellplätze auch dann gerügt werden, wenn der durch ihn bewirkte parkende Verkehr und Parksuchverkehr den Nachbarn in der Wohnnutzung seines Grundstücks unzumutbar beeinträchtigt. Dies setzt in der Regel entsprechende Immissionen, insbesondere Lärm- und Abgaseinwirkungen, voraus (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 01.10.2019 - 5 S 963/17 -, VBlBW 2020, 191 = juris Rn. 59; Beschl. v. 12.02.2019 - 5 S 2487/18 -, juris Rn. 34; Beschl. v. 10.1.2008 - 3 S 2773/07 -, NVwZ-RR 2008, 600 = juris Rn. 13).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>(aa) Eine mit Blick auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach wie vor bestehende rücksichtnahmewidrige Nutzung der Grundstücke der Beigeladenen durch das Abstellen der Fahrzeuge von Gästen im öffentlichen Straßenraum oder Lärmbelästigungen auch nach Erlass der Nutzungsuntersagung am 09.09.2021 ist den Aufzeichnungen der Antragsteller nicht zu entnehmen. Die von den Antragstellern im Einzelnen in ihrem Protokoll benannten verschiedenen Parkvorfälle liegen bereits datumsmäßig – mit einer Ausnahme – allesamt vor dem Erlass der Nutzungsuntersagungsverfügung vom 09.09.2021. Die Aufzeichnungen beginnen am 09.02.2021 und weisen den vorletzten Eintrag mit Datum vom 19.07.2021 aus. Im Zeitraum nach dem Bescheiderlass findet sich lediglich ein weiterer Eintrag vom 27.12.2021 mit dem völlig pauschalen Hinweis, es habe sich an der Gesamtsituation nichts geändert, die Ferienwohnungen würden gut besucht und die Hausmeisterfirma des Beigeladenen zu 2. werde „tapfer“ weiterbetrieben. Dieser Vermerk ist für sich genommen nicht im Ansatz geeignet, eine unzumutbare Beeinträchtigung auch noch nach Erlass der Nutzungsuntersagung darzulegen. Der Verlauf des Protokolls vermittelt bei objektiver Betrachtung, angesichts der minutiösen Aufzeichnungen, bereits in zeitlicher Hinsicht den Eindruck, als seien Störungen nach Erlass der Nutzungsuntersagung, wenn überhaupt, nur noch vereinzelt aufgetreten. Eine Fortführung der Aufzeichnungen hätte – weitere tatsächlich aufgetretene Parkverstöße vorausgesetzt – insbesondere deshalb nahegelegen, weil die anwaltlich vertretenen Antragsteller das Protokoll erst mit ihrem Antrag im Februar 2022 und damit etwa 5 Monate nach Erlass der Nutzungsuntersagung eingereicht haben. Ein hinreichend langer Zeitraum für die Erstellung weiterer Aufzeichnungen wäre daher durchaus vorhanden gewesen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>(bb) Wenngleich es nach dem Vorstehenden hierauf bereits nicht mehr ankäme, ist zudem festzustellen, dass die von den Antragstellern in ihrem „Protokoll“ festgehaltenen Parkvorfälle im öffentliche Straßenraum der ...straße bei Betrachtung anhand des vorstehend dargestellten Maßstabs auch nach ihrem Gewicht bereits nicht hirneichen dürften, um eine die begehrte Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagungen rechtfertigende unzumutbare Beeinträchtigung ihrer nachbarlichen Belange im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO herbeizuführen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Die in den Aufzeichnungen der Antragsteller festgehaltenen Vorfälle des Parkens durch Gäste der Ferienwohnungen oder von Beschäftigten des Gebäudereinigungsbetriebs der Beigeladenen im öffentlichen Straßenraum reichen ebenfalls nicht hin, um den erforderlichen Grad einer Rücksichtslosigkeit des Vorhabens der Beigeladenen nahezulegen. Es handelt sich bei den meisten der Vorfälle um ein im jeweiligen Einzelfall verkehrsordnungswidriges Verhalten, das vorrangig im Wege des Straßenverkehrsrechts ordnungsbehördlich zu ahnden ist. Die Antragsgegnerin hat hierzu mitgeteilt, es seien entsprechende Verstöße in der Vergangenheit bereits geahndet worden. Durch das in einzelnen Fällen aufgezeichnete Parken gegenüber der Ausfahrt des Grundstücks ...straße 28 oder im Bereich am oder westlich des Wendehammers ergibt sich ebenso noch keine Rücksichtslosigkeit. Die Antragsteller haben lediglich für einen einzigen Vorfall am 07.04.2021 dargelegt, dass eine Nutzung ihres Grundstücks – das Abschleppen des Fahrzeugs der Antragsteller zu 1. und 2. aus ihrer Garage – nicht möglich gewesen sei. Eine weitere von ihnen genannte Behinderung am 06.07.2021 schränkte die Nutzung des Grundstücks ...straße 28 zwar ein, war jedoch nach ihrer eigenen Beschreibung durch ein kurzes Rangieren zu beheben. Die von den Antragstellern festgehaltenen, im Einzelfall durchaus ein gewisses Störpotenzial besitzenden Parkzustände erreichen nach alledem insgesamt jedenfalls noch nicht das Maß einer unzumutbaren Beeinträchtigung, die eine Anordnung der sofortigen Vollziehung erforderlich macht. Hierfür spricht zudem der Umstand, dass ein Abschleppvorgang auch durch den des Öfteren hinzugerufenen Polizeivollzugsdienst in keinem der dokumentierten Fälle eingeleitet und lediglich in Einzelfällen ein Versetzen von Fahrzeugen von den Antragstellern in dem Protokoll dokumentiert wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Ein Stellplatzmangel auf dem Vorhabengrundstück, drängt sich vorliegend auch nach den sich aus den Verwaltungsakten ergebenden Erkenntnissen nicht auf. Auf den vom Baukontrolleur der Antragsgegnerin gefertigten Lichtbildern sind verschiedene Stellplätze auf dem Grundstück ...straße 30 erkennbar. Die Antragsteller tragen insofern ebenfalls nichts Gegenteiliges substantiiert vor.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Auch die von den Antragstellern mitgeteilten Fälle einer aus ihrer Sicht anzunehmenden Ruhestörung erreichen weder nach Art noch Häufigkeit ein Ausmaß, das eine die Anordnung der sofortigen Vollziehung gebietende unzumutbare Störung oder Belästigung erreichen würde. Unter den von den Antragstellern festgehaltenen Vorfällen und Störungen, die einen Zeitraum von mehr als einem Dreivierteljahr abdecken, finden sich insgesamt lediglich 5 Vorfälle im Zusammenhang mit (nächtlichen) Ruhestörungen, von denen ein Vorfall überdies außerhalb der Nachtzeit nach Nr. 6.4 der Sechsten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm) vom 26. August 1998 (GMBl Nr. 26/1998 S. 503) liegt. Zudem würde es sich bei einer wertungsmäßigen Betrachtung um „seltene Ereignisse“ im Sinne der Nr. 7.2 der TA Lärm handeln.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Nach alledem handelt es sich bei sämtlichen von den Antragstellern mitgeteilten Störungen zwar um solche Folgen der Grundstücksnutzung für Ferienwohnungen, die in einem reinen Wohngebiet dem Gebietscharakter des § 3 BauNVO 1968 ersichtlich widersprechen, sodass die Nutzungen bauplanungsrechtlich unzulässig und auch von den Nachbarn nicht hinzunehmen sind. Es handelt sich indessen nicht zugleich um derart rücksichtslose Störungen oder Belästigungen im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO 1968, die die begehrte Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagungen tragen. Entgegen dem Vorbringen der Antragsteller kommt es in diesem Zusammenhang mit Blick auf eine unzumutbare Störung im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO nicht darauf an, ob es sich um eine besonders intensive Form der Nutzung handelt, sondern allein auf die Frage der von der Nutzung ausgehenden Störung und ihrer Unzumutbarkeit. Auch die von ihnen benannten häufigen Wechsel der Gäste sowie den Zu- und Abfahrtsverkehr zu den beiden Grundstücken an sich bieten keinen Anhalt für einen die Anordnung der sofortigen Vollziehung gebietenden Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot. Weitergehende Anhaltspunkte zu konkreten Störungen über das bereits gewürdigte Vorbringen hinaus haben die Antragsteller nicht vorgelegt und sind auch sonst nicht ersichtlich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>(2) Aus dem Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch der Antragsteller folgt für sich allein ebenfalls kein Überwiegen ihrer Vollzugsinteressen gegenüber den Beilgeladenen. Zwar verstoßen die Nutzungen ersichtlich gegen den von allen Grundstückseigentümern im Plangebiet gleichermaßen zu wahrenden Gebietscharakter. Diesem Verstoß kann vorliegend allerdings bereits hinreichend durch die bereits erlassene Nutzungsuntersagung begegnet werden (wie hier VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.06.2021 - 10 S 310/21 -, juris Rn. 5). Dies folgt aus dem Umstand, dass dem Gebietserhaltungsanspruch im Geltungsbereich eines Bebauungsplans die Dimension einer dauerhaften auf wechselseitigen Austausch und Einhaltung des durch die Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art der baulichen Nutzung gezogenen Rahmens der Ausnutzbarkeit der Grundstücke innewohnt (grundlegend hierzu BVerwG, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -, BVerwGE 94, 151= juris Rn. 12). Ein Nachbar im Baugebiet kann sich gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden, um der schleichenden „Verfälschung“ des Gebietscharakters entgegenzutreten, da er einerseits auf dessen Bestand vertrauen durfte und er sich andererseits zu dessen Fortbestand sich selbst den planerischen Festsetzungen unterworfen hat, (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.12.2007 - 4 B 55.07 -, NVwZ 2008, 427 = juris Rn. 5; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 07.06.2016 - 3 S 250/16 -, BauR 2016, 1744 = juris Rn. 32; Rieger, in: Schrödter (Hrsg.), BauGB, 9. Aufl. 2019, § 30 Rn. 33). Es handelt sich indes gleichzeitig um einen vergleichsweise abstrakten nachbarlichen Anspruch, da sich der an beliebiger Stelle im Gebiet ansässige „Nachbar“ hierauf berufen kann, auch wenn er durch die Nutzung selbst nicht konkret und unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 02.02.2012 - 4 C 14.10 -, BVerwGE 142, 1 = juris Rn. 24), Dem schleichenden Verlust eines angestammten und planerisch gewollten Gebietscharakters kann bereits begrifflich durch eine Anordnung selbst und ihre konsequente Durchsetzung, etwa im Wege des Verwaltungszwangs, wirksam begegnet werden. Der kurzfristigen und vorläufigen Umsetzung des Verbots bedarf es insofern nicht. Aufgrund des – im Vergleich etwa mit akuten Störungen wie im Falle eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot – langen Zeithorizonts und des von konkreten Störungen unabhängigen, gleichermaßen im gesamten Plangebiet bestehenden Anspruchs bedarf seine Durchsetzung keiner kurzfristigen Maßnahmen, die durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung umgesetzt werden soll.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Dem Gebietserhaltungsanspruch und dem wechselseitigen nachbarlichen Austauschverhältnis wäre zudem aufgrund ihrer langfristigen Ausrichtung bei einer wertenden Betrachtung der gegenläufigen nachbarlichen Interessen kaum gedient, würde auf seiner Grundlage eine Nutzung zeitweise untersagt, sofern sich später im Hauptsacheverfahren ein abweichendes Ergebnis als richtig herausstellen sollte. Dies unterscheidet ihn fundamental von dem nachbarlichen Abwehranspruch gegen konkrete und akute Störungen und Belästigungen im Falle des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass die Antragsteller als Nachbarn im Falle eines Verstoßes gegen den Gebietserhaltungsanspruch eine aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG abzuleitende Rechtsposition geltend machen können. Diesem verfassungsmäßigen Anliegen, ihr Eigentum vor einer planabweichenden Bebauung durch Dritte im selben Bebauungsplangebiet zu schützen, wird ebenso bereits hinreichend durch die Nutzungsuntersagung selbst Rechnung getragen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.08.2018 - 5 S 2083/17 -, VBlBW 2019, 77 = juris Rn. 11, zu einem Anspruch auf Einschreiten, ohne Annahme einer Pflicht, die sofortige Vollziehung anzuordnen).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 159 VwGO i. V. m. § 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nach den Grundsätzen der Billigkeit nicht erstattungsfähig, da diese keinen Antrag gestellt und folglich auch kein Kostenrisiko übernommen haben. Die Haftung der Antragsteller hinsichtlich der Kostenforderung folgt der Haftung nach Kopfteilen gemäß § 100 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 159 Satz 1 VwGO. Eine einheitliche Entscheidung lag vorliegend bereits deswegen von vornherein fern, da die Antragsteller aufgrund der Lage ihrer Grundstücke und des Abstands zu den Grundstücken ...straße 30 und 32 von dem Vorhaben ersichtlich in höchst unterschiedlichem Maße betroffen sein konnten. Da die Entscheidung mit Blick auf jedes einzelne Grundstück nur einheitlich ergehen kann, haften die Antragsteller zu 1. und 2., zu. 4. und 5. sowie zu 10. und 11. jeweils als Gesamtschuldner gemäß § 159 Satz 2 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 1 GKG, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und § 39 GKG sowie in Anlehnung an Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31.05./01.06.2012 und am 18.07.2013 beschlossenen Änderungen (abgedruckt unter Hug, in: Kopp/Schenke, VwGO, Anhang zu § 164). Insofern erscheint aus dem in Nr. 9.7.1 allgemein benannten Streitwertrahmen angesichts des Interesses der Antragsteller an der vorläufigen Vollziehung der Nutzungsanordnung für insgesamt zwei (Wohn-)Gebäude ein Streitwert von 10.000,00 EUR im Baunachbarstreitverfahren als angemessen. Dieser Betrag ist nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs aufgrund der noch nicht abschließenden Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz zu halbieren. Aufgrund der für jedes Grundstück notwendigerweise gesondert vorzunehmenden Prüfung mit Blick auf den geltend gemachten Anspruch auf Anordnung der sofortigen Vollziehung ist der genannte Streitwert für jedes Grundstück der Antragsteller gesondert anzusetzen und im Hinblick auf die Anzahl der Grundstücke zu addieren.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,182 | vg-gelsenkirchen-2022-07-18-4-nc-4421 | {
"id": 843,
"name": "Verwaltungsgericht Gelsenkirchen",
"slug": "vg-gelsenkirchen",
"city": 423,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 Nc 44/21 | 2022-07-18T00:00:00 | 2022-08-13T10:02:00 | 2022-10-17T17:55:57 | Beschluss | ECLI:DE:VGGE:2022:0718.4NC44.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1. Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p> Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>2. Der Streitwert wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statthaft und auch ansonsten zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">In der Sache bleibt der Antrag ohne Erfolg. Dem Antragsteller ist es nicht gelungen, im Sinne des § 123 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung glaubhaft zu machen, dass zum Wintersemester 2021/2022 im Studiengang Humanmedizin im ersten Fachsemester über die festgesetzte Kapazität hinaus weitere Studienplätze zur Verfügung stehen, an deren Vergabe der Antragsteller teilhaben könnte.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Anzahl der im ersten Fachsemester an der Universität E. -F. im Studiengang Medizin – Staatsexamen – zur Verfügung stehenden Studienplätze ist durch die Anlage 1 der „Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen im ersten Fachsemester für das Wintersemester 2021/2022“ vom 23. Juni 2021 (GV. NRW. S. 850) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 19. November 2021 (GV. NRW. S. 1222) auf 226 festgesetzt worden.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Überprüfung der Kapazitätsberechnung der Antragsgegnerin ergibt, dass über diese Höchstzahl hinaus keine weiteren Studienplätze vorhanden sind.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Rechtsgrundlage für die Kapazitätsermittlung für das Studienjahr 2021/22 ist die „Verordnung über die Kapazitätsermittlung, die Curricularnormwerte und die Festsetzung von Zulassungszahlen“ (Kapazitätsverordnung – KapVO –) vom 25. August 1994 (GV NRW S. 732) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 18. August 2021 (GV. NRW. S. 1036).</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 KapVO wird die jährliche Aufnahmekapazität (§ 2 Abs. 2 Satz 1 KapVO) in zwei Verfahrensschritten ermittelt: Zunächst durch eine Berechnung auf Grund der personellen Ausstattung nach den Vorschriften des Zweiten Abschnitts (§§ 6 bis 13 KapVO), sodann durch eine Überprüfung des hierbei gewonnenen Ergebnisses anhand der weiteren kapazitätsbestimmenden Kriterien nach den Vorschriften des Dritten Abschnitts (§§ 14 bis 21 KapVO). Bei den Verfahrensschritten sind die Daten eines Stichtages zugrunde zu legen, der von der Hochschule auf ein Datum festgelegt werden darf, das bis zu neun Monaten vor dem Berechnungszeitraum liegt (§ 5 Abs. 1 KapVO). Bei Eintritt wesentlicher Änderungen vor Beginn des Berechnungszeitraums soll eine Neuermittlung und Neufestsetzung durchgeführt werden (§ 5 Abs. 3 KapVO). Dem Gericht liegen die Kapazitätsberechnungen der Lehreinheit Vorklinische Medizin der Universität E. -F. bezogen auf den Überprüfungsstichtag 15. September 2021 vor.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">A. Berechnung aufgrund der personellen Ausstattung (§§ 6 bis 13 KapVO)</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die jährliche Aufnahmekapazität auf Grund der personellen Ausstattung berechnet sich aus dem Verhältnis des Lehrangebots zum Ausbildungsaufwand (§ 6 KapVO in Verbindung mit den Formeln der Anlage 1 zur KapVO).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">I. Ermittlung des Lehrangebots</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Für die Berechnung des Lehrangebots ist von den Regellehrverpflichtungen auszugehen, welche die der Lehreinheit zugeordneten Lehrpersonen der verschiedenen Stellengruppen im Rahmen des Dienstrechts zu erbringen haben. Sie werden in Deputatstunden (DS) gemessen und ergeben das Bruttolehrangebot (§§ 8 bis 10 KapVO). Dieses Bruttolehrangebot (S) wird um die Lehrveranstaltungsstunden vermindert, die die Lehreinheit für ihr nicht zugeordnete Studiengänge zu erbringen hat (Dienstleistungen (E), § 11 Abs. 1 KapVO), woraus sich das bereinigte Lehrangebot (Sb) ergibt.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">1. Ermittlung des Bruttolehrangebots (S)</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">a) Das Bruttolehrangebot wird nach § 8 Abs. 1 Satz 2 KapVO in Verbindung mit Anlage 3 zur KapVO grundsätzlich anhand des Stellen-Solls der Lehreinheit im Haushaltsplan des Landes Nordrhein-Westfalen ermittelt. Dazu hat die Antragsgegnerin eine Stellenübersicht der Vorklinischen Medizin mit Stand vom 20. September 2021 (Anlagen 2 und 5 zur Antragserwiderung vom 4. Februar 2022) vorgelegt, der zufolge dieser Lehreinheit insgesamt 41,5 Planstellen zugeordnet sind.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Diese hier maßgebliche Stellenausstattung der Lehreinheit Vorklinische Medizin mit 41,5 Planstellen findet ihre normative Grundlage im Haushaltsplan des Landes (Anlage 4 zur Antragserwiderung: Haushaltsplan 2021: Kapitel 06108, S. 310 f.). Der Haushaltsplan des Landes mit einer bestimmten Personalausstattung aller Medizinischen Einrichtungen der Universität E. -F. mit Planstellen und anderen Stellen der jeweiligen Wertigkeit genügt den Anforderungen an die Festlegung durch einen Rechtssatz.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22. September 2009 – 13 C 398/09 u. a. –, juris Rn. 6; und vom 26. Januar 2010 – 13 C 407/09 –, juris Rn. 3.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Zuweisung der Planstellen auf die einzelne Lehreinheit (Vorklinische, Klinisch-Praktische und Klinisch-Theoretische Medizin) obliegt den nach dem Hochschulverfassungsrecht dazu berufenen Organen, wogegen keine Bedenken bestehen.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 3. Juli 2013 – 13 C 32/13 –, juris Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Jeder der auf die Vorklinische Medizin entfallenden 41,5 (Plan-)Stellen ist ein bestimmtes Lehrdeputat zugeordnet, das sich nach der im Rahmen des Dienstrechts festgesetzten Regellehrverpflichtung der Lehrperson richtet (§ 9 Abs. 1 KapVO). Der Umfang der einzelnen Lehrverpflichtungen wird durch § 3 der Verordnung über die Lehrverpflichtung an Universitäten und Fachhochschulen (Lehrverpflichtungsverordnung – LVV –) vom 24. Juli 2009 (GV NRW 2009, S. 409) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 17. November 2021 (GV. NRW. S. 1222), in Kraft getreten am 1. Dezember 2021 bestimmt.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Umfang der Lehrdeputate in den hier maßgeblichen Vorschriften § 3 Abs. 1 Nrn. 1, 4, 5, 6, 8, 10 und 11 LVV ist unverändert im Vergleich zur Fassung der Änderungsverordnung vom 1. Juli 2016 (GV. NRW. S. 526) und zur Fassung der Änderungsverordnung vom 8. September 2021 (GV. NRW. S. 1100), in Kraft getreten am 29. September 2021.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Bei 41,5 (Plan-) Stellen besteht nach den Kapazitätsberechnungen der Universität und des Ministeriums im Wintersemester 2021/22 ein Bruttolehrangebot in Höhe von 220 DS:</p>
<span class="absatzRechts">21</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p><span style="text-decoration:underline">Stellenangebot 2021/2022</span></p>
</td>
<td><p><span style="text-decoration:underline">Stellenzahl</span></p>
</td>
<td><p><span style="text-decoration:underline">Lehrdeputat</span></p>
</td>
<td><p><span style="text-decoration:underline">Angebot in DS</span></p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>W 3/C 4-Professor auf Lebenszeit</p>
</td>
<td><p>4</p>
</td>
<td><p>9</p>
</td>
<td><p>36</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>W 2/C 3-Professor auf Lebenszeit</p>
</td>
<td><p>4</p>
</td>
<td><p>9</p>
</td>
<td><p>36</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>W 1 Juniorprofessor (2. Phase)</p>
</td>
<td><p>1</p>
</td>
<td><p>5</p>
</td>
<td><p>5</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>A 15-13 Akad. Rat (§ 3 I Nr. 11 LVV)</p>
</td>
<td><p>3</p>
</td>
<td><p>5</p>
</td>
<td><p>15</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>A 13 Akad. Rat auf Zeit</p>
</td>
<td><p>4</p>
</td>
<td><p>4</p>
</td>
<td><p>16</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>TVL Wiss. Ang., befristet</p>
</td>
<td><p>23</p>
</td>
<td><p>4</p>
</td>
<td><p>92</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>TVL Wiss. Ang., unbefristet</p>
</td>
<td><p> 2,5</p>
</td>
<td><p>8</p>
</td>
<td><p>20</p>
</td>
</tr>
<tr><td></td>
<td><p>41,5</p>
</td>
<td></td>
<td><p>220</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Bei der Ermittlung des (unbereinigten) Lehrangebotes werden alle in der Stellenübersicht für die Vorklinische Medizin aufgeführten Stellen (Anlagen 2 und 5, Stand: 15. September 2021) berücksichtigt. Der Ansatz dieser Lehrveranstaltungsstunden ist bei summarischer Prüfung des Gerichts zutreffend erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Kapazitätsverordnung geht hinsichtlich des Lehrangebots vom Stellenprinzip aus (§ 8 Abs. 1, § 9 Abs. 1 KapVO). Danach ist die Lehrpersonalstelle unabhängig von ihrer Besetzung und der Qualifikation ihres Inhabers mit der abstrakt für die Gruppe, der die Stelle zuzuordnen ist, festgelegten Regellehrverpflichtung in Ansatz zu bringen. Es kommt allein auf die Regellehrverpflichtung der Stelle nach der jeweiligen Stellengruppe an, nicht auf die dienstrechtliche Stellung des Inhabers oder einer im Arbeitsvertrag festgelegten Lehrpflicht. Eine Lehrpersonalstelle erlangt nur dann faktisch einen anderen Amts- bzw. Dienstinhalt, wenn sie von der Hochschule bewusst dauerhaft durch Besetzung mit einer Lehrperson mit vereinbarter individuell höherer Lehrverpflichtung oder mit rechtlich höher anzusetzender Lehrverpflichtung höherwertig genutzt wird. Eine arbeitsrechtliche Betrachtung ist nicht geboten, da das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) keine kapazitätsrechtliche Bedeutung hat. Außerdem gilt bei wissenschaftlichen Mitarbeitern, dass deren Stellen der Lehreinheit – anders als bei den übrigen Stellen des hauptberuflichen Lehrpersonals – nicht zur Erhöhung des Angebots an ausbildungstragender selbständiger Lehre zustehen, sondern nur, um die selbständige Lehre im erforderlichen Umfang um unselbständige Lehre zu ergänzen. Angesichts des grundsätzlichen Interesses einer jeden Universität als Arbeitgeber, befristete Stellen nicht zu Dauerarbeitsverhältnissen werden zu lassen, und wegen des Bestrebens, möglichst vielen (Nachwuchs-) Wissenschaftlern eine Chance zur weiteren Qualifizierung einzuräumen, ist davon auszugehen, dass der Einhaltung der Befristungsgrenzen großes Augenmerk gewidmet wird.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. Juli 2013 – 13 C 32/13 –, juris Rn. 13 f.; Beschluss vom 31. Juli 2012 – 13 C 28/12 –, juris Rn. 14; Beschluss vom 25. Mai 2011 – 13 C 33/11 –, juris Rn. 5; Beschluss vom 9. Juni 2010 – 13 C 254/10 –, juris Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Diese Maßgaben hat die Antragsgegnerin bei der Kapazitätsberechnung beachtet. Laut Antragserwiderung (Bl. 3) ist keiner Lehrperson auf Dauer eine höhere individuelle Lehrverpflichtung als die Regellehrverpflichtung zugewiesen. Insbesondere bei der Stellengruppe der wissenschaftlichen Angestellten, die befristete Verträge haben und die auf einer Planstelle für Zeitangestellte geführt werden, hat die Antragsgegnerin zu Recht gemäß § 3 Abs. 4 Satz 5 LVV eine Lehrverpflichtung von 4 DS angesetzt. Die Befristungen dieser Arbeitsverhältnisse sind nach Durchsicht der vorgelegten Arbeitsverträge (Anlage 6 zur Antragserwiderung) nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Einstellung befristet beschäftigter wissenschaftlicher Mitarbeiter aus Mitteln des Hochschulpaktes nach dem WissZeitVG bzw. dem Teilzeit- und Befristungsgesetz führt nicht dazu, dass die Lehrverpflichtung dieser Angestelltengruppe mit mehr als vier Deputatstunden in Ansatz gebracht werden müsste. Die Lehrverpflichtung dieser Stellengruppe beträgt nach § 3 Abs. 4 Satz 5 LVV vier Lehrveranstaltungsstunden.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, hiervon bei der Kapazitätsberechnung zugunsten des Antragstellers abzuweichen, besteht nicht.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg wenden sich die Antragsteller gegen die Reduzierung des Lehrdeputats der Akademischen Rätinnen und Räte E1. . E2. , Q. . L. und E1. . X. .</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Es liegt im Organisationsermessen der Universität, ob und in welchem Umfang sie den Inhabern der in § 3 Abs. 1 Nr. 10 und 11 LVV genannten Stellen Dienstaufgaben ohne Lehrverpflichtung zuweist. Der Kapazitätserschöpfungsgrundsatz gebietet es der Universität dabei nicht, stets die kapazitätsgünstigere Alternative zu wählen. Jedoch sind in die Abwägung neben organisatorischen, planerischen, haushaltsspezifischen und wissenschaftsbezogenen Aspekten auch die Belange der Studienbewerber einzubeziehen. Diese Abwägungsentscheidung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf überprüfbar, ob es an einem sachlichen Grund für die Deputatsreduzierung fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Oktober 2018 – 13 C 50/18 –, juris Rn. 4; OVG NRW Beschluss vom 30. September 2021 – 13 C 30/21 –, juris Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Indem die Antragsgegnerin hier drei Stellen A 15-A 13 als solche für Akademische Rätinnen und Räte, Akademische Oberrätinnen und Oberräte, Akademische Direktorinnen und Direktoren in der Besoldungsordnung A, denen mindestens zu drei Vierteln der regelmäßigen Arbeitszeit Dienstaufgaben ohne Lehrverpflichtung obliegen, mit der Folge einer Deputatsreduktion um 4 SWS (vgl. § 3 Abs. 1 Nrn. 11 LVV) eingerichtet hat, überschreitet sie das ihr zustehende Organisationsermessen nicht. In der Anlage zum Schreiben des Studiendekans vom 21. November 2021 (Anlage zum Schriftsatz vom 25. Mai 2022) werden die Gründe, die für die Verringerung der Lehrverpflichtungen ausschlaggebend waren, anhand der jeweiligen Aufgabenprofile der Stelleninhaber (E1. . E2. , Q. . L. , E1. . X. ) nachvollziehbar erläutert.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Auch das Erfordernis des § 3 Abs. 3 LVV in den Fassungen der Änderungsverordnungen vom 1. Juli 2016 und vom 8. September 2021 (vgl. oben), studienjährlich zu überprüfen, ob und aus welchen Gründen von der höheren Lehrverpflichtung nach § 3 Abs. 1 Nr. 10 LVV abgewichen wurde und dies aktenkundig zu machen, ist erfüllt. Laut Stellungnahme des Studiendekans vom 21. November 2021 sind die Aufgabenprofile vom Dekanat im Zuge der Neuorganisation der Lehre für das Fach Biologie für Mediziner im Juni 2021 (also: vor dem maßgeblichen Stichtag für die Kapazitätsberechnung für das Studienjahr 2021/22 am 15. September 2021) umfänglich erörtert und sodann einvernehmlich (schriftlich) festgelegt worden.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">b) Eine Reduzierung des Lehrdeputats nach § 9 Abs. 2 KapVO hat die Antragsgegnerin laut Erklärung des Studiendekans vom 21. November 2021 (Anlage 7 zur Antragserwiderung) in der Kapazitätsberechnung nicht angesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">c) Lehrauftragsstunden im Sinne des § 10 KapVO, die das Lehrangebot erhöhen, standen in den dem Berechnungsstichtag 15. September 2021 vorausgegangenen beiden Semestern nicht zur Verfügung. Im Pflichtlehrbereich besteht auch keine Titellehre, wie sich aus der Antragserwiderung (Bl. 4) ergibt.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">d) Das Lehrangebot der Lehreinheit Vorklinische Medizin ist nicht wegen Zweit- oder Doppelstudenten zu erhöhen. Nach den Angaben der Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung waren keine solchen Studierenden eingeschrieben.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">2. Dienstleistungsexport (§ 11 KapVO)</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Bruttolehrangebot (220 DS) ist um die Lehrveranstaltungsstunden zu vermindern, die eine Lehreinheit für ihr nicht zugeordnete Studiengänge zu erbringen hat (§ 11 Abs. 1 KapVO). Als Dienstleistungsexport dürfen nur solche Lehrveranstaltungsstunden abgezogen werden, die nach der Studien- bzw. Prüfungsordnung des nicht zugeordneten Studiengangs für den erfolgreichen Abschluss des Studiums zwingend erforderlich sind. Ein Dienstleistungsexport für reine Wahlfächer des importierenden Studiengangs ist deshalb nicht kapazitätsmindernd berücksichtigungsfähig.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Der Dienstleistungsabzug (E) für Lehrleistungen an nicht zugeordnete Studiengänge berechnet sich nach der Formel (2) der Anlage 1 zur KapVO – wegen der einsemestrigen Betrachtung im vorliegend zu berechnenden ersten Fachsemester – aus der Hälfte der jährlichen Studienanfängerzahl in dem nicht zugeordneten Studiengang (A<sub>q</sub>/2), multipliziert mit dessen Curricularanteil (CA<sub>q</sub>) am Curricularnormwert des nicht zugeordneten Studiengangs:</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks"><img height="50" width="112" src="4_Nc_44_21_Beschluss_20220718_0.png" alt="Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik." /></p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Curricularanteil wiederum ergibt sich nach der in Nr. 1 der Anlage 2 zur Kapazitätsverordnung vom 18. Januar 1977 (GV NRW S. 50) geregelten Formel aus dem Produkt der Zahl der Semesterwochenstunden (v) und dem Anrechnungsfaktor (f), dividiert durch die Betreuungsrelation (g):</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks"><img height="50" width="95" src="4_Nc_44_21_Beschluss_20220718_1.png" alt="Die Entscheidung enthält an dieser Stelle ein Bild oder eine Grafik." /></p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Der Anrechnungsfaktor (f) drückt das Maß der durchschnittlichen Inanspruchnahme der Lehrperson durch Vorbereitung, Nachbereitung und Durchführung einer Lehrveranstaltungsstunde aus; die Betreuungsrelation (g) ist die Zahl der Studenten, die in einer Lehrveranstaltung im Durchschnitt von einer Lehrperson zu betreuen ist. Die Anrechnungsfaktoren für die verschiedenen Lehrveranstaltungsarten werden nach wie vor der Anlage 2 zur KapVO vom 18. Januar 1977 und die Betreuungsrelation der Anlage 2 zur KapVO vom 3. Dezember 1975 (GV NRW S. 687) entnommen.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Curricularwerte für die in der Lehreinheit Vorklinische Medizin nachfragenden Studiengänge liegen mittlerweile gemäß der Anlage 1 zu § 6 der Verordnung zur Ermittlung der Aufnahmekapazität an Hochschulen in Nordrhein-Westfalen für Studiengänge außerhalb des zentralen Vergabeverfahrens (Kapazitätsverordnung NRW 2017 – KapVO 2017 –) vom 8. Mai 2017 (GV NRW 2017 S. 591), geändert durch Verordnung vom 15. April 2021 (GV. NRW. S. 440), für die vorliegend interessierende Fächergruppe der Naturwissenschaften (Medizinische Biologie, Chemie und Medizintechnik) nach dem so genannten Bandbreitenmodell im Bachelorstudiengang bei 3,4 bis 4,6, im Masterstudiengang bei 1,7 bis 2,3. Diese normative Festsetzung der äußeren Grenzen der einzuhaltenden Curricularwerte genügt den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts, nach denen der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat. Eine umfassende und abschließende Festlegung eines Curricularnormwertes durch den Verordnungsgeber ist nicht notwendig. Die Ableitung der Curricularwerte aus den bisher geltenden Curricularnormwerten für Diplomstudiengänge (80 % für Bachelor, 40 % für Master; Anm. 1 zur Anlage 1 zu § 6 KapVO 2017) durch die Hochschule selbst anhand der jeweils maßgeblichen Studienordnung ist nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. März 2012 – 13 B 55/12 –, juris Rn. 21 f.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Lehreinheit Vorklinische Medizin erbringt nach den Angaben der Antragsgegnerin aus der Antragserwiderung vom 4. Februar 2022 (Bl. 4 ff.) und nach den Kapazitätsunterlagen für das Studienjahr 2021/2022 (Bl. 2 der Anlage 2 zur Antragserwiderung) Lehrleistungen für die nicht zugeordneten Studiengänge Medizinische Biologie/BA, Medizinische Biologie/MA, Chemie/BA, Chemie/MA und Medizintechnik/BA. Das Lehrangebot ist vorliegend um insgesamt <strong>39,06 DS</strong> zu bereinigen.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">a) Studiengang Medizinische Biologie/BA</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Lehrleistungen, die von der Vorklinischen Medizin für den örtlich zulassungsbeschränkten Studiengang Medizinische Biologie/BA erbracht werden, ergeben sich aus der Quantifizierung des Studiengangs (vgl. Anlage 8b). Demzufolge erbringt die Lehreinheit Vorklinische Medizin Lehrveranstaltungen in einem Umfang von insgesamt (aufgerundet) 0,92 CA<sub>q</sub>, der sich wie folgt ergibt: Biochemie/Molekularbiologie Vorlesung Teil I (0,0111) und Teil II (0,0222) sowie Seminar Teil I (0,0750) und Teil II (0,0750), Mikroskopische Anatomie Vorlesung (0,0139) und Kurs Teil II (0,0667), Makroskopische Anatomie Vorlesung Teil II (0,0139) und Seminar (0,0500), Physiologie A I Vorlesung (0,0222) und Seminar (0,0750), Physiologie A II Vorlesung (0,0222) und Seminar (0,0600), Biochemie B/ Molekularbiologie Praktikumsseminar (0,0500) und Praktikum (0,1460), Physiologie B Praktikumsseminar (0,0500) und Praktikum (0,1667) (in der Summe rechnerisch 0,9199, gerundet 0,92; unverändert zum WS 2015/2016, WS 2017/2018, WS 2018/19, WS 2019/20, WS 2020/21 vgl. Beschlüsse der Kammer vom 16. März 2016 – 4 Nc 105/15 –, 7. Juni 2018 – 4 Nc 78/17 –, 8. März 2019 – 4 Nc 119/18 –,18. Mai 2020 – 4 Nc 111/19 – und vom 23. März 2021 – 4 Nc 68/20).</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Notwendigkeit dieser Veranstaltungen ergibt sich aus dem Studienplan für den Bachelorstudiengang Medizinische Biologie in Anlage 1 zu § 7 der Prüfungsordnung für den Bachelorstudiengang Medizinische Biologie an der Universität E. -F. vom 17. Mai 2013 in der Fassung vom 15. Juni 2015, zuletzt geändert durch Änderungsordnung vom 10. April 2018 (Anlage 8a zur Antragserwiderung). Im dortigen Studienplan für den Bachelorstudiengang Medizinische Biologie werden die Module aufgeführt: BA-6 Biochemie A: vier im Einzelnen aufgeführten Veranstaltungen, BA-7 Anatomie: vier im Einzelnen benannte Veranstaltungen, BA-8 Physiologie A: vier genannte Veranstaltungen, BA-11 Biochemie B: zwei Veranstaltungen (die sich aus den beiden im Studienplan angeführten Veranstaltungsarten Seminar bzw. Praktikum – „SE/PR“ – ergeben) sowie das Modul BA 12 Physiologie B: zwei Veranstaltungen (die sich ebenfalls aus den beiden im Studienplan genannten Veranstaltungsarten Seminar bzw. Praktikum ergeben). Bei summarischer Prüfung bestehen hinsichtlich der Notwendigkeit dieser Lehrveranstaltungen keine Bedenken. Die Summe der Curricularanteile, die von den unterschiedlichen Lehreinheiten (Biologie, Vorklinische Medizin, Klinisch-Theoretische Medizin, Klinisch-Praktische Medizin, Chemie, Physik, Mathematik und IOS – Institut für Optionale Studien –) für den Studiengang Medizinische Biologie/Bachelor erbracht werden, halten den in der Anlage 1 zu § 6 Abs. 1 KapVO 2017 festgelegten oberen Curricularwert für Bachelorstudiengänge der Naturwissenschaften mit der Bandbreite 3,4 bis 4,6 ein. Die vorgelegte Quantifizierung dieses nachfragenden Studiengangs (Anlage 8b zur Antragserwiderung) enthält rechnerische Curricularanteile von zusammen 3,62.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Soweit antragstellerseitig geltend gemacht wird, die Lehrveranstaltungen zur Physiologie hätten nicht von der Lehreinheit Vorklinik, sondern von der Klinik exportiert werden müssen, kann dem nicht gefolgt werden. Der Studiendekan hat hierzu in seiner Stellungnahme vom 24. Mai 2022 nachvollziehbar ausgeführt, dass es in diesen Veranstaltungen nicht um die Vermittlung klinisch-praktischen Wissens, sondern um die Vermittlung naturwissenschaftlich physiologischer Grundlagen gehe, wie sie gerade auch in der Medizinischen Biologie benötigt würden.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Ferner ist festzuhalten, dass die Antragsgegnerin in ihrer Kapazitätsberechnung zum 15. September 2021 für die Lehreinheit Vorklinische Medizin für die Berechnung des Dienstleistungsexports für den Studiengang Medizinische Biologie/Bachelor (Anlage 2, Blatt 2 der Antragserwiderung) mit den für den Studiengang Medizinische Biologie festgesetzten (vgl. § 5 Abs. 4 KapVO 2017) 46 Studienplätzen (vgl. Anlage 2 zu § 1 der der Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen im ersten Fachsemester für das Wintersemester 2021/2022“ 23. Juni 2021 (GV. NRW. S. 850) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 19. November 2021 (GV. NRW. S. 1222)) gerechnet hat (vgl. zur Berechnung dieser Kapazität der Studienplatzzahl: Bl. 3 der Anlage 8c zur Antragserwiderung). Ausgehend von den festgesetzten 46 Studienplätzen ist für die Berechnung des Exports der Lehreinheit Vorklinische Medizin beim Ansatz der halbierten Aufnahmekapazität des zulassungsbeschränkten nicht zugeordneten Studiengangs zu beachten, dass der Schwund bei der Berechnung des Dienstleistungsbedarfs, den der exportierende Studiengang erbringt, im Rahmen der auf ihn bezogenen Kapazitätsberechnung abzuziehen ist.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2003, Rn. 3 zu § 11 KapVO, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Deshalb ist die förmlich festgesetzte Studienplatzzahl des Studiengangs Medizinische Biologie/BA um den Schwund zu bereinigen, so dass 34 Studienplätze in die Berechnung eingehen (Anlage 8c Blatt 3 zur Antragserwiderung). Dies ergibt einen A<sub>q</sub>/2-Wert von 17,00 und es errechnet sich ein Dienstleistungsexport von <strong>0,92 * 17 = 15,64 DS</strong>. (Antragserwiderung, Blatt 8).</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">b) Medizinische Biologie/MA</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Der Dienstleistungsexport der Vorklinischen Medizin für den Studiengang Medizinische Biologie/MA beschränkt sich ausweislich der vorliegenden Quantifizierung (Anlage 9b zur Antragserwiderung) auf zwei Lehrveranstaltungen – die Vorlesung Pathobiologie (0,0044) und das Seminar zur Pathobiologie (0,0400). Deren Notwendigkeit folgt aus der Anlage 4 zu § 10 der Prüfungsordnung für den Masterstudiengang Medizinische Biologie an der Universität E. -F. vom 8. Juli 2008 in der Fassung der Änderungsordnung vom 24. April 2020, Studienverlaufsplan Master Medizinische Biologie (dort das Modul 8a/9a Pathobiologie mit diesen zwei Veranstaltungen).</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Soweit antragstellerseitig geltend gemacht wird, die Lehrveranstaltung zur Pathobiologie hätte nicht von der Lehreinheit Vorklinik, sondern von der Klinik exportiert werden müssen, kann dem nicht gefolgt werden. Der Studiendekan hat hierzu in seiner Stellungnahme vom 24. Mai 2022 nachvollziehbar ausgeführt, dass es in dieser Veranstaltung nicht um die Vermittlung klinisch-praktischen Wissens, sondern um die Vermittlung naturwissenschaftlicher Grundlagen gehe.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der Curricularanteil in Höhe von (gerundet) 0,04 ist nach summarischer Prüfung nicht zu beanstanden. Ausgehend von um den Schwundausgleich verminderten 39 Studienplätzen ergibt sich für Aq/2 ein Wert von 19,5 und es errechnet sich ein zu Lasten der Vorklinik anzusetzender Dienstleistungsexport in Höhe von <strong>0,04 * 19,5 = 0,78 DS</strong>.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">c) Studiengang Chemie/BA</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Lehrleistungen, die die Vorklinische Medizin für den Studiengang Chemie/BA erbringt, lassen sich der Quantifizierung des Studiengangs (Anlage 10b zur Antragserwiderung) entnehmen. Der Curricularanteil von insgesamt 0,08 für das Wahlpflicht-Modul Physiologie/Physiologische Chemie (Seminar: 0,01 und Praktikum: 0,07) begegnet keinen Bedenken. Die Notwendigkeit dieser Veranstaltungen ergibt sich aus dem Studienplan für den Bachelor-Studiengang Chemie (dort das Modul Einführung in die Physiologische Chemie/Physiologie mit den genannten Veranstaltungen) in Anlage 1 zu § 7 der Prüfungsordnung für den Bachelor-Studiengang Chemie an der Universität E. -F. vom 15. Mai 2012 in der Fassung vom 11. August 2017. Anders als die Antragsteller meinen, durften die Veranstaltungen als Dienstleistungsexport in Ansatz gebracht werden. Da es sich um Wahlpflichtmodule (und nicht: um „reine“ Wahlfächer, vgl. oben) handelt, gehören die Lehrveranstaltungen zum Kerncurriulum des Studiengangs; ihnen kann nicht abgesprochen werden, dass sie für den erfolgreichen Abschluss von vorneherein nicht erforderlich seien.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht zu beanstanden, dass die Summe aller rechnerisch dem Studiengang erbrachten Curricularanteile mit 5,11 den Oberwert des Curricularwertes von 4,6 aus der Anlage 1 zu § 6 KapVO 2017 um den Wert von 0,51 überschreitet, und allein der Eigenanteil dieses nachfragenden Studiengangs, nicht aber der Fremdanteil der exportierenden Lehreinheit Vorklinische Medizin gekürzt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 5. Juli 2019 – 13 C 37/19 –, juris Rn. 7.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Eine Manipulation der Hochschule kann bei summarischer Prüfung nicht festgestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen ist die mit jedem Dienstleistungsexport einer Lehreinheit einhergehende Beeinträchtigung des grundrechtlichen Anspruchs eines Studienbewerbers auf Studienzulassung, der bei Nc-Studiengängen als Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Ausbildungskapazitäten gewährleistet ist, nicht unverhältnismäßig. Die als Dienstleistung exportierte Lehre geht nicht verloren, sondern schafft Ausbildungskapazität in einem anderen Studiengang. Weder das Kapazitätserschöpfungsgebot noch das Teilhaberecht des Studienbewerbers vermitteln einen Anspruch darauf, das Lehrpotential der wissenschaftlichen Lehrkräfte einer Hochschule ausschließlich in einer den „harten“ Studiengängen zugutekommenden Weise einzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Juli 2019 – 13 C 37/19 –, juris Rn. 16, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Deshalb ist der Curricularanteil von 0,08 in die Berechnung des Dienstleistungsexportes bei der Kapazitätsberechnung des Studiengangs Vorklinische Medizin (siehe Anlage 2, Blatt 2 zur Antragserwiderung) einzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Für den nicht zulassungsbeschränkten Studiengang Chemie/BA hat die Antragsgegnerin zur Ermittlung der Einsatzgröße A<sub>q</sub> für den Dienstleistungsexport eine jährliche Studienanfängerzulassungszahl von 129 (A<sub>q</sub>), also einen A<sub>q</sub>/2-Wert von 64,5 angesetzt, der sich aus der halbierten Studienanfängerzahl des Vorjahres ergibt (Bl. 3 der Anlage 10c zur Antragserwiderung).</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Soweit von der Antragstellerseite eingewendet wird, es sei fehlerhaft, bei der Bildung des Aq/2-Werts die gesamte Studienanfängerzahl für den Studiengang anzusetzen, kann dem nicht gefolgt werden. Bereits bei der Berechnung der Curricularanteile für die oben genannten, von der Lehreinheit Vorklinische Medizin erbrachten Veranstaltungen (Vorlesung und Seminar) wurde jeweils ein Wahlpflichtfaktor von 9/31 berücksichtigt (vgl. Anlage 10b zur Antragserwiderung).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Nach alledem errechnet sich ein zu Lasten der Vorklinik anzusetzender Dienstleistungsexport nach der oben genannten Formel in Höhe von <strong>0,08 *64,5 = 5,16 DS</strong>.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">d) Studiengang Chemie/MA</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die Lehrleistungen, die die Vorklinische Medizin für den von der Lehreinheit Chemie angebotenen (zulassungsfreien) Masterstudiengang Chemie und Medizinisch-Biologische Chemie erbringt, ergeben sich aus der von der Antragsgegnerin vorgelegten Quantifizierung des Studiengangs (Anlage 11b zur Antragserwiderung). Bei summarischer Prüfung bestehen hinsichtlich der Notwendigkeit der in die Berechnung eingeflossenen Lehrveranstaltungen des Studiengangs Chemie/MA keine Bedenken. In der Quantifizierung dieses importierenden Studiengangs (Anlage 11b Bl. 3) weist die Antragsgegnerin für den Zweig Chemie einen Curricularanteil (CA<sub>q</sub>) der Lehreinheit Vorklinische Medizin in Höhe von (aufgerundet) 0,01 und für den Zweig Medizinisch-Biologische Chemie in Höhe von (aufgerundet) 1,66 – in Summe: 1,67 – aus. Die Notwendigkeit des Curricularanteils in Höhe von insgesamt 0,01 für den Studiengang Chemie/MA (Zweig Chemie) hinsichtlich der zwei Pflichtveranstaltungen Vorlesung Physiologie I (0,0028), Vorlesung Zell- und Gewebebiochemie (0,0028) und der zwei Wahlpflichtveranstaltungen Vorlesung Pathobiologie (0,0014) und einer zugehörigen Übung (0,0065) ergibt sich aus dem Studienplan für den Masterstudiengang Zweig Chemie (Anlage 1 zu § 7 der Prüfungsordnung für den Masterstudiengang Chemie an der Universität E. -F. vom 24. Mai 2012 in der maßgeblichen Fassung der fünften Änderungsverordnung vom 14. Juli 2017). Da die beiden letztgenannten Lehrveranstaltungen zu einem Wahlpflichtmodul gehören, zählen sie zum Kerncurriulum des Studiengangs; ihnen kann nicht abgesprochen werden, dass sie für den erfolgreichen Abschluss von vorneherein nicht erforderlich seien.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Dass ein Curricularanteil in Höhe von insgesamt aufgerundet 1,66 für den Studiengang Chemie/MA (Zweig Medizinisch-Biologische Chemie) hinsichtlich der Veranstaltungen Vorlesung Physiologie I (0,0222), Vorlesung Zell- und Gewebebiochemie (0,0222), Vorlesung Physiologie II (0,0222) nebst Praktikum (0,2), Vorlesung Molekulare Biochemie (0,0111), Repetitorium der Biochemie (0,0111) sowie eines Praktikums Biochemie (0,2), des Seminars Biochemie/Physiologie (0,05) und eines (weiteren) Praktikums Biochemie/Physiologie (0,75) erforderlich ist, ergibt sich aus dem Studienplan für den Zweig Medizinisch-Biologische Chemie, A) Pflichtbereich (Anlage 1 zu § 7 der Prüfungsordnung des Master-Studiengangs Chemie). Dies gilt auch für die Wahlpflichtveranstaltungen des Vertiefungspraktikums der Physiologie (Phys-P; S. 20 der Prüfungsordnung), bestehend aus einem Seminar (0,0165) nebst Praktikum (0,1557), und des Vertiefungspraktikums der Biochemie (BCP-P; S. 20 der Prüfungsordnung), bestehend aus einem Seminar (0,0165) und Praktikum (0,1557). Ebenso ist die Biochemieveranstaltung Pathobiologie mit einer Vorlesung (0,0013) und einer Übung (0,006) (BC-V2; S. 21 des Studienplans) sowie das im Rahmen des Vertiefungsmoduls jeweils zu wählende Master-Seminar der Biochemie (0,0080) bzw. der Physiologie (0,0080) (BCP-S; S. 21 der Prüfungsordnung) im Wahlpflichtbereich vorgeschrieben. Da die letztgenannten Lehrveranstaltungen zu einem Wahlpflichtmodul gehören, zählen sie zum Kerncurriulum des Studiengangs; ihnen kann nicht abgesprochen werden, dass sie für den erfolgreichen Abschluss von vorneherein nicht erforderlich seien.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Antragsgegnerin ist bei der Berechnung von einer Gewichtung von 90 % im Studienzweig Chemie und von 10 % im Studienzweig Medizinisch Biologische Chemie ausgegangen. Der daraus abgeleitete Curricularanteil beträgt 0,175 (0,01 * 0,9 + 1,66 * 0,1), gerundet <strong>0,18</strong> (Anlage 11b, Blatt 3). Gegen diese Vorgehensweise bestehen keine Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Zur Ermittlung der Einsatzgröße A<sub>q</sub> für den Dienstleistungsexport ist die Antragsgegnerin von 32 Studienanfängern ausgegangen, sie hat also einen A<sub>q</sub>/2-Wert von 16 angesetzt (Bl. 3 der Anlage 10c). Soweit von der Antragstellerseite eingewendet wird, es sei im Hinblick auf die Wahlpflichtveranstaltungen fehlerhaft, bei der Bildung des Aq/2-Werts die gesamte Studienanfängerzahl für den Studiengang anzusetzen, kann dem nicht gefolgt werden. Bereits bei der Berechnung der Curricularanteile für die oben genannten, von der Lehreinheit Vorklinische Medizin erbrachten Wahlpflichtveranstaltungen wurden jeweils Wahlpflichtfaktoren berücksichtigt (vgl. Anlage 11b zur Antragserwiderung): Für den Zweig Chemie wurde ein Faktor 1/6 herangezogen, für den Zweig medizinisch-biologische Chemie 1/3 (Praktika) bzw. 5/11 (Vorlesungen).</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Die Kürzung des Curricularwertes der beiden Master-Studiengänge Chemie bzw. Medizinisch-Biologische Chemie nach der vorgelegten Quantifizierung (Bl. 3 der Anlage 11b) mit dem Gesamtwert der rechnerischen Curricularanteile von 3,63 – der den Oberwert von 2,3 aus der Anlage 1 zu § 6 KapVO 2017 um 1,33 überschreitet – allein beim Eigenanteil dieser beiden nachfragenden Studiengänge ist nach dem vorstehend zum Studiengang Chemie/BA Ausgeführten unbedenklich.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Daraus ergibt sich nach der genannten Formel ein Dienstleistungsexport von<strong>0,18 * 16 = 2,88 DS</strong>.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">e) Studiengang Medizintechnik/BA</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Für den örtlich zulassungsbeschränkten, zum Wintersemester 2015/16 eingerichteten Studiengang Medizintechnik (Bachelor) erbringt die Lehreinheit Vorklinische Medizin Lehrveranstaltungen in einem Umfang von insgesamt 0,73 CA<sub>q</sub><em>.</em></p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Im Einzelnen (vgl. Anlage zur Antragserwiderung vom 12. Juli 2022): Anatomie I Vorlesung (0,0800) sowie Seminar (0,0800), Anatomie II Vorlesung (0,0200) sowie Seminar (0,0400), Biochemie I Vorlesung (0,0400) sowie Seminar (0,0400), Biochemie II Vorlesung (0,0800) sowie Seminar (0,0400) und Praktikum (0,1333), Physiologie Vorlesung (0,0400) sowie Praktikum (0,1333) (in der Summe rechnerisch 0,7266, gerundet 0,73). Deren Notwendigkeit folgt aus dem Studienplan Medizintechnik/BA Abschnitt a. (Pflichtbereich) (Anlage 1 zur Prüfungsordnung für den Bachelorstudiengang Medizintechnik an der Universität E. -F. vom 19. April 2021 in der Fassung der Änderungsordnung vom 16. September 2021, vgl. Anlage 12a zur Antragserwiderung).</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Legt man die zwischen Rektorat, medizinischer Fakultät und Fakultät für Ingenieurswissenschaften vereinbarten 50 Studienplätze zu Grunde, ergibt sich nach Bereinigung um den Schwundausgleichsfaktors eine Studienplatzzahl von 40 und ein Aq/2-Wert von 20. Daraus errechnet sich ein zu Lasten der Vorklinik anzusetzender Dienstleistungsexport in Höhe von <strong>E = 0,73*20 = 14,6 DS.</strong></p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von dem Lehrdeputat der Lehreinheit Vorklinische Medizin (220 DS) beträgt das bereinigte Lehrangebot nach Abzug der Dienstleistungsexporte an nicht zugeordnete Studiengänge in Höhe von 39,06 DS insgesamt <strong>180,94 DS</strong> je Semester.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">II. Ausbildungsaufwand (Lehrnachfrage)</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Das bereinigte Lehrangebot (Sb) ist ins Verhältnis zu setzen zu dem Ausbildungsaufwand, der für die ordnungsgemäße Ausbildung eines Studenten im jeweiligen Studiengang erforderlich ist (Curricularnormwert – CNW –, § 13 Abs. 1 Satz 1 KapVO). Zum Ausbildungsaufwand (Lehrnachfrage) gehören diejenigen Pflichtveranstaltungen, deren Besuch nach der maßgeblichen Prüfungsordnung bei der Meldung zur Abschlussprüfung für den zugeordneten Studiengang nachzuweisen ist.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">1. Der Curricularnormwert für den Vorklinischen Teil des Studiengangs Medizin beträgt nach der Nr. 26 lit. a) Anlage 2 zu § 13 Abs. 1 Satz 2 KapVO in der Fassung vom 12. August 2003 (GV NRW 2003 S. 544) <strong>2,42</strong>. Auf der Grundlage der Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO) vom 27. Juni 2002 (BGBl. I S. 2405), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. März 2020, umfasst die ärztliche Ausbildung im 1. Studienabschnitt Lehrveranstaltungen im Umfang von 104 SWS und einen Curricularanteil von 2,4167 bei einer zu Grunde gelegten Semesterlänge von 14 Wochen.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Die Universität E. -F. hat die Vorgaben der ÄApprO mit der Studienordnung (StO) für den Studiengang Medizin an der Universität E. -F. mit dem Abschluss der Ärztlichen Prüfung (Staatsexamen) vom 17. März 2004 in der für den Stichtag 15. September 2021 maßgeblichen Fassung der achtzehnten Änderungsverordnung vom 22. November 2019 umgesetzt. Das hat die Antragsgegnerin in den Eilrechtsschutzverfahren vorangegangene Studienjahre betreffend mit entsprechenden Quantifizierungen für den vorklinischen Studienabschnitt stichhaltig belegt, ohne dass dies vom erkennenden Gericht oder dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen beanstandet wurde. Zugrunde gelegt wird daher der in der Kapazitätsverordnung vorgesehene CNW von 2,42.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Bei der Berechnung der jährlichen Aufnahmekapazität ist nur der Teil des Ausbildungsaufwandes bei der Lehreinheit Vorklinische Medizin zu berücksichtigen, der durch sie selbst erbracht wird (Curriculareigenanteil). Teile am Ausbildungsaufwand, die durch andere Lehreinheiten erbracht werden (Curricularfremdanteile), sind abzuziehen. Deshalb sind gemäß § 13 Abs. 4 KapVO Curricularanteile (CA) zu bilden. Wegen der curricularen Besonderheiten der einzelnen Hochschule obliegt dieser grundsätzlich die Aufteilung der Curricularnormwerte auf Curricularanteile, wobei sie einen Gestaltungsspielraum hat.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. September 1981 – 7 N 1.79 –, juris Rn. 52 ff. (= BVerwGE 64, 77 ff.); Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2003, 16 zu § 13 KapVO.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Der sich aus der vorgelegten Quantifizierung der Lehreinheit Vorklinische Medizin (Anlage 14 zur Antragserwiderung) ergebende Curriculareigenanteil in Höhe von 1,70 ist rechnerisch zutreffend.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">2. Als Fremdanteile am Lehrangebot des vorklinischen Studienabschnitts hat die Antragsgegnerin für das Studienjahr 2021/22 Lehrleistungen anderer Lehreinheiten im Umfang eines CA<sub>q</sub> von (0,38 + 0,15 + 0,12 + 0,12 =) 0,77 angesetzt. Die Höhe der angesetzten Fremdanteile ist nach summarischer Prüfung nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Die Summe der Eigen- und Fremdanteile (1,7 + 0,77 = 2,47) entspricht damit nicht dem normativ festgesetzten Curricularnormwert von 2,42. Das korrigiert die Antragsgegnerin, indem sie den Eigenanteil (1,7) um den übersteigenden Betrag – vorliegend um 0,05 – kürzt. Hinsichtlich dieses Vorgehens sind Rechtsfehler nicht festzustellen. Überschreitet der Curricularwert, den die Hochschule anhand eines quantifizierten Studienplans auf der Grundlage der Studienordnung berechnet hat, den nach Maßgabe der KapVO zwingend zugrunde zu legenden Curricularnormwert, ist es grundsätzlich Sache der Hochschule und gegebenenfalls nachfolgend des Ministeriums, unter Abwägung des Teilhabeanspruchs der Bewerber aus Art. 12 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG sowie der Lehrfreiheit der Hochschule aus Art. 5 Abs. 3 GG die Beachtung des Curricularnormwerts zu gewährleisten. Zwar ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Hochschule im Falle der Überschreitung des Curricularnormwerts sowohl den Eigen- als auch den Fremdanteil anteilig kürzt („Stauchung“) und – im Falle zulassungsbeschränkter Studiengänge – das Ministerium entsprechende Zulassungszahlen festsetzt. Eine Verpflichtung, die Gewährleistung des Curricularnormwerts durch anteilige Kürzung sowohl des Eigen- als auch des Fremdanteils am jeweiligen Curricularwert sicherzustellen, besteht nicht. Im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums steht es der Hochschule vielmehr frei, die Einhaltung des Curricularnormwerts auch auf andere Weise zu gewährleisten. Die Hochschule überschreitet ihren Gestaltungsspielraum erst, wenn sie die Rückführung auf den Normwert missbräuchlich oder willkürlich handhabt, etwa um die Zulassungszahl möglichst klein zu halten.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 5. Juli 2019 – 13 C 37/19 –, juris Rn. 7; OVG NRW, Beschluss vom 25. September 2020 – 13 C 3/20 –, juris Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte für eine missbräuchliche oder willkürliche Handhabung sind hier nicht erkennbar.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Für die weitere Berechnung ist nach alledem ein Eigenanteil der Lehreinheit Vorklinische Medizin von <strong>1,65</strong> anzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Bei einem jährlichen bereinigten Lehrangebot von <strong>180,94 DS</strong> und einem maßgeblichen Curriculareigenanteil von <strong>1,65</strong> errechnet sich nach der Formel 5 zur Anlage 1 der KapVO eine Aufnahmekapazität im Wintersemester 2021/2022 von</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">180,94 * 2 / 1,65 = 219,321212121 <strong>219</strong>.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">B. Überprüfung des Berechnungsergebnisses (§§ 14 – 21 KapVO)</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Dieses Ergebnis ist anhand der weiteren kapazitätsbestimmenden Kriterien des Dritten Abschnittes der KapVO zu überprüfen. Insbesondere ist gemäß § 14 Abs. 3 Nr. 3 KapVO zu prüfen, ob eine Erhöhung der Studienplatzkapazität durch Ansatz eines Schwundausgleiches in Betracht kommt. Gemäß § 16 KapVO ist die Studienanfängerzahl zu erhöhen, wenn zu erwarten ist, dass wegen Aufgabe des Studiums oder Fachwechsels oder Hochschulwechsels die Zahl der Abgänge an Studentinnen und Studenten in höheren Fachsemestern größer ist als die Zahl der Zugänge (Schwundquote).</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Entsprechend haben die Antragsgegnerin und das Ministerium ohne erkennbare Fehler einen Schwundausgleichsfaktor von 1 ./. 0,97 (Anlage 17 zur Antragserwiderung) berücksichtigt.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Der Ansatz eines Schwundausgleichs auf das Berechnungsergebnis ist eine zahlenmäßige Prognose für Ab- und Zugänge von Studierenden im Verlauf der vorgeschriebenen Ausbildungssemester eines Studiums. Die Entscheidung, wie die schwundrelevanten Faktoren erfasst werden und in den Schwund-Prognosemaßstab einzustellen sind, liegt im – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren – Regelungsermessen des Normgebers der Zulassungszahlenverordnung. Dabei ist das so genannte „Hamburger Modell“ akzeptabel, bei dem für die viersemestrige Regelstudienzeit die Verbleibequote je Semester ermittelt und angesetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 8. Mai 2008 – 13 C 75/08 –, juris Rn. 23; OVG NRW, Beschluss vom 31. Juli 2012 – 13 C 28/12 –, juris Rn. 44.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Diesbezüglich sind grundsätzlich die für die Vorklinische Medizin aus den festgestellten semesterlichen Verbleibequoten des Zeitraums vorangegangenen Semesters von 1,00, 0,98, 0,95 und 0,94 zu addieren (= 3,87) (vgl. Anlage 17 zur Antragserwiderung). Die Antragsgegnerin hat einen Schwundfaktor von 0,9675 0,97 (3,87 / 4) errechnet.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Davon ausgehend errechnet sich eine <strong>Gesamtaufnahmekapazität von</strong></p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks"><strong>219 / 0,97 = 225,773195876 <span style="text-decoration:underline">226</span> Studienplätzen.</strong></p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Die Kapazität von 226 Studienplätzen im Wintersemester 2021/22 ist ausgeschöpft (vgl. Anlagen 3 und 3a zur Antragserwiderung).</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">C. Soweit hilfsweise beantragt ist, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller zum Studium der Humanmedizin beschränkt auf den vorklinischen Studienabschnitt für das Wintersemester 2021/2022 im ersten Fachsemester zuzulassen, bleibt der Antrag nach dem Vorstehenden erfolglos, zumal durch die Antragsgegnerin Teilstudienplätze im Studiengang Medizin nicht vergeben werden.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes. Ungeachtet der Frage, ob sich das Begehren des Antragstellers auf die Zulassung zum Studium oder auf die alleinige Beteiligung an einem Losverfahren richtet, ist der Streitwert nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen auch für das vorläufige Rechtsschutzverfahren auf 5.000,-- Euro festzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 3. März 2009 – 13 C 264/08 –, juris Rn. 30 ff.; ferner OVG NRW, Beschluss vom 16. März 2009 – 13 C 1/09 –, juris Rn. 37 ff.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Gegen den <span style="text-decoration:underline">Beschluss zu 1.</span> steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe. Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen. Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 1. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Gegen den <span style="text-decoration:underline">Beschluss zu 2.</span> findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt. Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließen¬de Gericht ihr nicht abhilft. Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elekt-ronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behörden-postfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
|