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346,921 | vghbw-2022-09-20-11-s-12121 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
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} | 11 S 121/21 | 2022-09-20T00:00:00 | 2022-10-14T10:01:39 | 2022-10-17T11:11:05 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p>Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 28. Oktober 2020 - 5 K 93/19 - zugelassen, soweit das Verwaltungsgericht die auf Aufhebung der in den Ziffern 5 und 6 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11. Dezember 2018 getroffenen Anordnungen (Einreise- und Aufenthaltsverbote) gerichtete Klage abgewiesen hat.</p><p>Im Übrigen wird der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das bezeichnete Urteil abgelehnt.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor bezeichnete Urteil hat teilweise Erfolg. Der Zulassungsantrag ist gemäß § 124 Abs. 1, § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er ist jedoch nur soweit begründet, als er die gegen den Kläger mit Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11.12.2018 (konkludent) angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbote betrifft (Ziffern 5 und 6 der Verfügung). Im Übrigen ist der Zulassungsantrag unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>1. Der Kläger verfolgt mit seinem Zulassungsantrag unter anderem sein Begehren weiter, die Aufhebung der gegen ihn verfügten Ausweisung aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen (Ziffer 1 der Verfügung vom 11.12.2018). Mit Blick auf diesen Gegenstand seines Begehrens macht er geltend, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestünden (§ 124a Abs. 5 Satz 2 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Für den beschließenden Senat bestehen aber auf der Basis der Darlegungen des Klägers keine solchen Zweifel; daher sieht der Senat keine Veranlassung, die Berufung gegen das angegriffene Urteil aus dem vom Kläger geltend gemachten Grund zuzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>a) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils liegen vor, wenn unter Berücksichtigung der vom Antragsteller dargelegten Gesichtspunkte (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10.03.2004 - 7 AV 4.03 - juris Rn. 8 und vom 15.12.2003 - 7 AV 2.03 - juris Rn. 9, jeweils mit weiteren Nachweisen). Ernstliche Zweifel sind schon dann begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18.03.2022 - 2 BvR 1232/20 - juris Rn. 23, vom 07.07.2021 - 1 BvR 2356/19 - juris Rn. 23, vom 13.05.2020 - 1 BvR 1521/17 - juris Rn. 10, vom 08.05.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33 und vom 16.07.2013 - 1 BvR 3057/11 - juris Rn. 36). Dabei ist davon auszugehen, dass das Zulassungsverfahren das Berufungsverfahren nicht vorwegnehmen soll (BVerfG, Beschlüsse vom 18.03.2022 - 2 BvR 1232/20 - juris Rn. 23 und vom 16.07.2013 - 1 BvR 3057/11 - juris Rn. 40), es sei denn, es lässt sich schon im Zulassungsverfahren zuverlässig sagen, das Verwaltungsgericht habe die Rechtssache im Ergebnis richtig entschieden und die angestrebte Berufung werde deshalb keinen Erfolg haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 - 1 BvR 2356/19 - juris Rn. 20; BVerwG, Beschluss vom 10.03.2004 - 7 AV 4.03 - juris Rn. 10). Dabei sind auch nach Erlass der angegriffenen Entscheidung und bis zum Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) neu eingetretene Tatsachen sowie erhebliche Änderungen des maßgeblichen Rechts zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15.12.2003 - 7 AV 2.03 - juris Rn. 8 und vom 14.06.2002 - 7 AV 4.02 - juris Rn. 5).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Zu der nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO gebotenen Darlegung ernstlicher Zweifel ist eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung erforderlich. Der Streitstoff muss unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil gesichtet, rechtlich durchdrungen und aufbereitet werden. Erforderlich ist eine fallbezogene Begründung, die dem Berufungsgericht eine Beurteilung ohne weitere aufwendige Ermittlungen ermöglicht. Das Maß der zu leistenden Substantiierung kann dabei von der jeweiligen Begründungsdichte und dem Begründungsaufwand der angegriffenen Entscheidung abhängig sein (stRspr. des Senats; vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.02.2022 - 11 S 1814/20 - juris Rn. 3, vom 17.11.2021 - 11 S 716/20 - juris Rn. 17 und vom 02.03.2021 - 11 S 2932/20 - juris Rn. 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>b) Gemessen daran begründen die Darlegungen des Klägers keine ernstlichen Zweifel an der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass er rechtmäßig aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>aa) Der Kläger stellt die Annahmen des Verwaltungsgerichts zu den rechtlichen Maßstäben, an denen die Prüfung der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung auszurichten sei (vgl. Seiten 11 bis 13 sowie 16 und 17 der Ausfertigung des angegriffenen Urteils), nicht in Frage. Auch aus Sicht des beschließenden Senats begegnen diese Annahmen keinen Bedenken. Dabei bedarf es im Zulassungsverfahren keiner Entscheidung, ob die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung vom Bestehen einer vom Kläger ausgehenden Gefahr erneuter Straffälligkeit (Wiederholungsgefahr) abhängt oder ob die Verfügung auch auf generalpräventive Überlegungen gestützt werden durfte (zur grundsätzlichen Relevanz der Generalprävention im aktuellen Ausweisungsrecht vgl. BVerwG, Urteil vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn. 17; VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 17.11.2021 - 11 S 716/20 - juris Rn. 22, vom 23.06.2020 - 11 S 990/19 - juris Rn. 7 und vom 19.07.2019 - 11 S 1631/19 - juris Rn. 14). Denn die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Ausweisung des Klägers bereits allein aus spezialpräventiven Gründen veranlasst ist, stellt dieser nicht mit schlüssigen Argumenten in Frage.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>bb) Mit seinem Zulassungsantrag kritisiert der Kläger die vom Verwaltungsgericht der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zugrunde gelegte Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Sowohl bei der Einschätzung der Frage, ob von seinem Aufenthalt im Bundesgebiet eine nach § 53 Abs. 1 AufenthG relevante Gefahr ausgeht, als auch bei der nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG gebotenen Interessenabwägung habe es die für ihn sprechenden Gesichtspunkte nicht hinreichend berücksichtigt. Die hierauf bezogenen Darlegungen des Klägers sind jedoch nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zu begründen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>(1) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es ist bei der Würdigung aller erheblichen Tatsachen frei, das heißt nur an die innere Überzeugungskraft der in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Argumente gebunden, dagegen grundsätzlich nicht an starre Beweisregeln (BVerwG, Urteil vom 22.01.2021 - 6 C 26.19 - juris Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.02.2022 - 11 S 1814/20 - juris Rn. 12, vom 18.11.2020 - 11 S 1465/19 - juris Rn. 20, und vom 26.08.2020 - 11 S 2038/19 - juris Rn. 12). Die für die richterliche Überzeugung maßgeblichen Gründe sind im Urteil anzugeben (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Im Allgemeinen genügt es aber, wenn der Begründung entnommen werden kann, dass das Gericht eine vernünftige und der jeweiligen Sache angemessene Gesamtwürdigung und Beurteilung vorgenommen hat; nicht erforderlich ist es hingegen, dass sich das Gericht mit allen Einzelheiten in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich auseinandersetzt (BVerwG, Beschlüsse vom 13.06.2022 - 7 B 10.21 - juris Rn. 18 und vom 12.12.2017 - 6 B 30.17 - juris Rn. 7 f.). Soweit - wie hier - eine fehlerhafte Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gerügt wird, genügt für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO allein noch nicht der Vortrag, die Tatsachen seien anders als vom Verwaltungsgericht angenommen oder der Sachverhalt beziehungsweise das Ergebnis einer Beweisaufnahme seien anders zu bewerten (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.02.2022 - 11 S 1814/20 - juris Rn. 12, vom 17.08.2021 - 11 S 42/20 - juris Rn. 23, vom 18.11.2020 - 11 S 1465/19 - juris Rn. 20 und vom 26.08.2020 - 11 S 2038/19 - juris Rn. 12). Mit Einwänden gegen die freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene richterliche Überzeugung wird die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts erst dann in Frage gestellt, wenn Gründe dafür aufgezeigt werden, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überzeugungsbildung fehlerhaft ist, etwa weil das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich von einem unzutreffenden, gegebenenfalls auch unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist (BVerwG, Beschluss vom 13.06.2022 - 7 B 10.21 - juris Rn. 18; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 15.02.2022 - 11 S 1814/20 - juris Rn. 12; OVG LSA, Beschluss vom 03.01.2018 - 2 L 71/16 - juris Rn. 15) oder die Beweiswürdigung gedankliche Brüche oder Widersprüche aufweist. Die Würdigung der Tatsachen muss rational nachvollziehbar sein. Letzteres ist insbesondere bei einer Verletzung von Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, gegebenenfalls heranzuziehenden gesetzlichen Beweisregeln oder sachwidriger Beweiswürdigung nicht mehr anzunehmen (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.02.2022 - 11 S 1814/20 - juris Rn. 20, vom 18.11.2020 - 11 S 1465/19 - juris Rn. 20 und vom 26.08.2020 - 11 S 2038/19 - juris Rn. 12).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>(2) In Anwendung dieser Grundsätze hat der beschließende Senat keinen Anlass, die im ersten Rechtszug erfolgte richterliche Überzeugungsbildung zu beanstanden. Auch nach der Urteilsfällung im ersten Rechtszug eingetretene neuere Entwicklungen begründen keinen ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Voraussetzungen für die Ausweisung des Klägers vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>(a) Das Verwaltungsgericht prognostiziert im angegriffenen Urteil, dass der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet aus in dessen Person liegenden Gründen die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG gefährde. Es stützt diese - ausführlich und schlüssig begründete - Prognose auf die Annahme, dass im Falle des Klägers eine hohe Wahrscheinlichkeit der Wiederholung schwerer Straftaten bestehe (Seiten 13 bis 16 der Ausfertigung des angegriffenen Urteils).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Diese Einschätzung begegnet auch unter Berücksichtigung der vom Kläger im Zulassungsverfahren angesprochenen Gesichtspunkte keinen durchgreifenden Bedenken. Der Kläger geht in der Begründung seines Zulassungsantrags auf die Argumentationslinie des Verwaltungsgerichts nicht ein. Er stellt lediglich die in diesem Zusammenhang geäußerte Annahme des Verwaltungsgerichts in Frage, dass er sich in seiner aktuellen Lebenslage nicht in einem festen Ordnungsrahmen bewege, der ihn von der Begehung weiterer Straftaten zuverlässig abhalte. Dabei weist er auf regelmäßige persönliche Kontakte hin, die er mit seinem Bruder, seinem Onkel sowie Mitgliedern der Familie seines Onkels pflege. Von diesen Angehörigen erhalte er nicht nur materielle Unterstützung, sondern auch persönliche Zuwendung, Beratung sowie Begleitung bei gerichtlichen und behördlichen Angelegenheiten. Rückhalt und Unterstützung finde er zudem bei seinen früheren Pflegeeltern und seinem rechtlichen Betreuer. Es liege auf der Hand, dass er ohne diese Unterstützung „nicht allein klarkäme“ (Seite 5 des Schriftsatzes der Prozessbevollmächtigen des Klägers vom 08.02.2021). In den Jahren seit seiner Entlassung aus der Haft habe sich erwiesen, dass dieses Netzwerk hinreichend stabil sei und ihm Halt gebe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Diese Hinweise des Klägers sind nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Schlüssigkeit der Argumentation des Verwaltungsgerichts zu begründen. Sie deuten allein darauf hin, dass sich um den Kläger ein Netzwerk von Personen gebildet hat, das es ihm ermöglichet, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, nicht zu verwahrlosen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben sowie seine Interessen bei Gerichten und Behörden zu vertreten. Damit ist aber keine Aussage zu der hier maßgeblichen und vom Verwaltungsgericht mit plausibler Begründung verneinten Frage getroffen, ob die Einbindung des Klägers in dieses Netzwerk auch geeignet ist, ihn von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Dies gilt umso mehr, als der Kläger seine schweren Straftaten zu Zeiten begangenen hat, in denen er fürsorglichen Pflegefamilien zugewiesen war, die ihm im Vergleich zu seiner aktuellen Lebenslage noch stärkeren Halt gegeben haben dürften. Hinzu kommt, dass keine der von ihm begangenen Straftaten auf Mängel seiner damaligen Betreuung und Unterbringung zurückzuführen sein dürfte. Sonstige Veränderungen in seiner persönlichen Entwicklung oder in seiner Lebenssituation, die darauf hindeuten, dass die von ihm ausgehende Gefahr der erneuten Begehung schwerer Straftaten entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts entfallen oder in relevanter Weise vermindert sein könnte, hat der Kläger im Zulassungsverfahren nicht dargetan.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>(b) Den Darlegungen des Klägers im Zulassungsverfahren ist auch nicht zu entnehmen, dass die vom Verwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorgenommene Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet zu einem unrichtigen Ergebnis geführt hätte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>(aa) Der Kläger beanstandet in diesem Zusammenhang zunächst, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen der Interessenabwägung bei der Gewichtung seines Bleibeinteresses den verfassungs- und konventionsrechtlichen Schutz von Menschen mit Behinderung nicht ausreichend berücksichtigt habe. Dies betreffe die Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und nach der UN-Behindertenrechtskonvention (Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl. II S. 1419, für Deutschland in Kraft seit 26.03.2009, BGBl. II S. 2009, 812). Danach sei es unzulässig, ihm - dem Kläger - im Rahmen der Interessenabwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG Defizite vorzuhalten, die auf seine Behinderung zurückzuführen seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Diese Argumentation des Klägers lässt unberücksichtigt, dass weder Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch Art. 5 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention noch deren Art. 18 Abs. 1 oder Art. 19 Buchst. a eine Verpflichtung der Ausländerbehörden und Gerichte begründen, das spezialpräventiv auf die Abwehr von Gefahren gerichtete öffentliche Interesse an der Ausweisung eines straffälligen Ausländers mit Behinderungen im Rahmen der nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmenden Interessenabwägung per se mit geringerem Gewicht anzusetzen, als dasjenige an der Ausweisung eines straffälligen Ausländers ohne Behinderungen. Ebenso wenig gebieten es die genannten verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorschriften, das Bleibeinteresse eines straffälligen Ausländers mit Behinderungen im Rahmen der Interessenabwägung per se höher zu gewichten, als dasjenige eines straffälligen Ausländers ohne Behinderungen. Denn sie schaffen kein Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen (so zur UN-Behindertenrechtskonvention ausdrücklich die Denkschrift der Bundesregierung zu dem Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, BT-Drs. 16/10808, S. 46) und begründen für Ausländer mit Behinderungen auch keine Ansprüche, sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten (OVG Hamburg, Urteil vom 25.08.2016 - 3 Bf 153/13 - juris Rn. 118 f.). Sie untersagen vielmehr in erster Linie spezifische, benachteiligende Regelungen für Menschen mit Behinderungen. Eine derart spezifische Regelung enthält das Aufenthaltsgesetz aber nicht. Es erfasst vielmehr in gleicher Weise wie Menschen ohne Behinderungen auch Menschen mit Behinderungen, enthält in einzelnen Bereichen Privilegierungen von Menschen mit Behinderungen (vgl. etwa § 9 Abs. 2 Satz 3, § 9c Satz 1 Nr. 2, § 25b Abs. 3, § 28 Abs. 1 Satz 5, § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2, § 35 Abs. 4, § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, § 104a Abs. 1 Satz 5 AufenthG), führt aber weder direkt noch indirekt zu einer Diskriminierung aufgrund der Behinderung (vgl. zu Einzelheiten OVG Hamburg, Urteil vom 25.08.2016 - 3 Bf 153/13 - juris Rn. 119 und NdsOVG, Beschluss vom 23.02.2015 - 8 PA 13/15 - juris Rn. 17). Dies entbindet die Ausländerbehörden und Gerichte allerdings nicht von ihrer Aufgabe, Nachteile einer Ausweisung, die sich für den betroffenen Ausländer gerade aufgrund seiner Behinderungen ergeben, in den Blick zu nehmen, sie im Rahmen der Interessenabwägung mit angemessenem Gewicht zu berücksichtigen und dabei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Staat kraft Verfassungs- und Konventionsrechts eine besondere Verantwortung für Menschen mit Behinderungen trägt (vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020 - 2 BvR 1005/18 - juris Rn. 37 f. und NdsOVG, Beschluss vom 12.12.2017 - 13 PA 222/17 - juris Rn. 12). Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht diese Aufgabe erkannt (vgl. Seiten 20 bis 23 der Ausfertigung des angegriffenen Urteils) und aus Sicht des beschließenden Senats auch in einer Weise erfüllt, die mit Blick auf § 108 Abs. 1 und § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO keinen Anlass gibt, die Berufung zuzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>(bb) Weiter kritisiert der Kläger, das Verwaltungsgericht habe im Rahmen der Interessenabwägung dem Umstand zu wenig Rechnung getragen, dass er aufgrund seiner Behinderungen auf die Unterstützung durch seine Familie, seine früheren Pflegeeltern und seinen rechtlichen Betreuer angewiesen sei. Auf diese Weise habe es seine - des Klägers - verfassungs- und konventionsrechtlichen Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK missachtet. Hinzu komme, dass das Verwaltungsgericht den Umstand nur unvollständig berücksichtigt habe, dass er nur die deutsche Sprache beherrsche, behinderungsbedingt außerstande sei, eine andere Sprache zu erlernen, und daher im Falle seiner Abschiebung in den Kosovo der Möglichkeit des sprachlichen Austauschs beraubt werde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Entgegen der Auffassung des Klägers hat das Verwaltungsgericht allerdings auch diese Aspekte gesehen, berücksichtigt und auf schlüssige Weise im Rahmen der Interessenabwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG gewürdigt (vgl. Seiten 19 bis 21 der Ausfertigung des angegriffenen Urteils). Umstände, die darauf hindeuten, dass dem Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang nach § 108 Abs. 1 VwGO relevante Fehler unterlaufen wären, hat der Kläger im Zulassungsverfahren nicht aufgezeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Hinzu kommt, dass nach Mitteilung des Beklagten (vgl. Seite 12 des Schriftsatzes vom 11.03.2021) die umfangreichen Bemühungen zur Klärung der Staatsangehörigkeit des Klägers erfolglos geblieben seien. Daher stehe bis auf Weiteres in Bezug auf den Kläger keine tatsächliche Aufenthaltsbeendigung im Raum. Der Kläger werde sich vielmehr längerfristig geduldet im Bundesgebiet aufhalten können. Bei dieser Sachlage ist aktuell nicht damit zu rechnen, dass sich die Nachteile, die dem Kläger im Falle seiner Abschiebung in einen anderen Staat drohen würden, in absehbarer Zeit realisieren werden. Dies mindert das Gewicht seiner schützenswerten Interessen, den Eintritt dieser Nachteile zu vermeiden (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 43, vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn. 28, vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 - juris Rn. 31 und vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 58).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>(cc) Die Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe das Gewicht der Nachteile verkannt, die ihm aus dem Wechsel von der Innehabung einer Niederlassungserlaubnis in den Status eines nur geduldeten Ausländers entstünden, begründet ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils. Das Verwaltungsgericht hatte ohne entsprechenden Vortrag des Klägers keinen Anlass, auf die vom Kläger nun im Zulassungsverfahren angesprochenen Gesichtspunkte ausdrücklich einzugehen. Denn der Kläger thematisiert hier lediglich einzelne nachteilige praktischen Folgen, die sich für ihn aus dem Verlust seiner Niederlassungserlaubnis ergeben. Das sich an den Besitz einer Niederlassungserlaubnis anknüpfende, besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers hat das Verwaltungsgericht aber durchaus gesehen, im Zusammenhang mit der Lebenssituation des Klägers im Bundesgebiet erörtert und im Rahmen der Interessenabwägung mit dem sich aus § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ergebenden Gewicht berücksichtigt (vgl. Seiten 16 und 18 der Ausfertigung des angegriffenen Urteils). Das dabei vom Verwaltungsgericht entwickelte Ergebnis ist plausibel. Dies gilt auch, wenn man die konkreten praktischen Nachteile in den Blick nimmt, die sich für den Kläger aus seiner Ausweisung, dem Verlust seiner Niederlassungserlaubnis und seinem Wechsel in das Duldungsregime ergeben. Denn gerade bei straffälligen Ausländern, von denen eine relevante Gefahr der erneuten Begehung schwerer Straftaten ausgeht, deren Aufenthalt im Bundesgebiet aber auf absehbare Zeit nicht beendet werden kann, besteht ein berechtigtes öffentliches Interesse, der Begehung weiterer Straftaten durch Einsatz aufenthaltsrechtlicher Instrumente (vgl. insbesondere § 4a Abs. 4, §§ 56 f., § 61 AufenthG) entgegenwirken zu können. Ob diese Instrumente im Fall des Klägers bislang richtig zur Anwendung gebracht wurden, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>(dd) Die Rüge des Klägers, die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Berücksichtigung seiner Straffälligkeit im Rahmen der Interessenabwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG erweise sich als unzulässige Doppelbestrafung, greift ebenfalls nicht durch. Denn es ist bereits höchstrichterlich geklärt, dass weder Verfassungs- noch Konventionsrecht einer solchen Berücksichtigung entgegensteht (vgl. EGMR Urteile vom 28.06.2007 <Kaya> - Nr. 31753/02 - Rn. 52, vom 18.10.2006 <Ümer> - Nr. 46410/99 - Rn. 56; BVerwG, Beschluss vom 21.07.2015 - 1 B 26.15 - juris Rn. 7). Dies entspricht auch der Auffassung des beschließenden Senats.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>2. Soweit sich das angegriffene Urteil auf die Ziffern 2 und 4 der Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 11.12.2018 bezieht (Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung), setzt sich der Kläger in der Begründung seines Zulassungsantrags nicht hinreichend mit den vom Verwaltungsgericht hierzu vertretenen Ansätzen auseinander. Es fehlt vor allem jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit der Argumentation des Regierungspräsidiums Karlsruhe in der Begründung des angegriffenen Bescheids (vgl. dort Seiten 16 und 17). Eine solche war aber geboten. Denn das Verwaltungsgericht hat auf die Argumentation des Regierungspräsidiums gemäß § 117 Abs. 5 VwGO ausdrücklich Bezug genommen und sie sich damit zu eigen gemacht. Der Kläger erhebt in diesem Zusammenhang lediglich die pauschale Rüge, dass die Bezugnahme auf die Begründung des angegriffenen Bescheids nicht mehr passe, weil sich seine persönlichen Verhältnisse inzwischen anders darstellten als zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids (vgl. Seite 12 des Schriftsatzes seiner Prozessbevollmächtigten vom 08.02.2021). Dagegen erläutert der Kläger nicht, in welcher Hinsicht die von ihm angesprochenen Veränderungen für die rechtliche Bewertung der an ihn adressierten Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohungen von Bedeutung sein könnten. Insofern genügt die Begründung des Zulassungsantrags bereits nicht dem Darlegungserfordernis nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>3. Der Kläger hat dagegen mit einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Begründung dargelegt, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen, soweit dieses die in den Ziffern 5 und 6 der streitgegenständlichen Verfügung vom 11.12.2018 getroffenen Regelungen betrifft. Bei diesen handelt es sich um Anordnungen zweier Einreise- und Aufenthaltsverbote von bestimmter Dauer (vgl. hierzu nur BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 19 mit weiteren Nachweisen). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach Ziffer 5 der Verfügung knüpft an die Ausweisung des Klägers an, dasjenige nach Ziffer 6 an die Durchführung der dem Kläger angedrohten Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). In Würdigung des klägerischen Vortrags und mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ermessensausübung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bei der Bestimmung der Länge der Frist eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. BVerwG, Urteile vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 57 und vom 07.09.2021 - 1 C 47.20 - juris Rn. 15 ff. in Fortentwicklung der Rechtsprechung in BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - 1 B 11.13 - juris Rn. 3 und Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 42 f.) hält der beschließende Senat an seiner im Eilrechtsschutzverfahren vertretenen Auffassung nicht mehr fest, dass die angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbote keinen durchgreifenden Bedenken begegneten (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 23.06.2020 - 11 S 990/19 - juris Rn. 42).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der beschließende Senat anschließt, begründet § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Gebot einer zweistufigen Ermessensausübung in Bezug auf die Bestimmung der angemessenen Frist für die Dauer eines Einreise- und Aufenthaltsverbots. In einem ersten Schritt bedarf es der prognostischen Einschätzung der Ausländerbehörde, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots veranlassenden Ausweisung oder Abschiebung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr durch Fernhalten des Ausländers vom Bundesgebiet zu tragen vermag. In der zweiten Stufe sind dem gefahrenabwehrrechtlich geprägten öffentlichen Interesse die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die private Lebensführung des Ausländers gegenüberzustellen. Dieser zweite Prüfungsschritt zielt im Lichte von Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EU-GR-Charta sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf eine Begrenzung der einschneidenden Folgen eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für das Familien- und Privatleben des Betroffenen. Auch die oben bereits angesprochene besondere Verantwortung des Staates für Menschen mit Behinderungen dürfte hier im Lichte der objektiven Wertentscheidung des Verfassungsgebers in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu berücksichtigen sein. Der zweite Prüfungsschritt bezweckt zudem, dem Interesse des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive bei aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen Rechnung zu tragen. Deshalb ist das Gewicht des individuellen Interesses, sich wieder im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen (vgl. zu Einzelheiten BVerwG, Urteil vom 07.09.2021 - 1 C 47.20 - juris Rn. 17 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung stellt sich die Frage, ob in Fällen, in denen die Beendigung des Aufenthalts eines ausgewiesenen Ausländers im Bundesgebiet auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, die Notwendigkeit besteht, bei der inhaltlichen Ausgestaltung der nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gebotenen Einreise- und Aufenthaltsverbote nicht dem Interesse des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive, sondern in geeigneter Weise seinem Interesse an einer angemessenen Bleibeperspektive Rechnung zu tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Frist für den Lauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots erst mit der Ausreise beginnt (§ 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Zugleich spricht manches für die Annahme, dass einem Erfordernis, einem ausgewiesenen Ausländer eine angemessene Bleibeperspektive aufzuzeigen, nicht bereits durch die Existenz des Verfahrens nach § 11 Abs. 4 AufenthG Genüge getan ist. Sollte diese Annahme zutreffen, käme es in Betracht, den oben angesprochenen Grund- und Menschenrechten in der Weise Rechnung zu tragen, dass ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Zusicherung (§ 38 LVwVfG) verbunden wird, es nach gewisser Dauer aufzuheben, wenn der Ausländer bis dahin das Bundesgebiet nicht verlassen und sich nicht erneut strafbar gemacht hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Bei der Bestimmung der Dauer der streitgegenständlichen Einreise- und Aufenthaltsverbote hat das Regierungspräsidium Karlsruhe zwar beachtet, dass insofern eine Ermessensentscheidung zu treffen ist. Jedenfalls aus der Begründung des Bescheids (vgl. dort die Seiten 17 bis 19) ist aber nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass die zweite Stufe der Ermessensausübung vollständig durchgeführt wurde (vgl. in diesem Zusammenhang § 39 Abs. 1 Satz 3 LVwVfG). Vielmehr hat sich die Behörde im Wesentlichen mit der spezial- und generalpräventiven Zielsetzung der von ihr verfügten Ausweisung sowie damit befasst, dass der Kläger durch die drohende Sperrwirkung seiner Abschiebung zur freiwilligen Ausreise veranlasst werden soll. Aspekte, die im zweiten Prüfungsschritt zu beachten sind, haben hingegen keine Erwähnung gefunden. Dies deutet darauf hin, dass die Anordnungen an nach § 114 Satz 1 VwGO relevanten Ermessensfehlern leiden. Der beschließende Senat sieht nach Aktenlage auch keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht oder im Zulassungsverfahren eine Ergänzung der behördlichen Ermessenserwägungen erfolgt wäre (§ 114 Satz 2 VwGO). Er berücksichtigt dabei, dass ein Nachschieben von Ermessenserwägungen dem Erfordernis hinreichender Bestimmtheit (§ 37 Abs. 1 LVwVfG) unterliegt. Wird eine Änderung der Ermessenserwägungen erst in einem laufenden Verwaltungsprozess erklärt, so muss die Behörde unmissverständlich deutlich machen, dass es sich nicht nur um prozessuales Verteidigungsvorbringen handelt, sondern um eine Änderung des Verwaltungsakts selbst. Außerdem muss deutlich werden, welche der bisherigen Erwägungen weiterhin aufrechterhalten und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden (BVerwG, Urteil vom 20.06.2013 - 8 C 46.12 - juris Rn. 35; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21.04.2021 - 5 S 1996/19 - juris Rn. 57). In diese Richtung zielende Erklärungen wurden nach Aktenlage im bisherigen Verfahren nicht abgegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>4. Die Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe seinen Hilfsantrag verfahrensfehlerhaft als unzulässige Klageänderung eingestuft, rechtfertigt dagegen nicht die Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 5 Satz 2 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Denn dem Kläger fehlt insofern bereits das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Sein in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gestellter Hilfsantrag zielt auf die Verpflichtung des Beklagten, ihm eine Duldung zu erteilen. Bereits aus dem klägerischen Vortrag im Zulassungsverfahren geht aber hervor, dass das Regierungspräsidium Karlsruhe dem Kläger seit längerer Zeit regelmäßig Duldungen erteilt. Auch der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11.03.2021 klargestellt, dass sich der Kläger längerfristig geduldet im Bundesgebiet wird aufhalten können. Damit steht es außer Frage, dass eine auf die Verpflichtung des Beklagten zur Duldungserteilung gerichtete Klage derzeit nicht veranlasst ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>5. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>6. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr></table> |
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346,908 | olgkarl-2022-09-20-2-ws-25122 | {
"id": 146,
"name": "Oberlandesgericht Karlsruhe",
"slug": "olgkarl",
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"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 2 Ws 251/22 | 2022-09-20T00:00:00 | 2022-10-13T10:01:48 | 2022-10-17T11:11:02 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 28.07.2022 wird abgelehnt.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>I.</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Mit Aushang vom 15.11.2021 traf die Justizvollzugsanstalt X. vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie unterschiedliche Maßnahmen zur Regelung der Besuche von Gefangenen. Der Antragsteller, Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt, beanstandete die Regelungen, dass der Besuch auch geimpfter bzw. genesener Insassen an einem Zwei-Meter-Tisch mit Plexiglasaufsteller ohne Kontakt durchzuführen ist, die Besucheranzahl auf eine Person beschränkt wird, alle Insassen und Besucher während des gesamten Besuchs eine FFP2-Maske zu tragen haben und die Terminierung des Langzeit- und Familienbesuchs bis auf weiteres ausgesetzt wurde. Die mit Aushang vom 15.11.2021 getroffenen Regelungen sind nicht mehr in Kraft.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Mit dem angefochtenen Beschluss vom 28.07.2022, dem Antragsteller am 03.08.2022 zugestellt, stellte das Landgericht Freiburg fest, dass der Aushang der Antragsgegnerin vom 15.11.2021 insoweit rechtswidrig war, als der Langzeit- und Familienbesuch bis auf weiteres ausgesetzt wurde. Im Übrigen wies das Landgericht den Antrag des Antragstellers als unbegründet zurück.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Soweit seine Anträge zurückgewiesen wurden, beantragt der Antragsteller mit bei Gericht am 09.08.2022 eingegangenen Schreiben die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines (namentlich benannten) Rechtsanwalts für die beabsichtigte Rechtsbeschwerde.</td></tr></table>
<table style="margin-left:14pt"><tr><td><strong>II.</strong></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Die Anträge des Antragstellers sind abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf Erfolg hat, § 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="5"/>1. Der Ablehnung des Antrags steht zunächst nicht entgegen, dass die mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung aufgeworfene Rechtsfrage, welchen Beschränkungen Besuche von Strafgefangenen im baden-württembergischen Strafvollzug im Hinblick auf die Corona-Pandemie unterworfen werden dürfen, bislang - soweit ersichtlich - noch nicht obergerichtlich entschieden wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="6"/>a) Soweit die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig ist, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint, darf die Prüfung der Erfolgsaussichten nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zwar nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (BVerfGE 81, 347, 357). Dabei muss Prozesskostenhilfe allerdings nicht immer schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Denn die Ablehnung von Prozesskostenhilfe kann ungeachtet des Fehlens einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung auch dann gerechtfertigt sein, wenn die Rechtsfrage angesichts der gesetzlichen Regelung oder im Hinblick auf Auslegungshilfen, die von bereits vorliegender Rechtsprechung bereitgestellt werden, ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann (BVerfG, Kammerbeschluss vom 8.12.2020 - 1 BvR 149/16, juris = BayVBl 2021, 247).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="7"/>b) Für die vorliegend zu beurteilende Rechtsfrage ist danach zunächst von ausschlaggebender Bedeutung, dass die in Frage stehenden Beschränkungen des Gebots räumlichen Abstands, der Beschränkung der Besucherzahl und des Tragens einer FFP2-Maske der Verhinderung der Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus in der Justizvollzugsanstalt sowohl zum Zweck der Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit der Anstalt als Teil der Strafrechtspflege als auch zum Schutz der Insassen vor Ansteckung dienten und damit einer Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Justizvollzugsanstalt entgegenwirken sollten, was gemäß § 20 Nr. 1 JVollzGB III BW das Verbot von Besuchen rechtfertigen und damit auch gegenüber einem Besuchsverbot mildere Beschränkungen begründen kann. Zum anderen gewinnt insoweit Bedeutung, dass der Senat bereits entschieden hat, dass die Einhaltung räumlichen Abstands und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes geeignete und generell verhältnismäßige Beschränkungen bei Zusammenkünften von Menschen im Hinblick auf die Verhinderung der Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus sind (OLG Karlsruhe, Beschlüsse vom 30.3.2021 - 2 Rb 34 Ss 1/21 und 2 Rb 34 Ss 2/21, vom 27.4.2021 - 2 Rb 34 Ss 198/21, vom 11.6.2021 - 2 Rb 35 Ss 94/21, vom 21.12.2021 - 2 Rb 37 Ss 423/21 und vom 25.4.2022 - 2 Rb 37 Ss 25/22, jew. juris; vgl. auch BVerfG NJW 2022, 139). Hinsichtlich der Reduzierung der Besucheranzahl ist zu sehen, dass Beschränkungen zwischenmenschlicher Kontakte ein wirkungsvolles Mittel zur Reduzierung des Infektionsgeschehens darstellen, da das Virus zur Verbreitung neue Wirte benötigt und diese nur bei direktem oder indirektem Kontakt zwischen Menschen findet. Insofern leisten Kontaktbeschränkungen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen und sind daher ebenfalls geeignete Maßnahmen (vgl. BVerfG, a.a.O.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="8"/>2. Die noch verfahrensgegenständlichen mit Aushang vom 15.11.2021 angeordneten Besuchsbeschränkungen fanden ihre Grundlage in § 20 Nr. 1 JVollzGB III BW.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="9"/>a) Nach dieser Vorschrift - mit der die vorhergehende Regelung in § 25 StVollzG inhaltsgleich übernommen wurde (LT-Drs. 14/5012 S. 217), weshalb die zu § 25 StVollzG ergangene Rechtsprechung auch zur Auslegung von § 20 JVollzGB III BW herangezogen werden kann - kann der Anstaltsleiter Besuche, auf die der Gefangene nach § 19 Abs. 2 Satz 1 JVollzGB III BW grundsätzlich Anspruch hat, untersagen, wenn die Sicherheit oder Ordnung in der Justizvollzugsanstalt gefährdet würde. Sie bildet damit auch die rechtliche Grundlage für gegenüber einem Besuchsverbot mildere Maßnahmen, wie sie die vorliegend mit Aushang vom 15.11.2021 getroffenen Besuchsregelungen darstellen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="10"/>Der gerichtlich voll überprüfbare (KG NStZ 1998, 479; OLG München NStZ 2013, 364) unbestimmte Rechtsbegriff der Sicherheit und Ordnung der Anstalt umfasst die Gesamtheit der Voraussetzungen für ein zivilisiertes und menschenwürdiges Zusammenleben in der Anstalt einschließlich der dafür erforderlichen organisatorischen Abläufe; als Anknüpfungspunkt für Beschränkungen bezeichnet sie neben der äußeren auch die innere Sicherheit im Sinn der Abwendung von Gefahren für Personen und Sachen in der Anstalt, insbesondere auch von Gesundheitsgefährdungen (OLG Stuttgart StV 1988, 441; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 81 StVollzG Rn. 2; Harrendorf/Ullenbruch in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Aufl., 11. Kapitel A Rn. 5 jew. m.w.N.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="11"/>b) Die vom Antragsteller gerügten Maßnahmen in dem Aushang vom 15.11.2021 dienten dem Gesundheitsschutz in Form der Verhinderung der Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus. Der räumliche Abstand von Insasse zum Besucher, die Beschränkung der Anzahl der Besucher sowie das Tragen einer FFP2-Maske waren im Hinblick auf die Ausbreitung des Virus durch Aerosole bei einem hohen Infektionsgeschehen im Winter 2021/2022 im Raum Freiburg hierzu auch geeignet und erforderlich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen sich auch geimpfte Personen mit dem Virus anstecken und dieses weiter übertragen können, wobei die Infektiösität schon vor dem Auftreten von Krankheitssymptomen bestehen kann. Zudem ist offensichtlich, dass angesichts des engen Zusammenlebens innerhalb einer Justizvollzugsanstalt ein besonders hohes Risiko der Ausbreitung der Erkrankung besteht und deshalb im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit als Vollzugseinrichtung Schutzmaßnahmen geboten sind. Bei den angeordneten Beschränkungen handelt es sich dabei um die Maßnahmen mit der vergleichsweise geringsten Eingriffsintensität, weshalb sie im Hinblick auf die Erreichung des damit verfolgten Ziels auch verhältnismäßig sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:10pt"><tr><td><rd nr="12"/>Soweit bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen dem Anstaltsleiter hinsichtlich der Anordnung von Beschränkungen ein Ermessen eingeräumt ist (OLG Nürnberg NStZ 1984, 93; OLG Zweibrücken NStZ 1987, 95; Arloth/Krä a.a.O., § 25 StVollzG Rn. 2), lässt der Aushang vom 15.11.2021 keinen Ermessensfehler erkennen. Aus dem Inhalt der getroffenen Maßnahmen ergibt sich, dass die Belange der Gefangenen, insbesondere ihres durch § 19 Abs. 2 S. 1 JVollzGB III BW generell gewährleisteten Besuchsrechts mit den Belangen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt abgewogen wurden, ohne dass eine Überschreitung der dafür gezogenen Grenzen ersichtlich wäre. So weist der Aushang darauf hin, dass angesichts der damals besonders hohen Gefahr einer Infizierung mit dem Corona-Virus aus Sicht der Anstalt Schutzmaßnahmen notwendig waren. Das Abwägung der Gefahren mit den Belangen der Gefangenen kommt darin zum Ausdruck, dass in dem Aushang nach dem Grad der Gefährdung, der nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen maßgeblich davon beeinflusst ist, ob eine Person geimpft oder (nach überstandener Infektion) genesen ist, abgestufte Anordnungen getroffen wurden. Weiter hat die Justizvollzugsanstalt ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Skype-Telefonate, bei denen das Gesicht des Gesprächspartners vollständig erkennbar und nicht durch eine Maske zum Teil verdeckt ist, weiterhin ermöglicht werden. Angesichts des Umstandes, dass eine Infektiösität bei Vorliegen einer niedrigen Viruslast, wie zum Beispiel in der frühen Phase nach einer Ansteckung, durch einen Corona-Schnelltest nicht immer zuverlässig nachgewiesen werden kann, war es auch nicht ermessensfehlerhaft, dass die Antragsgegnerin hinsichtlich der getroffenen Besuchsbeschränkungen keine Ausnahme für Personen mit tagesaktuellem negativen Schnelltest vorsah. Entgegen dem Vorbringen des Antragstellers musste die Antragsgegnerin den Gefangenen auch nicht einen Besuch ohne Einschränkungen aber mit der Maßgabe einer anschließenden mehrtägigen Quarantäne ermöglichen, da dies zum einen das Einschleppen des Virus in die Anstalt nicht gleich effektiv verhindert und zum anderen aufgrund des erheblichen organisatorischen Aufwandes die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Vollzugseinrichtung erheblich beeinträchtigt hätte.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
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346,888 | olgham-2022-09-20-5-rvs-8122 | {
"id": 821,
"name": "Oberlandesgericht Hamm",
"slug": "olgham",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 5 RVs 81/22 | 2022-09-20T00:00:00 | 2022-10-12T10:01:21 | 2022-10-17T11:10:59 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0920.5RVS81.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Revision wird als unzulässig verworfen (§ 349 Abs. 1 StPO).</p>
<p>Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten und Auslagen seines Rechtsmittels aufzuerlegen (§ 74 JGG).</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht Gladbeck - Jugendrichter - hat den Angeklagten mit angefochtenem Urteil des Diebstahls schuldig gesprochen und gegen ihn einen „Freizeitarrest von einer Freizeit“ verhängt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Sprungrevision und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendabteilung des Amtsgerichts Gladbeck zurückzuverweisen; als Begründung wird angeführt:</p>
<blockquote><span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><em>„Es wird die Verletzung sachlichen Rechts gerügt. Das angefochtene Urteil wird ausdrücklich sowohl im Schuldspruch als auch im Rechtsfolgenausspruch zur vollständigen Überprüfung durch den Senat gestellt.“</em></p>
</blockquote>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Folgenden wird die Sachrüge näher ausgeführt und beanstandet, dass die auferlegte Sanktion unverhältnismäßig sei. Es werde verkannt, dass dem Gericht in Jugendstrafsachen ein ganzer Kanon von Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehe; eine freiheitsentziehende Maßnahme könne dabei immer nur die Ultima Ratio sein. Es sei bei der Wahl der Sanktion zu Unrecht missachtet worden, dass für den Angeklagten bzgl. berücksichtigter eingestellter früherer Verfahren die Unschuldsvermutung streite.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat in ihrer Antragsschrift beantragt, die Revision des Angeklagten als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen, da der Angeklagte es entgegen § 344 Abs. 1 StPO versäumt hat, ein unter Berücksichtigung von § 55 Abs. 1 S. 1 JGG zulässiges Angriffsziel eindeutig zu formulieren.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">1)</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">In der Revisionsbegründung muss das Ziel der Anfechtung so eindeutig mitgeteilt werden, dass die Verfolgung eines unzulässigen Ziels ausgeschlossen werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 07.02.2017, Az. 5 RVs 6/17 = BeckRS 2017, 107728). Besteht die Möglichkeit – wie vorliegend –, dass der Revisionsführer sich lediglich gegen die Auswahl und den Umfang von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln wendet, führt dies zur Unzulässigkeit, wobei Zweifel zulasten des Revisionsführers gehen (vgl. BGH, Beschluss vom 10.07.2013, Az. 1 StR 278/13 = NStZ 2013, 659; OLG Hamm, Beschluss vom 02.12.2021, Az. 4 RVs 124/21, juris). Die erforderliche eindeutige Angabe des Angriffsziels soll eine Umgehung der Vorschrift des § 55 Abs. 1 S. 1 JGG verhindern und damit dem Willen des Gesetzgebers – der Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens im Hinblick auf die erzieherische Wirkung von Entscheidungen – ausreichend Rechnung tragen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.07.2007, Az. 2 BvR 1824/06).</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">2)</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Den vorgenannten Anforderungen an eine Revisionsbegründung bei einem gegen ein in den Anwendungsbereich von § 55 Abs. 1 S. 1 JGG fallendes Rechtsmittel genügt der Schriftsatz vom 24.06.2022 trotz des umfassenden Aufhebungsantrages sowie der ausdrücklichen Rüge des Schuldspruchs nicht, da er lediglich auf eine Umgehung der Vorschrift ausgerichtet ist; im Einzelnen:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Allein ein umfassend gestellter Aufhebungsantrag gibt keinen ausreichenden Aufschluss in Bezug auf das Anfechtungsziel (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10.10.2000, Az. 33 Ss 92/00 = NStZ-RR 2001, 121). § 55 Abs. 1 S. 1 JGG kann nicht dadurch umgangen werden, dass ein Urteil zwar vordergründig zur vollen Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht gestellt wird, allerdings tatsächlich nur Angriffe gegen die Strafzumessung ausgeführt werden (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 30.03.2016, Az. 1 OLG 8 Ss 49/16 = BeckRS 2016, 9474). So verhält es sich hier; die ausgeführte Revisionsbegründung richtet sich ausschließlich gegen die verhängte Sanktion bzw. die Voraussetzungen der §§ 5 Abs. 2 JGG und 13 Abs. 1 JGG.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Infolge der erhöhten Anforderungen an die Konkretisierung des Angriffsziels reicht es auch nicht aus, schlicht den Schuldspruch – allgemein - anzufechten (vgl. MüKo/Kaspar, 1. Auflage 2018, § 55, Rn. 69). Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie vorliegend – die den Schuldspruch tragenden Feststellungen auf der geständigen Einlassung des revidierenden Angeklagten beruhen, was der Senat – obwohl außerhalb der Revisionsbegründung liegend – zur Klärung der Eindeutigkeit des Ziels des Rechtsmittels berücksichtigen durfte (vgl. BGH, Beschluss vom 10.07.2013, Az. 1 StR 278/13 = NStZ 2013, 659) ; bei einer derartigen Sachlage bedarf es einer Klarstellung, inwieweit der Schuldspruch angefochten wird (vgl. BGH, a.a.O.; OLG Celle, Beschluss vom 10.10.2000, Az. 33 Ss 92/00 = NStZ-RR 2001, 121).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">c)</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man aber davon ausginge, dass bereits die ausdrückliche Rüge des Schuldspruchs seitens des Angeklagten den Anforderungen an § 344 Abs. 1 StPO i.V.m. § 55 Abs. 1 JGG genügte, würden die Einzelausführungen in der Revisionsbegründungsschrift vom 24.06.2022 die Revision insgesamt unzulässig machen, da sich daraus unzweifelhaft ergibt, dass der Angeklagte lediglich den Rechtsfolgenausspruch angreifen will.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Für den Fall, dass der Revisionsführer in Wahrheit nicht die Rechtsanwendung sondern die Beweiswürdigung beanstanden will und sich dieser Schluss aus den Einzelausführungen der Revisionsbegründung ziehen lässt, ist allgemein anerkannt, dass Einzelausführungen zur Sachrüge die Revision insgesamt unzulässig machen können (vgl. Meyer/Goßner, 65. Auflage, § 344, Rn. 19 m.w.N. zur höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung). Diese Rechtsprechung lässt sich – wegen der Vergleichbarkeit des Sachverhalts – auch auf die vorliegende Konstellation übertragen, bei der sich anhand der Einzelausführungen ergibt, dass die Rüge des Schuldspruchs lediglich vordergründig und unter Umgehung von § 55 Abs. 1 S. 1 JGG erhoben wird, während das Angriffsziel der Revision tatsächlich auf die – unzulässige – Beanstandung der Sanktion gerichtet ist.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">3)</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Eine Konstellation, in der eine Umgehung der Vorschrift des § 55 Abs. 1 S. 1 JGG nicht angenommen werden kann, etwa weil aufgrund weiterer Ausführungen erkennbar wird, dass tatsächlich konkrete Rechtsfehler des Schuldspruchs beanstandet werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16.04.2020, Az. 4 RVs 45/20), liegt nicht vor.</p>
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346,841 | vg-karlsruhe-2022-09-20-a-1-k-274522 | {
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"city": 42,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | A 1 K 2745/22 | 2022-09-20T00:00:00 | 2022-10-06T10:01:36 | 2022-10-17T11:10:51 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p/><blockquote><blockquote><p>1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.07.2022 wird angeordnet.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Antrag hat Erfolg, da er zulässig und begründet ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/><strong>1.</strong> Der Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere nicht verfristet, da der Bescheid vom 22.07.2022 dem Antragsteller ausweislich des Sendungsnachverfolgungsdienstes der Deutschen Post erst am 10.08.2022 zugegangen ist und der am 17.08.2022 bei Gericht eingegangene Antrag somit die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG gewahrt hat. Ein früheres Zugangsdatum ergibt sich dabei auch nicht aus der Zustellfiktion des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG, denn nach dem Wortlaut der Vorschrift greift diese Fiktion nicht in solchen Fällen, in denen – wie hier – der Zugang nachweislich erst später erfolgt ist. Unabhängig davon lässt sich den Akten der Antragsgegnerin nicht entnehmen, mit welcher Form des Einschreibens der angefochtene Bescheid versendet worden ist. Ein bloßes Einwurf-Einschreiben aber erfüllt schon tatbestandlich nicht die Voraussetzungen des § 4 VwZG (vgl. BT.-Drs. 15/5216, S. 12, Schlatmann, in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 12. Auflage 2021, § 4 VwZG Rn. 2).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/><strong>2.</strong> Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse des Antragstellers, einstweilen von Vollzugsmaßnahmen aus der angefochtenen Abschiebungsandrohung verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Verfügung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/><strong>a)</strong> Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen nur dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bestehen dann, wenn die Überprüfung ergibt, dass die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben wird.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/><strong>b)</strong> So verhält es sich hier. Die Ablehnung des Asylverfahrens als offensichtlich unbegründet wird im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben, da die hierfür maßgeblichen Voraussetzungen des § 30 AsylG voraussichtlich nicht vorliegen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/><strong>aa)</strong> Die Antragsgegnerin stützt die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet allein auf den Umstand, dass der Antragsteller in einem 2006 durchgeführten Asylverfahren über seine Identität sowie seine Staatsangehörigkeit getäuscht und diese Täuschung erst mit Stellung des hier verfahrensgegenständlichen Asylfolgeantrags im Jahr 2021 offengelegt und korrigiert hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Zwar ist nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder diese Angaben verweigert. Voraussetzung hierfür dürfte jedoch sein, dass der Asylbewerber diese Täuschung nicht in irgendeinem (früheren), sondern gerade (auch) in dem zur Entscheidung stehenden Asylverfahren begangen bzw. aufrechterhalten hat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Hierfür streitet zum einen der Wortlaut der Norm, wonach die Täuschung „im“, also „in dem“ und nicht lediglich „in einem“ Asylverfahren erfolgt sein muss. Auch verlangt § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG, dass der Ausländer „täuscht“ und nicht lediglich „getäuscht hat“. Die Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet kann daher auf eine Identitätstäuschung nicht gestützt werden, sofern der Ausländer den von ihm zu verantwortenden Irrtum über seine Identität oder Staatsangehörigkeit aus freien Stücken aufklärt (vgl. Heusch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 34. Edition Stand 01.07.2022, § 30 Rn. 41; Lehnert, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Auflage 2021, § 30 Rn. 15). Kann aber selbst eine im zur Entscheidung stehenden Asylverfahren begangene Identitätstäuschung noch mit der Folge korrigiert werden, dass der qualifizierte Ablehnungsgrund des § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG nicht mehr Platz greift, so kann für eine in einem zurückliegenden Verfahren begangene Täuschung jedenfalls dann nichts anderes gelten, wenn diese mit Stellung des neuen Asylantrags aus freien Stücken offengelegt und richtiggestellt wird.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Zum anderen liegt § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ausweislich der Gesetzesbegründung die Erwägung zugrunde, dass ein individuelles Verfolgungsschicksal nur festgestellt werden kann, wenn die Identität und die Staatsangehörigkeit des Verfolgten bekannt sind, und dass ein politisch Verfolgter in der Bundesrepublik Deutschland um Asyl nachsucht, weil er auf den Schutz deutscher Behörden vertraut. Es ist dem Ausländer daher nach Auffassung des Gesetzgebers zuzumuten, spätestens gegenüber dem für die Entscheidung zuständigen Bundesamt seine Identität oder Staatsangehörigkeit darzulegen oder Angaben dazu zu machen (vgl. BT-Drs. 12/4450, S. 22). Damit aber dürfte § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG keine Anwendung auf solche Fälle finden, in denen – wie hier – der Ausländer dem für die Entscheidung zuständigen Bundesamt Identität und Staatsangehörigkeit aus freien Stücken offenlegt. Eine in einem früheren Verfahren begangene Identitätstäuschung mag zwar bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers zu berücksichtigen sein, rechtfertigt aber voraussichtlich nicht aus sich heraus, einen neuen, unter wahrer Identität gestellten Asylantrag unter bloßen Verweis auf § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG und damit möglicherweise ohne jede inhaltliche Prüfung des geltend gemachten Verfolgungsschicksals als offensichtlich unbegründet abzulehnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Nach alledem liegen die Voraussetzungen einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG voraussichtlich nicht vor. In seinem Asylfolgeantrag vom 31.01.2021 hat der Antragsteller die früher von ihm begangene Täuschung über Identität und Staatsangehörigkeit aus freien Stücken offengelegt und richtiggestellt. Dass er auch im hier zur Entscheidung stehenden Verfahren über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hätte, wird von der Antragsgegnerin nicht behauptet und ist auch sonst nicht erkennbar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/><strong>bb)</strong> Anderweitige Umstände, die eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet zu tragen vermöchten, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Auf die Frage, ob sich der Asylantrag im Hauptsacheverfahren möglicherweise als unbegründet erweisen wird, kommt es bei der Beurteilung der hier allein in Rede stehenden <em>offensichtlichen</em> Unbegründetheit nicht an.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/><strong>3.</strong> Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</td></tr></table>
<table><tr><td/></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,740 | olg-oldenburg-2022-09-20-2-ssowi-13722 | {
"id": 604,
"name": "Oberlandesgericht Oldenburg",
"slug": "olg-oldenburg",
"city": null,
"state": 11,
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} | 2 Ss(OWi) 137/22 | 2022-09-20T00:00:00 | 2022-09-29T10:01:08 | 2022-10-17T11:10:37 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong> Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Vechta vom 14.06.2022 wird vom rechtsunterzeichnenden Einzelrichter zur Fortbildung des Rechts zugelassen und die Sache auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das vorgezeichnete Urteil wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.</strong></p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Durch das angefochtene Urteil hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen fahrlässigen Nichtbildens einer Rettungsgasse zu einer Geldbuße von 230 € verurteilt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er hält es für klärungsbedürftig, ab welchem Zeitpunkt des Stillstandes oder des nur in Schrittgeschwindigkeit fließenden Verkehrs, eine Rettungsgasse gebildet werden müsse.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Generalstaatsanwaltschaft hält eine Zulassung der Rechtsbeschwerde ebenfalls für geboten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Einzelrichter hat die Rechtsbeschwerde zur Klärung dieser Frage, mithin zur Fortbildung des Rechts, zugelassen und die Sache auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Das Amtsgericht hat zunächst folgende Feststellungen getroffen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Am TT.MM.2021 befuhr der Betroffene … die Bundesautobahn 1 in Richtung Ort1 bei Ort2 in Höhe Kilometer (…). Der Verkehr auf der dreispurigen Autobahn war baubaustellenbedingt ins Stocken geraten und teilweise zum Erliegen gekommen. Der Betroffene befuhr die dreispurige Autobahn auf der mittleren Fahrspur und hielt sich dabei linksseitig, während die hinter ihm befindlichen Fahrzeuge sowie zumindest ein vor ihm befindliches Fahrzeug auf der mittleren Spur sich so weit wie möglich rechts und sämtliche Fahrzeuge auf der linken Spur sich so weit wie möglich links orientiert hatten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Der Rechtsbeschwerde ist zunächst zuzugeben, dass die Bildung einer Rettungsgasse gemäß § 11 Abs. 2 StVO nicht bereits bei stockendem Verkehr, sondern erst dann erforderlich ist, sobald Fahrzeuge mit Schrittgeschwindigkeit fahren oder sich die Fahrzeuge im Stillstand befinden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Den Urteilsfeststellungen lässt sich nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen, dass sich die Fahrzeuge nur mit Schrittgeschwindigkeit bewegt haben. Hiergegen spricht bereits, dass die Zeugin BB bekundet hat, das Fahrzeug des Betroffenen über 3 km fast 10 Minuten lang beobachtet zu haben, was auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 18 km hindeutet, die sich noch dadurch erhöht, weil es nach der Aussage der Zeugin auch Phasen des Stillstandes gegeben habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Zuzugeben ist der Rechtsbeschwerde weiterhin, dass sich aus dem Lichtbild Blatt 6 der Verwaltungsakte nicht ergibt, ob sich das Fahrzeug des Betroffenen zum Zeitpunkt der Aufnahme bewegt hat oder nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Gleichwohl hat die Rechtsbeschwerde keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Nach der Aussage des Zeugen CC, die das Amtsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, sei der Betroffene „ziemlich penetrant“ auch dann in der Rettungsgasse geblieben, als der Verkehr gänzlich zum Stehen gekommen sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Zwar finden sich im Urteil keine Feststellungen dazu, wie lange diese Phasen des Stillstandes gedauert haben. Dies ist jedoch unschädlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Rettungsgasse ist nämlich zu bilden „sobald Fahrzeuge... mit Schrittgeschwindigkeit fahren oder sich die Fahrzeuge im Stillstand befinden.“ Soweit das Amtsgericht Tübingen (DAR 2021, 406) die Auffassung vertreten hat, der Verstoß gegen § 11 Abs. 2 StVO setze eine gewisse zeitliche Komponente des Stillstandes oder der Schrittgeschwindigkeit voraus, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Der Wortlaut des §11 Abs. 2 StVO ist eindeutig. Laut duden.de bedeutet das Wort sobald „in dem Augenblick, da...“ bzw. „gleich wenn“. Damit wird hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Überlegungsfrist nicht besteht, die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse vielmehr sofort eingreift, nachdem die in § 11 Abs. 2 StVO beschriebene Verkehrssituation eingetreten ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Dies gilt hier umso mehr, als der Betroffene wegen des stop-and-go–Verkehrs damit rechnen musste, dass die Phasen des Stillstandes auch länger andauern könnten. Würde man einem Fahrzeugführer, in einer Situation, in der der vor ihm befindliche Verkehr zum Erliegen gekommen ist, eine Überlegungsfrist zubilligen, während derer er zunächst noch die Rettungsgasse blockieren dürfte, hätte dies zur Konsequenz, dass er nach Erkennen der Verkehrssituation und Ablauf einer Überlegungsfrist erst noch möglicherweise zeitaufwendig rangieren müsste, um die Rettungsgasse freizugeben. Eine solches Rangiermanöver - dort mit Behinderung des Einsatzfahrzeuges - war im Übrigen bereits Gegenstand der Entscheidung des Senats 2 Ss (OWi) 34/22.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Auch ansonsten lässt das angefochtene Urteil Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen nicht erkennen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE270412022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,667 | ovgnrw-2022-09-20-22-a-330121 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 22 A 3301/21 | 2022-09-20T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:04 | 2022-10-17T11:10:27 | Anerkenntnisurteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0920.22A3301.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 30.000,-- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Das ist hier nicht der Fall. Die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substanziiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die von der Klägerin aufgeworfenen, für grundsätzlich bedeutsam gehaltenen Fragen,</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">„ob beim Erreichen des Schwellenwertes (nicht nur von drei, sondern auch sechs oder mehr oder 20) im Sinne des §§ 3 ff. UVPG (nur) gleichzeitig sich im Betrieb befindliche Anlagen zu berücksichtigen sind? Besteht ein funktionaler Zusammenhang nur dann?“,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">sind schon nicht entscheidungserheblich. Denn das Verwaltungsgericht hat seine Annahme, das Vorhaben unterliege nicht der Pflicht zur Durchführung einer UVP-Vorprüfung, nicht, jedenfalls nicht entscheidungstragend, darauf gestützt, die abzubauende Windenergieanlage sei wegen der Rückbauverpflichtung vor Inbetriebnahme der hier umstrittenen WEA 2 nicht zu berücksichtigen bzw. es komme nur auf einen gleichzeitigen Betrieb an, sondern darauf, dass die beiden genehmigten Anlagen und die sog. Altanlage mangels funktionalen Zusammenhangs keine Windfarm i. S. v. § 2 Abs. 5 UVPG bildeten. Es hat dabei ausdrücklich eine zeitweise potenzielle Überschneidung aus der Errichtung der WEA 2 sowie der Errichtung/dem Betrieb der WEA 1 und dem Betrieb der Altanlage auf C. Gemeindegebiet zugrunde gelegt. Ein vom Verwaltungsgericht vertretener Ansatz, wonach „drei Anlagen erst vorhanden sind, wenn diese Anlagen gleichzeitig in Betrieb sind, nicht wenn sie bereits im Bau oder sonst vorhanden sind“, findet sich hingegen in dem angegriffenen Urteil nicht. Diese These, aus der die Klägerin eine grundsätzliche Bedeutung ableiten will, geht vielmehr vollständig an der Argumentation des Verwaltungsgerichts vorbei. Auf dessen eingehende und überzeugende Begründung, also auf den fehlenden, nach § 2 Abs. 5 UVPG für das Vorliegen einer Windfarm aber erforderlichen, funktionalen Zusammenhang, geht der Zulassungsantrag indes mit keinem Wort ein und zeigt so nicht auf, dass diese Feststellungen Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwürfen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine grundsätzliche Bedeutung auch nicht aus einer vermeintlich bestehenden Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 267 AEUV. Auch diese leitet die Klägerin allein aus der - unzutreffenden - Annahme ab, das Verwaltungsgericht habe den gleichzeitigen Betrieb vorhandener Windenergieanlagen als unabdingbare Voraussetzung für eine Windfarm angesehen. Wie die Klägerin zu der Auffassung gelangt, eine Vorlagepflicht ergäbe sich (auch) daraus, dass „es kein Rechtsmittel auf nationaler Ebene gibt, die Auslegung von drei oder mehr, also §§ 6, 7 UVPG i.V. m. der Anlage 1 bzw. dem funktionalen Zusammenhang i. s. D. §2 V S.1 und 2 UVPG überprüfen zu lassen“, erschließt sich schon deshalb nicht einmal ansatzweise, weil sie diese These in einem Rechtsmittelschriftsatz aufstellt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese als notwendig Beigeladene hinreichenden Anlass hatte, sich in das Verfahren mittels anwaltlicher Unterstützung einzubringen und sie dies im Zulassungsverfahren auch eingehend getan hat.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 19.2 und Nr. 2.2.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, wobei der Senat bis zum Erreichen einer Obergrenze in Höhe von 60.000,‑- Euro für jede streitgegenständliche Windenergieanlage einen Streitwert in Höhe von 15.000,-- Euro festsetzt.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das angefochtene Urteil rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
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346,666 | ovgni-2022-09-20-1-me-7622 | {
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"city": null,
"state": 11,
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"level_of_appeal": null
} | 1 ME 76/22 | 2022-09-20T00:00:00 | 2022-09-23T10:00:53 | 2022-10-17T11:10:27 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer (Einzelrichter) - vom 6. Juli 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 115.000 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Teilbaugenehmigung und eine Baugenehmigung für eine ihren Ferienhäusern benachbarte Hotelanlage sowie gegen eine Befreiung von planungsrechtlichen Festsetzungen zur Lage der Stellplätze dieser Anlage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin ist Eigentümerin der Flurstücke E. und F., jeweils Flur G. der Gemarkung H., die mit mehreren zum Ferienwohnen vermieteten Gebäuden (Zum I. 25-29a und 33-37) bestanden sind. Die Gebäude werden über die weiter südlich in Ost-West-Richtung verlaufende Straße Zum I. und eine von dieser nach Norden abzweigende, im Miteigentum der Antragstellerin stehende Gemeinschaftsstellplatzanlage, an die die Gebäude Zum I. 29a im Norden und Zum I. 35-37 im Westen angrenzen, erschlossen. Sie liegen im Geltungsbereich der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. III/6a der Gemeinde A-Stadt, die dort ein Sonstiges Sondergebiet SO 2 mit der Zweckbestimmung „Gebiet für die Fremdenbeherbergung“ und der allgemeinen Zulässigkeit von Ferienhäusern festsetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene ist Eigentümerin der dem Flurstück J. und der Gemeinschaftsstellplatzanlage östlich benachbarten Flurstücke, die mit der genannten Bebauungsplanänderung als Sonstiges Sondergebiet SO 1 „Gebiet für die Fremdenbeherbergung“ mit der allgemeinen Zulässigkeit von Betrieben des Beherbergungsgewerbes (Hotelbetrieben), Schank- und Speisewirtschaften, Einzelhandelsbetrieben, Dienstleistungseinrichtungen und von Anlagen für gesundheitliche Zwecke festgesetzt sind. Eine Fläche für Stellplätze ist in diesem Gebiet an seinem Ostrand festgesetzt. Östlich des Gebietes und des Beigeladenengrundstücks liegt ein Deich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Auf dieser Fläche beabsichtigt die Beigeladene die Verwirklichung eines als „Hotelpark Hooksiel“ bezeichneten Vorhabens, das aus fünf Einzel- und fünf Doppelhäusern jeweils gleicher Bauart mit je drei bzw. sechs Nutzungseinheiten, einem größeren „Apartmenthaus“ mit Restaurant im Erdgeschoss und einem vorhandenen „Boardinghaus“ bestehen und insgesamt 234 Betten aufweisen soll. Von den hierfür vorgesehenen insgesamt 59 Einstellplätzen sollen 43 auf einer Stellplatzanlage im Südwesten des Grundstücks - von der Gemeinschaftsstellplatzanlage des Sondergebiets SO 2 durch eine von der Grundstücksgrenze 3 m entfernte Schallschutzwand getrennt - eingerichtet, die übrigen vereinzelt auf dem Grundstück verteilt werden. In der Südwestecke des Grundstücks, noch westlich der Schallschutzwand, ist eine Fläche für Müllcontainer vorgesehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Am 25. März 2021 erteilte der Antragsgegner der Beigeladenen eine Teilbaugenehmigung für Erdarbeiten und die Gründung der Gebäude mit Ausnahme des Apartmenthauses sowie eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur Lage der Stellplätze. Die hiergegen erhobenen Widersprüche der Antragstellerin wies er mit Widerspruchsbescheid vom 13. April 2021 zurück. Am 2. August 2021 erteilte er die Baugenehmigung für das Gesamtvorhaben und wies den dagegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2021 zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Den Antrag der Antragstellerin, (1.) die aufschiebende Wirkung der fristgerecht erhobenen Klage gegen die genannten Bescheide anzuordnen und (2.) dem Antragsgegner aufzugeben, Arbeiten zur Errichtung der Hotelanlage „mit einer für sofort vollziehbar erklärten Verfügung zu untersagen bzw. stillzulegen und die Aufnahme der genehmigten Nutzung zu untersagen“, hat das Verwaltungsgericht abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Antrag zu 2. sei unzulässig, da das erforderliche Sicherungsinteresse fehle; es bestünden keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Beigeladene im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe gegen die Baugenehmigungen die Bautätigkeit bzw. Nutzung fortsetzen werde. Der Antrag zu 1. sei unbegründet. Die Teilbaugenehmigung, die Baugenehmigung und die Befreiung verletzten die Antragstellerin voraussichtlich nicht in ihren Rechten. Die Festsetzung im Bebauungsplan zur Lage der Stellplätze im SO 1 sei nicht drittschützend, da ein gegenteiliger Regelungswille des Plangebers nicht erkennbar sei. Die mithin auf die hinreichende Berücksichtigung nachbarlicher Interessen beschränkte Prüfung der Befreiung gehe zu Lasten der Antragstellerin aus. Zwischen der genehmigten Stellplatzanlage und den Ferienhäusern der Antragstellerin lägen die Gemeinschaftsstellplätze des SO 2. Die Ruhezonen der Ferienhäuser lägen auf der dem SO 1 abgewandten Gebäudeseite. Nach überzeugender gutachterlicher Aussage unterschreite der Parkplatzlärm an den Gebäuden der Antragstellerin unter Berücksichtigung einer 2 m hohen Lärmschutzwand die hier maßgeblichen Richtwerte der TA Lärm für ein allgemeines Wohngebiet tags um mindestens 16 dB(A), nachts um mindestens 9 dB(A). Selbst unter Zugrundelegung der Richtwerte für ein reines Wohngebiet seien diese unterschritten. Auch unter optischen Gesichtspunkten sei die Verlagerung der Stellplatzanlage zumutbar, da die Häuser der Antragstellerin von dieser durch ihre eigene Stellplatzanlage getrennt würden und die nur 2 m hohe Lärmschutzwand nicht in unmittelbarer Sichtachse, sondern im seitlichen Sichtfeld zu den Häusern der Antragstellerin liege. Auch die Teilbaugenehmigung und die Baugenehmigung verletzten keine Nachbarrechte der Antragstellerin. Etwaiger Baulärm sei nicht Genehmigungsgegenstand. Gegen die Einhaltung der Grenzabstände sei nichts Substantiiertes vorgetragen. Ob die Planfestsetzungen zur überbaubaren Grundfläche überschritten würden, könne dahinstehen, da diese nicht nachbarschützend seien. Gleiches gelte für eine etwaige Unzulässigkeit der gewählten hochgeschossigen Holzbauweise; im Übrigen enthalte die dem Bebauungsplan beigefügte örtliche Bauvorschrift keine gestalterischen Vorgaben für das SO 1. Zwar seien die vorgesehenen 59 Stellplätze (einer je vier Betten) weniger als nach dem Stellplatzerlass erforderlich, da der Zuschlag nach Nr. 6.3 i.V.m. Nr. 6.1 des Erlasses für das Restaurant im Umfang von 8 Stellplätzen (einer je 10 Sitzplätze) nicht berücksichtigt worden sei. Die Richtzahlen des Erlasses seien aber lediglich ein Anhaltspunkt für den Bedarf. Zudem sei die Vorschrift des § 47 NBauO über die Zahl der notwendigen Einstellplätze nicht unmittelbar nachbarschützend, sondern nur dann, wenn der durch einen Verstoß bedingte Park- und Parksuchverkehr die Zufahrt zu Nachbargrundstücken verstopfe und deren Nutzung stark beeinträchtige. Das sei hier angesichts der geringfügigen Überschreitung, der Familienorientierung des Hotels und der Erwartung, dass das Restaurant in erster Linie fußläufig oder mit dem Fahrrad aufgesucht werde, nicht zu befürchten. Von der Antragstellerin geltend gemachte Verstöße gegen Vorgaben des Bebauungsplans zur Begrünung lägen nicht vor; zudem seien diese Vorgaben nicht nachbarschützend. Soweit die Antragstellerin vortrage, es liege ein „Etikettenschwindel“ vor, die Beigeladene plane tatsächlich kein Hotel, sondern Ferienhäuser, führe dies nicht zu einer Rechtsverletzung. Es sei bereits zweifelhaft, ob ein „Etikettenschwindel“ vorliege, da die Absicht, Ferienhäuser zu errichten, nicht - wie erforderlich - bereits den Bauvorlagen zu entnehmen sei; vorgesehen seien vielmehr hotelähnliche Nebenleistungen. Im Übrigen würde selbst eine planwidrige Ferienhausnutzung keine Rechte der Antragstellerin beeinträchtigen; auf einen Gebietserhaltungsanspruch könne diese sich nicht berufen, da ihre Grundstücke nicht im selben Baugebiet wie das Vorhaben lägen und eine ausnahmsweise bestehende Absicht der Gemeinde, Gebietsnachbarn Drittschutz hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung zu vermitteln, nicht erkennbar sei. Auch das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt, weder mit Blick auf den Verkehrs- noch auf den sonstigen Gebietslärm, die Baugestaltung oder auf eine Beeinträchtigung der Aussicht von den Ferienhäusern der Antragstellerin auf den Deich. Auch eine erdrückende Wirkung habe das Vorhaben nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die dagegen gerichtete Beschwerde, auf deren fristgerecht, das heißt bis einschließlich Montag, den 8. August 2022, dargelegte Gründe sich die Prüfung des Senats nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Dies gilt zunächst, soweit die Antragstellerin eine Rechtsverletzung durch die der Beigeladenen erteilte Befreiung geltend macht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Zu Recht hat das Verwaltungsgericht eine drittschützende Wirkung der Festsetzung zur Lage der Stellplätze im sonstigen Sondergebiet SO 1 verneint. Sein Argument, der Umstand, dass die zwei weiteren Stellplatzflächen im Plangebiet in dessen Mitte und nicht an seinem Rand eingerichtet worden seien, spreche dagegen, dass sich die Gemeinde bei der Verortung von Belangen des Nachbarschutzes habe leiten lassen, wird nicht dadurch entkräftet, dass die Antragstellerin dies als bloße Mutmaßung bezeichnet. Die Behauptung der Antragstellerin, die Anlage der SO-2-Parkplätze gewährleiste die gebotene Rücksicht auf spielende Kinder, stellt die Erwägung des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht in Frage. Die im SO 2 vorgesehenen zwei Stellplatzflächen sind nicht - was möglich gewesen wäre - am Südrand des Gebietes entlang der Straße Am I. angeordnet, sondern schneiden tief in die Bauflächen ein; die westlichste der drei Stellplatzflächen ist sogar so festgesetzt, dass Teile des SO 2 - die Grundstücke Am I. 45-47B - auf drei Seiten von Verkehrsanlagen umgeben sind. Angesichts dessen bedürfte die These, gerade für die Verortung der Stellfläche im SO 1 sei die größtmögliche Abschirmung der weiter westlich gelegenen Sondergebiete bestimmend gewesen, konkreter Anhaltspunkte in der Planbegründung; solche benennt die Antragstellerin indes nicht, sondern begnügt sich ihrerseits mit einer Behauptung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Auch das Beschwerdevorbringen zur Frage, ob bei der Erteilung der Befreiung nachbarliche Interessen der Antragstellerin hinreichend berücksichtigt worden sind, überzeugt nicht. Die Ausführungen zum Standort der Müllcontainer sind insoweit unerheblich; deren Standort ist durch den Bebauungsplan nicht vorgegeben und steht in keinem zwingenden Zusammenhang mit der Lage der Stellplätze; maßgebend dürfte eher die gute Erreichbarkeit für Müllfahrzeuge gewesen sein. Anderes gilt zwar mit Blick auf die Errichtung der Lärmschutzwand, die gerade der Bewältigung der Lärmauswirkungen der Verlegung der Stellplatzanlage dient. Indes hat das Verwaltungsgericht überzeugend dargelegt, dass die durch die Lärmschutzwand hervorgerufenen Sichtbeeinträchtigungen der Antragstellerin zumutbar sind. Dies würde selbst dann gelten, wenn die Lärmschutzwand, wie die Antragstellerin geltend macht, eine Höhe von 4 m - und nicht lediglich von 2 m - aufwiese; denn sie ist vom nächstgelegenen Gebäude der Antragstellerin (Am I. 37) durch den 3 m breiten Grenzabstand auf dem Baugrundstück, die rd. 19 m breite Gemeinschaftsstellplatzanlage im SO 2 und den nochmals gut 3 m tiefen Vorgarten der Antragstellerin getrennt. Zu Recht weist das Verwaltungsgericht ergänzend darauf hin, dass die Ostfassade des Gebäudes Am I. 37 nicht auf die Lärmschutzwand, sondern weitgehend auf das nördlich davon gelegene Flurstück K. gerichtet ist. Der Blick von der - offenbar im Miteigentum der Antragstellerin stehenden - Gemeinschaftsstellplatzanlage auf die Fläche, auf der die Lärmschutzwand errichtet werden soll, genießt rechtlich keinen besonderen Schutz. Die Behauptung der Antragstellerin, auf der Fläche für die Zukunft eine Freilauffläche für Hunde und Ruhebänke für die Hundehalter zu planen, ist - abgesehen davon, dass dem die Festsetzungen des Bebauungsplans entgegenstehen dürften - schon deshalb unerheblich, weil für die Beurteilung des Bauantrags die Sachlage zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung zugrunde zu legen ist. Hinzu kommt, dass auch eine Hundeauslauffläche nicht erhöht schutzwürdig ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Das auf die Darlegung eines Nachbarrechtsverstoßes durch die Teilbau- und die Baugenehmigung abzielende Beschwerdevorbringen überzeugt ebenfalls nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Dies gilt zunächst, soweit die Antragstellerin geltend macht, die Anzahl der notwendigen Einstellplätze sei vom Verwaltungsgericht fehlerhaft berechnet worden; es seien Stellplätze für mindestens 10 Reinigungskräfte, Personal der Rezeption, Küchen- und Servicepersonal, Fahrradverleih und Autovermietung und Mitarbeiter des Abhol- und Bringservice hinzuzurechnen. Die Antragstellerin verkennt insoweit, dass der Bedarf an Personalstellplätzen in der an die Bettenzahl anknüpfenden pauschalierenden Berechnung der Nrn. 6.1, 6.3 des Stellplatzerlasses bereits einbezogen ist; lediglich 75 % der errechneten Stellplätze sind, wie sich aus der letzten Spalte der Tabelle des Erlasses ergibt, für Besucher kalkuliert, die übrigen 25 % - hier also nach der Berechnung des Verwaltungsgerichts 16-17 Stellplätze - tragen dem Bedürfnis nach Mitarbeiterstellplätzen Rechnung. Die Behauptung der Antragstellerin, es würden für die Anlage weitere 20 Kundenparkplätze für Fahrradverleih, Autovermietung, Abhol- und Bringservice benötigt, ist nicht verständlich; soweit diese Dienste in der Betriebsbeschreibung (Projektbeschreibung S. 3 unten) erwähnt werden, sollen sie den Hotelgästen dienen. Bleibt es mithin bei der vom Verwaltungsgericht angenommenen eher geringfügigen Unterschreitung der Richtzahlen, so ist für die Befürchtung, Park- und Parkplatzsuchverkehr werde die Zufahrtswege zu den Grundstücken der Antragstellerin verstopfen, kein Raum.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Ohne Erfolg rügt die Antragstellerin eine Verletzung ihres Gebietserhaltungsanspruchs. Dabei kann offenbleiben, ob die These der Antragstellerin, nach den von der Rechtsprechung unter dem Stichwort des „Etikettenschwindels“ entwickelten Grundsätzen sei hier von einer Ferienhausnutzung auf den Grundstücken der Beigeladenen auszugehen, zutrifft. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht jedenfalls dargelegt, dass eine Ferienwohnnutzung die Antragstellerin nicht in ihrem Gebietserhaltungsanspruch verletzen würde. Die Annahme, unabhängig von einem entsprechenden Planungswillen der Gemeinde komme den Artfestsetzungen innerhalb eines Baugebiets stets Drittschutz im Sinne eines „Gebietserhaltungsanspruchs“ zu, beruht auf der Annahme, dass einheitliche Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung in einem Baugebiet die Planunterworfenen zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbinden. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind (st. Rspr., vgl. nur BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 - 4 C 28.91 -, BVerwGE 94, 151 = juris Rn. 12). Vor diesem Hintergrund kann sich die Antragstellerin auf einen Gebietserhaltungsanspruch nicht berufen. Von der Beschränkung der ihrer Art nach zulässigen baulichen Nutzung auf Hotels unter Ausschluss von Ferienwohnungen, wie sie im SO 1 gilt, ist sie mit ihren im SO 2 gelegenen Grundstücken nicht betroffen, unabhängig davon, ob man diese Sondergebiete als verschiedene Baugebiete oder als ein (gegliedertes) Baugebiet definiert. Vielmehr möchte die Antragstellerin der Beigeladenen gerade eine Nutzung versagen, die sie selbst ausüben darf (und auch ausübt). Drittschutz könnten die Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung im SO 1 angesichts dessen nur vermitteln, wenn der Plangeber diesen eine drittschützende Zielrichtung beigemessen hätte. Das ist nicht der Fall. Aus der Planbegründung zur 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 26 ergibt sich vielmehr deutlich, dass die Antragsgegnerin das SO 1 einer Hotelnutzung vorbehalten hat, um das touristische Angebot von Hooksiel zu erweitern und Synergien mit dem benachbarten Hallenbad zu fördern, nicht hingegen, um das benachbarte Plangebiet/SO 2 vor dem Entstehen weiterer Ferienwohnungen zu schützen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>c)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragstellerin (im Rahmen des Beschwerdevorbringens zu einem Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme durch Verstoß gegen örtliche Bauvorschriften) geltend macht, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts seien die Maßfestsetzungen des Bebauungsplans drittschützend, da auf S. 6 der Planbegründung der Nachbarschutz ausdrücklich in Bezug genommen worden sei, ist ihr nicht zu folgen. Selbst wenn man aus den direkt nur auf die Dachneigung und -gestaltung bezogenen Aussagen Rückschlüsse auf die Zielsetzung auch der Maßfestsetzungen ziehen wollte, ergäbe sich daraus kein Drittschutz. Wenn die Gemeinde die Festsetzungen mit dem Wunsch begründet, die neuen baulichen Anlagen sollten sich „der bestehenden Bebauung in der Nachbarschaft [das wäre i.Ü. die Nachbarschaft außerhalb der damals noch unbebauten SO 2 und 3] anpassen“, ist damit zunächst einmal nur das öffentliche Interesse an einem harmonischen Ortsbild angesprochen. Ein qualifizierter, von konkreten unzumutbaren Beeinträchtigungen unabhängiger Schutz gerade der Nachbarschaft vor Abweichungen folgt daraus nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>d)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht deshalb zu bejahen, weil durch eine Verkleinerung der im Bebauungsplan vorgesehenen Stellplatzfläche eine größere Anzahl an Ferienwohnungen (bzw. Hotelbetten) entstünde als planerisch vorgesehen. Die Annahme trifft bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht zu. Der Bebauungsplan geht ausweislich S. 4 der Planbegründung vom Entstehen von 450 bis 500 Gästebetten aus, wobei Betten in Ferienwohnungen und Hotelbetten hinsichtlich der damit verbundenen Beeinträchtigungsintensität als gleichwertig angesehen werden; die Beigeladene möchte demgegenüber lediglich 234 Betten schaffen. Unabhängig davon würde eine Abweichung von der mit der Planung verbundenen Erwartung hinsichtlich der Ausnutzungsdichte des Baugebiets noch nicht gleichsam automatisch einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme zulasten der Antragstellerin begründen. Konkrete unzumutbare Beeinträchtigungen durch den planbedingten Stellplatzverkehr sind, wie bereits ausgeführt, nicht zu erwarten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Der vorgesehene Standort der Müllcontainer - den die Antragstellerin mit dem auf die Befreiung bezogenen Beschwerdevorbringen beanstandet - verletzt ihr gegenüber ebenfalls nicht das Gebot der Rücksichtnahme. Der Standort grenzt nicht an ein Wohngrundstück der Antragstellerin, sondern lediglich an die dem SO 2 zugeordnete Stellplatzanlage an, die keine erhöhte Schutzbedürftigkeit genießt. Die vorgetragenen Absichten der Antragstellerin, diesem Standort unmittelbar benachbart eine Hundeauslauffläche anzulegen sind, wie dargelegt, - wenn überhaupt realisierbar - nicht berücksichtigungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragstellerin meint, „weitere Belastungen durch Befreiungen der Höhe und Dachneigungen, die das Grundstück der Antragstellerin beeinträchtigen“, ergäben „die erschlagende Wirkung aus der Massivität und dem einheitlichen, monolithischen Erscheinungsbild der Hotelanlage, die nicht dem Landschaftsbild entspricht“, zeigt sie auch damit keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme auf. Auf das Landschaftsbild bezogene Bestimmungen, die die Antragstellerin entgegen den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht konkret benennt, sind generell nicht nachbarschützend. Dass von dem Vorhaben eine erdrückende oder „erschlagende“ Wirkung ausgehen könnte, liegt mit Blick auf die eingehaltenen Grenz-/Abstände fern. Örtliche Bauvorschriften zur Dachneigung und Pfannenfarbe für das Sondergebiet SO 1 bestehen nicht, so dass das diesbezügliche Beschwerdevorbringen unabhängig von der Frage des Drittschutzes ins Leere geht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragstellerin erneut Verstöße gegen die im Bebauungsplan festgesetzten Pflanzgebote rügt, verkennt sie, dass diese Gebote nicht nachbarschützend sind. Soweit sie geltend macht, in den Bauvorlagen seien Bäume eingezeichnet, die auf ihr Grundstück ragten, hat die Antragsgegnerin dem zu Recht entgegengehalten, dass der Standort der Bäume nicht Gegenstand der Baugenehmigung ist und im Übrigen allenfalls ein zivilrechtliches, nach dem NNachbG zu beurteilendes Hindernis bei der Ausnutzung der Genehmigung darstellen kann; für die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung ist dies unerheblich (Burzynska/Mann, in: Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 70 Rn. 154).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Besteht bereits kein Anspruch auf Außervollzugsetzung der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen, so ist für Maßnahmen zur Baustellenstilllegung oder Nutzungsuntersagung von vornherein kein Raum; auch insoweit bleibt die Beschwerde mithin ohne Erfolg, ohne dass es darauf ankäme, ob das bisherige Verhalten der Beigeladenen eine Missachtung einer entsprechenden Außervollzugsetzung erwarten ließe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 2 52 Abs. 1 GKG. Hinsichtlich der Streitwertbemessung im Einzelnen wird auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
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<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
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<blockquote><blockquote><p>Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23.03.2022 wird aufgehoben.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der Kläger reiste nach eigenen Angaben vor Weihnachten 2021 über die Türkei und Bulgarien über die weitere Balkanroute auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Er gab an, 1996 geborener afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit zu sein. Er stellte am 29.11.2021 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 17.03.2022 gab der Kläger ausweislich des in den Akten befindlichen Protokolls an, Afghanistan ca. eine Woche nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 verlassen zu haben. Er habe in der Stadt Kundus gelebt, wo sich seine Eltern, zwei Brüder und eine Schwester bis jetzt aufhalten würden. Nach zwölf Jahren Schulbesuch, die er mit dem Abitur abgeschlossen habe, sei er zum Militär gegangen. Die Taliban würden jetzt nach allen Leuten suchen, die für die Regierung gearbeitet haben, und Angehörige von Polizei und Militär wie er würden von ihnen immer als Gegner der Taliban angesehen. Er würde daher mit hundertprozentiger Sicherheit verhaftet und in der Haft gefoltert, anschließend zum Tode verurteilt und getötet werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>In Bulgarien sei er zur Asylantragstellung gezwungen worden. Zwei Polizisten der Grenzpolizei hätten ihn geschlagen und zu einem Polizeirevier gebracht. 32 Tage lang sei er dann im Gefängnis gewesen; dort habe man ihm gesagt, dass er einen Asylantrag stellen müsse, wenn er nicht nach Afghanistan abgeschoben werden wolle. Im Gefängnis habe er dann auch eine Anhörung gehabt, man habe ihn nach seinem Reiseweg und zu seinen Fluchtgründen gefragt. Dort habe er gesagt, dass er nach Deutschland gehen möchte. Es sei ihm nicht gut gegangen, er habe Schmerzen aufgrund der erlittenen Schläge insbesondere in der Schulter gehabt. Er habe so viel erlebt, dass er psychisch angeschlagen sei, er wolle sich deshalb behandeln lassen. Einen schriftlichen Bescheid habe er in Bulgarien nicht erhalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Das Bundesamt richtete am 20.01.2022 ein Wiederaufnahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Bulgarien. Die bulgarischen Behörden antworteten nach Feststellung des Bundesamts nicht fristgerecht, damit ging die Zuständigkeit mit Ablauf des 03.02.2022 gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO auf Bulgarien über. Die österreichischen Behörden lehnten mit Schreiben vom 24.01.2022 das Übernahmeersuchen unter Verweis auf die Zuständigkeit Bulgariens ab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Mit Bescheid vom 23.03.2022, zugestellt ausweislich der Postzustellungsurkunde am 28.03.2022, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Bulgarien wurde angeordnet (Nr. 3), das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Am 28.03.2022 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg erhoben und zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung beantragt. Zur Begründung hat er sich auf die bisherigen Angaben im Asylverfahren bezogen und sodann ergänzend vorgetragen, von zwei Grenzpolizisten der Art geschlagen worden zu sein, dass er 32 Tage später bei Entlassung aus dem Gefängnis immer noch unter Schmerzen, insbesondere an der Schulter, gelitten habe. Die Misshandlung durch die Grenzpolizei und die 32-tägige Haft hätten ihm nicht nur körperlich, sondern auch psychisch zugesetzt, mit Folgen, die bis heute andauern. So löste die Vorstellung, nach Bulgarien zurück zu müssen, Angstzustände aus. Weiter wird auf die geringe Schutzquote afghanischer Flüchtlinge in Bulgarien hingewiesen, die ein Bruchteil der Schutzquote in der EU insgesamt betrage. Es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Abschiebung des Klägers aus Bulgarien nach Afghanistan unter Verletzung des Refoulement-Verbots. Zur Unterstützung seines Vortrags hat der Kläger einen Auszug aus Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, von Mathias Fiedler und Marc Speer, Juni 2020, übersandt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Der Kläger beantragt schriftsätzlich,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="9"/>den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23.03.2022 aufzuheben.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="10"/>Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>die Klage abzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Beschluss vom 25.04.2022 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (A 14 K 901/22).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 05.07.2022 auf mündliche Verhandlung verzichtet, der Kläger mit Schreiben vom 07.09.2022.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten des Bundesamts vor. Diese Akten werden ebenso wie die Erkenntnismittel, die in der mit dem Schreiben vom 24.06.2022 mitgeteilten und auf der Homepage des VGH Mannheim veröffentlichten und jeweils aktualisierten Liste (Bulgarien, Quartal 3 - 2022) aufgeführt sind, zum Gegenstand der Entscheidung gemacht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Hierauf sowie auf die Gerichtsakte und die gewechselten Schriftsätze wird wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergänzend Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis gegeben haben (§ 87 a Abs. 2 und 3 sowie § 101 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 23.03.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Das Bundesamt durfte den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen. Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig liegen im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Nicht Bulgarien, sondern Deutschland ist für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>1. Zwar durfte das Bundesamt gemäß der sekundären Zuständigkeitskriterien der Art. 18 Abs. 1 b) und 25 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst davon ausgehen, dass Bulgarien für die Wiederaufnahme des Klägers und die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist, nachdem Bulgarien das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 20.01.2021 nicht fristgerecht beantwortet hatte. Eine weitere Überprüfung der Zuständigkeit Bulgariens erfolgt insoweit nicht, da nach der Formulierung in Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO sowie nach der im Wiederaufnahmeverfahren strukturell gegebenen vorrangigen Prüfungskompetenz des Erstantragsstaats eine Überprüfung der primären Zuständigkeit durch den Zweitantragsstaat im Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich nicht vorgesehen ist (EuGH, Urteil vom 02.04.2019 - Rs C-582/17 – <H und R>, juris Rn. 58 ff; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AsylG § 29 Rn. 28).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>2. Es kommt aber vorliegend die Regelung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO zum Tragen. Danach darf ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall ist – wenn sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats nicht feststellen lässt – gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO sind im Fall des Klägers sogar unter mehreren Gesichtspunkten erfüllt, denn das bulgarische Asylsystem leidet unter systemischen Mängeln in Hinsicht auf afghanische Asylantragsteller im Besonderen sowie im allgemeinen aufgrund der Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte, zumal bei besonderer Vulnerabilität.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>a) Bereits die Aufnahmebedingungen in Bulgarien während eines laufenden Asylverfahrens genügen nicht den Anforderungen des Art. 4 GrCh. Das Asylverfahren in Bulgarien weist in den Fällen, in denen ein Asylbewerber aus dem Herkunftsstaat Afghanistan in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, systemische Schwachstellen auf.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Dabei bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien weder während eines Asylverfahrens noch nach dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die aus Art. 3 EMRK folgenden Rechte der (abgelehnten) Asylbewerber wahrt bzw. bei der Durchführung von Abschiebungen berücksichtigt. Insbesondere ist die Beachtung des sog. Refoulment-Verbots (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach keine Abschiebung in ein Land erfolgen darf, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmen Bevölkerungsgruppe oder politischen Ansichten in Gefahr wären, in Bulgarien nicht gewährleistet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Der Kläger muss damit rechnen, dass sein Asylantrag in Bulgarien in Abwesenheit abgelehnt worden ist. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verfahren der bulgarischen Behörden hinsichtlich von afghanischen Staatsangehörigen gestellten Asylanträgen. Bulgarien hat 2016 insgesamt 2,5% sowie 2017 nur 1,5 % der afghanischen Asylantragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus zuerkannt, im Jahr 2019 ansteigend auf 4 %, allerdings größten Teils erst aufgrund gerichtlicher Entscheidungen (AIDA, Country Report Bulgaria 2021, 21.02.2020, S. 49), im Jahr 2020 dann erneut lediglich 1,15 % (AIDA, aaO). Unionsweit betrug die Anerkennungsquote im Jahr 2016 hingegen 56 % (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, S. 6, aufrufbar: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/DG-HOME-Letter-to-BG-6-July-2017.pdf), im Jahr 2019 46% (AIDA, aaO, S. 49 f.). Die Europäische Kommission hatte im Juli 2017 ein Ermahnungsschreiben an Bulgarien gerichtet (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, aaO, S. 6 f.), das Grund für den kurzzeitigen Anstieg im Jahr 2019 gewesen sein dürfte. Der Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 von Amnesty International führt an, dass es zu Diskriminierung bei der Anerkennung von Asylsuchenden komme. Staatsbürger aus Pakistan, dem Irak und Algerien würden eine automatische Ablehnung erhalten. Zudem sei die Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus Afghanistan signifikant niedriger als im Rest der EU (AI 2020: Human Rights Review in Europe – Review of 2019 – Bulgaria, S. 1, verfügbar in der Asyldokumentation). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) gelten Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan, der Türkei, der Ukraine, China und Algerien für die Asylbehörde SAR als offensichtlich unbegründet. Asylsuchende aus diesen Ländern liefen zudem Gefahr, dass ihr Antrag während der Administrativhaft geprüft wird. Diese Praxis werde als Abschreckungsmethode angewandt (SFH (2019): Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, S. 17). Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dies nach der Machtübernahme der Taliban geändert haben könnte, aktuelle Erkenntnismittel stellen vielmehr fest, dass die Asylanträge der afghanischen Asylwerber weiterhin in beschleunigten Verfahren ganz überwiegend sogar als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, da Bulgarien die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 9).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>In Bezug auf afghanische Staatsangehörige leidet das bulgarische Asylverfahren somit an grundlegenden Mängeln, afghanische Schutzsuchende müssen zu fast 100 % davon ausgehen, dass ihr Asylgesuch faktisch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wird. Hier liegt gerade nicht der Fall vor, dass dem Asylantragsteller unter Zuerkennung subsidiären Schutzes lediglich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert wird, der daraus folgende Verstoß gegen die Pflichten des Mitgliedsstaates nach Art. 18 der EU-GrCh jedoch nicht einer Beurteilung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig entgegensteht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 85 über juris – Ibrahim, Rn. 99 f.). Vielmehr besteht in Fällen der systematischen Ablehnung des Asylgesuchs ohne echte inhaltliche Prüfung im zunächst aufnehmenden Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulementverbot durch Abschiebung in den Herkunftsstaat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>b) Sollte das Asylverfahren des Klägers in Bulgarien mittlerweile aufgrund seiner Ausreise aus Bulgarien abgelehnt worden sein, ist dem Kläger lediglich die Möglichkeit gegeben, einen Folgeantrag zu stellen. In Bulgarien ist jedoch kein Anspruch auf ein faires und substantielles Asylfolgeverfahren für Antragsteller aus dem Herkunftsland Afghanistan gegeben</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Nach den vorliegenden Erkenntnissen drohen für im Dublin-Verfahren rücküberstellte Asylantragsteller, nach der Ankunft bis zum Erhalt einer Registrierungskarte als Asylsuchende in Vorabschiebehaft genommen zu werde; dabei werden sie jedoch nicht über ihre Rechte und Pflichten informiert (Valeria Ilareva, Rechtsgutachten zum Rechtsstatus der Dublin-Rückkehrer nach Bulgarien, 30.06.2016, S. 7). Nach neueren Erkenntnissen erhalten Folgeantragsteller hingegen keine Registrierungskarte und haben auch kein Recht auf materielle Versorgung. Sie haben lediglich ein Recht auf Übersetzerleistungen, während die Zulässigkeit ihres Folgeantrags im Eilverfahren geprüft wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 10). Soweit eine Entscheidung über das Asylgesuch in Abwesenheit gefällt und zugestellt worden ist, muss der Betroffene ohnehin damit rechnen, in Administrativhaft genommen zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 18). Zudem besteht ein relevantes Risiko von Personen aller Herkunftsländer, ohne sachliche Prüfung ihres Asylbegehrens als Folgeantragsteller behandelt und in einer Hafteinrichtung festgehalten zu werden, wo ihnen eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GrCh droht (so für Personen, die sich während der Prüfung ihres Antrags in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auch VG Freiburg, Urteil vom 04.02.2016 - A 6 K 1356/14 -, VG Minden, Urteil vom 21.09.2016 - 3 K 2346/15.A -, VG Göttingen, Urteil vom 14.03.2017 - 2 A 141/16 -; jeweils juris; VG Sigmaringen, Beschluss vom 09.06.2017 - A 2 K 3727/17 -).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>c<span style="text-decoration:underline">) </span>Darüber hinaus ist bei der Beurteilung der Dublin-Rückführung auch bereits die Situation nach einem erfolgreichen Asylantrag mit in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - juris, Rn. 87 ff.), so dass sich auch hieraus der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Antragsteller in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies hat zur Folge, dass keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 – Adel Hamid und Amar Omar, NVwZ 2020, 137) und damit vorliegend auch keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergehen darf.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Dabei gilt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Kontext des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 und der EMRK steht. An die Widerlegung dieser Vermutung sind wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat für Asylantragsteller aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass auch dem Antragsteller im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCh droht. Es müssen also Defizite vorliegen, die vorhersehbar sind, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und daher wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizierbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 37, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>aa) Der EuGH (hierzu und zum Folgenden: Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 – Jawo, Rn. 87 f.; Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a. – Ibrahim, Rn. 86 f.) hat nunmehr geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung zulässig ist. Diese Maßgaben sind auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Danach darf das nationale Gericht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK nur annehmen, wenn es auf einer entsprechenden Tatsachengrundlage feststellt, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist dagegen selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Die Feststellung des Fehlens von Formen familiärer Solidarität oder von Mängeln bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten vermögen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass im Fall der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestünde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dabei für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [ABl. L 180 S. 96]) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250 ff.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 24).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Diese Rechtsprechung ist auf international Schutzberechtigte zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Anerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 -1 B 25.18 - juris Ls. 1 und Rn. 11). Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Dabei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2020, 1 C 4.19, juris, Rn. 36-38; VG Freiburg, Urteil vom 05.11.2020, A 1 K 3022/20).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>bb) Dabei ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung in Bulgarien erfahren hat, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Er wurde von der bulgarischen Grenzpolizei geschlagen und erlitt dadurch nachhaltige Schmerzen in der Schulter, zudem sei er jetzt psychisch angeschlagen und wolle sich deshalb behandeln lassen. Sein Vortrag hinsichtlich gewaltsamer Übergriffe durch Grenzbeamte findet seine Bestätigung in Berichten von Hilfsorganisationen über Erlebnisse anderer Flüchtlinge und aufgrund eigener Beobachtungen dieser Organisationen (siehe hierzu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, 24.07.2020, S. 15f.; Mathias Fiedler und Marc Speer, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, S. 42-47 mit einzelnen Berichten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 12-14).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>cc) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18). Ebenso wie die genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Köln, Oldenburg und Hannover aus dem Jahr 2020 stellt das VG Potsdam unter Berücksichtigung der Situation in Bulgarien seit Ausrufung der Pandemielage mit Urteil vom 11.01.2022 fest, dass dies sogar für nicht vulnerable, gesunde und arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte gilt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte stellt sich in Bulgarien in dem Kontext des dortigen Asylsystems derzeit wie folgt dar:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>dd) Anerkannt Schutzberechtigte sehen sich in Bulgarien einer Situation gegenüber, die man als aussichtslos (wie das VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25) oder auch als prekär bezeichnen kann (Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bulgarien: Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, nachfolgend: Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>2021 war ein weiteres Jahr der „Null-Integration“. Dies bedeutet, dass auch im letzten Jahr keine staatlichen Unterstützungsprogramme für die Integration internationaler Schutzberechtigter durchgeführt worden sind (vgl. AIDA Country Report: Bulgaria, 01.02.2022, S. 88). Es gibt zwar nach dem Auslaufen des nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 seit dem 19.07.2017 eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Berechtigten und den Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. Diese Integrationsverordnung ist jedoch in der Praxis völlig wirkungslos, denn Kommunen haben Vorbehalte, derartige Integrationsvereinbarungen abzuschließen (Bordermonitoring, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, nachfolgend: Bordermonitoring 2020, S. 73 ff.; die sachverständige bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das Nds. OVG vom 07.04.2017, im Folgenden Dr. Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 3). Laut einer Umfrage des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts „Sova Harris“ im Februar 2016 hätte die Hälfte der Befragten (fast 51%) es für inakzeptabel gehalten, Flüchtlinge als Mitarbeiter oder Nachbarn zu haben (Bordermonitoring 2020, S. 74 f.). Auch dies wirkt sich negativ auf die Bereitschaft der Bürgermeister aus, Integrationsmaßnahmen mit anerkannten Flüchtlingen ins Auge zu fassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Seit 2013 haben alle anerkannten Schutzberechtigten keinerlei Integrationsunterstützung erhalten, mit Ausnahme von 13 Inhabern eines Schutzstatus, die jedoch alle aus einem EU-Programm finanziert und nicht im Rahmen der Integrationsverordnung unterstützt wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Bulgarien, Gesamtaktualisierung am 24.07.2020, nachfolgend BFA 2020, S. 19). Der - ohne Angabe der Primärquellen gefertigten – Aussage der Deutschen Botschaft in Bulgarien, im Jahr 2017 seien 38, 2018 insgesamt 44 und 2019 insgesamt 79 Integrationsprofile angelegt worden, ist nicht zu entnehmen, dass aus der – allein auf dem Wunsch der Betroffenen beruhende - Anlage dieser Profile auch nur eine einzige Vereinbarung mit einer Gemeinde resultierte (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 2-3).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Soweit teilweise in der Rechtsprechung zu Bulgarien als Aufnahmeland festgestellt wird (siehe z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32), dass es zwar nicht viele Gemeinden gebe, die solche Vereinbarungen treffen wollen, aber es gebe welche, und dabei handele es sich meistens um Kommunen aus der Provinz, die unter dem Rückgang der Wohnbevölkerung litten, und insbesondere Unternehmen auf dem Land Interesse an Integrationsvereinbarungen ihrer Gemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen zeigen würden, beruht dies offenbar auf einer einzigen Quelle nämlich der Auskunft der deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018 (S. 2). Laut dieser Auskunft bestehe kaum Bereitschaft, sich in der bulgarischen Provinz niederzulassen. Es werden jedoch keine Kommunen oder Unternehmen, die zur Integration von Flüchtlingen bereit sind, konkret benannt. An diesem Mangel krankt auch der aktualisierte Bericht der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom Mai 2020, der ebenfalls keine einzige Quelle benennt. Auf diese nicht verifizierten Angaben, die das Auswärtige Amt wiederum in seine Auskunft etwa vom 26.04.2018 an das VG Trier übernommen hat (S. 4), stützt sich insbesondere die Beklagte, aber auch manche der Verwaltungsgerichte (so VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20, Rn. 45).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Eine aktuelle Recherche im Mai 2021 hat keine offiziellen Studien bzw. Zahlen zur Integration von Migranten in Bulgarien ermitteln können. Ebenso hat sich die behauptete fehlende Bereitschaft zur Niederlassung in ländlichen Regionen nicht anhand von konkreten Quellen verifizieren lassen. Im Rahmen einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen (European Committee of the Regions, 2020: Integration of migrants in middle and small cities and in rural areas in Europe, S. 60, verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/studies/Documents/Integration%20of%20Migrants.pdf) werden zwei Fallstudien zur Integration von Migranten in zwei Städten in ländlichen Räumen in Bulgarien vorgestellt. Dabei waren Interviews mit den Verantwortlichen vor Ort nicht möglich, so dass die Autoren ihre Informationen nur im Rahmen von Internetrecherchen gewinnen konnten. Beiden Städten, der Kleinstadt Nova Zagora und der mittelgroßen Stadt Haskovo, ist gemeinsam, dass die jeweilige Stadtverwaltung in keinerlei Aktivitäten zur Integration von Migranten involviert ist. Insbesondere das Bulgarische Rote Kreuz führt an beiden Orten einzelne Pilotprojekte durch, die aber jeweils nur auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind, wie zehntägige Intensivkurse zur Vermittlung von Kenntnissen über die Rechte von Migranten und das Sozialsystem. Das Projekt in Haskovo wiederum wird von der Europäischen Kommission im Rahmen von Notfallmaßnahmen zur Abfederung des Migrationsdrucks in Bulgarien bezahlt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass es für Migranten möglich sein kann, in einer Gemeinde, die sich von der demographischen Entwicklung benachteiligt sieht, eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich dort niederzulassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>ee) In Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte sind daher auf sich selbst gestellt. Mit Schwierigkeiten bei der Unterkunftssuche verbunden ist bereits die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese Registrierung ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen wie den Erhalt von Identitätsdokumenten, den Abschluss eines Mietvertrages und den Abschluss einer Krankenversicherung und die Beantragung von Sozialleistungen (z.B. BFA 2020, S. 19). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 90; vgl. ebenso Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21 f.); Bordermonitoring 2020, S. 75). Diese Schwierigkeiten können zu einem Teufelskreis bei der Wohnungssuche führen, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber wiederum nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten oder fiktiven Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA 2022, S. 90; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2020, S. 21 f.; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 6)). Soweit teilweise aus dem Umstand, dass die bulgarischen Behörden nachweislich Ausweisdokumente für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausgestellt haben, gefolgert wird, dass die Eintragung in das nationale Melderegister und damit auch der Abschluss eines Mietvertrages nicht unmöglich ist (z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2 1760/18. A, Rn. 318), kann das erkennende Gericht dem nicht folgen. Offenbar kann eine solche Eintragung auf illegalen Wegen erlangt werden, es kann jedoch nicht von den Betroffenen verlangt werden, diesen Weg einzuschlagen, zumal dies mit dem Risiko verbunden sein dürfte, gegen Strafvorschriften zu verstoßen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>In den ersten sechs Monaten nach Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besteht zwar die Möglichkeit, vorübergehend in den Aufnahmezentren für Asylbewerber aufgenommen zu werden, solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind (z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019, S. 2; AIDA Country Report Bulgaria 2021, S. 87; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; BFA 2020, S. 20), Dem Gericht liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob diese Möglichkeit auch schutzberechtigten Rückkehrern aus dem Ausland, die ihre frühere Aufnahmeeinrichtung bei ihrer Ausreise aus Bulgarien verlassen hatten, offensteht. Einige Quellen verneinen dies (Raphaelswerk 2019, S. 10; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 8 f.; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S.8) bzw. teilen mit, dass dieser Personenkreis keinen Anspruch auf Unterbringung in einer SAR-Einrichtung hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), woraus man folgern könnte, dass die Aufnahme zumindest möglich ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 27). Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass der 6-Monats-Zeitraum in dem Moment der Schutzgewährung beginnt und daher bei Rückkehr des Schutzberechtigten aus dem Ausland nach seiner Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel abgelaufen sein wird (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 8).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Selbst wenn anerkannt schutzberechtigte Personen temporär in einem solchen Aufnahmezentrum nach Rückkehr aus dem Ausland aufgenommen werden, sichert ihnen dies eine Unterkunft nur für maximal sechs Monate, zudem wird diesem Personenkreis kein Essen zur Verfügung gestellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; Raphaelswerk 2019, S. 10; Bordermonitoring 2020, S. 70). Die Möglichkeit, in einem der landesweit zwölf „Zentren für temporäre Unterbringung“ Unterkunft zu finden, besteht lediglich für maximal drei Monate und kann daher ebenfalls nur einen kurzen Zeitraum bis zur Anmietung einer eigenen Wohnung eine Hilfe bedeuten. (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand 2018, S.9). Es erübrigt sich daher die Klärung der Frage, inwieweit die Unterbringungsbedingungen in den Aufnahmezentren überhaupt zumutbar sind - die Lebensbedingungen in den staatlichen Aufnahmezentren werden durchgehend als schlecht und unter den Mindeststandards liegend beschrieben; inadäquat sein insbesondere die hygienischen Umstände, die regelmäßig zu Gesundheitsproblemen führen (BFA 2020, S. 16; Bordermonitoring 2020, S. 51-63, mit ausführlichem Bericht über die einzelnen offenen Lager; Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bulgarien: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Mai 2019, S. 3). Zudem könnte der Bericht, dass den Recherchierenden im Jahr 2018 durch die bulgarischen Behörden der Zutritt zu Aufnahmeeinrichtungen trotz rechtzeitiger Anfrage verwehrt wurde (Bordermonitoring 2020, S. 51 f.), Anlass zu der Vermutung geben, dass die Aufnahmezentren sich möglicherweise in einem Zustand befunden haben, der von den bulgarischen Verantwortlichen nicht als vorführwürdig eingeschätzt wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die generelle Wohnsituation in Bulgarien ist dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Bulgaren in ihren „eigenen vier Wänden“ leben, die Wohnungseigentumsquote betrug im Jahr 2019 84,1 % (zum Vergleich: Deutschland 51,1%; siehe hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/). Daraus folgt, dass der Wohnungsmarkt in Bulgarien sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung richtet und dabei auf die großen Städte konzentriert, in denen große Wohnblocks in der sozialistischen Ära erstellt wurden. Der Wohnungsbestand ist allerdings von großem Renovierungs- und Instandsetzungsbedarf gekennzeichnet, die erklärt auch die großen Leerstände (UNHCR, Bulgaria, 2020: Municipal Housing Policies: A Key Factor For Successful Integration At The Local Level, S.6, nachfolgend UNHCR 2020, Municipal Housing Policies). Außerhalb der großen Städte sind Wohnungen eher bei privaten Vermietern zu finden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Eine Studie des UNHCR fasst die Hindernisse, denen sich anerkannte Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum gegenübersehen, zusammen: Die größten Hürden sind rechtliche Barrieren beim Zugang zu Sozialwohnungen, Schwierigkeiten beim Zugang zum privaten Wohnungsmarkt infolge hoher Mieten, Diskriminierung und dem Widerwillen von Vermietern, Mietverträge mit Ausländern abzuschließen (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 8). Insbesondere sind vielfach Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter festzustellen (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18.07.2017, S. 9; UNHCR 2020 aaO; siehe VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 30).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Sozialwohnungen stehen in Bulgarien selbst für die bulgarische Bevölkerung nicht ausreichend zur Verfügung (UNHCR Bulgarien, 2020, S. 6). Nach Angaben der Caritas besteht Zugang zu Sozialwohnungen der Gemeinde nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist; Schutzberechtigte haben daher üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen (Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 32; BFA 2020, S. 21). Das Auswärtige Amt teilt mit, dass sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige auf die wenigen vorhandenen Sozialwohnungen bewerben dürfen (AA 16.01.2019; BFA 2020, S. 21). Diese Aussagen befinden sich allerdings nicht in einem Widerspruch zueinander, vielmehr ist festzustellen, dass sich Schutzberechtigte ebenso wie Inländer auf eine Sozialwohnung bewerben dürfen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen – was im Falle von Migranten jedoch faktisch so gut wie unmöglich ist. Sie befinden sich in Konkurrenz zu bulgarischen Wohnungssuchenden und sind dabei kaum erfolgreich (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9). Die Voraussetzungen für den Zugang zu Sozialwohnungen differieren zudem in den einzelnen Kommunen, vielfach wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz für eine bestimmte Dauer registriert haben muss, teilweise fünf bis 10 Jahre (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 48; Raphaelswerk 2019, S. 11; Bulgarian Council on Refugees and Migrants: Municipal Housing, verfügbar unter: https://www.refugee-integration.bg/en).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Anhand der vorstehenden Auskunftslage bleibt das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien (Bordermonitoring 2020, S. 69; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), der UNHCR geht aktuell unverändert von einem „real risk of homelessness“ aus (UNHCR, Submission For the Office of the High Commissioner for Human Rights, Compilation Report UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020, nachfolgend: UNHCR, Submission For the Office oft he High Commissioner for Human Rights, 2020). Dabei werden Frauen und Familien mit kleinen Kindern als besonders von Obdachlosigkeit bedroht bezeichnet (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8-9; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche durch Nichtregierungsorganisationen, es gebe in Bulgarien kaum obdachlose Flüchtlinge (AA, Auskunft vom 25.03.2019 an das BAMF, S. 2, und Auskunft vom 16.01.2019 an das VG Köln, S. 2). Dies sei mit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Stellen zu begründen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweigernden Flüchtlingen (so z.B. BFA 2020, S. 21). Die Art der staatlichen Hilfe und der Hilfe der NRO wird jedoch nicht konkret benannt, es gibt keinen Bericht, dem sich eine tatsächliche Vermittlung oder gar Zurverfügungstellung von finanzierbarem Wohnraum entnehmen lässt. Der Verbindungsbeamte des BM.I für Bulgarien übermittelte am 21.05.2021 eine Auskunft der bulgarischen Staatsagentur für Flüchtlinge, aus der sich ergibt, dass es in Bulgarien keine NGO gibt, welche die Unterbringung für einen längeren Zeitraum gewährleistet, es bestehe eventuell die Möglichkeit für eine kurzfristige Unterbringung von bspw. einer Woche (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021, S. 4). Die Caritas als eine jener NGOs, die vor Ort Hilfe anbieten, hat mitgeteilt, dass die Unterbringungskapazitäten nur Platz für knapp 5.700 Menschen böten und längst erschöpft seien (BFA, aaO, 19.07.2021, S. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Nach Auffassung des Gerichts ist jedoch daraus, dass es keine Berichte über eine große Anzahl von obdachlosen Schutzberechtigten in Bulgarien gibt, nicht zu folgern, dass es Schutzberechtigten gelingt, in irgendeiner Weise ein Obdach zu finden. Zunächst ist generell festzustellen, dass in vielen Bereichen durch die bulgarischen Behörden keine zahlenmäßigen Erhebungen vorgenommen werden (siehe z.B. die bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva in ihrer Auskunft vom 17.07.2017 an das OVG NRW, mit der wiederholten Antwort, dass entsprechende Daten durch die bulgarischen Behörden nicht erfasst werden).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die deutsche Botschaft in Sofia hat zwar mit Bericht zuletzt vom Mai 2020 (Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 4 f.; in Fortführung früherer Berichte) mitgeteilt, dass Schutzberechtigte auch durch Hilfe der Zivilgesellschaft, z.B. von der syrischen oder der muslimischen Gemeinschaft, ein Obdach gewährt werde – allerdings auch hier ohne Angabe der Primärquelle. Das Auswärtige Amt wurde mit Anfrage von dem OVG Hamburg gezielt dahingehend befragt und antwortete mit seiner Auskunft vom 07.04.2021 ausweichend, indem auf das Vorhandensein nur weniger Sozialwohnungen hingewiesen wurde. Auf die Ausgangsfrage hin wurde lediglich mitgeteilt, das konkretere Erkenntnisse nicht vorlägen (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3). Auch zu der Frage nach Obdachlosigkeit oder Hungerleidens von Familien teilte das Auswärtige Amt mit, dass dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Angesichts grundsätzlich eher diplomatischer Feststellungen des Auswärtigen Amtes folgert das Gericht aus dieser Auskunft, dass seitens des Auswärtigen Amtes weder Obdachlosigkeit noch eine mangelhafte Versorgung mit dem zum Leben Nötigsten ausgeschlossen werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Aus den Erkenntnismitteln folgt vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Schutzberechtigten der drohenden Obdachlosigkeit durch Weiterreise in andere Unionsländer begegnet (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2019, 4. Seite bei DIN A 4-Format), Entscheidend dürfte also alleine die geringe Zahl von Flüchtlingen sein, die tatsächlich auf Dauer in Bulgarien bleibt; die Mehrheit der Statusinhaber verlässt Bulgarien während des Asylverfahrens oder nach der Anerkennung (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft 07.04.2017, S. 2). Genaue Zahlen werden nicht ermittelt, daher gibt es nur Schätzungen, dass ca. 1.000 bis 2.000 Personen in Bulgarien verbleiben (Bordermonitoring 2020, S. 69; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 5-6;).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der legale Zugang zu anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgelesen werden muss. Der möglicherweise gegebene Ausweg, durch fiktive oder gefälschte Mietverträge eine Meldeadresse nachzuweisen, wird aus den o.g. Gründen nicht als den Betroffenen zumutbare Option angesehen. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist es Schutzberechtigten nahezu unmöglich, sich in Bulgarien dauerhaft niederzulassen. Flüchtlinge erhalten faktisch keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld oder Sozialhilfe, so erhielten im Jahr 2017 nur 20 Schutzberechtigte Sozialleistungen ausgezahlt (BFA 2020, S. 20.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>ff) Ebenso faktisch aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Tätigkeiten oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben (unter Berufung auf eine Stellungnahme der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge: BAMF, Länderinformationsblatt Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung steht anerkannt Schutzberechtigten zwar nominell in gleicher Weise wie Inländern automatisch und bedingungslos offen (BFA 2020, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 2, und an das OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4; AIDA 2021, S. 87; Raphaelswerk 2019, S. 13). Die Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage im Land seien übliche Probleme, ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus dem Herkunftsland sowie ausländischer Berufserfahrung (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 97). Arbeitsplätze stehen überwiegend in Sofia und Großstädten wie Plovdiv, Burgas und Stara Zagora im Süden sowie Varna im Nordosten des Landes zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft 24.01.2019, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Die von einigen Gerichten zitierte Aussage, es beständen für arbeitsfähige Schutzberechtigte tatsächliche Möglichkeiten, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, und zunehmend würden sich Unternehmer danach erkundigen, wie sie Flüchtlinge beschäftigen können, insbesondere in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, es mangele allerdings teilweise an der Bereitschaft der Flüchtlinge, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, beruht allein auf der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.04.2018 an das VG Trier (S. 3 f.) bzw. der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia vom 01.03.2018 (S. 2, beide in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Diese schildern jedoch zum einen Einzelfälle, jedoch ohne konkrete Angaben, und bewegen sich zum anderen im Bereich von Vermutungen und Prognosen. Sie werden auch nicht ansatzweise von irgendeinem anderen Erkenntnismittel, das sich nicht auf diese Auskunft bezieht, bestätigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Die Deutsche Botschaft hat im Mai 2020 von einem Programm der bulgarischen Regierung im Jahr 2016 zur Beschäftigung und Ausbildung von anerkannten schutzberechtigten berichtet, dass bis Ende 2020 verlängert worden sei (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 3). Ausweislich andere Quellen ist der Zugang in der Praxis jedoch de facto nicht möglich, weil der tatsächliche Zugang zu dieser Art von Aus und Weiterbildung die Kenntnis der bulgarischen Sprache voraussetzt, eine Möglichkeit der Übersetzung wird nicht angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24-25). Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist die Registrierung eines Wohnsitzes (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 43); solange Schutzberechtigte, die aus dem Ausland zurückkehren, keine Wohnung gefunden haben, können sie sich auch nicht bei der bulgarischen Arbeitsmarktbehörde als arbeitssuchend melden (Raphaelswerk 2019, S. 13). Nur wenigen anerkannt Schutzberechtigten gelingt die Integration in den bulgarischen Arbeitsmarkt und dann auch nur zu Löhnen, die keine laufenden Mietzahlungen abdecken (Bordermonitoring 2020, S. 76). Selbst das Auswärtige Amt räumt mit der vagen Formulierung, dass es „sicherlich möglich“ ist, mit dem Lohn für „einige“ dieser Tätigkeiten eine Unterkunft ausreichend finanzieren zu können, ein, dass es keine entsprechenden, belastbaren Erkenntnisse gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.04.2018, S. 4). Bulgarien bietet die niedrigsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit (im Jahr 2016) nur 4,49 EUR pro Stunde in der EU (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft, 24.01.2019).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Durch die staatliche Agentur für Arbeit wird keine effektive Hilfe geleistet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes hätten anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien eine Arbeitsstelle vor allem in der Landwirtschaft und der Gastronomie finden können (Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, Seite 3 f. und BAMF, Länderinformation: Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Demgegenüber berichtet AIDA, dass im Jahr 2019 von 481 Schutzgewährungen lediglich acht anerkannte Schutzberechtigte gemeldet beschäftigt gewesen sein (AIDA, Country Report Bulgaria 01.02.2022, S. 69).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere im Jahr 2019 Arbeitsmöglichkeiten für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer als realistisch in Nischenbereichen wie Callcentern für die arabische Sprache angesehen wurden, scheinen diese überbewertet zu sein, wie das VG Köln in seinem Urteil vom 17.06.2020 (20 K 5099/19.A, Rn. 39) nach Auffassung der Berichterstatterin zutreffend anmerkt. Feststellungen dazu, dass sich in der jüngeren Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage Bulgariens zunehmend verbessert habe, die Arbeitslosenquote gesunken sei und der Arbeitsmarkt sich dynamisch entwickelt habe (z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 –, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.02.2020 – 7 A 10.903/18 –, Rn. 59 ff.), sind in anderen Erkenntnismitteln nicht in dieser Weise zum Ausdruck gekommen. Selbst wenn es eine geringfügige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gegeben haben sollte, hat sie sich jedoch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie ins Gegenteil verkehrt: Die landesweite Arbeitslosenquote sei von 4,2 % im Jahr 2019 auf geschätzt 7,0 % gestiegen (German Trade and Invest, GTAI, Bulgarien vom 01.05.2020, S. 2; European Comission, Spring 2020 Economic Forcast by Country: Bulgaria vom 06.05.2020, S. 1 f.), die deutsche Botschaft teilt in ihrem aktuellen Datenblatt hingegen eine Arbeitslosenquote von 4,7 % im April 2021 mit. Radio Bulgaria, der Auslandsdienst des staatlichen bulgarischen Rundfunks, berichtete am 22.06.2020 unter Berufung auf das nationale Arbeitsamt von einer Arbeitslosenquote von 9,0 % und durchschnittlich neun Arbeitslosen, die sich um einen Arbeitsplatz bewerben würden (Radio Bulgaria, Arbeitslosenrate schwankt je nach Region zwischen 4,4 und 16,5 % von 22.6.2020, https://www.bnr.bg/de/Post/101297605/Arbeitslosenrate-schwankt-je-nach-Region-zwischen-44-und-165). Am härtesten wirke sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus (vgl. European Comission, aaO). Die vor der Pandemie angenommenen besonderen Chancen anerkannter Schutzberechtigter, gerade in der Gastronomie einen Arbeitsplatz zu finden, müssen vor diesem Hintergrund als überholt gelten, führt das VG Karlsruhe zu Recht aus (Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 30; ebenso VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 36; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17, Rn. 45).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Die seitens der bulgarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Rezession beziehen sich in erster Linie auf die vorhandenen Unternehmen und Arbeitsplätze (hierzu German and Trade Invest [GTAI], Bulgarien will sich mit Tourismus von der Coronakrise erholen, 25.03.2021, aufrufbar in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg) und dürften die Chancen anerkannter Schutzberechtigter erstmals eine Arbeit zu finden, nicht spürbar erhöhen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Andere Quellen nennen eine Arbeitslosenquote von 6,9 % für den Oktober 2020 und dann einen Anstieg auf 14,2 % am 01.01.2021 (Svetoslav Todorov, 07.01.2021, Bulgaria in 2021: Testing Times for Government, People and Environment). Darüber hinaus sind laut einem Artikel von Balkan Insight vom 17.03.2021 hunderttausende Bulgaren, die im Ausland lebten und arbeiteten – und damit einen Hauptgrund für die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen Bulgariens bis dahin bedeutet hatten -, aufgrund der COVID-19-Pandemie wieder nach Bulgarien zurückgekehrt; genaue Zahlen bezüglich der Anzahl der Rückkehrer gibt es jedoch nicht (Balkan Insight, 2021: Bulgarians Exiled Young Professionals Mull New Life Back Home). Ein Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) vom März 2021 zitiert eine Erhebung, wonach 10 % der befragten Rückkehrer nach dem Ende der Krise nicht wieder ins Ausland gehen möchten (UNFPA, 2021: Turning The Tide?, S. 2, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse verschiedener Umfragen der Deutsch-Bulgarischen Außenhandelskammer zu den Auswirkungen der Pandemie auf die bulgarische Wirtschaft vom Dezember und Juni 2020 (VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A, Rn. 329 + 330), da diese lediglich die augenblickliche Stimmung und Erwartungen der befragten Unternehmer wiedergibt. Dies gilt ebenso für die Hoffnung Bulgariens auf Touristen in den Sommermonaten (GTAI, aaO), der schon entgegenstehen dürfte, dass es der Tourismusbranche noch nicht gelungen ist, sich auf die Bedürfnisse internationaler, insbesondere westlicher Touristen einzustellen, so dass bisher nur vergleichsweise wenige westliche Touristen den Weg nach Bulgarien finden (siehe deutsche Botschaft Sofia, Datenblatt Bulgarien). Weiter wird geschätzt, dass ein erheblicher Teil der von der SAR untergebrachten Flüchtlinge, denen es gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden (über den Umfang werden keine Aussagen gemacht), in der ersten Pandemiephase ihre Arbeitsstellen verloren haben. Dies wird ausdrücklich für die Gastronomie festgestellt, in der Schutzberechtigte ohne Vertrag – in der Schattenwirtschaft - beschäftigt wurden (Europäische Kommission, Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>gg) Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 98; Raphaelswerk 2019, S. 11), die Gewährung von Sozialhilfe ist jedoch an nur sehr schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft, so dass es selbst bezugsfähigen bulgarischen Staatsangehörigen nur selten gelingt, diese zu beziehen, und anerkannt Schutzberechtigten fast nie (hierzu Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 7). Für diese ist der Sozialhilfebezug nur möglich, wenn Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhältlich ist, zudem ist ein Dolmetscher nötig (BFA 2020, S. 20), ohne dass jedoch ein Recht auf einen Dolmetscher gegeben ist. So soll im Jahr 2017 lediglich in 20 Fällen Sozialhilfe an Schutzberechtigte gezahlt worden sein (s.o.; Dr. Valeria Ilareva vom 07.04.2017, S. 7; Auskunft des AA an das OVG Weimar vom 18.07.2018, S. 2 und an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 3). Die Sozialhilfe betrug von 2009 bis 2017 unverändert ca. 33 EUR monatlich (s. VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25; BFA 2020, S. 20), 2019 wurde sie auf ca. 38 EUR monatlich angehoben (Auswärtiges Amt, Auskunft 07.04.2021, S. 2). Die Lebenshaltungskosten wurden für das Jahr 2018 mit 305 EUR im Landesschnitt, 397 EUR für Sofia, angegeben (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 16.01.2019, Seite 3), wobei für eine Wohnung in Sofia jedoch mindestens 200 EUR ohne Nebenkosten zu zahlen sind (Bordermonitoring S. 75). Daraus ergibt sich, dass anerkannt Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nicht aus staatlichen Sozialleistungen decken könnten, selbst wenn sie im Einzelfall in der Lage sein sollten, Sozialhilfe zu beziehen. Grundsätzlich kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, S. 3).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Es gibt zwar nach Angaben des Auswärtigen Amtes „vielfältiges Programme“ verschiedener internationaler und bulgarischer Nichtregierungsorganisationen, wie Rechtsberatung des Helsinki-Komitees, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung und der Wohnungssuche durch das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3; Raphaelswerk 2019, S. 11), jedoch handelt es sich lediglich um kurzfristige und punktuelle Maßnahmen, die sich überwiegend als Hilfe zur Erlangung begehrter Leistungen (Wohnung, Arbeit, Hilfe, etc.) darstellen (s. hierzu auch Raphaelswerk 2019, S. 1). Über die Erfolgsquote wird nicht berichtet, etwa durch Angabe der Anzahl vermittelter Arbeitsverhältnisse oder Mietverträge. Ohnehin zeichnet sich diese Auskunft dadurch aus, dass keine Nachweise bzw. Quellen benannt werden. Aufgrund der Ausgestaltung dieser Programme als unregelmäßig angebotene Projekte mit kurzer Laufzeit, obliegt es dem Zufall, ob ein Schutzberechtigter davon profitieren kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>hh) Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird vielfach von Gerichten als ausreichend angesehen, da rechtlich Schutzberechtigte auch in dieser Hinsicht Inländern gleichgestellt sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 16; so z.B. VG Freiburg, Urteil vom 12.03.2019, A 5 K 1829/16, Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2018, A 13 K 3922/17, juris. Rn. 26 ff.), ist jedoch in der Praxis für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Vom ersten Tag nach Statuszuerkennung an müssen Schutzberechtigte die Krankenversicherungsbeiträge, die bis dahin von der bulgarischen Flüchtlingsagentur entrichtet worden sind, selbst bezahlen, eine staatliche Unterstützung hierfür gibt es nicht (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2021, S. 70 f.). Selbst wenn der Beitrag in Höhe von 22,90 EUR für arbeitslose Personen (AIDA 2021, S. 88; BFA 2020, S. 21) irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, z.B. mit fehlenden Sprachkenntnissen (BFA 2020, S. 18) . Ohnehin ist das Hauptproblem der Gesundheitsversorgung in Bulgarien der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal (Raphaelswerk 2019, S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 23), der sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft hat. Das bulgarische Gesundheitswesen ist durch hohe Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen gekennzeichnet, die nicht von Krankenkassenbeiträgen abgedeckt sind – so genannte „Out of Pocket“-Zahlungen, die in Bulgarien im Jahr 2017 46,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben gemacht ausgemacht haben und damit den höchsten Anteil in der EU erreichen. Nach Schätzungen sind darüber hinaus mindestens 900.000 Menschen in Bulgarien ohne Krankenversicherung (BFA 2021, S. 21 f.), ein hoher Wert bei einer Gesamtbevölkerung von 6,9 Millionen im Jahr 2020. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Nachzahlung ausstehender Krankenversicherungsbeiträge nötig ist, um Krankenversicherungsschutz zu erhalten, zunächst für drei Jahre rückwirkend, inzwischen ist dies auf fünf Jahre rückwirkend erhöht (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>ii) Diese in allen existenziellen Lebensbereichen überaus kritische Situation wird zusätzlich durch die teils abweisende, teils durch Unwissenheit geprägte Einstellung der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschärft. Aus einem Bericht des UNHCR Bulgarien im November 2020 ergibt sich, dass die Einstellung vieler Bulgaren durch vergangene Erfahrungen, Stereotypen und die mediale Berichterstattung negativ geprägt ist (Bordermonitoring 2020, S. 73), 38 % der Befragten misstrauen Flüchtlingen allgemein, dabei überwiegend die Angst vor Verbrechen, die Angst vor der Verbreitung kultureller bzw. religiöse Überzeugungen, die Angst vor der Verbreitung von Krankheiten und die Angst vor Jobverlust (UNHCR, 2020: Public Attitudes Towards Refugees And Asylum Seekers in Bulgaria, S. 10, nachfolgend UNHCR 2020, Public Attitudes). Dabei sind die Berichte in den Erkenntnismitteln uneinheitlich, so wird einerseits von einer zunehmend wohlwollenden Bewertung der Niederlassung Schutzberechtigter in Gebieten mit demographischen Problemen berichtet (UNHCR 2020, Public Attitudes, S. 12), wobei der Anstieg sich im Rahmen von 18 auf 31 % Zustimmung eher im zurückhaltenden Bereich bewegt und jedenfalls nicht die Mehrheit der Bevölkerung abbildet. Daneben stehen Berichte über Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge, deren Bandbreite von einzelnen Übergriffen staatlicher Organe auf Migranten (BFA 2020, S. 6) bis hin zu Aussagen reicht, es werde gezielt Jagd auf Flüchtlinge gemacht (Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, S. 4; Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 36). Im Zentrum der Problematik scheinen dabei Bürgerwehren zu stehen, insbesondere rechtsradikale Gruppierungen wie die „Civil Squads for the Protection of Women and the Faith“ (CSPWF), die „Organization for the Protection of Bulgarian Citizens“ (OPBC), die „Military Union Vasil Levski“ (MU), das „Vasil Levski Committee for National Salvation“ (CNS) und das „Shipka Bulgarian National Movement“ (BNM) (eingehend dazu: Bordermonitoring 2020, S. 26-28).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Diese sollen sich nach einzelnen Berichten 2017 anderen Aktivitäten zugewandt haben, nachdem die Flüchtlingszahlen gesunken sein (Stoynova, Ndya / Dzhekova, Rositsa, 2019, Vigilantism against ethnic minorities and migrants in Bulgaria, S. 170, https://csd.bg/fileadmin/user_upload/publications_library/files/2019_11/Vigilantism_against_Migrants_and_Minorities.pdf). Als beunruhigend wird dabei eingeschätzt, dass diese weitestgehend ungestört durch die bulgarischen Behörden agieren können (Bordermonitoring 2020, S. 26 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Nach Angaben von AIDA waren auch im Jahr 2020 verbale und physische Übergriffe, Angriffe und Diebstähle zulasten von ausländischen Mitbürgern festzustellen, eine Verbesserung sei nicht zu beobachten (AIDA 2020, S. 59). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich in ihrem Bericht vom 31.03.2020 besorgt über weitverbreitete Intoleranz gegenüber Minderheiten in Bulgarien, u.a. gegenüber Muslimen, Migranten und Asylsuchenden; der Anstieg an Gewalttaten sei besorgniserregend (Commissioner For Human Rights Of The Council Of Europe (2020): Report Following Her Visit To Bulgaria From 25 to 29 November 2019, S. 6-7, verfügbar unter: https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-bulgaria-from-25-to-29-november-2019-by-dunja-m/16809cde16.; UNHCR, Submisson For the Office of the High Commissioner for Human Rights, 2020, Rn. 35; VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 34 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar formal Schutzberechtigte Inländern in den meisten Bereichen gleichgestellt sind, ihre Situation sich jedoch strukturell und grundlegend unterscheidet (so schon VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 33). Bulgaren steht zu über 84 % eine Unterkunft als Eigentum zur Verfügung, Schutzberechtigte hingegen können sich bei fehlenden Sozialleistungen und einem ihnen nur formal zugänglichen Arbeitsmarkt Wohnraum nicht finanzieren, sofern sie überhaupt einen Vermieter finden, der zur Vermietung an sie bereit ist. Anders als Bulgaren können sie nicht auf andere Arbeitsmärkte in der EU ausweichen, da sie keine Freizügigkeit genießen. Bei fehlenden Sprachkenntnissen, ohne soziale Kontakte oder familiäre Netzwerke bleibt ihnen nur ein Leben, das unmittelbar von Verelendung bedroht ist. Der weit verbreiteten Intoleranz und den zunehmend rassistisch agierenden Gruppierungen begegnet der Staat ebenso gleichgültig wie im Ganzen hinsichtlich einer Integration der Schutzberechtigten. Die „Null-Integration“ seit nunmehr neun Jahren verdeutlicht diese institutionelle Gleichgültigkeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>d) Vor dem Hintergrund der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation droht dem Kläger selbst nach den oben dargelegten, strengen Maßgaben in dem Fall der Abschiebung nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen ein „Automatismus der Verelendung“ und damit die zumindest beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtcharta. Es erscheint nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Bulgarien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu finanzieren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Der Kläger hat – wie bereits ausgeführt - eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EuGrCH durch körperliche Misshandlungen in Form von Schlägen hinnehmen müssen, mit Folgen für seine körperliche und seelische Gesundheit. Eine solche entwürdigende und erniedrigende Behandlung bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche eines jungen Erwachsenen, es ist nachvollziehbar, dass diese Erlebnisse seine psychische Gesundheit bis heute erheblich beeinträchtigen und insbesondere Angstzustände bewirken. Schon vor diesem Hintergrund ist ihm die Rückkehr in das Land, in dem er einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bereits mehrfach ausgesetzt war, nicht zumutbar. Zudem gehört er der besonders verletzlichen, vulnerablen Personengruppe derjenigen Personen an, die aufgrund der Folgen dieser Behandlung zumindest weitgehend auf Unterstützung angewiesen sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger einer Verelendung in Bulgarien aus individuellen Gründen entgehen könnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er in Bulgarien sozial vernetzt ist, ihm nennenswerte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder er über besondere persönliche Fähigkeiten verfügt, die ihm alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien trotz der oben dargestellten Hindernisse die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>3. Da das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsanordnung, die Verneinung von Abschiebungsverboten und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis gegeben haben (§ 87 a Abs. 2 und 3 sowie § 101 Abs. 2 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 23.03.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Das Bundesamt durfte den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen. Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig liegen im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Nicht Bulgarien, sondern Deutschland ist für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>1. Zwar durfte das Bundesamt gemäß der sekundären Zuständigkeitskriterien der Art. 18 Abs. 1 b) und 25 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst davon ausgehen, dass Bulgarien für die Wiederaufnahme des Klägers und die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist, nachdem Bulgarien das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 20.01.2021 nicht fristgerecht beantwortet hatte. Eine weitere Überprüfung der Zuständigkeit Bulgariens erfolgt insoweit nicht, da nach der Formulierung in Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO sowie nach der im Wiederaufnahmeverfahren strukturell gegebenen vorrangigen Prüfungskompetenz des Erstantragsstaats eine Überprüfung der primären Zuständigkeit durch den Zweitantragsstaat im Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich nicht vorgesehen ist (EuGH, Urteil vom 02.04.2019 - Rs C-582/17 – <H und R>, juris Rn. 58 ff; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AsylG § 29 Rn. 28).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>2. Es kommt aber vorliegend die Regelung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO zum Tragen. Danach darf ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall ist – wenn sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats nicht feststellen lässt – gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO sind im Fall des Klägers sogar unter mehreren Gesichtspunkten erfüllt, denn das bulgarische Asylsystem leidet unter systemischen Mängeln in Hinsicht auf afghanische Asylantragsteller im Besonderen sowie im allgemeinen aufgrund der Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte, zumal bei besonderer Vulnerabilität.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>a) Bereits die Aufnahmebedingungen in Bulgarien während eines laufenden Asylverfahrens genügen nicht den Anforderungen des Art. 4 GrCh. Das Asylverfahren in Bulgarien weist in den Fällen, in denen ein Asylbewerber aus dem Herkunftsstaat Afghanistan in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, systemische Schwachstellen auf.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Dabei bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien weder während eines Asylverfahrens noch nach dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die aus Art. 3 EMRK folgenden Rechte der (abgelehnten) Asylbewerber wahrt bzw. bei der Durchführung von Abschiebungen berücksichtigt. Insbesondere ist die Beachtung des sog. Refoulment-Verbots (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach keine Abschiebung in ein Land erfolgen darf, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmen Bevölkerungsgruppe oder politischen Ansichten in Gefahr wären, in Bulgarien nicht gewährleistet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Der Kläger muss damit rechnen, dass sein Asylantrag in Bulgarien in Abwesenheit abgelehnt worden ist. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verfahren der bulgarischen Behörden hinsichtlich von afghanischen Staatsangehörigen gestellten Asylanträgen. Bulgarien hat 2016 insgesamt 2,5% sowie 2017 nur 1,5 % der afghanischen Asylantragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus zuerkannt, im Jahr 2019 ansteigend auf 4 %, allerdings größten Teils erst aufgrund gerichtlicher Entscheidungen (AIDA, Country Report Bulgaria 2021, 21.02.2020, S. 49), im Jahr 2020 dann erneut lediglich 1,15 % (AIDA, aaO). Unionsweit betrug die Anerkennungsquote im Jahr 2016 hingegen 56 % (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, S. 6, aufrufbar: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/DG-HOME-Letter-to-BG-6-July-2017.pdf), im Jahr 2019 46% (AIDA, aaO, S. 49 f.). Die Europäische Kommission hatte im Juli 2017 ein Ermahnungsschreiben an Bulgarien gerichtet (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, aaO, S. 6 f.), das Grund für den kurzzeitigen Anstieg im Jahr 2019 gewesen sein dürfte. Der Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 von Amnesty International führt an, dass es zu Diskriminierung bei der Anerkennung von Asylsuchenden komme. Staatsbürger aus Pakistan, dem Irak und Algerien würden eine automatische Ablehnung erhalten. Zudem sei die Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus Afghanistan signifikant niedriger als im Rest der EU (AI 2020: Human Rights Review in Europe – Review of 2019 – Bulgaria, S. 1, verfügbar in der Asyldokumentation). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) gelten Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan, der Türkei, der Ukraine, China und Algerien für die Asylbehörde SAR als offensichtlich unbegründet. Asylsuchende aus diesen Ländern liefen zudem Gefahr, dass ihr Antrag während der Administrativhaft geprüft wird. Diese Praxis werde als Abschreckungsmethode angewandt (SFH (2019): Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, S. 17). Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dies nach der Machtübernahme der Taliban geändert haben könnte, aktuelle Erkenntnismittel stellen vielmehr fest, dass die Asylanträge der afghanischen Asylwerber weiterhin in beschleunigten Verfahren ganz überwiegend sogar als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, da Bulgarien die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 9).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>In Bezug auf afghanische Staatsangehörige leidet das bulgarische Asylverfahren somit an grundlegenden Mängeln, afghanische Schutzsuchende müssen zu fast 100 % davon ausgehen, dass ihr Asylgesuch faktisch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wird. Hier liegt gerade nicht der Fall vor, dass dem Asylantragsteller unter Zuerkennung subsidiären Schutzes lediglich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert wird, der daraus folgende Verstoß gegen die Pflichten des Mitgliedsstaates nach Art. 18 der EU-GrCh jedoch nicht einer Beurteilung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig entgegensteht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 85 über juris – Ibrahim, Rn. 99 f.). Vielmehr besteht in Fällen der systematischen Ablehnung des Asylgesuchs ohne echte inhaltliche Prüfung im zunächst aufnehmenden Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulementverbot durch Abschiebung in den Herkunftsstaat.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>b) Sollte das Asylverfahren des Klägers in Bulgarien mittlerweile aufgrund seiner Ausreise aus Bulgarien abgelehnt worden sein, ist dem Kläger lediglich die Möglichkeit gegeben, einen Folgeantrag zu stellen. In Bulgarien ist jedoch kein Anspruch auf ein faires und substantielles Asylfolgeverfahren für Antragsteller aus dem Herkunftsland Afghanistan gegeben</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Nach den vorliegenden Erkenntnissen drohen für im Dublin-Verfahren rücküberstellte Asylantragsteller, nach der Ankunft bis zum Erhalt einer Registrierungskarte als Asylsuchende in Vorabschiebehaft genommen zu werde; dabei werden sie jedoch nicht über ihre Rechte und Pflichten informiert (Valeria Ilareva, Rechtsgutachten zum Rechtsstatus der Dublin-Rückkehrer nach Bulgarien, 30.06.2016, S. 7). Nach neueren Erkenntnissen erhalten Folgeantragsteller hingegen keine Registrierungskarte und haben auch kein Recht auf materielle Versorgung. Sie haben lediglich ein Recht auf Übersetzerleistungen, während die Zulässigkeit ihres Folgeantrags im Eilverfahren geprüft wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 10). Soweit eine Entscheidung über das Asylgesuch in Abwesenheit gefällt und zugestellt worden ist, muss der Betroffene ohnehin damit rechnen, in Administrativhaft genommen zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 18). Zudem besteht ein relevantes Risiko von Personen aller Herkunftsländer, ohne sachliche Prüfung ihres Asylbegehrens als Folgeantragsteller behandelt und in einer Hafteinrichtung festgehalten zu werden, wo ihnen eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GrCh droht (so für Personen, die sich während der Prüfung ihres Antrags in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auch VG Freiburg, Urteil vom 04.02.2016 - A 6 K 1356/14 -, VG Minden, Urteil vom 21.09.2016 - 3 K 2346/15.A -, VG Göttingen, Urteil vom 14.03.2017 - 2 A 141/16 -; jeweils juris; VG Sigmaringen, Beschluss vom 09.06.2017 - A 2 K 3727/17 -).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>c<span style="text-decoration:underline">) </span>Darüber hinaus ist bei der Beurteilung der Dublin-Rückführung auch bereits die Situation nach einem erfolgreichen Asylantrag mit in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - juris, Rn. 87 ff.), so dass sich auch hieraus der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Antragsteller in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies hat zur Folge, dass keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 – Adel Hamid und Amar Omar, NVwZ 2020, 137) und damit vorliegend auch keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergehen darf.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Dabei gilt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Kontext des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 und der EMRK steht. An die Widerlegung dieser Vermutung sind wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat für Asylantragsteller aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass auch dem Antragsteller im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCh droht. Es müssen also Defizite vorliegen, die vorhersehbar sind, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und daher wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizierbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 37, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>aa) Der EuGH (hierzu und zum Folgenden: Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 – Jawo, Rn. 87 f.; Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a. – Ibrahim, Rn. 86 f.) hat nunmehr geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung zulässig ist. Diese Maßgaben sind auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Danach darf das nationale Gericht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK nur annehmen, wenn es auf einer entsprechenden Tatsachengrundlage feststellt, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist dagegen selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Die Feststellung des Fehlens von Formen familiärer Solidarität oder von Mängeln bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten vermögen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass im Fall der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestünde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dabei für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [ABl. L 180 S. 96]) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250 ff.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 24).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Diese Rechtsprechung ist auf international Schutzberechtigte zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Anerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 -1 B 25.18 - juris Ls. 1 und Rn. 11). Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Dabei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2020, 1 C 4.19, juris, Rn. 36-38; VG Freiburg, Urteil vom 05.11.2020, A 1 K 3022/20).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>bb) Dabei ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung in Bulgarien erfahren hat, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Er wurde von der bulgarischen Grenzpolizei geschlagen und erlitt dadurch nachhaltige Schmerzen in der Schulter, zudem sei er jetzt psychisch angeschlagen und wolle sich deshalb behandeln lassen. Sein Vortrag hinsichtlich gewaltsamer Übergriffe durch Grenzbeamte findet seine Bestätigung in Berichten von Hilfsorganisationen über Erlebnisse anderer Flüchtlinge und aufgrund eigener Beobachtungen dieser Organisationen (siehe hierzu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, 24.07.2020, S. 15f.; Mathias Fiedler und Marc Speer, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, S. 42-47 mit einzelnen Berichten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 12-14).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>cc) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18). Ebenso wie die genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Köln, Oldenburg und Hannover aus dem Jahr 2020 stellt das VG Potsdam unter Berücksichtigung der Situation in Bulgarien seit Ausrufung der Pandemielage mit Urteil vom 11.01.2022 fest, dass dies sogar für nicht vulnerable, gesunde und arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte gilt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte stellt sich in Bulgarien in dem Kontext des dortigen Asylsystems derzeit wie folgt dar:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>dd) Anerkannt Schutzberechtigte sehen sich in Bulgarien einer Situation gegenüber, die man als aussichtslos (wie das VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25) oder auch als prekär bezeichnen kann (Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bulgarien: Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, nachfolgend: Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>2021 war ein weiteres Jahr der „Null-Integration“. Dies bedeutet, dass auch im letzten Jahr keine staatlichen Unterstützungsprogramme für die Integration internationaler Schutzberechtigter durchgeführt worden sind (vgl. AIDA Country Report: Bulgaria, 01.02.2022, S. 88). Es gibt zwar nach dem Auslaufen des nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 seit dem 19.07.2017 eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Berechtigten und den Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. Diese Integrationsverordnung ist jedoch in der Praxis völlig wirkungslos, denn Kommunen haben Vorbehalte, derartige Integrationsvereinbarungen abzuschließen (Bordermonitoring, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, nachfolgend: Bordermonitoring 2020, S. 73 ff.; die sachverständige bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das Nds. OVG vom 07.04.2017, im Folgenden Dr. Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 3). Laut einer Umfrage des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts „Sova Harris“ im Februar 2016 hätte die Hälfte der Befragten (fast 51%) es für inakzeptabel gehalten, Flüchtlinge als Mitarbeiter oder Nachbarn zu haben (Bordermonitoring 2020, S. 74 f.). Auch dies wirkt sich negativ auf die Bereitschaft der Bürgermeister aus, Integrationsmaßnahmen mit anerkannten Flüchtlingen ins Auge zu fassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Seit 2013 haben alle anerkannten Schutzberechtigten keinerlei Integrationsunterstützung erhalten, mit Ausnahme von 13 Inhabern eines Schutzstatus, die jedoch alle aus einem EU-Programm finanziert und nicht im Rahmen der Integrationsverordnung unterstützt wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Bulgarien, Gesamtaktualisierung am 24.07.2020, nachfolgend BFA 2020, S. 19). Der - ohne Angabe der Primärquellen gefertigten – Aussage der Deutschen Botschaft in Bulgarien, im Jahr 2017 seien 38, 2018 insgesamt 44 und 2019 insgesamt 79 Integrationsprofile angelegt worden, ist nicht zu entnehmen, dass aus der – allein auf dem Wunsch der Betroffenen beruhende - Anlage dieser Profile auch nur eine einzige Vereinbarung mit einer Gemeinde resultierte (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 2-3).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Soweit teilweise in der Rechtsprechung zu Bulgarien als Aufnahmeland festgestellt wird (siehe z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32), dass es zwar nicht viele Gemeinden gebe, die solche Vereinbarungen treffen wollen, aber es gebe welche, und dabei handele es sich meistens um Kommunen aus der Provinz, die unter dem Rückgang der Wohnbevölkerung litten, und insbesondere Unternehmen auf dem Land Interesse an Integrationsvereinbarungen ihrer Gemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen zeigen würden, beruht dies offenbar auf einer einzigen Quelle nämlich der Auskunft der deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018 (S. 2). Laut dieser Auskunft bestehe kaum Bereitschaft, sich in der bulgarischen Provinz niederzulassen. Es werden jedoch keine Kommunen oder Unternehmen, die zur Integration von Flüchtlingen bereit sind, konkret benannt. An diesem Mangel krankt auch der aktualisierte Bericht der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom Mai 2020, der ebenfalls keine einzige Quelle benennt. Auf diese nicht verifizierten Angaben, die das Auswärtige Amt wiederum in seine Auskunft etwa vom 26.04.2018 an das VG Trier übernommen hat (S. 4), stützt sich insbesondere die Beklagte, aber auch manche der Verwaltungsgerichte (so VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20, Rn. 45).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Eine aktuelle Recherche im Mai 2021 hat keine offiziellen Studien bzw. Zahlen zur Integration von Migranten in Bulgarien ermitteln können. Ebenso hat sich die behauptete fehlende Bereitschaft zur Niederlassung in ländlichen Regionen nicht anhand von konkreten Quellen verifizieren lassen. Im Rahmen einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen (European Committee of the Regions, 2020: Integration of migrants in middle and small cities and in rural areas in Europe, S. 60, verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/studies/Documents/Integration%20of%20Migrants.pdf) werden zwei Fallstudien zur Integration von Migranten in zwei Städten in ländlichen Räumen in Bulgarien vorgestellt. Dabei waren Interviews mit den Verantwortlichen vor Ort nicht möglich, so dass die Autoren ihre Informationen nur im Rahmen von Internetrecherchen gewinnen konnten. Beiden Städten, der Kleinstadt Nova Zagora und der mittelgroßen Stadt Haskovo, ist gemeinsam, dass die jeweilige Stadtverwaltung in keinerlei Aktivitäten zur Integration von Migranten involviert ist. Insbesondere das Bulgarische Rote Kreuz führt an beiden Orten einzelne Pilotprojekte durch, die aber jeweils nur auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind, wie zehntägige Intensivkurse zur Vermittlung von Kenntnissen über die Rechte von Migranten und das Sozialsystem. Das Projekt in Haskovo wiederum wird von der Europäischen Kommission im Rahmen von Notfallmaßnahmen zur Abfederung des Migrationsdrucks in Bulgarien bezahlt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass es für Migranten möglich sein kann, in einer Gemeinde, die sich von der demographischen Entwicklung benachteiligt sieht, eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich dort niederzulassen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>ee) In Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte sind daher auf sich selbst gestellt. Mit Schwierigkeiten bei der Unterkunftssuche verbunden ist bereits die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese Registrierung ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen wie den Erhalt von Identitätsdokumenten, den Abschluss eines Mietvertrages und den Abschluss einer Krankenversicherung und die Beantragung von Sozialleistungen (z.B. BFA 2020, S. 19). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 90; vgl. ebenso Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21 f.); Bordermonitoring 2020, S. 75). Diese Schwierigkeiten können zu einem Teufelskreis bei der Wohnungssuche führen, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber wiederum nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten oder fiktiven Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA 2022, S. 90; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2020, S. 21 f.; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 6)). Soweit teilweise aus dem Umstand, dass die bulgarischen Behörden nachweislich Ausweisdokumente für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausgestellt haben, gefolgert wird, dass die Eintragung in das nationale Melderegister und damit auch der Abschluss eines Mietvertrages nicht unmöglich ist (z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2 1760/18. A, Rn. 318), kann das erkennende Gericht dem nicht folgen. Offenbar kann eine solche Eintragung auf illegalen Wegen erlangt werden, es kann jedoch nicht von den Betroffenen verlangt werden, diesen Weg einzuschlagen, zumal dies mit dem Risiko verbunden sein dürfte, gegen Strafvorschriften zu verstoßen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>In den ersten sechs Monaten nach Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besteht zwar die Möglichkeit, vorübergehend in den Aufnahmezentren für Asylbewerber aufgenommen zu werden, solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind (z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019, S. 2; AIDA Country Report Bulgaria 2021, S. 87; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; BFA 2020, S. 20), Dem Gericht liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob diese Möglichkeit auch schutzberechtigten Rückkehrern aus dem Ausland, die ihre frühere Aufnahmeeinrichtung bei ihrer Ausreise aus Bulgarien verlassen hatten, offensteht. Einige Quellen verneinen dies (Raphaelswerk 2019, S. 10; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 8 f.; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S.8) bzw. teilen mit, dass dieser Personenkreis keinen Anspruch auf Unterbringung in einer SAR-Einrichtung hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), woraus man folgern könnte, dass die Aufnahme zumindest möglich ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 27). Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass der 6-Monats-Zeitraum in dem Moment der Schutzgewährung beginnt und daher bei Rückkehr des Schutzberechtigten aus dem Ausland nach seiner Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel abgelaufen sein wird (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 8).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Selbst wenn anerkannt schutzberechtigte Personen temporär in einem solchen Aufnahmezentrum nach Rückkehr aus dem Ausland aufgenommen werden, sichert ihnen dies eine Unterkunft nur für maximal sechs Monate, zudem wird diesem Personenkreis kein Essen zur Verfügung gestellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; Raphaelswerk 2019, S. 10; Bordermonitoring 2020, S. 70). Die Möglichkeit, in einem der landesweit zwölf „Zentren für temporäre Unterbringung“ Unterkunft zu finden, besteht lediglich für maximal drei Monate und kann daher ebenfalls nur einen kurzen Zeitraum bis zur Anmietung einer eigenen Wohnung eine Hilfe bedeuten. (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand 2018, S.9). Es erübrigt sich daher die Klärung der Frage, inwieweit die Unterbringungsbedingungen in den Aufnahmezentren überhaupt zumutbar sind - die Lebensbedingungen in den staatlichen Aufnahmezentren werden durchgehend als schlecht und unter den Mindeststandards liegend beschrieben; inadäquat sein insbesondere die hygienischen Umstände, die regelmäßig zu Gesundheitsproblemen führen (BFA 2020, S. 16; Bordermonitoring 2020, S. 51-63, mit ausführlichem Bericht über die einzelnen offenen Lager; Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bulgarien: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Mai 2019, S. 3). Zudem könnte der Bericht, dass den Recherchierenden im Jahr 2018 durch die bulgarischen Behörden der Zutritt zu Aufnahmeeinrichtungen trotz rechtzeitiger Anfrage verwehrt wurde (Bordermonitoring 2020, S. 51 f.), Anlass zu der Vermutung geben, dass die Aufnahmezentren sich möglicherweise in einem Zustand befunden haben, der von den bulgarischen Verantwortlichen nicht als vorführwürdig eingeschätzt wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die generelle Wohnsituation in Bulgarien ist dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Bulgaren in ihren „eigenen vier Wänden“ leben, die Wohnungseigentumsquote betrug im Jahr 2019 84,1 % (zum Vergleich: Deutschland 51,1%; siehe hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/). Daraus folgt, dass der Wohnungsmarkt in Bulgarien sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung richtet und dabei auf die großen Städte konzentriert, in denen große Wohnblocks in der sozialistischen Ära erstellt wurden. Der Wohnungsbestand ist allerdings von großem Renovierungs- und Instandsetzungsbedarf gekennzeichnet, die erklärt auch die großen Leerstände (UNHCR, Bulgaria, 2020: Municipal Housing Policies: A Key Factor For Successful Integration At The Local Level, S.6, nachfolgend UNHCR 2020, Municipal Housing Policies). Außerhalb der großen Städte sind Wohnungen eher bei privaten Vermietern zu finden.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Eine Studie des UNHCR fasst die Hindernisse, denen sich anerkannte Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum gegenübersehen, zusammen: Die größten Hürden sind rechtliche Barrieren beim Zugang zu Sozialwohnungen, Schwierigkeiten beim Zugang zum privaten Wohnungsmarkt infolge hoher Mieten, Diskriminierung und dem Widerwillen von Vermietern, Mietverträge mit Ausländern abzuschließen (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 8). Insbesondere sind vielfach Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter festzustellen (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18.07.2017, S. 9; UNHCR 2020 aaO; siehe VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 30).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Sozialwohnungen stehen in Bulgarien selbst für die bulgarische Bevölkerung nicht ausreichend zur Verfügung (UNHCR Bulgarien, 2020, S. 6). Nach Angaben der Caritas besteht Zugang zu Sozialwohnungen der Gemeinde nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist; Schutzberechtigte haben daher üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen (Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 32; BFA 2020, S. 21). Das Auswärtige Amt teilt mit, dass sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige auf die wenigen vorhandenen Sozialwohnungen bewerben dürfen (AA 16.01.2019; BFA 2020, S. 21). Diese Aussagen befinden sich allerdings nicht in einem Widerspruch zueinander, vielmehr ist festzustellen, dass sich Schutzberechtigte ebenso wie Inländer auf eine Sozialwohnung bewerben dürfen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen – was im Falle von Migranten jedoch faktisch so gut wie unmöglich ist. Sie befinden sich in Konkurrenz zu bulgarischen Wohnungssuchenden und sind dabei kaum erfolgreich (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9). Die Voraussetzungen für den Zugang zu Sozialwohnungen differieren zudem in den einzelnen Kommunen, vielfach wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz für eine bestimmte Dauer registriert haben muss, teilweise fünf bis 10 Jahre (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 48; Raphaelswerk 2019, S. 11; Bulgarian Council on Refugees and Migrants: Municipal Housing, verfügbar unter: https://www.refugee-integration.bg/en).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Anhand der vorstehenden Auskunftslage bleibt das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien (Bordermonitoring 2020, S. 69; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), der UNHCR geht aktuell unverändert von einem „real risk of homelessness“ aus (UNHCR, Submission For the Office of the High Commissioner for Human Rights, Compilation Report UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020, nachfolgend: UNHCR, Submission For the Office oft he High Commissioner for Human Rights, 2020). Dabei werden Frauen und Familien mit kleinen Kindern als besonders von Obdachlosigkeit bedroht bezeichnet (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8-9; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche durch Nichtregierungsorganisationen, es gebe in Bulgarien kaum obdachlose Flüchtlinge (AA, Auskunft vom 25.03.2019 an das BAMF, S. 2, und Auskunft vom 16.01.2019 an das VG Köln, S. 2). Dies sei mit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Stellen zu begründen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweigernden Flüchtlingen (so z.B. BFA 2020, S. 21). Die Art der staatlichen Hilfe und der Hilfe der NRO wird jedoch nicht konkret benannt, es gibt keinen Bericht, dem sich eine tatsächliche Vermittlung oder gar Zurverfügungstellung von finanzierbarem Wohnraum entnehmen lässt. Der Verbindungsbeamte des BM.I für Bulgarien übermittelte am 21.05.2021 eine Auskunft der bulgarischen Staatsagentur für Flüchtlinge, aus der sich ergibt, dass es in Bulgarien keine NGO gibt, welche die Unterbringung für einen längeren Zeitraum gewährleistet, es bestehe eventuell die Möglichkeit für eine kurzfristige Unterbringung von bspw. einer Woche (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021, S. 4). Die Caritas als eine jener NGOs, die vor Ort Hilfe anbieten, hat mitgeteilt, dass die Unterbringungskapazitäten nur Platz für knapp 5.700 Menschen böten und längst erschöpft seien (BFA, aaO, 19.07.2021, S. 5).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Nach Auffassung des Gerichts ist jedoch daraus, dass es keine Berichte über eine große Anzahl von obdachlosen Schutzberechtigten in Bulgarien gibt, nicht zu folgern, dass es Schutzberechtigten gelingt, in irgendeiner Weise ein Obdach zu finden. Zunächst ist generell festzustellen, dass in vielen Bereichen durch die bulgarischen Behörden keine zahlenmäßigen Erhebungen vorgenommen werden (siehe z.B. die bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva in ihrer Auskunft vom 17.07.2017 an das OVG NRW, mit der wiederholten Antwort, dass entsprechende Daten durch die bulgarischen Behörden nicht erfasst werden).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Die deutsche Botschaft in Sofia hat zwar mit Bericht zuletzt vom Mai 2020 (Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 4 f.; in Fortführung früherer Berichte) mitgeteilt, dass Schutzberechtigte auch durch Hilfe der Zivilgesellschaft, z.B. von der syrischen oder der muslimischen Gemeinschaft, ein Obdach gewährt werde – allerdings auch hier ohne Angabe der Primärquelle. Das Auswärtige Amt wurde mit Anfrage von dem OVG Hamburg gezielt dahingehend befragt und antwortete mit seiner Auskunft vom 07.04.2021 ausweichend, indem auf das Vorhandensein nur weniger Sozialwohnungen hingewiesen wurde. Auf die Ausgangsfrage hin wurde lediglich mitgeteilt, das konkretere Erkenntnisse nicht vorlägen (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3). Auch zu der Frage nach Obdachlosigkeit oder Hungerleidens von Familien teilte das Auswärtige Amt mit, dass dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Angesichts grundsätzlich eher diplomatischer Feststellungen des Auswärtigen Amtes folgert das Gericht aus dieser Auskunft, dass seitens des Auswärtigen Amtes weder Obdachlosigkeit noch eine mangelhafte Versorgung mit dem zum Leben Nötigsten ausgeschlossen werden kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Aus den Erkenntnismitteln folgt vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Schutzberechtigten der drohenden Obdachlosigkeit durch Weiterreise in andere Unionsländer begegnet (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2019, 4. Seite bei DIN A 4-Format), Entscheidend dürfte also alleine die geringe Zahl von Flüchtlingen sein, die tatsächlich auf Dauer in Bulgarien bleibt; die Mehrheit der Statusinhaber verlässt Bulgarien während des Asylverfahrens oder nach der Anerkennung (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft 07.04.2017, S. 2). Genaue Zahlen werden nicht ermittelt, daher gibt es nur Schätzungen, dass ca. 1.000 bis 2.000 Personen in Bulgarien verbleiben (Bordermonitoring 2020, S. 69; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 5-6;).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der legale Zugang zu anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgelesen werden muss. Der möglicherweise gegebene Ausweg, durch fiktive oder gefälschte Mietverträge eine Meldeadresse nachzuweisen, wird aus den o.g. Gründen nicht als den Betroffenen zumutbare Option angesehen. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist es Schutzberechtigten nahezu unmöglich, sich in Bulgarien dauerhaft niederzulassen. Flüchtlinge erhalten faktisch keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld oder Sozialhilfe, so erhielten im Jahr 2017 nur 20 Schutzberechtigte Sozialleistungen ausgezahlt (BFA 2020, S. 20.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>ff) Ebenso faktisch aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Tätigkeiten oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben (unter Berufung auf eine Stellungnahme der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge: BAMF, Länderinformationsblatt Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung steht anerkannt Schutzberechtigten zwar nominell in gleicher Weise wie Inländern automatisch und bedingungslos offen (BFA 2020, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 2, und an das OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4; AIDA 2021, S. 87; Raphaelswerk 2019, S. 13). Die Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage im Land seien übliche Probleme, ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus dem Herkunftsland sowie ausländischer Berufserfahrung (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 97). Arbeitsplätze stehen überwiegend in Sofia und Großstädten wie Plovdiv, Burgas und Stara Zagora im Süden sowie Varna im Nordosten des Landes zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft 24.01.2019, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Die von einigen Gerichten zitierte Aussage, es beständen für arbeitsfähige Schutzberechtigte tatsächliche Möglichkeiten, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, und zunehmend würden sich Unternehmer danach erkundigen, wie sie Flüchtlinge beschäftigen können, insbesondere in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, es mangele allerdings teilweise an der Bereitschaft der Flüchtlinge, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, beruht allein auf der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.04.2018 an das VG Trier (S. 3 f.) bzw. der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia vom 01.03.2018 (S. 2, beide in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Diese schildern jedoch zum einen Einzelfälle, jedoch ohne konkrete Angaben, und bewegen sich zum anderen im Bereich von Vermutungen und Prognosen. Sie werden auch nicht ansatzweise von irgendeinem anderen Erkenntnismittel, das sich nicht auf diese Auskunft bezieht, bestätigt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Die Deutsche Botschaft hat im Mai 2020 von einem Programm der bulgarischen Regierung im Jahr 2016 zur Beschäftigung und Ausbildung von anerkannten schutzberechtigten berichtet, dass bis Ende 2020 verlängert worden sei (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 3). Ausweislich andere Quellen ist der Zugang in der Praxis jedoch de facto nicht möglich, weil der tatsächliche Zugang zu dieser Art von Aus und Weiterbildung die Kenntnis der bulgarischen Sprache voraussetzt, eine Möglichkeit der Übersetzung wird nicht angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24-25). Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist die Registrierung eines Wohnsitzes (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 43); solange Schutzberechtigte, die aus dem Ausland zurückkehren, keine Wohnung gefunden haben, können sie sich auch nicht bei der bulgarischen Arbeitsmarktbehörde als arbeitssuchend melden (Raphaelswerk 2019, S. 13). Nur wenigen anerkannt Schutzberechtigten gelingt die Integration in den bulgarischen Arbeitsmarkt und dann auch nur zu Löhnen, die keine laufenden Mietzahlungen abdecken (Bordermonitoring 2020, S. 76). Selbst das Auswärtige Amt räumt mit der vagen Formulierung, dass es „sicherlich möglich“ ist, mit dem Lohn für „einige“ dieser Tätigkeiten eine Unterkunft ausreichend finanzieren zu können, ein, dass es keine entsprechenden, belastbaren Erkenntnisse gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.04.2018, S. 4). Bulgarien bietet die niedrigsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit (im Jahr 2016) nur 4,49 EUR pro Stunde in der EU (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft, 24.01.2019).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Durch die staatliche Agentur für Arbeit wird keine effektive Hilfe geleistet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes hätten anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien eine Arbeitsstelle vor allem in der Landwirtschaft und der Gastronomie finden können (Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, Seite 3 f. und BAMF, Länderinformation: Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Demgegenüber berichtet AIDA, dass im Jahr 2019 von 481 Schutzgewährungen lediglich acht anerkannte Schutzberechtigte gemeldet beschäftigt gewesen sein (AIDA, Country Report Bulgaria 01.02.2022, S. 69).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere im Jahr 2019 Arbeitsmöglichkeiten für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer als realistisch in Nischenbereichen wie Callcentern für die arabische Sprache angesehen wurden, scheinen diese überbewertet zu sein, wie das VG Köln in seinem Urteil vom 17.06.2020 (20 K 5099/19.A, Rn. 39) nach Auffassung der Berichterstatterin zutreffend anmerkt. Feststellungen dazu, dass sich in der jüngeren Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage Bulgariens zunehmend verbessert habe, die Arbeitslosenquote gesunken sei und der Arbeitsmarkt sich dynamisch entwickelt habe (z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 –, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.02.2020 – 7 A 10.903/18 –, Rn. 59 ff.), sind in anderen Erkenntnismitteln nicht in dieser Weise zum Ausdruck gekommen. Selbst wenn es eine geringfügige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gegeben haben sollte, hat sie sich jedoch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie ins Gegenteil verkehrt: Die landesweite Arbeitslosenquote sei von 4,2 % im Jahr 2019 auf geschätzt 7,0 % gestiegen (German Trade and Invest, GTAI, Bulgarien vom 01.05.2020, S. 2; European Comission, Spring 2020 Economic Forcast by Country: Bulgaria vom 06.05.2020, S. 1 f.), die deutsche Botschaft teilt in ihrem aktuellen Datenblatt hingegen eine Arbeitslosenquote von 4,7 % im April 2021 mit. Radio Bulgaria, der Auslandsdienst des staatlichen bulgarischen Rundfunks, berichtete am 22.06.2020 unter Berufung auf das nationale Arbeitsamt von einer Arbeitslosenquote von 9,0 % und durchschnittlich neun Arbeitslosen, die sich um einen Arbeitsplatz bewerben würden (Radio Bulgaria, Arbeitslosenrate schwankt je nach Region zwischen 4,4 und 16,5 % von 22.6.2020, https://www.bnr.bg/de/Post/101297605/Arbeitslosenrate-schwankt-je-nach-Region-zwischen-44-und-165). Am härtesten wirke sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus (vgl. European Comission, aaO). Die vor der Pandemie angenommenen besonderen Chancen anerkannter Schutzberechtigter, gerade in der Gastronomie einen Arbeitsplatz zu finden, müssen vor diesem Hintergrund als überholt gelten, führt das VG Karlsruhe zu Recht aus (Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 30; ebenso VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 36; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17, Rn. 45).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Die seitens der bulgarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Rezession beziehen sich in erster Linie auf die vorhandenen Unternehmen und Arbeitsplätze (hierzu German and Trade Invest [GTAI], Bulgarien will sich mit Tourismus von der Coronakrise erholen, 25.03.2021, aufrufbar in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg) und dürften die Chancen anerkannter Schutzberechtigter erstmals eine Arbeit zu finden, nicht spürbar erhöhen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Andere Quellen nennen eine Arbeitslosenquote von 6,9 % für den Oktober 2020 und dann einen Anstieg auf 14,2 % am 01.01.2021 (Svetoslav Todorov, 07.01.2021, Bulgaria in 2021: Testing Times for Government, People and Environment). Darüber hinaus sind laut einem Artikel von Balkan Insight vom 17.03.2021 hunderttausende Bulgaren, die im Ausland lebten und arbeiteten – und damit einen Hauptgrund für die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen Bulgariens bis dahin bedeutet hatten -, aufgrund der COVID-19-Pandemie wieder nach Bulgarien zurückgekehrt; genaue Zahlen bezüglich der Anzahl der Rückkehrer gibt es jedoch nicht (Balkan Insight, 2021: Bulgarians Exiled Young Professionals Mull New Life Back Home). Ein Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) vom März 2021 zitiert eine Erhebung, wonach 10 % der befragten Rückkehrer nach dem Ende der Krise nicht wieder ins Ausland gehen möchten (UNFPA, 2021: Turning The Tide?, S. 2, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse verschiedener Umfragen der Deutsch-Bulgarischen Außenhandelskammer zu den Auswirkungen der Pandemie auf die bulgarische Wirtschaft vom Dezember und Juni 2020 (VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A, Rn. 329 + 330), da diese lediglich die augenblickliche Stimmung und Erwartungen der befragten Unternehmer wiedergibt. Dies gilt ebenso für die Hoffnung Bulgariens auf Touristen in den Sommermonaten (GTAI, aaO), der schon entgegenstehen dürfte, dass es der Tourismusbranche noch nicht gelungen ist, sich auf die Bedürfnisse internationaler, insbesondere westlicher Touristen einzustellen, so dass bisher nur vergleichsweise wenige westliche Touristen den Weg nach Bulgarien finden (siehe deutsche Botschaft Sofia, Datenblatt Bulgarien). Weiter wird geschätzt, dass ein erheblicher Teil der von der SAR untergebrachten Flüchtlinge, denen es gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden (über den Umfang werden keine Aussagen gemacht), in der ersten Pandemiephase ihre Arbeitsstellen verloren haben. Dies wird ausdrücklich für die Gastronomie festgestellt, in der Schutzberechtigte ohne Vertrag – in der Schattenwirtschaft - beschäftigt wurden (Europäische Kommission, Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>gg) Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 98; Raphaelswerk 2019, S. 11), die Gewährung von Sozialhilfe ist jedoch an nur sehr schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft, so dass es selbst bezugsfähigen bulgarischen Staatsangehörigen nur selten gelingt, diese zu beziehen, und anerkannt Schutzberechtigten fast nie (hierzu Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 7). Für diese ist der Sozialhilfebezug nur möglich, wenn Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhältlich ist, zudem ist ein Dolmetscher nötig (BFA 2020, S. 20), ohne dass jedoch ein Recht auf einen Dolmetscher gegeben ist. So soll im Jahr 2017 lediglich in 20 Fällen Sozialhilfe an Schutzberechtigte gezahlt worden sein (s.o.; Dr. Valeria Ilareva vom 07.04.2017, S. 7; Auskunft des AA an das OVG Weimar vom 18.07.2018, S. 2 und an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 3). Die Sozialhilfe betrug von 2009 bis 2017 unverändert ca. 33 EUR monatlich (s. VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25; BFA 2020, S. 20), 2019 wurde sie auf ca. 38 EUR monatlich angehoben (Auswärtiges Amt, Auskunft 07.04.2021, S. 2). Die Lebenshaltungskosten wurden für das Jahr 2018 mit 305 EUR im Landesschnitt, 397 EUR für Sofia, angegeben (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 16.01.2019, Seite 3), wobei für eine Wohnung in Sofia jedoch mindestens 200 EUR ohne Nebenkosten zu zahlen sind (Bordermonitoring S. 75). Daraus ergibt sich, dass anerkannt Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nicht aus staatlichen Sozialleistungen decken könnten, selbst wenn sie im Einzelfall in der Lage sein sollten, Sozialhilfe zu beziehen. Grundsätzlich kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, S. 3).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Es gibt zwar nach Angaben des Auswärtigen Amtes „vielfältiges Programme“ verschiedener internationaler und bulgarischer Nichtregierungsorganisationen, wie Rechtsberatung des Helsinki-Komitees, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung und der Wohnungssuche durch das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3; Raphaelswerk 2019, S. 11), jedoch handelt es sich lediglich um kurzfristige und punktuelle Maßnahmen, die sich überwiegend als Hilfe zur Erlangung begehrter Leistungen (Wohnung, Arbeit, Hilfe, etc.) darstellen (s. hierzu auch Raphaelswerk 2019, S. 1). Über die Erfolgsquote wird nicht berichtet, etwa durch Angabe der Anzahl vermittelter Arbeitsverhältnisse oder Mietverträge. Ohnehin zeichnet sich diese Auskunft dadurch aus, dass keine Nachweise bzw. Quellen benannt werden. Aufgrund der Ausgestaltung dieser Programme als unregelmäßig angebotene Projekte mit kurzer Laufzeit, obliegt es dem Zufall, ob ein Schutzberechtigter davon profitieren kann.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>hh) Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird vielfach von Gerichten als ausreichend angesehen, da rechtlich Schutzberechtigte auch in dieser Hinsicht Inländern gleichgestellt sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 16; so z.B. VG Freiburg, Urteil vom 12.03.2019, A 5 K 1829/16, Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2018, A 13 K 3922/17, juris. Rn. 26 ff.), ist jedoch in der Praxis für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Vom ersten Tag nach Statuszuerkennung an müssen Schutzberechtigte die Krankenversicherungsbeiträge, die bis dahin von der bulgarischen Flüchtlingsagentur entrichtet worden sind, selbst bezahlen, eine staatliche Unterstützung hierfür gibt es nicht (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2021, S. 70 f.). Selbst wenn der Beitrag in Höhe von 22,90 EUR für arbeitslose Personen (AIDA 2021, S. 88; BFA 2020, S. 21) irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, z.B. mit fehlenden Sprachkenntnissen (BFA 2020, S. 18) . Ohnehin ist das Hauptproblem der Gesundheitsversorgung in Bulgarien der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal (Raphaelswerk 2019, S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 23), der sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft hat. Das bulgarische Gesundheitswesen ist durch hohe Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen gekennzeichnet, die nicht von Krankenkassenbeiträgen abgedeckt sind – so genannte „Out of Pocket“-Zahlungen, die in Bulgarien im Jahr 2017 46,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben gemacht ausgemacht haben und damit den höchsten Anteil in der EU erreichen. Nach Schätzungen sind darüber hinaus mindestens 900.000 Menschen in Bulgarien ohne Krankenversicherung (BFA 2021, S. 21 f.), ein hoher Wert bei einer Gesamtbevölkerung von 6,9 Millionen im Jahr 2020. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Nachzahlung ausstehender Krankenversicherungsbeiträge nötig ist, um Krankenversicherungsschutz zu erhalten, zunächst für drei Jahre rückwirkend, inzwischen ist dies auf fünf Jahre rückwirkend erhöht (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>ii) Diese in allen existenziellen Lebensbereichen überaus kritische Situation wird zusätzlich durch die teils abweisende, teils durch Unwissenheit geprägte Einstellung der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschärft. Aus einem Bericht des UNHCR Bulgarien im November 2020 ergibt sich, dass die Einstellung vieler Bulgaren durch vergangene Erfahrungen, Stereotypen und die mediale Berichterstattung negativ geprägt ist (Bordermonitoring 2020, S. 73), 38 % der Befragten misstrauen Flüchtlingen allgemein, dabei überwiegend die Angst vor Verbrechen, die Angst vor der Verbreitung kultureller bzw. religiöse Überzeugungen, die Angst vor der Verbreitung von Krankheiten und die Angst vor Jobverlust (UNHCR, 2020: Public Attitudes Towards Refugees And Asylum Seekers in Bulgaria, S. 10, nachfolgend UNHCR 2020, Public Attitudes). Dabei sind die Berichte in den Erkenntnismitteln uneinheitlich, so wird einerseits von einer zunehmend wohlwollenden Bewertung der Niederlassung Schutzberechtigter in Gebieten mit demographischen Problemen berichtet (UNHCR 2020, Public Attitudes, S. 12), wobei der Anstieg sich im Rahmen von 18 auf 31 % Zustimmung eher im zurückhaltenden Bereich bewegt und jedenfalls nicht die Mehrheit der Bevölkerung abbildet. Daneben stehen Berichte über Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge, deren Bandbreite von einzelnen Übergriffen staatlicher Organe auf Migranten (BFA 2020, S. 6) bis hin zu Aussagen reicht, es werde gezielt Jagd auf Flüchtlinge gemacht (Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, S. 4; Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 36). Im Zentrum der Problematik scheinen dabei Bürgerwehren zu stehen, insbesondere rechtsradikale Gruppierungen wie die „Civil Squads for the Protection of Women and the Faith“ (CSPWF), die „Organization for the Protection of Bulgarian Citizens“ (OPBC), die „Military Union Vasil Levski“ (MU), das „Vasil Levski Committee for National Salvation“ (CNS) und das „Shipka Bulgarian National Movement“ (BNM) (eingehend dazu: Bordermonitoring 2020, S. 26-28).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Diese sollen sich nach einzelnen Berichten 2017 anderen Aktivitäten zugewandt haben, nachdem die Flüchtlingszahlen gesunken sein (Stoynova, Ndya / Dzhekova, Rositsa, 2019, Vigilantism against ethnic minorities and migrants in Bulgaria, S. 170, https://csd.bg/fileadmin/user_upload/publications_library/files/2019_11/Vigilantism_against_Migrants_and_Minorities.pdf). Als beunruhigend wird dabei eingeschätzt, dass diese weitestgehend ungestört durch die bulgarischen Behörden agieren können (Bordermonitoring 2020, S. 26 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Nach Angaben von AIDA waren auch im Jahr 2020 verbale und physische Übergriffe, Angriffe und Diebstähle zulasten von ausländischen Mitbürgern festzustellen, eine Verbesserung sei nicht zu beobachten (AIDA 2020, S. 59). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich in ihrem Bericht vom 31.03.2020 besorgt über weitverbreitete Intoleranz gegenüber Minderheiten in Bulgarien, u.a. gegenüber Muslimen, Migranten und Asylsuchenden; der Anstieg an Gewalttaten sei besorgniserregend (Commissioner For Human Rights Of The Council Of Europe (2020): Report Following Her Visit To Bulgaria From 25 to 29 November 2019, S. 6-7, verfügbar unter: https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-bulgaria-from-25-to-29-november-2019-by-dunja-m/16809cde16.; UNHCR, Submisson For the Office of the High Commissioner for Human Rights, 2020, Rn. 35; VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 34 f.).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar formal Schutzberechtigte Inländern in den meisten Bereichen gleichgestellt sind, ihre Situation sich jedoch strukturell und grundlegend unterscheidet (so schon VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 33). Bulgaren steht zu über 84 % eine Unterkunft als Eigentum zur Verfügung, Schutzberechtigte hingegen können sich bei fehlenden Sozialleistungen und einem ihnen nur formal zugänglichen Arbeitsmarkt Wohnraum nicht finanzieren, sofern sie überhaupt einen Vermieter finden, der zur Vermietung an sie bereit ist. Anders als Bulgaren können sie nicht auf andere Arbeitsmärkte in der EU ausweichen, da sie keine Freizügigkeit genießen. Bei fehlenden Sprachkenntnissen, ohne soziale Kontakte oder familiäre Netzwerke bleibt ihnen nur ein Leben, das unmittelbar von Verelendung bedroht ist. Der weit verbreiteten Intoleranz und den zunehmend rassistisch agierenden Gruppierungen begegnet der Staat ebenso gleichgültig wie im Ganzen hinsichtlich einer Integration der Schutzberechtigten. Die „Null-Integration“ seit nunmehr neun Jahren verdeutlicht diese institutionelle Gleichgültigkeit.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>d) Vor dem Hintergrund der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation droht dem Kläger selbst nach den oben dargelegten, strengen Maßgaben in dem Fall der Abschiebung nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen ein „Automatismus der Verelendung“ und damit die zumindest beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtcharta. Es erscheint nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Bulgarien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu finanzieren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Der Kläger hat – wie bereits ausgeführt - eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EuGrCH durch körperliche Misshandlungen in Form von Schlägen hinnehmen müssen, mit Folgen für seine körperliche und seelische Gesundheit. Eine solche entwürdigende und erniedrigende Behandlung bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche eines jungen Erwachsenen, es ist nachvollziehbar, dass diese Erlebnisse seine psychische Gesundheit bis heute erheblich beeinträchtigen und insbesondere Angstzustände bewirken. Schon vor diesem Hintergrund ist ihm die Rückkehr in das Land, in dem er einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bereits mehrfach ausgesetzt war, nicht zumutbar. Zudem gehört er der besonders verletzlichen, vulnerablen Personengruppe derjenigen Personen an, die aufgrund der Folgen dieser Behandlung zumindest weitgehend auf Unterstützung angewiesen sind.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger einer Verelendung in Bulgarien aus individuellen Gründen entgehen könnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er in Bulgarien sozial vernetzt ist, ihm nennenswerte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder er über besondere persönliche Fähigkeiten verfügt, die ihm alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien trotz der oben dargestellten Hindernisse die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>3. Da das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsanordnung, die Verneinung von Abschiebungsverboten und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Auf die Anschlussbeschwerde des Antragsgegners und unter Zurückweisung der Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Amtsgerichts – Landwirtschaftsgericht – Gifhorn vom 10. März 2022 insoweit geändert, als zum Nachteil des Antragsgegners entschieden worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag der Antragstellerin wird insgesamt zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Verfahrenswert wird für die erste und die zweite Instanz auf die Wertstufe bis zu 40.000 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die am 19. November 2002 verstorbene Erblasserin, die Mutter der Antragstellerin, war Eigentümerin des im Grundbuch von E. Blatt 327 eingetragenen und mit einem Hofvermerk – der am 6. November 2015 gelöscht wurde – versehenen landwirtschaftlichen Grundbesitzes. Mit notariellem Übergabe-, Altenteil- und Abfindungsvertrag vom 13. Dezember 1997 übertrug sie den Grundbesitz im Wege vorweggenommener Erbfolge auf ihre mittlerweile ebenfalls verstorbene weitere Tochter, B.S. (Hoferbin), die von dem Antragsgegner als befreitem Vorerben beerbt worden ist. Die Hoferbin war am 16. Juli 1999, der Antragsgegner am 13. Februar 2019 als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen worden. Die Antragstellerin ist zu 1/8 Pflichtteilsberechtigte nach der Erblasserin.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Nach Abschluss des Hofübergabevertrages hatte die Antragstellerin die Feststellung begehrt, dass der Grundbesitz kein Hof im Sinne der Höfeordnung sei. Mit Beschluss vom 19. Juni 2000 (Az. 7 W 42/99) wies der Senat den Antrag zurück und stellte die Hofeigenschaft zum 13. Dezember 1997 fest. Seine Entscheidung stützte der Senat unter anderem darauf, dass die Wiederaufnahme der Bewirtschaftung als Pferdezucht durch die Tochter der Hoferbin, Frau Dr. S., möglich sei. Für die Einzelheiten der Begründung wird auf den Beschluss (Bl. 94 ff.) verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Erblasserin und ihr Ehemann hatten die Eigenbewirtschaftung des Hofes 1991 eingestellt und die Flächen für jeweils 3-9 Jahre verpachtet. Die Hoferbin führte die Verpachtung des Hofes fort und schloss in der Folge eigene Pachtverträge ab. Die Antragstellerin forderte den Antragsgegner zur Auskunft über die Pachtverträge seit Eintragung der Hoferbin auf. Der Antragsgegner erteilte Auskunft für die Zeit vom 6. November 2015 bis zum 15. Juli 2019 – also von der Löschung des Hofvermerks bis zum Ablauf der 20-Jahres-Frist – über fünf Pachtverträge und errechnete aus den Einnahmen einen Abfindungsanspruch der Antragstellerin von 5.623,09 €, den er auch zahlte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin hat behauptet, dass weder bei der Hoferbin noch ihrer Tochter Dr. S. die Absicht bestanden habe, den Hof wieder anzuspannen. Eine Wiederaufnahme des Betriebs sei angesichts des Zustands der Gebäude ausgeschlossen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner hat behauptet, dass bis zur Löschung des Hofvermerks die Möglichkeit bestanden habe, dass Dr. S. den Betrieb als Pferdezucht aufgenommen hätte. Bis auf wenige Ausnahmen seien die Hofgebäude durch die Hoferbin teils umfangreich erneuert worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Das Landwirtschaftsgericht, auf dessen Beschluss sowohl wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhalts, der tatsächlichen Feststellungen und der Entscheidungsgründe verwiesen wird, hat den Antragsgegner zur Zahlung von 2.649,07 € verpflichtet und den Zahlungsantrag im Übrigen sowie den Stufenantrag zurückgewiesen. Aufgrund der Entscheidung des Senats vom 19. Juni 2000 stehe fest, dass ein Hof zunächst vorhanden war. Erst ab 2012 habe das Oberlandesgericht in der Sache 7 W 5/12 (L) seine Rechtsprechung geändert und strengere Anforderungen gestellt. Danach sei nicht mehr von einer Eigenbewirtschaftung auszugehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, mit der sie ihre Anträge weiterverfolgt. Für die Einzelheiten wird auf die Beschwerdebegründung Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Sie beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">1. den Antragsgegner zu verurteilen, an sie 6.789,05 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. April 2021 zu zahlen;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">2. im Wege der Stufenklage</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">a. den Antragsgegner zu verurteilen, ihr Auskunft zu erteilen, welche Pachtverträge Frau B.S. über die im Grundbuch von E. des Amtsgerichts Gifhorn Blatt 327 eingetragenen Grundstücke in dem Zeitraum vom 15. Juli 1999 bis einschließlich 30. September 2012, mit Ausnahme des Pachtvertrages vom 24. April 2014 mit Herrn R.B. über die Flurstücke Flur 5 Flurstück 41/1 und Flur 4 Flurstücke 68, 55, 39 und 56, abgeschlossen hat und welche jährlichen Einnahmen daraus erzielt wurden;</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">b. den Antragsgegner zu verurteilen, die sich aus der Auskunft gemäß § 13 Abs. 4 Buchst. b, 5 HöfeO ergebenden Nachabfindungsansprüche zu zahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>die Beschwerde zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Mit seiner Anschlussbeschwerde beantragt er,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">unter Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts Gifhorn vom 10. März 2022 die Anträge der Antragstellerin zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Für die Einzelheiten seines Vortrags wird auf die Anschlussbeschwerdeschrift verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die geltend gemachten Nachabfindungsansprüche stehen der Antragstellerin nicht zu, weshalb auch der Stufenantrag insgesamt abzuweisen war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>1. Nachabfindungsansprüche kommen hier – wovon auch die Beteiligten ausgehen – allein nach § 13 Abs. 4 Buchst. b HöfeO in Betracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>a) Nach dieser Vorschrift besteht für den weichenden Erben ein Nachabfindungsanspruch, wenn der Hoferbe innerhalb von zwanzig Jahren nach dem Erbfall – dem gemäß § 17 Abs. 2 HöfeO die Übergabe gleichsteht – den Hof oder Teile davon auf andere Weise als land- oder forstwirtschaftlich nutzt und dadurch erhebliche Gewinne erzielt. Dass es sich bei dem Zurverfügungstellen von Flächen gegen Entgelt um eine Nutzung im Sinne des § 13 Abs. 4 Buchst. b HöfeO handelt, ist nicht zweifelhaft (BGH, Beschluss vom 24. April 2009 – BLw 21/08, BGHZ 180, 285 Rn. 12). Entscheidend ist daher, ob die langfristige Verpachtung aller landwirtschaftlichen Flächen eine landwirtschaftsfremde Nutzung darstellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>b) Die Verpachtung zur land- oder forstwirtschaftlichen Nutzung fällt auch dann nicht unter § 13 Abs. 4 Buchst. b HöfeO, wenn der Hoferbe die Eigenbewirtschaftung des Hofes auf Dauer eingestellt hat (vgl. OLG Hamm, AgrarR 1988, 138; OLG Oldenburg, Beschluss vom 17. August 1995 – 10 W 12/95, juris Rn. 22; OLG Köln, Beschluss vom 13. November 2002 – 23 WLw 6/01, juris Rn. 76; Lüdtke-Handjery/v. Jeinsen/Haarstrich, HöfeO, 11. Aufl., § 13 Rn. 40; Düsing/Martinez/Düsing/Sieverdingbeck-Lewers, Agrarrecht, 2. Aufl., § 13 HöfeO Rn. 32; Nomos-BR/Graß, HöfeO, 1. Aufl. § 13 Rn. 18; dies. in: Kroiß/Horn/Solomon, Nachfolgerecht, 2. Aufl., § 13 HöfeO Rn. 18; offen lassend MAH/v. Garmissen, 3. Aufl., § 11 Rn. 68). Soweit der Senat in Entscheidungen zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe die Auffassung vertreten hat, die Nutzung durch den Hoferben sei landwirtschaftsfremd, wenn von einer endgültigen Aufgabe der Eigenbewirtschaftung des Hofes auszugehen ist und die Verpachtung und Vermietung durch den Hoferben sich als reine Vermögensverwaltung darstellt, so dass der Zweck der Privilegierung des Hoferben verfehlt werde (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2010, 7 W 84/10 (L) und Beschluss vom 19. März 2012, 7 W 5/12 (L); vgl. auch Hötzel in: Faßbender/Hötzel/v. Jeinsen/Pikalo, HöfeO, 3. Aufl., § 13 Rn. 17g; Wöhrmann/Graß/Graß, Landwirtschaftserbrecht, 11. Aufl., § 13 HöfeO Rn. 75 ff.), hält er hieran nicht fest.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>aa) Nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 4 Buchst. b HöfeO besteht für den weichenden Erben ein Nachabfindungsanspruch, wenn der Hoferbe innerhalb von zwanzig Jahren nach dem Erbfall den Hof oder Teile davon auf andere Weise als land- oder forstwirtschaftlich nutzt und dadurch erhebliche Gewinne erzielt. Dem lässt sich eine Beschränkung auf eine Eigenbewirtschaftung nicht entnehmen. Zwar kommt es maßgeblich darauf an, dass der Hoferbe – und nicht ein Dritter – den Hof oder Teile davon auf andere Weise als land- und forstwirtschaftlich nutzt und hieraus erhebliche Gewinne erzielt (vgl. Hötzel in: Faßbender/Hötzel/v. Jeinsen/Pikalo, HöfeO, 3. Aufl., § 13 Rn. 17g; Wöhrmann/Graß/Graß, Landwirtschaftserbrecht, 11. Aufl., § 13 HöfeO Rn. 75). Für die Frage, ob die Verpachtung zum Zwecke der Landwirtschaft landwirtschaftsfremd ist, besagt dies jedoch nichts. Angesichts der für den Landpachtvertrag begriffsnotwendigen (§ 585 Abs. 1 Satz 2 BGB, Begriff des Landpachtvertrags) Ausübung von Landwirtschaft, liegt es auf der Hand, dass eine landwirtschaftsfremde Nutzung des Hofes nicht stattfindet, wenn der Hoferbe mit einem Dritten einen Landpachtvertrag geschlossen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>bb) Die Entstehungsgeschichte bestätigt dieses Auslegungsergebnis. Die Bundesregierung hatte in ihrem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Höfeordnung vorgeschlagen, als § 13 Abs. 10 Satz 2 und 3 es einer Veräußerung des Hofes gleichzustellen, wenn ein Hoferbe die Bewirtschaftung des Hofes auf Dauer einem nicht hoferbenberechtigten Dritten überlässt (BT-Drucks. 7/1443 S. 7). Dieser Vorschlag ist nicht Gesetz geworden. Der Bundesrat hatte die Regelung abgelehnt, weil sie nicht geeignet sei, Umgehungsabsichten zu verhindern, und darüber hinaus dazu führen würde, dass nicht entwicklungsfähige Betriebe vom Hoferben weiterbewirtschaftet würden, was agrarstrukturell unerwünscht wäre (BT-Drucks. 7/1443 S. 37 f). Dem hat sich der Rechtsausschuss des Bundestags angeschlossen (vgl. BT-Drucks. 7/4545 S. 7). Danach hat sich der Gesetzgeber bewusst dafür entschieden, dass die langfristige Verpachtung zur Landwirtschaft bei gleichzeitiger Aufgabe der Eigenbewirtschaftung keinen Nachabfindungsanspruch auslösen soll.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>cc) Dieses Ergebnis ist auch sachgerecht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>(1) Die Vorschriften der Höfeordnung wollen die ungeteilte Erhaltung des Hofes im Erbgang sicherstellen, um dem Hoferben die Fortführung der Bewirtschaftung zu ermöglichen; das dem weichenden Erben zugemutete Opfer ist nur so lange gerechtfertigt, wie der Hoferbe diesem höferechtlichen Zweck Rechnung trägt (vgl. BT-Drs. 7/1443, 26; BGH, Beschluss vom 24. April 2009 – BLw 21/08, BGHZ 180, 285 Rn. 15). Ein Wegfall des höferechtlichen Zwecks kommt vor allem in den Fällen in Betracht, in denen der Hoferbe den Hof oder Teile davon der landwirtschaftlichen Nutzung vollständig entzieht (vgl. BGH, Beschluss vom 24. April 2009 – BLw 21/08, BGHZ 180, 285 Rn. 16).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>(2) Mit der dauernden landwirtschaftlichen Verpachtung des Hofes entzieht der Hoferbe den Hof aber nicht der landwirtschaftlichen Nutzung. Die gegenteilige Sicht vermengt die Frage von Nachabfindungsansprüchen mit dem Vorhandensein eines Hofes im Erbfall als Voraussetzung einer Vererbung nach der Höfeordnung. Das ist hier auch dem Landwirtschaftsgericht widerfahren. Es hat nicht beachtet, dass es in dem Senatsbeschluss vom 19. Juni 2000 um die Frage ging, ob ein Hof bei Abschluss des Übergabevertrages vorlag, während es in dem Senatsbeschluss in 7 W 5/12 (L) um den Wegfall des höferechtlichen Zwecks ging. Während eine Vererbung nach der Höfeordnung überhaupt nur erfolgen kann, wenn die landwirtschaftliche Besitzung, ihre Eigenschaft als Hof im Zeitpunkt des Erbfalls noch nicht verloren hat (vgl. BGH, Beschluss vom 29. November 2013 – BLw 4/12, juris Rn. 41), knüpft § 13 Abs. 4 Buchst. b HöfeO an eine Beendigung der eigenen Hofbewirtschaftung keine nachteiligen Folgen für den Hoferben (vgl. BGH, Beschluss vom 24. April 1986 – BLw 9/85, juris Rn. 57, 61). Auch die Löschung des Hofvermerks hat nach § 13 Abs. 9 Satz 3 HöfeO keinen Einfluss auf die in § 13 HöfeO geregelten Ansprüche. Zwar mag es aus Sicht der weichenden Erben rechtspolitisch wünschenswert erscheinen, einen Wegfall des höferechtlichen Zwecks anzunehmen, wenn im Fall eines (gedachten) Erbfalls die Vererbung nicht nach der Höfeordnung erfolgen könnte. Das entspricht aber nicht der Gesetzeslage.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>(3) Ohnehin fehlt eine nachvollziehbare Erklärung dafür, warum die Verpachtung mit gleichzeitiger Beendigung der Eigenbewirtschaftung landwirtschaftsfremd sein soll, die Verpachtung ohne (vollständige) Aufgabe der Eigenbewirtschaftung jedoch nicht (vgl. hierzu Hötzel in: Faßbender/Hötzel/v. Jeinsen/Pikalo, HöfeO, 3. Aufl., § 13 Rn. 17g; Wöhrmann/Graß/Graß, Landwirtschaftserbrecht, 11. Aufl., § 13 HöfeO Rn. 76 f.). Ob noch eine Hofstelle vorhanden ist und das Interesse an der Erhaltung des Hofes fortbesteht, besagt für die Einordnung der Nutzung als landwirtschaftsfremd nichts, denn in keinem Fall betreibt der Hoferbe auf den verpachteten Flächen selbst Landwirtschaft. An der Art der Nutzung – Ziehung der Erträge aus der Überlassung der Sache an andere zur Nutzung – ändert sich nichts, wenn der Hoferbe selbst noch auf weiteren Flächen Landwirtschaft betreibt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>(4) Danach erweist sich die Unterscheidung zwischen Eigen-/Fremdbewirtschaftung und reiner Vermögensverwaltung als nicht tragfähig, denn auch der den Hof fortführende Hoferbe betreibt Vermögensverwaltung, wenn er Teile des Hofs verpachtet. Das ist auch unschädlich, weil § 13 Abs. 4 Buchst. b HöfeO allein an die Nutzung des Hofes anknüpft. Der Begriff der Vermögensverwaltung trägt hierzu nichts bei. Er nimmt nicht die Nutzung des Hofes in den Blick, sondern beschreibt, wie sich diese in Bezug auf das Vermögen des Hoferben darstellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>c) Nach diesen Grundsätzen ist die von der Hoferbin vorgenommene Verpachtung jedenfalls in der Zeit bis zu der Löschung des Hofvermerks nicht nachabfindungspflichtig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>2. Dementsprechend besteht auch kein Auskunftsanspruch. Dieser setzt nach der Rechtsprechung des Senats voraus, dass ein Nachabfindungsanspruch ernsthaft in Betracht kommt, ohne sicher gegeben sein zu müssen. Daran fehlt es hier, wie oben ausgeführt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>III.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 44, 45 LwVG. Es entspricht hier billigem Ermessen, die Kostenverteilung anhand des Grades von Obsiegen und Unterliegen vorzunehmen. Die Wertfestsetzung beruht auf § 36 GNotKG. Von Amts wegen ist auch die Festsetzung erster Instanz zu berichtigen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Gründe, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, sind nicht ersichtlich.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
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<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Wert des Streitgegenstands wird auf 5.000,00 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
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<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine ihm drohende Abschiebung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller ist serbischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals am 5. März 2012 ohne ein Visum gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, xy, und den beiden gemeinsamen Kindern xy. und xy in die Bundesrepublik Deutschland ein. Für die Kinder gestellte Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Oktober 2012 ab. Die zuständige Ausländerbehörde wies den Antragsteller mit Bescheid vom 26. November 2012 aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Er erhielt aufgrund einer Erkrankung seiner Lebensgefährtin jedoch zunächst fortgesetzt Duldungen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller erkannte am 22. August 2016 mittels notarieller Vaterschaftsanerkennung den am 18. Mai 2016 geborenen ... als sein Kind an. ... ist deutscher Staatsangehöriger. Die in der Hansestadt Lübeck wohnhafte Mutter dieses Kindes, xy, ist türkische Staatsangehörige und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller beantragte am 2. September 2016 erstmals die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge für ... nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG. Mit Bescheid vom 29. September 2016 lehnte die vormals zuständige Ausländerbehörde der Stadt K. diesen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Die Ausländerbehörde führte aus, dass das Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Antragsteller und ... allein zum Zwecke der Sicherung eines Aufenthaltsrechts in der Bundesrepublik Deutschland begründet worden sei. Nachfolgend schob die zuständige Ausländerbehörde den Antragsteller am 5. Oktober 2016 nach Serbien ab.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller reiste – nach dem Ablauf eines Einreise- und Aufenthaltsverbots – erneut ohne ein Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein und zeigte der Antragsgegnerin einwohnermelderechtlich seinen Zuzug in die Hansestadt Lübeck zum 19. November 2019. Er teilte der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 20. November 2019 mit, dass er nunmehr in Lübeck lebe. Er verwies darauf, dass er mit Frau xy ein gemeinsames Kind habe. Er beantragte erneut, ihm einen Aufenthaltstitel aufgrund des gemeinsamen Sorgerechts für dieses Kind zu erteilen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 15. Juni 2020 ab (Ziffer 1). Sie wies den Antragsteller an, die Bundesrepublik Deutschland bis zum 30. Juni 2020 zu verlassen (Ziffer 2). Für den Fall der Nichtbefolgung drohte die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Abschiebung in die Republik Serbien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an (Ziffer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie für den Fall der Abschiebung auf sechs Monate (Ziffer 4). Zur Begründung verwies die Antragsgegnerin darauf, dass die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht vorliegen würden. Der Antragsteller lebe nicht mit seinem Kind und der Kindsmutter in einem gemeinsamen Haushalt. Es sei nicht belegt, dass der Antragsteller die Personensorge für das Kind tatsächlich ausübe. Nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG sei der Familiennachzug im Übrigen nicht zuzulassen. Die vormals zuständige Stadt K. habe einen Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bereits bestandskräftig mit der Begründung abgelehnt, dass die Vaterschaftsanerkennung allein zur Schaffung eines Aufenthaltsrechts erfolgt sei. Selbst im Falle eines regulären Familiennachzugs seien jedoch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen einzuhalten. Es fehle an der Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, da im Falle des Antragstellers ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vorliege. Der Antragsteller sei illegal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Er sei am 19. November 2019 ohne Visum eingereist, welches er für einen langfristigen Aufenthalt – wie hier dem Nachzug zu dem deutschen Kind – benötige. Dies sei nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG strafbar. Dass er allein zum Zwecke eines längerfristigen Aufenthalts im Bundesgebiet eingereist sei, ergebe sich schon daraus, dass der Antragsteller kurz nach seiner Einreise einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt habe. Es werde vor dem Hintergrund von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK und dem damit einhergehenden Schutz der Familie jedoch im Ermessenswege gem. § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vom Erfordernis des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die Erteilung scheitere gleichwohl an § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, da der Antragsteller ohne das erforderliche Visum eingereist sei. Die Voraussetzungen des § 39 AufenthV lägen nicht vor, weswegen das Visum erforderlich sei. Von einem Visumverfahren könne nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden. Ein strikter Rechtsanspruch sei wegen des Ausweisungsinteresses und dem nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten Ermessen nicht gegeben. Die Nachholung des Visumverfahrens sei auch zumutbar. Die Terminbuchung bei der Botschaft in Belgrad könne aus der Bundesrepublik erfolgen, wodurch die zeitliche Trennung der Familie auf ein Mindestmaß reduziert werden könne. Die Reisezeit sei aufgrund der geographischen Nähe ebenfalls kurz. Während des Visumverfahrens könne das Kind durch den deutschen Sorgeberechtigten betreut werden. Es stehe der Familie auch frei, zusammen auszureisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Es könne auch keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden. Die Norm diene nicht als „Auffangaufenthaltsrecht“. Maßgeblich seien die Vorschriften über die Aufenthaltstitel zwecks Familiennachzuges.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Duldungsgründe seien schließlich weder ersichtlich noch geltend gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 23. Juli 2020 erhob der Antragsteller Widerspruch. Er verwies erneut darauf, dass er in der Hansestadt Lübeck lebe und ein gemeinsames Kind mit seiner „Ehefrau“, xy, habe. Beide hätten das gemeinsame Sorgerecht. Er reichte ein Schriftstück vom 27. Juni 2020 ein, woraus sich ergebe, dass die Kindsmutter regelmäßige Besuche des Antragstellers bei seinem Sohn bestätige und mitteile, dass sich der Antragsteller sehr um den gemeinsamen Sohn sorge. Der Sohn fühle sich in der Gegenwart des Antragstellers wohl. Während des Widerspruchsverfahrens teilte der Antragsteller mit, dass er unter einer arteriellen Hypertonie, Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2 leide. Er beantragte die Erteilung einer Duldung aus gesundheitlichen Gründen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Am 5. August 2020 kontrollierte der Außendienst der Antragsgegnerin die Meldeadresse des Antragstellers in der Hansestadt Lübeck. Dort trafen die Mitarbeiter der Antragsgegnerin den Neffen des Antragstellers an, welcher die Auskunft erteilte, dass sich der Antragsteller seit fünf bis sechs Monaten in A-Stadt aufhalte und dort wohne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Mit Widerspruchsbescheid vom 29. September 2020 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch des Antragstellers als unbegründet zurück (Ziffer 1). Sie ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von drei Jahren an (Ziffer 2) und lehnte zugleich einen Antrag auf Erteilung einer Duldung ab (Ziffer 3). Zur Begründung verweist sie darauf, dass die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht vorlägen. Der Antragsteller lebe mit seinem deutschen Kind nicht in einer familiären Lebensgemeinschaft. Die tatsächliche Übernahme der Personensorge sei nicht glaubhaft gemacht. Es lägen seit der im September 2016 ergangenen ablehnenden Entscheidung der Stadt Krefeld keine tatsächlichen Veränderungen in Bezug auf das Verhältnis des Antragstellers zu seinem Sohn vor. Es komme hinzu, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit mehr als einem Jahr in A-Stadt begründet habe. Die melderechtliche Situation ändere hieran nichts. Es sei nicht dargelegt, wie die Ausübung der elterlichen Personensorge aus 180 km Entfernung gestaltet werde. Aus der unsubstantiierten Stellungnahme der Kindsmutter ergebe sich nichts anderes. Es fehle auch weiterhin an der Nachholung des für den Familiennachzug erforderlichen Visumverfahrens. Ferner sei von einer aufenthaltsrechtlich motivierten Scheinvaterschaft zum Zwecke des dauerhaften Sozialleistungsbezugs auszugehen. Auch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG komme nicht in Betracht, da eine wirksame Eheschließung mit Frau xy nicht vorliege. Der Antrag auf Erteilung einer Duldung sei abzulehnen, da eine Reiseunfähigkeit nicht mittels qualifizierter ärztlicher Bescheinigung glaubhaft gemacht worden sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller erhob sodann am 4. November 2020 vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht Klage (Az. 11 A 240/20). Der Antragsteller trägt im Klagverfahren im Wesentlichen vor, dass er sich liebevoll um sein Kind kümmere und aktiv an der Erziehung teilnehme. Vorgelegte Bestätigungsschreiben der Kindsmutter würden bestätigen, dass der Antragsteller sich bemühe, nach seinen finanziellen und gesundheitlichen Möglichkeiten an der Erziehung mitzuwirken. Er sei derzeit auf Fahrdienste von Bekannten angewiesen und würde seine Kinder sonst häufiger sehen. Mehrfache Fahrten oder ein Umzug nach Lübeck seien ihm nicht möglich. Eine Ausreise des Antragstellers führe zu einer unzumutbaren Trennung zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn ....</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat am 19. Mai 2022 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung nimmt er auf seinen Vortrag im Hauptsacheverfahren Bezug. Ergänzend weist er darauf hin, dass er von der Antragsgegnerin unter Aushändigung einer bis zum 16. Mai 2022 gültigen Grenzübertrittsbescheinigung dazu aufgefordert worden sei, die Bunderepublik zu verlassen. Ihm sei angedroht worden, ihn nötigenfalls in seine „Heimat“ abzuschieben. Der Antragsteller habe ein Visumverfahren bei der Deutschen Botschaft in Belgrad eingeleitet. Er habe einen für den 8. August 2022 gebuchten Termin in der Botschaft in Belgrad nicht wahrnehmen können, da die Antragsgegnerin im Besitz des Passes des Antragstellers sei und eine Vorabzustimmung nicht erteilt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. die aufschiebende Wirkung der mit Schriftsatz vom 3. November 2020 eingereichten Klage (Az. 11 A 240/20) gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 15. Juni 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. September 2020 anzuordnen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. hilfsweise, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung dazu zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen hinsichtlich des Antragstellers bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zum Aktenzeichen 11 A 240/20 abzusehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Sie verweist zur Begründung auf ihre Klageerwiderung im Hauptsacheverfahren sowie auf sämtliche im Hauptsacheverfahren erfolgten Stellungnahmen und Mitteilungen. Für den Antragsteller bestünden in der Hauptsache keine Erfolgsaussichten. Unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller die Personensorge für sein deutsches Kind ausübe, wäre die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt. Der Antragsteller habe das Visumverfahren bislang nicht nachgeholt. Die Bearbeitungsdauer hänge bei Visumanträgen zum Zwecke der Familienzusammenführung davon ab, wie schnell die zuständige Ausländerbehörde eine Stellungnahme zu dem Antrag abgebe. Dies dauere in der Regel drei bis vier Monate. Das Visum könne nach Eingang einer positiven Stellungnahme innerhalb von sieben bis zehn Werktagen bei der Botschaft abgeholt werden. Im Falle einer Vorabzustimmung betrage die Bearbeitungszeit ca. sieben Werktage. Die Erteilung einer Vorabzustimmung sei bislang nicht in Betracht gekommen, da der Antragsteller auch trotz entsprechender Aufforderungen vom 15. und 26. Juli 2022 nicht ausreichend zur Ausübung der Personensorge vorgetragen habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und den von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgang Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bleibt insgesamt ohne Erfolg. Weder ist die aufschiebende Wirkung der Klage (Az. 11 A 240/20) gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 15. Juni 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. September 2020 anzuordnen (hierzu unter 1.) noch ist die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, hinsichtlich des Antragstellers bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens (Az. 11 A 240/20) von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen (hierzu unter 2.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>1. Der Hauptantrag zu 1. ist bereits unzulässig. Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nur dann statthaft, wenn die Versagung des Aufenthaltstitels ein zunächst eingetretenes fiktives Bleiberecht nach § 81 AufenthG beendet hat, wenn also der Aufenthalt nach Stellung des Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach § 81 AufenthG zunächst als erlaubt oder als geduldet galt, d.h. die gesetzliche Erlaubnis- oder Duldungsfiktion ausgelöst hat (Dittrich/Breckwoldt, in: HTK-AuslR / Rechtsschutz / 2.1.3, Stand: 23.09.2019, Rn. 30 ff. m.w.N.). Zwar lebt im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG nicht (wieder) auf, denn die behördliche Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, der nach der Konzeption des Gesetzgebers unbeschadet einer gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers beendet (OVG Magdeburg, Beschl. v. 22.01.2007 – 2 M 318/06 –, juris Rn. 4 m.w.N.; VG Schleswig, Beschl. v. 26.11.2018 – 1 B 115/18 –, juris Rn. 21). Allerdings würde die Einstellung des Vollzugs nach § 241 Abs. 1 Nr. 3 LVwG erreicht werden können, sodass der beantragte Rechtsbehelf nicht nutzlos wäre. Deshalb wäre in diesen Fällen § 80 Abs. 5 VwGO der zutreffende Rechtsbehelf (so auch OVG Schleswig, Beschl. v. 25.07.2011 – 4 MB 40/11 –, juris Rn.10; VG Schleswig, Beschl. v. 09.01.2019 – 1 B 137/18 –, juris Rn. 6).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Dem Antrag des Antragstellers vom 20. November 2020 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kam eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG jedoch nicht zu. Der Antragsteller hielt sich zu keinem Zeitpunkt mit einem Aufenthaltstitel im Bundesgebiet auf. Sein Aufenthalt war zum Zeitpunkt der Antragstellung auch nicht rechtmäßig im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Beantragt ein nach Anhang II der EU-Visum-Verordnung (s. Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.11.2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, ABl. L 303/39 vom 28.11.2018) von der Visumpflicht befreiter Ausländer, der bereits bei der Einreise einen Daueraufenthalt anstrebt, einen Aufenthaltstitel, so entsteht keine Fiktionswirkung, weil der Aufenthalt mangels Einreise mit dem erforderlichen Visum nicht rechtmäßig ist (VGH Mannheim, Beschl. v. 30.05.2022 – 12 S 485/22 –, juris Rn. 13 sowie v. 20.09.2018 – 11 S 1973/18 –, juris Rn. 14; vgl. auch OVG Schleswig, Beschl. v. 02.03.2020 – 4 MB 5/20 –, juris Rn. 7 m.w.N.; VGH München, Beschl. v. 01.10.2020 – 10 CS 20.1954 –, juris Rn. 8 m.w.N.; Samel, in: Bergmann/Dienelt, AufenthG, 13. Auflage 2020, § 81 Rn. 36).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller ist ohne Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Er gehört als serbischer Staatsangehöriger zu den sog. „Positivstaatlern“ gemäß Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Anlage II der EU-Visum-Verordnung und ist somit nur für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, von der Visumpflicht befreit. Der Antragsteller beabsichtigte nach allen für die Kammer erkennbaren Umständen jedoch bereits vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland den langfristigen Familiennachzug zu seinem in der Hansestadt Lübeck lebenden Sohn. Er hat unmittelbar nach seiner Einreise und seinem Zuzug in die Hansestadt Lübeck (19.11.2019) – wie bereits vor seiner Abschiebung im Jahr 2016 – eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis beantragt (20.11.2019). Für diesen Aufenthaltszweck ist ein für einen längeren Aufenthalt erforderliches Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum), das vor der Einreise erteilt wird (§ 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) und der Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde bedarf (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV), erforderlich, § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Ein derartiges Visum besaß der Antragsteller bei seiner Einreise unstreitig nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>2. Der hilfsweise gestellte Antrag zu 2. ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Der Sicherungszweck des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann unter anderem dann statthafterweise geltend gemacht werden, wenn – wie hier – das Hauptsacheverfahren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis betrifft und der Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet werden soll, die Abschiebung vorübergehend und für die Dauer des Verfahrens auszusetzen (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 10.06.2020 – 4 MB 16/20 –, juris Rn. 5). Allerdings kommt eine solche Sicherung nur ausnahmsweise in Betracht. Denn ein verfahrensabhängiges Bleiberecht soll nach der gesetzlichen Wertung der § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 1 und 2, § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG grundsätzlich nicht eintreten, wenn der Antrag weder eine fiktive Erlaubnis oder Duldung nach § 81 Abs. 3 AufenthG noch die Anordnung einer Fortgeltung nach § 81 Abs. 4 AufenthG zur Folge hat. Ausnahmsweise anders verhält es sich, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung, die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, einem möglicherweise Begünstigten zugutekommt (OVG Schleswig, Beschl. v. 02.03.2020 – 4 MB 5/20 –, juris Rn. 10 f. [zu § 25 Abs. 5 AufenthG] m.w.N.; OVG Bautzen, Beschl. v. 13.08.2021 – 3 B 277/21 –, juris Rn. 30 f. [auch zu § 25a AufenthG]; OVG Lüneburg, Beschl. v. 25.04.2019 – 13 ME 86/19 –, juris Rn. 4 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>a) Sicherungsfähig wäre danach grundsätzlich ein Anspruch nach § 25 Abs. 5 AufenthG, da dieser einen Aufenthalt im Bundesgebiet bedingt. Der Antrag ist insoweit jedoch unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Dem Antragsteller steht gegenüber der Antragsgegnerin kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 25 Abs. 5 AufenthG zur Seite. Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Insoweit fehlt es bereits an der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise. Einer Ausreise des Antragstellers steht insbesondere nicht Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 EMRK entgegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. hierzu etwa BVerfG, Beschl. v. 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04 –, juris Rn. 17 ff. m.w.N. und v. 22.05.2018 – 2 BvR 941/18 –, juris Rn. 5 m.w.N. sowie stattgebender Kammerbeschl. v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 –, juris Rn. 41 m.w.N.) gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers bzw. der Trägerin des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine bzw. ihre familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Für die Entfaltung dieser ausländerrechtlichen Schutzwirkungen ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern entscheidend, wobei eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist. Soweit der Umgang mit einem Kind betroffen ist, ist zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist davon auszugehen, dass das Kind beide Eltern braucht und der spezifische Erziehungsbeitrag eines Elternteils nicht durch die Betreuung des Kindes durch den anderen Elternteil oder dritte Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes hat. Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden – etwa weil ihm im Herkunftsland flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht –, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.04.1989 – 2 BvR 1169/84 –, juris Rn. 44). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen nicht vor, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18 f. m.w.N.; OVG Bautzen, Beschl. v. 16.12.2010 – 3 B 191/10 –, juris Rn. 6). Auch aus dem Umstand, dass die anderen Familienmitglieder über (befristete oder unbefristete) Aufenthaltstitel verfügen, folgt noch nicht, dass eine gemeinsame Rückkehr von vornherein unzumutbar ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18; vgl. auch OVG Sachsen, Beschl. v. 16.12.2010 – 3 B 191/10 –, juris Rn. 6). Für das Recht der Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK gilt im Ergebnis nichts Anderes (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 –, juris Rn. 18 sowie VGH Mannheim, Beschl. v. 05.07.2018 – 11 S 1224/18 –, juris Rn. 24 f. m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Gemessen an diesen Grundsätzen stehen einer Ausreise des Antragstellers weder das Verfassungs- noch das Konventionsrecht entgegen. Es fehlt an der erforderlichen Glaubhaftmachung der streitigen Tatsachen betreffend die tatsächliche Ausübung der elterlichen Sorge und des Umgangs des Antragstellers mit seinem Sohn. Der Antragsteller hat zwar die Vaterschaft für ... anerkannt. Die Kindsmutter und der Antragsteller haben (rechtlich) auch die gemeinsame Sorge inne. Der Sohn des Antragstellers wohnt gleichwohl mit seiner Mutter zusammen rund 180 km vom Wohnsitz des Antragstellers entfernt. Ausweislich der aktuellsten schriftlichen Angaben der Kindesmutter vom 11. August 2022 (vgl. Bl. 130 d. Gerichtsakte zum Az. 11 A 240/20) treffe sich der Antragsteller drei Mal im Monat mit seinem Sohn und telefoniere regelmäßig mit ihm. Der Antragsteller und sein Sohn würden während der Zusammenkünfte – nach den Ausführungen der Kindsmutter – etwa Eis essen oder Fußball spielen. Es ist nicht näher dargelegt oder glaubhaft gemacht, über welchen zeitlichen Rahmen sich die benannten Treffen erstrecken und ob diese durchgängig durch die Kindsmutter begleitet werden oder nicht. Inwiefern zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn überhaupt eine sprachliche Kommunikation möglich ist – was von der Antragsgegnerin bestritten wird –, ist nicht näher dargelegt. Der Antragsteller verfügt nach den erkennbaren Umständen nur über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache und keine Kenntnisse der englischen Sprache (vgl. Feststellungen der Polizei A-Stadt vom 21.07.2021, Bl. 54 d. Gerichtsakte zum Az. 11 A 240/20). Inwieweit der Sohn des Antragstellers serbisch spricht, ist nicht ersichtlich. Zwei vorgelegte Lichtbilder vom Antragsteller und seinem Sohn sind undatiert und unkommentiert. Sie geben somit keinen hinreichenden Aufschluss über die derzeitige tatsächliche Vater-Kind-Beziehung. Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller neben den vorgenannten Zusammenkünften Erziehungs- oder Betreuungsaufgaben wahrnimmt oder etwa Feiertage, Geburtstage oder Urlaube mit seinem Sohn verbringt. Hierzu verhält sich der Antragsteller nicht, obgleich er bereits durch die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 26. Juli 2022 zu dahingehenden weitergehenden Angaben aufgefordert worden ist (vgl. Bl. 102 f. d. Gerichtsakte zum Az. 11 A 240/20).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antragsteller angibt, dass er sich mehr Kontakt zu seinem Sohn wünsche, fehlt es an einer Glaubhaftmachung. Zwar kann es im Rahmen des Aufbaus einer Eltern-Kind-Beziehung ausreichend sein, wenn der ausländische Elternteil sich zur Wahrnehmung seiner elterlichen Verantwortung für sein Kind ernsthaft um Umgang mit diesem bemüht (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.10.2021 – OVG 11 S 81/21 –, juris Rn. 12 und v. 20.10.2016 – OVG 12 S 25.16 –, juris Rn. 9). Derartiges ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Der Antragsteller legt bereits nicht dar, weswegen er die Hansestadt Lübeck und damit den regelmäßigen Aufenthaltsort seines Sohnes, wo der Antragsteller nach seiner erneuten Einreise im Jahr 2019 zunächst seinen Wohnsitz genommen hatte, wieder verlassen und sich stattdessen im 180 km entfernten A-Stadt niedergelassen hat und inwiefern er nunmehr ernsthaft eine Rückkehr in die Hansestadt Lübeck anstrebt. Es erschließt sich auch nicht hinreichend, weswegen es dem Antragsteller (trotz unverändertem aufenthalts- und sozialleistungsrechtlichem Status) zunächst möglich gewesen sein soll, seinen Wohnsitz in der Hansestadt Lübeck und sodann in A-Stadt zu begründen, ihm eine Rückkehr nach Lübeck nunmehr – wie er vorträgt (vgl. Bl. 125 ff. d. Gerichtsakte zum Az. 11 A 240/20) – aber weder gesundheitlich noch finanziell möglich wäre, zumal in der Hansestadt Lübeck offenbar ein Neffe des Antragstellers unter der dortigen vormaligen Meldeanschrift des Antragstellers wohnhaft ist (vgl. Bericht des Außendienstes der Antragsgegnerin vom 24.07.2020, Bl. 864 Beiakte „E“). Inwiefern der Gesundheitszustand des Antragstellers konkret Aufenthalten in der Hansestadt Lübeck oder gemeinsamen Treffen des Antragstellers mit seinem Sohn entgegensteht ist weder präzisierend ausgeführt noch sonst aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Im Ergebnis hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass eine schützenswerte persönliche Verbundenheit zwischen ihm und seinem Sohn besteht und damit eine nach Art. 6 Abs. 1 GG schützenswerte Eltern-Kind-Beziehung vorliegt. Die freiwillige Ausreise des Antragstellers verstößt demzufolge nicht gegen Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK. Bei einem drei Mal im Monat stattfindenden Umgang ohne hinreichend erkennbare Übernahme elterlicher Erziehungs- und Betreuungsverantwortung (vgl. hierzu OVG Bautzen, Beschl. v. 25.09.2021 – 3 A 408/21 –, juris Rn. 32 sowie Beschl. v. 23.07.2019 – 3 B 174/19 –, juris Rn. 15) und bei welchem auch der zeitliche Umfang sowie eine emotionale Verbundenheit völlig unklar bleibt, kann nicht angenommen werden, dass der Sohn des Antragstellers dringend auf ihn angewiesen wäre oder das Kindeswohl bei einer Ausreise des Antragstellers gefährdet sein könnte. Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Vater-Kind-Beziehung durch eine Trennung nachhaltig beeinträchtigt wäre. Zwar ist zu berücksichtigen, dass auch Telefonate Teil der Wahrnehmung des Umgangs sind und insoweit – zumal bei getrennten Wohnsitzen – auch Element familiärer Gemeinschaft sein können (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04 –, juris Rn. 37). Dem Antragsteller ist es jedoch – sofern man im Sinne des sinngemäßen Vorbringens des Antragstellers von einer möglichen Kommunikation ausgeht – zuzumuten, regelmäßige Telefonate aus dem Ausland fortzuführen und seinen Sohn im Rahmen von Besuchen in regelmäßigen Abständen zu sehen. Es ist auch nicht dargelegt oder glaubhaft gemacht, dass der Sohn des Antragstellers in wirtschaftlicher Hinsicht auf den Antragsteller angewiesen wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Selbst wenn man jedoch unterstellt, dass zwischen dem Antragsteller und seinem deutschen Kind eine verfassungsrechtlich schützenswerte Eltern-Kind-Beziehung bestünde, so ist jedenfalls nicht erkennbar, dass es mit dem Schutz der Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK unvereinbar wäre, den Antragsteller auf die Einholung des für einen Familiennachzug erforderlichen Visums zu verweisen. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ist es nämlich grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (VGH München, Urt. v. 07.12.2021 – 10 BV 21.1821 –, juris Rn. 37 m.w.N.). Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 09.12.2021 – 2 BvR 1333/21 –, juris Rn. 47 m.w.N.). In dem vorliegenden Fall gilt nichts anderes. Das Visumverfahren zum Zwecke der Familienzusammenführung ist ausweislich der von der Antragsgegnerin eingeholten Auskunft regelmäßig mit einer Dauer von drei bis vier Monaten verbunden. Die lediglich vorübergehende Abwesenheit des Antragstellers könnte seinem Sohn angesichts des erreichten Lebensalters von sechs Jahren und drei Monaten im Rahmen von vorbereitenden Gesprächen bereits hinreichend begreiflich gemacht werden, wodurch der Sohn die Trennung nicht als endgültigen Verlust erfahren würde. Der Antragsteller ist nach einer erfolgten (freiwilligen) Ausreise zum Zwecke der Nachholung des Visumverfahrens im Übrigen auch während dieses Verfahrens – im Rahmen der vorstehend ausgeführten zeitlichen Grenzen – berechtigt, zu Besuchszwecken visumfrei in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen. Zur Abmilderung der Trennung könnte der Antragsteller den Kontakt mit seinem Sohn etwa über Telefongespräche oder mithilfe sonstiger moderner Kommunikationsmittel auch aus dem Ausland aufrechterhalten (vgl. zur Berücksichtigung entsprechender Kommunikationsmöglichkeiten: VGH München, Urt. v. 07.12.2021 – 10 BV 21.1821 –, juris Rn. 43), sofern man auch insoweit die von dem Antragsteller behauptete mögliche Kommunikation unterstellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>b) Soweit der Antragsteller sich zur Begründung auf das Bestehen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bezieht, ergibt sich kein gegenteiliges Ergebnis. Ein derartiger Anspruch ist im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO regelmäßig bereits nicht sicherungsfähig (vgl. näher hierzu: Beschl. der Kammer v. 27.07.2022 – 11 B 80/22 –, juris Rn. 30). Vorliegend ergibt sich auch dann nichts anderes, wenn man unterstellt, dass der Antragsteller durch den Antrag eine Rechtsposition aus § 39 Abs. 5 AufenthV in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG sichern möchte. Es ist nämlich weder hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht noch sonst für die Kammer ersichtlich, dass der Antragsteller über § 39 Abs. 5 AufenthV berechtigt wäre, den von ihm begehrten Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einzuholen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn seine Abschiebung nach § 60a AufenthG ausgesetzt wäre und er auf Grund einer Eheschließung oder der Begründung einer Lebenspartnerschaft im Bundesgebiet oder der Geburt eines Kindes während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben hätte. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es ist bereits weder erkennbar noch vorgetragen, dass die Abschiebung des Antragstellers derzeit oder im Zeitpunkt der Antragstellung nach § 60a AufenthG ausgesetzt (gewesen) wäre. Der Antragsteller verweist vielmehr gerade darauf, dass ihm keine Duldung erteilt worden sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch nichts anderes aus dem Vortrag des Antragstellers dazu, dass ihm der begehrte Aufenthaltstitel ohne Nachholung des Visumverfahrens zu erteilen sei. Ein sicherungsfähiger Anspruch besteht auch insoweit nicht. Zwar kann von der Anforderung der Einreise mit dem erforderlichen Visum (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) grundsätzlich gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Der Antragsteller hat jedoch keinen (strikten) Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG glaubhaft gemacht. Hiernach ist dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Es fehlt an der Voraussetzung der „Ausübung der Personensorge“. Ausschlaggebend ist insoweit die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts (vgl. näher hierzu: Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, AufenthG, Stand: 34. Ed. 01.10.2021, § 28 Rn. 24a m.w.N.; vgl. auch Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AufenthG, 13. Aufl. 2020, § 28 Rn. 26 m.w.N.). Im Sinne der vorstehenden Ausführungen ist jedoch derzeit für die Kammer weder ersichtlich, dass der Antragsteller die Personensorge in Bezug auf sein deutsches Kind ausübt, noch, dass er die ernsthafte Absicht hat, dies künftig zu tun. Ein strikter Rechtsanspruch, der nur dann vorliegt, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.12.2014 – 1 C 15.14 –, juris Rn. 15), liegt auch wegen der mangelnden Erfüllung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und dem deswegen über § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten behördlichen Ermessen nicht vor. Die Kammer nimmt insoweit gem. § 117 Abs. 5 VwGO analog (vgl. zur Anwendbarkeit VGH München, Beschl. v. 17.11.2003 – 12 C 03.612 –, juris Rn. 2 m.w.N.) auf die zutreffenden Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid Bezug, denen sie folgt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Dass sich die Nachholung eines Visumverfahrens aufgrund der familiären Bindungen des Antragstellers zu seinem Sohn angesichts von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK als unzumutbar darstellt, ist im Übrigen ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Die Kammer nimmt auch insoweit auf die vorstehenden Ausführungen Bezug.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>c) Der Antragsteller hat schließlich auch keinen Anspruch auf eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sich aus nationalen Gesetzen, einschließlich Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (Haedicke, in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - rechtl. Unmöglichkeit, Stand: 08.10.2020, Rn. 1). Der Abschiebung des Antragstellers steht nach den vorstehenden Ausführungen insbesondere nicht der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK entgegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Aus dem Vortrag des Antragstellers zu seiner gesundheitlichen Situation ergibt sich gleichermaßen keine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung. Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann gegeben sein, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich der Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht und die Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Eine Abschiebung muss auch unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr bedeutet. Dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne) (Kluth/Breidenbach, in: BeckOK AuslR, AufenthG, 32. Ed., Stand: 01.01.2022, § 60a Rn. 13).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten, § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG. Ein Attest, dem nicht zu entnehmen ist, wie es zur prognostischen Diagnose kommt und welche Tatsachen dieser zugrunde liegen, ist nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen (vgl. VGH München, Beschl. v. 23.08.2016 – 10 CE 15.2784 –, juris Rn. 16 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Nach diesen Maßgaben – und den im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes allein zu berücksichtigenden präsenten Beweismitteln und glaubhaft gemachten Tatsachen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.03.2013 – 8 ME 44/13 –, juris Rn. 5 m.w.N.) – hat der Antragsteller die gesetzliche Vermutung nicht widerlegt. Insbesondere ergibt sich aus dem im Verwaltungsverfahren vorgelegten Entlassungsbrief vom 27. August 2020 nichts, das auf eine Reiseunfähigkeit hindeutet. Hiernach ist der Antragsteller nach einem stationären Aufenthalt wegen einer COVID-19-Erkrankung im guten Allgemeinzustand entlassen worden. Es bestünden eine arterielle Hypertonie, Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2 als Vorerkrankungen. Ausführungen zu einer eingeschränkten Reisefähigkeit enthält das ärztliche Schreiben insoweit nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Nach alledem war der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz nicht gegeben, § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2 GKG.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,707 | olgsh-2022-09-19-54-verg-322 | {
"id": 1070,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht",
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<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1) Der Beschluss der Vergabekammer Schleswig-Holstein vom 24. Mai 2022, Az. VK-SH 01/22, wird aufgehoben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2) Das Vergabeverfahren wird in den Stand vor die Aufforderung der Teilnehmer des nichtoffenen Verfahrens zur Abgabe von Angeboten zurückversetzt. Der Antragsgegner wird - bei Fortbestehen der Beschaffungsabsicht - verpflichtet, das Vergabeverfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats fortzusetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3) Der Antragsgegner trägt die Kosten des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer sowie die Kosten des Verfahrens der sofortigen Beschwerde und des Verfahrens nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB (Aktenzeichen 54 Verg 2/22) vor dem Senat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsgegner trägt ferner die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in dem Verfahren der sofortigen Beschwerde vor dem Senat und dem Verfahren nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB (54 Verg 2/22) vor dem Senat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Im Übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten selbst.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">4) Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">5) Der Streitwert für das Verfahren der sofortigen Beschwerde und das Verfahren nach § 172 Abs. 1 Satz 3 GWB (Az. 54 Verg 2/22) wird auf jeweils bis zu € 185.000,00 festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Der Antragsgegner betreibt die I. Süd für die Kreise S., H. und O. für den Rettungsdienst, Brand- und Katastrophenschutz (nachfolgend bezeichnet mit: I. Süd). Der Antragsgegner schloss mit der Stadt K., der Betreiberin der I. Mitte (nachfolgend gezeichnet mit: I. Mitte), unter dem 30. Juni/6. Juli 2021 eine Absichtserklärung (Anlage ASt. 8 zum Nachprüfungsantrag), in der es unter anderem wie folgt heißt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„§ 1 Vorbemerkung</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Gemäß § 17 Schleswig-Holsteinisches Rettungsdienstgesetz (SHRDG) und § 6 (6) SHRDG-DVO ist die Annahme von Hilfeersuchen immer zu gewährleisten und ein unterbrechungsfreier Betrieb der Rettungsleitstellen bei Standortverlusten oder Überlasten sicherzustellen. In der Folge der gesetzlichen Regelungen vereinbaren die Parteien eine Absicht der Zusammenarbeit in technischer und taktischer Hinsicht, um die gegenseitige Redundanz zu erreichen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>(1) Mit dieser Vereinbarung wird noch keine Verpflichtung zum Abschluss eines Kooperationsvertrages begründet. Vielmehr haben die Parteien bis zur Unterzeichnung des entsprechenden Vertrages das Recht, jederzeit ohne Angabe von Gründen von den weiteren Verhandlungen Abstand zu nehmen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>§ 2 Gegenstand</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>(1) Beide Parteien verfolgen das Ziel, bis zum 31.12.2022 eine Vereinbarung zu schließen, welche eine Kooperation technischer und taktischer Art zum Gegenstand hat (Hauptvertrag). Durch die Zusammenarbeit bei der Leitstellen soll eine Ausfallsicherheit im Sinne des § 6 (6) SHRDG-DVO garantiert werden können, die die Parteien jeweils für ihre Leitstellen eigenständig nicht erreichen können. Unter anderem ist geplant, die Technik zu vereinheitlichen und die Server zu vernetzen...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>(2) Sie sind bereit, die für den Vertragsschluss erforderlichen Vorleistungen nach Treu und Glauben zu erbringen und zur Erreichung des Vertragsabschlusses partnerschaftlich zusammenarbeiten...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>(3) Beide Parteien haben die Absicht, soweit möglich, gleiche Technik (Einsatzleitsystem, Telekommunikationsanlage) zu beschaffen bzw. vorzuhalten, um eine spätere Vernetzung zu ermöglichen.</em><br><em>...“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Stadt K. hat in der I. Mitte zum Ende des Jahres 2018 als Funk- und Notrufabfragesystem (nachfolgend bezeichnet mit: FNAS) das System MECC (Multimedia Emergency Control Center) der Antragstellerin in Betrieb genommen, die das System auch wartet. Das FNAS bildet in einer Leitstelle die Schnittstelle zwischen dem Anwender und den elektronischen Kommunikationsmitteln und damit zu allen Kommunikationswegen. Es besteht im Wesentlichen aus der Systemtechnik zur Anschaltung von Kommunikationswegen sowie der Technik am Arbeitsplatz zur Bedienung dieser Kommunikationswege (vgl. Arbeitspapier der AG Technik des Fachbeirats des Fachverbandes Leitstellen e.V., Version 3.0: Die Leitstellen der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben als Bestandteil der Kritischen Infrastruktur, S. 20). Die Beigeladene setzt als Software des von ihr angebotenen FNAS das Programm ASGARD ein. Das MECC der Beschwerdeführerin und das ASGARD der Beigeladenen können - jedenfalls ohne Programmierung einer Schnittstelle für den Austausch zwischen den Programmen - nicht im Sinne eines Datenaustausches miteinander vernetzt werden. Einzelheiten hierzu sind streitig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner schrieb mit auf der TED-Webseite am xx.xx.xxxx veröffentlichter Bekanntmachung (xxx) den Lieferauftrag „Neubau I., hier Leitstellentechnik“ unter der Nummer xxx aus. Gegenstand der Ausschreibung ist nach II.1.4) die „Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und Ausrüstung der Stabsstelle“ in B.. In II. 2.4) wird die Beschaffung u. a. beschrieben mit:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Der Kreis S. beabsichtigt für die Kreise S., H. und O. den Neubau einer Integrierten I. (I.). Ausgeschrieben wird die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und die Ausrüstung der Stabstelle für die I. ...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Gegenstand der Ausschreibung ist die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme eines Funk- und Notrufabfragesystems in der bestehenden I. Süd mit einer Inbetriebnahme bis spätestens Januar 2023 (Bauabschnitt 1), die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für die georedundante Redundanzleitstelle in der I. Mitte in K. in 2023 (Bauabschnitt 2) und für den Neubau der I. Süd sowie die Ausrüstung der Stabsstelle des Kreises S. ab Q4/23 bzw. Q1/24 (Bauabschnitt 3).“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Nach Ziffer II.2.5) ist der Preis das Zuschlagskriterium. Gemäß II.2.9) sollen höchstens fünf Bewerber zur Angebotsabgabe/Teilnahme aufgefordert werden. Nach IV.2.2) ist als Verfahrensart das nichtoffene Verfahren gewählt. Die Auftragsunterlagen - darunter die Hinweise zum Teilnahmeverfahren (Anlage Ag 01 zur Antragserwiderung) - standen elektronisch zur Verfügung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Zu den Teilnahmeunterlagen gehört auch eine von den Bietern gegenüber dem Antragsgegner abzugebende Verschwiegenheitserklärung im Vergabeverfahren „Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und Ausrüstung der Stabstelle“, welche die Antragstellerin unter dem 26. November 2021 unterzeichnete (Anlage AG 03 zum Schriftsatz des Antragsgegners vom 11. Mai 2022). Dort heißt es unter anderem:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„... </em><strong><em>Vorbemerkung</em></strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>... Im Rahmen des Vergabeverfahrens werden dem Bieter Informationen, insbesondere Angebotstexte oder Standort Informationen, übermittelt, die vertraulich behandelt werden müssen... Die Geheimhaltung dieser Informationen gegenüber Dritten ist für den Auftraggeber von größter Bedeutung. Ferner ist für den Auftraggeber von größter Bedeutung, dass der Bieter die so erhaltenen Informationen ausschließlich zum Zweck der Teilnahme an dem Vergabeverfahren ... und ausschließlich in diesem Verfahren verwendet. Vor diesem Hintergrund und zum Schutz des Auftraggebers und des Vergabeverfahrens, für das der Geheimwettbewerb gesetzlich vorgeschrieben ist, gibt der Bieter zum Schutz der Vertraulichkeit folgendes selbstständige, konstitutive Schuldversprechen ab:</em><br>...</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>Vertraulichkeitsvereinbarung</em></strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Im Rahmen des oben genannten Vergabeverfahrens, sowie im Rahmen einer weiteren Zusammenarbeit zwischen dem Kreis S. ... und oben genanntem Empfänger wird der Kreis S. dem Empfänger Informationen zur Verfügung stellen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und nicht allgemein zugänglich sind (im folgenden „Vertrauliche Informationen“). Bezüglich dieser Informationen und eines potentiellen Engagements (im folgenden „Engagement“) werden folgende Vereinbarungen geschlossen:</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>1. Vertrauliche Informationen im Sinne dieser Vereinbarung sind:</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>(a) jede Information, die dem Empfänger</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>aa) vom Kreis S. oder in dessen Auftrag;</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>bb) von mit dem Auftraggeber zusammenarbeitenden Fachplaner(n) oder in deren Auftrag,</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>mitgeteilt wird, und zwar unabhängig davon, in welcher Weise sie mitgeteilt wird und unabhängig davon, in welcher Weise sie verkörpert bzw. gespeichert wird, sowie</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>(b) ...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>2. Der Empfänger verpflichtet sich, die Vertraulichen Informationen vertraulich zu behandeln und nicht gegenüber Dritten offenzulegen oder ihnen anderweitig zugänglich zu machen. Der Empfänger wird die Vertraulichen Informationen auch nicht für andere Zwecke als für das Vergabeverfahren und ein potentielles Engagement verwenden.</em><br>...</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>6. Der Empfänger hat jede nicht autorisierte Weitergabe von Vertraulichen Informationen oder jede andere Verletzung der durch diesen Vertrag begründeten Pflichten durch Vertreter wie eigenes Verschulden zu vertreten (§ 278 BGB).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Im Falle einer nicht autorisierten Weitergabe von Vertraulichen Informationen durch den Empfänger oder einen autorisierten Vertreter ist dieser verpflichtet, den Auftraggeber den ihm daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Es bewarben sich innerhalb der am 3. Dezember 2021 endenden Bewerbungsfrist sechs Unternehmen mit Teilnahmeanträgen. Eine Bewerberin wollte ebenfalls das Funk- und Notrufabfragesystem MECC der Beschwerdeführerin einsetzen, wobei letztere nach dem Inhalt des Angebots nicht als Nachunternehmerin, sondern als reiner Systemlieferant auftreten sollte. Der Antragsgegner schloss diese Bieterin - sie hätte nach Auffassung des Antragsgegners die Beschwerdeführerin als Nachunternehmerin angeben und entsprechende Referenzen vorlegen müssen - und ein weiteres Unternehmen von der weiteren Teilnahme aus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Es verblieben vier Unternehmen, die der Antragsgegner mit Schreiben vom 5. Januar 2022 zur Angabe eines Angebots bis zum 8. Februar 2022 aufgeforderte; dem Schreiben waren u.a. beigefügt die technische Leistungsbeschreibung für die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und die Ausrüstung der Stabsstelle nebst Antworten zu Bieterfragen und das Leistungsverzeichnis (vgl. Anlage ASt 1 zum Nachprüfungsantrag).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Auf Seite 5 unten der Hinweise zum Teilnahmeverfahren (Anlage Ag 01) sowie auf Seite 10 der technischen Leistungsbeschreibung (im Anlagenkonvolut ASt 1 zum Nachprüfungsantrag vom 1. April 2022) heißt es:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Zwischen der I. Süd und der I. Mitte besteht eine Absichtserklärung der Zusammenarbeit in technischer und taktischer Hinsicht. Zu diesem Zweck ist ein Datenaustausch zwischen den Systemtechniken (z. B. FNAS) beider Leitstellen vorgesehen."</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Ziffer 1.2 der technischen Leistungsbeschreibung (Seiten 11 - 13) „Gegenstand der Ausschreibung“ lautet:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Gegenstand der Ausschreibung ist die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme eines Funk- und Notrufabfragesystems in der bestehenden I. Süd mit einer Inbetriebnahme bis spätestens Januar 2023 (Bauabschnitt 1), die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für den georedundanten Redundanzstandort in der I. Mitte in K. in 2023 (Bauabschnitt 2) und für den Neubau der I. Süd sowie die Ausrüstung der Stabsstelle des Kreises S. ab Q4/23 bzw Q1/24</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>(Bauabschnitt 3).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die Ausschreibung umfasst die folgenden Gewerke:</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em><span style="text-decoration:underline">Leitstellentechnik I. Süd:</span></em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>--</em></strong><em> IT-Konzept</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>--</em></strong><em> Einsatzleittechnik</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>---</em></strong><em> Funk- und Notrufabfragesystem</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>- Integration im IT-Konzept</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>- Arbeitsplatzausstattung</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>- Schnittstellen</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>- BOS-Digitalfunkanschaltung auf Basis des DF-Steckers</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>--</em></strong><em> Infrastrukturmaßnahmen</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>- Ausrüstung Serverräume</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>--</em></strong><em> Dienstleistungen</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt"><em>- Projektmanagement, Dokumentation, Schulungen</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em><span style="text-decoration:underline">Technik für die Geo-Redundanzleitstelle:</span></em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>--</em></strong><em> IT-Konzept ...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>--</em></strong><em> Einsatzleittechnik...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>--</em></strong><em> Funk- und Notrufabfragesystem</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Integration im IT-Konzept</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Arbeitsplatzausstattung</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Schnittstellen</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- BOS-Digitalfunkanschaltung der Redundanzleitstelle auf Basis des dort vorhandenen T-Systems DF-Steckers</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em><span style="text-decoration:underline">Stabsstellen I. Süd:</span></em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme der voran genannten Techniken sind in drei Bauabschnitte aufgeteilt.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>1. Bauabschnitt</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Erneuerung des Funk- und Notrufabfragesystems inkl. Anschaltung des BOS-Digitalfunks in der Bestandsleitstelle I. Süd ...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>2. Bauabschnitt</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Ausrüstung und Inbetriebnahme der Redundanzensystemtechnik in der I. Mitte ... sowie die funktionale Anbindung an die Systemtechnik der Partnerleitstelle I. Mitte.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>3. Bauabschnitt</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken sowie die Ausrüstung der Stabsstelle im Neubau der I. Süd ...“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung (Seite 19) lautet:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Alle in der Leistungsbeschreibung bzw. im Leistungsverzeichnis aufgeführten technischen Beschreibungen verstehen sich als technische Mindestanforderungen. Werden Mindestanforderungen nicht erfüllt, führt das zum Ausschluss des Angebotes.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">Ziffer 5.1 der technischen Leistungsbeschreibung (Seite 35) „Verfügbarkeit“ lautet:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Der Bieter hat sein IT-Systemkonzept (Systemarchitektur, Redundanz) so auszulegen, dass ein hoch verfügbares System mit Erhaltung aller wichtigen Arbeitsabläufe, Dokumentationen und Steuerungen peripherer Einrichtungen mit einer jährlichen Verfügbarkeit von mind. 99,999 % zur Verfügung steht. Dafür sind die zentralen Systemkomponenten redundant und hoch verfügbar auf die vorhandenen Systemschränke in den beiden Serverräumen im Neubau der I. Süd und dem Technikraum der Partnerleitstelle aufzuteilen und mit den zwei zur Verfügung stehenden Stromversorgungen (USV-1 und USV-2) unterbrechungsfrei zu versorgen.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">In Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung „Bauabschnitt 2: Ausrüstung und Inbetriebnahme der Leitstellen Technik am Redundanzstandort“ heißt es unter anderem (Seite 55 f.):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Im Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung ist eine Redundanzleitstelle vorzuhalten. Diese soll am Standort der Partnerleitstelle (I. Mitte in K.) in Form einer technischen Hardwareredundanz und einer vollständigen Vernetzung entstehen. Hierzu werden aktuell in einem separaten Projekt ein gemeinsames Einsatzleitsystem sowie weitere Leitstellensystemtechniken (z. B. Digitale Alarmierung) abgestimmt. Für die vollständige Vernetzung bzw. die Zusammenarbeit zwischen den Leitstellen I. Mitte und I. Süd sind folgende Anforderungsbeispiele definiert worden:</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Bei einer Evakuierung der I. Süd sollen in der Partnerleitstelle I. Mitte die gleichen Rollenprofile wie in der I. Süd vorhanden sein. Ebenso andersherum.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_70">70</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Bei einer Zerstörung der I. Süd soll der Leitstellen Betrieb in der I. Mitte vollständig und ohne Datenverlust fortgeführt werden können.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_71">71</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Die Bedienoberflächen im FNAS der I. Süd und I. Mitte sind funktional sowie optisch an allen Einsatzplätzen gleich vorzuhalten.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_72">72</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Im Regelbetrieb muss der Disponent in der I. Süd die Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der I. Mitte in seiner FNAS-Bedienoberfläche dargestellt bekommen. Ebenso andersherum.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_73">73</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Notrufe sowie definierte Telefonleitungen der I. Süd, die innerhalb der ersten Zeitspanne nicht angenommen werden, sollen in der ersten Stufe mit einem „Drängelton" signalisiert werden und dann nach Ablauf eines zweiten Zeitintervalls, in die Partnerstelle I. Mitte zur Notrufannahme weitergeleitet werden (Überlauf).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_74">74</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Das gleiche Prinzip soll im Neubau I. Süd für die I. Mitte angesetzt werden.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">...</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_75">75</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die neuen Leitstellentechniken der I. Süd werden über zwei noch zu beschaffende redundante Vernetzungen (vgl. IT-Konzept im Abschnitt 5 und Anhang 1 bis Anhang 4) zwischen der I. Süd und der I. Mitte verbunden. Diese Verbindungen sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Nach der Auftragsvergabe werden im Rahmen der Feinspezifikation diesbezügliche Anforderungen mit dem AN abgestimmt und die Verbindungen bauseits durch den AG beschafft.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_76">76</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em><span style="text-decoration:underline">Der Bieter hat das seinem Angebot zu Grunde liegende Systemkonzept für die Vernetzung der I. Süd mit der Partnerleitstelle I. Mitte in einer Anlage zu beschreiben.</span></em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_77">77</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Dem Auftraggeber ist bewusst, dass seitens der Partnerleitstelle I. Mitte und den dort vorhandenen Systempartnern Leistungsanteile für die Vernetzung zu erbringen sind. Diese Leistungsanteile für die Vernetzung auf Seiten der Partnerleitstelle sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung, jedoch sind alle erforderlichen Schnittstellenabstimmungen bis zur Realisierung der Vernetzung zu berücksichtigen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_78">78</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>10.1 Redundanztechnik in der Partnerleitstelle I. Mitte</em></strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_79">79</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Für alle Systemtechniken in der Partnerleitstelle I. Mitte sind die gleichen Komponenten wie in der I. Süd einzusetzen (s.a. Anhang 1 bis Anhang 4). Es gelten dieselben Anforderungen an Betriebsbewährung und Qualität.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_80">80</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die BOS-Digitalfunk-Rückfallebene FRT wird in der Partnerleitstelle nicht nochmals aufgebaut. Im Rahmen dieses Verfahrens ist die Bedienung der FRTs am Standort I. Süd über das FNAS umzusetzen (im Sinne abgesetzter Einsatzleitplätze). Im Weiteren ist somit eine Bedienebene wie z.B. über die SEB VoIP-Fire Bedieneinrichtungen in der Partnerleitstelle nicht gefordert.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_81">81</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>10.2 Rückfallebene Digitale Alarmierung der Partnerleitstelle</em></strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_82">82</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die Bereitstellung der Digitalen Alarmierung für die Einsatzleitsätze der Partnerleitstelle in der I. Mitte im eingangs beschriebenen Anforderungsfall einer Nichtverfügbarkeit der Leitstellentechniken der I. Süd ist nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Dies erfolgt durch die fachverantwortlichen Mitarbeiter der Leitstelle im Rahmen eines separaten Projektes.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_83">83</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong><em>10.3 Infrastrukturmaßnahmen der Partnerleitstelle</em></strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_84">84</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>In Bezug auf die vorhandene Infrastruktur in der Partnerleitstelle kann der Bieter in diesem Verfahren davon ausgehen, dass Stromversorgungseinrichtungen, Kabeltragsysteme und -trassen sowie klima- und lüftungstechnische Anforderung vorhanden sind oder ggf. bauseits beschafft werden.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_85">85</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Im Rahmen dieses Verfahrens hat der Bieter die vollständige Verkabelung seiner Systeme untereinander in den vorgesehenen LV-Positionen zu kalkulieren. Die Öffnung von vorhandenen Brandschottungen in der Partnerleitstelle bedarf der Abstimmung mit dem Nutzer der I. Mitte ...“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_86">86</a></dt>
<dd><p>Die Leistungsverzeichnis(nachfolgend: LV)-Position 5 „Redundanztechnik in der Partnerleitstelle (BA2)“ findet sich auf den Seiten 64 ff. des Leistungsverzeichnisses (im Anlagenkonvolut ASt 1 zum Nachprüfungsantrag vom 1. April 2022). Einleitend heißt es dort:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_87">87</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Zwischen der I. Süd und der I. Mitte ist ein Zusammenarbeitsvertrag hinsichtlich der Bildung eines Redundanzstandortes in der Partnerleitstelle geschlossen worden. Dabei sollen in beiden Leitstellen eine Hardwareredundanz für die jeweils andere Leitstelle abgebildet werden. Für die I. Süd ist das diesbezügliche IT-Konzept in den Anlagen 01 bis 03 abgebildet.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_88">88</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Im Rahmen dieses Verfahrens sollen im Bauabschnitt 2 in der Partnerleitstelle I. Mitte in K. das in den Anlagen abgebildete IT-Konzept (Hardwareredundanz zur I. Süd) und der Vernetzung für die Bedienung von vier Einsatzleitplätzen der I. Mitte entstehen. Für die für den Bauabschnitt 2 in den folgenden LV-Position geforderten Hardwarekomponenten gelten die gleichen Vorgaben und Mindestanforderungen der im Bauabschnitt 3 bereits benannten Komponenten.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_89">89</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Zwischen den beiden Standorten werden hoch verfügbare Verbindungen realisiert. Details zur konkreten Ausführung dieser Verbindungen liegen noch nicht vor. Im Neubau der I. Süd sollen nach gleichem Prinzip Einsatzplätze der I. Mitte abgebildet werden können. Hierfür sind die drei Arbeitsplätze im Raum 1.05 Schulung und Reserve vorgesehen…“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_90">90</a></dt>
<dd><p>Die LV-Pos. 05.07 befasst sich mit „Redundanztechnik Dienstleistungen“ (Leistungsverzeichnis Seite 73 f.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_91">91</a></dt>
<dd><p>Auf die Bieterfrage 16 zur „Leistungsbeschreibung Kapitel 10“ (vgl. die Zusammenfassung der Bieterfragen zum Gewerk Leitstellentechnik I. Süd, Anlage BG02 zum Schriftsatz des Antragsgegners vom 16. Juni 2022):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_92">92</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Für die Umsetzung der Anforderung „im Regelbetrieb muss der Disponent in der I. Süd die Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der I. Mitte in seiner FNAS-Bedienoberfläche dargestellt bekommen. Ebenso andersrum.“ benötigen wir die Schnittstellenbeschreibung des FNAS der I. Mitte. Alternativ könnte die gegenseitige Darstellung mit je einem FNAS Client erfolgen, wir bitten um Freigabe der Alternative.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_93">93</a></dt>
<dd><p>antwortete der Antragsgegner unter dem 25. Januar 2022:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_94">94</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„In der<em> I. Süd ist gemäß den Darstellungen der Technischen Leistungsbeschreibung (TLB) im Abschnitt 6.5 ein Dashboard zur Systemauslastung zur Verfügung zu stellen. Einzelne Datenpunkte hieraus sind zur Darstellung in der Partnerleitstelle I. Mitte über die erforderliche Vernetzung (ALL-IP-Notruf und BOS-Digitalfunk gem. TLB Abschnitt 10) der Partnerleitstelle zu übergeben. Eine Schnittstellenbeschreibung liegt hierzu noch nicht vor. Detaillierte Abstimmungen zur Übergabe dieser Datenpunkte sind nach Auftragsvergabe im Rahmen der Feinspezifikation vorgesehen. Diesbezügliche Dienstleistungen sind in den LV-Position 05.07 entsprechend zu berücksichtigen. Die vorgeschlagene Alternative ist nicht gewünscht.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_95">95</a></dt>
<dd><p>Auf die Bieterfrage 18 (vgl. die Zusammenfassung der Bieterfragen zum Gewerk Leitstellentechnik I. Süd, Anlage BG02 zum Schriftsatz des Antragsgegners vom 16. Juni 2022)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_96">96</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Ab dem Titel 05 beschreiben Sie die Komponenten der I. Mitte. Wie ist mit der Situation umzugehen, wenn in der I. Mitte keine Server, Diskarray, etc. benötigt werden, da die geforderten Anforderungen (gleiche Oberfläche, etc.) mit der bestehenden Soft- und Hardware zu realisieren ist? Oberflächen und Rollen wären dann an den vorhandenen Arbeitsplätzen der I. Mitte hinterlegt.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_97">97</a></dt>
<dd><p>antwortete der Antragsgegner:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_98">98</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„D<em>ie ausgeschriebenen Leistungen sollen in einem Wettbewerb u. a. entsprechend den Vorgaben des GWB ... vergeben werden. Mit der ausgeschriebenen Systemkonfiguration können aus Sicht der ausschreibenden Stelle alle verbleibenden Bieter ein wettbewerbsfähiges Angebot erstellen. Das bestehende Systemkonzept in der I. Mitte ist über die in den Ausschreibungsunterlagen dargestellten Beschreibungen der ausschreibenden Stelle nicht bekannt und nicht Gegenstand dieser Ausschreibung. Dass dieser Ausschreibung zugrunde liegende Systemkonzept basiert auf neu zu beschaffenden Komponenten, ist insbesondere in den Anhängen 2 und 03 visualisiert dargestellt und in den zugehörigen Positionen im Leistungsverzeichnis entsprechend zu kalkulieren. Die Vorgaben der Ausschreibung sind zwingend umzusetzen.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_99">99</a></dt>
<dd><p>Auf die Bieteranfrage 43 zu BA2, ELS und FNAS Arbeitsplätze in der I. Mitte (K.), RB 10.1</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_100">100</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„In welchen Positionen sind die Arbeitsplätze „im Sinne abgesetzte Einsatzleitplätze“ in den Räumen I. Mitte anzubieten und wie viele“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_101">101</a></dt>
<dd><p>antwortete der Antragsgegner:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_102">102</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Für die Partnerleitstelle I. Mitte sind keine Arbeitsplatzkomponenten (FNAS, ELS) zu berücksichtigen. Gemäß den Ausführungen im Abschnitt 10 ist die Bedienung von den vorhandenen Arbeitsplätzen der I. Mitte vorgesehen. Dafür sind die Systeme entsprechend den Ausführungen in Abschnitt 10 der technischen Leistungsbeschreibung zu vernetzen. Erforderliche Liefer- oder Dienstleistungen seitens des vorhandenen Systems in der I. Mitte sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Dienstleistungen, wie erforderliche Abstimmungsgespräche, sind in der LV-Position 05.07 zu berücksichtigen. Detailabstimmungen hierzu erfolgen im Rahmen der Feinspezifikation nach Auftragsvergabe.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_103">103</a></dt>
<dd><p>Drei Unternehmen gaben innerhalb der von dem Antragsgegner bis zum 16. Februar 2022 verlängerten Angebotsfrist Angebote ab. Der Antragsgegner klärte das Angebot der Beigeladenen, die das in Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung verlangte Vernetzungskonzept mit dem Angebot vorgelegt hatte, mit Fragen vom 9. März 2022 zu der Leistungsfähigkeit der Beigeladenen für die Vernetzung der FNAS nach den Vorgaben auf S. 55 f. der technischen Leistungsbeschreibung (Anforderungsbeispiele) auf, die die Beigeladene mit Schreiben vom 10. März 2022 (Anlage AG 02 zur Antragserwiderung) wie folgt beantwortete:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_104">104</a></dt>
<dd><p>1. Zu den Rollenprofilen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_105">105</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„,Ja, alle Anforderungen bezüglich der Rollenprofile werden im Projekt umgesetzt. Das Produkt des Kommunikationssystems in der I. Mitte (K.) ist uns bekannt. Die dazu notwendigen Abstimmungsgespräche sind in unserem Angebot berücksichtigt. Lizenzen sind dazu in unserer angebotenen Lösung nicht nötig. Alle Funktionen die das Rollen- und Rechtemanagement beinhalten, sind in der Standardsoftware bereits vollumfänglich enthalten.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_106">106</a></dt>
<dd><p>2. Zu der Fortführung des Leitstellenbetriebes im Falle der Zerstörung einer I.:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_107">107</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„<em>Ja, wir bestätigen dass der Datenbestand redundant an beiden Standorten vorgehalten wird. Die Datenbanken der Kommunikationssysteme der I. Mitte und I. Süd synchronisieren sich zyklisch. Alle dazu notwendigen Dienstleistungen sind im Angebot enthalten.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_108">108</a></dt>
<dd><p>3. Zu den Bedienoberflächen der I.:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_109">109</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Die Bedienoberflächen werden in Zusammenarbeit mit der I. Süd und dem Hersteller des Systems der I. Mitte in der Feinspezifikation abgestimmt, so dass die Disponenten an jedem System bzw. Lokation arbeiten können. Wir bestätigen hiermit diese Anforderung umzusetzen.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_110">110</a></dt>
<dd><p>4. Zu der wechselseitigen Darstellung der Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze in der FNAS-Bedienoberfläche:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_111">111</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Ja, die o. g. Anforderungen sind möglich und in unserem Angebot enthalten. Im Rahmen der Feinspezifikation wird dann in einem GUI Workshop (Bedienoberfläche) dies gemeinsam ausgestaltet. Siehe hierzu auch die Bieterfragen.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_112">112</a></dt>
<dd><p>5. Zum Überlauf:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_113">113</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Ja, das ist möglich und wurde im Angebot berücksichtigt. Diese Funktion haben bereits wir seit Jahren umgesetzt und wird in einigen ASGARD Verbund-Leitstellen so genutzt.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_114">114</a></dt>
<dd><p>6. Zu medienübergreifenden Tätigkeiten beim Verlust der Leitstellentechniken in der I. Süd:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_115">115</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Ja, wir bestätigen, dass in unserem Angebot die o.g. medienübergreifenden Tätigkeiten ausschreibungskonform geplant und angeboten wurden.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_116">116</a></dt>
<dd><p>7. Zur Berücksichtigung der zur Vernetzung mit der Partnerleitstelle geforderten Funktionalitäten und Dienstleistungen gemäß Leistungsverzeichnis, technische Leistungsbeschreibung und Anlagen im Angebot:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_117">117</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Ja, wir bestätigen hiermit dass die geforderten Funktionalitäten und Dienstleistung zur Vernetzung mit der Partnerleitstelle I. Mitte in K. in unserem Angebot berücksichtigt sind.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_118">118</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben gemäß § 134 Abs. 1 GWB vom 23. März 2022 informierte der Antragsgegner die Antragstellerin darüber, den Auftrag der Beigeladenen erteilen zu wollen (vgl. Anlage Ast 5 zur sofortigen Beschwerde vom 3. Juni 2022). Die Antragstellerin rügte daraufhin gegenüber dem Antragsgegner mit Anwaltsschreiben vom 31. März 2022 Vergaberechtsverstöße:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_119">119</a></dt>
<dd><p>Zur Angebotswertung bezweifele sie, dass das von der Beigeladenen abgegebenen Leistungsversprechen eingelöst werden könne und diese in der Lage sei, sämtliche geforderten Leistungen zu erbringen. Die Beigeladene sei nicht dazu in der Lage, die nach Ziffer 10 des Leistungsverzeichnisses geforderte Vernetzung der I. Süd mit der I. Mitte vorzunehmen. Von der I. Mitte werde ihr FNAS (MECC) eingesetzt. Die für die vollständige Vernetzung geforderte Übereinstimmung der Rollenprofile, funktionale und optische Identität der Bedienoberflächen im FNAS, die Darstellung der Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der I. Mitte in der FNAS-Bedienoberfläche der I. Süd und den Notruf-Überlauf erfordere eine Kommunikation zwischen den beiden FNAS. Eine hierfür erforderliche Schnittstelle sei nicht vorhanden. Um sie herzustellen, bedürfe es bei dem Einsatz eines anderen FNAS als des ihrigen einer Offenlegung schnittstellenrelevanter Daten und Codes. Wegen einer solchen Offenlegung sei weder die I. Mitte noch der Landkreis S. an sie herangetreten. Sie sei nicht verpflichtet, an der Einrichtung einer solchen Schnittstelle mitzuwirken. Ein Unternehmen, das nicht das MECC einsetze, könne eine vollständige Vernetzung nicht erbringen. Das Angebot der Beigeladenen sei deshalb nach § 57 Abs. 1 Nummer 4 VgV auszuschließen. Die Abweichung eines Angebots von den Vergabeunterlagen liege auch dann vor, wenn sich im Rahmen der Aufklärung ergebe, dass der Bieter die Leistungen nicht oder nicht vollständig oder nur abweichend ausführen können. Das sei hier bei der Beigeladenen im Hinblick auf Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung der Fall. Dies gelte insbesondere für die gemäß Anforderung der Frage 16 im LV-Titel 5.07 des LV-Leitstellenstechnik zu kalkulierenden Dienstleistungen zur Herstellung der Schnittstelle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_120">120</a></dt>
<dd><p>Vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass bei Unterstellung einer möglichen vollständigen Vernetzung der FNAS über Verhandlungen mit der I. Mitte und ihr die Ausschreibung hätte erst veröffentlicht werden dürfen, wenn die technischen Voraussetzungen einer Vernetzung geklärt und auch rechtlich gesichert seien. Für die hiesige Ausschreibung fehlte es an der Ausschreibungs- bzw. Vergabereife. Ein Auftraggeber habe die technischen Spezifikationen vorab soweit zu klären, dass im Vergabeverfahren nicht von vornherein mit wesentlichen Änderungen der Leistungsbeschreibung zu rechnen sei. Die Ausschreibungsreife fehle, wenn sich der Zuschlag nur bei wesentlicher Änderung der Spezifikation erteilen lasse oder es nach Zuschlagserteilung einer wesentlichen Vertragsänderung nach § 132 GWB bedürfe. Enthalte eine Ausschreibung Spezifikationen, die vom Bieterkreis nicht erfüllbare Anforderungen enthalte, handele sich um einen Vergabefehler, der eine Aufhebung der Ausschreibung erfordere. Zulässig seien nur Präzisierungen und Vorgaben, die der öffentliche Auftraggeber vor Leistungserbringung noch beeinflussen und für die er die erforderlichen Voraussetzungen schaffen könne. Das sei hier nicht der Fall, weil es der Antragsgegner nicht in der Hand habe, die Voraussetzungen zu schaffen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_121">121</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner wies die Rüge mit Schreiben vom 31. März 2022 (Anlage Ast. 7 zur sofortigen Beschwerde vom 3. Juni 2022) zurück. Die Antragstellerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom 1. April 2022 bei der Vergabekammer Schleswig-Holstein die Einleitung eines Vergabenachprüfungsverfahrens beantragt und im Nachprüfungsverfahren im Wesentlichen ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_122">122</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner hätte aufgrund ihrer Rüge aufklären müssen, ob die Beigeladene - was nicht der Fall sei - dazu der Lage sei, die Schnittstelle zu dem FNAS der I. Mitte als Voraussetzung für die Vernetzung zu schaffen. Die vollständige Vernetzung der FNAS sei nach der am objektiven Bieterhorizont orientierten Auslegung von Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung geschuldet. Die Beigeladene habe in dem Schriftsatz vom 29. April 2022 eingeräumt, diese Vernetzung nicht selbst erstellen zu können; hierfür müsse die Antragstellerin eine neue Schnittstelle zum/vom Kommunikationssystem ASGARD entwickeln, in der alle erforderlichen Daten und Metadaten vorhanden seien. Für die Erfüllung der Anforderungen von Ziffer 10 sei es nicht ausreichend, dass der Auftragnehmer eine Schnittstellenbeschreibung für eine Schnittstelle zum FNAS der I. Mitte erhalte. Eine derartige Schnittstelle gebe es nicht, es existiere bundesweit kein Projekt, bei dem eine Schnittstelle zwischen zwei unterschiedlichen FNAS realisiert worden sei. Selbst wenn sie wesentliche Informationen für die Entwicklung einer solchen Schnittstelle - hierbei handele es sich um ihre Geschäftsgeheimnisse - zur Verfügung stellen würde, reichte dies zur Erfüllung der Anforderungen aus Ziffer 10 nicht aus. Nach den von ihr eingeholten Auskünften von Fachplanern fehle es an der für die verlangte vollständige Vernetzung der FNAS notwendigen technischen Kompatibilität zwischen zwei unterschiedlichen Systemen. Die Systeme MECC einerseits und ASGARD andererseits seien wegen unterschiedlicher Programmiersprachen, unterschiedlicher Strukturen und Funktionsweisen nicht kompatibel. Es müssten beidseits Software- und Entwicklungsleistungen erbracht und die erforderlichen Schnittstellen zu Fremdsystemen (Telefonanlage, digitale Alarmierung) ständig an Updates oder geänderte Aufgabenstellung angepasst werden. Dies sei nicht nur wegen des erheblichen Aufwandes unwirtschaftlich, sondern auch mit erheblichen Risiken für die Verfügbarkeit behaftet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_123">123</a></dt>
<dd><p>Neben ihr gebe es jedenfalls ein Unternehmen, das ihr MECC als Lizenznehmerin einsetzen könne und über die erforderlichen Kenntnisse verfüge, um die geforderte Kompatibilität und Vernetzung mit ihrem MECC der I. Mitte herzustellen. Ein weiteres Unternehmen verwirkliche gerade als Generalunternehmerin ein Projekt der Leitstellvernetzung, bei dem auch ihr MECC zum Einsatz komme. Dieses Unternehmen werde demnächst in der Lage sein, eine Vernetzung mit dem FNAS der I. Mitte vorzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_124">124</a></dt>
<dd><p>Die Vergabekammer hat am 14. April 2022 die Beiladung der Zuschlagsprätendentin beschlossen und der Antragstellerin sowie der Beigeladenen Akteneinsicht in teilgeschwärzter Form gewährt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_125">125</a></dt>
<dd><p>Die Beschwerdeführerin hat vor der Vergabekammer in der Hauptsache beantragt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_126">126</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. Die Wertung der Angebote in dem Vergabeverfahren Neubau I., Leitstellentechnik des Antragsgegners, werden unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer wiederholt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_127">127</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. <span style="text-decoration:underline">H i I f s w e i s e:</span> Das Vergabeverfahren wird bei fortbestehender Beschaffungsabsicht in den Stand vor Bereitstellung der Vergabeunterlagen zurückversetzt. Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Leistungsbeschreibung unter Berücksichtigung der Hinweise und Rechtsauffassung der Vergabekammer zu überarbeiten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_128">128</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner hat vor der Vergabekammer in der Hauptsache beantragt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_129">129</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1) Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_130">130</a></dt>
<dd><p>Er ist dem Nachprüfungsantrag entgegen getreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_131">131</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene hat vor der Vergabekammer in der Hauptsache beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_132">132</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. den Nachprüfungsantrag als unzulässig und unbegründet zurückzuweisen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_133">133</a></dt>
<dd><p>Sie hat im Wesentlichen vorgetragen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_134">134</a></dt>
<dd><p>Der Nachprüfungsantrag sei nach § 160 Abs. 3 GWB unzulässig. Der Antrag sei auch unbegründet. Sie habe ein zuschlagsfähiges Angebot abgegeben und sei nicht auszuschließen; Vergabereife liege vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_135">135</a></dt>
<dd><p>Die Schaffung einer Schnittstelle/Vernetzung zu dem FNAS der I. Mitte sei nicht Gegenstand des von ihr abzugebenden Angebots, da die Schaffung der Voraussetzungen für die Anbindung bei der I. Mitte vom Antragsgegner auf Seite 56 letzter Absatz der technischen Leistungsbeschreibung zugesagt werde. Die Bieter hätten hiernach davon ausgehen dürfen, dass die erforderlichen Voraussetzungen für die Vernetzung der I. Mitte und der I. Süd durch den Antragsgegner bzw. die Antragstellerin bereitgestellt würden, was auch durch die Antwort auf die Bieterfrage 16 bestätigt worden sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_136">136</a></dt>
<dd><p>Technisch sei die Herstellung einer solchen Schnittstelle unproblematisch möglich. So könnte die Antragstellerin eine neue Schnittstelle zu ihrem ASGARD-Programm entwickeln, in der alle vorhandenen Daten und Metadaten vorhanden seien. Es könnte auch die vorhandene Schnittstelle zum Sinus NFVS zum Einsatzleitsystem genutzt werden, um die Anruf- und die Metadaten zu übermitteln. Da sie davon habe ausgehen dürfen, dass die erforderliche Schnittstelle zur Verfügung gestellt werde, dürfe sie davon ausgehen, die Anforderungen von Ziffer 10 der Leistungsbeschreibung umsetzen zu können und ein zuschlagsfähiges Angebot vorgelegt zu haben. Einer Offenlegung von Quellcodes des FNAS der Antragstellerin bedürfe es nicht. Vergabereife liege vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_137">137</a></dt>
<dd><p>Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag der Beschwerdeführerin auf die mündliche Verhandlung vom 16. Mai 2022 mit den Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 25. Mai 2022 zugestelltem Beschluss vom 24. Mai 2022 zurückgewiesen, der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens sowie der für die Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen von Antragsgegner und Beigeladener auferlegt und die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners und der Beigeladenen für notwendig erklärt. Zur Begründung hat die Vergabekammer im Wesentlichen ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_138">138</a></dt>
<dd><p>Der Nachprüfungsantrag sei unzulässig, die Antragstellerin mit ihrem Vorbringen nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB präkludiert, die gerügten Vergaberechtsverstöße erkennbar gewesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_139">139</a></dt>
<dd><p>Hier komme es nicht darauf an, dass die Antragstellerin die beabsichtigte Zuschlagserteilung auf das Angebot der Beigeladenen rechtzeitig im Sinne von § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB gerügt habe. Die Antragstellerin stütze ihre Anträge auf eine ihrer Auffassung nach gegebene mangelnde Zuschlagsfähigkeit des Angebots der Beigeladenen, die sich aus den Vergabeunterlagen ergebe. Sämtliche Passagen, auf die sich die Antragstellerin zur Begründung der von ihr geltend gemachten Vergaberechtswidrigkeit stütze und aus denen sie eine Verpflichtung des späteren Auftragnehmers zur Errichtung der oben beschriebenen Schnittstelle ableite, seien Bestandteil der Vergabeunterlagen. Die Antragstellerin hätte bei deren Lektüre feststellen müssen, dass außer ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit kein anderes Unternehmen zur Erfüllung dieser Anforderung in der Lage gewesen sei und es dem streitgegenständlichen Vergabeverfahren an der „Ausschreibungsreife fehle". Eine Rüge hinsichtlich der Erfüllbarkeit der Leistungsanforderungen durch andere Unternehmen wäre keine „Rüge ins Blaue" gewesen. Die Antragstellerin stelle in ihrem Nachprüfungsantrag substantiiert dar, weshalb die Beigeladene ihrer Auffassung nach die Leistungsanforderungen nicht erfüllen könne und deren Angebot nicht den Zuschlag erhalten dürfe - nämlich weil nach ihrem eigenen Vortrag mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur die Beigeladene, sondern überhaupt kein anderes Unternehmen die Anforderungen erfüllen könne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_140">140</a></dt>
<dd><p>Ohne Erfolg mache die Antragstellerin geltend, der Umstand, dass ausschließlich sie selbst zur (vermeintlich) geforderten Errichtung der Schnittstelle und somit zur Erfüllung der Leistungsanforderungen in der Lage sei beziehungsweise dass dem Vergabeverfahren die Ausschreibungsreife fehle, erfordere „eine rechtliche Würdigung, die vergaberechtliches Fachwissen voraussetzt", das „bei einem fachkundigen Bieter wie der Antragstellerin nicht vorhanden ist". Denn die vermeintliche Unmöglichkeit der Angebotsabgabe durch andere Unternehmen betreffe einen technischen Sachverhalt und erfordere kein vergaberechtliches Fachwissen. Die Antragstellerin sei wie jedes Unternehmen, das sich an einem EU-weiten Vergabeverfahren beteilige, rechtlich verpflichtet, die Vergabeunterlagen sorgfältig zu lesen; sie müsse sich im Rahmen der Erstellung ihres Angebots auch denknotwendig mit den Vergabeunterlagen auseinandergesetzt haben. Es erscheine als lebensfremd anzunehmen, die Antragstellerin könnte ihr Angebot erstellt haben, ohne darauf aufmerksam geworden zu sein, dass - ihrem Vortrag zufolge - kein anderes Unternehmen die (vermeintlich) geforderte Vernetzung zwischen der I. Mitte und der I. Süd realisieren könne, zumal sie der Bestandsauftragnehmer der Partnerleitstelle in K. sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_141">141</a></dt>
<dd><p>Hiergegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer sofortigen Beschwerde und im Wesentlichen dem folgenden Vorbringen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_142">142</a></dt>
<dd><p>I. Eine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB liege nicht vor. Eine Verpflichtung zur Rüge einer mangelhaften Leistungsbeschreibung habe nicht bestanden. In einem Vergabenachprüfungsverfahren stellten Unternehmen Sachverhalte zur Prüfung, die Vergaberechtsverstöße beträfen, die die Rechtsstellung des jeweiligen Unternehmens in einem Vergabeverfahren verschlechterten. Wesensmerkmal eines rügefähigen Rechtsverstoßes sei dessen Auswirkung auf die Zuschlagschancen des Antragstellers, andernfalls würde es an der Antragsbefugnis fehlen. Es gebe keine Verpflichtung für Teilnehmer an Vergabeverfahren, eine Leistungsbeschreibung auf Unvollständigkeit und Fehler zu überprüfen und den Auftraggeber darauf hinzuweisen. Ein Bieter habe eine Leistungsbeschreibung nur daraufhin zu überprüfen, ob ihm eine Angebotserstellung ermöglicht werde. Sie könne die technische Leistungsbeschreibung, insbesondere die vollständige Vernetzung erfüllen, sie habe eine mit dem FNAS in K. kompatible Technik angeboten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_143">143</a></dt>
<dd><p>Es habe daher für sie keine Notwendigkeit bestanden, den Inhalt der Leistungsbeschreibung oder die Wahl der Verfahrensart zu rügen, zumal es einen Lizenznehmer gebe, die die im Teilnahmewettbewerb geforderten Referenzen vorlegen und ein MECC anbieten könnten. Ihre Lizenznehmerin, die ein entsprechendes Projekt bereits umgesetzt habe, verfüge über entsprechende Rechte und sei in technischer Hinsicht in der Lage, ein solches System zu installieren und mit dem System der I. Mitte zu verknüpfen. Ihr sei nicht bekannt, ob ihre Lizenznehmerin einen Teilnahmeantrag gestellt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_144">144</a></dt>
<dd><p>Sie habe deshalb davon ausgehen dürfen, sich in einem Wettbewerb mit einem Unternehmen zu befinden, aber nicht davon ausgegangen, sich im Wettbewerb mit Unternehmen zu befinden, die andere Systeme anböten. Hätte sie dies gewusst, hätte sie ihr Angebot wirtschaftlich nochmals optimiert. Hiernach habe weder in der Wahl der Verfahrensart noch in der Abfassung der technischen Leistungsbeschreibung bezogen auf die Anforderung an die Vernetzung ein Vergabeverstoß vorgelegen, der geeignet gewesen wäre, sie in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB zu verletzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_145">145</a></dt>
<dd><p>Für sie sei ein Vergabeverstoß des Antragsgegners durch eine unzureichende Klärung der Umsetzbarkeit des Beschaffungsvorganges im Hinblick auf die beabsichtigte vollständige Vernetzung mit der Redundanzleitstelle, die mangelnde Ausschreibungsreife nicht erkennbar gewesen. Sie sei bei Erstellung des Angebots davon ausgegangen, dass ein für die Vernetzung mit der I. Mitte kompatibles System anzubieten sei. Ihr sei nicht bekannt gewesen, ob und in welchem Umfang der Antragsgegner Markterkundungen hinsichtlich der Kompatibilitätsanforderung durchgeführt habe, auch der Inhalt der Absichtserklärung mit der Stadt K. sei ihr nicht bekannt gewesen. Sie habe mithin bereits nicht die erforderliche Tatsachenkenntnis gehabt. Jedenfalls hätte sie in rechtlicher Hinsicht nicht erkennen können, dass eine fehlende Ausschreibungs- oder Vergabereife vorgelegen habe. Erkennbar seien solche Vergabeverstöße, die sich auf eine allgemeine Überzeugung der Vergabepraxis gründeten und bei einer Durchsicht der Vergabeunterlagen als auftragsbezogene Regelverstöße laienhaft ohne Anwendung juristischen Sachverstands ins Auge fielen. Die Begriffe „Vergabereife“ oder „Ausschreibungsreife“ fänden sich weder im vierten Teil des GWB noch in der VgV und seien hinsichtlich ihrer Anforderungen auch in der Rechtsprechung umstritten. Zwar sei allen am Markt tätigen größeren Unternehmen bekannt, dass es eine solche Vernetzung unterschiedlicher Systeme bisher noch nicht gegeben habe. Für sie, die keine Kenntnis zu Identität und Zahl der Bieter gehabt habe, wäre es - unterstellt sie hätte die Rechtskenntnis, die Problematik rechtlich einordnen zu können - eine Rüge ins Blaue hinein gewesen, den Ausschluss von Bietern zu fordern, die kein MECC anböten. Die bloße Vermutung, dass solche Angebote abgegeben und nicht ausgeschlossen würden, löse eine Rügeobliegenheit nicht aus; Bieter müssten nicht auf Vorrat rügen, dürften die Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers abwarten. Im Übrigen sei ihr erst durch die Akteneinsicht im Nachprüfungsverfahren bekannt geworden, dass der Antragsgegner die technischen Voraussetzungen für die für einen Redundanzbetrieb erforderliche Vernetzung nicht untersucht und die durch die drei Fachplaner aufgezeigten technischen und wirtschaftlichen Probleme nicht erkannt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_146">146</a></dt>
<dd><p>II. Der Nachprüfungsantrag sei begründet. Nach dem objektiven Empfängerhorizont eines fachkundigen Bieters sei der zukünftige Auftragnehmer verpflichtet, die Kompatibilität mit dem FNAS der I. Mitte eingesetzten FNAS herzustellen und für das eigene FNAS die geforderten Funktionen auch bei der Nutzung der Telefonanlage und weiterer Ressourcen der I. Mitte in K. sicherzustellen. Entsprechende Leistungen habe die Beigeladene nicht angeboten. Ihr Angebot sei deshalb auszuschließen. Wäre das Verständnis der Leistungsbeschreibung nicht eindeutig und könnte deshalb das Angebot der Beigeladenen nicht ausgeschlossen werden, läge zum einen eine intransparente Leistungsbeschreibung vor. Zum anderen würde es aufgrund der ungeklärten Voraussetzung (aus Sicht des Beschwerdeführers) bzw. der technischen Unmöglichkeit bei einem fortgesetzten Einsatz des MECC in der I. Mitte (Auffassung der Beschwerdeführerin) an der notwendigen Vergabe- bzw. Ausschreibungsreife fehlen. Im Einzelnen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_147">147</a></dt>
<dd><p>Das Angebot der Beigeladenen sei nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV in Verbindung mit Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung zwingend auszuschließen; es weiche von den Vorgaben der Leistungsbeschreibung ab. Nach 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung seien alle in der Leistungsbeschreibung bzw. dem Leistungsverzeichnis aufgeführten technischen Beschreibungen als technische Mindestanforderungen zu verstehen. Würden Mindestanforderungen nicht erfüllt, führe dies zum Ausschluss des Angebotes. Aus Ziffer 1.2 der technischen Leistungsbeschreibung ergebe sich, dass Gegenstand der Ausschreibung und damit auch des Vertrages die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für den georedundanten Redundanzstandort in der I. K. in 2023 (Bauabschnitt 2) und für den Neubau der I. Süd seien. Hiernach gehörten die Schnittstellen der FNAS zueinander und die Schnittstellen der FNAS mit dem ELS (Einsatzleitsystem), mithin die vollständige Vernetzung der FNAS der I. Süd und I. Mitte, zum Leistungsumfang des Auftrages. Die in Ziffer 10 beispielhaft genannten Anforderungen seien von dem Bieter zwingend umzusetzen, wie der jeweiligen Formulierung „soll“ entnommen werden könne. Das folge auch - „erforderliche Vernetzung“ - aus der Beantwortung von Bieterfrage 16. Um die geschuldete Leistung, eine Vernetzung der FNAS entsprechend den Anforderungsbeispielen nach Ziffer 10 erbringen zu können, bedürfe es für die I. Süd des Einsatzes eines mit dem MECC der I. Mitte kompatiblen Systems. Ein kompatibles Fremdsystem gebe es nicht, weshalb es des Einsatzes eines MECC bedürfe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_148">148</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene habe in ihrer Antragserwiderung vom 29. April 2022 eingeräumt, hierzu nicht in der Lage zu sein, indem sie erklärt habe, dass es jedenfalls der Herstellung einer Schnittstelle zwischen den beiden FNAS bedürfe und eine solche Schnittstelle programmiert werden müsse. Nach dem Verständnis der Beigeladenen sei dies jedoch nicht Aufgabe des künftigen Auftragnehmers; Antragsgegner und Vergabekammer hätten sich ebenfalls auf diesen Standpunkt gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_149">149</a></dt>
<dd><p>Dies sei unzutreffend. Die in Ziffer 10 angesprochenen noch zu beschaffenen redundanten Vernetzungen der neuen Leitstellentechniken, die nicht Bestandteil der Ausschreibung seien, beträfen nicht die Vernetzung der FNAS, sondern die vollständige Vernetzung des landesweit einheitlichen neuen Einsatzleitsystems (ELS) und weitere Leitstellentechniken (digitale Alarmierung). Diese in einem separaten Projekt zu verwirklichenden Anforderungen seien völlig unabhängig von der in Ziffer 10 ausdrücklich für das Funk- und Notrufabfragesystem geforderten Vernetzung. Diese Verbindungen beträfen die physikalischen Verbindungen, also Kabel, Leitungen und Anschlüsse, was aus den in Bezug genommenen Anlagen 1 - 4 des IT-Konzepts folge.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_150">150</a></dt>
<dd><p>Auch spreche die Antwort auf die Bieterfrage 43 zu der Frage der anzubietenden Arbeitsplätze im Sinne abgesetzter Einsatzarbeitsplätze in den Räumen der I. Mitte nicht gegen die Annahme einer vollständigen Vernetzung als Leistungssoll. Sie nehme Bezug auf den 2. Absatz von Ziffer 10.1 der technischen Leistungsbeschreibung und betreffe die BOS-Digitalfunkrückfallebene FRT. Die Antwort, dass in den Räumen der I. Mitte keine Einsatzleitplätze einzurichten seien, beruhe darauf, dass die Aufgaben der I. Süd von den Arbeitsplätzen der I. Mitte wahrgenommen werden solle, weshalb es ja gerade der vollständigen Vernetzung auf der Ebene der FNAS bedürfe. Der Umstand, dass im 3. Bauabschnitt in der I. Süd drei Einsatzplätze für die I. Mitte eingerichtet werden sollen, beruhe darauf, dass die I. Süd über weniger Arbeitsplätze als die I. Mitte verfügte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_151">151</a></dt>
<dd><p>Das Funk- und Notrufabfragesystem habe nicht nur die Aufgabe einer „Telefonanlage“, eingehende Notrufe an die Leitstellendisponenten weiterzuleiten. Über das Funk-Notrufabfragesystem erfolge die gesamte sprachliche Kommunikation der Einsatzleitstelle mit den Anrufern einerseits und den Einsatzkräften andererseits. In den FNAS werde diese Kommunikation dokumentiere (Telefonat, Aufzeichnung der Anruf usw.). Das FNAS vereine die Gewerke Telefonie (Anbindung von diversen Leitungen wie 112, 19222, Amt, TK-Kopplungen, etc.), Funktechnik, beweissichere Langzeitdokumentationsanlage inkl. Kurzzeitdokumentation, Haustechniksteuerung, Wachalarm. Es manage sämtliche Sprachwege und dokumentiert diese. Eine Drahtanbindung an den Digitalfunk sei nur durch zertifizierte Geräte erlaubt. Das FNAS habe eine eigene vom Einsatzleitsystem unterschiedliche Bedienoberfläche. Auf dieser Bedienoberfläche würden u. a. die Belegung und die Auslastung der Arbeitsplätze der Leitstellen dargestellt. Zur Vermeidung von Fehlern und von Zeitverlusten sei eine der wesentlichen Vorgaben der Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung, dass die Bedienoberflächen beider FNAS funktional und optisch an allen Einsatzleitplätzen gleich vorzuhalten seien. Diese Anforderung der funktional gleichen Bedienung verlange Eingriffe und die Anpassung der Quellcodes der FNAS-Software, wenn diese funktionale Anforderung unterschiedlicher Systeme erfüllt werden solle. Die fehlerfreie Anwendung setze eine intensive Schulung voraus. In der Ausschreibung sei für die Bedienung des FNAS ein hoher Umfang an Schulungen (alleine 16 Tage für den Bauabschnitt 1) vorgesehen, damit sich die Disponenten gut einarbeiten könnten. Ein Wechsel zu einem anderen FNAS, besonders in einer kritischen Lage (Massenanfall von Verletzten) würde kein Leitstellenleiter zulassen, da die benötigten Routinen nicht vorhanden seien und auch nicht erprobt werden könnten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_152">152</a></dt>
<dd><p>Weitere Voraussetzung für die Vernetzung der FNAS unterhalb der Bedienoberfläche sei der „Überlauf“ von Notrufen. Es solle sichergestellt werden, dass eine Leitstelle anderen bei der Abarbeitung der Notrufe aushelfe, wenn diese aus Kompatibilitätsgründen oder technischen Schwierigkeiten nicht in der Lage sei, einen Notruf aus ihrem Einsatzgebiet zu bearbeiten. Auch die Realisierung eines solchen Überlaufs bedürfe einer physikalischen und funktionalen Vernetzung, zu der die Hersteller unterschiedlicher FNAS-Systemen ihre technischen Lösungen und Rechte (als Unternehmensgeheimnisse) gegenüber dem anderen Hersteller offenlegen müssten, um zu einer gemeinsamen technischen Lösung zu kommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_153">153</a></dt>
<dd><p>Eine universelle Schnittstelle, die einen solchen Datenaustausch, der sowohl Metadaten (Text) als auch digitale Sprachdaten umfasse, gebe es nicht, wie etwa der Stellungnahme der C. mbH vom 26. April 2022 (S. 2, Anlage Ast. 9) entnommen werden könne. Bei dem ihr von dem Landkreis V. erteilten Auftrag handele es sich nicht um eine Vernetzung von FNAS im Sinne der hiesigen Leistungsbeschreibung, insbesondere der Anforderungen nach Ziffer 10 der Leistungsbeschreibung. Der Auftrag an sie betreffe nur die Vernetzung von Telekommunikationsanlagen, also Telefonanlagen - ihre Mitwirkung auf der Seite des Landkreises V., während auf Seiten des Landkreises D. das dort die Telefonanlage supportende Unternehmen mitzuwirken habe - und nicht die Vernetzung von FNAS. Es gehe ausschließlich um die Weiterleitung von Anrufen von einer Anlage an die andere. Die Leistung entspreche dem im letzten Spiegelstrich von Ziffer 10 angesprochenen Unterpunkt „Weiterleitung von Notrufen mit Drängelton“. Es gehe weder um funktional und optisch identische Bedienflächen noch um Dokumentation oder Schnittstellen zu anderen technischen Anlagen der Leitstelle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_154">154</a></dt>
<dd><p>Die Ausführungen auf S. 56 der technischen Leistungsbeschreibung bezogen auf andere Leitstellentechniken, Digitalfunk Gateways und Remote-Devices beträfen nicht die Anforderungen an die vollständige Vernetzung. Auch die auf S. 56 unten erwähnten „noch zu beschaffende redundante Vernetzungen“ beträfen nicht die funktionalen Anforderungen an die Vernetzung. Die redundanten Vernetzungen seien im IT-Konzept in Abschnitt 5 beschrieben und in den Anhängen 1 bis 4 dargestellt. Es gehe hier um die Technik, Hardware und IT-Umgebungen auf unterschiedlichen Ebenen, insbesondere Server.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_155">155</a></dt>
<dd><p>Der von dem Beschwerdegegner und der Beigeladenen als Beleg dafür, dass allenfalls eine Mitwirkung an einer Vernetzung in Form einer Dienstleistung geschuldet werde, herangezogene Absatz (Seite 56 unten) relativiere die Anforderungen an die vollständige Vernetzung, insbesondere durch Herstellung einer funktional sowie optisch an allen Einsatzplätzen gleich vorzuhaltenden Bedienoberfläche in der I. Süd und der I. Mitte nicht. Dieser Absatz besage lediglich, dass es für die Vernetzung auch des zu errichtenden FNAS einer Abstimmung mit der „Partnerleitstelle“ bedürfe, insbesondere die Details der Schnittstellen betreffend. Nicht ausgeschlossen vom Leistungsumfang würden die notwendigen Leistungen zur Programmierung einer solchen Schnittstelle das eigene System betreffend bzw. die Herstellung einer Kompatibilität des eigenen Systems, insbesondere der eigenen Software zur Nutzung einer von einem Dritten programmierten Schnittstelle. Durch diesen Absatz werde lediglich klargestellt, dass der Auftragnehmer nicht zusätzlich noch für die Änderung von Techniken in der Partnerleitstelle I. Mitte in K. verantwortlich sei, wobei es sich um eine Selbstverständlichkeit handele.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_156">156</a></dt>
<dd><p>Unzutreffend habe die Vergabekammer die Auffassung vertreten, dass der Wortlaut der Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung nicht dahingehend zu verstehen sei, dass sich die I. Süd an die bereits bestehenden Begebenheiten der I. Mitte anpassen müsse; dort werde nur geregelt, dass an beiden Standorten gleiche Bedingungen herrschen müssten. Auf Ziffer 10.1 die Redundanztechnik in der Partnerleitstelle betreffend könne sich die Vergabekammer mit Recht nicht beziehen, denn dort gehe es nicht um die softwareseitigen Voraussetzungen für die Vernetzung, sondern um Technik.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_157">157</a></dt>
<dd><p>Wenn sich die technische Leistungsbeschreibung objektiv auch dahingehend interpretieren ließe, dass von dem zukünftigen Auftragnehmer tatsächlich nur eine Bereitstellung seines Funk- und Notrufabfragesystems im Informationsaustausch mit der I. Mitte und eine Mitwirkung an einer Nutzung noch von der I. Mitte oder wem auch immer zu entwickelnden Schnittstelle zum MECC in der I. Mitte geschuldet sei, wäre die Ausschreibung in einer Weise mehrdeutig, dass auf ihrer Grundlage keine vergleichbaren Angebote abgegeben werden könnten. Mit dem Wissen, dass nach dem Vertrag von dem Auftragnehmer keine Verpflichtung eingegangen werde, das eigene FNAS mit dem vorhandenen oder einem neuen System der I. Mitte kompatibel zu machen, hätte die Beschwerdeführerin ihr Angebot anders kalkuliert. Einerseits hätte sie davon ausgehen müssen, dass sich die Beigeladene und andere Unternehmen mit Zuschlagschance auf den Auftrag hätten bewerben können. Dies hätte zu einer Preisoptimierung geführt. Andererseits hätte sie ihre eigene Schnittstellenkonzeption auch dahingehend optimieren können, dass von ihr kalkulierte Leistungen nicht für den Beschwerdegegner, sondern als Servicepartner der Stadt K. erbracht werden würden. Auf Grundlage einer solchen intransparenten Leistungsbeschaffung könne ein Zuschlag nicht erteilt werden. Das Vergabeverfahren müsste in den Stand vor Übermittlung der Vergabeunterlagen an die ausgewählten Teilnehmer zurückversetzt werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_158">158</a></dt>
<dd><p>Die Stadt K. habe in ihrem Schreiben vom 6. Juni 2022 (Anlage BF 2 zum Schriftsatz vom 9. Juni 2022) bestätigt, dass zwischen ihr und dem Antragsgegner bereits festgelegt worden sei, welche technischen Voraussetzungen von den Leitstellen für eine vollständige Vernetzung der FNAS geschaffen werden müssten. In dem Schreiben heiße es u.a.:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_159">159</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„Es gab verschiedene Abstimmung mit dem Kreis S., um das Ziel einer vollumfänglichen Vernetzung und Redundanz der beiden Leitstellen in Bezug auf das Funk- und Notrufabfragesystem zu erreichen. Dies soll u.a. die Vorhaltung gleicher Bedienoberflächen und Funktionsumfänge in der Bedienung umfassen ... Die redundante Vernetzung soll auf der Grundlage des in K. eingesetzten MECC erfolgen, und für alle technischen, operativen und bedienerbezogenen Funktionen gelten. Neben dem „Überlauf“ von Anrufen soll in letzter Eskalationsstufe der vollumfängliche Betrieb einer der beiden Leitstellen am Standort der Partnerleitstellen ohne umfangreiche technische Maßnahmen und gesonderte Disponentenschulungen möglich sein. Aufgrund der auszuführenden Tätigkeiten (Disponierung von Notrufen) sind Routinen in den Handlungsfeldern der Disponenten unumgänglich. Aus diesem Grunde ist eine identische Bedienung der Systeme von hoher Wichtigkeit...</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_160">160</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>... Die Stadt K. hat den MECC (Sinus NT) 2018 mit einer Vertrags- bzw. Abschreibungslaufzeit von 10 Jahren beschafft. Eine vorgezogene Neubeschaffung bzw. der Wechsel auf ein anderes System ist nach heutigem Stand wieder strategisch noch haushälterisch geplant ...“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_161">161</a></dt>
<dd><p>Im Übrigen mangele es an der erforderlichen Ausschreibungsreife. Diese sei nur gegeben, wenn die Vergabeunterlagen dahin auszulegen seien, dass eine vollständige Vernetzung der FNAS vom künftigen Auftragnehmer gefordert werde. Einen solchen Auftrag erfüllen könnten nur Bieter, die auch das MECC angeboten haben und in der Lage seien, dieses MECC mit dem MECC in K. zu vernetzen. Das Angebot der Beigeladenen, die das FNAS ASGARD angeboten hat, wäre auszuschließen. Werde keine vollständige Vernetzung der FNAS verlangt, würde es an der erforderlichen Ausschreibungsreife fehlen. Die Vergabekammer vertrete zu Unrecht die Auffassung, dass zwischen Auftragsvergabe an die Beigeladene und dem Beginn des Bauabschnitts 2 noch genügend Zeit zur Verfügung stünde, um mit der Stadt K. die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Vernetzung zu klären. Die Vergabekammer verkenne auch, dass der an die Beigeladene vergebene Auftrag geändert werden müsste. Der Auftragsumfang müsste erweitert werden. Dies wäre vergaberechtlich unzulässig, § 132 Abs. 1 und 2 GWB. Der Auftrag müsste gemäß § 133 GWB gekündigt und neu ausgeschrieben werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_162">162</a></dt>
<dd><p>Ihr Angebot sei nicht auszuschließen. Ihr Ausschluss könne nicht mit einem Verstoß gegen die Verschwiegenheitsverpflichtung begründet werden. Sie habe gegen diese nicht verstoßen, da sie die Weitergabe von Informationen zum Zweck der Teilnahme an dem Vergabeverfahren nicht verbiete. Die Vereinbarung sei überdies unwirksam. Ein derartiges Verbot sei auch am Maßstab von Art. 53 Abs. 1 u. Abs. 1 Satz 1 RL 2014/24/ EU vergaberechtswidrig, die vollständigen Vergabeunterlagen seien auch in einem zweistufigen Vergabeverfahren bekannt zu machen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_163">163</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin beantragt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_164">164</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">(1) Der Beschluss der Vergabekammer Schleswig-Holstein vom 24.05.2022, Az. VK-SH 01/22 wird abgeändert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_165">165</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">(2) Die Wertung der Angebote in dem Vergabeverfahren wird unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Vergabesenats wiederholt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_166">166</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">(3) <span style="text-decoration:underline">Hilfsweise:</span> Das Vergabeverfahren wird bei vorstehender Beschaffungsabsicht in den Stand vor Bereitstellung der Vergabeunterlagen zurückversetzt. Der Beschwerdegegner wird verpflichtet, die Leistungsbeschreibung unter Berücksichtigung der Hinweise der Rechtsauffassung des Vergabesenats zu überarbeiten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_167">167</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">(4) Der Beschwerdegegner trägt die Kosten des Vergabeverfahrens und des Verfahrens der sofortigen Beschwerde. Es wird festgestellt, dass die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Beschwerdeführerin im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_168">168</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_169">169</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. die sofortige Beschwerde vom 03.06.2022 als unbegründet zurückzuweisen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_170">170</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. der Beschwerdeführerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer aufzuerlegen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_171">171</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3. festzustellen, dass die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdegegners zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung vor der Vergabekammer und dem Vergabesenat notwendig war,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_172">172</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">4. der Beschwerdeführerin aufzuerlegen, dass sie alle zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdegegners im Beschwerdeverfahren und in dem Verfahren vor der Vergabekammer zu tragen hat und ihre eigenen Kosten selbst trägt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_173">173</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner tritt dem Beschwerdevorbringen entgegen und führt im Wesentlichen aus:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_174">174</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin sei bei Einreichung ihres Angebots nicht davon ausgegangen, dass sie sich in einem Wettbewerb befinde, denn sie behaupte in ihrem Rügeschreiben vom 30. März 2022, dass ohne ihre Mitwirkung die erforderliche Schnittstelle zur vollständigen Vernetzung der FNAS nicht hergestellt werden könne. Sie sei mit ihrem Vorbringen daher nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_175">175</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene sei nicht auszuschließen, Vergabereife liege vor. Es sei nicht Bestandteil der Angebotserstellung gewesen, eine finale oder gar „vollständige“ Vernetzung anzubieten. Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung beschreibe lediglich „Anforderungsbeispiele“ für eine zukünftige, nicht verfahrensgegenständliche Vernetzung. Gefordert sei nur eine Berücksichtigung der Schnittstellenabstimmung, nicht die Schnittstellen selbst (vgl. S. 56 der technischen Leistungsbeschreibung), was durch die Ausführungen auf Seite 55 der technischen Leistungsbeschreibung und die Beantwortung der Bieterfrage 16 noch einmal verdeutlicht worden sei. Die Aufklärung des Antragsgegners bei der Beigeladenen habe ergeben, dass die Leistungsanforderungen zur Vernetzung durch diese realisierbar seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_176">176</a></dt>
<dd><p>Die Vernetzung sei nicht unmöglich, insbesondere seien die Systeme MECC und ASGARD nicht inkompatibel. Die Beigeladene habe bestätigt, dass alle Anforderungsbeispiele der technischen Leistungsbeschreibung (Abschnitt 10, Seite 55) gemeinsam technisch realisiert werden könnten. Auch die übrigen Bieter hätten die Aufgabenstellung so erkannt und verstanden. Die Erstellung von gleichen Bedienoberflächen, die gleiche Anordnung von Buttons zur Annahme des Notrufes, die Anordnungsbelegung von Kurzwahltasten oder der Bedienung des Digitalfunks sei in allen am Markt verfügbaren FNAS-Systemen möglich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_177">177</a></dt>
<dd><p>Vergabereife liege vor, jedenfalls wären die Voraussetzungen des § 132 GWB zu bejahen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_178">178</a></dt>
<dd><p>Das Angebot der Antragstellerin sei wegen Änderung der Vergabeunterlagen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV auszuschließen. Die Antragstellerin habe entgegen der von ihr übernommenen Verschwiegenheitsverpflichtung Daten an Dritte weitergeleitet. Dem Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 20. April 2022 und den dazu gehörigen Anlagen könne entnommen werden, dass diese unbefugt entgegen der abgegebenen Verschwiegenheitserklärung Informationen an am Vergabeverfahren nicht beteiligte Dritte weitergeleitet habe. Das gelte insbesondere für die Angaben in der E-Mail des Herrn He. von der C. mbH (Anlage AST 9); dort seien Teile der technischen Leistungsbeschreibung, mithin vertrauliche Informationen, enthalten. Durch die Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung liege kein zuschlagsfähiges Angebot der Antragstellerin mehr vor, weil das Angebot infolge der Weitergabe von vertraulichen Unterlagen an zwei nicht am Verfahren beteiligte Planungsbüros von den Vertraulichkeitsvorgaben abweiche. Dieses Verhalten berechtigte ferner zum Ausschluss der Antragstellerin wegen nicht zweifelsfreier Erklärungen nach § 57 Abs. 1 Nr. 5 VgV. Die Antragstellerin sei auch nach § 124 Abs. 1 Nr. 9 c GWB vom Verfahren auszuschließen, weil sie - durch Abgabe der später verletzten Verschwiegenheitserklärung - irreführende Informationen übermittelt habe, die die Vergabeentscheidung des Auftraggebers beeinflussen könnten. Die Antragstellerin sei auch nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB auszuschließen, da sie - durch die Weiterleitung von geheimhaltungsbedürftigen Angaben - eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit begangen habe und ihre Integrität deshalb in Frage zu stellen sei. Ferner sei die Antragstellerin nach § 124 GWB auszuschließen wegen wettbewerbswidriger Absprachen und einer Verletzung des Geheimwettbewerbes im Hinblick auf ihre Zusammenarbeit mit dem von der Antragsgegnerin ausgeschlossenen Bieter, der ebenfalls ein MECC der Antragstellerin angeboten hätte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_179">179</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_180">180</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die sofortige Beschwerde der Antragstellerin als unbegründet zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_181">181</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene tritt den Angriffen der sofortigen Beschwerde gegen die Entscheidung der Vergabekammer entgegen. Der Nachprüfungsantrag sei unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Insbesondere sei eine Vernetzung des MECC der Antragstellerin mit anderen Kommunikationssystemen technisch möglich, wie sich aus der kürzlich von dem Landkreis V. der Antragstellerin beauftragten Vernetzung der TK-Anlagen MECC in V. und EmC2 in D. zeige (vergleiche UVgO Bekanntmachung vom 7. Juni 2022, Anlage Bg1, Bl. 161 f. der Akte 54 Verg 2/22).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_182">182</a></dt>
<dd><p>Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten im Beschwerdeverfahren wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Der Senat hat die Sache am 8. September 2022 (Protokoll Bl. 138 f. der Akte) unter Anhörung der Parteien - für den Antragsgegner dessen Planer P. - verhandelt. Der Inhalt des nicht nachgelassenen Schriftsatzes des Antragsgegners vom 13. September 2022 bot keine Veranlassung dazu, entsprechend § 156 ZPO erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_183">183</a></dt>
<dd><p>Die zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 3. Juni 2022 gegen den Beschluss der Vergabekammer Schleswig-Holstein vom 24. Mai 2022 ist begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_184">184</a></dt>
<dd><p>Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist nach § 172 Abs. 1 - 3 GWB zulässig, sie ist insbesondere innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses bei dem Vergabesenat erhoben, rechtzeitig begründet und durch einen Rechtsanwalt unterzeichnet worden. Die sofortige Beschwerde ist begründet, denn der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig (A) und begründet (B).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_185">185</a></dt>
<dd><p>A. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig. Der Rechtsweg zu den Nachprüfungsinstanzen nach den §§ 102 ff. GWB ist eröffnet. Der Wert für den ausgeschriebenen Lieferauftrag liegt über dem in dem Jahr 2021 geltenden Schwellenwert von € 214.000,00 nach § 106 Abs. 1, 2 GWB in Verbindung Art. 4 c der Richtlinie 2014/24/EU in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung. Es handelt sich um die Vergabe eines Auftrages durch einen öffentlichen Auftraggeber gemäß § 99 Nr. 1 GWB, eine Gebietskörperschaft.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_186">186</a></dt>
<dd><p>Insbesondere liegt die Antragsbefugnis der Antragstellerin nach § 160 Abs. 2 GWB vor (1). Die Rügen sind nicht nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert (2)<strong>.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_187">187</a></dt>
<dd><p>1) Die Antragstellerin ist antragsbefugt. Nach § 160 Abs. 2 GWB hat der Antragsteller bei der Stellung des Nachprüfungsantrages darzulegen, dass er in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften verletzt ist und ihm dadurch ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Erforderlich ist, dass ein Unternehmen mit Interesse am Auftrag eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB schlüssig aufzeigt (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2017 - X ZB 10/16, Rn. 12). Das ist hier bei der Antragstellerin, die zweitbeste Bieterin ist und den Ausschluss der Beigeladenen als Zuschlagsprätendentin, jedenfalls eine Rückversetzung des Verfahrens vor die Aufforderung zur Angebotsabgabe erstrebt, der Fall.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_188">188</a></dt>
<dd><p>Die Antragsbefugnis der Antragstellerin kann auch im Hinblick auf die von der Antragstellerin in zweiter Linie geltend gemachte Verletzung des Transparenzgrundsatzes nicht verneint werden. Denn auch insoweit hat die Antragstellerin ihr einen drohenden Schaden schlüssig dargelegt mit dem Vorbringen, sie hätte - wäre von dem Antragsgegner mit der Ausschreibung entgegen ihrem Verständnis eine Vernetzung der FNAS nicht verlangt worden - ein wirtschaftlicheres Angebot unterbreitet. Tatsächlich liegt das Angebot der Antragstellerin in der Summe zum Titel 05.07 „Redundanztechnik Dienstleistungen“ preislich höher als das Angebot der Beigeladenen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_189">189</a></dt>
<dd><p>Ein der Antragstellerin nach § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB drohender Schaden kann auch nicht mit der Begründung verneinen werden, dass die Antragstellerin angesichts der Weitergabe von Einzelheiten der technischen Leistungsbeschreibung und des Leistungsverzeichnisses zum FNAS an von ihr mit der Fertigung von Stellungnahmen für das Nachprüfungsverfahren beauftragte Beratungsunternehmen wegen einer Verletzung ihrer Pflicht zur Vertraulichkeit aus der von ihr unter dem 26. November 2021 unterzeichneten Verschwiegenheitserklärung (Anlage AG 03; dort Ziffer 2 f.:<em>„... Vertraulichen Informationen vertraulich zu behandeln und nicht gegenüber Dritten offenzulegen oder ihnen anderweitig zugänglich zu machen ...“</em>) oder aus sonstigen Gründen von dem Antragsgegner nach § 124 GWB aus dem Vergabeverfahren auszuschließen oder ihr Angebot nach § 57 Nr. 4 VgV wegen eines unzulässigen Abweichens von Vergabeunterlagen von der Wertung auszuschließen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_190">190</a></dt>
<dd><p>Die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Antragstellerin nach § 124 GWB bzw. ihres Angebots von der Wertung nach § 57 Nr. 4 VgV liegen nicht vor. Insbesondere gilt dies im Hinblick auf die Weitergabe von Informationen aus dem Vergabeverfahren durch die Antragstellerin an die Ingenieurbüros, deren Stellungnahmen zur Vernetzbarkeit der FNAS die Antragstellerin im Vergabeverfahren vorgelegt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_191">191</a></dt>
<dd><p>Die Verschwiegenheitserklärung konnte entsprechende Verpflichtungen der Bieter nicht begründen. Denn die dort enthaltenen Vertraulichkeitsvereinbarung ist nach § 307 Abs. 1, 2 Nr. 2 BGB unwirksam. Der Senat ist auch im Vergabenachprüfungsverfahren gehalten, die Wirksamkeit der Verschwiegenheitsvereinbarung am Maßstab von § 307 BGB zu prüfen. Denn die Wirksamkeit der Klausel ist eine zivilrechtliche Vorfrage für die vergaberechtliche Prüfung eines Ausschlusses der Antragstellerin nach § 124 GWB. Die in der von der Antragstellerin am 26. November 2021 unterzeichneten Verschwiegenheitserklärung (Anlage AG 03) in den Ziffern 2 ff. vereinbarte Geheimhaltungsverpflichtung der Bieter ist nach § 307 Abs. 1, 2 Nr. 2 BGB wegen unangemessener, gegen Treu und Glauben verstoßender Benachteiligung der Bieter unwirksam, denn sie schränkt wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des abzuschließenden Vertrages ergeben, so ein, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Sowohl bei der Vertraulichkeitsvereinbarung als auch bei Ziffer 14.7 der technischen Leistungsbeschreibung handelt es sich um von dem Antragsgegner gestellten allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB, mithin um für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen. Entgegen der von dem Antragsgegner vertretenen Auffassung handelt es sich bei der von der Antragstellerin unter dem 26. November 2021 unterzeichneten Vertraulichkeitsvereinbarung nicht um eine reine Vergabebedingung, die nicht der AGB-Kontrolle unterliegt. Denn die Verschwiegenheitserklärung ist eine vertragliche Vereinbarung der Parteien, nämlich als selbständiges konstitutive Schuldversprechen gefasst, in dem sich der Bieter nach deren Ziffer 6 gegenüber dem Auftraggeber bei einer Verletzung der Vertraulichkeitsverpflichtung zum Schadensersatz verpflichtet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_192">192</a></dt>
<dd><p>Bei der nach § 305 c Abs. 2 BGB gebotenen Auslegung der Bestimmungen zu Lasten des Verwenders ist davon auszugehen, dass diese die Weitergabe von Informationen aus dem Vergabeverfahren durch die Bieter auch untersagen, wenn diese Weitergabe für die Bieter zur Teilnahme am Verfahren, etwa an Lieferanten und Nachunternehmer, erforderlich oder die Weitergabe an zur beruflichen Verschwiegenheit verpflichtete Berater, etwa Rechtsanwälte, zur Wahrung der Interessen der Bieter geboten ist. Das ist unangemessen. So sieht sogar § 6 Abs. 3 Satz 2 VSvgV für vertrauliche Informationen im Anwendungsbereich der Vergabe von verteidigungs- oder sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen nach den §§ 1 VSVgV in Verbindung mit § 104 Abs. 1 GWB, der hier nicht eröffnet ist, vor, dass Bewerber, Bieter und Auftragnehmer für die Unterauftragsvergabe als vertraulich eingestufte Informationen an Dritte weitergeben dürfen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_193">193</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin war nicht gehalten, die zivilrechtliche Unwirksamkeit der Vertraulichkeitsvereinbarung nach § 160 Abs. 3 GWB zu rügen, um sich hierauf im Verfahren berufen zu dürfen. Denn hierbei handelt es sich nicht um eine der Rügeobliegenheit unterliegende Vergabevorschrift im Sinne des § 160 Abs. 3 GWB, 97 Abs. 6 GWB.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_194">194</a></dt>
<dd><p>Im Übrigen wäre - wenn entgegen der Auffassung des Senats von wirksamen Geheimhaltungsbestimmungen auszugehen wäre - ein Ausschluss der Antragstellerin aus dem Vergabeverfahren nach § 124 GWB wegen der Weitergabe von Einzelheiten von Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis zum FNAS an ihre technischen Berater zur Fertigung von Stellungnahmen zur die Wahrung ihrer Rechte im Nachprüfungs- und Beschwerdeverfahren im Rahmen des hierbei auszuübenden Ermessens nicht geboten. Eine Ermessensreduzierung auf Null läge insoweit nicht vor. Es ist bereits nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich, dass es sich bei den von der Antragstellerin an die sie im Nachprüfungsverfahren beratenden Ingenieure weitergegebenen Informationen aus der technischen Leistungsbeschreibung (Ziffer 10) und des Leistungsverzeichnisses zum FNAS um tatsächlich geheimhaltungsbedürftige Umstände handelt, deren Kenntnis etwa Cyberangriffe auf die Leitstelle begünstigen kann. Im Ausgangspunkt handelt es sich bei Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis um den Marktteilnehmern öffentlich bekannt zu machende Angaben, § 41 Abs. 1 VgV. Einzelheiten zu der Ausstattung I. und den dortigen Prozessen findet sich in Sachsen etwa in dem Rahmenlastenheft der Anlage 3 zu § 18 Abs. 4 der sächsischen Landesrettungsdienstplanverordnung (SächsLRettDPVO). Vielerorts wird - wie sich Auftragsbekanntmachungen in TED entnehmen lässt - die Ausstattung von I. im offenen Verfahren mit freiem Zugang zu Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis ausgeschrieben (vgl. etwa: TED: Deutschland-Freudenstadt: Informationssysteme und Server 2022/S 100-276680 - Beschaffung der IT-Infrastruktur für die Integrierte Leitstelle Freudenstadt sowie Deutschland-Weißenburg: Informationssysteme und Server für die ILS Mittelfranken-Süd, 2021/S 209-546626).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_195">195</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antragsgegner einen Ausschluss der Antragstellerin nach § 124 GWB nunmehr auch wegen „wettbewerbswidriger Absprachen, Verletzung des Geheimwettbewerbs“ mit dem „Drittunternehmen“, das ebenfalls ein MECC der Antragstellerin angeboten hatte und von dem Antragsgegner aus dem Verfahren ausgeschlossen worden ist, geltend macht, wäre dieser auch dann nicht veranlasst, wenn im Verhältnis zwischen dem Drittunternehmen und der Antragstellerin hinsichtlich des FNAS MECC im Rahmen des Angebotes des ausgeschlossenen Drittunternehmens ein Nachunternehmerverhältnis vorgelegen hätte. Nach zutreffender und vom Senat geteilter Auffassung liegt ein Verstoß gegen den Geheimwettbewerb im Sinne von § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB in der Regel nicht vor, wenn sich ein Unternehmen als Einzelbieter und als Nachunternehmer eines konkurrierenden Bieters am Vergabeverfahren beteiligt, nachdem sich der Einsatz als Nachunternehmer regelmäßig auf eine Teilleistung bezieht und keine Kenntnis von dem Angebot des Hauptauftragnehmers vermittelt (vgl. Opitz in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 124, Rn. 72). Anhaltspunkte für eine hiervon abweichende Sachlage bestehen nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_196">196</a></dt>
<dd><p>2) Der Antrag ist nicht nach § 160 Abs. 3 GWB unzulässig; die Antragstellerin ist mit ihren Rügen nicht präkludiert. Nach § 160 Abs. 3 GWB ist der Antrag u.a. dann unzulässig, soweit 1. der Antragsteller den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat, 2. Verstöße gegen Vergabevorschriften, die aufgrund der Bekanntmachung erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden, 3. Verstöße gegen Vergabevorschriften, die erst in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_197">197</a></dt>
<dd><p>Der Rügeobliegenheit unterliegen die vom Auftraggeber im Vergabeverfahren getroffenen Entscheidungen und diejenigen Zwischenentscheidungen, die relevante Festlegungen für später zu treffende Entscheidungen des Auftraggebers enthalten, etwa die Wahl der Vergabeverfahrensart und die Aufstellung von Vergabebedingungen und/oder die Unterlassung der Bekanntgabe notwendiger Kriterien in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen – immer vorausgesetzt, dass in solchen Entscheidungen der jeweilige (im späteren Nachprüfungsantrag geltend gemachte) Vergaberechtsverstoß zum Ausdruck kommt (vgl. Jaeger in: Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, 4. Auflage 2022, § 160 GWB, Rn. 55).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_198">198</a></dt>
<dd><p>Ob (geltend gemachte) Vergabeverstöße nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert sind, ist für jede erhobene Rüge eines Vergabeverstoßes gesondert zu prüfen (OLG Celle, Beschluss vom 31. Juli 2008 - 13 Verg 3/08, juris Rn. 23; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Oktober 2015 - VII-Verg 28/14, juris Rn. 24; Senat, Beschluss vom 22. Januar 2019 – 54 Verg 3/18, juris Rn. 69).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_199">199</a></dt>
<dd><p>Die Erkennbarkeit ist dabei auf die einen Rechtsverstoß begründenden Tatsachen und deren rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstoß zu beziehen. Die Erkennbarkeit des Verstoßes gegen Vergabevorschriften bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf die den Vergabeverstoß begründenden Tatsachen, sondern zudem auf deren rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstöße. Demnach muss auch ein juristischer Laie erkennen können, dass vergaberechtliche Bestimmungen verletzt wurden. Eine Rügepräklusion ist nur möglich bei offensichtlichen Verstößen, die einem verständigen Bieter bei der Vorbereitung seines Angebots bzw. seiner Bewerbung hätten auffallen müssen. Es ist jedoch unerheblich, ob der Antragsteller den Fehler tatsächlich erkannt hat (vgl. Horn/Hofmann in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 160 GWB, Rn. 50). Maßgeblich ist, ob der Verstoß gegen Vergabevorschriften aufgrund der Bekanntmachung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht dem durchschnittlich fachkundigen Bieter bei üblicher Sorgfalt erkennbar war und die Nichtfeststellung dieses Verstoßes insoweit vorwerfbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12. März 2015 - C-538/13 „eVigilo“, Rn. 55, 58 = EuZW 2015, 391, 394).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_200">200</a></dt>
<dd><p>Die Rügeobliegenheit des § 160 Abs. 3 GWB ist nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB, u.a. einer Verletzung in Rechten des Antragstellers durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften nach § 97 Abs. 6 GWB, als weiterer Zulässigkeitsvoraussetzung zu betrachten. Es wäre nicht sinnvoll, eine Rüge in Bezug auf solche Vergabefehler zu verlangen, aus denen sich für den Antragsteller kein Nachteil im Sinne von § 160 Abs. 2 GWB ergibt, da die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags dann spätestens an der Antragsbefugnis scheitern würde. Eine Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 GWB besteht daher nur hinsichtlich solcher Verstöße gegen Vergabevorschriften, aus denen eine Verschlechterung der Zuschlagschance des Antragstellers resultiert. Infolge einer Gesamtschau mit der Regelung zur Antragsbefugnis ergibt sich danach eine Einschränkung der Rügeobliegenheit. (vgl. Horn/Hofman, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 160 GWB, Rn. 66).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_201">201</a></dt>
<dd><p>Diese Voraussetzungen für die Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 GWB liegen für die von der Antragstellerin mit dem Nachprüfungsantrag geltend gemachten Rügen nicht vor. Im Einzelnen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_202">202</a></dt>
<dd><p>a) Nicht nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert ist zunächst die Rüge der Antragstellerin, das Angebot der Beigeladenen hätte nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV ausgeschlossen werden müssen, weil es von den Vorgaben der Leistungsbeschreibung abweiche, die bei deren gebotener Auslegung eine Hardwareredundanz und eine vollständige Vernetzung der FNAS verlange; die Beigeladene habe dies nicht angeboten und könne dies nicht leisten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_203">203</a></dt>
<dd><p>Der Antragstellerin war vor der Mitteilung des Antragsgegners nach § 134 Abs. 1 GWB vom 23. März 2022, auf die innerhalb der Frist des § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB ihre Rüge erfolgte, nicht positiv bekannt und auch nicht im Sinne von § 160 Abs. 3 Nr. 2 und 3 GWB erkennbar, dass der Auftrag an ein Unternehmen erteilt werden sollte, dass als FNAS nicht das MECC der Antragstellerin einsetzen konnte. Auf der Grundlage der gut vertretbaren Auslegung der Vergabeunterlagen durch die Antragstellerin, dass der Auftrag eine vollständige Vernetzung der FNAS der I. Süd und I. Mitte beinhalte (siehe unten B.2.a) und angesichts ihres in der I. Mitte eingesetzten Programms MECC die für den Zuschlag vorgesehene Beigeladene wegen einer Änderung des Angebots auszuschließen sei, kann eine Präklusion ihrer entsprechenden Rüge nach § 160 Abs. 3 GWB nicht angenommen werden. Die Auslegung einer im Leistungssoll stehenden Vernetzung der FNAS durch die Antragstellerin ist durchaus vertretbar; positive Kenntnis von einem gegenteiligen Willen des Antragsgegners hatte die Antragstellerin nicht; eine anderweitig gebotene Auslegung der Leistungsbeschreibung war für die Antragstellerin auch nicht im Sinne von § 160 Abs. 3 GWB erkennbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_204">204</a></dt>
<dd><p>Der Antragstellerin war nicht bekannt, ob sich neben ihr weitere, und ggf. welche Unternehmen an dem Vergabeverfahren beteiligten. Die Beteiligung jedenfalls eines weiteren Unternehmens, dass ein MECC einsetzen und damit eine vollständige Vernetzung der FNAS leisten konnte, war möglich. Denkbar wäre im Übrigen auch, dass sich nach Bekanntgabe der technischen Leistungsbeschreibung (überhaupt) kein weiteres Unternehmen beworben hätte. Die Antragstellerin hat unwiderlegt vorgetragen, dass jedenfalls ein weiteres Unternehmen existiert, das zum Einsatz ihres MECC lizensiert ist. Der Vergabeakte kann entnommen werden, dass sich dieses Unternehmen in dem Teilnahmeverfahren (erster Stufe) unter Angebot des MECC tatsächlich beworben hatte. Im Übrigen obläge es der Antragstellerin nach § 160 Abs. 3 GWB auch dann nicht, eine Leistungsbeschreibung zu beanstanden, wenn diese in dem Teilbereich des FNAS nur von ihr erfüllt werden könnte. Abgesehen davon, dass eine produktspezifische Leistungsbeschreibung unter den engen Voraussetzungen von § 31 Abs. 6 Satz 1 letzter Halbsatz VgV zulässig sein kann, würde ein etwaiger Vergaberechtsverstoß hierdurch nicht - wie für eine Rüge nach § 160 Abs. 3 GWB im Zusammenwirken mit der Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB erforderlich, Bieterrechte der Antragstellerin verletzten, die zur Erbringung der Vernetzung der FNAS ohne weiteres in der Lage ist. Auch die Beschränkung der Zahl der Bieter auf fünf in Ziffer II.2.9) der Auftragsbekanntmachung vom 5. November 2021 führt für die Bieter nicht zu einem erkennbar gegen das Verständnis der ihr in der zweiten Verfahrensstufe unter dem 5. Januar 2022 zur Verfügung gestellten Vergabeunterlagen technische Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis durch die Antragstellerin, dass mehr als fünf Bieter die Leistungsanforderungen der Ausschreibung erfüllen könnten und nach den Vergabeunterlagen ein entsprechender Wettbewerb zu erwarten sei. So kann die Beschränkung routinemäßig ohne Bezug zu Einzelheiten des Leistungsgegenstandes vorgenommen und/oder können die Einzelheiten der Leistungsbeschreibung und des technischen Leistungsverzeichnisses auch erst nach der Auftragsbekanntmachung festgelegt worden sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_205">205</a></dt>
<dd><p>Der Antragstellerin oblag im Rahmen der Verfahrensförderungspflicht nach § 167 Abs. 2 Satz 1 GWB und nach den §§ 241 Abs. 2, 311 Abs.2 Nr. 1 BGB nicht eine Nachfrage- und Hinweispflicht zu ihrer Auslegung der Vergabeunterlagen, auftragsgegenständlich sei auch die softwareseitige Vernetzung der FNAS der I. Süd und der I. Mitte. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Antragsgegner in II.2.9. der Auftragsbekanntmachung angekündigt hatte, höchstens fünf Bewerber zur Angebotsabgabe auffordern zu wollen und das FNAS MECC in der technischen Leistungsbeschreibung nicht erwähnt hatte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_206">206</a></dt>
<dd><p>Die Mitwirkungspflichten des § 167 Abs. 2 GWB betreffen das Verhalten der Beteiligten vor der Vergabekammer im Nachprüfungsverfahren, nicht jedoch ihr Verhalten im Verfahren gegenüber der Vergabestelle. Auch wenn das Risiko einer Unklarheit der Vergabeunterlagen grundsätzlich bei dem Auftraggeber liegt, können sich allerdings aus dem mit der Anforderung der Vergabeunterlagen nach den §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB entstandenen vorvertraglichen Schuldverhältnis Nachfrage- und Hinweispflichten der Bieter bei einer erkennbar unklaren oder lückenhaften Leistungsbeschreibung ergeben (vgl. Lampert in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 121 GWB, Rn. 85 ff. mwN). Eine derartige Verpflichtung der Antragstellerin bestand angesichts der gut vertretbaren Auslegung der Vergabeunterlagen dahingehend durch die Antragstellerin, die Schaffung der Voraussetzungen für eine auch softwareseitige Vernetzung der FNAS sei auftragsgegenständlich, nicht (vgl. hierzu unten B.2.a).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_207">207</a></dt>
<dd><p>b) Auch die weiteren von der Antragstellerin vorsorglich für den Fall, dass wider Erwarten entgegen ihrer Auslegung der Leistungsbeschreibung nicht von einer zum Leistungssoll der Vergabe gehörenden Vernetzung der FNAS auszugehen sei, erhobenen Rügen der Intransparenz der Vergabeunterlagen zu einer geschuldeten Vernetzung der FNAS und einer vorliegenden mangelnden Vergabereife zur Frage der Vernetzung der FNAS sind nicht nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert. Eine Intransparenz der Vergabeunterlagen oder eine mangelnde Vergabereife hat die Antragstellerin weder nach § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB positiv erkannt, noch waren für sie derartige Verstöße gegen ihre Bieterrechte nach § 97 Abs. 6 GWB gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 2 und 3 GWB erkennbar. Wie vorstehend unter a) ausgeführt war für die Antragstellerin eine Unzutreffendheit ihrer Auslegung der Leistungsbeschreibung zu einer geschuldeten Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte nicht im Sinne von § 160 Abs. 3 Nr. 2 und 3 GWB erkennbar; Hinweis- oder Nachfragepflichten der Antragstellerin bestanden auch im Hinblick auf eine Verletzung des Transparenzgebotes nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_208">208</a></dt>
<dd><p>B. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin hat Erfolg und führt wegen einer Verletzung des die Rechte der Antragstellerin als Bieterin schützenden Transparenzgebotes unter Aufhebung der Entscheidung der Vergabekammer vom 24. Mai 2022 zur Rückversetzung des Vergabeverfahrens vor den Zeitpunkt der Aufforderung der Bieter zur Abgabe von Angeboten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_209">209</a></dt>
<dd><p>Ein Nachprüfungsantrag ist nach § 168 Abs. 1 Satz 1 GWB begründet, wenn der Antragsteller in seinen Rechten verletzt ist. Das ist der Fall, wenn nach § 97 Abs. 6 GWB bieterschützende Vorschriften zum Vergabeverfahren von dem Antragsgegner nicht eingehalten worden sind. Die Rechtsverletzung der Antragstellerin ist eine Verletzung in Vergabeverfahrensrechten (vgl. Dreher in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2021, § 168 GWB, Rn. 18 ff.). Diese Voraussetzungen liegen vor, der Antragsgegner hat den bieterschützenden Transparenzgrundsatz verletzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_210">210</a></dt>
<dd><p>Innerhalb des sich aus der Beschwerdeschrift ergebenden Rahmens hat der Vergabesenat nach § 178 GWB dieselben Entscheidungsmöglichkeiten wie die Vergabekammer. Er ist nicht eng an die gestellten Anträge gebunden, sondern kann mit geeigneten Vorgaben auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken. Dem steht die fehlende Verweisung in § 178 GWB auf § 168 Abs. 1 S. 2 GWB nicht entgegen, denn dem Beschwerdegericht können nicht weniger Befugnisse zustehen als dem erstinstanzlichen Entscheidungsträger Vergabekammer. Im Rahmen der erhobenen Rüge prüft der Senat umfassend die Vergaberechtsverstöße. Er ergreift diejenigen Maßnahmen – im Rahmen der erhobenen Rüge(n), aber ohne Bindung an die Anträge –, welche er für geboten hält, um eine begründet geltend gemachte Rechtsverletzung des Antragstellers zu beseitigen und ein rechtskonformes Vorgehen des öffentlichen Auftraggebers bei der im Streit stehenden Beschaffung sicherzustellen. Möglich ist die Anordnung von Maßnahmen, die weniger gravierend in das Vergabeverfahren eingreifen, als dies der Antragsteller anstrebt. Zur Einwirkung auf die Rechtsmäßigkeit des Vergabeverfahrens sind aber auch weitergehende – für den Antragsteller ggf auch nachteilige – Vorgaben möglich (vgl. Vavra/Willner in Burgi/Dreher/Opitz Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 178 GWB, Rn. 7 mwN).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_211">211</a></dt>
<dd><p>Ein von der Antragstellerin erstrebter Ausschluss des Angebots der Beigeladenen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV in Verbindung mit Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung und eine Neuwertung der im Übrigen vorgelegten Angebote durch den Antragsgegner ist hiernach nicht veranlasst. Nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV werden von der Wertung ausgeschlossen Angebote von Unternehmen, bei denen Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen vorgenommen wurden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_212">212</a></dt>
<dd><p>Es kann nicht festgestellt werden, dass mit dem Angebot der Beigeladenen eine derartige Änderung oder Ergänzung an den Vergabeunterlagen vorgenommen wurde. Zwar hat die Beigeladene ausdrücklich erklärt hat, die Schaffung einer Schnittstelle/Vernetzung zu dem FNAS der I. Mitte sei nicht Gegenstand ihres Angebots.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_213">213</a></dt>
<dd><p>Eine Änderung/Ergänzung hierdurch an den Vergabeunterlagen liegt nicht vor. Denn den Vergabeunterlagen kann nach den §§ 133, 157 BGB weder mit der gebotenen Klarheit entnommen werden, dass eine Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte zum Leistungssoll des Auftrages gehört, noch das dies nicht der Fall ist. Die Vergabeunterlagen sind insoweit intransparent. Deshalb ist eine Rückversetzung des Verfahrens in das Stadium vor die Aufforderung an die nach dem Teilnahmeverfahren verbliebenen Bieter zur Abgabe von Angeboten wegen eines Verstoßes des Antragsgegners gegen den Transparenzgrundsatz geboten. Im Einzelnen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_214">214</a></dt>
<dd><p>1) Nach § 97 Abs. 1 GWB werden öffentliche Aufträge und Konzessionen im Wettbewerb und im Wege transparenter Verfahren vergeben; dabei werden die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Der Transparenzgrundsatz ist bieterschützend im Sinne von § 97 Abs. 6 GWB und wird durch vergabeverfahrensrechtliche Regelungen, wie etwa die Ausschreibungspflicht und die gebotene Information der Bieter über die bevorstehende Zuschlagsentscheidung (vgl. § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB) konkretisiert (Ziekow in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, Kommentar, 4. Aufl. 2020, § 97, Rn. 39, 43 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_215">215</a></dt>
<dd><p>Die Vergabestellen trifft hiernach die Pflicht, die Vergabeunterlagen klar und eindeutig zu formulieren und Widersprüchlichkeiten zu vermeiden (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 2012 - X ZR 130/10, Rn. 9). Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens müssen klar, präzise, eindeutig und erschöpfend formuliert werden, so dass zum einen alle mit der üblichen Sorgfalt handelnden Unternehmen die genaue Bedeutung dieser Bedingungen und Modalitäten verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und zum anderen der Auftraggeber tatsächlich überprüfen kann, ob die Teilnahmeanträge oder Angebote die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen (EuGH, Urteil vom 10. Mai 2012 - C-368/10; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. November 2017 - VII-Verg 16/17 = NZBau 2018, 248 f. Rn. 20). Für die Leistungsbeschreibung ergibt sich dies ausdrücklich aus § 121 Abs. 1 Satz 1 GWB und aus § 31 Abs. 1 VgV, wonach der Leistungsgegenstand so eindeutig und erschöpfend wie möglich zu beschreiben ist, so dass die Beschreibung für alle Unternehmen im gleichen Sinne verständlich ist und die Angebote miteinander verglichen werden können. Infolge der übergeordneten Grundsätze des Wettbewerbs, der Transparenz und der Gleichbehandlung aus § 97 Abs. 1 und 2 GWB, die durch § 121 Abs. 1 Satz 1 GWB, § 31 Abs. 1 VgV für einen Teilbereich nur näher ausgeformt werden, gelten die für die Leistungsbeschreibung formulierten Anforderungen für andere Teile der Vergabeunterlagen entsprechend (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - VII-Verg 19/17 = NZBau 2018, 242 f., Rn. 32; Lampert in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 121, Rn. 23). Die Leistungsbeschreibung enthält die Funktions- oder Leistungsanforderungen oder eine Beschreibung der zu lösenden Aufgabe, deren Kenntnis für die Erstellung des Angebots erforderlich ist, sowie die Umstände und Bedingungen der Leistungserbringung. Da der Auftraggeber die nachfragte Leistung einseitig bestimmt und die Leistungsbeschreibung verantwortet, sind Bewerber nicht verpflichtet, im Stadium der Vertragsverhandlungen die Leistungsbeschreibung infrage zu stellen oder Motivforschung zu betreiben. Ein Bieter kann und muss die Leistungsbeschreibung nur daraufhin prüfen,<em> ob sie</em> ihm die Angebotserstellung nach § 121 Abs. 1 S. 2 ermöglicht (Lampert in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 121 GWB, Rn. 85 unter Hinweis auf OLG Koblenz, Beschluss vom 31. März 2010 – 1 U 415/08 = NZBau 2010, 562, 566)<em>.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_216">216</a></dt>
<dd><p>In diesem Sinne nicht mehr eindeutig sind Vergabeunterlagen, wenn fachkundigen Unternehmen auch nach Auslegungsbemühungen mehrere Auslegungsmöglichkeiten verbleiben (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 - X ZR 78/07, Rn. 12) oder das zutreffende Verständnis der Vergabeunterlagen eine besondere Gesamtschau erfordert, die von den Bietern oder Bewerbern im Vergabewettbewerb erfahrungsgemäß nicht geleistet wird oder geleistet werden kann. In diesen Fällen hat der Bieter keine eindeutige Grundlage für die Ausarbeitung seines Angebots, es liegt ein Verstoß gegen das Transparenzgebot vor (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Dezember 2017 - VII-Verg 19/17, juris Rn. 60; OLG Celle, Beschluss vom 12. Oktober 2021 - 13 Verg 7/21, juris Rn. 57). Unklare Vorgaben der Vergabestelle dürfen wegen des Gebots der transparenten Verfahrensgestaltung aus § 97 Abs. 1 GWB nicht zulasten der Bieter gehen; sie gehen zu Lasten des Auftraggebers (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - VII Verg 19/17, juris Rn. 64; KG, Beschluss vom 4. Juni 2019 - Verg 8/18, juris Rn. 20; Senat, Beschluss vom 28. März 2022 - 54 Verg 11/21, juris Rn. 106 - 108).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_217">217</a></dt>
<dd><p>2) Diese Voraussetzungen liegen hier vor: Die Vergabeunterlagen sind im Hinblick auf die Frage einer von dem Auftragnehmer geschuldeten softwareseitigen Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte intransparent (aa) und die Antragstellerin ist hierdurch in ihren Rechten verletzt worden (bb). Rechtsfolge hiervon ist die Aufhebung der Entscheidung der Vergabekammer nach § 178 Satz 1 GWB und die Zurückversetzung des Vergabeverfahrens vor den Zeitpunkt der Aufforderung an die Bieter zur Angebotsabgabe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_218">218</a></dt>
<dd><p>a) Die Angaben des Antragsgegners in der technischen Leistungsbeschreibung und dem Leistungsverzeichnis, insbesondere auf Seite 10 sowie in den Ziffern 1.2, 2.10, 5.1, 10 - 10.3 der Leistungsbeschreibung und den Leistungsverzeichnispositionen 5, begründeten im Zusammenwirken mit den Antworten des Antragsgegners auf die Bieterfragen 16, 18 und 43 eine vergaberechtlich zu beanstandende Intransparenz der Vergabeunterlagen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_219">219</a></dt>
<dd><p>Die Vergabeunterlagen sind im Hinblick auf die Frage, ob und in welchem Umfang im Hinblick auf die erstrebte wechselseitige Georedundanz der Einsatzleitstellen Süd und Mitte eine softwareseitige Vernetzung des FNAS der I. Mitte mit dem FNAS der I. Süd zum Auftragsgegenstand gehört, intransparent. Denn aus ihnen wird - anders als bei der auftragsgegenständlichen Hardwareausstattung und den zwischen den beiden Standorten noch zu realisierenden hochverfügbaren (Daten-)Verbindungen, die für die vollständige Vernetzung unstreitig erforderlich aber nicht auftragsgegenständlich sind - auch nach der vom Senat entsprechend den §§ 133, 157 BGB vorzunehmenden Auslegung nicht hinreichend deutlich, ob und ggf. welche Leistungen der Auftragnehmer innerhalb seines Gewerks FNAS für die softwareseitige Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte durch eine Schnittstelle zum Datenaustausch zwischen den FNAS zu erbringen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_220">220</a></dt>
<dd><p>Die Vergabeunterlagen sind entsprechend den für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont der Bieter auszulegen. Hiernach ist maßgeblich, wie der durchschnittliche Bewerber des angesprochenen Bewerberkreises, der informierte Bieter, sie verstehen musste oder konnte. Entscheidend ist die Verständnismöglichkeit aus der Perspektive eines verständigen und mit der ausgeschriebenen Leistung vertrauten Unternehmens, das über das für eine Angebotsabgabe oder die Abgabe eines Teilnahmeantrags erforderliche Fachwissen verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 2014 - X ZB 15/13, Rn. 31; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. März 2018 - VII-Verg 52/17, Rn. 53 f.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - VII Verg 19/17, juris Rn. 63), wobei nach den Regeln der Auslegung vom Wortlaut auszugehen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 4. Februar 2022 - 54 Verg 9/21, BeckRS 2022, 6604, Rn. 47). Es ist nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich, dass in den Vergabeunterlagen verwendeten Begriffen bei den angesprochenen Verkehrskreisen, den sachkundigen Bietern, eine andere als die Wortlautbedeutung zukommt. Die Auslegung der Vergabeunterlagen führt im Hinblick darauf, ob und ggf. in welchem Umfang die Schaffung der Voraussetzungen für eine softwareseitige Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte auftragsgegenständlich sind, nicht zu einem klaren Ergebnis. Im Einzelnen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_221">221</a></dt>
<dd><p>aa) Einerseits kann den Bestimmungen von technischer Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis von dem informierten Bieter entnommen werden, dass die Schaffung der sein Gewerk betreffenden Voraussetzungen für eine - auch softwareseitige - Vernetzung zwischen dem FNAS der Partnerleitstelle Mitte und des neu zu beschaffenden FNAS für die I. Süd, die eine Schnittstelle zwischen den Programmen erfordert, Gegenstand des Auftrages ist:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_222">222</a></dt>
<dd><p>Entsprechend der aus § 6 Abs. 6 SHRDG-DV folgende öffentlich rechtliche Verpflichtung des Antragsgegners, zur Ermöglichung eines unterbrechungsfreien Betriebes eine gegenseitige räumliche Redundanz umzusetzen, nehmen die Hinweise zum Teilnahmeverfahren (Seite 5) sowie die gleichlautenden Angaben auf Seite 10 der technischen Leistungsbeschreibung Bezug auf die Absichtserklärung zwischen der I. Süd und der I. Mitte (Erklärung vom 30. Juni/6. Juli 2021, Anlage Ast. 8 zur Beschwerdebegründung) zur Zusammenarbeit in technischer und taktischer Hinsicht mit dem hiernach vorgesehenen „Datenaustausch zwischen den Systemtechniken (z.B. FNAS) beider Leitstellen“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_223">223</a></dt>
<dd><p>Hinausgehend über den in der Auftragsbekanntmachung referierten Inhalt der Absichtserklärung zur Vernetzung heißt es in Ziffer 05 des von dem Antragsgegner unter dem 5. Januar 2022 an die Bieter versandten Leistungsverzeichnisses „Redundanztechnik in der Partnerleitstelle (BA2)“, dass zwischen I. Süd und I. Mitte ein Zusammenarbeitsvertrag hinsichtlich der Bildung eines Redundanzstandortes in der Partnerleitstelle geschlossen worden sei, wozu in beiden Leitstellen eine Hardwareredundanz für die jeweils andere Leitstelle abgebildet werde; im Rahmen dieses Verfahrens sollten in Bauabschnitt 2 in der Partnerleitstelle I. Mitte das in den Anlagen abgebildete Hardwarekonzept (Hardwareredundanz zur I. Süd) die Vernetzung für die Bedienung von vier Einsatzplätzen der I. Mitte entstehen und im zukünftigen Neubau der I. Süd Einsatzplätze der I. Mitte abgebildet werden können. Wie auch den schematischen Zeichnungen zu den Bauabschnitten 1- 3 im Anhang 04 zur technischen Leistungsbeschreibung entnommen werden kann, sollen die FNAS von I. Süd und I. Mitte über „hochverfügbare redundante Verbindungen“ miteinander verknüpft werden. Dementsprechend sieht das Leistungsverzeichnis zur hardwareseitigen Vernetzung nach Ziffer 05 „Redundanztechnik in der Partnerleitstelle (BA2)“ Positionen zur Netzwerk- und Informationstechnik (05.01) zur FNAS Systemtechnik (05.02), zur FNAS Funkanbindung Partnerleitstelle (05.03) und zur Red.-Leitstelle-DV/IT-Verkabelung (05.04) die Lieferung, Installation und Programmierung von Hardware vor, die in einem der neuen Systemschränke im Technikraum der Partnerleitstelle zu installieren ist. Dort sehen die Angaben in den Leistungsverzeichnispositionen 05.02 und 05.03 zu der FNAS-Systemtechnik und FNAS-Funkabindung Partnerleitstelle jeweils funktions- und erfolgsbezogen die „Montage, Einbau, Verkabelung, Anschluss, Programmierung und betriebsfertige Übergabe sowie aller benötigten Dienstleistungen“ vor und verlangen etwa in Ziffer 5.03.010</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_224">224</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„In dieser LV-Position sind sämtliche Aufwände für ein betriebsbereites Redundanzsystem zu kalkulieren“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_225">225</a></dt>
<dd><p>was aus Sicht des informierten Bieters dafür spricht, dass er ein funktionsfähiges Redundanzsystem und damit eine vollständige Vernetzung der FNAS zu liefern hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_226">226</a></dt>
<dd><p>Entsprechend erfolgsbezogen im Sinne der Schaffung der Voraussetzungen für eine vollständige Vernetzung der FNAS - dies nicht nur hardwarebezogen, sondern auch im Hinblick auf für die Software FNAS erforderliche Schnittstellen - kann die Formulierung in II 2. 4) der Auftragsbekanntmachung - wiederholt in Ziffer 1.2. der technischen Leistungsbeschreibung - verstanden werden, wo als Auftragsgegenstand genannt wird u.a.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_227">227</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für die georedundante Redundanzleitstelle in der I. Mitte in K. in 2023 (Bauabschnitt 2),</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_228">228</a></dt>
<dd><p>verstanden werden, denn eine hiernach gewünschte „funktionale Anbindung und Inbetriebnahme“ der Leitstellentechniken, zu denen das FNAS gehört, setzt neben der Schaffung der Hardwarevoraussetzungen für den Datenaustausch auch voraus, dass zwischen den FNAS der Leitstellen I. Süd und I. Mitte die softwareseitige Verknüpfung der FNAS über eine Schnittstelle erfolgt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_229">229</a></dt>
<dd><p>Die Relevanz der Angaben in den Vergabeunterlagen für die Bieter verdeutlichen Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung, wonach alle in der Leistungsbeschreibung bzw. im Leistungsverzeichnis aufgeführten technischen Beschreibungen als technische Mindestanforderungen zu verstehen sind, deren Nichterfüllung zum Ausschluss des Angebots führt und ferner Ziffer 5.1 der technischen Leistungsbeschreibung, der eine jährliche Verfügbarkeit des Systems von 99,999 % verlangt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_230">230</a></dt>
<dd><p>Das Gewerk FNAS für die Geo-Redundanzleitstelle bei der I. Mitte wird in Ziffer 1.2 der technischen Leistungsbeschreibung sodann - unter ausdrücklicher Erwähnung von „Schnittstellen“ - u.a. beschrieben mit</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_231">231</a></dt>
<dd><p><strong><em>--</em></strong><em> Funk- und Notrufabfragesystem</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_232">232</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Integration im IT-Konzept</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_233">233</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Arbeitsplatzausstattung</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_234">234</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- Schnittstellen</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_235">235</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>- BOS-Digitalfunkanschaltung der Redundanzleitstelle auf Basis des dort vorhandenen T-Systems DF-Steckers</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_236">236</a></dt>
<dd><p>Und anschließend heißt es dort zum zweiten Bauabschnitt ebenfalls angesichts der Formulierungen <em>„Inbetriebnahme ... sowie funktionale Anbindung“ </em>erfolgsbezogen im Sinne einer eine Vernetzung der FNAS - auch über eine Softwareschnittstelle - erfordernden Betriebsfähigkeit</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_237">237</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>2. Bauabschnitt</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_238">238</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Ausrüstung und Inbetriebnahme der Redundanzensystemtechnik in der I. Mitte ... sowie die funktionale Anbindung an die Systemtechnik der Partnerleitstelle I. Mitte.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_239">239</a></dt>
<dd><p>Auch und insbesondere Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung sieht für die Redundanzstelle eine technische Hardwareredundanz und - erfolgsbezogen wie die vorherigen Angaben - eine „vollständige Vernetzung“ (Absatz 1) vor, wobei hierzu in einem separaten Projekt ein gemeinsames Einsatzleitsystem sowie weitere Leitstellensystemtechniken (z. B. digitale Alarmierung) abgestimmt werden. Auf das FNAS bezieht sich das separate Projekt nach dem Wortlaut ausdrücklich nicht. Die in Ziffer 10 weiterhin angeführten Anforderungsbeispiele für die vollständige Vernetzung, die nach Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung als technische Mindestanforderungen zu verstehen sind, setzen eine auch softwareseitige Vernetzung der FNAS der beiden Leitstellen voraus. Dies wird insbesondere deutlich an den Anforderungsbeispielen zum FNAS nach dem dritten und vierten Spiegelstrich von Ziffer 10, wonach die Bedienoberflächen im FNAS der I. Süd und I. Mitte funktional und optisch an allen Einsatzplätzen gleich vorzuhalten sind und der Disponent im Regelbetrieb die Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der Partnerleitstelle in seiner FNAS-Bedienoberfläche dargestellt bekommen soll, was einen Datenaustausch der FNAS und damit eine Schnittstelle zwischen den FNAS erfordert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_240">240</a></dt>
<dd><p>Für eine entsprechende Auslegung der Leistungsbeschreibung auch durch den Antragsgegner und die Beigeladene kann auch die Korrespondenz zwischen Antragsgegner und Beigeladener sprechen, in der der Antragsgegner sich gehalten sah, die Leistungsfähigkeit der Beigeladenen am Maßstab der Anforderungsbeispiele zu Ziffer 10 auf S. 55 f. der Leistungsbeschreibung aufzuklären, wobei die Antworten zu den Fragen 1, 3 und 4 sich mit der Vernetzung u.a der FNAS befassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_241">241</a></dt>
<dd><p>bb) Gegen eine Verpflichtung des Auftragnehmers zu einer auch softwareseitigen Vernetzung der FNAS spricht das Fehlen einer gesonderten Leistungsverzeichnisposition zur Programmierung einer Schnittstelle bei dem eigenen FNAS zu dem Bestands-FNAS der I. Mitte. Dies ist allerdings nicht zwingend, da entsprechender Bieteraufwand auch in der LV-Position 05.07<em> „Redundanztechnik Dienstleistungen</em>“ berücksichtigt werden kann, wo es u.a. heißt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_242">242</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>„vollständige Projektbegleitung gemäß den Anforderungen der Ausschreibungs- und Vertragsbedingungen und der technischen Leistungsbeschreibung für die Erstellung der Redundanztechnik in der Partnerleitstelle I. Mitte ... In dieser Position sind ebenfalls die erforderlichen Abstimmungen für die Anbindung der Kommunikationsverbindungen ... sowie dem Hersteller des Einsatzleitsystems zu berücksichtigen“.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_243">243</a></dt>
<dd><p>Gegen die Annahme einer Verpflichtung des Auftragnehmers zu einer auch softwareseitigen Vernetzung der FNAS durch Programmierungsleistungen für eine Schnittstelle an dem von ihm für die I. Süd angebotenen FNAS zum Bestands-FNAS der I. Mitte kann ferner sprechen die Antwort des Antragsgegners auf die Bieterfrage 16 zur Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung. In der Bieterfrage wurde zur Erfüllung eines Anforderungsbeispiels von Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung um eine Schnittstellenbeschreibung des FNAS der I. Mitte gebeten oder alternativ eine gegenseitige Darstellung mit je einem FNAS Client (also einem Computerprogramm, das mit einem anderen Computerprogramm Kontakt aufnimmt) angeboten, woraufhin der Antragsgegner erklärte, dass eine Schnittstellenbeschreibung noch nicht vorliege, detaillierte Abstimmungen nach Auftragsvergabe im Rahmen der Feinspezifikation vorgesehen seien, entsprechende Dienstleistungen in der LV-Position 05.07 zu berücksichtigen seien und die vorgeschlagene Alternative nicht gewünscht werde. Allerdings wird auch hiernach nicht klar, in welchem Umfang der Auftragnehmer nach Vorliegen einer Schnittstellenbeschreibung des FNAS der I. Mitte Dienstleistungen zu erbringen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_244">244</a></dt>
<dd><p>Im Hinblick auf die Frage der vom Auftragnehmer für die Erstellung von Schnittstellen zwischen den FNAS von I. Süd und I. Mitte geschuldeten Leistungen bieten auch die abschließenden Formulierungen in Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung Anlass für Unklarheiten, wenn es dort heißt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_245">245</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Die neuen Leitstellentechniken der I. Süd werden über zwei noch zu beschaffende redundante Vernetzungen (vgl. IT-Konzept im Abschnitt 5 und Anhang 1 bis Anhang 4) zwischen der I. Süd und der I. Mitte verbunden. Diese Verbindungen sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Nach der Auftragsvergabe werden im Rahmen der Feinspezifikation diesbezügliche Anforderungen mit dem AN abgestimmt und die Verbindungen bauseits durch den AG beschafft.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_246">246</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em><span style="text-decoration:underline">Der Bieter hat das seinem Angebot zugrundeliegende Systemkonzept für die Vernetzung der I. Süd mit der Partnerleitstelle I. Mitte in einer Anlage zu beschreiben.</span></em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_247">247</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><em>Dem Auftraggeber ist bewusst, dass seitens der Partnerleitstelle I. Mitte und den dort vorhandenen Systempartnern Leistungsanteile für die Vernetzung zu erbringen sind. Diese Leistungsanteile für die Vernetzung auf Seiten der Partnerleitstelle sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung, jedoch sind alle erforderlichen Schnittstellenabstimmungen bis zur Realisierung der Vernetzung zu berücksichtigen.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_248">248</a></dt>
<dd><p>Zwar dürften die dort zunächst genannten noch zu beschaffenden (und nicht auftragsgegenständlichen) redundanten Vernetzungen (Verbindungen) nicht die FNAS betreffen, sondern lediglich die Datenübertragung zwischen der I. Süd und der I. Mitte (“hoch verfügbare redundante Verbindungen“ gemäß den Zeichnungen zu den Bauabschnitten 2 und 3 im Anhang 04).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_249">249</a></dt>
<dd><p>Allerdings kann sich der letzte Absatz der Ausführungen in Ziffer 10 auf auch die gesamte Leitstellentechnik am Standort und damit auch auf das FNAS beziehen. Die gebotene Transparenz im Hinblick auf die Frage, ob und in welchem Umfang der Auftragnehmer zu Leistungen im Zusammenhang mit der softwareseitigen Vernetzung der FNAS verpflichtet ist, wird auch hierdurch nicht hergestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_250">250</a></dt>
<dd><p>Letztlich ähnlich unklar, weil auch hier die redundanten Verbindungen gemeint sein können, sind im Ergebnis auch die Ausführungen des Antragsgegners im Rahmen der Bieterfrage 43, wonach einerseits die Systeme entsprechend den Ausführungen in Abschnitt 10 der technischen Leistungsbeschreibung zu vernetzen und andererseits erforderliche Liefer- und Dienstleistungen seitens des vorhandenen Systems in der I. Mitte nicht Bestandteil der Ausschreibung sind, Dienstleistungen, wie erforderliche Abstimmungsgespräche in der LV-Position 05.07 zu berücksichtigen seien und Detailabstimmungen hierzu im Rahmen der Feinspezifikation nach Auftragsvergabe erfolgten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_251">251</a></dt>
<dd><p>bb) Die Intransparenz der Vergabeunterlagen zur softwareseitigen Vernetzung der FNAS in den I. Süd und I. Mitte hat die Antragstellerin in einem subjektiven Recht aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Infolge der Intransparenz der Vergabeunterlagen hat die Antragstellerin auf der Grundlage ihrer gut vertretbaren Auslegung zu einer Verpflichtung zur Schaffung der Voraussetzungen einer softwareseitigen Vernetzung der FNAS auf Seiten der I. Süd als Leistungssoll hierfür einen Aufwand in ihrem Angebot berücksichtigt; anders die Beigeladene, die nach ihrem Verständnis der intransparenten Vergabenunterlagen eine derartige Verpflichtung nicht angenommen hat und daher insoweit einen Aufwand nicht berücksichtigt hat. Hieraus droht der Antragstellerin ein Schaden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Antragstellerin bei einer transparenten Ausgestaltung der Vergabeunterlagen zu der Frage, ob und in welchem Umfang die Voraussetzungen für eine Vernetzung der FNAS von Seiten der I. Süd zu schaffen sind, das wirtschaftlichste Angebot nach § 127 Abs. 1 GWB vorgelegt hätte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_252">252</a></dt>
<dd><p>Der Antragstellerin ist es auch nicht im Hinblick auf die etwaige schuldhafte Verletzung einer Nachfrage- und Hinweisverpflichtung aus den §§ 241 Abs. Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB nach § 242 BGB verwehrt, sich auf die Intransparenz der Vergabeunterlagen zu berufen. Denn angesichts der gut vertretbaren Auslegung der Vergabeunterlagen durch die Antragstellerin, wonach vom Auftragnehmer die Voraussetzungen für eine softwareseitige Vernetzung der FNAS zu leisten sind, war eine Verletzung des Transparenzgebotes durch den Antragsgegner für die Antragstellerin nicht vorwerfbar erkennbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_253">253</a></dt>
<dd><p>Der Annahme einer möglichen Rechtsverletzung der Antragstellerin steht ferner nicht entgegen, dass diese aus dem Vergabeverfahren wegen Verletzung der Verschwiegenheitsvereinbarung oder aus sonstigen Gründen nach § 124 GWB auszuschließen wäre. Die Voraussetzungen für einen Ausschluss liegen nicht vor. Wegen der Einzelheiten wird auf die obigen Ausführungen zu II. A. 1) Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_254">254</a></dt>
<dd><p>Entsprechend § 168 Abs. 1 Satz 1 GWB war das Vergabeverfahren vor den Zeitpunkt der Aufforderung der Bieter zur Abgabe von Angeboten zurückzuversetzen. Der Antragsgegner hat - eine fortbestehende Beschaffungsabsicht vorausgesetzt - die Vergabeunterlagen, die technische Leistungsbeschreibung und das Leistungsverzeichnis - zu überarbeiten und den Bietern erneut Gelegenheit zu geben, ein Angebot abzugeben. Mit der Überarbeitung der Vergabeunterlagen hat der Antragsgegner gegenüber den Bietern eindeutige Aussagen dazu zu treffen, ob und ggf. welche Leistungen für eine softwareseitige Vernetzung der FNAS zum Datenaustausch und für funktional und optisch gleiche Bedienoberflächen von I. Süd und I. Mitte Gegenstand der Ausschreibung sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_255">255</a></dt>
<dd><p>C. Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens ist auch im Hinblick auf die Kosten in dem Verfahren nach § 173 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 GWB (Az. 54 Verg 2/22) einheitlich zu entscheiden. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens - die Gerichtskosten und die notwendigen Auslagen der Verfahrensbeteiligten - sind gemäß § 175 Abs. 2 GWB in Verbindung mit § 71 GWB (in der seit dem 19. Januar 2021 geltenden Fassung) nach Billigkeit zu verteilen. Es entspricht der Billigkeit, den in der Beschwerdeinstanz Unterlegenen mit den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten anderer Verfahrensbeteiligter zu belasten, soweit nicht die besonderen Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise eine abweichende Entscheidung gebieten (vgl. Varvra/Willner in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 175 GWB, Rn. 14 mwN). Dies führt zur Auferlegung der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens sowie der zu der Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin, zu der bereits wegen § 175 Abs. 1 Satz 1 GWB auch die Kosten der rechtsanwaltlichen Vertretung gehören, auf den Antragsgegner. Zugunsten des Antragsgegners greift eine Gebührenfreiheit für die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens nicht ein. Der antragsgegnerische Landkreis ist weder nach § 2 Abs. 1 GKG noch nach § 84 Abs. 1 Landesjustizgesetz Schleswig-Holstein von Gerichtsgebühren befreit. Antragsgegner und Beigeladene tragen hiernach ihre außergerichtlichen Kosten selbst.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_256">256</a></dt>
<dd><p>Über die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die dort zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten ist nach § 182 Abs. 3 Satz 1, 5, Abs. 4 Satz 2 und 3 GWB zu entscheiden. Hier gelten dieselben Anforderungen und Erwägungen wie im Rahmen von § 71 GWB, so dass auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann. Der Antragsgegner hat hiernach die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu tragen. Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin in dem Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_257">257</a></dt>
<dd><p>Die Verfahrensgebühr für das Verfahren vor der Vergabekammer war nach § 182 Abs. 2 GWB auf € 4.400,00 festzusetzen. Der Senat macht sich zur Begründung die Ausführungen der Vergabekammer Schleswig-Holstein in dem Beschluss vom 24. Mai 2022 (Seiten 18 f.) zu eigen und nimmt hierauf Bezug.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_258">258</a></dt>
<dd><p>D. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren sowie das Verfahren nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB (Az. 54 Verg 2/22) war jeweils auf bis zu € 185.000,00 festzusetzen. Nach § 50 Abs. 2 GKG beträgt der Streitwert 5 % der Bruttoauftragssumme, wobei sich diese auf das Angebot der Antragstellerin bezieht; maßgeblich ist das wirtschaftliche Interesse des Antragstellers an der Erlangung des Auftrages. Die Angebotssumme führt zu einem Wert bis zu € 185.000,00.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,704 | olgmuen-2022-09-19-8-u-830221 | {
"id": 277,
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<div>
<p>1. Das Berufungsverfahren wird im Hinblick auf den am 16.03.2022 im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlichten Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/ 22 KapMuG, gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ausgesetzt.</p>
<p>2. Die Höhe des Anspruchs, die von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist, beträgt 161.217,49 € (§ 8 Abs. 4 KapMuG).</p>
<p>3. Die Parteien werden gem. § 8 Abs. 3 KapMuG darüber unterrichtet,</p>
<p>a) dass die anteiligen Kosten des Musterverfahrens zu den Kosten des Rechtsstreits gehören, und </p>
<p>b) dass dies nicht gilt, wenn die Klage innerhalb von einem Monat ab Zustellung dieses Aussetzungsbeschlusses zurückgenommen wird.</p>
<p>4. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird zugelassen, soweit auch eine Aussetzung wegen des Erwerbs anderer Wertpapiere als Aktien erfolgt ist.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p>I.</p>
<p><rd nr="1"/>Die Klagepartei verlangt den Feststellungen des Landgerichts zufolge von der Beklagten zum einen Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien der W. AG. Sie trägt dazu vor, sie habe im Vertrauen auf die Richtigkeit der von der Beklagten erstellten Bestätigungsvermerke zwischen 13.02.2019 und dem 28.04.2020 1.344 Aktien der W. AG zum Gesamtpreis von 143.171,83 € erworben (Anlage rm45). Ferner habe sie am 27.05.2019 eine Anleihe auf die W. Aktie zu einem Preis von 10.000 € erworben. Am 10.03.2020 sowie am 17.03.2020 habe sie zudem Call-Optionsscheine der D. AG auf Aktien der W. AG für insgesamt 13.808,13 € erworben. Am 29.06.2020 habe sie sämtliche Aktien zu einem Gesamtpreis von 4.425,62 € sowie die Call-Optionsscheine zu einem Gesamtpreis von 34,52 € veräußert.</p>
<p><rd nr="2"/>Die Beklagte war seit 2010 Abschlussprüferin der W. AG. Sie hat sämtliche Jahresabschlüsse bis einschließlich für das Geschäftsjahr 2018 ohne Einschränkungen testiert.</p>
<p><rd nr="3"/>Ende 2018 meldete sich ein Wistleblower bei der F. und behauptete, dass das „Acquiring“-Geschäft von W. in Asien in wesentlichem Umfang keine realistische Grundlage habe. Nach weiteren Recherchen veröffentlichte die F. am 30.01.2019, 01.02.2019 und 02.02.2019 kritische Artikel über die W. AG, wonach es schwere Probleme in Singapur gebe, da Mitarbeiter von W. die Zahlen geschönt hätten. Die Folge waren Kursverluste der Aktien der W. AG. Am 15.10.2019 berichtete die F. erneut negativ über den W.-Konzern. Wieder kam es zu Kursverlusten. Von Februar 2019 bis April 2019 verhängte die BaFin ein Leerverkaufsverbot für die W.-Aktie. Am 31.10.2019 beauftragte die W. AG die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft K. mit der Erstellung eines forensischen Sondergutachtens betreffend die Geschäftsjahre 2016-2018. Am 27.04.2020 wurde die für den 29.04.2020 geplante Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 verschoben. Am 28.04.2020 wurde der K.-Sonderbericht veröffentlicht. Im Rahmen des Ergebnisses dieser Sonderprüfung teilte die K. mit, dass keine ordnungsgemäßen Nachweise über die Guthaben auf Treuhandkonten eingeholt werden konnten und ihr keine Bankkontoauszüge, die Zahlungseingänge von rund 1 Milliarden € auf den Treuhandkonten belegen würden, übermittelt wurden. Am selben Tag erlitt die W.-Aktie einen Kursverfall von 26%. Am 18.06.2020 teilte die Beklagte der W. AG mit, dass das Testat 2019 verweigert werde, weil keine ausreichenden Prüfungsnachweise über das Treuhandkonto in Höhe von 1,9 Milliarden Euro vorlägen. Am 22.06.2020 teilte die W. AG im Rahmen einer Ad-hoc-Mitteilung mit, das Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existierten. Dieser Betrag stellte ca. ein Viertel des Gesellschaftsvermögens dar. Am 25.06.2020 stellte die W. AG Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Das Amtsgericht München hat das Insolvenzverfahren am 25.8.2020 eröffnet.</p>
<p><rd nr="4"/>Die Klagepartei behauptet unter Beweisantritt, die Jahresabschlüsse der W. AG seien unrichtig gewesen. Die Beklagte habe keine ausreichenden bzw. geeigneten Prüfungsnachweise für die Existenz der Umsatzerlöse sowie die Legitimität des von W. betriebenen Drittpartnergeschäfts erlangt. Insbesondere habe sie zu keinem Zeitpunkt Originalbestätigungen von den kontoführenden Banken angefordert, keine Zuverlässigkeitsprüfung der Treuhänder vorgenommen oder die Vertriebsbeziehungen zu den Drittpartnern und deren Kunden überprüft. Vielmehr habe die Beklagte trotz anhaltender kritischer Medienberichte ihre Bestätigungsvermerke auf unzureichende, vom Vorstand der W. AG vorgelegte Dokumente gestützt. In dieser Situation wäre aufgrund der erheblichen Unstimmigkeiten zumindest eine Einschränkung der Bestätigungsvermerke bzw. sogar eine Versagung angezeigt gewesen. Die Beklagte habe so ihre Berichtspflichten nach § 322 Abs. 1 HGB und auch ihre Pflichten aus dem Prüfungsvertrag mit der W. AG verletzt.</p>
<p><rd nr="5"/>Das Landgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil insgesamt abgewiesen, weil ein Vorsatz der Beklagten nicht ausreichend dargelegt worden sei und ein Nachweis der konkreten haftungsbegründenden Kausalität nicht erfolgt sei. Zu dieser Begründung, mit der vom Landgericht auch in zahlreichen Parallelverfahren Klageabweisungen erfolgt sind, hat der Senat bereits in seinem Terminshinweis vom 09.12.2021 (Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; WM 2022, 174) im Einzelnen ausgeführt, dass sie eine Klageabweisung nach seiner Auffassung nicht trägt, weil sich die Anleger jedenfalls beim Kauf von Aktien grundsätzlich auf einen sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebenden Erfahrungssatz berufen können, dass sie die Aktien in Kenntnis der behaupteten Machenschaften und der sich daraus ergebenden Insolvenzgefahr nicht gekauft hätten (vgl. auch Urteil des Senats vom 11.11.2021, Gz. 8 U 5670/21, BeckRS 2021, 34699). Allenfalls bei Investments mit rein spekulativem Charakter kann die entsprechende Vermutung eingeschränkt oder aufgehoben sein (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, BeckRS 2021, 34702). Da die (dortige) Klagepartei entgegen der Auffassung des Landgerichts auch Pflichtverletzungen der Beklagten hinreichend dargelegt und unter Beweis gestellt hatte, wäre in zahlreichen Einzelverfahren eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig geworden. Deshalb hat der Senat dort auch die Einleitung eines Musterverfahrens nach dem KapMuG angeregt und ansonsten eine Aufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht in Aussicht gestellt.</p>
<p>II.</p>
<p><rd nr="6"/>Ein solches Musterverfahren wurde inzwischen vom Landgericht eingeleitet:</p>
<p><rd nr="7"/>1. Am 16.03.2022 wurde im elektronischen Bundesanzeiger der Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/22 KapMuG, veröffentlicht.</p>
<p><rd nr="8"/>a) Feststellungsziele des o.g. Vorlagebeschlusses sind u.a.:</p>
<p>Zu A.I.</p>
<p>(Haupttat; Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG),</p>
<p>Nr. 1 bis 5, ob die Geschäftsberichte der W. AG für die Jahre 2014 bis 2018 die Verhältnisse der W. AG insoweit unrichtig wiedergeben, als sie</p>
<p>a. falsche Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente enthalten,</p>
<p>b. falsche Umsatzerlöse enthalten,</p>
<p>c. die Risiken aus dem Drittpartnergeschäft (TPA-Geschäft) falsch darstellen,</p>
<p>d. die Segmentberichterstattung nicht den Anforderungen von IFRS 8 entspricht,</p>
<p>e. das Risikofrüherkennungssystem der W. AG falsch darstellen,</p>
<p><rd nr="9"/>Nr. 6 bis 7:</p>
<p><rd nr="10"/>6. Die W. AG und der Beklagte Dr. B. kannten die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte für die Jahre 2014, 2015, 2016, 2017 und/ oder 2018 im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Veröffentlichung.</p>
<p><rd nr="11"/>7. Die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte für die Jahre 2014, 2015, 2016, 2017 und/ oder 2018 beruhte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit der W. AG und des Beklagten Dr. B..</p>
<p><rd nr="12"/>Zu A.II.:</p>
<p><rd nr="13"/>(Zu weiteren Anspruchsvoraussetzungen und zur Klärung der Rechtsfragen)</p>
<p><rd nr="14"/>Die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale Rechtswidrigkeit und Schuld, ausgenommen Fragen der individuellen Kausalität und Schadensberechnung, als Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung des Beklagten Dr. M. B. aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 37v WpHG a.F., § 331 HGB, § 400 AktG liegen sämtlich vor.</p>
<p><rd nr="15"/>zu B.I. und II.,</p>
<p>(Frage von Teilnahme; zur Schadensersatzpflicht der Beklagten nach §§ 37b, 37c WpHG a.F. i.V.m. § 830 Abs. 2 S. 1, Abs. 2 Alt. 2 BGB), ob die auch hier Beklagte die Verletzung der in § 37b WpHG a.F. (Schadenersatz wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen),</p>
<p>§ 37c WpHG a.F. (Schadenersatz wegen Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen) und</p>
<p>§ 37v WpHG a.F. i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB (Veröffentlichung von Jahresfinanzberichten), je i.V.m. § 830 Abs. 2 S. 1, Abs. 2 Alt. 2 BGB geregelten Publizitätspflichten durch die W. AG objektiv gefördert hat, indem sie über die Prüfung der Konzernabschlüsse für 2014 bis 2018 und der zugehörigen Konzernlageberichte nach IAS/IFRS der W. AG einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk erteilt hat, zu B.III.</p>
<p><rd nr="16"/>(Zum Vorsatz der Beklagten),</p>
<p>dass die hiesige Beklagte jeweils billigend in Kauf genommen habe, dass ihre Bestätigungsvermerke über die Prüfung der in Ziff. I.1 und II.1 genannten Konzernabschlüsse und Konzernlageberichte der W. AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 nach IAS/ IFRS unrichtig waren, indem die Beklagte uneingeschränkte Bestätigungsvermerke erteilt hat, ohne</p>
<p>a. sich Originalkontoauszüge und Banksaldenbestätigungen zu den Treuhandkonten zeigen zu lassen und/oder</p>
<p>b. die Zahlungseingänge auf den Treuhandkonten zu prüfen, und zu C.</p>
<p>(Schaden und Kausalität),</p>
<p>der Kursdifferenzschaden sei ohne konkreten Kausalitätsnachweis ersatzfähig.</p>
<p><rd nr="17"/>b) Zur Begründung hat das Landgericht u.a. ausgeführt, die dortigen Kläger nähmen die dortigen Beklagten auf Schadensersatz in Bezug auf Erwerbe von Aktien der W. AG (WKN: DE0007472060) in Anspruch; die dortigen Kläger würden Schadensersatz in Bezug auf Kaufgeschäfte zwischen dem 11.07.2017 und 19.06.2020 begehren.</p>
<p><rd nr="18"/>Die dortigen Kläger sähen als Anspruchsgrundlage für eine Haftung der Beklagten Delikte wegen der Erstellung falscher Bestätigungsvermerke sowie wegen Beihilfe zu kapitalmarktrechtlichen Pflichtverletzungen der W. AG gemäß §§ 826, 31 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 332 Abs. 1 HGB, 31 BGB, §§ 830 Abs. 1, Abs. 2, 840, 31 BGB, §§ 325 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 331 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 HGB, § 400 AktG, §§ 37b, 37c WpHG, § 37v WpHG, §§ 97, 98 WpHG.</p>
<p><rd nr="19"/>Der dortige Beklagte Dr. B. sei als Vorstandsvorsitzender für betrügerische Handlungen der W. AG verantwortlich. Die - auch dortige - Beklagte habe durch unzureichende Prüfungshandlungen und falsche Bestätigungsvermerke diese Art der Unternehmungsführung aufrechterhalten. Insbesondere sei nicht einmal die Echtheit und Existenz von Kontoauszügen von Treuhandkonten bzw. Banksaldenbestätigungen geprüft worden.</p>
<p><rd nr="20"/>Die dortigen Kläger benennen u. a. einzelne handelnde Prüfer als Zeugen. Im Übrigen verweisen sie u. a. auf den Abschlussbericht des dritten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 22.06.2021 einschließlich des von den Ermittlungsbeauftragten erstellten sogenannten „W.-Bericht“. Weiter verweisen die dortigen Kläger auf den im Auftrag der W. AG selbst erstellten sogenannten K.-Bericht.</p>
<p><rd nr="21"/>2. Am 04.07.2022 hat der Senat die Parteien gem. § 8 Abs. 1 Satz 3 KapMuG mit ausführlicher Begründung darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, das Berufungsverfahren im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Landgerichts München auszusetzen, soweit es Aktienkäufe zum Gegenstand hat. Hinsichtlich der sonstigen Wertpapiere hat der Senat auf Bedenken hinsichtlich der Schlüssigkeit hingewiesen.</p>
<p><rd nr="22"/>Die Klagepartei hat sich mit der Aussetzung in ihrem Schriftsatz vom 20.07.2022 einverstanden erklärt und diese mit ergänzender Begründung auch hinsichtlich der sonstigen Wertpapiere beantragt.</p>
<p><rd nr="23"/>Die Beklagte ist einer Aussetzung bereits vorab mit Schriftsatz vom 02.05.2022 umfangreich entgegengetreten. Sie meint, eine Aussetzung sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil das vorliegende Verfahren nicht musterverfahrensfähig und somit der Anwendungsbereich des KapMuG nicht eröffnet sei, was der Senat auch zu prüfen habe. Die Durchführung des KapMuG-Verfahrens sei für das hiesige Verfahren auch nicht vorgreiflich: Die wesentlichen Tatbestandsmerkmale des geltend gemachten Anspruchs aus § 826 BGB seien schon nicht Gegenstand der Feststellungsziele. Zudem sei die Klage mangels schlüssigen Klägervortrags - ohne Aussetzung und ohne Beweisaufnahme - abzuweisen. Es fehle bereits an der haftungsbegründenden Voraussetzung der Kausalität. Die Anlageentscheidung der Klagepartei sei unabhängig von der Erteilung der Bestätigungsvermerke durch die Beklagte erfolgt. Die Klagepartei könne sich insoweit auch nicht auf eine Beweiserleichterung in Form der Rechtsfigur der Anlagestimmung oder einer allgemeinen Kausalitätsvermutung berufen. Ein Anspruch aus § 826 BGB scheitere darüber hinaus daran, dass die Beklagte weder sittenwidrig noch vorsätzlich gehandelt habe. Die Klage sei deshalb bereits jetzt abweisungsreif.</p>
<p>III.</p>
<p><rd nr="24"/>Das Berufungsverfahren ist im Hinblick auf den im Tenor genannten Vorlagebeschluss des Landgerichts München I gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG von Amts wegen insgesamt auszusetzen.</p>
<p><rd nr="25"/>Gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG setzt das Prozessgericht nach der Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses im Klageregister von Amts wegen alle bereits anhängigen oder bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele im Musterverfahren noch anhängig werdenden Verfahren aus, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt.</p>
<p><rd nr="26"/>1. Diese Aussetzungsvoraussetzungen liegen hier dem Grunde nach vor:</p>
<p><rd nr="27"/>a) Das Berufungsgericht ist ebenfalls Prozessgericht i. S. d. § 8 KapMuG (vgl. dazu schon BT-Drs. 15/5091 S. 24/25; OLG München, Beschluss vom 27.8.2013 - 19 U 5140/12, BeckRS 2013, 15338, ebenso z.B. Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 6 mwN, beckonline). Die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 KapMuG ist zwingend und auch im Berufungsverfahren möglich (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 14, juris).</p>
<p><rd nr="28"/>b) Ob die Vorlagevoraussetzungen der §§ 1 ff. KapMuG vorliegen, ist im Aussetzungsverfahren gem. § 8 KapMuG nicht zu prüfen; im Übrigen würden sie nach Auffassung des Senats auch vorliegen:</p>
<p><rd nr="29"/>(a) Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass nach der Rspr. des XI. Zivilsenats des BGH eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG dann unzulässig sein soll, wenn die geltend gemachten Klageansprüche nicht nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 KapMuG in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen (BGH Beschluss vom 30.4.2019 - XI ZB 13/18, BeckRS 2019, 17221 Rn. 14, beck-online), was dann wohl auch eine entsprechende Prüfung im Aussetzungsverfahren erfordern würde.</p>
<p><rd nr="30"/>Nach der Rspr. des II. Zivilsenats des BGH gebietet es der Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) aber nicht, dass das Prozessgericht von der Aussetzung des Verfahrens Abstand nimmt, wenn ein Gericht das Musterverfahren für unzulässig hält. Die Entscheidung über die Aussetzung hängt ausschließlich von den in § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG genannten Voraussetzungen ab und ist bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele möglich (so wörtlich BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 20 f, juris, mit Unterstreichung des Senats; ebenso schon OLG München Beschluss vom 27.8.2013 - 19 U 5140/12, BeckRS 2013, 15338, beck-online).</p>
<p><rd nr="31"/>Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung des II. Zivilsenats des BGH. Die Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH berücksichtigt die Gesetzgebungsgeschichte und die vom Gesetzgeber mit dem Musterverfahren beabsichtigte Bündelungswirkung nicht hinreichend; sie wäre auch äußerst prozessunökonomisch:</p>
<p><rd nr="32"/>(aa) Der Gesetzgeber hat mit der nunmehrigen Anfechtbarkeit des Aussetzungsbeschlusses in § 8 KapMuG n.F. auf die Kritik des XI. Zivilsenats des BGH an dem bisherigen Anfechtungsausschluss reagiert und den Ausschluss der Anfechtbarkeit des Aussetzungsbeschlusses bei der Neufassung des § 8 KapMuG entfallen lassen. Er hat dabei in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16.06.2009 (Az.: XI ZB 33/08) hingewiesen und ausgeführt, dass künftig gegen die Aussetzungsentscheidung nach § 8 KapMuG n.F. gem. § 252 ZPO die sofortige Beschwerde stattfinde. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gebiete, dass die Parteien gegen eine rechtswidrige Aussetzung des Verfahrens vorgehen könnten (vgl. BT-Drucksache 17/8799 S.21).</p>
<p><rd nr="33"/>An der Unanfechtbarkeit und Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses in § 6 KapMuG n.F. hat der Gesetzgeber jedoch festgehalten, obwohl der BGH diesbezüglich bereits vorher entschieden hatte, dass die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfallen soll, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann (z.B. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2011 - II ZB 11/10, zu § 4 KapMuG a.F.).</p>
<p><rd nr="34"/>Da der Gesetzgeber somit in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an der Unanfechtbarkeit und Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses festgehalten hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorläge, die - gegen den klaren Wortlaut von § 6 I 2 KapMuG - durch eine erweiternde Auslegung von § 8 KapMuG zu schließen wäre.</p>
<p><rd nr="35"/>(bb) Nach Auffassung des Senats würde es auch keinen Sinn machen, dass ggf. hunderte von „Prozessgerichten“ in hunderten von Einzelverfahren jeweils im Aussetzungsverfahren gem. § 8 KapMuG prüfen und entscheiden, ob die Vorlagevoraussetzungen der §§ 1 ff. KapMuG vorliegen mit der Folge, dass diese Vorfrage ggf. in allen divergierenden, hunderten Einzelentscheidungen durch Rechtsbeschwerde zum BGH geklärt werden müsste.</p>
<p><rd nr="36"/>Diese Prüfung hat vielmehr - soweit man sie gegen den eindeutigen Wortlaut von § 6 I 2 KapMuG, wonach der Vorlagebeschluss unanfechtbar und für das Oberlandesgericht bindend ist, für zulässig halten sollte (vgl. dazu noch nach der Reform des KapMuG BGH, Beschluss vom 09. März 2017 - III ZB 135/15 -, Rn. 9 - 10, juris) - gebündelt ausschließlich im Musterverfahren zu erfolgen. Sollte das BayObLG den Vorlageschluss des Landgerichts München I rechtskräftig aufheben, wären die gem. § 8 KapMuG ausgesetzten Verfahren entsprechend § 22 Abs. 4 KapMuG wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Bis dahin sind sie auszusetzen, soweit die Voraussetzungen von § 8 KapMuG vorliegen.</p>
<p><rd nr="37"/>(cc) Diese normative Ausgestaltung des Rechtswegs ist unter Berücksichtigung dieser Auslegung von § 8 Abs. 1 KapMuG weder ungeeignet oder unangemessen noch für den Rechtssuchenden unzumutbar. Verzögerungen des Musterverfahrens sind nicht zu vermeiden, wenn z.B. das Oberlandesgericht - in Bayern also inzwischen das BayObLG - von der Unzulässigkeit des Musterverfahrens ausgeht und diese Entscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren überprüft werden muss. Von der ansonsten gegebenen Möglichkeit, die Einzelverfahren - dann möglicherweise nur vorübergehend - fortzusetzen, geht keine wesentliche Verbesserung der Rechtsschutzmöglichkeiten aus, sondern würde der mit der Bündelung der Verfahren im Musterverfahren angestrebte Zweck unterlaufen werden (so auch BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 20 f, juris).</p>
<p><rd nr="38"/>(b) Im Übrigen hielte der Senat das Musterverfahren hier auch für statthaft.</p>
<p><rd nr="39"/>(aa) Bei ihren umfangreichen Ausführungen zur angeblich mangelnden KapMuG-Fähigkeit der Bestätigungsvermerke der Beklagten übersieht sie, dass diese hier - zumindest bisher - überhaupt nicht unmittelbarer Gegenstand des Musterverfahrens sind.</p>
<p><rd nr="40"/>Festgestellt werden soll hier als Haupttat die „Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG“. In der Praxis kapitalmarktorientierter Unternehmen wird der Lagebericht gerne mit der Bilanz (einschließlich Anhang), der Gewinn- und Verlustrechnung und weiteren Informationen in einem einheitlichen Dokument, dem sog. „Geschäftsbericht“, zusammengefasst (MüKoHGB/Reiner, 4. Aufl. 2020, HGB § 264 Rn. 8). Gegenstand des Vorlagebeschlusses ist damit auch die Unrichtigkeit der in § 1 Abs. 2 Nr. 5 KapMuG als Regelbeispiele feststellungsgeeigneter öffentlicher Kapitalmarktinformationen ausdrücklich genannten Jahresabschlüsse und Lageberichte der W. AG.</p>
<p><rd nr="41"/>Die Beklagte soll nach der Konstruktion des Vorlagebeschlusses zu dieser Haupttat durch ihre - behauptet - unrichtigen Bestätigungsvermerke (nur) Beihilfe gem. § 830 Abs. 2 BGB geleistet haben. Bei dieser Sachlage sind die Bestätigungsvermerke der Beklagten und deren - behauptete - Unrichtigkeit nicht selbst unmittelbarer Gegenstand des Musterverfahrens, sondern die behauptete Unterstützungshandlung zur - zunächst festzustellenden - Haupttat der W. AG.</p>
<p><rd nr="42"/>Dagegen bestehen aus Sicht des Senats keine Bedenken. Nur Feststellungen zu einem Schadensersatzanspruch, der nicht an eine falsche, irreführende oder unterlassene öffentliche Kapitalmarktinformation anknüpft, wären im Kapitalanleger-Musterverfahren unstatthaft (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 15. März 2022 - XI ZB 31/20, Rz. 17 mwN). Das ist hier nicht der Fall, denn die Feststellungsziele in Richtung auf die Beklagte knüpfen, wie dargelegt, an die „Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG“ als Haupttat an, die fraglos in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen, s.o.</p>
<p><rd nr="43"/>Der Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG definiert sich ansonsten weder nach der konkreten Anspruchsgrundlage noch nach der Person des Anspruchsgegners (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Radtke-Rieger, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 1 Rn. 20), sodass Anspruchsgegner jeder sein kann, gegen den ein - natürlich schlüssiger - Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation geltend gemacht wird, und zwar auch im Wege der Beihilfe gem. § 830 Abs. 2 BGB. Entgegen der nicht näher begründeten Auflassung von Möllers (BKR 2022, 339 [352]) kommt es dabei nicht darauf an, ob die Beihilfetat ihrerseits selbständig KapMuGfähig wäre (vgl. z.B. BGH Beschluss vom 21.7.2020 - II ZB 19/19, BeckRS 2020, 22215 Rn. 50, zum Gerichtsstand gem. § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO im Falle einer Beihilfe zu einer Informationspflichtverletzung; OLG Frankfurt a.M., Musterentscheid vom 22.4.2015 - 23 Kap 1/13, BeckRS 2015, 9131 Rn. 107, zur Verwendung eines Konditionenblatts als objektive Beihilfe im Sinne von § 830 BGB, nachgehend vom BGH im Beschluss vom 19. September 2017, XI ZB 17/15, insoweit nicht beanstandet; ebenso Foerster, ZIP 2022, 1683).</p>
<p><rd nr="44"/>(bb) Die Frage, ob die Bestätigungsvermerke der Beklagten selbst unmittelbarer Gegenstand eines Musterverfahrens sein könnten, stellt sich daher - zumindest derzeit - nicht. Im Übrigen würde der Senat auch dies weiterhin bejahen, wenn er es zu prüfen hätte (vgl. dazu bereits Senat, Hinweis vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; OLG München, Beschluss vom 20. Mai 2022 - 13 U 9056/21 -, Rn. 16, juris; ebenso Foerster, ZIP 2022, 1683 mit überzeugender Ablehnung der Gegenmeinung, insbes. von Knops, BKR 2022, 366, und Möllers, BKR 2022, 339).</p>
<p><rd nr="45"/>c) Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt gegen die Beklagte insgesamt von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen ab und der Rechtsstreit ist dem Grunde nach auch nicht aus anderen Gründen entscheidungsreif:</p>
<p><rd nr="46"/>(a) Prüfungsmaßstab (aa) Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt, wenn die Sache ohne weitere Beweiserhebungen entscheidungsreif ist (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 17). Die Auffassung, dass dabei lediglich eine kursorische Schlüssigkeitsprüfung zu erfolgen habe, lässt sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien herleiten. Wenn die Klage unschlüssig ist, ist die Sache entscheidungsreif (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 18).</p>
<p><rd nr="47"/>(bb) Zu ergänzen ist, dass das Klagevorbringen für eine Aussetzung gem. § 8 KapMuG nicht nur schlüssig sein muss. Ist es hinreichend bestritten und somit beweisbedürftig, muss der Beweispflichtige - hier also die Klagepartei - auch hinreichenden, nach der ZPO statthaften Beweis angeboten haben; denn ansonsten ist die Klage wegen Beweisfälligkeit abzuweisen und nicht das Verfahren auszusetzen.</p>
<p><rd nr="48"/>Zu dieser Frage hatte der Gesetzgeber bereits im ersten Entwurf zum KapMuG ausgeführt, dass Rechtsstreite, die bereits entscheidungsreif sind, entsprechend dem Rechtsgedanken zu § 1 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG-E nicht auszusetzen seien (BT-Drs. 15/5091 S. 24/25). Zu § 1 KapMuG-E wurde dort ausgeführt, dass der Antragsteller auch die Beweismittel darzustellen habe. Wenn das bezeichnete Beweismittel zum Nachweis einer anspruchsbegründenden Voraussetzung ungeeignet erscheine, sei der Musterfeststellungsantrag abzuweisen (BT-Drs. 15/5091 S. 21). § 1 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG-E ist nunmehr § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG geworden, wonach der Musterverfahrensantrag als unzulässig zu verwerfen ist, soweit die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt. Für diese Bestimmung ist allgemein anerkannt, dass der Antrag im Hinblick auf das betroffene Feststellungsziel als unzulässig anzusehen ist, falls für beweisbedürftige Umstände keine Beweismittel benannt werden. Eine Zurückweisung des Musterverfahrensantrages im Hinblick auf das konkrete Feststellungsziel kommt dabei aber nur in Betracht, wenn insoweit alle angebotenen Beweismittel zusammen ungeeignet sind, um zur begehrten Feststellung zu führen (Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 3 Rn. 14 mwN).</p>
<p><rd nr="49"/>Demzufolge kommt nach dem Willen des Gesetzgebers auch eine Aussetzung gem. § 8 KapMuG nur in Betracht, wenn für alle entscheidungserheblichen, streitigen und somit beweisbedürftigen Tatsachen mindestens ein zum Nachweis geeignetes Beweismittel angeboten wird (vgl. dazu ausführlich Senat, Beschluss vom 27.01.2022 - 8 W 1818/21, BeckRS 2022, 670 Rn. 45 ff, zur Aussetzung gem. § 149 ZPO in einem Verfahren gegen den mutmaßlichen Hauptverantwortlichen der W. AG). Ansonsten ist die Klage wegen Beweisfälligkeit abzuweisen und nicht das Verfahren auszusetzen.</p>
<p><rd nr="50"/>(cc) Dabei kann hier noch dahinstehen, ob der weitergehenden Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes eine Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG erfordere, nach der dem Prozessgericht bei der Prüfung dieser Frage entgegen der Auffassung des Gesetzgebers keinerlei Beurteilungsspielraum zukomme, sondern eine Aussetzung nur dann in Betracht komme, wenn sich das Prozessgericht bereits die Überzeugung gebildet habe, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen werde, und dies sogar dann gelten solle, wenn hierzu vorab eine Beweisaufnahme durchzuführen sei (dazu s.u.)</p>
<p><rd nr="51"/>Denn auch diese Voraussetzungen lägen hier insoweit vor; der Senat ist - in einem Zwischenverfahren notwendigerweise vorläufig in seiner derzeitigen Besetzung - davon überzeugt i.S.v. § 286 ZPO, dass es auf die im Vorlagebeschluss geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits konkret ankommen wird:</p>
<p><rd nr="52"/>(b) Haupttat der W. AG:</p>
<p><rd nr="53"/>(aa) Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG Die in dem Vorlagebeschluss unter A.I. als Feststellungsziele zur angeblichen Haupttat der W. AG angeführten angeblichen Unrichtigkeiten der Geschäftsberichte der W. AG entsprechen - wenn auch mit z.T. anderen Formulierungen - in der Sache weitestgehend denjenigen, die auch die hiesige Klagepartei unter Vorlage des K.-Berichts und des Wambach-Berichts mit zahlreichen Beweisangeboten (u.a. Zeugen und Sachverständigengutachten) geltend macht (s.o.); dem tritt die Gegenerklärung der Beklagten schon nicht konkret entgegen - sie befasst sich nicht konkret mit dem Vortrag im vorliegenden Einzelfall.</p>
<p><rd nr="54"/>(bb) Auch die Feststellungsziele zum Vorsatz des Verantwortlichen der W. AG unter A.I. Nr. 6 bis 7 des Vorlagebeschlusses entsprechen weitestgehend dem hiesigen beweisbewehrten Klagevorbringen.</p>
<p><rd nr="55"/>(cc) Allgemeine haftungsbegründende Kausalität der Haupttat der W. AG:</p>
<p><rd nr="56"/>(aaa) Der Beklagten ist zuzugeben, dass die in Ziff. A.II. des Vorlagebeschlusses genannten Feststellungziele „zu weiteren Anspruchsvoraussetzungen und zur Klärung der Rechtsfragen“ ausdrücklich nur „die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale Rechtswidrigkeit und Schuld, ausgenommen Fragen der individuellen Kausalität und Schadensberechnung, als Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung“ von Herrn Dr. B. bezeichnen.</p>
<p><rd nr="57"/>Nach Auffassung des Senats ist dies aber dahingehend auszulegen, dass davon auch die allgemeine haftungsbegründende Kausalität als Feststellungsziel umfasst ist (insbes. Vermutungen und Erfahrungssätze; vgl. dazu Hinweis des Senats vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191). Ein Feststellungsziel ist vor dem Hintergrund der Norm zu beurteilen, aus der der Schadensersatzanspruch abgeleitet wird (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2022 - XI ZB 32/20, Rz. 14). Hier möchte das Landgericht mit Ziff. A.II. festgestellt wissen, dass die „Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung des Beklagten Dr. M. B. aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 37v WpHG a.F., § 331 HGB, § 400 AktG sämtlich vorliegen“. Zu diesen Voraussetzungen gehört auch die allgemeine haftungsbegründende Kausalität. Außerdem wäre ansonsten dort der ausdrückliche Ausschluss der „individuellen Kausalität“ nicht erforderlich gewesen.</p>
<p><rd nr="58"/>(bbb) Wie der Senat bereits in seinem Hinweis vom 09.12.2021 (8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191) ausführlich begründet hat, spricht jedenfalls beim Kauf von Aktien grundsätzlich ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebender Erfahrungssatz dafür, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften nicht gekauft hätten, weil dann der Insolvenzantrag bereits entsprechend früher gestellt worden wäre (vgl. auch Beschluss des Senats vom 11.11.2021, Gz. 8 U 5670/21, BeckRS 2021, 34699). Deshalb können sich die Anleger insoweit jedenfalls beim Kauf von Aktien auf einen Erfahrungssatz berufen und müssen sie zu ihrer Kaufmotivation weder individuell vortragen noch hierfür Beweis anbieten. Dieser Erfahrungssatz reicht nach Auffassung des Senats zeitlich bis zum Insolvenzantrag der W. AG:</p>
<p><rd nr="59"/>Soweit Lenz dazu meint, dass bei einer früheren Aufdeckung der Schaden zwar immer noch sehr hoch, jedoch geringer gewesen wäre, und dies dazu führen hätte können, dass Versuche zur Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit und einer Überschuldung eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit gehabt hätten (WM 2022, 1305, 1315), ist anzumerken, dass auch dann ein Insolvenzverfahren zumindest gedroht hätte und in keiner Weise absehbar gewesen wäre, ob dieses Problem behoben werden kann. Das reicht für die Annahme eines entsprechenden Erfahrungssatzes aus (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020, Gz. VI ZR 252/19, Rz. 49 ff., zum drohenden Zulassungsentzug bei VW Dieselfahrzeugen mit Motor EA189; ebenso bereits Senat, Hinweis vom 09.12.2021, Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191).</p>
<p><rd nr="60"/>Dass manche Anleger auch zeitweilige Kursrückgange durch negative Berichterstattung für den Einstieg genutzt haben, ändert daran nichts. Denn ein durchschnittlicher Anleger hätte sich nach der Lebenserfahrung nicht - auch nicht zu reduzierten Kursen - für den Kauf von Aktien der W. AG entschieden, wenn die behaupteten verschwiegenen Machenschaften und die damit verbundene Insolvenzgefahr bereits früher in voller Tragweite bekannt gewesen wären (vgl. Senat, Beschluss vom 11.11.2021, 8 U 5670/21, BeckRS 2021, 34699). Erst mit Ad-hoc-Mitteilung vom 22.06.2020 hat die W. AG selbst eingeräumt, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht vorhanden seien Letztlich schuf aber nach Auffassung des Senats erst der Insolvenzantrag der W. AG am 25.06.2020 (als hypothetisch bereits früher gebotene Handlung) volle Klarheit (vgl. Senat, Hinweis vom 09.12.2021, Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; zum Ablauf vgl. auch BT-Drs. 19/30900 S. 82 f.).</p>
<p><rd nr="61"/>Allenfalls bei Investments mit spekulativem Charakter kann die entsprechende Vermutung eingeschränkt oder aufgehoben sein (Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, BeckRS 2021, 34702, dazu näher unten).</p>
<p><rd nr="62"/>Soweit sich die Beklagtenseite generell gegen die Anwendung von Erfahrungssätzen und Vermutungen im Bereich der unerlaubten Handlung wendet, ist diese Auffassung jedenfalls so nicht zutreffend:</p>
<p><rd nr="63"/>So hat z.B. der III. Zivilsenat zu einem „Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1, § 264a Abs. 1, § 27 Abs. 1 StGB und gemäß § 826 BGB“ ausgeführt, dass die auf Tatsachenerfahrung beruhende Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens für die quasi-vertragliche Prospekthaftung und für Schadensersatzansprüche wegen falscher Prospektangaben auf deliktischer Grundlage gleichermaßen gelte (BGH, Urteile vom 21. Februar 2013 - III ZR 139/12 -, Rn. 15, und vom 21. Februar 2013 - III ZR 94/12 -, Rn. 14; bestätigt im Urteil vom 3.2.2022 - III ZR 84/21, mit (wohl) zust. Anm. Zoller, BB 2022, 721).</p>
<p><rd nr="64"/>Auch der XI. Zivilsenat scheint zumindest für Ansprüche aus § 826 BGB dieser Auffassung zu sein (BGH, Urteil vom 16. Oktober 2001 - XI ZR 25/01 -, Rn. 18; ähnlich wohl der II. Zivilsenat im Urteil vom 20.03.1986, II ZR 141/85, Rn. 11).</p>
<p><rd nr="65"/>Mit dem VI. Zivilsenat wird man allerdings wohl unter Schutznormaspekten in manchen Fällen einschränkend verlangen müssen, dass der Anleger jedenfalls Kenntnis von der fehlerhaften Kapitalmarktinformation hatte (BGH, Urteil vom 04.06.2013 - VI ZR 288/12, Rn 25 zum Fall Kombassan; dort ging es um die Frage, ob der Anleger überhaupt bei einer der Versammlungen, bei denen die Anlage angepriesen worden war, anwesend gewesen war).</p>
<p><rd nr="66"/>Der vorliegende Fall unterscheidet sich hiervon aber dadurch, dass die hypothetische Lage hier anders als im Falle Kombassan zu beurteilen ist. Von der Richtigkeit der Anpreisungen in den Versammlungen im Fall Kombassan hing der Fortbestand der dortigen Emittentin nicht ab; hier dagegen hing der Fortbestand der W. AG zur Überzeugung des Senats sehr wohl von den Testaten der Beklagten ab, wie nicht zuletzt deren Insolvenzantrag nach Verweigerung des Testats belegt.</p>
<p><rd nr="67"/>Das unterscheidet den hypothetischen Kausalverlauf hier auch wesentlich von den BGH-Entscheidungen zu Ad-hoc-Mitteilungen i.S. Comroad. Auch dort ging es nicht darum, ob die Comroad bei zutreffender Berichterstattung zusammengebrochen wäre, sondern nur darum, ob sich ein Anleger gerade aufgrund der unrichtigen Berichterstattung beteiligt hat. Das kann so sein, muss es aber nicht, deshalb ist in diesen Fällen für eine Kausalitätsvermutung zumindest eine „Anlagestimmung“ erforderlich. Hier dagegen stellt sich diese Frage so nicht, weil die W. AG bei früherer Testatsverweigerung zur Überzeugung des Senats auch früher Insolvenz angemeldet hätte und sich dann ein durchschnittlicher Anleger nicht mehr beteiligt hätte (vgl. ausführlich Hinweis vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191).</p>
<p><rd nr="68"/>Zu einer vertiefteren schriftlichen Auseinandersetzung mit den weiteren hiergegen von Beklagtenseite - wenn auch nur im Zusammenhang mit der Kausalität der Bestätigungsvermerke, um die es hier nicht unmittelbar geht (s.u.) - erhobenen Einwänden und dem hierzu vorgelegten Gutachten von Prof. B. sähe der Senat im derzeitigen Verfahrensstadium auch sonst keinen Anlass. Zwar muss im Verfahren gem. § 8 KapMuG eine volle Schlüssigkeitsprüfung durchgeführt werden, s.o.. Das bedeutet aber nach Auffassung des Senats nicht, dass das Ergebnis dieser Schlüssigkeitsprüfung bereits in einer Zwischenentscheidung in der Form eines Endurteils begründet werden müsste oder gar zur Vorabklärung umstrittener materiell-rechtlicher Fragen die Rechtsbeschwerde zuzulassen wäre.</p>
<p><rd nr="69"/>(c) Beihilfe zur Haupttat der W. AG durch die Beklagte:</p>
<p><rd nr="70"/>Bei ihrer umfangreichen Gegenerklärung verkennt die Beklagte auch insoweit, dass die Beklagte nach der Konstruktion des Vorlagebeschlusses zu dieser Haupttat durch ihre - behauptet - unrichtigen Bestätigungsvermerke (nur) Beihilfe gem. § 830 Abs. 2 BGB geleistet haben soll. Deren Voraussetzungen hat die Klagepartei hier ebenfalls schlüssig vorgetragen und hinreichend unter Beweis gestellt; sie sind - zumindest in den entscheidenden Teilen - auch Gegenstand der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses:</p>
<p><rd nr="71"/>(aa) Nach der Rspr. des BGH verlangt die Teilnahme an einer unerlaubten Handlung neben der Kenntnis der Tatumstände wenigstens in groben Zügen den jeweiligen Willen der einzelnen Beteiligten, die Tat gemeinschaftlich mit anderen auszuführen oder sie als fremde Tat zu fördern; objektiv muss eine Beteiligung an der Ausführung der Tat hinzukommen, die in irgendeiner Form deren Begehung fördert und für diese relevant ist. (sog. doppelter Gehilfenvorsatz). Für den einzelnen Teilnehmer muss ein Verhalten festgestellt werden, das den rechtswidrigen Eingriff in das den rechtswidrigen Eingriff in ein fremdes Rechtsgut unterstützt hat und das von der Kenntnis der Tatumstände und dem auf die Rechtsgutsverletzung gerichteten Willen getragen wird. Ein bewusstes Verschließen vor der Kenntnis von Tatumständen ist anzunehmen, wenn die Unkenntnis auf einem gewissenlosen oder grob fahrlässigen (leichtfertigen) Handeln beruht, etwa Berufspflichten in solchem Maße leichtfertig verletzt wurden, dass das Verhalten als bedenken- und gewissenlos zu bezeichnen ist (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 11.09.2012, VI ZR 92/11).</p>
<p><rd nr="72"/>(bb) Diesen Anforderungen genügt der beweisbewehrte Vortrag der hiesigen Klagepartei nach Auffassung des Senats ohne weiteres.</p>
<p><rd nr="73"/>Sie hat im Einzelnen ausgeführt und unter Beweis gestellt, dass die Beklagte vorsätzlich, zumindest leichtfertig uneingeschränkte Bestätigungen der Jahresabschlüsse erteilt habe, obwohl sie Bilanzprüfungen nicht ordnungsgemäß durchgeführt habe und obligatorische Prüfvorgänge entweder nicht sachgemäß oder gar nicht durchgeführt habe, wie nicht zuletzt der K.-Sonderbericht belege, wodurch sie billigend in Kauf genommen habe, dass Anleger enorme Kapitalverluste erleiden würden. Damit wird nicht nur eine eigene Haupttat der Beklagten u.a. gem. § 826 BGB schlüssig dargelegt (vgl. dazu Hinweis des Senats vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191), sondern auch eine - mindestens bedingt vorsätzliche - Beihilfe zu einer entsprechenden Haupttat der Verantwortlichen der W. AG.</p>
<p><rd nr="74"/>Die Erweislichkeit dieser Behauptungen würde zur Überzeugung des Senats (§ 286 ZPO) auch die Feststellung tragen, dass die Verantwortlichen der Beklagten neben der Kenntnis der Tatumstände wenigstens in groben Zügen den jeweiligen Willen hatten, die Tat durch - unterstellt - unrichtige Bestätigungsvermerke zumindest als fremde Tat zu fördern. Dass durch diese - unterstellt - unrichtigen Bestätigungsvermerke objektiv die Begehung der - festzustellenden - Haupttaten der W. AG gefördert worden und für diese relevant gewesen wäre, liegt nach Auffassung des Senats auf der Hand, s.o.</p>
<p><rd nr="75"/>(cc) Die Tatbestandsvoraussetzungen einer Beihilfe durch die Verantwortlichen der Beklagten sind - zumindest in den entscheidenden Teilen - auch Gegenstand der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses:</p>
<p><rd nr="76"/>Ob die Beklagte die Haupttat der W. AG gem. § 830 Abs. 2 BGB objektiv gefördert hat, indem sie über die Prüfung der Konzernabschlüsse für 2014 bis 2018 und der zugehörigen Konzernlageberichte nach IAS/IFRS der W. AG einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk erteilt hat, ist Feststellungsziel zu B.I. und II.</p>
<p><rd nr="77"/>Zum Vorsatz der Beklagten wird in dem Vorlagebeschluss unter B.III. als Feststellungsziel aufgeführt, dass die hiesige Beklagte es jeweils billigend in Kauf genommen habe, dass ihre Bestätigungsvermerke unrichtig waren, weil sie sich Originalkontoauszüge und Banksaldenbestätigungen zu den Treuhandkonten nicht habe zeigen lassen und/oder die Zahlungseingänge auf den Treuhandkonten nicht geprüft habe.</p>
<p><rd nr="78"/>Dies würde zur Überzeugung des Senats (§ 286 ZPO) auch den erforderlichen „doppelten Gehilfenvorsatz“ (s.o.) zur Förderung der Haupttat der Verantwortlichen der W. AG hinreichend belegen. Somit kann die von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob die erforderliche Feststellung, dass sie auch hinsichtlich der Schadensfolgen mindestens bedingter Vorsatz treffe, bereits Gegenstand des Musterverfahrens ist, dahinstehen. Denn das läge nach Auffassung des Senats bei Erweislichkeit der oben genannten Feststellungsziele ebenfalls auf der Hand. Den Verantwortlichen der Beklagten muss klar gewesen sein, dass im Falle der Verweigerung der Testate für die W. AG mindestens akute Insolvenzgefahr bestanden hätte und sich dann zumindest ein durchschnittlicher Anleger nicht mehr beteiligt hätte, s.o..</p>
<p><rd nr="79"/>(dd) Eine Schadenskausalität der Beihilfehandlung der Beklagten im engeren Sinne ist nicht erforderlich. Sie muss nur objektiv eine Beteiligung an der Ausführung der Haupttat darstellen, die in irgendeiner Form deren Begehung fördert und für diese relevant ist (BGH, Urteil vom 11.09.2012, VI ZR 92/11). Das ist hier zur Überzeugung des Senats der Fall, s.o. Daher kann derzeit auch dahinstehen, dass der Senat, soweit daneben hier auch eine (selbständige) Haftung der Beklagten aus § 826 BGB im Raum steht, keinen Anlass sähe, von seinem diesbezüglichen Hinweis vom 09.12.2021 (8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191) Abstand zu nehmen.</p>
<p><rd nr="80"/>d) Dass die hiesige Klagepartei (ebenso wie der Senat in seinem Hinweis vom 09.12.2021 (8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191) primär auf § 826 BGB als Anspruchsgrundlage abgestellt hat, der Vorlagebeschluss aber bisher in erster Linie auf §§ 37b ff. WpHG a.F. i.V.m. § 830 Abs. 2 BGB abhebt, steht der Vorgreiflichkeit ebenfalls nicht entgegen:</p>
<p><rd nr="81"/>(a) Wie oben bereits ausführlich dargelegt, würde der Sachvortrag der hiesigen Klagepartei auch eine Haupttat der Verantwortlichen der W. AG aus § 37b WpHG a.F. (Schadenersatz wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen), § 37c WpHG a.F. (Schadenersatz wegen Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen) und § 37v WpHG a.F. (Veröffentlichung von Jahresfinanzberichten) je i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB und einer Beihilfe der Beklagten hierzu gem. § 830 Abs. 2 BGB umfassen. Nach dem Grundsatz „jura novit curia“ kommt es dabei nicht darauf an, ob die hiesige Klagepartei diese Anspruchsgrundlagen ausdrücklich genannt hat.</p>
<p><rd nr="82"/>(b) Außerdem hielte der Senat eine (vorsätzliche) Beihilfe der Beklagten zu einem Verstoß der W. AG gegen §§ 37b WpHG a.F. ff. ohne weiteres auch für sittenwidrig i.S.v. § 826 BGB.</p>
<p><rd nr="83"/>(c) Schließlich deckt der Vorlagebeschluss insbesondere zu B.III. in der Sache auch den Tatbestand von § 826 BGB ab.</p>
<p><rd nr="84"/>Erforderlich ist dafür, dass der Wirtschaftsprüfer seine Aufgabe qualifiziert nachlässig erledigt, zum Beispiel durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein, und dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 20. Januar 2022 - III ZR 194/19, Rz. 18 mwN).</p>
<p><rd nr="85"/>Das wäre zur Überzeugung des Senats der Fall, wenn die hiesige Beklagte es entsprechend dem Feststellungsziel unter B.III. billigend in Kauf genommen hätte, dass ihre Bestätigungsvermerke unrichtig waren, weil sie sich Originalkontoauszüge und Banksaldenbestätigungen zu den Treuhandkonten nicht habe zeigen lassen und/oder die Zahlungseingänge auf den Treuhandkonten nicht geprüft habe.</p>
<p><rd nr="86"/>2. Auch der Höhe nach liegen die Aussetzungsvoraussetzungen nunmehr insgesamt vor:</p>
<p><rd nr="87"/>a) Zu ihrem behaupteten Schaden wegen des Erwerbs von Aktien der W. AG zwischen dem 13.02.2019 und dem 28.04.2020 hat die Klagepartei nach den Feststellungen des Landgerichts den Erwerb von insgesamt 1.344 Aktien zu 143.171,83 € sowie die Veräußerung sämtlicher Aktien am 29.06.2020 zu 4.425,62 € vorgebracht. Von dem sich daraus schlüssig ergebenden Erwerbsschaden in Höhe von 138.746,21 € macht die Klagepartei allerdings in der Berufung nur 138.202,11 € geltend. Insoweit ist die allgemeine haftungsbegründende Kausalität Feststellungsziel des Musterverfahrens und kommt der Klagepartei im Übrigen nach Auffassung des Senats auch ein entsprechender Erfahrungssatz zugute (s.o.), sodass das Verfahren insoweit auszusetzen war. Dazu bringt die Beklagte auch keine konkreten fallbezogenen Einwände vor.</p>
<p><rd nr="88"/>Daher kann weiterhin dahinstehen, ob der hilfsweise geltend gemachte Kursdifferenzschaden nunmehr schlüssig dargelegt wurde. Dieser wurde mit Schriftsatz vom 20.07.2022 mit 141.419,40 € beziffert, wobei die bei der Veräußerung der Aktien erhaltenen 4.425,62 € allerdings nicht berücksichtigt wurden, so dass der hilfsweise geltend gemachte Kursdifferenzschaden jedenfalls nicht über dem mit dem Hauptantrag geltend gemachten Betrag liegt.</p>
<p><rd nr="89"/>b) Soweit die Klagepartei im vorliegenden Falle auch andere Wertpapiere als Aktien erworben hat, ist die allgemeine haftungsbegründende Kausalität weder Feststellungsziel des Musterverfahrens, noch kommt der Klagepartei insoweit nach Auffassung des Senats ein entsprechender Erfahrungssatz zugute. Allerdings hat die Klagepartei eine - gleichwohl denkbare - individuellen Kausalität dieser Wertpapiererwerbe konkret dargestellt und unter Beweis gestellt; deshalb war das Verfahren auch insoweit auszusetzen:</p>
<p><rd nr="90"/>(1) Dass auch die allgemeine haftungsbegründende Kausalität des Erwerbs anderer Wertpapiere als Aktien derzeit bereits Feststellungsziel des Musterverfahrens wäre, kann nach Auffassung des Senats nicht angenommen werden. Denn Gegenstand der dortigen Verfahren sind laut dortigem Lebenssachverhalt nur „Aktiengeschäfte zwischen dem 11.07.2017 und 19.06.2020“. Die Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen kann dann auch nicht darauf gestützt werden, dass eine Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele gem. § 15 Abs. 1 KapMuG naheliegt (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn.25). Es steht der Klagepartei aber frei, gem. § 15 Abs. 1 KapMuG auf eine entsprechende Ergänzung der Feststellungsziele hinzuwirken.</p>
<p><rd nr="91"/>(2) Wie oben bereits im Einzelnen ausgeführt, besteht zwar beim Kauf von Aktien grundsätzlich ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebender Erfahrungssatz dafür, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften und der damit verbundenen Insolvenzgefahr nicht gekauft hätten. Bei Investments mit rein spekulativem Charakter kann die entsprechende Vermutung jedoch eingeschränkt oder aufgehoben sein (Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, BeckRS 2021, 34702, unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 13. 7. 2004 - XI ZR 178/03):</p>
<p><rd nr="92"/>(a) Wie der Bundesgerichtshof in der letztgenannten Entscheidung zu - auf den (damaligen) „Neuen Markt“ bezogenen - Indexzertifikaten entschieden hat, wäre nach der dort gebotenen Aufklärung über den spekulativen Charakter des Erwerbs von Aktien des Neuen Marktes es nicht einzig vernünftig gewesen, von diesen Geschäften abzusehen. Aktien des Neuen Marktes waren seinerzeit nicht nur mit den besonderen Risiken behaftet, sondern boten - wie die über längere Zeit gestiegenen Kurse zeigten - auch entsprechende Gewinnchancen. Dies veranlasste zahlreiche Anleger, in den Neuen Markt zu investieren. Vor diesem Hintergrund hat der BGH es als offen angesehen, wie sich der dortige Kläger nach gehöriger Information verhalten hätte. Da somit mehrere Möglichkeiten der Reaktion des dortigen Klägers auf die gehörige Aufklärung denkbar waren, nämlich sowohl der Abschluss als auch das Unterlassen der verlustbringenden Geschäfte, hätte der dortige Kläger nach Auffassung des BGH den vollen Beweis dafür zu erbringen gehabt, dass er die Aktien des Neuen Marktes und die Indexzertifikate nicht erworben hätte, wenn die dortige Beklagte ihre Aufklärungspflicht ordnungsgemäß erfüllt hätte (BGH, Urteil vom 13.07.2004 - XI ZR 178/03).</p>
<p><rd nr="93"/>(b) So liegt es nach Auffassung des Senats auch hier. Die vorliegende Verfahrensserie, in der senatsbekannt deutlich mehr als 90% der Kläger ausschließlich in Aktien der W. AG angelegt haben, belegt, dass der „durchschnittliche Anleger“ nur in Aktien der W. AG angelegt hat. Bei diesem durchschnittlichen Anleger mit demnach ebenso durchschnittlicher Risikoneigung kann deshalb nach Auffassung des Senats davon ausgegangen werden, dass er die Aktien erworben hat, um von den Geschäftschancen der W. AG - insbesondere durch Dividendenzahlung und ggf. auch durch Kurssteigerung - zu profitieren, und dass er die Aktien deshalb in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften und der daraus resultierenden Insolvenzgefahr nicht gekauft hätte.</p>
<p><rd nr="94"/>Die mögliche Motivationslage von Anlegern, die andere Wertpapiere als Aktien erworben haben, hält der Senat dagegen - wie der BGH in dem von ihm entschiedenen Fall - für bestenfalls ambivalent. Dividendenzahlungen können diese Anleger in der Regel nicht erwarten, sodass sie diese Wertpapiere i.d.R. nur in der Hoffnung auf steigende - oder ggf. auch fallende - Kurse erworben haben können, mithin also zur Spekulation. Ob sie von dieser Spekulation abgesehen hätten, wenn sie die wahre Sachlage gekannt hätten, oder ob sie diese Wertpapiere trotzdem - wenn auch dann zu deutlich niedrigeren Kursen - erworben hätten, hält der Senat für offen, sodass sich hierzu kein Erfahrungssatz bilden lässt.</p>
<p><rd nr="95"/>Anders könnte es nur sein, wenn die Risiken des anderen Wertpapiers jedenfalls nicht höher erscheinen als die von Aktien; dies muss dann allerdings klägerseits konkret dargelegt und ggf. nachgewiesen werden (vom Senat z.B. bejaht im Aussetzungsbeschluss vom 27.06.2022, Gz. 8 U 7619/21, für Zinszertifikate, die bei Unterschreiten eines bestimmten Kurses der W.-Aktie nur dazu führen, dass der Erwerber Aktien in entsprechender Zahl erhält, nv; vom Senat z.B. verneint im Aussetzungsbeschluss vom 05.09.2022, Gz. 8 U 1901/22, für Derivate mit Hebelwirkung, nv).</p>
<p><rd nr="96"/>(c) Vorliegend hat die Klagepartei auch in ihrem weiteren Schriftsatz vom 20.07.2022 nach Hinweis des Senats vom 04.07.2022 (dort S. 6/7) weder schlüssig vorgetragen noch durch entsprechende Unterlagen belegt, dass die hier genannten sonstigen Wertpapiere (Anleihen und Call-Optionsscheine) in Funktion und Risiken im wesentlichen Aktien entsprochen hätten. Ein substantiierter Vortrag im Sinne einer Erläuterung der entsprechenden Geschäfte und deren Abhängigkeit vom Kurs der W. Aktie erfolgte auch in dem weiteren Schriftsatz nicht. Die bloße pauschale Behauptung, die Anleihe und die Call-Optionen seien vom jeweiligen Basiswert der Aktie und damit von der Kursentwicklung der W. Aktie abhängig, genügt insoweit nicht. Damit bleibt es dabei, dass eine Vermutungswirkung hier nicht angenommen werden kann.</p>
<p><rd nr="97"/>(3) Auch zu einem etwaigen Kursdifferenzschaden bezüglich der sonstigen Wertpapiere, dessen Ersatzfähigkeit ohne konkreten Kausalitätsnachweis Feststellungsziel zu C. wäre, hat die Klagepartei trotz Hinweises des Senats nicht näher vorgetragen. Der Vortrag zum Kursdifferenzschaden im Schriftsatz vom 20.07.2022 bezieht sich ausdrücklich nur auf die erworbenen Aktien.</p>
<p><rd nr="98"/>(4) Deshalb war hier eine konkrete Darlegung und ggf. ein konkreter Nachweis der individuellen Kausalität - die von dem Vorlagebeschluss ausdrücklich nicht erfasst wird (s.o.) - erforderlich (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, NZG 2022, 239 Rn. 16, zu Optionsscheinen).</p>
<p><rd nr="99"/>(a) Entsprechender Vortrag ist vorliegend erfolgt. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 20.07.2022 - wie auch bereits erstinstanzlich (Replik v. 06.10.21, S. 59/60; Bl. 270/271) sowie in der Berufungsbegründung (S. 32 mit Verweis auf die Replik Bl. 59) - erneut vorgetragen, dass sie auch die sonstigen Wertpapiere bei pflichtgemäßem Verhalten der Beklagten nicht erworben hätte. Sie habe insbesondere den Geschäftsbericht 2018 der W. AG intensiv gelesen und habe dabei auch den Bestätigungsvermerk im Blick gehabt. Gerade auch im Hinblick auf die uneingeschränkten Testate habe sie in Wertpapiere der W. AG sowie auf diese bezogene sonstigen Wertpapiere investiert (Schriftsatz v. 20.07.22, S. 3/4). Zum Beweis hat sie erneut - wie bereits erstinstanzlich (s.o.) - die Vernehmung der Klagepartei angeboten.</p>
<p><rd nr="100"/>(b) Damit ist dieses Beweisangebot auch nicht gem. § 531 II ZPO verspätet. Schon im Hinblick darauf, dass z.B. der 3. Zivilsenat des OLG München einen Erfahrungssatz auch bei Derivaten annimmt (z.B. Beschluss vom 07.07.2022, Gz. 3 U 1238/22, nv), war außerdem ein vorheriger Hinweis des Senats gem. § 138 ZPO auf seine abweichende Auffassung geboten, den die hiesigen Klägervertreter bisher vom Senat nicht erhalten hatten.</p>
<p><rd nr="101"/>(c) Dieses Beweisangebot ist nach Auffassung des Senats ausreichend. Unabhängig von der Frage, ob insoweit die Voraussetzungen des § 447 ZPO vorliegen, wäre die Klagepartei angesichts ihrer offensichtlichen Beweisnot ggf. zunächst zu dieser Frage persönlich anzuhören und sodann, wenn sich daraus die für eine Parteieinvernahme von Amts wegen erforderliche Anfangswahrscheinlichkeit ergibt, ggf. gem. § 448 ZPO als Partei zu vernehmen (vgl. dazu z.B. BGH, Urteil vom 9.5.2005 - II ZR 287/02, zu den Ad-hoc-Mitteilungen von EMTV und dazu OLG München, Urteil vom 09.10.2008 - 19 U 5176/07, BeckRS 2008, 21715, Juris). Weitere Einzelheiten oder Erläuterungen sind zur Substantiierung nicht erforderlich (vgl. BGH vom 08.05.2012, Gz. XI ZR 262/10, für entsprechende Gegenbeweisanträge).</p>
<p><rd nr="102"/>(d) Mit diesem Beweisangebot ist die Klagepartei auch nicht ausgeschlossen, obwohl der Kläger erstinstanzlich trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens durch das Gericht zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 23.09.2021 nicht erschienen ist und der Klägervertreter keine Vollmacht nach § 141 Abs. 3 ZPO vorweisen konnte. Denn die Anordnung des persönlichen Erscheinens erfolgte ausweislich der Verfügung des Landgerichts vom 23.08.2021 (Bl. 207/208) lediglich allgemein zur Aufklärung des Sachverhaltes; eine vorherige Ankündigung, dass und zu welchen streitigen Tatsachen der Kläger in der mündlichen Verhandlung zur Abklärung einer etwaigen Parteieinvernahme angehört werden soll, erfolgte nicht, so dass die Folgen für den Kläger nicht absehbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2014,Gz. XI ZR 219/13, Rz. 14, zum Nichterscheinen des Gegners).</p>
<p><rd nr="103"/>(e) Der Höhe nach hat die Klagepartei den durch den Kauf der Call-Optionsscheine am 10.03.20 und 17.03.20 entstandenen Schaden und den durch den Kauf der Anleihe für 10.000 € am 10.03.20 entstandenen Schaden schlüssig dargelegt. Dass sie hinsichtlich der Anleihe lediglich 9.241,77 € beantragt, steht der Schlüssigkeit nicht entgegen.</p>
<p><rd nr="104"/>(5) Daher hat die Klagepartei auch die individuelle Kausalität hinsichtlich der sonstigen Wertpapiere hinreichend dargelegt und unter Beweis gestellt. Somit konnte das Verfahren auch insoweit ausgesetzt werden. Eine vorherige Beweisaufnahme zur individuellen Kausalität war nach Auffassung des Senats nicht geboten:</p>
<p><rd nr="105"/>(a) Hat das Gericht neben dem Feststellungsziel des Musterverfahrens das Vorliegen weiterer Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsnorm im Rahmen einer Beweisaufnahme zu klären, kommt es darauf an, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die Entscheidung des Rechtsstreits auch nach Klärung der Tatsachenfrage noch von dem Ausgang des Musterverfahrens abhängt. Diese Frage hat das Gericht unter Berücksichtigung des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums zu beantworten. Das Gericht hat zwischen den mit der Aussetzung verbundenen Rechtsnachteilen für die Parteien, wie etwa Beweisschwierigkeiten bei längerer Verfahrensdauer, mit den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie und der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen abzuwägen (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rz. 19; ähnlich bereits zuvor Lechner, WuB 2019, 591).</p>
<p><rd nr="106"/>Nach Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH erfordert der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes dagegen eine Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG, nach der eine Aussetzung nur dann in Betracht kommt, wenn sich das Prozessgericht bereits die Überzeugung (§ 286 ZPO) gebildet hat, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen wird. Das soll auch dann gelten, wenn hierzu vorab eine Beweisaufnahme durchzuführen wäre (BGH, Beschluss vom 30.04.2019 - XI ZB 13/18, mit zust. Anm. Zoller, BB 2019, 2390; Dörrscheidt/Hettenbach, EWiR 2019, 585; mit abl. Anm. Lechner, WuB 2019, 591; a.A. Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 13).</p>
<p><rd nr="107"/>(b) Der Senat folgt der erstgenannten Auffassung. Er hält die gegenteilige Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH für dem Willen des Gesetzgebers widersprechend und auch sonst - zumindest in dieser Allgemeinheit - für kaum praktikabel:</p>
<p><rd nr="108"/>(aa) Der Gesetzesbegründung zufolge ist bei der Aussetzungsentscheidung durch das Prozessgericht die Abhängigkeit abstrakt zu beurteilen; deshalb genüge es, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit abhängen könne. Es sei nicht erforderlich, dass die Entscheidung nach Klärung sämtlicher übriger Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfragen nur noch von den Feststellungszielen abhänge. An dieser Stelle werde dem Prozessgericht ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt (BT-Drs. 17/8799 S. 20).</p>
<p><rd nr="109"/>Soweit der XI. Zivilsenat des BGH meint, diese Auffassung des Gesetzgebers sei verfassungswidrig, weil sie gegen das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes verstoße, überzeugt das den Senat nicht. Abgesehen davon, dass der XI. Zivilsenat die Sache dann wohl gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Entscheidung hätte vorlegen müssen (vgl. Lechner, WuB 2019, 591), hat das BVerfG zur Aussetzung gem. § 149 ZPO bereits entschieden, dass 149 ZPO mit den verfassungsrechtlichen Garantien eines wirkungsvollen Rechtsschutzes vereinbar sei. Allerdings seien die Zivilrichter bei der Entscheidung über die Aussetzung gem. § 149 ZPO verpflichtet, im Einzelnen sorgfältig abzuwägen, ob die Aufklärungsmöglichkeiten eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens den Verzögerungseffekt im anhängigen Zivilrechtsstreit rechtfertigen können (BVerfG, Beschluss vom 30.06.2003 - 1 BvR 2022/02). Dass die Einräumung eines Beurteilungsspielraums durch den Gesetzgeber in § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG per se verfassungswidrig ist, wird deshalb wohl kaum angenommen werden können. Es handelt sich vielmehr, wie vom Gesetzgeber gewollt, um eine Abwägungsfrage.</p>
<p><rd nr="110"/>Der Gesetzgeber hat das Spannungsverhältnis zwischen Prozessökonomie einerseits und Anspruch auf effektiven Rechtsschutz andererseits auch durchaus selbst gesehen. Den Parteien des Ausgangsverfahrens solle im Hinblick darauf nicht zugemutet werden, aufgrund eines fehlerhaften Aussetzungsbeschlusses möglicherweise jahrelang auf den Abschluss des Musterverfahrens warten zu müssen, bevor ihr Ausgangsverfahren fortgesetzt werden kann. Deshalb findet künftig gegen die Aussetzungsentscheidung gemäß § 252 ZPO die sofortige Beschwerde statt (BT-Drs. 17/8799 S. 20/21).</p>
<p><rd nr="111"/>(bb) Zur Verzögerungsgefahr weist der XI. Zivilsenat zwar zutreffend darauf hin, dass Musterverfahren bis zu ihrem rechtskräftigen Abschluss i.d.R. mehrere Jahre dauern.</p>
<p><rd nr="112"/>Die von ihm verlangte Vorklärung sämtlicher Vorfragen in ggf. umfangreichen individuellen Beweisaufnahmen würde allerdings wohl ihrerseits nochmals zu einer ganz erheblichen weiteren Verlängerung der Musterverfahren führen. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG ist der Musterverfahrensantrag nämlich als unzulässig zu verwerfen, „soweit die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt“ (s.o.). Somit müssten die entsprechenden Vorfragen - ggf. auch durch Beweisaufnahme - vom Landgericht bereits vor der Einleitung eines Musterverfahrens abschließend geklärt werden - und dann mangels Bindungswirkung in den gem. § 8 KapMuG auszusetzenden Einzelverfahren ggf. jeweils nochmals. Das hält der Senat nicht für sinnvoll.</p>
<p><rd nr="113"/>Es ist auch keineswegs so, dass rechtskräftige Entscheidungen im Individualrechtstreit immer so viel schneller zu erlangen wären - das zeigt sich in der vorliegenden Verfahrensserie besonders deutlich:</p>
<p><rd nr="114"/>Wie bereits im Terminshinweis vom 09.12.2021 (Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; WM 2022, 174) im Einzelnen ausgeführt, wären die zahlreichen klageabweisenden Urteile des Landgerichts München I wohl allesamt aufzuheben und zur umfangreichen Beweisaufnahme an das Landgericht zurückzuverweisen gewesen (entsprechende vorsorgliche Zurückverweisungsanträge wurden in den ursprünglich vom Senat terminierten Verfahren gestellt - im Hinblick auf die zwischenzeitliche Einleitung des Musterverfahrens wurden die Termine dann aber vom Senat abgesetzt), wenn kein Musterverfahren zustande gekommen wäre.</p>
<p><rd nr="115"/>Gegen diese Zurückverweisungsurteile hätte die Beklagte, die weiterhin der Auffassung ist, dass die Klagen ohne Beweisaufnahme abzuweisen seien, wohl schon zur Vermeidung der Bindungswirkung entsprechend § 563 Abs. 2 ZPO (vgl. MüKoZPO/Musielak, 6. Aufl. 2020, ZPO § 318 Rn. 6) den BGH angerufen, sodass mit einem Beginn der Beweisaufnahme vor dem Landgericht in den Einzelverfahren wohl frühestens in weiteren 2 Jahren zu rechnen gewesen wäre.</p>
<p><rd nr="116"/>Mit einem Abschluss dieser Verfahren erster Instanz mit umfangreicher Beweisaufnahme wäre wohl kaum vor Ablauf von weiteren 2 Jahren zu rechnen gewesen. Gefolgt von einem zweiten Berufungsverfahren und einer zweiten Anrufung des BGH wären daher abschließende Entscheidungen auch in den Individualrechtstreiten hier kaum vor Ablauf von mindestens weiteren 6 Jahren zu erlangen gewesen. In dieser Zeit sollte auch das KapMuG-Verfahren mindestens bis zu einer ersten Entscheidung des BGH gebracht werden können.</p>
<p><rd nr="117"/>(cc) Welche prozessualen Maßnahmen zur Verfahrensförderung das Prozessgericht in welcher Reihenfolge für sinnvoll und geboten hält, gehört zu seinen verfahrensleitenden Befugnissen, die nur sehr beschränkt einer Überprüfung durch Rechtsmittel zugänglich sind (vgl. dazu jüngst, BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 - VII ZB 46/21, zur Anfechtung eines Beweisbeschlusses). Dies muss dann aber auch für den Fall gelten, dass Feststellungen zum Anspruchsgrund in einem Musterverfahren getroffen werden sollen. In solchen Fällen zu verlangen, dass sämtliche Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfragen in jedem einzelnen Verfahren und in jedem Falle vorabgeklärt werden, würde die verfahrensleitenden Befugnisse der Prozessgerichte unnötig beschneiden und zu erheblichem und - je nach Ausgang des KapMuG-Verfahrens - möglicherweise überflüssigem Aufwand führen und damit auch der Zielsetzung des KapMuG entgegenstehen.</p>
<p><rd nr="118"/>Auch die Frage, ob vorab eine Beweisaufnahme durchgeführt werden soll, hat das Prozessgericht deshalb nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung des ihm vom Gesetzgeber eingeräumten Beurteilungsspielraums abzuwägen. Das Prozessgericht wird dabei insbesondere zwischen den mit der Aussetzung verbundenen Rechtsnachteilen für die Parteien, wie etwa Beweisschwierigkeiten bei längerer Verfahrensdauer, und mit den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie abzuwägen haben. Auch die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Beweisergebnis zu erwarten ist, das eine Aussetzung gem. § 8 KapMuG vermeiden würde, wird dabei zu berücksichtigen sein.</p>
<p><rd nr="119"/>(c) Unter Abwägung aller Gesichtspunkte hält der Senat hier eine vorherige Beweisaufnahme zur individuellen Kausalität nicht für geboten:</p>
<p><rd nr="120"/>(aa) Dagegen spricht schon, dass die Beweisaufnahme zur Kausalität bei den Derivaten hier nur einen geringen Teil des Gesamtstreits beträfe und wegen des weit größeren Teils, der Aktienerwerbe betrifft (ca. 140.000.- € Aktien ggü. nur ca. 23.000.- € Derivate), unabhängig davon eine Aussetzung erfolgen müsste, s.o. Es geht hier also nicht um die insgesamte anderweitige Entscheidungsreife des Rechtsstreits, sondern nur eines kleineren Teils davon. Dafür erschiene eine vorherige Terminierung zur Beweisaufnahme unverhältnismäßig.</p>
<p><rd nr="121"/>(bb) So würde ein Prozessgericht auch in einem gewöhnlichen Streitverfahren nicht vorgehen. In der Regel würde es in einem nach Grund und Höhe streitigen Fall zunächst die Beweisaufnahme zum Anspruchsgrund durchführen und nicht vorab für einen Teil des Schadens die Klärung der individuellen Kausalität durch Beweisaufnahme vorziehen. Warum das grundlegend anders gesehen werde sollte, wenn der Anspruchsgrund in einem Musterverfahren geklärt werden soll, erschließt sich dem Senat nicht.</p>
<p><rd nr="122"/>(cc) Der Senat geht außerdem davon aus, dass das Musterverfahren zur gegebenen Zeit gem. § 15 Abs. 1 KapMuG um Feststellungsziele auch zur Kausalität bei Derivaten erweitert werden dürfte. Zwar kann eine Aussetzung des Verfahrens erst erfolgen, wenn das Musterverfahren tatsächlich gemäß § 15 Abs. 1 KapMuG um weitere Feststellungsziele erweitert wurde, von denen die Entscheidung des Rechtstreits abhängt (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19). Gleichwohl kann dies aber bei der Abwägung berücksichtigt werden, ob vorab eine - im Falle der Erweiterung ggf. überflüssige - Beweisaufnahme durchgeführt werden soll.</p>
<p><rd nr="123"/>(dd) Schließlich geht der Senat nach seinen Erfahrungen als Kapitalanlagesenat davon aus, dass die Beweisaufnahme zumindest mit Wahrscheinlichkeit das klägerseits behauptete Ergebnis zur individuellen Kausalität hätte und das Verfahren dann doch auch insoweit auszusetzen wäre.</p>
<p>IV.</p>
<p><rd nr="124"/>1. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof war zuzulassen, soweit auch eine Aussetzung wegen des Erwerbs anderer Wertpapiere als Aktien erfolgt ist.</p>
<p><rd nr="125"/>Der Senat weicht insoweit von der Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH ab, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes eine Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG erfordere, nach der eine Aussetzung nur dann in Betracht komme, wenn sich das Prozessgericht bereits die Überzeugung gebildet hat, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen werde, und hierzu vorab eine Beweisaufnahme durchzuführen sei (vgl. o.). Dies ist auch entscheidungserheblich, da nach der o.g. Rechtsprechung hier vorab eine Anhörung und ggf. Beweisaufnahme (Parteieinvernahme) zur Frage der individuellen Kausalität hinsichtlich des Kaufs der sonstigen Wertpapiere (Anleihe, Call-Optionen) erfolgen müsste.</p>
<p><rd nr="126"/>2. Im Übrigen war die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen:</p>
<p><rd nr="127"/>a) Zwar weicht der Senat auch von der Rspr. des XI. Zivilsenats des BGH ab, wonach im Rahmen der Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG auch zu prüfen sein soll, ob die geltend gemachten Klageansprüche nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 KapMuG in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen, und folgt insoweit der gegenteiligen Rspr. des II. Zivilsenats des BGH, wonach die Aussetzungsentscheidung ausschließlich von den in § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG genannten Voraussetzungen abhängt. Abgesehen davon, dass diese Divergenz primär innerhalb des BGH - ggf. durch Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen - zu klären wäre, ist sie für die Entscheidung des Senats aber nicht entscheidungserheblich, weil er das Musterverfahren im vorliegenden Falle für statthaft hielte, falls er das zu prüfen hätte. Jedenfalls hinsichtlich der Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG als Haupttat bestehen insoweit auch keine ernsthaften Zweifel.</p>
<p><rd nr="128"/>b) Die übrigen vom Senat in dem Beschluss geäußerten Überzeugungen wären als (in einem Zwischenverfahren notwendigerweise vorläufige) tatrichterliche Würdigungen gem. § 286 ZPO selbst in einer Endentscheidung nicht divergenz- oder vorlagefähig (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 16.09.2003 - XI ZR 238/02). Dies betrifft etwa auch die abweichend vom 3. Zivilsenat des OLG München (Gz. 3 U 1238/22, s.o.) erfolgte Verneinung eines Erfahrungssatzes bei den vorliegenden Derivaten. Auch sonst wäre in einer Zwischenentscheidung nicht die Rechtsbeschwerde zur Vorabklärung umstrittener materiell-rechtlicher Fragen zuzulassen; deren ggf. höchstrichterliche Klärung ist vorrangig dem Musterverfahren vorbehalten und subsidiär einer Endentscheidung im vorliegenden Verfahren.</p>
</div>
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346,670 | ovgnrw-2022-09-19-22-a-330021 | {
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"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 22 A 3300/21 | 2022-09-19T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:06 | 2022-10-17T11:10:27 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0919.22A3300.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 30.000,-- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Das ist hier nicht der Fall. Die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substanziiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die von den Klägern aufgeworfene, für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage,</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">„ob beim Erreichen des Schwellenwertes (nicht nur von drei, sondern auch sechs oder mehr oder 20) im Sinne des §§ 3 ff. UVPG (nur) gleichzeitig sich im Betrieb befindliche Anlagen zu berücksichtigen sind“,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">ist schon nicht entscheidungserheblich. Denn das Verwaltungsgericht hat seine Annahme, das Vorhaben unterliege nicht der Pflicht zur Durchführung einer UVP-Vorprüfung, nicht, jedenfalls nicht entscheidungstragend, darauf gestützt, die abzubauende Windenergieanlage sei wegen der Rückbauverpflichtung vor Inbetriebnahme der hier umstrittenen WEA 2 nicht zu berücksichtigen bzw. es komme nur auf einen gleichzeitigen Betrieb an, sondern darauf, dass die beiden genehmigten Anlagen und die sog. Altanlage mangels funktionalen Zusammenhangs keine Windfarm i. S. v. § 2 Abs. 5 UVPG bildeten. Es hat dabei ausdrücklich eine zeitweise potenzielle Überschneidung aus der Errichtung der WEA 2 sowie der Errichtung/dem Betrieb der WEA 1 und dem Betrieb der Altanlage auf C. Gemeindegebiet zugrunde gelegt. Ein vom Verwaltungsgericht vertretener Ansatz, wonach „drei Anlagen erst vorhanden sind, wenn diese Anlagen gleichzeitig in Betrieb sind, nicht wenn sie bereits im Bau oder sonst vorhanden sind“, findet sich hingegen in dem angegriffenen Urteil nicht. Diese These, aus der die Kläger eine grundsätzliche Bedeutung ableiten wollen, geht vielmehr vollständig an der Argumentation des Verwaltungsgerichts vorbei. Auf dessen eingehende und überzeugende Begründung, also auf den fehlenden, nach § 2 Abs. 5 UVPG für das Vorliegen einer Windfarm aber erforderlichen, funktionalen Zusammenhang, geht der Zulassungsantrag indes mit keinem Wort ein und zeigt so nicht auf, dass diese Feststellungen Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwürfen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine grundsätzliche Bedeutung auch nicht aus einer vermeintlich bestehenden Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 267 AEUV. Auch diese leiten die Kläger allein aus der - unzutreffenden - Annahme ab, das Verwaltungsgericht habe den gleichzeitigen Betrieb vorhandener Windenergieanlagen als unabdingbare Voraussetzung für eine Windfarm angesehen. Wie die Kläger zu der Auffassung gelangen, eine Vorlagepflicht ergäbe sich (auch) daraus, dass „es kein Rechtsmittel dagegen auf nationaler Ebene gibt, die Auslegung von drei oder mehr, also §§ 6, 7 UVPG i. V. m. der Anlage 1 überprüfen zu lassen“, erschließt sich schon deshalb nicht einmal ansatzweise, weil sie diese These in einem Rechtsmittelschriftsatz aufstellen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 und 3, 159, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese als notwendig Beigeladene hinreichenden Anlass hatte, sich in das Verfahren mittels anwaltlicher Unterstützung einzubringen und sie dies im Zulassungsverfahren auch eingehend getan hat.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 19.2 und Nr. 2.2.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, wobei der Senat bis zum Erreichen einer Obergrenze in Höhe von 60.000,‑- Euro für jede streitgegenständliche Windenergieanlage einen Streitwert in Höhe von 15.000,-- Euro festsetzt.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags ist das angefochtene Urteil rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.</p>
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346,669 | ovgnrw-2022-09-19-9-b-99022 | {
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 9 B 990/22 | 2022-09-19T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:05 | 2022-10-17T11:10:27 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0919.9B990.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Die Beschwerde ist zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">a. Sie ist fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Antragstellerin hat die zweiwöchige Beschwerdefrist (§ 147 Abs. 1 VwGO) und die einmonatige Beschwerdebegründungsfrist (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) gewahrt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 9. August 2022 ist der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 12. August 2022 bekanntgegeben worden. Die Einlegung der Beschwerde am 26. August 2022 und die Vorlage der Begründung am 12. September 2022 wahren damit die oben genannten Fristen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dem steht nicht entgegen, dass die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin am 12. September 2022 ein elektronisches Empfangsbekenntnis (eEB) über die Zustellung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses (erst) an diesem Tag übermittelt hat. Zwar erbringt das Empfangsbekenntnis grundsätzlich den vollen Beweis für das aus ihm ersichtliche Zustellungsdatum. Diese Beweiswirkung kann aber widerlegt werden. Der Nachweis eines falschen Datums ist dann erbracht, wenn die Beweiswirkungen des Empfangsbekenntnisses entkräftet sind und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angabe auf dem Empfangsbekenntnis richtig sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 27. März 2001 ‑ 2 BvR 2211/97 ‑, juris Rn. 19 f.; BVerwG, Beschluss vom 11. Oktober 2017 ‑ 1 WNB 3.17 ‑, juris Rn. 6, jew. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das ist hier sowohl mit Blick darauf, dass die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin bereits am 26. August 2022 Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt hat, als auch nach deren eigenen Angaben im Schriftsatz vom 16. September 2022 der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">b. Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere genügt die Beschwerdebegründung den Vorgaben des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Dem steht nicht entgegen, dass die Antragstellerin weder in der Beschwerdeschrift vom 26. August 2022 noch in der Beschwerdebegründung vom 12. September 2022 einen Antrag formuliert hat.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Zwar ergibt sich aus § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO das Erfordernis, dass die Begründung u. a. einen bestimmten Antrag enthalten muss. Das Fehlen eines ausdrücklich formulierten Antrags ist aber ausnahmsweise unschädlich, wenn sich das Rechtsschutzziel aus der Beschwerdebegründung gleichwohl klar ergibt. Denn das Antragserfordernis soll den Beschwerdeführer (nur) dazu veranlassen, sein Begehren nach Zielrichtung und Umfang eindeutig festzulegen und das Gericht so in die Lage zu versetzen, eine das Begehren erschöpfende Entscheidung zu fällen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. August 2020 ‑ 1 B 363/20 ‑, juris Rn. 3.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Danach ist das Fehlen eines ausdrücklichen Antrags hier unschädlich. Der Beschwerdebegründung lässt sich zweifelsfrei entnehmen, dass die Antragstellerin ihr erstinstanzliches Begehren, der Antragsgegnerin die in deren Schreiben vom 19. Juli 2022 angekündigte Veröffentlichung zu untersagen bzw., nachdem die Veröffentlichung zwischenzeitlich erfolgt ist, die veröffentlichten Informationen aus dem Internet zu entfernen, weiterverfolgt und mit der Beschwerde eine entsprechende Änderung des angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts anstrebt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">2. Die Beschwerde ist aber unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, bietet keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss zu ändern.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin rügt, dass die im Streit stehende Veröffentlichung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts unverhältnismäßig sei. Sie sei nicht angemessen, denn die Nachteile, die damit verbunden seien, stünden außer Verhältnis zu den Vorteilen, die sie bewirke. Es sei offensichtlich, dass die Veröffentlichung im Internet für sie, die Antragstellerin, ganz erhebliche negative Konsequenzen haben könne, die später nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Eine Verbraucherinformation zu angeblichen Rechtsverstößen eines Unternehmens könne für dieses existenzgefährdend oder sogar existenzvernichtend sein.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Aus diesem Vorbringen ergibt sich jedoch nicht, dass die im Streit stehende Veröffentlichung entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts einen nicht gerechtfertigten, weil unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerin darstellt und ihr deshalb ein öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch aus Art. 12 Abs. 1 GG zusteht. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Veröffentlichung könne auf § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB gestützt werden, dessen tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt seien. Hierzu verhält sich die Beschwerde nicht. Es fehlt an jeglicher Auseinandersetzung mit der Auffassung des Verwaltungsgerichts zum Vorhandensein einer gesetzlichen Grundlage, die im vorliegenden Fall das staatliche Informationshandeln rechtfertigt. Insbesondere wird die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB im vorliegenden Fall erfüllt seien, von der Beschwerde nicht angegriffen. Im Übrigen fehlt auch jegliche Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit der Veröffentlichungen nach § 40 Abs. 1a LFGB.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und Abs. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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346,668 | ovgnrw-2022-09-19-11-a-20020a | {
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 11 A 200/20.A | 2022-09-19T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:05 | 2022-10-17T11:10:27 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0919.11A200.20A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufung wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p>
<p>Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der nach seinen Angaben am 1. September 1994 im Irak geborene Kläger stellte am 28. August 2019 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Eine vom Bundesamt eingeholte EURODAC-Anfrage ergab, dass er am 13. Juli 2019 in Rumänien einen Asylantrag gestellt hatte.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Ein am 2. September 2019 an die rumänischen Behörden gerichtetes Wiederaufnahmegesuch akzeptierten diese unter dem 12. September 2019 und teilten mit, dass der Kläger sich abgesetzt habe, sein Asylantrag als zurückgenommen gelte und das Verfahren am 19. August 2019 eingestellt worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">In seiner Anhörung durch das Bundesamt am 11. Oktober 2019 erklärte der Kläger, er habe in Rumänien keinen Asylantrag gestellt, keine Anhörung gehabt und sich nur für einen Tag dort aufgehalten. Sein Ziel sei Deutschland gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 16. Oktober 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.), und ordnete seine Abschiebung nach Rumänien an (Ziffer 3.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt auf neun Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 11. November 2019 hat der Kläger Klage erhoben und einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">den Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2019 aufzuheben,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des vorgennannten Bescheides zu verpflichten, ein nationales Abschiebungshindernis bezüglich Rumänien festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19. November 2019 - 1 L 1309/19.A - abgelehnt. Die Klage hat es mit Urteil vom 20. Dezember 2019 - dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 23. Dezember 2019 - abgewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. November 2019 - 1 L 1309/19.A - durch Beschluss vom 17. Januar 2020 - 11 B 55/20.A - geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober 2019 angeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor:</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie die außergewöhnlichen Schwierigkeiten der Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erforderten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. In Rumänien drohe ihm ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK. Im Fall seiner Rücküberstellung nach Rumänien sei er dort darauf angewiesen, einen Folgeantrag zu stellen, da sein Asylverfahren wegen Nichtbetreibens eingestellt worden sei. Folgeantragsteller seien in Rumänien von der Unterbringung und weiteren materiellen Leistungen ausgeschlossen. Zugang zum Arbeitsmarkt erhielten Asylantragsteller erst nach drei Monaten. Dublin-Rückkehrern drohe somit die Gefahr von Obdach- und Mittellosigkeit. Leistungen würden ohnehin erst ab der Registrierung des Asylgesuchs gewährt. Berichten über die Situation von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Rumänien von staatlicher Seite könne nur ein eingeschränkter Wahrheitsgehalt zugeschrieben werden. Die tatsächlich gewährten Leistungen reichten nicht aus, um die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Dublin-Rückkehrer würden in Haft genommen. Die Haftbedingungen verstießen, insbesondere für vulnerable Personen, etwa Minderjährige, gegen Art. 4 GRCh. Es bestehe die Gefahr, dass Rumänien durch Abschiebungen nach Serbien gegen das Refoulement-Verbot nach Art. 33 Abs. 1 der GFK verstoße. Insoweit sei auf das Verfahren 11 A 500/22.A und die vom dortigen Kläger geschilderten Geschehnisse zu verweisen. Im Fall der Anerkennung als Schutzberechtigter hätte er zwar dieselben Rechte wie rumänische Staatsbürger bezüglich Bewegungsfreiheit, Aufenthalt, Eigentum und Zugang zu Wohnraum und Wohnbeihilfen, jedoch sei er in der Praxis mit Hindernissen beim effektiven Zugang zu diesen Rechten konfrontiert.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt sinngemäß und schriftsätzlich,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">das Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 20. Dezember 2019 abzuändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober 2019 aufzuheben,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">hilfsweise die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 16. Oktober 2019 zu verpflichten, Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört worden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte - insbesondere den Schriftsatz des Klägers vom 13. September 2022 - sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">A. Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 130a VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Eine mündliche Verhandlung war nicht durch Art. 6 Abs. 1 EMRK geboten. Art. 6 Abs. 1 EMRK, der Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen sowie strafrechtliche Anklagen erfasst, findet in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren der vorliegenden Art keine Anwendung.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. März 2002 - 1 C 15.01 -, BVerwGE 116, 123 = juris, Rn. 6 m. w. N.; EGMR, Urteil vom 12. Juli 2001 - 44759/98 (Ferrazzini/Italien) -, NJW 2002, 3453.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen kommt eine Verletzung dieser Bestimmung jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn die Beteiligten - wie vorliegend - im vorherigen Rechtszug freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben und deshalb nach § 101 Abs. 2 VwGO entschieden werden konnte.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1998- 2 C 4.97 -, Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 113 = juris, Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dass der Streitfall rechtlich oder tatsächlich besonders schwierig oder komplex ist, ist weder ersichtlich noch vom Kläger dargetan.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">B. Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist mit dem Hauptantrag als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO zulässig. Die isolierte Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart, wenn ein Schutzsuchender die Aufhebung einer Entscheidung über die Unzuständigkeit Deutschlands für die Prüfung seines Asylantrags nach den unionsrechtlichen Regelungen der Dublin-Verordnung begehrt.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 -, NVwZ 2016, 154 = juris, Rn. 13 f.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der zweite gegen Ziffer 2. des angefochtenen Bescheids und auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG gerichtete Hilfsantrag ist als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1, 2. Var. VwGO zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">II. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 67 f.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">1. Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt. Nach der Dublin III-VO ist Rumänien für das Asylverfahren des Klägers zuständig.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">a) Die Zuständigkeit Rumäniens folgt aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 lit. c) Dublin-III-VO. Demnach ist Rumänien zur Wiederaufnahme des Klägers verpflichtet, da er zuerst in Rumänien einen Asylantrag gestellt hat und das dortige Asylverfahren eingestellt worden ist. An der entsprechenden Auskunft der rumänischen Behörden, die dem Eurodac-Ergebnis entspricht, ergeben sich keine durchgreifenden Zweifel aufgrund der Angaben des Klägers im Rahmen seiner Bundesamtsanhörung, er habe in Rumänien keinen Asylantrag gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">b) Die Zuständigkeit ist nicht nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO wegen Verstreichens der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Nach dieser Vorschrift erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs erfolgte vorliegend am 12. September 2019, sodass Fristbeginn der 13. September 2019 war. Die sechsmonatige Überstellungsfrist endete damit grundsätzlich mit Ablauf des 12. März 2020.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vor Ablauf der Überstellungsfrist hat der beschließende Senat mit Beschluss vom 17. Januar 2020 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet, wodurch die Überstellungsfrist unterbrochen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">c) Die Bundesrepublik Deutschland ist auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen sind nicht erfüllt, insbesondere ist kein Fall des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO gegeben. Nach dieser Vorschrift setzt der prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">aa) Aufgrund des zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens hat jeder Mitgliedstaat - abgesehen von außergewöhnlichen Umständen - davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin-III VO die Vermutung, dass die Behandlung Asylsuchender in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - sowie der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - steht.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 81 f., und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 84 f.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, jedoch ist die Widerlegung dieser Vermutung wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Daher steht nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem der Überstellung eines Asylsuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat entgegen. Dies wäre mit den Zielen und dem System der Dublin-III VO unvereinbar.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 84 und 91 f.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Art. 4 GRCh steht der Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in einen anderen Mitgliedstaat entgegen, sofern im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte festzustellen ist, dass sie in diesem Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo) -, Rn. 85 und 98.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Dies gilt aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters des Art. 4 GRCh in allen Situationen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Asylsuchender bei oder infolge seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfährt. Dementsprechend ist es für die Anwendung des Art. 4 GRCh unerheblich, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss zu einer solchen Behandlung kommt und ob systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen des Asylsystems in dem anderen Mitgliedstaat vorliegen,</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87, 88 und 90, und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 87,</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">oder ob es unabhängig vom Vorliegen solcher Schwachstellen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommt.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019- C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. den diesem entsprechenden Art. 3 EMRK liegt aber nur dann vor, wenn die drohende Behandlung eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle ist grundsätzlich erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können, ferner Urteile vom 26. Januar 2021 ‑ 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 30, und - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 32.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Bereits ein relativ kurzer Zeitraum, während dessen sich eine Person in einer Situation extremer materieller Not befindet, reicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh zu begründen. Dabei ist auch zu beachten, dass den Rechten, die die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie) sowie die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie) Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, einräumen, die tatsächlichen Wirkungen genommen würden, wenn sie selbst während einer relativ kurzen Zeitspanne nicht mit einer Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse einhergingen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zu Art. 20 RL 2013/33/EU); Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6. Juni 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 78 f.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">bb) Ausgehend hiervon ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen und das Bundesamt hat den hier gestellten Antrag zu Recht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG als unzulässig abgelehnt.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger droht zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rücküberstellung nach Rumänien nicht die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger in Rumänien weder während des Asylverfahrens (dazu (1)) noch auf absehbare Zeit nach einer - nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu: EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo), dazu: BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2019 - 2 BvR 721/19 -, juris, Rn. 20 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">mit zu berücksichtigenden Zuerkennung des internationalen Schutzstatus (dazu (2)) unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, in der er seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht wird befriedigen können.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">(1) Die Regierung Rumäniens kooperiert unter anderem mit dem UNHCR, um Flüchtlingen, Schutzsuchenden, Staatenlosen u. a. Schutz und Unterstützung zukommen zu lassen. Dieser hat bezüglich Rumänien keine wesentlichen Hindernisse hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren festgestellt.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 3; United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 17.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">(a) Schutzsuchende, die kein eigenes Auskommen haben, haben ab dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Absicht erklären, Asyl zu beantragen, bis zum Abschluss des Verfahrens und gegebenenfalls bis zum Ende ihres Aufenthaltsrechts in Rumänien Anspruch auf Aufnahmeleistungen („reception conditions“).</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 100; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Rumänien: Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden: Polizeigewalt, Unterbringungssituation, Zustände in Quartieren, Zugang zu Rechtsberatung, 16. März 2020, S. 2.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die meisten Schutzsuchenden werden in den sogenannten Regionalen Unterbringungszentren („Regional Centres for Accommodation“) untergebracht, die von der Generalinspektion für Einwanderung – Direktion für Asyl und Integration (Inspectoratul General pentru Imigrari – Directia Azil si Integrare, IGI-DAI) verwaltet werden.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 100; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Rumänien: Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden: Polizeigewalt, Unterbringungssituation, Zustände in Quartieren, Zugang zu Rechtsberatung, 16. März 2020, S. 2.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Unterbringungszentren verfügen über eine ausreichende Kapazität. Zum Stichtag 1. Januar 2022 waren von den 751 zur Verfügung stehenden Plätzen nur 501 Plätze belegt.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 110.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Bislang gab es keine Situation, in der Schutzsuchende aufgrund eines Mangels an Plätzen in den Aufnahmezentren ohne Unterkunft geblieben sind. Wenn die Kapazität der Aufnahmezentren überschritten werden sollte, kann die IGI-DAI Schutzsuchenden im Rahmen der verfügbaren Mittel eine Unterbringungsbeihilfe gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 7 f.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die im Zuge des Angriffskrieges der Russischen Föderation auf die Ukraine erfolgte Fluchtbewegung von Ukrainern auch nach Rumänien beeinträchtigt die Kapazität der Unterbringungszentren nicht. Rumänien registrierte rund 80.000 ukrainische Flüchtlinge, die aber nicht in den allgemeinen Aufnahmezentren aufgenommen wurden, sondern vor allem privat organisierte Unterkünfte gefunden haben. Über 8.000 Ukrainer wurden zudem in öffentlichen Gebäuden und Schulen untergebracht.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das OVG NRW vom 20. Juli 2022, S. 2 f.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Zusätzlich zu den Regionalen Unterbringungszentren gibt es noch zwei weitere Unterbringungszentren, die von der Nichtregierungsorganisation (NGO) Ökumenische Vereinigung der Kirchen Rumäniens (Asociatia ecumenica a bisericilor din Romania, AIDRom betrieben werden.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Rumänien: Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden: Polizeigewalt, Unterbringungssituation, Zustände in Quartieren, Zugang zu Rechtsberatung, 16. März 2020, S. 3.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Alle Schutzsuchenden, die auf der Grundlage der Dublin-Verordnung aus einem anderen Mitgliedstaat nach Rumänien überstellt werden, werden in den Zentren Vasile Stolnicu und Tudor Gociu untergebracht.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 3; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 110.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die Unterbringungszentren erfüllen die Standards der EU und des UNHCR. Auch die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Schutzsuchender werden berücksichtigt. Die rumänischen Behörden wahren das Prinzip der Familieneinheit und sichern die Einhaltung besonderer Unterkunftsbedingungen für Familien mit Minderjährigen.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Hamburg vom 3. August 2017, Gz. 508-516.80/49473, S. 2, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Es gibt zwar bezüglich der hygienischen Zustände in einzelnen Aufnahmezentren immer wieder Beschwerden, die sich auch in entsprechenden Berichten des Ombudsmanns bzw. des Jesuit Refugee Service (JRS) widerspiegeln.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 7 f.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die Mängel lassen jedoch nicht auf eine Gleichgültigkeit der rumänischen Behörden schließen. Die Zustände in einigen Einrichtungen werden als „gut“ bezeichnet. Erkennbar sind auch die Bemühungen Rumäniens, in Abstimmung mit dem Ombudsmann für eine Verbesserung der Aufnahmebedingungen zu sorgen. So wurden in den letzten Jahren kontinuierlich in fast allen Einrichtungen Renovierungsarbeiten durchgeführt, wodurch derzeit die Kapazität aller Einrichtungen von nominell 1.100 Plätzen auf 751 Plätze reduziert ist.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 111 ff.; BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 7.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">(b) Schutzsuchende erhalten finanzielle Zuwendungen in Form einer Beihilfe für Verpflegung und Kleidung sowie ein Taschengeld für lokale Transportkosten, kulturelle Dienstleistungen, Presse, Reparatur- und Wartungsdienste und Kosten für persönliche Hygieneprodukte. Alleinstehende Erwachsene erhalten 480 Lei (104 €) monatlich. Weitere Zuschläge werden für Schwangere und Kinder gewährt. Die Sätze wurden durch eine Reform im Jahr 2015 angehoben, so dass sie nunmehr ausreichend sind, um einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 102 f.; BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 6 f.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">(c) Schutzsuchende haben Zugang zum Arbeitsmarkt nach drei Monaten ab Stellung des Asylantrags. Der Zugang wird unter den gleichen Bedingungen gewährt, wie sie für rumänische Staatsbürger gesetzlich festgelegt sind. Es gibt keine gesetzlich vorgeschriebene Arbeitsmarktprüfung, Branchenbeschränkung oder sonstige Einschränkung. Schutzsuchende erhalten auf Antrag von den Bezirksarbeitsagenturen (AJOFM) Vermittlungsdienste, professionelle Informationen und Beratungsdienste, um eine Beschäftigung zu finden. Schutzsuchende hatten in den letzten Jahren bei der Stellensuche keine Schwierigkeiten. Die meisten der ausgeschriebenen Stellen befanden sich im Bereich der ungelernten Arbeitskräfte. Infolgedessen hatten Schutzsuchende keine Probleme im Zusammenhang mit fehlenden rumänischen Sprachkenntnissen, Diplomen oder anderen Dokumenten, die ihre Qualifikationen belegen würden. Die Mehrheit der Schutzsuchenden waren Berichten zufolge ungelernte Arbeiter in ihrem Herkunftsland.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 116 f.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">(d) Schutzsuchende haben in Rumänien den gleichen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem wie rumänische Staatsangehörige. Sie haben ein Recht auf kostenlose medizinische Erst- und Grundversorgung sowie klinische Behandlung bei lebensbedrohlichen oder chronischen Erkrankungen. Im Falle besonderer Bedürfnisse wird Schutzsuchenden Zugang zu sonstiger adäquater medizinischer Behandlung gewährt. Seit 2019 haben Schutzsuchende in allen regionalen Aufnahmezentren Zugang zu einem Allgemeinmediziner. Medizinisches Personal (Ärzte, Pfleger, Psychologen) sowie Dolmetscher und Kulturvermittler sind in den Unterbringungszentren grundsätzlich anwesend.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 120 f.; BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 8; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Rumänien: Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden: Polizeigewalt, Unterbringungssituation, Zustände in Quartieren, Zugang zu Rechtsberatung, 16. März 2020, S. 3.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">NGOs, etwa der JRS, helfen beim Zugang zu Gesundheitsdiensten oder bieten selbst - so etwa die rumänische ICAR Stiftung - kostenlose medizinische Leistungen in den Bereichen Allgemeinmedizin, Psychiatrie, Kardiologie und Urologie sowie Physiotherapie an.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 9.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">(e) Es existiert in Rumänien ein rechtsstaatliches Asylverfahren. Im Fall der Ablehnung ihrer Anträge haben Schutzsuchende die Möglichkeit, dagegen gerichtlich vorzugehen. Mängel im Rechtsschutzsystem sind nicht bekannt.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 1; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 3, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.; in Einzelnen: Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 35 - 54.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Schutzsuchende erhalten in Rumänien Zugang zu Rechtsberatung. Es gibt keine Einschränkungen oder Bedingungen für den Zugang zu Rechtsberatung in erster Instanz. Für das Verwaltungsverfahren bieten NGOs, finanziert durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der Europäischen Union (AMIF) und den UNHCR, kostenlose Rechtsberatung und Rechtshilfe.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Rumänien: Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden: Polizeigewalt, Unterbringungssituation, Zustände in Quartieren, Zugang zu Rechtsberatung, 16. März 2020, S. 6 ff.; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 54 ff.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">(f) In Rumänien sind Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Schutzsuchenden gesetzlich vorgesehen. Zunächst kann Schutzsuchenden auferlegt werden, sich in einem regionalen Aufnahmezentrum aufzuhalten und sich regelmäßig bei den zuständigen Behörden zu melden.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 18.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Zudem können Schutzsuchende für die Dauer von 60 Tagen in „besonders eingerichteten geschlossenen Bereichen“ inhaftiert werden, wenn sie eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen oder um den Missbrauch des Asylverfahrens zu begrenzen bzw. um die Durchführung des Asylverfahrens zu ermöglichen.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 18; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 133.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Die rumänischen Behörden sind befugt, Schutzsuchende für maximal 18 Monate in Haft zu nehmen, wenn sie aufgrund der Dublin-Verordnung in einen anderen EU-Mitgliedstaat überstellt werden sollen und wenn ein signifikantes Risiko zur Flucht besteht. Ein solches Fluchtrisiko wird unter anderem angenommen, wenn ein Schutzsuchender nach einem Asylantrag in Rumänien die rumänische Grenze irregulär überschritten oder dies versucht hat.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 18 f.; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 134.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Eine Inhaftierung Schutzsuchender in Strafgefangeneinrichtungen, deren Haftbedingungen als harsch, überfüllt und nicht internationalen Standards entsprechend angesehen werden,</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">vgl. United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 5; s. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Januar 2022 - 2 BvR 1214/21 -, NJW 2022, 932 = juris, und Beschluss vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, juris,</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">findet nicht statt.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 138.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Die Unterbringung erfolgt in öffentlichen Gewahrsamszentren, die von der IGI-DAI verwaltet werden. Gemäß der Ausländerverordnung sind die Zentren organisiert und ausgestattet, um eine angemessene Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung und Körperpflege zu gewährleisten. Die Haftbedingungen werden als gut und angemessen bezeichnet.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 140 und 143.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Von der Möglichkeit, Schutzsuchende zu inhaftieren, wird aber im Grundsatz kein Gebrauch gemacht. Die Hauptkategorien der inhaftierten Schutzsuchenden sind vielmehr diejenigen, die einen Asylantrag aus der Haft gestellt haben und deren Antrag im beschleunigten Verfahren geprüft wurde.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 132.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">In der Regel erfolgt die Unterbringung von Schutzsuchenden, auch von im Dublin-Verfahren Rücküberstellten, bis zur Asylentscheidung in offenen Aufnahmeeinrichtungen.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 5. Dezember 2017, Gz. 508-516.80/49833, S. 3, und Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover vom 4. Februar 2022, Gz. 508-516.80/54385, S. 3 f.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Schutzsuchende werden zudem aus der Haft entlassen, wenn sie einen Asylantrag stellen und daraufhin Zugang zum regulären Asylverfahren erhalten.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Vgl. United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 18 f.; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 132.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">(g) In Rumänien sind Folgeantragsteller von der Gewährung materieller Beihilfen ausgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 100.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Entzieht sich ein Antragsteller dem Verfahren - z. B. indem er Rumänien vor dem Asylinterview verlässt und in einen anderen EU-Mitgliedstaat weiterreist -, gilt sein Antrag zwar nach 30 Tagen als stillschweigend zurückgezogen und das Verfahren wird geschlossen. Für nach Rumänien zurückgeführte Personen, die - wie der Kläger - zuvor nicht persönlich angehört wurden, wird das Asylverfahren aber fortgesetzt, ohne dass sie auf das Folgeverfahren verwiesen werden.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 66.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">(h) Gesetzlich ist ein Schutzmechanismus gegen Refoulement vorgesehen. Abschiebungen können nur durchgeführt werden, wenn die Rückkehrentscheidung nicht im Widerspruch zum Non-Refoulement-Prinzip steht. Vor einer Abschiebung ergeht eine Entscheidung, in der begründet wird, warum der Aufenthalt auf rumänischem Territorium verweigert wird. Gegen diese Entscheidung ist eine Beschwerde statthaft, die binnen zwei Tagen nach Zustellung einzulegen ist. Über diese entscheidet das für den Bezirk zuständige regionale Gericht („Regional Court“). Das Gesetz sieht Ausnahmen vom Non-Refoulement-Prinzip nur vor, wenn begründete Hinweise darauf hindeuten, dass Ausländer (einschließlich Schutzsuchende und anerkannte Flüchtlinge) beabsichtigen, terroristische Handlungen zu begehen oder den Terrorismus zu begünstigen. Schutzsuchende, die aus Gründen der nationalen Sicherheit für „unerwünscht“ erklärt wurden, werden bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens in Gewahrsam genommen und dann abgeschoben.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Rumänien, 2. August 2022, S. 6; United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2021, Romania, S. 17 f.; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 89.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Soweit von einigen NGOs im Zusammenhang mit dem Non-Refoulement-Prinzip über kollektive Überstellungen nach Serbien berichtet wird,</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">vgl. Nachweise im Bericht des Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Rumänien: Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden: Polizeigewalt, Unterbringungssituation, Zustände in Quartieren, Zugang zu Rechtsberatung, 16. März 2020, S. 1, wonach das European Council on Refugees and Exiles (ECRE) von mehreren hundert Überstellungen im Jahr berichtet, jedoch dem Jesuit Refugee Service (JRS) keine kollektiven Überstellungen bekannt seien,</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">finden sich keine Berichte darüber, dass im Asylverfahren befindliche Schutzsuchende ohne rechtsstaatliches Verfahren nach Serbien zurückgeführt worden wären. Nach Auskunft von AIDA handelte es sich um die Rückführung solcher Personen, die unmittelbar im Zusammenhang mit einer illegalen Grenzüberschreitung aufgegriffen, inhaftiert und nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Serbien über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt überstellt worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Romania - 2021 Update, S. 20 bis 23.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">(i) Ausgehend davon besteht für den Kläger nicht die Gefahr, bei einer Rückkehr nach Rumänien in eine Situation extremer materieller Not zu geraten.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Ihm droht nicht die Gefahr, aufgrund der Einstellung seines Asylverfahrens als Folgeantragsteller behandelt und damit von staatlichen Leistungen ausgeschlossen zu werden. Nach seinem eigenen Vortrag hat er sich vor seiner von vornherein beabsichtigten Weiterreise nach Deutschland nur einen Tag in Rumänien aufgehalten und wurde noch nicht persönlich angehört. Somit ist zu erwarten, dass sein Asylverfahren nach der Rücküberstellung fortgesetzt und er staatliche Hilfen in Form von Unterkunft, finanziellen Beihilfen sowie Integrationsleistungen erhalten wird.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls ist nicht zu erwarten, dass er unmittelbar nach seiner Überstellung in Haft genommen wird. Nach der Auskunftslage werden Dublin-Rückkehrer grundsätzlich nicht inhaftiert. Soweit er vorträgt, die rumänischen Behörden würden von einer Fluchtgefahr ausgehen, weil er das Staatsgebiet Rumäniens nach Asylantragstellung verlassen habe, begründet dies nicht die Gefahr einer Inhaftierung. Denn nach den vorstehend zitierten Auskünften werden nur solche Personen, bei denen Fluchtgefahr besteht, inhaftiert, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens - von Rumänien aus in andere Mitgliedstaaten - abgeschoben werden sollen. Diese Fallkonstellation trifft auf den von einem anderen Mitgliedstaat - hier Deutschland - nach Rumänien zurücküberstellten Kläger nicht zu. Soweit der Kläger Fälle von inhaftierten Minderjährigen vorträgt, begründet dies für ihn - abgesehen von den vorstehenden Ausführungen - schon deshalb keine besondere Gefahrensituation, weil er offensichtlich nicht minderjährig ist. Andere Vulnerabilitätsmerkmale sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Insoweit war den Beweisanregungen des Klägers im Schriftsatz vom 13. September 2022 auf Einholung von Sachverständigengutachten bezüglich der Dauer der Inhaftierung von bis zu 18 Monaten nach rumänischem Recht, der Haftbedingungen für (Straf-)Gefangene sowie der Inhaftierung von Minderjährigen und anderen vulnerablen Personen nicht weiter nachzugehen. Die in diesem Schriftsatz genannten deutschsprachigen Erkenntnisse ziehen die vorstehenden Feststellungen nicht in Zweifel, zumal sie sich überwiegend auf dieselben Quellen (insb. Asylum Information Database (AIDA), JRS) beziehen.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Ein Verstoß gegen das Non-Refoulement-Prinzip ist nicht zu befürchten. Die Fälle von Abschiebungen aus der Haft nach Serbien betreffen nach den vorstehenden Auskünften insbesondere Personen, die unmittelbar an der Grenze aufgegriffen und deshalb inhaftiert wurden. Da der Kläger im Rahmen des (förmlichen) Dublin-Verfahrens nach Rumänien überstellt würde, besteht für ihn diese Gefahr nicht.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger auf die Inhaftierung und Abschiebung eines Klägers eines Parallelverfahrens nach Serbien verweist, ergibt sich für die Beurteilung systemischer Mängel nichts Abweichendes. Individuelle Erfahrungen sind zwar in begrenztem Umfang in die Gesamtwürdigung einzubeziehen.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Berücksichtigung von Erfahrungen des Betroffenen im Zielstaat BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 2 = juris, Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Die Benennung eines Einzelfalls ohne Angabe weiterer konkreter Umstände zieht die Feststellungen auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel jedoch nicht in Zweifel. Die Fallgestaltung des vom Kläger angeführten Parallelverfahrens unterscheidet sich von der vorliegenden zudem grundlegend: Der Asylantrag jenes Klägers war nach erfolglosem gerichtlichen Rechtsschutz in Rumänien unanfechtbar abgelehnt worden und er war ausreisepflichtig, bevor er nach Deutschland weiterreiste. Das Asylverfahren des Klägers im vorliegenden Verfahren kann jedoch - wie ausgeführt - fortgesetzt werden. Insofern sind auch die vom Kläger im Schriftsatz vom 13. September 2022 angegebenen Erkenntnisse zur Situation von Dublin-Rückkehrern, deren Asylverfahren in Rumänien bestandskräftig erfolglos beendet ist, für das vorliegende Verfahren unerheblich.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund war auch der weiteren im Schriftsatz des Klägers vom 13. September 2022 aufgeführten Beweisanregung auf Einholung eines Gutachtens zur Praxis der Abschiebungen nach Serbien nicht weiter nachzugehen.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger im Übrigen vorträgt, der Wahrheitsgehalt staatlicher Auskünfte sei anzuzweifeln, ist dieser Vortrag unsubstantiiert. Abgesehen davon stützt der Senat seine Entscheidung auch auf Erkenntnisse nichtstaatlicher Organisationen. Soweit der Kläger auf Berichte und Auskünfte, von „sagwas.net“ aus dem Jahr 2015, einen Bericht der Fränkischen Zeitung vom 20. Januar 2015 und von Amnesty International von 2016 hinweist, sind diese Erkenntnismittel nicht (mehr) hinreichend aktuell, um die hier zitierten Erkenntnisse in Zweifel zu ziehen.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">(2) Auch nach einer unterstellten Zuerkennung des internationalen Schutzes in Rumänien droht dem Kläger kein Automatismus der Verelendung. Mit Beschluss vom 25. August 2022 hat der Senat entschieden, dass international Schutzberechtigte in Rumänien Zugang zu Bildung, Wohnungen, Erwachsenenbildung, Arbeit, öffentlicher Gesundheitsfürsorge und Sozialleistungen haben, so dass für den Fall der Rückkehr nicht die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. August 2022 ‑ 11 A 861/20.A -, juris m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Für den zu unterstellenden Fall einer Anerkennung als international Schutzberechtigter wird der Kläger insbesondere mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Lage sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen. Er hat nach eigenen Angaben als Handwerker gearbeitet und so im Herkunftsland sich und seine Familie ernährt. Es ist zu erwarten, dass er dazu auch in Rumänien fähig sein wird.</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">2. Auch Ziffer 2. des angegriffenen Bescheids ist rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nach den obigen Ausführungen nicht erfüllt. Aus diesem Grund ist auch die hilfsweise erhobene, auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gerichtete Verpflichtungsklage unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">3. Die in Ziffer 3. des Bescheids enthaltene Abschiebungsanordnung ist nicht zu beanstanden. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung zeitnah tatsächlich nicht möglich oder rechtlich nicht zulässig sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Einer Abschiebung steht auch nicht (mehr) eine Weigerung Rumäniens entgegen, Überstellungen aus dem europäischen Ausland entgegenzunehmen. Soweit die rumänische Dublin Unit unter dem 28. Februar 2022 gegenüber den Mitgliedstaaten erklärt hat, wegen des Flüchtlingsstroms aus der Ukraine bis auf weiteres Dublin-Überstellungen auszusetzen, hat sie unter dem 11. Mai 2022 ausgeführt, trotz limitierter Kapazität weiter eingehende Überstellungen in dringenden Fällen, etwa wegen des Ablaufs von Überstellungsfristen, zu akzeptieren. In einer weiteren Mitteilung vom 24. Mai 2022 hat sie erklärt, Überstellungen würden schrittweise wieder entgegengenommen.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">4. Schließlich ist auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 AufenthG (Ziffer 4. des Bescheids) rechtmäßig. Die Beklagte kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot grundsätzlich auf bis zu fünf Jahre befristen (§ 11 Abs. 3 AufenthG). Die Befristung auf neun Monate ab dem Tag der Abschiebung lässt Ermessensfehler nicht erkennen. Der Kläger hat hierzu auch nichts vorgetragen.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Die Revision war nicht zuzulassen, weil die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe nicht vorliegen.</p>
|
346,645 | ovgnrw-2022-09-19-19-a-179822a | {
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} | 19 A 1798/22.A | 2022-09-19T00:00:00 | 2022-09-22T10:01:25 | 2022-10-17T11:10:23 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0919.19A1798.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn einer der in § 78 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AsylG genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Zu den Darlegungsanforderungen nach der inhaltsgleichen Regelung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Beschluss vom 28. März 2022 ‑ 1 B 9.22 ‑, juris, Rn. 21 ff. (zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2022 ‑ 19 A 657/22.A ‑, AuAS 2022, 150, juris, Rn. 3, vom 27. Juli 2022 ‑ 4 A 1148/19.A ‑, AuAS 2022, 190, juris, Rn. 3, vom 18. Mai 2022 ‑ 19 A 532/22.A ‑, juris, Rn. 6, und vom 9. Februar 2022 ‑ 19 A 544/21.A ‑, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügen die durch den Kläger aufgeworfenen Fragen nicht. Der Kläger hält für grundsätzlich bedeutsam die Fragen:</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Ist im Rahmen der Abschiebungsverbote eines nigerianischen Kindes zu berücksichtigen, ob einem Familienangehörigen eines Rückkehrers eine Gefahr für Leib und Leben droht?</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">2. Wenn zu dem geltend gemachten Gesundheitsrisiko eines Familienangehörigen noch keine rechtskräftige Entscheidung vorliegt, kann dann eine realitätsnahe Rückkehrprognose ohne Berücksichtigung dieser geltend gemachten Gesundheitsgefahr erfolgen?</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">3. Welcher Ort ist bei einer nigerianischen Familie der Zielort der Abschiebung, wenn sie nicht zu einer ihrer Herkunftsfamilien zurückkehren kann?</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">4. Kann eine fünfköpfige Familie in Lagos unmittelbar nach Ankunft auf dem Flughafen eine Unterkunft bekommen?</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">5. Kann eine Familie, falls die Frage zu 4. bejaht wird, in der Unterkunft so lange verbleiben, bis sie eine eigene Unterkunft gefunden hat?</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">6. Welche finanziellen Rückkehrhilfen, die keine Beratungsleistungen sind, kann eine Familie mit Kindern in Nigeria erhalten?</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">7. Umfassen diese Rückkehrhilfen auch Geldleistungen für Unterkunft und Ernährung?</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">8. Wie lange dauert es, bis diese Leistungen beantragt werden können?</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">9. Wo können sie in Lagos beantragt werden?</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">10. Wie lange dauert es, bis dieser Leistungsantrag beschieden wird?</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">11. Wann werden nach der Bescheidung die Leistungen ausgezahlt?</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">12. In welcher Form werden die Leistungen ausgezahlt?</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">13. Gibt es einen Ort in Nigeria, an dem eine fünfköpfige Familie ohne familiäres Netzwerk ihren Lebensunterhalt sicherstellen, eine Gesundheitsversorgung für ihre minderjährigen Kleinkinder erhalten (Malariabehandlung) und gleichzeitig auch die Gefahr der Genitalverstümmelung von minderjährigen Mädchen vermeiden kann?</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">14. Welche generellen Bedingungen müssen an so einem Ort erfüllt sein?</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">1. Ist das Kindeswohl im Rahmen einer Rückkehrentscheidung ‑ hier Abschiebungsandrohung ‑ mit zu berücksichtigen?</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">2. Sperren inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse wie etwa eine dauernde Reiseunfähigkeit, eine Beschäftigungsduldung, eine abgeschlossene Ausbildung oder familiäre Gründe oder sonstige vergleichbare Gründe den Erlass einer Abschiebungsandrohung in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland?</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">3. Ist das BAMF für die Prüfung des Kindeswohls im Rahmen der Abschiebungsandrohung zuständig?</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">4. Ist ein Duldungsgrund nach § 43 AsylG im Rahmen einer Rückkehrentscheidung vom BAMF zu berücksichtigen?</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">5. Darf eine Rückkehrentscheidung vor dem Abschluss der Asylverfahren aller Familienmitglieder ergehen?</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">6. Hat das BAMF im Rahmen der Verfügung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 AufenthG Kindeswohl und Duldungsgründe zu berücksichtigen und selbst zu prüfen?</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">1. Die aufgrund ihres sachlichen Zusammenhangs zum Themenkreis „Abschiebungsandrohung“ (S. 8 bis 14 des Zulassungsantrags) gemeinsam zu betrachtenden Fragen zu II.1 bis II.6 führen nicht zur Berufungszulassung. Der Zulassungsantrag legt nicht dar, inwieweit sich diese Fragen für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich gestellt haben und welche konkreten inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse es nicht berücksichtigt haben soll. Hat das Verwaltungsgericht inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse einzelfallbezogen verneint, ist die vom Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Rechtsfrage in der Regel entscheidungsunerheblich, ob die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt vor ihrem Erlass zur Prüfung solcher Hindernisse verpflichtet ist.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8. Juni 2022 ‑ 1 C 24.21 ‑, juris, Rn. 16 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 29. August 2022 ‑ 19 A 1540/22.A ‑, juris, Rn. 16.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Verwaltungsgericht hat ‑ unter impliziter Unterstellung, die Abschiebungsandrohung sei eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt müsse stets die rechtlich geschützten Interessen als inlandsbezogene oder tatsächliche Vollstreckungshindernisse bei einer Rückkehrentscheidung prüfen ‑ festgestellt, dass inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, die der Abschiebungsandrohung entgegenstehen könnten, im konkreten Fall nicht vorlägen. Das Verwaltungsgericht hat hierbei die etwaigen schutzwürdigen familiären Bindungen des Klägers und die von ihm mit Schriftsatz vom 14. Juli 2022 vorgebrachten Duldungsgründe und Erwartungen auf künftige Ansprüche auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration nach § 25b AufenthG berücksichtigt (S. 8 f. des Urteils). Mit den hierzu getroffenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts setzt sich der Zulassungsantrag nicht auseinander.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Fragen zu II.4 und II.5 führen auch deshalb nicht zur Berufungszulassung, weil der Zulassungsantrag ihre Klärungsbedürftigkeit nicht hinreichend darlegt. Eine Auseinandersetzung mit § 43 AsylG und dessen Auswirkungen auf das konkrete Asylverfahren des Klägers leistet der Zulassungsantrag nicht. Die insoweit gegebene Zulassungsbegründung (insbesondere S. 8 bis 12 des Zulassungsantrags) erschöpft sich in der bloßen Benennung der Vorschrift und dem insoweit nicht weiter erläuterten Hinweis, „einer Rückkehrentscheidung gegen die (sic!) Kläger könnte entgegenstehen, dass die Tochter/Schwester (sic!) in einem laufenden Asylverfahren ist und deshalb über § 43 AsylG ein Duldungsgrund gegeben ist“. Über die weiteren Fragen zu II.1 bis II.6 hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt der Kläger damit nicht auf. Unabhängig davon hat das angegriffene Urteil die familiäre Situation des Klägers auch in tatsächlicher Hinsicht und nicht nur im Rahmen der Abschiebungsandrohung berücksichtigt, indem es angenommen hat, der Kläger würde zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern nach Nigeria zurückkehren (S. 5 des Urteils).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">2. Auch die Fragen zu I.1 bis I.14 im Zusammenhang mit dem Themenkreis „Abschiebungsverbote“ (S. 2 bis 7 des Zulassungsantrags) führen nicht zur Berufungszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Hinsichtlich der in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärten Maßstäbe für die asyl-, flüchtlings- und abschiebungsschutzrechtliche Rückkehrprognose und der Zugrundelegung einer realitätsnahen Rückkehrsituation wirft der Zulassungsantrag mit den Fragen zu I.1 und I.2 und der hierzu gegebenen Begründung keinen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf auf.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 45.18 ‑, BVerwGE 166, 113, juris, Rn. 16, und vom 21. September 1999 ‑ 9 C 12.99 -, BVerwGE 109, 305, juris, Rn. 10; Beschluss vom 15. August 2019 ‑ 1 B 33.19 ‑, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Januar 2022 ‑ 19 A 1736/21.A ‑, juris, Rn. 29, und vom 15. April 2020 ‑ 19 A 915/19.A ‑, juris, Rn. 10 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Prüfung, ob zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot festzustellen sei, zutreffend seine eigene Gefährdungslage in den Blick genommen.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die weiteren Fragen zu I.3 bis I.14 führen ebenfalls nicht zur Berufungszulassung. Mit diesen Fragen und seinem Vortrag hierzu verfehlt der Kläger bereits die Begründungsstruktur des angefochtenen Urteils, welches hinsichtlich der finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der Familie des Klägers gerade angenommen hat, dass der Vater des Klägers Kontakt zu einem in Nigeria lebenden wohlhabenden Cousin pflege und damit über einen hinreichenden „familiären Rückhalt“ verfüge (S. 5 f. des Urteils). Insoweit wendet der Zulassungsantrag nur pauschal ein, dass der Familie eine Rückkehr „in diesem Ort nicht möglich“ sei, „sodass eine Aufnahme beim Cousin nicht erfolgen“ könne (S. 2 f. des Zulassungsantrags). Die vom Verwaltungsgericht festgestellte Möglichkeit der ‑ auch nur rein finanziellen ‑ Unterstützung durch den Cousin ist damit nicht in Frage gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon sind die Fragen, soweit sie überhaupt in generalisierender Weise klärungsfähig sind, nicht mehr klärungsbedürftig, weil Fragen im Zusammenhang sowohl mit der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Situation in Nigeria als auch mit den Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf diese in der Rechtsprechung des beschließenden Senats geklärt sind.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Urteile vom 22. Juni 2021 ‑ 19 A 4386/19.A ‑, juris, und vom 18. Mai 2021 ‑ 19 A 4604/19.A ‑, juris.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag zeigt keinen erneuten oder weitergehenden Klärungsbedarf in Bezug auf die dazu getroffenen Tatsachenfeststellungen auf, und zwar auch nicht durch den gänzlich unsubstantiierten Hinweis auf die „Nahrungsmittelverknappung durch den Ukraine Krieg“ (S. 6 des Zulassungsantrags).</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
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} | 2 Wx 171/22 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-10-15T10:01:37 | 2022-10-17T11:11:09 | Beschluss | ECLI:DE:OLGK:2022:0916.2WX171.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 1), 2) und 3) wird die am 27.05.2022 erlassene Zwischenverfügung der Rechtspflegerin des Amtsgerichts - Grundbuchamts - Köln – NI-31939-2 – aufgehoben und das Grundbachamt angewiesen, den Antrag der Beteiligten vom 23.02.2022 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Beteiligte zu 1) ist der Vater der minderjährigen Beteiligten zu 2) und 3). Er ist mit der Mutter der Beteiligten zu 2) und 3), Frau A, nicht verheiratet. Sie haben das gemeinsame Sorgerecht für die Beteiligten zu 2) und 3).</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit notariellem Vertrag vom 22.02.2022 hat der Beteiligte zu 1) seinen ½-Miteigentumsanteil an dem im Rubrum aufgeführten Grundbesitz zu jeweils ¼-Anteil unentgeltlich an die Beteiligten zu 2) und 3), beide vertreten durch Frau A, übertragen, wobei u. a. auch die Übernahme der an dem Objekt bestehenden Miet- und Pachtverhältnisse durch die Erwerber vereinbart worden ist. Wegen der Einzelheiten des Vertrages wird auf die notarielle Urkunde vom 22.02.2022 verwiesen. Mit Schriftsatz vom 23.02.2022 haben die Beteiligten beantragt, den Eigentumswechsel sowie die Rückauflassungsvormerkung im Grundbuch einzutragen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Zwischenverfügung vom 27.05.2022 hat die Rechtspflegerin des Grundbuchamtes die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es für die Übertragung der Bestellung eines Ergänzungspflegers, alternativ der Vorlage eines Negativattestes seitens des Familiengerichtes bedürfe. Zugleich wurde zur Behebung der Eintragungshindernisse eine Frist bis zum 01.07.2022 gesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Hiergegen wenden sich die Beteiligten mit ihrer mit Schriftsatz vom 27.06.2022 erhobenen Beschwerde. Sie vertreten die Rechtsauffassung, mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 24.03.2021, XII ZB 364/19, sei klargestellt worden, dass ein Vertretungsausschluss gemäß §§ 1629 Abs. 2 S. 1, 1795 BGB bei gemeinsamer Sorge nur bei dem Elternteil eintrete, in dessen Person die Voraussetzungen des § 1795 BGB unmittelbar vorliegen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf den Schriftsatz vom 27.06.2022 verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 11.08.2022 nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die gemäß § 71 GBO statthafte und auch im Übrigen in zulässiger Weise eingelegte Beschwerde der Beteiligten hat auch in der Sache selbst Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Zwischenverfügung ist in der Sache nicht gerechtfertigt. Die Eintragung des Eigentumswechsels und der Rückauflassungsvormerkung an dem im Rubrum aufgeführten Grundbesitz hängt nicht von der Zustimmung eines Ergänzungspflegers oder von der Vorlage eines Negativattestes seitens des Familiengerichtes ab. Zwar ist der Beteiligte zu 1) gemäß § 1629 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1795 Abs. 2, 181 BGB von der gesetzlichen Vertretung der Beteiligten zu 2) und 3) hinsichtlich des streitgegenständlichen Geschäfts sowie des grundbuchrechtlichen Verfahrens ausgeschlossen. Das gilt allerdings für die gemeinsam mit dem Beteiligten zu 1) hinsichtlich der Beteiligten zu 2) und 3) sorgeberechtigte Mutter der Beteiligten zu 2) und 3), die nicht mit dem Beteiligten zu 1) verheiratet ist, nicht. Ein entsprechender Ausschluss ergibt sich insbesondere nicht aus §§ 1629 Abs. 2 S. 1, 1795 Abs. 2, 181 BGB.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die abstrakt-generelle Ausgestaltung des § 1629 Abs. <span style="text-decoration:underline">2</span> S. 1 BGB führte zwar bisher dazu, dass die Vertretung beider Eltern nach herrschender Auffassung stets auch dann ausgeschlossen wurde, wenn die Voraussetzungen der Ausschlusstatbestände von §§ <span style="text-decoration:underline">1795</span> Abs. <span style="text-decoration:underline">1</span>, <span style="text-decoration:underline">181</span> BGB nur in der Person eines Elternteils vorlagen und zwar auch dann, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nicht (mehr) verheiratet waren (vgl. BGH, Urteil vom 14.06.1972, IV ZR 53/71, NJW 1072, 1708; Amend-Traut in Beck-Online, Großkommentar, BGB, Stand: 01.05.2022, § 1629 Rn. 47 m.w.N). Dies wurde aus § 1629 Abs Abs. 2 Satz 1 HS 1 BGB a. F. (heute § 1629 Abs. 2 Satz 1 BGB) und der dieser Norm zugrunde liegenden Erwägung, dass es nicht im Interesse des Kindes liege, dass der nicht ausgeschlossene Elternteil die Vertretung des ausgeschlossenen übernehme, da in diesen Fällen häufig eine Befangenheit beider Elternteile vorliege (vgl. BGH, Urteil vom 14.06.1972, IV ZR 53/71 a.a.O.).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Bundesgerichtshof hat sich nun mit dem Beschluss vom 24.03.2021, XII ZB 364/19, NZFam 2021, 547 ff., zu einer Neuausrichtung seiner bisherigen, der herrschenden Meinung entsprechenden, Rechtsprechung entschieden. Hiernach soll jedenfalls im Vaterschaftsanfechtungsverfahren bei nicht (mehr) verheirateten Eltern nur derjenige Elternteil von der Vertretung ausgeschlossen sein, in dessen Person die Voraussetzungen von §§ <span style="text-decoration:underline">1629</span> Abs. <span style="text-decoration:underline">2</span> S. 1, <span style="text-decoration:underline">1795</span> BGB vorliegen. Der andere Elternteil bliebe demnach zur Vertretung des Kindes befugt und die Bestellung eines Ergänzungspflegers sei folglich nicht mehr erforderlich.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Begründet wird dies damit, dass sich bereits aus dem Wortlaut des § <span style="text-decoration:underline">1629</span> Abs. <span style="text-decoration:underline">2</span> S. 1 BGB keine eindeutige Festlegung des Gesetzgebers ergebe. Vielmehr könne <span style="text-decoration:underline">§ 1629 Abs. 2 Satz 1 BGB</span> - insbesondere unter Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte – neben dem Verweis auf die Ausschlussgründe nach <span style="text-decoration:underline">§ 1795 BGB</span> nicht die gesetzgeberische Entscheidung entnommen werden, dass ein in der Person eines Elternteils verwirklichter Ausschlussgrund zugleich auch den anderen, nicht davon betroffenen Elternteil erfasse. Ein Ausschluss der Mutter von der gesetzlichen Vertretung im Fall der Gesamtvertretung sei auch nicht aus Sachgründen geboten. Dass ein mit dem Vertretungsausschluss verbundener Eingriff in das Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG insoweit vielmehr allein auf der vom Gesetz in §§ 1629 Abs. 2 Satz 3, 1796 BGB eröffneten Eingriffsgrundlage erfolgen könne, ergebe sich aus verfassungsrechtlichen Erwägungen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs handelt es sich beim gesetzlichen Ausschluss wie der gerichtlichen Entziehung der Vertretungsbefugnis um Eingriffe in das Elternrecht, die einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage bedürfen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen (vgl. BGH Beschluss vom 24.03.2021, XII ZB 364/19, NZFam 2021, 547 ff. m.w.N.). <span style="text-decoration:underline">§ 1629 Abs. 2 Satz 1 BGB</span> ergebe damit für sich genommen bereits keine taugliche Eingriffsnorm für einen Ausschluss der elterlichen Vertretungsbefugnis der Mutter. Eine allenfalls mögliche entsprechende Anwendung der genannten Vorschriften scheitere in der vom Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fallkonstellation schon an der mangelnden Vergleichbarkeit zwischen der Ehe von Vater und Mutter und der lediglich bestehenden gemeinsamen elterlichen Sorge. Während die Ehe nach <span style="text-decoration:underline">§ 1353 BGB</span> unter anderem die gegenseitige Rücksichtnahme gebiete, sei das gemeinsame Sorgerecht damit schon deswegen nicht vergleichbar, weil der Vater im Hinblick auf die gesetzliche Vertretung von der elterlichen Sorge gerade ausgeschlossen sei, die Mutter für das Kind also in eigener Verantwortung handeln könne und müsse. Die Stellung der Mutter entspreche damit insoweit vielmehr dem Fall, dass sie - aufgrund Übertragung nach <span style="text-decoration:underline">§ 1628 BGB</span> oder <span style="text-decoration:underline">§ 1671 BGB</span> - allein sorgeberechtigt ist. Für diesen Fall sei aber ein gesetzlicher Ausschluss von der Vertretung – zumindest - im Vaterschaftsanfechtungsverfahren nach zutreffender, nahezu einhelliger Meinung nicht gegeben (vgl. auch <span style="text-decoration:underline">§ 173 FamFG</span>). Es kommt dann allenfalls eine gerichtliche Entziehung der Vertretungsbefugnis im Einzelfall aufgrund <span style="text-decoration:underline">§§ 1629</span> Abs. 2 Satz 3, <span style="text-decoration:underline">1796 BGB</span> in Betracht (vgl. BGH a.a.O. m.w.N.). Insofern stehe auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einem generellen Ausschluss der Mutter von der gesetzlichen Vertretung entgegen, weil insoweit das auf den Einzelfall bezogene Verfahren gemäß <span style="text-decoration:underline">§§ 1629</span> Abs. 2 Satz 3, <span style="text-decoration:underline">1796 BGB</span> jedenfalls als milderes Mittel anzusehen sei (vgl. BGH a.a.O.). Auf die Frage, ob eine Entziehung der Vertretungsbefugnis nach §§ 1629 Abs. 2 S. 3, 1796 BGB wegen eines Interessengegensatzes zwischen der Mutter und den Kindern geboten gewesen wäre, kommt es nicht an, weil die Vertretungsbefugnis erst mit der Entziehung und nicht bereits mit dem Auftreten des Interessengegensatzes entfallen würde und die Entziehung im vorliegenden Fall nicht erfolgt ist. Soweit das Bundesverfassungsgericht für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde bereits aus der Möglichkeit eines Interessenkonflikts einen Wegfall der Vertretungsbefugnis der Eltern kraft Gesetzes herleitet ( (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.09.2020, 1 BvR 528/19) bezieht sich diese Rechtsprechung ausschließlich auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren (vgl. BGH a.a.O.).</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">An einer klaren gesetzlichen Eingriffsgrundlage fehlt es aus der Sicht des Senats jedoch auch für die Übertragung des Grundbesitzes. Denn das vorliegende Rechtsgeschäft betrifft nach §§ <span style="text-decoration:underline">1795</span> Abs. 2, 181 BGB ausdrücklich nur den Beteiligten zu 1), nicht aber die mit dem Beteiligten zu 1) nicht verheiratete Mutter der Beteiligten zu 2) und 3). Die oben wiedergegebenen Ausführungen des Bundesgerichtshofs im Rahmen des Vaterschaftsanfechtungsverfahrens gelten gleichermaßen für die hier vorliegende Fallkonstellation (vgl. auch Prinz, FamRZ 2021, 554; BeckOK/Veit, BGH, zu § 1629 Rn. 37; Amend-Traut in BeckOK, BGB, zu § 1629 Rn. 47). Bei der danach gebotenen konsequenten Anwendung der durch den Bundesgerichtshof herangezogenen Grundsätze bleibt die Vertretungsbefugnis der Mutter der Beteiligten zu 2) und 3) daher bestehen. Denn die Entziehung der Vertretungsbefugnis würde anderenfalls mangels klarer gesetzlichen Eingriffsgrundlage einen unzulässigen Eingriff in das Elternrecht aus Art. <span style="text-decoration:underline">6</span> Abs. <span style="text-decoration:underline">2</span> GG bedeuten.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Für das weitere Verfahren weist der Senat das Grundbuchamt darauf hin, dass auch zu prüfen sein wird, ob die Mutter der minderjährigen Kinder nicht der familiengerichtlichen Genehmigung gem. §§ 1643 Abs. 1, 1822 Nr. 10 BGB bedarf (vgl. Grüneberg/Götz, BGB, 81. Aufl. 2022, § 1822 Rn. 21).</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">4.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Anlass zur Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 78 GBO) besteht nicht.</p>
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346,889 | olgham-2022-09-16-11-u-1122 | {
"id": 821,
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<p>Auf die Berufung der Klägerin wird das am 06.12.2021 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn teilweise abgeändert.</p>
<p>Es wird über die erstinstanzliche Verurteilung der Beklagten hinausgehend festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr infolge der fehlerhaften Behandlung am 00.00.20XX im A Krankenhaus in B (Träger: C Krankenhaus GmbH, D – Str. 0 , in E ) zukünftig noch entsteht, soweit er nicht durch gesetzlichen Forderungsübergang auf Dritte übergeht.</p>
<p>Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.</p>
<p>Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 31 % die Klägerin und zu 69 % die Beklagte. Die Kosten der Streithilfe trägt die Klägerin zu 31 %. Im Übrigen trägt die Streithelferin ihre Kosten selbst.</p>
<p>Das Urteil ist vorläufig vollsteckbar.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe</span>:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">(ohne Tatbestand gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 02.09.2022 ihre Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts zurückgenommen hat, ist vom Senat allein noch über die Berufung der Klägerin zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung der Klägerin hat lediglich teilweise Erfolg und führt insoweit zu einer teilweisen Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung, als über die bereits mit ihr erfolgte Verurteilung der Beklagten hinaus die Verpflichtung der Beklagten festzustellen ist, der Klägerin den materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr als Folge der fehlerhaften Behandlung am 18.04.2020 im A Krankenhaus in B , dessen Träger die C Krankenhaus GmbH, D-Str. 0, in E ist, zukünftig noch entsteht, soweit er nicht durch gesetzlichen Forderungsübergang auf Dritte übergeht. Soweit die Klägerin mit ihrer Berufung darüber hinaus in Weiterverfolgung ihrer erstinstanzlichen Klageanträge die Zahlung eines weitergehenden Schmerzensgeldes, weitergehende Erstattung ihrer vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sowie die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für ihr aus der fehlerhaften Behandlung zukünftig noch entstehende immaterielle Schäden begehrt, sind die Klage und die Berufung hingegen unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1.Der Klägerin steht wegen ihrer am 18.04.2020 im A Krankenhaus durchgeführten ärztlichen Behandlung gegen die Beklagte aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG, § 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.500,- € zu.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a)Wie der Senat im Verhandlungstermin am 10.08.2022 im Einzelnen ausgeführt, ist die am 18.04.2020 im A-Krankenhaus in B durchgeführte Behandlung der Klägerin der durchgangsärztlichen Tätigkeit des Arztes F zuzurechnen, für die die Beklagte nach Amtshaftungsgrundsätzen haftet.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist zunächst ohne Belang, dass die Klägerin am 18.04.2020 nicht von dem Durchgangsarzt F selbst behandelt wurde sondern von der Ärztin G. Ebenso ist ohne Belang, ob diese zur ständigen Vertreterin des Durchgangsarztes bestellt war. Ausreichend für die Haftung der Beklagten ist, dass der Durchgangsarzt F die Ärztin G im Rahmen des ihm anvertrauten öffentlichen Amts tätig werden und seine damit verbundenen Befugnisse wahrnehmen ließ (BGH, Urteil vom 29.11.2016, VI ZR 208/15 – Rz. 30 juris). Dass dies vorliegend der Fall war, ergibt sich schon daraus, dass der von Klägerin zu den Akten gereichte Durchgangsarztbericht vom 18.04.2020 (Blatt 92 der Akten) von beiden Ärzten gemeinsam unterzeichnet wurde.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die am 18.04.2020 von der Ärztin G durchgeführten Behandlungsmaßnahmen sind der durchgangsärztlichen Tätigkeit des Arztes F zuzurechnen. Denn sie sind unter Ziffer 8 des Durchgangsarztberichts ausdrücklich als durchgangsärztliche Erstversorgung aufgeführt. Dies gilt insbesondere auch für die von der Ärztin G zur Fremdkörperbeseitigung durchgeführte Öffnung des linken Mittelfingers der Klägerin in Z-Plastik. Der Bundesgerichtshof, dessen Rechtsprechung der Senat folgt, hat aber bereits mit Urteil vom 29.11.2016 (VI ZR 208/15) entschieden, dass auch die vom Durchgangsarzt durchgeführte Erstversorgung der Ausübung seines öffentlichen Amtes zuzurechnen ist.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Soweit die Beklagte geltend macht, dass der von der Ärztin durchgeführte operative Eingriff nicht mehr der durchgangsärztlichen Tätigkeit zuzurechnen sei, weil der Bundesgerichtshof zwischenzeitlich mit seiner Entscheidung vom 10.03.2020 (VI ZR 281/19) klargestellt habe, dass mit der Entscheidung des Durchgangsarztes über das „Ob“ und „Wie“ der Weiterbehandlung eine zeitliche Zäsur dahingehend eintrete, dass dieser Entscheidung nachfolgende Behandlungsmaßnahmen bereits Teil der Heilbehandlung und damit privat-rechtlicher Natur seien, kann dem nicht gefolgt werden. Denn es ist schon weder von der Beklagten schlüssig dargetan worden noch sonst ersichtlich, dass die Entscheidung des Durchgangsarztes F bzw. der für ihn tätig gewordenen Ärztin G, die besondere Heilbehandlung einzuleiten, noch <span style="text-decoration:underline">vor</span> der operativen Öffnung des linken Mittelfingers der Klägerin getroffen wurde. Insoweit spricht vielmehr der Umstand, dass in dem Durchgangsarztbericht die Anordnung der besonderen Heilbehandlung erst unter Ziffer 11 und damit nach der unter Ziffer 8 dokumentierten Erstversorgung aufgeführt wird, im Gegenteil dafür, dass die Anordnung der besonderen Heilbehandlung erst <span style="text-decoration:underline">nach</span> Durchführung aller unter Ziffer 8 des Durchgangsarztberichts genannten Erstversorgungsmaßnahmen getroffen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon lässt sich der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10.03.2020 (VI ZR 281/19) aber auch nicht entnehmen, dass sich die durchgangsärztliche Erstversorgung allein auf diejenigen Behandlungsmaßnahme beschränkt, die vor der vom Durchgangsarzt zu treffenden Entscheidung über die Anordnung der allgemeinen oder besonderen Heilbehandlung durchgeführt wurden bzw. die allein für diese Entscheidung notwendig sind. Denn bereits in seiner Entscheidung vom 29.11.2016 (VI ZR 208/15) hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass es sich bei der Entscheidung des Durchgangsarztes über das „Ob“ und „Wie“ der weiteren Heilbehandlung und der von ihm nach § 27 Abs. 1 SGB VII durchgeführten notwendigen Erstversorgung der Verletzung um zwei eigenständig nebeneinander tretende Tätigkeiten des Durchgangsarztes handelt, die ineinander übergehen und auch aus Sicht des Geschädigten einen einheitlichen Lebensvorgang darstellen, der nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden kann; die Betrachtung der vom Durchgangsarzt zu treffenden Maßnahmen als einheitlichen Lebensvorgang vermeide die in der Praxis beklagten Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Passivlegitimation; denn in dem Durchgangsarztbericht dokumentiere der Durchgangsarzt selbst die Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt) (BGH, a.a.O. – Rz. 26 und 28 juris).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Im Licht dieser Ausführungen des Bundesgerichtshofs kann aber dessen spätere Entscheidung vom 10.03.2020 (VI ZR 281/19), wonach der Durchgangsarzt mit seiner Entscheidung der Anordnung der besonderen Heilbehandlung die Zäsur zwischen seinen hoheitlichen Pflichten und dem anschließenden privatrechtlichen Behandlungsverhältnis schafft (BGH, a.a.O. – Rz. 22 juris), allein dahin verstanden werden, dass die vom D-Arzt durchgeführte Erstversorgung der Verletzung nicht unter dem vorgenannten Begriff der Weiterbehandlung fällt, weil anderenfalls der aus der vom Durchgangsarzt vorgenommenen Erstversorgung und seiner Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung bestehende einheitliche Lebensvorgang haftungsrechtlich in unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden würde.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">b)Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen war die von der Ärztin am 18.04.2020 vorgenommene Erstversorgung der Verletzung der Klägerin auch fehlerhaft und hat zu den vom Sachverständigen H festgestellten Gesundheitsschäden geführt. Insoweit wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts unter lit. I.2. und 3. der Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils, die der Senat nach eigener Prüfung teilt, Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">c)Die Haftung der Beklagten ist auch nicht nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ausgeschlossen. Da die Beklagte, wie vorstehend dargelegt, für die der Ärztin G bei der durchgangsärztlichen Erstversorgung der Klägerin unterlaufenen Behandlungsfehler nach Amtshaftungsgrundsätzen haftet, steht damit zugleich fest, dass der Durchgangsarzt F für diese Behandlungsfehler nicht persönlich haftet. Insoweit fehlt es bereits am Bestehen einer anderweitigen Ersatzmöglichkeit i.S.d. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB. Diese lässt sich vorliegend auch nicht damit begründen, dass der Durchgangsarzt die besondere Heilbehandlung durch sich selbst angeordnet hatte. Denn auf (weitere) Behandlungsfehler im Rahmen dieser besonderen Heilbehandlung stützt die Klägerin ihre Klageforderung nicht. Solche werden auch von der Beklagten nicht behauptet.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">d)Der Klägerin steht wegen der von der Ärztin G fehlerhaft durchgeführten Erstversorgung des verletzten linken Mittelfingers (allein) ein Schmerzensgeld in der vom Landgericht zuerkannten Höhe von 2.500,- € zu.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind in erster Linie die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls, die im Verhältnis zueinander zu gewichten sind. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt (BGH, Urteil vom 15.02.2022, VI ZR 937/20 – Rz. 13 juris). Insoweit eröffnet der in § 253 Abs. 2 BGB vorgeschriebene Maßstab der Billigkeit vielmehr dem Richter einen Spielraum, den er durch eine Einordnung des Streitfalles in die Skala der in anderen, vergleichbaren Fällen zugesprochenen Schmerzensgelder ausfüllen muss (KG Berlin, Urteil vom 02.09.2002, 12 U 1969/00 – Rz. 103 juris, noch zu § 847 BGB a.F., zur Orientierung an in anderen Fällen von der Rechtsprechung zugebilligten Beträgen vgl. auch: BGH, Urteil vom 19.12.1969, VI ZR 111/68 – Rz. 13 juris).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen ist es bei der Klägerin infolge der von der Ärztin G fehlerhaft durchgeführten Eröffnung des linken Mittelfingers in Z-Plastik zu einer über das übliche Maß bei derartigen Verletzungen hinausgehenden Narbenbildung und einer daraus resultierende Bewegungseinschränkung des Mittelfingers in Form einer Beuge- und Streckhemmung, einer dadurch bedingten eingeschränkten Belastbarkeit und Kraftminderung des Mittelfingers sowie im Ergebnis zu einer Funktionsstörung der gesamten linken Hand gekommen. Ferner ist es beim linken Mittelfinger zu einer Sensibilitätsstörung und Wetterfühligkeit gekommen, in deren Folge die Klägerin noch heute zeitweise an Schmerzen leidet. Darüber hinaus ist die Klägerin infolge der Verletzung und fehlerhaften Behandlung rund 5 Wochen lang, nämlich vom 18.04.2020 bis 16.05.2020 und danach noch einmal vom 08.06.2020 bis 16.06.2020, arbeitsunfähig krank gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die vorgenannten Feststellungen des Landgerichts haben sich bei der persönlichen Anhörung der Klägerin und der Inaugenscheinnahme ihres verletzten Fingers am 10.08.2022 nochmals bestätigt gefunden. Der linke Mittelfinger war leicht gekrümmt. Im Bereich seines Mittelgelenks war eine augenfällige breite Narbe zu sehen. Wie die Klägerin für den Senat glaubhaft geschildert hat, kann sie den Mittelfinger nicht ganz schließen, hat keine ausreichende Kraft in dem Finger und kann deshalb mit der Hand nicht richtig zugreifen. Wenn sie dies doch tut, bereitet ihr dies Schmerzen. Außerdem besteht nach ihren glaubhaften Angaben auch heute noch eine Wetterfühligkeit des Fingers, in deren Folge sie zeitweise auch belastungsunabhängig an Schmerzen leidet.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die vorgenannten Gesundheitsschäden und Dauerfolgen rechtfertigen nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung der in vergleichbaren Fällen von anderen Gerichten zuerkannten Schmerzensgeldbeträge vorliegend allein die Zahlung eines Schmerzensgeldes in der vom Landgericht zuerkannten Höhe von 2.500,- €.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Mit der bereits vom Landgericht zitierten Entscheidung des OLG Oldenburg vom 18.01.1994 (5 U 99/93) wurde ebenfalls ein Schmerzensgeld von 3.000,- € (das würde heute einem Schmerzensgeld von 4.300,- € entsprechen) zuerkannt für die fehlerhafte Behandlung einer Mittelfingerverletzung. Hier war es infolge der fehlerhaften Behandlung zu einer 10-wöchigen Arbeitsunfähigkeit und einer erheblichen Bewegungseinschränkung des Fingers gekommen. Das Endglied des Fingers war in Beugestellung von 20 Grad überwiegend versteift und im Mittelgelenk fehlten in der aktiven Streckung etwa 20 Grad. Vorliegend sind der Dauerschaden und die Bewegungseinschränkung nicht ganz so gravierend. Auch ist die durch die fehlerhafte Behandlung verursachte Arbeitsunfähigkeit der Klägerin deutlich kürzer gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Mit der ebenfalls vom Land zitierten Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 28.05.2001 (1 U 173/00) wurde ein Schmerzensgeld von 2.000,- € für eine 8 cm lange Risswunde an der Hand und eine Sehnenverletzung am Mittelfinger zugesprochen. Die Verletzungen hatten eine Operation, vier Wochen Ruhigstellung, zwei Monate intensive Nachbehandlung und drei Monate Arbeitsunfähigkeit zur Folge. Als Dauerfolgen verblieben eine Verdickung der Strecksehne am Mittelfinger, Narben, eine geringe Gebrauchsbeeinträchtigung der linken Hand und Sensibilitätsstörungen. Der dortige Kläger konnte seinen Beruf als „(…)“ nicht mehr ausüben und wurde innerhalb des Betriebs umgesetzt, ohne dass ihm dadurch weitere wirtschaftliche oder sonstige Nachteile entstanden. Der vorliegende Streitfall ist damit hinsichtlich des Dauerschadens durchaus vergleichbar. Zwar ist vorliegend die Zeit der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin kürzer und keine weitere Nachbehandlung erforderlich gewesen. Anderseits würde sich das vom OLG Düsseldorf zuerkannte Schmerzensgeld indexiert auf den heutigen Zeitpunkt auf 2.675,- € belaufen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht München I hat zwar mit Urteil vom 20.06.2007 (9 O 10795/05) für eine durch einen ärztlichen Behandlungsfehler (zu enger Verband) verursachte acht Monate lange eingeschränkte Bewegungsfähigkeit der Finger der linken Hand mit anhaltenden Schmerzen, die aber danach folgenlos ausheilte, ein Schmerzensgeld von 3.000,- € zuerkannt, das auf den heutigen Zeitpunkt indexiert einem Schmerzensgeld von 3.560,- € entsprechen würde. Allerdings dürfte die Höhe des Schmerzensgeldes im dortigen Fall gerade auch auf den monatelangen anhaltenden Schmerzen beruht haben.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung der vorgenannten anderen Gerichtsentscheidungen erachtet der Senat danach aber das vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeld von 2.500,- € auch in Ansehung des von der Klägerin erlittenen funktionalen und ästhetischen Dauerschadens zum Ausgleich der von ihr infolge der fehlerhaften Behandlung erlittenen immateriellen Nachteile für angemessen und ausreichend.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">2.Die Berufung der Klägerin hat indes insoweit teilweise Erfolg, als auf ihren Feststellungsantrag hin die Verpflichtung der Beklagten festzustellen ist, den ihr zukünftig noch aus der fehlerhaften Behandlung entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit er nicht durch gesetzlichen Forderungsübergang auf Dritte übergeht.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die vom Landgericht vorgenommene Abweisung des Feststellungsantrages ist nur insoweit gerechtfertigt, als die Klägerin mit ihm die Feststellung der Ersatzverpflichtung der Beklagten für ihr durch die fehlerhafte Behandlung zukünftig noch entstehende immaterieller Schäden begehrt. Denn nach den mit der Berufung nicht angegriffenen gutachterlichen Feststellungen des Sachverständigen H sind, auch wenn sich dies nicht gänzlich ausschließen lässt, künftig keine weiteren, zusätzlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schäden zu erwarten. Damit fehlt es an der für die Begründetheit des Feststellungsbegehrens erforderlichen Wahrscheinlichkeit des Eintritts weiterer immaterieller Schäden.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Hingegen lässt sich eine Wahrscheinlichkeit des Eintritts von durch die fehlerhafte Behandlung verursachter weiterer materieller Schäden der Klägerin nicht verneinen. Dies gilt schon deshalb, weil die Klägerin wegen der schon heute infolge der fehlerhaften Behandlung gegebenen Funktions- und Kraftminderung ihrer linken Hand später im fortgeschrittenen Alter in dem Gebrauch üblicher Hilfsmittel wie Gehstöcken und Rollatoren eingeschränkt und deshalb auf besondere, kostenträchtigere Hilfsmittel angewiesen sein könnte.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">3.Der Klägerin steht kein weitergehender Anspruch auf Ersatz ihrer vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu. Denn sie kann auch unter Berücksichtigung ihres teilweisen Obsiegens mit dem Feststellungsantrag Ersatz ihrer vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten allein nach einem Gegenstandswert von bis zu 3.000,- € verlangen. Das Landgericht hat den Wert des Feststellungsbegehrens entsprechend den Angaben der Klägerin in der Klageschrift mit 500,- € bewertet. Für das teilweise Obsiegen mit ihm ist nur ein Betrag von 250,- € anzusetzen. Damit haben sich die von der Klägerin vorprozessual geltend gemachten Ansprüche allein in Höhe von 2.750,- € als begründet erwiesen. Ausgehend von einem Gegenstandswert von bis zu 3.000,- € und der vom Klägervertreter für sein vorgerichtliches Tätigwerden allein in Ansatz gebrachten 0,65-fachen Geschäftsgebühr belaufen sich die erstattungsfähigen vorprozessualen Anwaltskosten der Klägerin auf den bereits vom Landgericht zuerkannten Betrag von 174,75 €.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 101, 516 Abs. 3 Satz 2 ZPO. Die Berufungsrücknahme der Beklagten hat keine Gebührenreduzierung zur Folge gehabt, weshalb für beide Instanzen die gleiche Kostenquote gilt. Es greift keiner Ermäßigungstatbestände der Nr. 1221 bis 1223 KV GKG. Die Berufung wurde von der Beklagten erst nach Begründung und nach Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Ausspruch zur Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf §§ 45 Abs. 2, 47 Abs. 1 S. 2, 48 Abs. 1 GKG, 6 ZPO.</p>
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346,812 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-16-2-b-4022 | {
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"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
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"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 2 B 40/22 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-10-05T10:00:37 | 2022-10-17T11:10:47 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0916.2B40.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag der Antragsteller vom 05.08.2022 - eingegangen bei Gericht am 08.08.2022 - „die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die seitens des Antragsgegners erteilte Baugenehmigung vom 30.09.2021 insoweit anzuordnen, als hierin im rückwärtigen (westlichen) Bereich des Vorhabengrundstücks eine Stellplatzanlage und eine zu derselben führende Zufahrt entlang der nördlichen Grundstücksgrenze des Vorhabengrundstücks legalisiert werden“, ist zwar nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alternative VwGO statthaft, jedoch ist er wegen des Fehlens des erforderlichen allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners statthaft. Der Antragsgegner macht insofern geltend, dass die Frage der Stellplätze und der Zufahrt überhaupt nicht Regelungsgegenstand der angefochtenen Baugenehmigung geworden sei. Die Antragsteller würden im Wesentlichen bauordnungsrechtliche Fragen problematisieren, die von der Bauaufsichtsbehörde gar nicht geprüft worden seien, weil es sich vorliegend um ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach § 69 LBO handele. Dem vermag die Kammer nicht zu folgen. Der Inhalt der Baugenehmigung bestimmt sich zunächst nach dem Inhalt der Bauvorlagen, die Gegenstand des Baugenehmigungsverfahrens waren. Soll sich der Regelungsgehalt der Baugenehmigung nicht auf bestimmte vom Bauantragsteller zur Überprüfung durch die Baugenehmigungsbehörde gestellte Aspekte beziehen, ist es Sache der Bauaufsichtsbehörde den eingeschränkten Regelungsgehalt in der Baugenehmigung deutlich zu machen. Allein aus dem Umstand, dass im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren Vorschriften der LBO im Wesentlichen nicht geprüft werden, folgt nicht, dass Stellplätze nicht Gegenstand einer Baugenehmigung sein können, weil ihnen auch eine planungsrechtliche Komponente zukommt. Vorliegend ist es so, dass die geplanten Stellplätze von der Beigeladenen im Lageplan - nicht nur nachrichtlich - eingezeichnet worden sind. Dieser Lageplan ist von der Baugenehmigungsbehörde als Anlage zur Baugenehmigung grün gestempelt und damit zum Gegenstand der Baugenehmigung gemacht worden. Tatsächlich spielen diese Stellplätze auch bauplanungsrechtlich eine Rolle für die Berechnung der zulässigen Grundfläche. Die Beigeladene hat daher die Flächen für die Stellplätze (87,50 m²) und die Flächen für die Zuwegung (212,72 m²) auch bei der Berechnung der Grundflächenzahl GRZ und Geschossflächenzahl GFZ mit in die hierzu eingereichte Bauvorlage aufgenommen. Auch diese Bauvorlage ist vom Antragsgegner als Anlage zur Baugenehmigung grün gestempelt worden. Aus Sicht der Kammer sind daher jedenfalls die streitbefangenen Stellplätze (die Zufahrt ist im Lageplan nicht eingezeichnet) Gegenstand des Bauantrages und Regelungsgehalt der Baugenehmigung vom 30.09.2021 geworden. Dieser Bewertung steht auch nicht der Umstand entgegen, dass notwendige Stellplätze mit einer Nutzfläche bis zu 50 m² je Grundstück sowie deren Zufahrten und Fahrgassen gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 14 b LBO 2016 verfahrensfreie Vorhaben sein können. Abgesehen davon, dass hier die Maximalgröße von 50 qm überschritten wird, sind solche Anlagen (wie auch die übrigen Anlagen in § 63 LBO) nur dann verfahrensfrei, wenn sie isoliert errichtet werden sollen. Es gilt der Grundsatz, dass ein als Ganzes genehmigungsbedürftiges Vorhaben nicht in genehmigungsbedürftige und genehmigungs- und verfahrensfreie Bestandteile aufgespaltet betrachtet werden darf. Werden sie – wie hier – im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang als Teil einer genehmigungspflichtigen Anlage errichtet, unterliegen sie ebenfalls der Genehmigungspflicht (Möller/Bebensee, Bauordnungsrecht Schleswig-Holstein, Kommentar § 63 Rn. 1; OVG Schleswig, Urteil vom 12.09.2019 – 1 LB 6/15). Der Umstand, dass es sich um ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach § 69 LBO 2016 handelt, führt lediglich dazu, dass die angefochtene Baugenehmigung keine Aussagen dazu enthält, ob die Stellplätze auch aus bauordnungsrechtlicher Sicht zulässig sind. Dies ändert aber nichts daran, dass jedenfalls die Stellplätze Regelungsgegenstand der Baugenehmigung geworden sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Gleichwohl fehlt den Antragstellern ausnahmsweise das für jedes gerichtliche Verfahren erforderliche allgemeine Rechtsschutzbedürfnis. Gerichtliche Hilfe darf danach nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der gewünschte Erfolg nicht auf andere Weise erzielt werden kann. Vorliegend geht es den Antragstellern darum, dass die Baugenehmigung allein bezogen auf die Errichtung der geplanten Stellplätze und der Zufahrt nicht vollzogen werden darf. Dieses Ziel haben die Antragsteller aber ohnehin schon dadurch erreicht, dass insoweit noch eine vom Antragsgegner verfügte Baueinstellungsverfügung greift. Die Antragsteller würden daher durch die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf unabsehbare Zeit nicht bessergestellt werden. Wegen diverser Nachbarbeschwerden hat der Antragsgegner nämlich mit Verfügung vom 02.05.2022 die vollständige Einstellung der Bauarbeiten auf dem Vorhabengrundstück verfügt. Zugleich ordnete er die sofortige Vollziehung dieser Verfügung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO an. Nach Durchführung eines Ortstermins und der Nachreichung weiterer angeforderter Bauunterlagen wurde diese Baueinstellungsverfügung mit Schreiben vom 06.05.2022 teilweise aufgehoben. In diesem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass die endgültige Errichtung der Zufahrt sowie der Stellplätze erst nach einer entsprechenden Freigabe durch den Antragsgegner erfolgen dürfe. Der Bauherr wurde gebeten, die Bauaufsichtsbehörde über die Entwicklung mit der Nachbarschaft auf dem Laufenden zu halten. Dieser Hinweis beruhte auf den Erörterungen in einem Ortstermin vom 05.05.2022, in dem die Beigeladene erklärt hatte, dass sie sich überlegen werde, ob sie ein Schallschutzgutachten für die Stellplätze und die Zufahrt nachreiche, oder aber sich eher mit den Nachbarn in Verbindung setze und Lösungsmöglichkeiten (Schallschutzwände, Einhausung der Stellplätze usw.) erörtern wolle. Auch wenn es möglicherweise derartige Gespräche mit den Nachbarn noch nicht gegeben hat, ändert dies nichts daran, dass für die Stellplätze und die Zufahrt bereits eine unbefristete Baueinstellungsverfügung in der Welt ist. Gegenwärtig würden die Antragsteller daher durch eine gerichtliche Entscheidung nichts gewinnen. Gerichtliche Hilfe könnte später dann in Anspruch genommen werden, wenn eine entsprechende Baufreigabe durch den Antragsgegner erfolgt und die bis dahin gefundenen Lösungen zur Konfliktvermeidung von den Antragstellern als unzureichend angesehen werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Es entspricht hier nicht der Billigkeit im Sinne des § 162 Abs. 3 VwGO, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, weil sich diese nicht durch Stellung eines Sachantrages gemäß § 154 Abs. 3 VwGO am Kostenrisiko beteiligt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG, wobei der für ein entsprechendes Hauptsacheverfahren anzunehmende Wert von 15.000 € für das betroffene Einfamilienhaus wegen des nur vorläufigen Regelungscharakters des Eilverfahrens um die Hälfte reduziert worden ist.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,793 | vghbw-2022-09-16-14-s-199122 | {
"id": 161,
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"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 14 S 1991/22 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-10-01T10:01:35 | 2022-10-17T11:10:45 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer Zwischenverfügung wird abgelehnt.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Antrag des Antragstellers vom 08.09.2022, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 21.12.2021 gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung des Landratsamts Schwäbisch Hall vom 10.11.2021 für den Betrieb einer – bereits bestehenden – Windenergieanlage im Zeitraum vom 16.09. bis zum 15.11. eines jeden Jahres von einer Stunde vor Sonnenaufgang bis eine Stunde nach Sonnenuntergang im Wege einer Zwischenverfügung vorläufig bis zu einer abschließenden Entscheidung im Eilverfahren anzuordnen, hat keinen Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Mit dem hiernach begehrten Erlass eines sog. Hängebeschlusses kann während eines anhängigen Eilverfahrens eine Regelung für den Zeitraum zwischen Eingang des Eilverfahrens bei Gericht und der gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag getroffen werden. Die Befugnis zum Erlass eines solchen Hängebeschlusses ergibt sich unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.10.2013 - 1 BvR 2616/13 - NVwZ 2014, 363, juris; HessVGH, Beschluss vom 07.10.2014 - 8 B 1686/14 - NVwZ 2015, 447, juris). Der Erlass eines Hängebeschlusses ist zulässig und geboten, wenn das Eilverfahren nicht entscheidungsreif, der Eilantrag nicht von vornherein aussichtslos ist und ohne die befristete Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung die Gewährung des durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebotenen effektiven Rechtsschutzes gefährdet wäre, weil irreversible Zustände oder schwere unabwendbare Nachteile einzutreten drohen (vgl. OVG M-V, Beschluss vom 18.05.2021 - 1 M 235/21 OVG - juris Rn. 19; Beschluss vom 04.04.2017 - 3 M 195/17 - NVwZ-RR 2017, 904, juris; HessVGH, Beschluss vom 07.10.2014 - 8 B 1686/14 - NVwZ 2015, 447, juris Rn. 18). In den Fällen des § 80a Abs. 1, Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO kann ein Hängebeschluss zudem nicht ergehen, ohne dass auch die Interessen des (beigeladenen) Begünstigten in den Blick genommen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Die hiernach maßgeblichen Voraussetzungen für den Erlass eines Hängebeschlusses liegen nicht vor. Zwar ist der Eilantrag gemäß § 80a Absätze 1 Nr. 2, 3, § 80 Abs. 5 VwGO nicht von vornherein unzulässig, insbesondere wurde er statthaft erhoben, weil der gesetzlich in § 63 BImSchG angeordnete Sofortvollzug auch für die vorliegend gegenständliche Änderungsgenehmigung gilt (vgl. Röckinghausen in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 97. EL, § 63 Rn. 8 f.). Es droht hier jedoch keine Gefährdung des effektiven Rechtsschutzes, wenn der Senat den beantragten Hängebeschluss nicht erlässt. Insbesondere drohen nicht deshalb irreversible Zustände oder schwere unabwendbare Nachteile, weil der Senat über den gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung gerichteten Eilantrag nicht schon vor erstmaligem Beginn des von der Genehmigung erfassten Zeitraums, sondern angesichts von vornherein kurz bemessener, aber eben noch laufender Stellungnahmefristen voraussichtlich erst währenddessen wird entscheiden können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Der vom Antragsteller geltend gemachte Verstoß der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung betreffend die Ausweitung der Betriebszeiten einer bestehenden Windenergieanlage gegen § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG mit der Begründung, durch diese überschreite das rotmilanbezogene Tötungsrisiko die danach maßgebliche Signifikanzschwelle, dürfte im Wesentlichen reversibel sein. Dass für die Schaltung der Windenergieanlage in den streitbefangenen Stunden jenseits technischer Einstellungen größere, etwa bauliche oder sonst nur mit Aufwand rückgängig zu machende Änderungen vorzunehmen wären, ist nicht zu erkennen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Aber auch der Umstand, dass eine am Maßstab des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG als rechtswidrig beanstandete Risikosteigerung vorübergehend bis zu einer Entscheidung über den Eilantrag unwiederbringlich einträte, zwingt hier nicht zum Erlass eines Hängebeschlusses. Insbesondere lassen sich dem Vorbringen des Antragstellers keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Genehmigung das Tötungsrisiko insgesamt – oder auch nur beschränkt auf einen bestimmten Zeitraum oder auf bestimmte Tageszeiten – massiv über die maßgebliche Signifikanzschwelle steigern würde und dass (deshalb) zeitnah mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Verlusten zu rechnen wäre, die späteren Eilrechtsschutz nutz- und wirkungslos erscheinen ließen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Soweit der Antragsteller geltend macht, dass die Genehmigung den fachlichen Vorgaben der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) in ihren Hinweisen zur Erfassung und Bewertung von Vogelvorkommen bei der Genehmigung von Windenergieanlagen insoweit nicht Genüge tun würde, als von einer häufigen Frequentierung des Gefahrenbereichs der innerhalb eines Radius von 1.000 m um die Ruhestätten des Rotmilans stehenden Windenergieanlage zu rechnen sei, begründet dies keinen schwerwiegenden Mangel im Sinne einer erheblichen Überschreitung der Signifikanzschwelle. Denn in dieser Genehmigung wird unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die LUBW-Hinweise aus dem Jahr 2021 und diesen jedenfalls auf den ersten Blick entsprechend (vgl. dort S. 159) ausgeführt, dass im Gebiet gerade keine Flugkorridore entstünden, die als häufig frequentiert gelten könnten. Dass dies offensichtlich defizitär wäre, legt der Antragsteller nicht nachvollziehbar dar. Soweit der Antragsteller sich im Übrigen gegen die Schutzkategorienbildung in den genannten Hinweisen der LUBW wendet, indem er etwa geltend macht, ein Schutzbedarf bestehe auch jenseits des dem Rotmilan danach unter dem Gesichtspunkt der sog. Dichtezentren brutzeitbezogen gewährten Schutzes im Fall von sog. Schlafgemeinschaften, ist ein entsprechend schwerwiegender Mangel ebenfalls – auch unter Berücksichtigung der vom Antragsteller zitierten fachlichen Quellen – nicht aufgezeigt. Insoweit ist insbesondere zu berücksichtigen, dass dem Senat im gerichtlichen Eilverfahren keine weitergehenden Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung stehen, um die Meinungsverschiedenheiten der jeweiligen Sachverständigen einer fachlichen Klärung zuzuführen. Die hieraus folgenden Grenzen der richterlichen Kontrolle naturschutzfachlicher Bewertungen der Genehmigungsbehörde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.10.2018 - 1 BvR 595/14 - BVerfGE 149, 407 Rn. 17 ff.) haben im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren – und damit erst recht bei Erlass einer Zwischenverfügung – eine weitgehende rechtliche Unerheblichkeit solcher naturschutzfachlicher Kontroversen zur Folge, die noch nicht abschließend ausgetragen sind (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 21.01.2022 - 10 S 1861/21 - EnZW 2022, 132, juris Rn. 26 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Die gegen den Erlass eines Hängebeschlusses sprechenden Gründe gewinnen hier zusätzlich dadurch Gewicht, dass der Antragsteller seinen Eilantrag ohne nachvollziehbaren Grund nicht so frühzeitig gestellt hat, dass dem Senat eine das Eilverfahren abschließende Entscheidung vor dem 16.09.2022 möglich gewesen wäre (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 03.12.2008 - 1 MN 257/08 - juris Rn. 16). Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Antragsteller hier als Sachwalter öffentlicher Interessen auftritt und insoweit keine eigenen subjektiven Rechte geltend macht. Denn die genannte prozessuale Obliegenheit trifft ihn (erst recht), wenn er die den Rechtsschutz grundsätzlich nur für subjektive Rechtsverletzungen garantierende Gewährleistung aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG für sich in Anspruch nimmt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Ein hiernach möglicherweise vorübergehend unwiederbringlich über die Signifikanzschwelle gesteigertes Risiko gibt dem Senat vor diesem Hintergrund keinen Anlass, die gewichtigen privaten und öffentlichen Interessen an der dem Begünstigten erteilten Genehmigung (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.03.2021 - 7 B 8/21 - ZNER 2021, 209, juris, im Anschluss daran VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 26.10.2021 - 10 S 471/21 - juris, und HessVGH, Beschluss vom 11.01.2022 - 3 B 2278/21.T - juris) bis zur vom Senat zeitnah angestrebten abschließenden Entscheidung des Eilverfahrens zurücktreten zu lassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da die bei Erlass einer Zwischenentscheidung entstehenden Kosten Teil der Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nach § 80a Absätze 1 Nr. 2, 3, § 80 Abs. 5 VwGO sind. Denn die Zwischenentscheidung soll nur die Zeitspanne bis zum Ergehen der Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts überbrücken. Sie ergeht daher nicht in einem gegenüber dem Eilverfahren selbständigen Nebenverfahren (VGH Bad.-Württ, Beschluss vom 26.09.2017 - 2 S 1916/17 - juris Rn. 10 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
|
346,774 | vghbw-2022-09-16-10-s-242021 | {
"id": 161,
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 10 S 2420/21 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-09-30T10:02:00 | 2022-10-17T11:10:42 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Juni 2021 - 11 K 1585/21 - wird verworfen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer nach der Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung elektromagnetischer Felder (BEMFV) erteilten Standortbescheinigung für eine Mobilfunksendeanlage.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Auf Antrag der Beigeladenen erteilte die Bundesnetzagentur am 22.10.2020 eine Standortbescheinigung für den Betrieb einer dort im Einzelnen näher beschriebenen ortsfesten Funkanlage in einer Montagehöhe von 32,60 m auf dem Grundstück Flst. Nr. ... der Gemarkung ... der Stadt ....... Dabei setzte sie Sicherheitsabstände von 20,38 m in Hauptstrahlrichtung und von 4,48 m vertikal (90⁰) fest. Den hiergegen von der Antragstellerin, deren mit einem Wohnhaus bebautes Grundstück rund 390 m von dem Anlagenstandort entfernt liegt, erhobenen Widerspruch wies die Bundesnetzagentur mit Widerspruchsbescheid vom 04.02.2021 zurück.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 05.03.2021 hat die Antragstellerin Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben (Az. 11 K 1069/21) und am 29.03.2021 die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage beantragt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Das Verwaltungsgericht hat den Eilrechtsschutzantrag mit Beschluss vom 29.06.2021 abgelehnt, weil die Antragstellerin nicht antragsbefugt und der Antrag deswegen unzulässig sei. So erscheine es aufgrund der Entfernung des Grundstücks der Antragstellerin zum Anlagenstandort ausgeschlossen, dass auf ihrem Grundstück die im Rahmen des Standortverfahrens zu prüfenden Grenzwerte überschritten würden. In Bezug auf eine mögliche Rechtsverletzung von Dritten durch eine Standortbescheinigung sei grundsätzlich auf den Einwirkungsbereich der Anlage abzustellen. Das bedeute jedoch nicht, dass alle Personen im Einwirkungsbereich im Sinne des gesamten Versorgungsbereichs einer Funkanlage unterschiedslos antragsbefugt seien. Im Hinblick auf den begrenzten Prüfungs- und Regelungsumfang einer Standortbescheinigung bestehe vielmehr nur für solche Personen die Möglichkeit einer Rechtsverletzung, die mit Erfolg geltend machen könnten, dass durch die Standortbescheinigung möglicherweise der zur Einhaltung der Grenzwerte nach § 3 BEMFV erforderliche standortbezogene Sicherheitsabstand zu ihrem Nachteil fehlerhaft ermittelt worden sei. Dies sei mit Blick auf das Grundstück der Antragstellerin nicht der Fall, da dieses so erheblich außerhalb des standortbezogenen Sicherheitsbereich liege, dass eine Überschreitung der nach § 3 BEMFV einzuhaltenden Grenzwerte praktisch unmöglich sei. Die diesbezüglichen Ermittlungen habe die Antragstellerin auch nicht substantiiert in Frage gestellt. Auf die Eignung der in der 26. BlmSchV festgelegten Anforderungen zur Sicherstellung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung vor Mobilfunkstrahlung komme es in diesem Zusammenhang nicht an. Die Bundesnetzagentur habe ausschließlich zu prüfen, ob eine Funkanlage die Grenzwerte der 26. BlmSchV außerhalb des kontrollierbaren Bereichs einhält. Eine darüberhinausgehende umfassende Analyse von Gesundheitsrisiken durch Mobilfunkstrahlung im Einwirkungsbereich der Anlage oder eine Prüfung des § 22 BlmSchG sei im Standortverfahren nicht vorgesehen, sondern der abschließenden Prüfung im Baugenehmigungsverfahren vorbehalten.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Gegen den ihr am 14.07.2021 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 22.07.2021 Beschwerde erhoben, die sie am 13.08.2021 sowie nachgehend weiter umfänglich vertiefend begründet hat. Zusammengefasst trägt sie vor, das Verwaltungsgericht habe den Antrag zu Unrecht als unzulässig angesehen. Aus Gründen des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes und mit Blick auf die systematische Unterlassung immissionsschutzrechtlicher Prüfungen durch die Baurechtsbehörden und eine diese Praxis zum Teil billigende Rechtsprechung müsse - zur Vermeidung von Widersprüchen und letztlich Rechtsschutzlücken - von einer über die rechnerische Festsetzung der Sicherheitsabstände anhand der Grenzwerte der 26. BImSchV hinausgehenden immissionsschutzrechtlichen Prüfungspflicht der Bundesnetzagentur im Standortbescheinigungsverfahren ausgegangen werden. Die Grenzwerte der 26. BImSchV umfassten zahlreiche gesundheitliche Einwirkungen nicht; die Antragstellerin sei auf ihrem Grundstück gesundheitlichen Einwirkungen und potentiellen Schädigungswirkungen ausgesetzt. Dabei sei auch die fehlende Berechenbarkeit der Strahlenbelastung bei „5G-Antennen“ zu berücksichtigen. Die Standortbescheinigung sei rechtswidrig. Es fehle an einer Rechtsgrundlage für ihre Erteilung, das Nachweisverfahren nach der BEMFV stelle keine immissionsschutzrechtliche Prüfung im Sinne von § 22 BImSchG dar, das immissionsschutzrechtliche Vermeidungs- und Minimierungsgebot werde nicht beachtet und Gesundheitsgefährdungen für Dritte wie die Antragstellerin durch den Anlagenbetrieb seien nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen; insbesondere stellten sich die in der 26. BImSchV festgesetzten Grenzwerte als evident unzureichend dar. Die Antragstellerin werde in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - auch in Verbindung mit Art. 20a GG -, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 Satz 1 Satz 1 GG und Art. 13 Abs. 1 GG sowie verfassungsrechtlich geschützten Verfahrensrechten verletzt. Schließlich müsse mit Blick auf die in Rede stehenden Gesundheitsgefahren und zur Vermeidung vollendeter Tatsachen auch eine Interessenabwägung zu ihren Gunsten ausfallen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Auf Antrag der .... OHG hat die Bundesnetzagentur für den streitigen Anlagenstandort am 09.05.2022 eine neue Standortbescheinigung erteilt. Unter Berücksichtigung weiterer Funkanlagen sind die Sicherheitsabstände dort nunmehr auf 26,90 m in Hauptstrahlrichtung und von 5,79 m vertikal (90⁰) festgesetzt worden. Auch hiergegen hat die Antragstellerin Widerspruch eingelegt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Am 01.07.2022 hat die Antragstellerin daraufhin beantragt, ihren Beschwerdeantrag auf die neue Standortbescheinigung vom 09.05.2022 „zu erweitern“. Die neu erteilte Standortbescheinigung umfasse den bisherigen Funkanlagenbetrieb, der lediglich erweitert werde. Die Beschwerdeerweiterung sei aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes geboten. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, dass die Anlage abweichend von einer am 15.04.2019 erteilten Baugenehmigung errichtet worden sei und sowohl die Errichtung als auch der Betrieb der Anlage derzeit nicht von einer baurechtlichen Genehmigung gedeckt seien.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Ein von der Antragstellerin in Bezug auf die erteilte Baugenehmigung gestellter Eilantrag ist ohne Erfolg geblieben (Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29.06.2021 - 11 K 6228/20 - und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16.11.2021 - 8 S 2400/21 -).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Die Antragsgegnerin und die Beigeladene sind der Beschwerde entgegengetreten. Die Antragsgegnerin hat einer Erweiterung des Beschwerdeantrags zugestimmt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Für die weiteren Einzelheiten des jeweiligen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze sowie der dem Senat vorliegenden Akten des erstinstanzlichen Antragsverfahrens vor dem Verwaltungsgericht verwiesen.</td></tr></table>
<table><tr><td>II.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Die Beschwerde ist unzulässig und deswegen zu verwerfen (§ 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO bzw. § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 572 Abs. 2 ZPO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>1. Der Antragstellerin fehlt es im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats in Bezug auf ihren ursprünglichen, gegen die Standortbescheinigung vom 22.10.2020 gerichteten Aussetzungsantrag an der notwendigen Beschwer als allgemeiner Zulässigkeitsvoraussetzung (vgl. hierzu Rudisile in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 146 VwGO Rn. 13d, Vorb. § 124 VwGO Rn. 39). Denn die neue, auf Antrag der ...... OHG für die Standortmitbenutzung erteilte Standortbescheinigung vom 09.05.2022 hat die frühere Standortbescheinigung vom 22.10.2020 gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 BEMFV ersetzt. Letztere ist damit nicht mehr Grundlage des Anlagenbetriebs, was auch praktisch dadurch zum Ausdruck kommt, dass nunmehr für die erweiterte Gesamtanlage neue Sicherheitsabstände festgelegt wurden. Da die im Hauptsacheverfahren angefochtene Standortbescheinigung vom 22.10.2020 keine den Anlagenbetrieb legitimierenden Rechtswirkungen mehr entfaltet, ist es zugleich ausgeschlossen, dass die Antragstellerin durch ihren Vollzug, gegen den sich ihr Antrag nach § 80a Abs. 3 in Verbindung mit § 80 Abs. 5 VwGO richtet, betroffen sein könnte. Damit geht nicht nur der (ursprüngliche) Aussetzungsantrag ins Leere, weil die Standortbescheinigung vom 22.10.2020 keinen vollziehbaren Verwaltungsakt mehr darstellt, sondern ist auch das Rechtsschutzbedürfnis für die hierauf bezogene Beschwerde entfallen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.01.2006 - 11 S 1455/05 - VBlBW 2006, 285 = juris Rn. 5 m. w. N.). Ein anderes schutzwürdiges Interesse, das sie nach Erledigung ihres Aussetzungsbegehrens im Beschwerdeverfahren etwa noch verfolgen könnte, hat die Antragstellerin schon nicht geltend gemacht (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.12.2009 - 1 S 1342/09 - NVwZ-RR 2010, 416; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.05.2022 - 4 E 148/22 - juris). Insbesondere steht eine Aufhebung der Vollziehung (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO) in der vorliegenden Konstellation nicht in Rede und könnte auch ein etwaiges Feststellungsbegehren im Beschwerdeverfahren nicht verfolgt werden, so dass die Antragstellerin auch nicht etwa die Feststellung erwirken könnte, ihrem Aussetzungsantrag sei zu Unrecht der Erfolg versagt geblieben (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.01.2006 a. a. O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.08.2021 - 1 B 803/21 - juris Rn. 18 ff.; siehe in Bezug auf Anträge nach § 123 VwGO außerdem BVerwG, Beschluss vom 27.01.1995 - 7 VR 16.94 - NVwZ 1995, 586; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.08.2015 - 9 S 1418/15 - Justiz 2015, 357; BayVGH, Beschluss vom 28.03.2019 - 3 CE 18.2248 - juris Rn. 19 ff.). Aus der Erledigung ihres Aussetzungsbegehrens hat die Antragstellerin gleichwohl nicht die prozessuale Konsequenz gezogen, ihre Beschwerde insoweit für erledigt zu erklären, sondern hat diese lediglich auf die neue Standortbescheinigung vom 09.05.2022 „erweitert“. Ihr diesbezüglicher Beschwerdeantrag ist deswegen zu verwerfen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>2. Die Beschwerde ist ebenfalls unzulässig, soweit die Antragstellerin damit am 01.07.2022 nunmehr auch beantragt hat, unter Abänderung des angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs - bzw. der beim Verwaltungsgericht anhängigen Hauptsacheklage (Az. 11 K 1069/20), deren entsprechende Erweiterung sie erklärt hat - gegen die Standortbescheinigung vom 09.05.2022 anzuordnen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>a) Eine solche Erweiterung des Beschwerdeantrags ist ungeachtet der weiteren Voraussetzungen entsprechend § 91 Abs. 1 VwGO nicht statthaft.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist grundsätzlich allein der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts (§ 146 Abs. 1 VwGO), auf den sich auch das Begründungserfordernis bezieht (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO). § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt die Prüfung im Beschwerdeverfahren dabei auf die innerhalb der einmonatigen, hier am 16.08.2021 abgelaufenen (§ 57 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 222 Abs. 1 und 2 ZPO sowie § 188 Abs. 2, § 187 Abs. 1 BGB) Beschwerdebegründungsfrist gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO vorgetragenen Gründe. Dies schließt eine Änderung oder Erweiterung des Beschwerdebegehrens jedenfalls wie hier nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist aus (grds. ablehnend OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11.11.2020 - 3 M 208/20 - juris Rn. 7; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.04.2020 - 11 S 20/20 - juris Rn. 9; ähnlich Rennert in Eyermann, VwGO, § 91 Rn. 7).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Zwar können aus Gründen der gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen Rechtsschutzeffektivität abweichend von dem Grundsatz, dass das Beschwerdeverfahren ausschließlich der rechtlichen Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung dient, ausnahmsweise Antragsänderungen auch hier zuzulassen sein (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 05.04.2022 - 1 S 645/22 - juris Rn. 31, vom 18.01.2021 - 9 S 3123/20 - juris Rn. 31, vom 21.07.2020 - 12 S 1545/20 - juris Rn. 23 und vom 18.10.2010 - 1 S 2029/10 - VBlBW 2011, 95; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12.07.2018 - 4 MB 76/18 - juris Rn. 7; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.01.2018 - 9 B 1540/17 - DVBl 2018, 527, jew. m. w. N.; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, § 146 Rn. 94; Rudisile in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 146 VwGO Rn. 13c). Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Antragsänderung - anders als im vorliegenden Fall - noch vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist erklärt wird. Denn nur unter dieser Voraussetzung können geänderte Umstände unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 146 Abs. 4 VwGO überhaupt in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.10.2010 - 1 S 2029/10 - VBlBW 2011, 95; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.05.2022 - 4 MB 16/22 - juris Rn. 12; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26.07.2017 - 8 B 11235/17 - juris Rn. 50 f.; BayVGH, Beschluss vom 06.02.2012 - 11 CE 11.2964 - juris Rn. 32; SächsOVG, Beschluss vom 25.01.2012 - 1 B 231/11 - juris Rn. 11; HessVGH, Beschluss vom 12.07.2011 - 1 B 1046/111 - NVwZ-RR 2012, 201; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, § 146 Rn. 33). Soweit darüber hinausgehend Antragsmodifikationen teilweise unter Verweis auf den Rechtsgedanken des § 264 Nr. 3 ZPO als Reaktion auf nachträgliche Änderungsbescheide in bestimmten Konstellationen zugelassen werden (vgl. BayVGH, Beschluss vom 29.03.2013 - 22 CS 13.753 - juris Rn. 16 f.), ist ein solcher Fall hier jedenfalls nicht gegeben. Insbesondere hat die Bundesnetzagentur am 09.05.2022 nicht etwa für die bereits im erstinstanzlichen Antragsverfahren gegenständliche Anlage eine geänderte Standortbescheinigung erteilt, sondern es handelt sich bei der „neuen“ Standortbescheinigung um eine solche für eine erweiterte Funkanlage, die ein aliud darstellt, so dass eine Identität des Streitgegenstands nach den Maßstäben des § 264 ZPO nicht gegeben ist. Dies zeigt sich auch daran, dass durch die Standortbescheinigung vom 09.05.2022 nunmehr nicht mehr nur die Beigeladene in Bezug auf den Betrieb der bislang vorhandenen Anlagen begünstigt ist, sondern mit der ....... OHG eine weitere Begünstigte, die ebenfalls Mobilfunksendeanlagen auf dem Anlagengrundstück betreiben möchte, hinzugetreten ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>b) Mit dem „erweiterten“ Antrag ist die Beschwerde darüber hinaus auch deswegen unzulässig, weil das Begründungserfordernis gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO diesbezüglich ebenfalls nicht erfüllt ist. Zur Erfüllung der Begründungsanforderungen genügt es nicht, dass die Antragstellerin schlicht auf ihr die Standortbescheinigung vom 22.10.2020 bezogenes Beschwerdevorbringen verweist. Entgegen ihrer Auffassung ist der Sach- und Streitstand mit dem Erlass der Standortbescheinigung vom 09.05.2022 nicht „im Wesentlichen gleich bzw. identisch“ geblieben, sondern bezieht sich letztere wie ausgeführt auf eine im Vergleich mit der ursprünglich streitgegenständlichen erheblich erweiterte und sich damit von jener wesentlich unterscheidende Gesamtanlage. Die konkreten Gegebenheiten am vorliegenden Standort berücksichtigt die Antragstellerin in ihrer Beschwerdebegründung aber schon bislang nicht hinreichend, geschweige denn zeigt sie hinsichtlich der „neuen“ Standortbescheinigung auf, inwieweit sie durch diese im Einzelnen konkret - insbesondere mit Blick auf die dortigen Festlegungen - in subjektiven Rechten betroffen sein könnte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Dem liegt offenbar nicht zuletzt ein Fehlverständnis des Regelungsgehalts der Standortbescheinigung und des der Bundesnetzagentur bei deren Erteilung obliegenden Prüfungsauftrags zugrunde. Auszugehen ist dabei von den Regelungen der BEMFV. Diese ist entgegen der Auffassung der Beschwerde weder nichtig noch sonst infolge der Aufhebung des Gesetzes über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen (FTEG) einschließlich der in § 12 FTEG geregelten Verordnungsermächtigung und dessen Ablösung durch das Gesetz über die Bereitstellung von Funkanlagen auf dem Markt (Funkanlagengesetz - FuAG) zum 04.07.2017 (Gesetz vom 27.06.2017, BGBl. I S. 1947) obsolet geworden. Denn das nachträgliche Erlöschen hat ebenso wenig wie die nachträgliche Änderung einer Ermächtigungsgrundlage Einfluss auf den rechtlichen Bestand einer ordnungsgemäß erlassenen Rechtsverordnung, ohne dass dabei - wie die Antragstellerin meint - zwischen vor- und nachkonstitutionellem Recht zu unterscheiden wäre (vgl. hierzu ausführlich BayVGH, Beschluss vom 08.12.2021 - 22 CS 21.2284 - BayVBl 2022, 557 = juris Rn. 33 ff. m. w. N. zur stRspr. u. a. des Bundesverfassungsgerichts). Wie das Verwaltungsgericht bereits ausgeführt hat, hätte ein Wegfall der BEMFV wie von der Antragstellerin geltend gemacht im Übrigen zur Folge, dass der Betrieb der Anlage nicht von der Erteilung einer Standortbescheinigung (§ 4 Abs. 1 Satz 1 BEMFV) abhängig wäre und diese damit ohne vorherige Prüfung durch die Bundesnetzagentur betrieben werden könnte, womit den angeführten Interessen der Antragstellerin ersichtlich noch weniger gedient wäre.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Der Prüfauftrag der Bundesnetzagentur im Zusammenhang mit der Erteilung einer Standortbescheinigung beschränkt sich darauf, auf der Grundlage der systembezogenen Sicherheitsabstände den zur Einhaltung der Grenzwerte nach § 3 BEMFV, d. h. insbesondere der in der 26. BImSchV festgesetzten Grenzwerte (§ 3 Satz 1 Nr. 1 BEMFV), erforderlichen standortbezogenen Sicherheitsabstand zu ermitteln. Die Standortbescheinigung ist zu erteilen, wenn der standortbezogene Sicherheitsabstand innerhalb des kontrollierbaren Bereichs liegt (§ 5 Abs. 2 Satz 1 BEMFV). Dass die Sicherheitsabstände nach diesem Maßstab fehlerhaft ermittelt wären und die Antragstellerin hierdurch - trotz des vergleichsweise großen Abstands ihres Grundstücks (vgl. zur Berechnung BayVGH, Beschluss vom 08.12.2021 a. a. O.) - auch betroffen sein könnte, legt sie nicht dar. Die in der Beschwerdebegründung stattdessen angestellten, abstrakten und von den Verhältnissen am streitigen Anlagenstandort losgelösten Betrachtungen gehen bereits am Schutzzweck der BEMFV weitgehend vorbei. Dieser besteht ausschließlich in der Gewährleistung des Schutzes von Personen in den durch den Betrieb von ortsfesten Funkanlagen entstehenden elektromagnetischen Feldern (§ 1 BEMFV). Eine mit der Erteilung der Standortbescheinigung verbundene Rechtsverletzung der Antragstellerin kann daher schon im Ansatz nicht aus Umständen hergeleitet werden, die nicht in der Exposition der Antragstellerin mit elektromagnetischen Feldern begründet liegen. Die Ausführungen der Klägerin zum Klimaschutz oder zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind zur Begründung der Beschwerde daher ebenso unbehelflich wie der behauptete Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, dessen Schutzbereich durch eine Bestrahlung mit Funkwellen auch nicht tangiert wird (vgl. näher BayVGH, Beschluss vom 08.12.2021 a. a. O.; siehe zur Regelungswirkung der Standortbescheinigung ferner BayVGH, Beschluss vom 25.04.2022 - 22 CS 22.711 - juris). Gleiches gilt für die abstrakten Ausführungen der Antragstellerin zur sog. „5G-Technik“, da nicht dargelegt oder ersichtlich ist, aus welchen Gründen die Antragstellerin davon ausgeht, dass der Einsatz einer solchen von der erteilten Standortbescheinigung gedeckt sein könnte (vgl. hierzu bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 S 2400/21 - in Bezug auf die Baugenehmigung).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die Bundesnetzagentur muss im Standortbescheinigungsverfahren auch nicht allgemein die Auswirkungen des Funkbetriebs auf die menschliche Gesundheit prüfen und ihr obliegt erst recht nicht die Revision der von der Antragstellerin für unzureichend gehaltenen 26. BImSchV, die auf der die Bundesregierung ermächtigenden Regelungsgrundlage des § 23 Abs. 1 BImSchG beruht. Sie hat insbesondere auch keine weitergehende immissionsschutzrechtliche Prüfung am Maßstab des § 22 BImSchG durchzuführen, ohne dass es hierfür darauf ankäme, ob die Baurechtsbehörden im Baugenehmigungsverfahren eine solche Prüfung durchzuführen haben, was abhängig vom jeweiligen Landesrecht schon im Grundsatz unterschiedlich zu beurteilen ist (vgl. für Baden-Württemberg § 58 Abs. 1 Satz 1 und 2 LBO sowie hierzu Gassner in Spannosky/Uechtritz, Bauordnungsrecht Baden-Württemberg, § 58 LBO Rn. 92, und Sauter, LBO, § 58 Rn. 56; zur Rechtslage in anderen Ländern siehe exemplarisch etwa BayVGH, Beschluss vom 14.04.2022 - 15 ZB 21.2827 - NVwZ-RR 2022, 567; NdsOVG, Beschluss vom 17.01.2022 - 1 ME 142/21 - BauR 2022, 631; hierzu ferner Augustin, jurisPR UmwR 8/2022 Anm. 4). In ständiger Rechtsprechung wird freilich davon ausgegangen, dass durch die von einem Funkstandort ausgesendeten elektromagnetischen Felder keine schädlichen Umweltauswirkungen (§ 3 Abs. 1 und § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 BImSchG) verursacht werden, wenn eine Standortbescheinigung erteilt wurde, welche die Einhaltung der Anforderungen nach der 26. BImSchV dokumentiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.06.2013 - 4 C 2.12 - BVerwGE 147, 37 Rn. 19; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.05.2019 - 10 A 1860/17 - juris Rn. 41 ff.; BayVGH, Beschluss vom 18.01.2022 - 1 CS 21.2386 - juris Rn. 16; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19.10.2021 - 1 MB 18/21 - juris Rn. 20). Soweit die Antragstellerin die Anforderungen der 26. BImSchV - allerdings ohne konkret darzulegen, dass sich hieraus für sie auch unter Berücksichtigung der Entfernung ihres Grundstücks von dem Anlagenstandort eine individuelle Betroffenheit ergeben könnte - für unzureichend hält und dem Normgeber mit Blick auf seinen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag der Sache nach ein Unterlassen vorwirft, ist - ungeachtet der Frage, ob dies letztlich auf die Rechtmäßigkeit der Standortbescheinigung durchschlagen könnte - schließlich darauf hinzuweisen, dass das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung von der Verfassungskonformität der Vorgaben der 26. BImSchV ausgeht und dies erst jüngst erneut bestätigt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.11.2020 - 4 A 13.18 - juris Rn. 44 m. w. N.; siehe hierzu ferner OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19.10.2021 a. a. O. Rn. 21 ff.). Die 26. BImSchV ist auch nicht seit ihrem Inkrafttreten am 01.01.1997 unverändert geblieben, sondern wurde - u. a. zur Anpassung an neuere wissenschaftliche Erkenntnisse - im Jahr 2013 novelliert (Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das telekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren, BGBl. I 3259; vgl. zur Begründung der Änderungsverordnung BT-Drs. 17/12372).</td></tr></table>
<table><tr><td>III.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 sowie auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Der danach festzusetzende Auffangstreitwert von 5.000,-- EUR war unter Berücksichtigung der Empfehlung in Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit für das Eilverfahren zu halbieren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland nach Frankreich zum Zweck der Strafverfolgung wegen der im Europäische Haftbefehl des Staatsanwalts bei dem Bezirksgericht Paris vom 28. Februar 2019 (Az. 14261000083) bezeichneten Straftat wird für zulässig erklärt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Auslieferungshaft dauert fort.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong> I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die französischen Behörden haben durch eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) nach Art. 26 des SIS-II-Beschlusses vom 28. Februar 2019 um Auslieferung des Verfolgten zur Strafverfolgung ersucht. Der Ausschreibung liegt ein Europäischer Haftbefehl des Staatsanwaltes beim Bezirksgericht Paris vom 28. Februar 2019 (Az. 14261000083) zugrunde, der auf Basis des Haftbefehls der Untersuchungsrichterin in Charleville-Meziere vom 27. Februar 2019 erlassen wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Dem Verfolgten wird ausweislich der übermittelten Zusatzinformationen zu Artikel 26 des Ratsbeschlusses SIS II (A-Formular) Ziffer 044 (Bl. 5 d.A., Übersetzung Bl. 15 d.A) zur Last gelegt, in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 2013 mit mehreren Personen ein Loch in die Decke des Juweliergeschäfts „… et …“ im Einkaufszentrum … Hypermarkt in ..., Département Ardennes, gebrochen, sich sodann abgeseilt und Goldschmuck im Wert von ca. 264.318,95 € entwendet zu haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der Verfolgte wurde am 15. Juli 2022 im Landkreis Peine festgenommen und befindet sich seitdem in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, Abteilung Braunschweig. Er hat sich bei seiner Vernehmung durch die Richterin beim Amtsgericht Braunschweig am 16. Juli 2022 mit seiner vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und hat auch nicht auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Senat hat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig am 21. Juli 2022 die Auslieferungshaft gegen den Verfolgten angeordnet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Mit Vorabentscheidung nach § 79 Abs. 2 IRG vom 22. Juli 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft bekannt gegeben, keine Bewilligungshindernisse gemäß § 83b IRG geltend zu machen und die Auslieferung zu bewilligen, sofern sie durch das Oberlandesgericht Braunschweig für zulässig erklärt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Mit Schreiben vom 3. August 2022 hat das Amtsgericht Gdansk-Nord mitgeteilt, dass dort gegen den Verfolgten wegen derselben Tat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, ein Strafverfahren anhängig ist. Der Verfolgte habe im Rahmen dieses Verfahrens die Tat gestanden, weshalb gegen ihn keine Präventivmaßnahmen ergriffen worden seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die französischen Behörden haben am 8. August 2022 mitgeteilt, dass Polen aufgrund des dort gegen den Verfolgten geführten Strafverfahrens ein Auslieferungsersuchen nach Frankreich abgelehnt hätte. Am 9. August 2022 haben die französischen Behörden ergänzend mitgeteilt, dass der Europäische Haftbefehl dennoch weiter gültig sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Mit Zuschrift vom 22. August 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt, die Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig zu erklären.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Der Beistand des Verfolgten hat mit Schreiben vom 6. September 2022 Stellung genommen. Er führt aus, in der Entscheidung der polnischen Behörden, mit der sie die Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich abgelehnt haben, liege ein Auslieferungshindernis in Gestalt einer gerichtlichen Entscheidung. Zwar gelte § 83b Abs. 1 Nr. 1 IRG für diesen Fall nicht unmittelbar. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen gebiete es aber, ein Auslieferungshindernis anzunehmen. Andernfalls werde die Intention des Gesetzgebers verletzt und die Entscheidung der polnischen Behörden untergraben. Der Verfolgte stehe wegen der verfahrensgegenständlichen sowie 17 weiterer Taten, die er in verschiedenen europäischen Staaten begangen haben soll, in Polen vor Gericht. Er habe sich bislang dem Verfahren uneingeschränkt gestellt, weshalb gegen ihn keine Untersuchungshaft angeordnet worden sei. Die Verfahrensakten umfassten 80 Ordner und die Verhandlung dauere bereits seit 3 Jahren an. Sie stehe kurz vor dem Abschluss, drohe nun aber aufgrund der Inhaftierung des Verfolgten in Deutschland und der möglichen Auslieferung nach Frankreich zu scheitern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>1.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung für zulässig zu erklären (§ 29 Abs. 1 IRG), war zu entsprechen. Die Auslieferung des Verfolgten ist zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Ausschreibung im Schengener Informationssystems (SIS) nach Art 26 des SIS-II-Beschlusses vom 28. Februar 2019 enthält die gemäß § 83a Abs. 1 IRG erforderlichen Angaben und gilt daher als Europäischer Haftbefehl.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Dass der Wortlaut der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen entgegen § 83a Abs. 1 Nr. 4 IRG nicht übermittelt wurde, schadet nicht, weil die beiderseitige Strafbarkeit, deren Überprüfung die Vorschriften dienen, vorliegt. Die Tat wäre nach deutschem Recht als Diebstahl (im besonders schweren Fall) gemäß §§ 242, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB, gegebenenfalls auch als Bandendiebstahl nach § 244 Abs. 2 Nr. 2 StGB oder als schwerer Bandendiebstahl nach § 244a Abs. 1 StGB, jeweils in Verbindung mit § 25 Abs. 2 StGB, strafbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Voraussetzungen des § 81 Nr. 1 IRG sind erfüllt. Die dem Verfolgten vorgeworfene Tat ist nach französischem Recht mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von sieben Jahren bedroht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Fragen der Gegenseitigkeit (§ 5 IRG) und, da ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, der Spezialität (§ 11 IRG) sind im Auslieferungsverfahren mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht zu prüfen (§ 82 IRG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Schließlich bestehen auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für etwaige Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG. Ein solches kann insbesondere auch nicht in dem Umstand erblickt werden, dass aufgrund der Tat, wegen der die französischen Behörden um Auslieferung ersuchen, gegen den Verfolgten in Polen bereits ein Strafverfahren geführt wird und die polnischen Behörden daher ein Auslieferungsersuchen der Republik Frankreich abgelehnt haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Ein Bewilligungshindernis gemäß § 83b Abs. 1 Nr. 1 IRG liegt darin nicht, da dies voraussetzt, dass gegen den Verfolgten wegen derselben Tat im <span style="text-decoration:underline">Inland</span> (Hervorhebung durch den Senat) ein strafrechtliches Verfahren geführt wird. Aufgrund des klaren Wortlauts der Norm, der auch angesichts der Regelung des § 83b Abs. 1 Nr. 3 IRG keinen Raum für die vom Beistand angestrebte Auslegung lässt, kommt eine Anwendung auf den vorliegenden Fall nicht in Betracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Die Auslieferung verstößt auch nicht gegen das in Art. 50 GRCh in Verbindung mit Art. 54 SDÜ aufgeführte Verbot der Doppelbestrafung. Diese Norm ist schon von ihrem Wortlaut her nicht anwendbar, da eine rechtskräftige Sanktion im Sinne des Art. 50 GRCh in Verbindung mit Art. 54 SDÜ (dazu: BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2022, 2 BvR 1110/21, juris, Rn. 41) nicht vorliegt. Die Vorschriften schützen einen Verdächtigen nicht davor, dass er wegen derselben Tat möglicherweise in mehreren Vertragsstaaten Ermittlungen ausgesetzt ist (BVerfG; a.a.O., Rn. 40).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Auch unmittelbar aus Art. 103 Abs. 3 GG ergibt sich kein Hindernis. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die an das in Polen geführte Verfahren anknüpfende ausländische Rechtshängigkeit im Rahmen eines deutschen Strafverfahrens überhaupt ein Verfahrenshindernis begründen könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2007, 3 StR 94/07, juris). Jedenfalls ist im vorliegenden Auslieferungsverfahren nicht zu prüfen, ob sich an das polnische Verfahren in Frankreich (nach französischem Recht) das Verfahrenshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit knüpft. Denn Art 103 Abs. 3 GG erfasst nur deutsche Gerichtsverfahren (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2011, 2 BvR 148/11, juris, Rn. 32; BeckRS 2012, 45914) und ist daher im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverfahren, bei dem primär Unionsgrundrechte zur Anwendung kommen (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2022, 2 BvR 1110/21, juris, Rn.38), nicht einschlägig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Weiterhin ist auch der Anwendungsbereich von § 83b Abs. 2 Nr. 1 IRG nicht eröffnet, weil der Verfolgte nicht über einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland verfügt. Nach seinen eigenen Angaben im Rahmen der Anhörung vor dem Amtsgericht Braunschweig sei er von 2013 bis 2019 in Polen inhaftiert gewesen und noch im März 2022 in Polen erneut verhaftet worden. Auch wenn keine konkreten Erkenntnisse über seine aktuelle Aufenthaltsdauer in Deutschland vorliegen, liegt diese jedenfalls deutlich unterhalb dem grundsätzlich erforderlichen fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthalt, der erst eine hinreichende Bindung zum Vollstreckungsstaat begründet (vgl. <em>Zimmermann</em>, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Auflage 2020, § 83b IRG Rn. 39).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>2.<br>Die Voraussetzungen der Auslieferungshaft liegen aus den im Beschluss des Senates vom 21. Juli 2022 genannten Gründen weiterhin vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Es besteht weiterhin die Gefahr, dass sich der Verfolgte dem Auslieferungsverfahren und der Durchführung der Auslieferung entziehen wird (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG). Wenn ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, ist in rahmenbeschlusskonformer Auslegung regelmäßig davon auszugehen, dass der ersuchende Staat die Haftgründe geprüft und zutreffend bejaht hat (st. Rspr. d. Strafsenats - vgl. bspw. OLG Braunschweig, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 1 AR (Ausl) 6/14, juris, Rdnr. 14).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Diese Annahme ist auch im vorliegenden Fall angesichts der dem Verfolgten aufgrund der Schwere der ihm zur Last gelegten Tat und der ihm daher drohenden Strafe weiterhin gerechtfertigt. Der Verfolgte ist erkennbar nicht bereit, sich dem Verfahren in Frankreich zu stellen. Ausreichende fluchthemmende Umstände liegen nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>3.<br>Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bestehen weder gegen die Zulässigkeit der Auslieferung noch gegen die Fortdauer der Auslieferungshaft Bedenken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE270372022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,695 | lg-arnsberg-2022-09-16-3-ns-110-js-147121- | {
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"level_of_appeal": "Landgericht"
} | 3 Ns-110 Js 1471/21-92/22 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-09-24T10:01:48 | 2022-10-17T11:10:31 | Beschluss | ECLI:DE:LGAR:2022:0916.3NS110JS1471.21.9.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das Verfahren wird unter Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Schmallenberg vom 27.04.2022 eingestellt.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Einstellung des Verfahrens beruht auf § 206a Abs. 1 StPO.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung ergibt, dass es an der Verfahrensvoraussetzung eines Eröffnungsbeschlusses fehlt. Denn insoweit steht ein vom zuständigen Richter nicht unterzeichneter Strafbefehl einem fehlenden Eröffnungsbeschluss gleich.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Fehlen der Unterschrift ist ein wesentlicher Mangel, der einen Strafbefehl nicht wirksam werden lässt. Nach Auffassung der Kammer kommt es nicht darauf an, ob aus den Akten festgestellt werden kann, dass dennoch eine der Willensäußerung des Richters entsprechende Entscheidung vorliegt (zum Meinungsstand vgl. Meyer-Goßer/Schmitt, StPO, § 409, RN 13; KK-StPO, § 409 Rn. 13-15). Denn das Erfordernis der Unterzeichnung kann nicht anhand von Umständen aus der Akte, wie beispielsweise eines Namenskürzels bei der Begleitverfügung, fingiert werden. Insoweit ist anerkannt, dass die fehlende Unterzeichnung einer Urteilsurkunde (§ 275 Abs. 2 StPO) nicht durch eine von dem erkennenden Richter unterzeichnete gesonderte Verfügung (der Zustellung) ersetzt werden kann (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 19. 7. 2011 - 1 RVs 166/11). Ähnlich wie bei einer Urteilsurkunde kann auch bei einem Strafbefehl nur durch die Unterzeichnung dokumentiert werden, dass der Richter die Verantwortung für den Inhalt des – gemäß § 408 Abs. 3 StPO nicht von ihm herrührenden – Schriftstücks übernehmen wollte. Die vergleichende Betrachtung wird durch § 410 Abs. 3 StPO gestützt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Amtsgericht hat das Verfahrenshindernis bei Urteilserlass offenbar übersehen, so dass die Einstellung des Verfahrens durch das Berufungsgericht zugleich die Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Folge hat (vgl. OLG Koblenz, NZV 2010, 368). Die Einstellung steht einer neuen Anklageerhebung jedoch nicht entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.</p>
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346,693 | ovgni-2022-09-16-1-la-1222 | {
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} | 1 LA 12/22 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-09-24T10:01:16 | 2022-10-17T11:10:31 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 15. Dezember 2021 wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin wendet sich gegen eine Nebenbestimmung zu einer Baugenehmigung, die die zulässige Aufenthaltsdauer in ihrem „Boxhotel“ auf maximal drei aufeinanderfolgende Nächte begrenzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin betreibt auf dem Grundstück {D.} in der Innenstadt der Beklagten ein so genanntes Boxhotel, bestehend aus 104 Schlafboxen mit 208 Betten. Die einzelnen, etwa 4 bis 5 qm großen Schlafboxen verfügen über Lichtöffnungen nur zu den davor verlaufenden Gängen, die ihrerseits ebenfalls nicht durchweg mit Tageslicht versorgt sind. Ausweislich der Betriebsbeschreibung richtet sich das Angebot an Gäste, die eine unkomplizierte, preiswerte Übernachtungsmöglichkeit suchen. Ausgegangen wird „von einer durchschnittlichen Verweildauer der Gäste von nur einer Übernachtung bis maximal zwei Folgenächten“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die für das Vorhaben erforderliche Baugenehmigung erteilte die Beklagte unter dem 18. April 2019, nachdem sie vom Verwaltungsgericht Hannover mit Urteil vom 24. Januar 2019 - 4 A 6166/18 - verpflichtet worden war, „der Klägerin eine Baugenehmigung über die Nutzungsänderung eines medizinischen Labors in eine Beherbergungsstätte zu erteilen.“ Der Genehmigung fügte sie die folgende als Auflage bezeichnete Nebenbestimmung bei:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„Die unterbrechungsfreie Übernachtungsdauer pro Gast ist auf maximal 3 aufeinanderfolgende Nächte begrenzt. Sie darf nicht überschritten werden. Dies ist organisatorisch sicher zu stellen. (…) “</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Den gegen diese Nebenbestimmung erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2020 zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht Hannover hat die daraufhin erhobene Klage - soweit sie sich gegen die Nebenbestimmung im vorzitierten Umfang gerichtet hat - mit dem angegriffenen Urteil vom 15. Dezember 2021 abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf das in einem Parallelverfahren ergangene Senatsurteil vom 12. Mai 2021 - 1 LB 29/20 - Bezug genommen, wonach ein Beherbergungsbetrieb mit fensterlosen Zimmern ohne natürliche Belichtung dann zulässig sein könne, wenn Betriebskonzept und Ausstattung der Zimmer auf einen nur maximal drei Übernachtungen umfassenden Aufenthalt der Gäste ausgerichtet seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Der dagegen gerichtete, auf die Zulassungsgründe ernstlicher Zweifel, besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten, grundsätzlicher Bedeutung sowie der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 VwGO) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens eine erhebliche Tatsachenfeststellung oder einen tragenden Rechtssatz mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich dadurch etwas am Entscheidungsergebnis ändern könnte. Überwiegende Erfolgsaussichten sind nicht erforderlich; es genügt, wenn sich diese als offen erweisen. Das darzulegen, ist der Klägerin nicht gelungen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 43 Abs. 3 NBauO müssen Aufenthaltsräume (§ 2 Abs. 8 NBauO) - darunter fallen Hotelzimmer und auch die hier vorliegenden Schlafboxen - unmittelbar ins Freie führende Fenster von solcher Zahl, Größe und Beschaffenheit haben, dass die Räume das erforderliche Tageslicht erhalten und zweckentsprechend gelüftet werden können (notwendige Fenster). Von diesen Anforderungen kann gemäß § 43 Abs. 5 Satz 1 NBauO bei Aufenthaltsräumen, die - wie hier - nicht dem Wohnen dienen, abgesehen werden, soweit durch besondere Maßnahmen oder Einrichtungen sichergestellt wird, dass insbesondere den Anforderungen des § 3 NBauO entsprochen wird. Das ist nach der Rechtsprechung des Senats in Beherbergungsbetrieben, deren Schlafräume für einen reinen Übernachtungsaufenthalt konzipiert sind und nicht über unmittelbar ins Freie führende Fenster verfügen, dann sichergestellt, wenn die ununterbrochene Dauer eines Aufenthalts auf maximal drei Übernachtungen begrenzt ist. Diese Begrenzung trägt der Tatsache Rechnung, dass fensterlose Schlafräume mit Blick auf die Anforderungen des § 3 NBauO nur für kurzfristige Aufenthalte geeignet sind. Je länger ein Aufenthalt andauert, umso eher wird das Bedürfnis entstehen, Räume auch tagsüber zum Rückzug zu nutzen und dort auch zu anderen Zwecken als dem bloßen Schlafen länger zu verweilen. Damit gewinnt das Fehlen der natürlichen Belichtung an Gewicht; eine Kompensation durch Kunstlicht scheidet bei längeren Aufenthalten aus. Vor diesem Hintergrund bedarf es der Begrenzung der Aufenthaltsdauer (Senatsurt. v. 12.5.2021 - 1 LB 29/20 -, BauR 2021, 1431= NdsVBl 2022, 10 = juris Rn. 32). Dem trägt die Beklagte mit der beigefügten Auflage Rechnung (§ 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 36 Abs. 1 VwVfG). Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Auflage begründet das Zulassungsvorbringen der Klägerin nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Die Klägerin meint, das Verwaltungsgericht habe die Wertung des § 51 Satz 2 NBauO nicht berücksichtigt. Diese im Zusammenhang mit Satz 1 der Vorschrift zu lesende Bestimmung lautet:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„<sup>1</sup>An einen Sonderbau nach § 2 Abs. 5 können im Einzelfall besondere Anforderungen gestellt werden, soweit die Vorschriften der §§ 4 bis 50 und der zu ihrer näheren Bestimmung erlassenen Verordnungen nicht ausreichen, um sicherzustellen, dass der Sonderbau die Anforderungen des § 3 erfüllt. <sup>2</sup>Erleichterungen können gestattet werden, soweit es der Einhaltung von Vorschriften und Verordnungen nach Satz 1 wegen der besonderen Art oder Nutzung baulicher Anlagen oder Räume oder wegen besonderer Anforderungen nicht bedarf.“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Mit dieser Vorschrift steht die Nebenbestimmung in Einklang. Wie der Wortlaut des § 51 Satz 1 NBauO zeigt und was überdies auch die Systematik der Niedersächsischen Bauordnung deutlich macht, muss jede bauliche Anlage den Anforderungen des § 3 NBauO genügen. Bauliche Anlagen müssen insbesondere den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse entsprechen (§ 3 Abs. 2 Satz 1 NBauO); dem dient die Forderung nach einer natürlichen Belichtung von Aufenthaltsräumen. In welchem Umfang der Aufenthalt in fensterlosen Schlafräumen zulässig ist, ohne dass gegen § 3 Abs. 2 Satz 1 NBauO verstoßen wird, hat der Senat in seiner oben zitierten Entscheidung geklärt. Abstriche hinsichtlich der Anforderungen des § 3 NBauO erlaubt auch § 51 Satz 2 NBauO nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt darin nicht. Fensterlose Schlafräume unterscheiden sich von Schlafräumen, die über die notwendigen Fenster verfügen, in rechtlich relevanter Weise, sodass eine daran anknüpfende Differenzierung zulässig ist. Fensterlosen Schlafräumen ist hingegen gemein, dass sie nur zu einem reinen Schlafaufenthalt und nicht zu weiteren Aufenthaltszwecken taugen und das Bedürfnis zu einem Aufenthalt aus anderen Zwecken umso mehr zunimmt, je länger dieser dauert. Das rechtfertigt es, die Aufenthaltsdauer unterschiedslos zu begrenzen, und gilt auch mit Blick darauf, dass in diesem Fall nicht ein Bett in einem Mehrbettzimmer, sondern eine individuelle Schlafbox zur Verfügung gestellt wird. Das zunehmende Bedürfnis nach einem Rückzugsort stellt sich unabhängig davon ein, ob sich der Schlafraum dafür mehr oder - wie die Klägerin mit Blick auf die Schlafbox meint - weniger eignet. Soweit andernorts - die Klägerin nennt Göttingen und Hamburg als Beispiele - Boxhotels bzw. Cabin Hotels ohne Begrenzung der Zahl zulässiger Übernachtungen genehmigt worden sind, folgt daraus ebenfalls kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Rechtlich relevant ist eine Ungleichbehandlung nur dann, wenn sie durch denselben Hoheitsträger in seinem eigenen Kompetenzbereich erfolgt (Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 793).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Soweit die Klägerin meint, es bedürfe einer Einzelfallbetrachtung, wird schon nicht deutlich, welche Besonderheiten des Einzelfalls hier Berücksichtigung finden könnten. Dass sich ihre Gäste „wissentlich und v.a. willentlich auf das Erlebnis einer Übernachtung in einer Schlafbox ‚einlassen‘“, ist keine baurechtlich relevante Besonderheit. Im Baurecht gilt vielmehr, dass eine bauliche Anlage nur dann genehmigungsfähig ist, wenn sie den rechtlichen Anforderungen entspricht. Dass sich auch für bauliche Anlagen, die dem geltenden Recht nicht entsprechen, regelmäßig Nutzer finden, ändert daran nichts; die baurechtlichen Schutzvorschriften sind anlagenbezogen und insofern nicht disponibel (vgl. zum Bauplanungsrecht BVerwG, Urt. v. 23.9.1999 - 4 C 6.98 -, BVerwGE 109, 314 = BRS 62 Nr. 86 = juris Rn. 29). Zudem trifft es nicht zu, dass alle Gäste aus freien Stücken eine Übernachtung in einer Schlafbox wählen. Sehr preiswerte Unterkünfte werden vielfach von Arbeitgebern für ihre Mitarbeiter, etwa für die von der Klägerin explizit in den Blick genommenen Monteure, gebucht, die häufig über kein Mitspracherecht bei der Wahl des Übernachtungsortes verfügen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Fehl geht der Einwand, das Verwaltungsgericht habe nicht Beweis geführt, dass eine längere Aufenthaltsdauer als drei aufeinanderfolgende Übernachtungen zu gesundheitlichen Schäden führen könne. Mit § 43 Abs. 3 NBauO hat der Gesetzgeber selbst eine zulässige Wertung getroffen, welche Mindestanforderungen zur Wahrung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse bestehen. Sobald sich daher ein Übernachtungsaufenthalt aufgrund des mit zunehmender Dauer typischerweise steigenden Bedürfnisses, sich auch tagsüber in dem Zimmer aufzuhalten, einem Wohnaufenthalt annähert, greift die gesetzgeberische Wertung durch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Die Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 24. Januar 2019 steht der angegriffenen Entscheidung nicht entgegen. Die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Urteils reicht gemäß § 121 VwGO nur insoweit, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Streitgegenstand ist der prozessuale Anspruch, der durch die erstrebte, im Klageantrag zum Ausdruck gebrachte Rechtsfolge sowie durch den Klagegrund, nämlich den Sachverhalt, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll, gekennzeichnet ist. Die gerichtliche Entscheidung ist demgemäß die im Entscheidungssatz des Urteils sich verkörpernde Rechtsfolge als Ergebnis der Subsumtion des Sachverhalts unter das Gesetz, also der konkrete Rechtsschluss vom Klagegrund auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen der begehrten Rechtsfolge anhand des die Entscheidung unmittelbar tragenden Rechtssatzes. Auf diesen unmittelbaren Gegenstand des Urteils ist die Rechtskraft beschränkt (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.8.2011 - 8 C 15.10 -, BVerwGE 140, 290 = juris Rn. 20). Ob die Rechtskraft eines Verpflichtungsurteils auf Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts die Behörde hindert, dem Verwaltungsakt belastende Nebenbestimmungen beizufügen, hängt von der Reichweite der Rechtskraft des Urteils im Einzelfall ab (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.3.2014 - 4 B 3.14 -, BauR 2014, 1129 = BRS 82 Nr. 105 = juris Rn. 16).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Gemessen daran folgt aus dem Urteil vom 24. Januar 2019 nicht, dass die Baugenehmigung ohne Begrenzung der zulässigen Anzahl aufeinanderfolgender Übernachtungen zu erteilen war. Der Tenor des Urteils beschränkt sich auf den Ausspruch, die Baugenehmigung zu erteilen. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich weiter, dass das beantragte Vorhaben zu genehmigen ist. Beantragt war eine Nutzung als Übernachtungsmöglichkeit bei einer „durchschnittlichen Verweildauer der Gäste von nur einer Übernachtung bis maximal zwei Folgenächten.“ Das ist auch für das Verwaltungsgericht von tragender Bedeutung; die Genehmigungsfähigkeit folgt für das Gericht auch daraus, dass nur ein kurzfristiger Aufenthalt von wenigen Tagen erfolgen soll.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Das zugrunde gelegt lässt der Senat offen, ob nicht schon die dem Bauantrag beigefügte Betriebsbeschreibung, hinsichtlich derer Unklarheiten grundsätzlich zu Lasten des Bauherrn gehen, eine Begrenzung der Übernachtungsdauer auf maximal drei aufeinanderfolgende Übernachtungen enthält. In diesem Fall hätte die Klägerin einen weitergehenden Bauantrag nicht gestellt; der Auflage käme eine nur klarstellende bzw. den Vollzug erleichternde Bedeutung zu. Selbst wenn der Bauantrag aber unbegrenzt gestellt gewesen sein sollte, wäre die Rechtslage im Ergebnis nicht anders. Denn der Verpflichtungsausspruch beschränkt sich nach den obigen Ausführungen auch unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe darauf, das Vorhaben dem Grunde nach und ohne eine prinzipiell unbegrenzte Übernachtungsdauer für genehmigungsfähig zu erklären; konkrete Anhaltspunkte für ein gegenteiliges Verständnis trägt auch die Klägerin nicht vor. Vor diesem Hintergrund erstreckt sich die Rechtskraftbindung auf die Erteilung der Genehmigung als solche, ohne eine nähere Ausgestaltung der Modalitäten namentlich auch mit Blick auf die Anzahl zulässiger Übernachtungen durch eine Beifügung von Nebenbestimmungen auszuschließen. Auch vor diesem Hintergrund erweist sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts demzufolge als richtig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Dass schließlich eine weitergehende Abweichung gemäß § 66 NBauO zu erteilen gewesen wäre, macht die Klägerin erstmals mit Schriftsatz vom 2. September 2022 und damit weit nach Ablauf der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geltend. Der Vortrag muss daher außer Betracht bleiben. Nur ergänzend merkt der Senat daher an, dass eine Abweichung von den Anforderungen des § 3 NBauO nicht erteilt werden darf (vgl. § 66 Abs. 1 Satz 1 NBauO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Ebenfalls erstmals nach Ablauf der Begründungsfrist trägt die Klägerin vor, die Nebenbestimmung verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 GG, weil ein wirtschaftlicher Nachteil daraus folge, dass sie die Drei-Tages-Begrenzung auf ihrer Homepage offenlegen müsse. Ungeachtet der Verfristung des Einwands ist der Eingriff mit Blick auf das mit der Begrenzung verfolgte hochwertige Ziel des Schutzes der Gesundheit und der Individualsphäre jedenfalls gerechtfertigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Besondere rechtliche Schwierigkeiten bzw. eine grundsätzliche Bedeutung weist nach Auffassung der Klägerin erstens die Frage auf, ob „die für den dauerhaften Aufenthalt in Aufenthaltsräumen entwickelten Grundsätze für gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse i.S.d. § 3 NBauO, wonach Fenster neben technischen und biologischen v.a. die psychophysische Funktion erfüllen, dem Menschen gerade von seinem privaten Hauptlebensraum aus die ;visuelle Partizipation’ an seiner natürlichen und sozialen Umwelt zu ermöglichen, auch für Sonderbauten“ gelten oder ob „hier im Einzelfall andere Maßgaben gelten“ können. Diese Frage ist in der oben zitierten Rechtsprechung des Senats dahingehend geklärt, dass den Anforderungen des § 3 NBauO bei fensterlosen Schlafstätten genügt ist, wenn der Aufenthalt nur kurzzeitig, d.h. für maximal drei aufeinanderfolgende Nächte erfolgt und sich auf die Übernachtung als solche beschränkt. Der vorliegende Einzelfall weist insofern weder besondere Schwierigkeiten noch weitergehenden Klärungsbedarf auf.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Die weitere Frage, ob „infolge des Senatsurteils vom 12.05.2021 (Az.: 1 LB 29/20) zum Zwecke der Gewährleistung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse i.S.d. § 3 NBauO bei fensterlosen Beherbergungsbetrieben die ununterbrochene Aufenthaltsdauer pauschal/allgemeingültig auf drei Übernachtungen zu begrenzen“ ist, ist in der Senatsrechtsprechung ebenfalls geklärt und ohne Schwierigkeiten auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Auf die obigen Ausführungen nimmt der Senat Bezug. Wie dargelegt, unterscheidet sich die Schlafbox auch nicht in baurechtlich relevanter Weise von einem Bett in einem fensterlosen Mehrbettzimmer. Sie eignet sich - wie die Klägerin selbst zu Recht ausführt - in keiner Weise für ein längeres Verweisen; genau das ist der Grund für die von der Beklagten verfügte Begrenzung. Die Nutzung ist schon deshalb wohnähnlich, weil eine Übernachtung erfolgt; dass sie nicht alle Anforderungen an ein Wohnen im Rechtssinne erfüllt, ist unbestritten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Ebenso geklärt und nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, dass „der Wille des Beherbergungsgastes, sich bewusst auf eine besondere Übernachtungsmöglichkeit, wie die Übernachtung in einer Schlafbox, einem Weinfass, einer Innenkabine eines Kreuzfahrtschiffs, einem Strandkorb etc. einzulassen, bei der Anwendung der Grund-sätze für gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse i.S.d. § 3 NBauO keine Rolle“ spielt. Wie oben ausgeführt stellt das öffentliche Baurecht objektive Anforderungen an die Beschaffenheit der baulichen Anlage; es wirkt demzufolge anlagen- und nicht nutzerbezogen. Zudem würde sich die Frage in einem Berufungsverfahren nicht stellen, weil - wie oben ausgeführt - auch mit unfreiwilligen Aufenthalten zu rechnen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Soweit die Klägerin schließlich mit der Divergenzrüge geltend macht, das Verwaltungsgericht Hannover sei vom Senatsurteil vom 12. Mai 2021 - 1 LB 29/20 - abgewichen, unterliegt sie einem Missverständnis. Der Senat hat - wie oben ausgeführt - entschieden, dass eine Übernachtungsmöglichkeit in fensterlosen Schlafräumen nur kurzzeitig, d.h. bis zu drei Übernachtungen in Folge, mit den Anforderungen des § 3 NBauO in Einklang steht. In der Entscheidung heißt es (juris Rn. 30):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">„Diese Begrenzung trägt der Tatsache Rechnung, dass fensterlose Schlafräume mit Blick auf die Anforderungen des § 3 NBauO nur für kurzfristige Aufenthalte geeignet sind. […] Diese Begrenzung veranschlagt der Senat auf den Zeitraum eines verlängerten Wochenendes mit drei Übernachtungen als maximal zulässiger Aufenthaltsdauer.“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Eine weitergehende Einzelfallbetrachtung ist nach der Senatsrechtsprechung nicht erforderlich; das Verwaltungsgericht hat eine solche zu Recht unterlassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>4.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
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<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007153&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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346,671 | ovgnrw-2022-09-16-13-b-85922 | {
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<p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 5. Juli 2022 wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 28.894,98 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den mit der Beschwerde weiterverfolgten Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 24. Juni 2022, Az.: 2 K 2643/22, gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 3. Juni 2022 anzuordnen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass sich der Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Juni 2022 nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig erweise. An der Verfassungsmäßigkeit des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG, der Ermächtigungsgrundlage für das von der Antragsgegnerin ausgesprochene Betretungs- und Tätigkeitsverbot, bestünden keine Zweifel. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner zur einrichtungsbezogenen Impfnachweispflicht des § 20a IfSG ergangenen Entscheidung die Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen. Es sei auch unter Berücksichtigung des weiteren Vortrags der Antragstellerin zur aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnislage nicht davon auszugehen, dass die Annahme des Gesetzgebers, insbesondere eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 schütze in nennenswertem Umfang vor einer weiteren Transmission des Virus, seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unzutreffend geworden wäre. Der Bescheid sei formell rechtmäßig. Insbesondere sei die Antragstellerin mit Schreiben vom 27. April 2022 ordnungsgemäß angehört worden. Ungeachtet dessen dürfte ein etwaiger Anhörungsmangel im Sinne des § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes geheilt worden sein. Zudem dürfte im vorliegenden Einzelfall – ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG um eine Ermessensvorschrift handele – ein etwaiger Anhörungsmangel auch unbeachtlich im Sinne des § 46 VwVfG NRW sein, da die Antragstellerin nach ihren eigenen Ausführungen das Anhörungsschreiben ungeöffnet unter Hinweis auf die Datenschutzgrundverordnung an die Antragsgegnerin zurückgeschickt habe. Schließlich sei der Bescheid auch materiell rechtmäßig. Die Antragstellerin werde als Chefarztsekretärin in einer Einrichtung im Sinne des § 20a Abs. 1 Nr. 1 IfSG tätig. Die Ermessensausübung der Antragsgegnerin begegne keinen Bedenken. Sie habe die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht dadurch überschritten, dass sie der Antragstellerin neben dem Tätigwerden in der Einrichtung zugleich deren Betretung untersagt habe. Dass von dem Betretungsverbot lediglich das Betreten zum Zwecke der Verrichtung der „Tätigkeit“ im oben genannten Sinne umfasst sei, lasse sich durch Auslegung des Bescheids ermitteln. Anhaltspunkte dafür, dass es der Antragstellerin als Chefarztsekretärin möglich wäre, ihre Tätigkeit beispielsweise aus dem Home-Office heraus zu erbringen, seien weder von der Antragstellerin noch von ihrer Arbeitgeberin vorgetragen worden. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass das ihr gegenüber verhängte Betretungs- und Tätigkeitsverbot zu einer Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit führe, würden von der Antragstellerin nicht aufgezeigt und seien auch sonst nicht ersichtlich. Der Bescheid erweise sich auch nicht deswegen als ermessensfehlerhaft, weil die Antragsgegnerin als milderes Mittel nicht die Möglichkeit der Testung erwogen habe, da nicht ersichtlich sei, dass es sich insoweit um eine gleich geeignete Maßnahme handele. Selbst wenn man nach alledem die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage als offen ansehen wollte, ginge eine dann anzustellende Interessenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">A. Die zur Begründung fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der in der Hauptsache erhobenen Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Juni 2022 anzuordnen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">I. Mit dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, dass sich nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand im Eilverfahren nicht feststellen lässt, dass die Vorschrift des § 20a IfSG gegen höherrangiges Recht verstößt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Im Eilverfahren sind an die Nichtanwendung eines Gesetzes im formellen Sinn wegen Annahme seiner Grundgesetzwidrigkeit mit Blick auf das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (Art. 100 Abs. 1 GG) hohe Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist, dass das beschließende Gericht von der Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Vorschriften überzeugt ist. Dies bedeutet im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, dass der Grundrechtsverstoß offenkundig ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juli 2022 - 13 B 1466/21 -, juris, Rn. 73 ff. m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 8. September 2022 - 14 ME 297/22 -, juris, Rn. 10 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 13. Januar 2015 - 22 CS 14.2323 -, juris, Rn. 15 f.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zu einer dem entsprechenden Überzeugung ist der Senat nicht gelangt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Beschluss vom 27. April 2022 ‑ 1 BvR 2649/21 - bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung aus, die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose, die verfügbaren Impfstoffe würden auch gegenüber der Omikron-Variante des Coronavirus SARS-CoV-2 eine noch relevante Schutzwirkung entfalten, sei durch die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens nach Verabschiedung des Gesetzes ausweislich der Stellungnahmen der im dortigen Verfahren als sachkundige Dritte angehörten Fachgesellschaften nicht durchgreifend erschüttert worden. Dies gelte insbesondere auch für die gesetzgeberische Prognose, die verfügbaren Impfstoffe könnten vor einer Infektion schützen und – sollten sich Betroffene gleichwohl infizieren – zu einer Reduzierung des Transmissionsrisikos beitragen. Die zugrundeliegenden Stellungnahmen der als sachkundige Dritte angehörten Fachgesellschaften bezifferten eine Impfstoffwirksamkeit gegenüber „der Omikron-Variante“ des Coronavirus SARS-CoV-2 – vorbehaltlich wissenschaftlicher Bewertungsunsicherheiten – bei dreifach Geimpften auf 40 bzw. 50 bis 70 %; bei einer Grundimmunisierung sei die Schutzrate (teils mit 42,8 % beziffert) zwar reduziert, aber nicht bzw. erst nach Ablauf von 15 Wochen nach der Grundimmunisierung aufgehoben. Zudem bestehe eine im Allgemeinen niedrigere Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch eine geimpfte Person nach Infektion mit der Omikron-Variante. Vor diesem Hintergrund sei weiterhin davon auszugehen, dass eine Impfung jedenfalls einen relevanten – wenn auch mit der Zeit abnehmenden – Schutz vor einer Infektion auch mit der aktuell vorherrschenden Omikron-Variante des Coronavirus biete. Dabei sei auch nicht erkennbar, dass die Impfwirksamkeit so sehr reduziert wäre, dass die Verwirklichung des mit dem angegriffenen Gesetz verfolgten Zwecks des Schutzes vulnerabler Menschen nur noch in einem derart geringen Maße gefördert würde, dass im Rahmen der Abwägung den widerstreitenden Interessen der von der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht Betroffenen von Verfassungs wegen der Vorrang gebühren müsste.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 184 f., 237 ff.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Nach der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung ist nicht festzustellen, dass sich die wissenschaftliche Erkenntnislage seit Ergehen der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts derart geändert hat, dass die ursprüngliche Annahme des Gesetzgebers, eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 schütze in nennenswertem Umfang vor einer weiteren Transmission des Virus, offenkundig unzutreffend geworden und deshalb nunmehr von einer greifbaren materiellen Verfassungswidrigkeit des § 20a IfSG auszugehen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu nach durchgeführter Sachverständigenanhörung auch BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2022 ‑ 1 WB 2.22, 1 WB 5.22 -, bislang noch nicht veröffentlicht, siehe aber Pressemitteilung, abrufbar unter https://www.bverwg.de/pm/2022/44; Nds. OVG, Beschluss vom 8. September 2022 - 14 ME 297/22 -, juris, Rn. 9 ff.; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 2. September 2022 - 6 B 10723/22.OVG -, bislang noch nicht veröffentlicht, siehe aber Pressemitteilung, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">https://ovg.justiz.rlp.de/de/startseite/detail/news/News/detail/corona-eilantrag-einer-ungeimpften-zahnarztmitarbeiterin-gegen-praxisbetretungsverbot-bleibt-erfolg/; VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 2022 - 29 L 1703/22 -, juris, Rn. 29 ff.; VG Neustadt (Weinstraße), Beschluss vom 20. Juli 2022 ‑ 5 L 585/22.NW -, juris, Rn. 28 f.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin legt nicht dar, dass seit dem Aufkommen der BA.5 Variante offenkundig keine relevante Schutzwirkung mehr besteht, mithin es an der Eignung der Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Zwecks fehlt, vulnerable Menschen in besonderem Maße vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Zwar trifft es (weiterhin) zu, dass es trotz Impfung zu einer COVID-19-Erkrankung kommen kann, da die Impfung keinen 100 %-igen Schutz bietet.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. RKI, Kann es trotz COVID-19-Impfung zu einer COVID-19-Erkrankung kommen? Stand: 7. Juni 2022, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dass der Schutz vor einer Infektion und in der Folge auch vor einer Übertragung indes derart reduziert wäre, dass die Verwirklichung des mit dem angegriffenen Gesetz verfolgten Zwecks des Schutzes vulnerabler Menschen nur noch in einem derart geringen Maße gefördert würde, dass im Rahmen der Abwägung den widerstreitenden Interessen der von der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht Betroffenen von Verfassungs wegen der Vorrang gebühren müsste,</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">vgl. zu diesem Maßstab: BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 239,</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">legt die Antragstellerin weder dar, noch ist dies sonst ersichtlich. Dies folgt insbesondere nicht aus der Darstellung des nach § 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 IfSG zur Beurteilung der epidemiologischen Lage berufenen Robert Koch-Instituts zur Wirksamkeit der COVID-19-Impfstoffe. Nach dessen Erkenntnissen bieten die Covid-19-mRNA-Impfstoffe Comirnaty (BioNTech/Pfizer) und Spikevax (Moderna) sowie der Vektor-Impfstoff JCOVDEN (Johnson & Johnson) vor der Omikron-Variante weniger Schutz als vor der sog. Delta-Variante, die das Infektionsgeschehen in Deutschland zuvor dominiert hatte. Die Studienergebnisse zeigten, dass die Wirksamkeit nach zwei Impfstoffdosen (Grundimmunisierung) gegenüber jeglicher oder symptomatischer Erkrankung durch die Omikron-Variante insgesamt gering sei und zudem mit der Zeit deutlich nachlasse. Durch eine Auffrischimpfung könne die Schutzwirkung verbessert werden. Gegen schwere Erkrankungen biete die Impfung weiterhin einen guten Schutz. Die Datenlage deute darauf hin, dass auch hier die Schutzwirkung nach der Grundimmunisierung abfalle, jedoch weniger stark als im Vergleich zu jeglichen bzw. symptomatischen Erkrankungen. Nach einer Auffrischimpfung sei die Wirksamkeit gegenüber schweren Erkrankungen erneut hoch. Daten wiesen auch nach Auffrischimpfung auf einen nachlassenden Schutz vor (symptomatischer) Infektion über die Zeit hin. Die hohe Schutzwirkung gegenüber schweren Infektionen bleibe aber mindestens über sechs bis neun Monate nach der Auffrischimpfung bestehen. Über die Transmission, das heißt die Virusübertragung, unter Omikron gebe es bisher keine ausreichenden Daten; sie scheine bei Geimpften weiterhin reduziert zu sein, wobei das Ausmaß der Reduktion nicht vollständig geklärt sei. Haushaltsstudien aus Norwegen und Dänemark zeigten, dass eine Impfung auch unter vorherrschender Zirkulation der Omikron-Variante die Übertragbarkeit um ca. 6 bis 21 % nach Grundimmunisierung und nach Auffrischimpfung um weitere 5 bis 20 % reduziere.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. RKI, Wie wirksam sind die COVID-19 Impfstoffe, Stand: 18. August 2022, abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Bestehen danach weiterhin Anhaltspunkte für eine nicht nur unwesentliche Reduzierung des Transmissionsrisikos, werden die bisherigen Annahmen des Gesetzgebers zu einer relevanten Schutzwirkung der Impfung gegenüber vulnerablen Personen nicht durchgreifend erschüttert. Soweit die Antragstellerin beanstandet, dass bei zweifach Geimpften, deren Impfung mehrere Monate zurückliegt, kein relevanter Impfschutz mehr besteht, übersieht sie, dass ab dem 1. Oktober 2022 für einen vollständigen Impfschutz grundsätzlich drei Einzelimpfungen erfolgt sein müssen (vgl. § 22a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 3 IfSG).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu auch schon BVerfG, Urteil 27. April 2022 ‑ 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 175.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht aus der von der Antragstellerin vorgelegten Stellungahme der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 2022,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter https://www.who.int/news/item/22-07-2022-who-releases-global-covid-19-vaccination-strategy-update-to-reach-unprotected,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">wonach die Impfstoffe die Transmission des SARS-CoV-2-Virus nicht in relevantem Umfang („not substantially“) reduziert hätten, und dem Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 IfSG vom 30. Juni 2022 zur Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik, wonach sich das Risiko zur Ansteckung mit und die Verbreitung von SARS-CoV-2 von geimpften und ungeimpften Personen durch die Entstehung neuer Varianten (v. a. Omikron) mit höherer Übertragbarkeit und verbesserter Immunflucht nach den ersten Monaten auf ein ähnliches Niveau angleiche und eine dritte Impfung insgesamt den Immunschutz gegen eine SARS-CoV-2-Infektion für etwa drei Monate deutlich verbessere, dann aber abnehme.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. S. 76 des Evaluationsberichts, abrufbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/S/Sachverstaendigenausschuss/220630_Evaluationsbericht_IFSG_NEU.pdf.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt mit Blick auf die weiteren von der Antragstellerin angeführten Presseberichte und Studien, die sich ebenfalls mit der Wirksamkeit von Impfungen gegen COVID-19 sowie mit der sog. Immunflucht bei den Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 befassen. In der gebotenen Gesamtschau ergibt sich hieraus derzeit kein Bild einer wissenschaftlichen Erkenntnislage, die die Annahme, die verfügbaren Impfstoffe würden eine gerade zum Schutz vulnerabler Personen noch als relevant zu betrachtende Wirkung entfalten, offensichtlich oder mit jedenfalls hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr trägt. So geht etwa die Ständige Impfkommission in der 21. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung vom 18. August 2022,</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">RKI, Epidemiologisches Bulletin 33/2022, S. 4, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2022/Ausgaben/33_22.pdf?__blob=publicationFile,</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">davon aus, dass die COVID-19-Impfung nach wie vor dem Ziel dient, insbesondere in Umgebungen mit einem hohen Anteil vulnerabler Personen und/oder einem hohen Ausbruchspotenzial die Virustransmission zu vermindern, um so einen zusätzlichen Schutz zu bewirken.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass Unsicherheiten hinsichtlich Ausmaß und Dauer der Impfstoffwirksamkeit gegenüber insbesondere der aktuell vorherrschenden Omikron-Variante bestehen, gebietet von Verfassungs wegen zum jetzigen Zeitpunkt kein Absehen von der mit § 20a IfSG eingeführten Nachweispflicht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nach der Empfehlung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) vom 1. September 2022,</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">vgl. die Pressemittelungen zum Stichwort „COVID-19 vaccines: authorised“, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/overview/public-health-threats/coronavirus-disease-covid-19/covid-19-latest-updates,</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">an die Virusvariante BA.1 angepasste Impfstoffe von BioNTech/Pfizer und Moderna von der Europäischen Kommission zur Auffrischimpfung zugelassen worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 8. September 2022 - 14 ME 297/22 -, juris, Rn. 25 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die an die BA.1-Variante angepassten Impfstoffe werden bereits an die Arztpraxen ausgeliefert. Bei ihrer Anwendung sollen nach den Angaben von BioNTech/Pfizer und Moderna auch die Titer der Antikörper gegen BA.4 und BA.5 steigen, wenngleich der Anstieg niedriger ist als gegen BA.1.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. Paul-Ehrlich-Institut, Meldung vom 2. September 2022, abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">https://www.pei.de/DE/newsroom/hp-meldungen/2022/220902-ema-omikron-virusvarianten-auffrischimpfungen.html; Kassenärztliche Bundesvereinigung, EMA gibt grünes Licht – Arztpraxen können BA.1-Impfstoff bestellen, Nachricht vom 2. September 2022, abrufbar unter https://www.kbv.de/html/1150_59730.php.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus hat die Europäische Kommission am 12. September 2022 – ebenfalls nach vorangegangener Empfehlung der EMA – einen weiteren, speziell auf die Virusvarianten BA.4 und BA.5 ausgerichteten Impfstoff der Unternehmen BioNTtech/Pfizer zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. ZDF, EU lässt weiteren Omikron-Impfstoff zu, Nachricht vom 12. September 2022, abrufbar unter https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-ema-zulassung-omikron-impfstoff-variante-ba4-ba5-100.html.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin unter Bezugnahme auf den schriftlichen Vortrag ihrer Verfahrensbevollmächtigten in dem beim Bundesverfassungsgericht (erfolglos) eingereichten Antrag nach § 32 BVerfGG zur vorläufigen Außervollzugsetzung des § 20a IfSG einwendet, erforderlich sei eine Wirksamkeit von 50 %, damit der Impfstoff als zulassungsfähig gelte, übersieht sie, dass das Bundesverfassungsgericht einen solchen Maßstab im vorliegenden Zusammenhang nicht zu Grunde gelegt hat.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">2. Weiterhin ohne Erfolg bleibt der Einwand, die Ansteckungsmöglichkeiten seien bei hohen Inzidenzen auch zu Lasten der vulnerablen Personen erheblich erhöht. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung kommt es nicht darauf an, ob der Gesetzgeber das bestmögliche Regelungskonzept, sondern ein solches gewählt hat, das die Erreichung des von ihm gesetzten Zwecks fördert. Dies ist schon deshalb zu bejahen, weil § 20a IfSG den Kontakt mit insbesondere Ungeimpften und damit das Infektionsrisiko für vulnerable Personen in Einrichtungen, die der Nachweispflicht unterfallen, jedenfalls reduziert.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 183.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">3. Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrem Hinweis durch auf Gefahren für die Gesundheitsversorgung wegen Personalengpässen, die auf massive Infektionswellen zurückzuführen seien und durch Herausnahme ungeimpfter Personen weiter verstärkt würden. Dieser Aspekt berührt die Verhältnismäßigkeit der streitigen gesetzlichen Regelung nicht. Vielmehr sind die Gesundheitsämter gehalten den Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit im Rahmen der Einzelfallentscheidung über ein Verbot nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">4. Entgegen dem Beschwerdevorbingen stellt die Auferlegung einer Verpflichtung, sich vor Betreten einer Einrichtung oder eines Unternehmens – und damit vor einem möglichen Kontakt mit einer vulnerablen Person – auf eine SARS-CoV-2-Infektion zu testen, auch kein gleich geeignetes Mittel dar. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, (juris, Rn. 192 ff.) ausgeführt:</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">„Der Gesetzgeber hat in der Entwurfsbegründung ausdrücklich festgestellt, dass eine regelmäßige Testung zwar in einem bestimmten Zeitfenster akute Infektionen entdecken und damit das Risiko eines Eintrags verringern könne. Eine Testung könne aber keinen gleichwertigen Schutz wie eine Immunisierung gerade bei Kontakt mit besonders vulnerablen Personen darstellen (vgl. BTDrucks 20/188, S. 37).</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Diese Einschätzung des Gesetzgebers ist belastbar. Das gilt zunächst für selbst durchgeführte, so genannte Schnelltests, bei denen - vergleichbar der Einhaltung allgemeinerer Verhaltenspflichten wie etwa dem Tragen einer Schutzmaske oder dem Abstandhalten - schon das Risiko einer bewusst oder unbewusst fehlerhaften Anwendung besteht (vgl. auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 210). Zudem hat sich die Erkenntnislage dahingehend verfestigt, dass die Leistungsfähigkeit solcher Schnelltests als Baustein der Pandemiebekämpfung differenziert zu bewerten ist. Sie sind fehleranfällig. Insofern schließt ein negatives Antigentestergebnis eine SARS-CoV-2-Infektion und auch eine Kontagiosität (übertragungsrelevante Infektion) nicht aus (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 17/21, S. 15 ff.). Denn Schnelltests liefern gerade in einem frühen Infektionsstadium wegen der hier noch geringen Viruslast - selbst bei fachgerechter Anwendung - keine verlässlichen Resultate, obwohl gegebenenfalls bereits ein Ansteckungsrisiko besteht (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 8/2021, S. 5 und 8).“</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Dass diese Einschätzung überholt ist, legt die Antragstellerin weder dar noch ist das sonst ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">5. Soweit die Antragstellerin behauptet, die Möglichkeit erscheine derzeit hoch, dass nachträglich deutlich mehr Nebenwirkungen auch schwerer Art als vom Bundesverfassungsgericht angenommen bekannt würden, macht sie schon nicht geltend, dass von einer so hohen Wahrscheinlichkeit gravierender Folgen einer Impfung auszugehen ist, dass die Nachweispflicht nicht mehr als verhältnismäßig im engeren Sinne angesehen werden könnte.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Zu der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 230 f.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Erst recht legt sie keine Erkenntnisse für diese nicht weiter substantiierte Behauptung vor. Solche sind auch sonst nicht erkennbar. Vielmehr führt das Paul-Ehrlich-Institut in der Zusammenfassung seines Sicherheitsberichts vom 7. September 2022, in dem es die Meldungen über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen zusammenfasst, die es seit Beginn der Impfkampagne in Deutschland am 27. Dezember 2020 bis zum 30. Juni 2022 erhalten hat,</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/newsroom/dossiers/sicherheitsberichte/sicherheitsbericht-27-12-20-bis-30-06-22.pdf?__blob=publicationFile&v=6,</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">aus, dass die Melderate von Verdachtsfällen für alle Impfstoffe zusammen 1,8 Meldungen pro 1.000 Impfdosen, für Verdachtsfälle schwerwiegender Nebenwirkungen und Impfkomplikationen 0,3 Meldungen pro 1.000 Impfdosen betrage.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">6. Der Vortrag der Antragstellerin, Art. 3 Abs. 1 GG gebiete, Ungeimpfte und Geimpfte mit einer zweifachen Impfung, die schon mehrere Monate zurückliege und deshalb nicht mehr wirksam sei, gleich zu behandeln, geht daran vorbei, dass der Gesetzgeber einer im Zeitverlauf nachlassenden Schutzwirkung der vorhandenen Impfstoffe – wie oben ausgeführt – bereits durch die Notwendigkeit einer Auffrischungsimpfung Rechnung getragen hat.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Soweit die Antragstellerin im Übrigen „wegen weiterer Einzelheiten in diesem Zusammenhang, insbesondere im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG“ lediglich pauschal auf den von ihrer Verfahrensbevollmächtigten beim Bundesverfassungsgericht gestellten, 76 Seiten umfassenden Eilantrag vom 1. Februar 2022 verweist, genügt das Beschwerdevorbringen bereits nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">II. Erfolglos bleibt das Beschwerdevorbringen auch, soweit die Antragstellerin geltend macht, sie sowie ihre Arbeitgeberin seien nicht ordnungsgemäß angehört worden.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">1. Der Vorhalt der Antragstellerin, dass sie nicht ordnungsgemäß angehört worden ist, weil die Antragsgegnerin ihr den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht mitgeteilt habe, verfängt nicht. Insoweit setzt sie sich nicht in der gebotenen Weise mit der Annahme des Verwaltungsgerichts auseinander (Beschlussabdruck, S. 5), wonach im vorliegenden Einzelfall – ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG um eine Ermessensvorschrift handele – ein Anhörungsmangel jedenfalls nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 VwVfG NRW geheilt wäre und zudem auch unbeachtlich im Sinne des § 46 VwVfG NRW sein dürfte. Dem hält sie lediglich ihre – in dieser Allgemeinheit schon nicht zutreffende – Rechtsauffassung entgegen, wonach die Voraussetzungen für eine Heilung und Unbeachtlichkeit bei Ermessensentscheidungen nicht vorlägen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Zu den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO vgl. Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 76.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Insbesondere setzt sie sich auch nicht mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auseinander, das davon ausgegangen ist, es sei ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG um eine Ermessensvorschrift handele, auszuschließen, dass die Antragsgegnerin, hätte sie in ihrem Anhörungsschreiben detailliertere Fragen gestellt oder Ausführungen zu den ihr vorliegenden Erkenntnissen gemacht, eine andere Entscheidung getroffen hätte, da die Antragstellerin vom Inhalt des Anhörungsschreiben schlicht keine Kenntnis genommen habe und sich daher unabhängig von den Angaben der Antragsgegnerin nicht zur Sache geäußert hätte. Allein dass die Antragstellerin sich der Bedeutung der Briefe der Antragsgegnerin nicht bewusst gewesen sein will, weil diese nicht als vom Gesundheitsamt herrührend gekennzeichnet gewesen seien, ist unerheblich. Im Übrigen dürfte sich die Antragstellerin insoweit auch in Widerspruch zu ihrem Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren setzen, wo sie noch geltend gemacht hatte, dass sie sämtliche Briefe der Antragsgegnerin unter Hinweis auf die Datenschutzgrundverordnung ungeöffnet zurückgesendet habe.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">2. Die Antragstellerin dringt auch nicht mit ihrer Rüge durch, die Anhörung ihres Arbeitgebers vom 10. Mai 2022 sei ebenfalls fehlerhaft.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Zur Hinzuziehung des Arbeitgebers zum Verwaltungsverfahren nach § 13 Abs. 2 Satz 1 VwVfG NRW vgl. Amhaouach/Kießling, in: Kießling, IfSG, 3. Aufl. 2022, § 20a Rn. 83; Aligbe, in: Eckart/Winkelmüller, BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand: 1. Juli 2022, § 20a IfSG Rn. 205 f.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet der Frage, ob sich die Antragstellerin auf eine fehlerhafte Anhörung ihrer Arbeitgeberin berufen kann, hat die Antragsgegnerin jedenfalls der N.              H.             GmbH mit Schreiben vom 27. April 2022 Gelegenheit gegeben, zu der beabsichtigten Anordnung eines Betretungs- und Tätigkeitsverbots Stellung zu nehmen. Dass sie dabei nicht ausdrücklich danach gefragt hat, ob ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot zu Versorgungsengpässen führe bzw. ob die Antragstellerin anderweitig ohne Kontakt zu vulnerablen Gruppen eingesetzt werden könne, ist unbedenklich. Ungeachtet dessen, dass die Antragstellerin – wie noch auszuführen sein wird – selbst nicht hinreichend substantiiert vorgetragen hat, dass das ihr gegenüber verfügte Betretungs- und Tätigkeitsverbot zu Versorgungsengpässen geführt hat und/oder sie anderweitig ohne Kontakt zu vulnerablen Gruppen hätte eingesetzt werden können, ist davon auszugehen, dass ihre Arbeitgeberin dahingehende Einwände erhoben hätte, sofern sie aus ihrer Sicht dem angekündigten Erlass eines Betretungs- und Tätigkeitsverbots entgegengestanden hätten.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">III. In materieller Hinsicht zieht die Antragstellerin die Beurteilung des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht durchgreifend in Zweifel.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">1. Zunächst dringt die Antragstellerun nicht mit ihrer Rüge durch, der angegriffene Bescheid sei nicht hinreichend bestimmt. Inhaltlich hinreichende Bestimmtheit im Sinne von § 37 Abs. 1 VwVfG NRW setzt voraus, dass für den Adressaten des Verwaltungsakts die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach richten kann. Etwaige Unklarheiten sind unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots unschädlich, sofern sie sich im Wege der Auslegung des Verwaltungsakts beseitigen lassen. Dabei kommt es auf den objektiven Empfängerhorizont und mithin darauf an, wie der Betroffene nach den ihm bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen den Verwaltungsakt unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen musste.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Oktober 2017 - 8 C 18.16 ‑, juris, Rn. 13 ff., vom 27. Juni 2012 - 9 C 7.11 -, juris, Rn. 11, und vom 3. Dezember 2003 - 6 C 20.02 -, juris, Rn. 17, sowie Beschluss vom 6. September 2008 ‑ 7 B 10.08 -, juris, Rn. 24.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt der streitgegenständliche Bescheid.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Insbesondere ist der Umfang des Betretungs- und Tätigkeitsverbots hinreichend bestimmt. Zwar heißt es im Tenor des Bescheids, dass der Antragstellerin untersagt werde, die N.              H.             GmbH in H.             „zu betreten oder dort tätig zu werden". Aus der Begründung des Bescheids folgt aber, dass die Antragsgegnerin gegenüber der Antragstellerin ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesprochen hat und diese beiden Möglichkeiten nicht in einem Alternativverhältnis stehen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Siehe insoweit auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 2022 - 29 L 1703/22 -, juris, Rn. 43.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Aus der Verknüpfung des Betretungsverbots mit einem Tätigkeitsverbot und vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin sich entsprechend des Anwendungsbereichs der zu Grunde liegenden Ermächtigungsgrundlage,</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">vgl. Amhaouach/Kießling, in: Kießling, IfSG, 3. Aufl. 2022, § 20a Rn. 85 m. w. N.,</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">an die Antragstellerin lediglich in ihrer Funktion als Beschäftigte der Einrichtung der N.              H.             GmbH wendet (Bescheidabdruck, S. 3), wird zudem hinreichend deutlich, dass das Betretungsverbot auch nur insoweit ausgesprochen wurde, als sie diese zur Verrichtung ihrer Beschäftigung betritt, und gerade nicht, soweit sie sie lediglich als Patientin oder Besucherin aufsucht. Dass eine entsprechende Klarstellung unterblieben ist, ist vor diesem Hintergrund unschädlich.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch Berneith: Die sogenannte „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ des § 20 a IfSG als weitere Herausforderung für die Gesundheitsämter, in: COVuR 2022, 135 (138).</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Genauso wenig unklar ist, ob sich das Tätigkeitsverbot auf jegliche Tätigkeiten der Antragstellerin für ihre (ehemalige) Arbeitgeberin oder nur auf solche bezieht, die in den dortigen Räumlichkeiten ausgeübt werden. Vielmehr ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut der Untersagungsverfügung, dass die Antragsgegnerin nur die Tätigkeit in der Einrichtung der N.              H.             GmbH („dort“) untersagt hat. Damit einhergehend stellt die Antragsgegnerin in der Begründung des Bescheids ausdrücklich auf den Kontakt ab, den die Antragstellerin „im Rahmen ihrer Tätigkeit“ zu vulnerablen Personengruppen hat (Bescheidabdruck, S. 3). Ein solches Verständnis entspricht im Übrigen auch dem Wortlaut des § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG („in“), dessen Anwendungsbereich schon nicht eröffnet sein dürfte, wenn ein Kontakt zu vulnerablen Personen – wie bei einer reinen Home-Office-Tätigkeit – sicher ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist ein Ortsbezug erforderlich, d.h. die normunterworfenen Personen müssen „in“ den benannten Unternehmen und Einrichtungen tätig werden und nicht nur „für“ diese.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 214 m. w. N.; Aligbe, in: Eckart/Winkelmüller, BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand: 1. Juli 2022, § 20a IfSG Rn. 65; Müller: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht im Arbeitsrecht, in: ArbRAktuell 2022, S. 55 (55 f.).</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Die von der Antragstellerin in diesem Zusammenhang aufgeworfene Frage, inwieweit sie auch von zu Hause aus arbeiten kann, betrifft daher allein ihr Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch VG Neustadt (Weinstraße), Beschluss vom 20. Juli 2022 - 5 L 585/22.NW -, juris, Rn. 62; Aligbe, in: BeckOK Infektionsschutzrecht, Eckart/Winkelmüller, Stand: 1. Juli 2022, § 20a IfSG Rn. 193; zu der Frage, ob die Beschäftigung im Home-Office als milderes Mittel gegenüber eine Kündigung in Betracht kommt, vgl. Weigert: Die Kündigung wegen Impfpflichtverletzungen, in: ARP 2022, 102 (103), siehe zudem Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Arbeitsrechtliche Aspekte der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nach § 20a IfSG, Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/22, S. 16, abrufbar unter:</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">https://www.bundestag.de/resource/blob/890516/6600e266210040eda901398a97e8e786/WD-6-004-22-pdf-data.pdf.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">2. Auch der Einwand der Antragstellerin, die Antragsgegnerin habe ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt, verfängt nicht. Gemäß § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG kommt der Behörde bei der Frage der Verhängung der in dieser Vorschrift vorgesehenen Maßnahmen Ermessen zu. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass § 20a Abs. 5 IfSG bei nicht rechtzeitiger Vorlage eines Immunitätsnachweises den Erlass einer Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG in der Regel nahelegt. Vorbehaltlich besonders gelagerter Einzelfälle dürfte daher für das Gesundheitsamt letztlich kein insoweit relevanter Spielraum bestehen.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 85; Nds. OVG, Beschluss vom 8. September 2022 - 14 ME 297/22 -, juris, Rn. 27; VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 2022 ‑ 29 L 1703/22 -, juris, Rn. 65; Amhaouach/Kießling, in: Kießling, IfSG, 3. Aufl. 2022, § 20a Rn. 83.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Antragsgegnerin ihr Ermessen aller Voraussicht nach fehlerfrei ausgeübt.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">a. Der Einwand der Antragstellerin, die Antragsgegnerin habe ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren für unbeachtlich erklärt, was auf eine fehlerhafte Ermessensausübung in Form des Nichtgebrauchs hinweise, greift schon deshalb nicht durch, weil ihm ein unzutreffendes Verständnis des Begriffs „Ermessensnichtgebrauch“ zu Grunde liegt. Ein Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn die Behörde nicht erkennt, dass sie Ermessen hat, oder von dem ihr zustehenden Ermessen überhaupt keinen Gebrauch macht.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 31. Juli 2009 - 6 A 3481/07 -, juris, Rn. 8; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 17 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Das ist hier nicht der Fall. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt (Beschlussabdruck, S. 7), dass die Antragsgegnerin das ihr zustehende Ermessen erkannt und – vor Erlass des angefochtenen Bescheids – ausgeübt habe („Unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens bin ich zu dem Schluss gekommen (…)“), womit sich die Antragstellerin schon nicht auseinandersetzt.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">b. Soweit die Antragstellerin beanstandet, die Antragsgegnerin habe ihre Entscheidung auf eine veraltete Datenlage gestützt und damit einen Ermessensfehlgebrauch geltend macht, kann dem aus den unter I.1. aufgeführten Gründen nicht gefolgt werden.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Genauso wenig dringt die Antragstellerin mit ihrer Rüge durch, die Antragsgegnerin habe den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und damit auf einer unvollständigen Sachverhaltsgrundlage entschieden.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Zwar ermittelt die Behörde den Sachverhalt gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW von Amts wegen. Sie hat also sämtliche entscheidungserheblichen Tatsachen sowie bei Ermessensentscheidungen die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Umstände grundsätzlich von Amts wegen aufzuklären. Der ihr obliegenden Aufklärungspflicht trägt die Behörde wesentlich durch Anhörung des Beteiligten im Vorfeld der beabsichtigten Maßnahme Rechnung. Drängen sich infolge der Anhörung weitere Sachverhaltsermittlungen für eine sachgerechte Ermessensausübung auf, muss diesen nachgegangen werden. Unterlässt der Beteiligte indes eine zumutbare Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung (vgl. § 26 Abs. 2 Satz 1 VwVfG NRW), muss die Behörde nicht von sich aus allen denkbaren Möglichkeiten nachgehen. Sie darf vielmehr davon ausgehen, dass der Beteiligte im Rahmen seiner Obliegenheiten ihm günstige Umstände vorgetragen oder am Nachweis ihm günstiger Umstände mitgewirkt hätte. Die Sachverhaltsermittlungspflicht endet mithin dort, wo das Vorbringen eines Beteiligten keinen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. April 2014 - 10 A 1018/13 -, juris, Rn. 13 ff. m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 10. Mai 2013 - 10 ME 21/13 -, juris, Rn. 80.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin vor Erlass des angegriffenen Betretungs- und Tätigkeitsverbots nicht überprüft hat, ob die Antragstellerin für ihre Arbeitgeberin als Sekretärin entbehrlich ist und ob Möglichkeiten der Kontaktverhinderung bestehen, nachdem sie sich hierauf nicht berufen hatte, sondern – wie bereits ausgeführt – die Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem beabsichtigten Erlass eines Betretungs- und Tätigkeitsverbots ungenutzt ließ. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin parallel die Arbeitgeberin der Antragstellerin ebenfalls zu der beabsichtigten Maßnahme angehört, diese aber keine Einwände gegen die beabsichtigte Maßnahme erhoben hatte. Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang moniert, die Gesundheitsämter seien verpflichtet, die Angaben der Arbeitgeber zu überprüfen und zumindest gegenteilige Angaben der von einem Betretungsverbot Betroffenen zu beachten, lässt sie unberücksichtigt, dass sie sich im Verwaltungsverfahren schon nicht gegenteilig eingelassen hat. Zudem hat sie weder im Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren hinreichend substantiiert vorgetragen, dass die eingeholte Stellungnahme ihrer Arbeitgeberin, der N.              H.             GmbH, falsch gewesen ist. Genauso wenig macht sie im Übrigen geltend, was die Antragsgegnerin bei ihrer Ermessensentscheidung noch hätte berücksichtigen müssen.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">c. Schließlich legt die Antragstellerin auch nicht dar, dass eine Ermessensüberschreitung vorliegt. Das angeordnete Betretungs- und Tätigkeitsverbot ist bei der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage aller Voraussicht nach verhältnismäßig. Zudem liegt auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vor.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">aa. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist das angefochtene Betretungs- und Tätigkeitsverbot verhältnismäßig.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">(1) Es spricht Überwiegendes dafür, dass das gegenüber der Antragstellerin ausgesprochene Betretungs- und Tätigkeitsverbot ein geeignetes Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels, vulnerable Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen,</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 154 ff.; Nds. OVG, Beschluss vom 8. September 2022 - 14 ME 297/22 -, juris, Rn. 31,</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">darstellt. Ein Mittel ist bereits dann geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 ‑ 1 BvR 1806/98 -, juris, Rn. 41.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen liegen hier vor.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Unerheblich ist insoweit, dass es sich bei der Antragstellerin nicht um ärztliches oder pflegerisches Personal, sondern um eine Sekretärin handelt, da ausweislich der Gesetzesbegründung auch andere in einer § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG unterfallenden Einrichtung tätige Personen wie zum Beispiel Hausmeister oder Transport-, Küchen- oder Reinigungspersonal erfasst sind.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 20/188, S. 38.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Das Bundesverfassungsgericht ist davon ausgegangen, dass an der Eignung der Einbeziehung aller im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsbereich tätigen Personen – also auch solcher ohne direkten Kontakt zu vulnerablen Menschen – keine Zweifel bestünden. Hierzu hat es ausgeführt, dass Übertragungen des Virus vor allem in Innenräumen stattfänden und dafür nur begrenzt erheblich sei, ob ein direkter Kontakt mit einer infizierten Person bestehe, weshalb der Gesetzgeber habe vertretbar annehmen dürfen, dass eine Impfung grundsätzlich aller im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsbereich Tätigen, auch wenn sie keinen direkten Kontakt zu vulnerablen Personen hätten, einen Beitrag zu ihrem Schutz vor Ansteckung leisten würde und demnach zum Lebens- und Gesundheitsschutz geeignet sei. Dies gelte nicht nur im Hinblick auf zeitlich aufeinanderfolgende Aufenthalte in einem Raum, sondern auch im Hinblick auf gemeinsam nutzbare Ein- und Ausgänge oder Flurbereiche und nicht zuletzt für den Fall des zufälligen direkten Kontakts innerhalb eines Gebäudes. Ungeachtet dessen bestehe auch das Risiko von Übertragungsketten, wenn etwa Personen ohne Immunschutz, die keinen direkten Kontakt mit Vulnerablen haben, mit anderen in der Einrichtung tätigen Personen in Kontakt kommen, diese infizieren und diese nachfolgend ihrerseits das Virus an Vulnerable weitergeben.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 181.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Soweit vertreten wird, dass die Art der Beschäftigung bei der Entscheidung über ein Verbot nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG gleichwohl zu berücksichtigen ist, wenn jeglicher Kontakt zu den behandelten, betreuten, gepflegten oder untergebrachten Personen ausgeschlossen werden kann und auch keine regelmäßigen Kontakte zu dem betreuenden Personal bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">vgl. Aligbe, in; Eckart/Winkelmüller BeckOK Infektionsschutzrecht, Stand: 1. Juli 2022, § 20a IfSG Rn. 60, wonach in den vorstehend genannten Fällen bereits eine Tätigkeit i. S. v. § 20a verneint werden kann; sowie Weigert: Der Anwendungsbereich der neuen Impfpflicht im Gesundheitswesen nach § 20 a IfSG, in: NZA 2022, 166 (167), wonach eine teleologische Reduktion des § 20a IfSG erforderlich sei, wenn Mitarbeiter zwar in einer Gesundheitseinrichtung tätig sind, aber gleichwohl keinen Patientenkontakt haben; siehe zudem auch Bundesministerium für Gesundheit, Handreichung zur Impfprävention in Bezug auf einrichtungsbezogene Tätigkeiten vom 22. März 2022, S. 18 f., abrufbar unter</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/FAQs_zu_20a_IfSG.pdf,</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">legt die Antragstellerin jedenfalls schon nicht dar, dass dies auf ihren Fall zutrifft. Insbesondere macht sie nicht geltend, dass sie räumlich klar abgetrennt, beispielsweise in einem separaten Verwaltungsgebäude, arbeitet. Vielmehr räumt sie ein, dass sie – wenn auch nur selten – Kontakt zu Patienten und darüber hinaus auch zu dem betreuenden Personal, namentlich Ärzten, hat.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">(2) Zudem zieht die Antragstellerin auch nicht durchgreifend in Zweifel, dass die angegriffene Maßnahme erforderlich ist. Das Gebot der Erforderlichkeit ist verletzt, wenn das Ziel der staatlichen Maßnahme durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann, mit dem das betreffende Grundrecht nicht oder weniger fühlbar eingeschränkt wird.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2001 ‑ 1 BvR 1806/98 -, juris, Rn. 44.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Dies ist hier nicht der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Das von der Antragstellerin vorgeschlagene Verbot gegenüber Patienten, ihren Tätigkeitsbereich zu betreten, stellt ungeachtet der von ihr nicht näher beleuchteten Frage, auf welcher Rechtsgrundlage eine solche Anordnung ergehen könnte, schon kein milderes Mittel gleicher Eignung dar. Hierdurch wird nicht verhindert, dass die Antragstellerin – beispielsweise auf dem Weg zu ihrem Büro – in Kontakt zu Patienten kommt. Zudem besteht dann jedenfalls noch der Kontakt der Antragstellerin zu dem betreuenden Personal und damit auch das Risiko von Übertragungsketten fort.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Genauso wenig dringt die Antragstellerin mit ihrem Einwand durch, dass die angefochtene Verfügung zugleich auch ein Tätigkeitsverbot beinhalte, womit ihr jedwede Tätigkeit zugunsten ihres Arbeitsgebers untersagt werde, auch wenn diese außerhalb der Klinikräume stattfinde, in denen sich keine Patienten aufhielten. Wie bereits ausgeführt trifft dieses Verständnis des angegriffenen Bescheids nicht zu. Dass sie in der Einrichtung ihrer Arbeitgeberin einer Tätigkeit nachgehen könnte, bei der jeglicher Kontakt zu den behandelten, betreuten, gepflegten oder untergebrachten Personen ausgeschlossen werden kann, macht sie demgegenüber schon nicht geltend.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">(3) Schließlich ist das Betretungs- und Tätigkeitsverbot auch angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne. Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung stehen nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Das Betretungs- und Tätigkeitsverbot greift zwar in nicht unerheblicher Weise in das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Berufsausübung ein. Der Eingriff ist aber – wie bereits dargestellt – grundsätzlich durch die damit verfolgten Zwecke des öffentlichen Gesundheitsschutzes und des Schutzes vulnerabler Personengruppen vor einer COVID-19-Erkrankung gerechtfertigt.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes folgt bei Berücksichtigung der von der Antragstellerin geltend gemachten Einzelfallumstände. Im Gegenteil erfährt die Belastungswirkung hier eine Milderung schon insoweit, als die Antragstellerin ihrem Beruf als Sekretärin an einem anderen Arbeitsplatz, der § 20a Abs. 1 IfSG nicht unterfällt, noch nachgehen kann. Sie ist daher nicht zu einer vollständigen beruflichen Neuorientierung gezwungen, sondern „lediglich“ zu einem Arbeitsplatzwechsel.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, Rn. 209 und 261.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin bei der Anordnung des Betretungs- und Tätigkeitsverbots den Aspekt der Versorgungssicherheit nicht hinreichend gewürdigt hätte. Die Antragstellerin setzt sich insoweit schon nicht in der gebotenen Weise mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auseinander, das davon ausgegangen ist (Beschlussabdruck, S. 8), dass sie keine konkreten Anhaltspunkte hierfür aufgezeigt habe und solche mit Blick auf die Stellungnahme ihrer Arbeitgeberin auch sonst nicht ersichtlich seien. Auch im Beschwerdeverfahren legt die Antragstellerin keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der N.              H.             GmbH infolge des ihr gegenüber erlassenen Betretungs- und Tätigkeitsverbots dar. Im Gegenteil: Auch wenn die Arbeitgeberin noch keinen personellen Ersatz für sie gefunden haben sollte, ergibt sich bereits aus ihrem eigenen Vortrag, dass ihre Tätigkeiten derzeit vom Chefarzt, einem Oberarzt und der langjährigen Vertretungskollegin erledigt würden.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">bb. Zudem hat die Antragstellerin auch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) dargetan.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen der Antragstellerin, es erscheine in höchstem Maße willkürlich, wenn bei mehreren ungeimpften Mitarbeitern innerhalb ein- und desselben Unternehmens einzelne Personen bei sonst gleichem Tätigkeitsfeld mit einem Verbot belegt würden und andere nicht, weil sie – nachdem erste Verbote umgesetzt worden seien – als unverzichtbar gelten dürften, greift nicht durch. Dass die Antragsgegnerin gegenüber vergleichbaren anderen bei der Arbeitgeberin der Antragstellerin angestellten ungeimpften Mitarbeitern kein Betretungs- und Tätigkeitsverbot hat erlassen können, weil ansonsten die Versorgungssicherheit gefährdet worden wäre, macht sie schon nicht geltend.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Genauso wenig trägt die Antragstellerin vor, dass die Antragsgegnerin gegenüber anderen Personen, die trotz der Anforderung zur Vorlage eines Immunitätsnachweises diesen nicht fristgerecht vorlegen und bei denen der Arbeitgeber keine Einwände gegen den Erlass eines Betretungs- und Tätigkeitsverbots erhebt, keine Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG erlässt. Vor diesem Hintergrund legt die Antragstellerin einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.1 GG auch nicht mit ihrem erst mit Schriftsatz vom 6. August 2022 – und damit ohnehin außerhalb der Beschwerdebegründungsfrist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) – erhobenen Einwand dar, andere Gesundheitsämter hätten aufgrund der Datenlage mittlerweile „Zweifel“ in Bezug auf die erzielbare Schutzwirkung zugunsten der vulnerablen Gruppen und daher die Anwendung des § 20a IfSG faktisch ausgesetzt. Einzelfallentscheidungen der Verwaltung müssen sich vor dem Gleichheitssatz nur in ihrem jeweiligen Kompetenzraum rechtfertigen, so dass eine abweichende Verwaltungspraxis anderer Rechtsträger in deren Kompetenzraum nicht die Pflicht begründet, auch im Verhältnis zu dieser Praxis die Gleichheit zu beachten.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. August 2017 ‑ 10 S 30/16 -, juris, Rn. 50.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Eine Ausübung des Entschließungsermessens dahingehend, dass flächendeckend keine Verbote nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ausgesprochen werden, dürfte im Übrigen auch nicht mit dem Zweck der Vorschrift vereinbar sein.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Vgl. Amhaouach/Kießling, in: Kießling, IfSG, 3. Aufl. 2022, § 20a Rn. 83; Bekos: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht nach § 20 a IfSG, in: COVuR 2022, 386 (391).</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin zeigt eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung auch nicht mit ihrem Vortrag auf, in Baden-Württemberg solle symptomfreien Infizierten wegen Personalmangels gestattet werden, ihrer beruflichen Tätigkeit trotz bestehender SARS-CoV2-Infektion mit positivem Testergebnis nachzugehen, sofern sie – anders als die Antragstellerin – im medizinischen oder pflegerischen Bereich eingesetzt würden. Eine Ungleichbehandlung liegt bei gegebenenfalls unterschiedlichen Regelungen in den Coronaverordnungen der einzelnen Bundesländer aus den vorstehend genannten Gründen bereits nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">B. Die im Hinblick auf etwaige verbleibende Unsicherheiten lediglich ergänzend vorzunehmende Folgenabwägung ergibt aus den vom Verwaltungsgericht zutreffend genannten Gründen (Beschlussabdruck, S. 9 f.), denen die Beschwerde nichts Durchgreifendes entgegensetzt, ebenfalls, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Ordnungsverfügung das private Interesse der Antragstellerin, von Vollziehungsmaßnahmen vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">So auch Nds. OVG, Beschluss vom 8. September 2022 - 14 ME 297/22 -, juris, Rn. 39.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG, wobei der Senat sich – wie das Verwaltungsgericht – an dem wirtschaftlichen Verlust der Antragstellerin orientiert. Eine Reduzierung des Streitwertes in Anlehnung an Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit erscheint dabei angesichts der befristeten Geltung der einschlägigen Vorschriften bis zum Ende dieses Jahres nicht angemessen. Mit einer Entscheidung in der Hauptsache dürfte vor Ablauf der Frist voraussichtlich nicht zu rechnen sein, so dass die Entscheidung im Eilrechtsschutz damit in der Sache abschließend sein dürfte.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">So auch Nds. OVG, Beschluss vom 8. September 2022 - 14 ME 297/22 -, juris, Rn. 40.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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<p>Der Schlussbescheid der Bezirksregierung L. – Az. 34.Soforthilfe2020-81314 – vom 17.12.2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger betreibt ein Kaffee Catering Unternehmen und vertreibt Kaffee-Produkte.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im März 2020 zeichnete sich ab, dass Unternehmer und Selbstständige aufgrund verschiedener infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden. Daher legte der Bund zur Bereitstellung kurzfristiger Finanzhilfen das Förderprogramm „Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ auf. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentlichte hierzu am 23.03.2020 ein Eckpunktepapier.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beschloss, das Programm des Bundes in vollem Umfang an die vorgesehenen Zielgruppen weiterzuleiten. Beide Maßnahmen wurden in dem Förderprogramm „NRW Soforthilfe 2020“ gebündelt. Die federführende Verantwortung lag bei dem damaligen Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf dessen Internetpräsenz waren häufige Fragen zum Förderverfahren, sog. FAQ, in verschiedenen Fassungen unter dem Link https://wirtschaft.nrw.de/nrw-soforthilfe-2020 abrufbar. Zu deren Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorgelegten Fassungen (Beiakte 002) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 27.03.2020 beantragte der Kläger über das Online-Formular des Beklagten eine Soforthilfe aus dem Programm „NRW-Soforthilfe 2020“ in Höhe von 9.000 EUR. Hierbei versicherte er, dass seine wirtschaftliche Tätigkeit durch die COVID-19-Pandemie wesentlich beeinträchtigt sei, da entweder</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 01.03.2020 durch die COVID-19-Pandemie weggefallen seien oder</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">- die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert seien oder</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- die Umsatzerzielungsmöglichkeiten durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt worden seien oder</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Unter Ziffer 6.5 stimmte der Kläger der Erhebung und Verarbeitung seiner für die Zuschussgewährung erforderlichen Daten im Rahmen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen (DSGVO) zu. Mit Ziffer 6.11 bestätigte der Kläger, ihm sei bekannt, dass er die Soforthilfe im Fall einer Überkompensation (Entschädigungs-, Versicherungsleistungen, andere Fördermaßnahmen) zurückzahlen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Noch am 27.03.2020 erging an den Kläger ein Bewilligungsbescheid. Unter Ziffer 1. des Bescheids bewilligte der Beklagte dem Kläger „eine Soforthilfe i. H. v. 9.000,00 € […] als einmalige Pauschale“. Gemäß Ziffer 2. des Bescheids erfolgte die Soforthilfe ausschließlich zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie als Einmalzahlung für einen dreimonatigen Bewilligungszeitraum ab Antragstellung. Die Soforthilfe diene insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 01.03.2020 in Zusammenhang mit der COVID-19‑Pandemie entstanden seien. Unter Ziffer II. 3. sah der Bescheid vom 27.03.2020 auszugsweise folgende Nebenbestimmung vor:</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 27.03.2020 (Bl. 5 – 8 der Verwaltungsvorhänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Am 30.03.2020 veröffentliche das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ auf seiner Homepage.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am 31.05.2020 wurden die „Richtlinien des Landes zur Gewährung von Soforthilfen für gewerbliche Kleinunternehmen, Selbstständige und Angehörige freier Berufe, die infolge der Sars-CoV-2-Pandemie in ihrer Existenz gefährdet sind“ als Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie (Az. VB 5 - 2020) – im Folgenden: Soforthilfe - Richtlinie – erlassen und traten laut Ziffer 9. der Soforthilfe-Richtlinie mit Wirkung vom 27.03.2020 in Kraft.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 03.07.2020 in den Fassungen vom 05.10.2020 und vom 02.12.2020 sowie mit E-Mail vom 14.06.2021 in der Fassung vom 20.06.2021 forderte der Beklagte den Kläger zur Berechnung und Rückmeldung seines Liquiditätsengpasses für den Bewilligungszeitraum unter Verwendung der von dem Beklagten übersandten Formulare auf. Diese E-Mails sind Gegenstand des noch anhängigen Klageverfahrens 16 K 3486/21 des Klägers.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Aus der am 30.10.2021 übersandten Rückmeldung ergab sich durch eine Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben ein Liquiditätsengpass von 0 EUR im Bewilligungszeitraum. Der Kläger erklärte, einen fiktiven Unternehmerlohn von 2.000 EUR in Anspruch zu nehmen. Fragen zum Umsatzausfall wurden in den Formularen des Beklagten nicht gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Am 17.12.2021 erließ der Beklagte einen Schlussbescheid. Mit den Ziffern 1. und 2. des Bescheids stellte er einen Liquiditätsengpass von 2.000 EUR fest und setzte die Höhe der Soforthilfe auf diesen Betrag fest. Mit Ziffer 3. des Bescheids forderte er den Kläger zur Rückzahlung des überzahlten Betrages von 7.000 EUR auf.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte der Beklagte aus, er sei nach Ziffer 5.2 der Soforthilfe-Richtlinie auch für die Rückforderung überzahlter Beträge zuständig. Nach den Ziffern 3.1, 3.2, 5.2 und 5.3 der Soforthilfe-Richtlinie werde die NRW-Soforthilfe 2020 zwar zunächst in voller Höhe gewährt. Die endgültige Festsetzung erfolge aber erst nach Rückmeldung und Berechnung des Liquiditätsengpasses. Decke der Liquiditätsengpass die gezahlte Soforthilfe nicht vollständig ab, werde Soforthilfe nur in Höhe des Liquiditätsengpasses gewährt. Auf Grundlage der Rückmeldung des Klägers bestehe nur ein Liquiditätsengpass in Höhe von 2.000 EUR. Der überzahlte Betrag sei daher nach § 49a Abs. 1 VwVfG in entsprechender Anwendung zurückzufordern. Der Schlussbescheid trete insoweit an die Stelle des ursprünglichen Bewilligungsbescheids. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Schlussbescheid vom 17.12.2021 (Bl. 108 – 112 der Verwaltungsvorgänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 17.01.2022 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt er vor, der Schlussbescheid sei bereits aus formellen Gründen rechtswidrig. Im Verfahren sei der Datenschutz nicht gewährleistet und insoweit gegen Art. 22 DSGVO verstoßen worden. Der Beklagte habe außerdem ohne entsprechende Ermächtigung nach § 35a VwVfG ein rein digitales Rückmeldeverfahren durchgeführt. Zudem sei er nicht angehört worden. In materieller Hinsicht habe es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 nicht um eine vorläufige, sondern um eine endgültige Bewilligung gehandelt. Der Bescheid bringe an keiner Stelle eindeutig zum Ausdruck, dass es sich um eine vorläufige Bewilligung handle. Der Begriff „vorläufig“ komme im Bescheid nicht vor. Insbesondere begründe Ziffer II. 3. des Bescheids nicht die Vorläufigkeit der Bewilligung, sondern enthalte eine selbstständige Rückzahlungsverpflichtung der Klägerin unter Angabe bereits der IBAN und des Verwendungszwecks der Rückzahlung, sodass es eines weiteren Verwaltungsverfahrens insoweit nicht bedürfe. Auf die später erlassene Soforthilfe-Richtlinie sowie die später geschlossene Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern könne es insoweit nicht ankommen. Zumindest müsse aber auch der Umsatzausfall im Rahmen einer Schlussbescheidung Berücksichtigung finden. Sowohl die von dem Beklagten veröffentlichten FAQs als auch der Bewilligungsbescheid in Ziffer II. 3. würden hierauf Bezug nehmen, sodass der Kläger darauf vertrauen dürfe, dass auch der Umsatzausfall im Rahmen eines Schlussbescheides umfasst sei. Dass das Land dies gegebenenfalls anders beabsichtigt habe, sei unerheblich, da es auf die tatsächliche Umsetzung im Bewilligungsbescheid ankomme. Die von dem Beklagten nunmehr vorgeschlagene Differenzierung in Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen finde in den Antragsunterlagen, den FAQs und dem Bewilligungsbescheid keine Stütze. Bestimmtheitsmängel gingen insoweit zu Lasten des Beklagten. Eine Umdeutung in eine Teil-Rücknahme oder einen Teil-Widerruf scheitere am erklärten Willen des Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">den Schlussbescheid der Bezirksregierung L. -Az. 34.Soforthilfe-2020-81314- vom 17.12.2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt er aus, der Beklagte habe sich dazu entschieden, den Förderhöchstbetrag als vorläufige Pauschale auszuzahlen, um möglichst schnell Hilfe leisten zu können. Eine Ermittlung des Liquiditätsengpasses sei aber erst rückblickend möglich. Bei der Bewilligung habe es sich bloß um einen vorläufigen Verwaltungsakt gehandelt. Das komme im Begriff der „einmaligen Pauschale“ und vor allem durch die Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids zum Ausdruck und werde durch die zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten allgemeinen Informationen bestätigt. So seien die Bescheide auch von einem Großteil der Betroffenen verstanden worden, da weniger als ein Prozent der Bescheide beklagt worden sei. Die Berechnung des Liquiditätsengpasses erfolge nach der Soforthilfe-Richtlinie, die zwischen Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen differenziere. Den Antrag habe man danach auch auf Basis eines bloßen Umsatzausfalls stellen können, ein endgültiger Anspruch bestehe aber nur bei einem Liquiditätsengpass. Dies entspreche dem Sinn der Förderung, finanzielle Notlagen abzumildern, worauf auch in den Antragsunterlagen hingewiesen worden sei. Die Soforthilfe-Richtlinie stelle auch keinen Fall unzulässiger Rückwirkung dar, weil sie bloß verwaltungsintern wirke.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft. Denn der Kläger wendet sich gegen den Schlussbescheid vom 17.12.2021, der eine ihn rein belastende Regelung darstellt. Die mit dem Schlussbescheid getroffenen Regelungen führen nämlich noch unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Bewilligungsbescheid und Schlussbescheid dogmatisch zu bewerten ist, jedenfalls dazu, dass dem Kläger eine ihm bereits durch den Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 gewährte subjektive Rechtsposition – die gewährte Förderung von 9.000 EUR sowie damit verbunden das Recht, diese Förderung während des Bestands des Bewilligungsbescheids behalten zu dürfen – entzogen wird. Dieser Belastung kann er sich entsprechend seines maßgeblichen Klagebegehrens nach § 88 VwGO am besten erwehren, indem er den Schlussbescheid anficht. Es liegt insbesondere auch kein Fall einer vorrangigen Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 S. Alt. VwGO vor, weil es dem Kläger nicht darum geht, einen materiellen Anspruch durch das Erzwingen des Erlasses eines Verwaltungsakts durchzusetzen. Er kann durch eine Verpflichtungsklage etwa gerichtet auf Erlass eines Schlussbescheids anderen Inhalts keine Erweiterung seiner subjektiven öffentlichen Rechte erreichen, da er bereits aufgrund des Bewilligungsbescheids die Maximalförderung zugesprochen bekommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die auch im Übrigen zulässige Klage ist zudem begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 17.12.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Beklagte hat die mit Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 gewährte Soforthilfe zu Unrecht auf einen Betrag von 2.000 EUR festgesetzt (Ziffer 2. des Schlussbescheids) und einen Betrag von 7.000 EUR zurückgefordert (Ziffer 3. des Schlussbescheids).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte geht bereits im Ausgangspunkt zu Unrecht davon aus, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 lediglich um eine vorläufige Bewilligung handelt, die er durch einen Schlussbescheid ersetzen durfte (dazu I.). Selbst wenn man dies anders sähe und von einer vorläufigen Bewilligung ausginge, wäre die Klage aber immer noch begründet, da der Beklagte sich durch die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids vom 17.12.2020 in rechtlich nicht zulässiger Weise über verbindliche Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 hinweggesetzt hätte (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom [00.00.0000] trifft hinsichtlich der dem Kläger gewährten Zuwendung in Form der Soforthilfe eine endgültige Regelung und stellt insoweit keinen sogenannten vorläufigen Verwaltungsakt dar.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Von einem vorläufigen Verwaltungsakt ist im Bereich der Zuwendungsgewährung auszugehen, wenn die Zuwendung unter dem Vorbehalt einer späteren abschließenden Entscheidung bewilligt wird. Ein solcher Bewilligungsbescheid ist in seinem Regelungsinhalt dahingehend eingeschränkt, dass der Begünstigte die Zuwendung zunächst nur vorläufig bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung behalten darf. Ob ein Anspruch auf das endgültige Behaltendürfen der Zuwendung besteht, hängt dagegen von dem Inhalt des abschließenden Bewilligungsbescheids, des Schlussbescheids ab.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 33, juris; BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 14 juris.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Bedürfnis für eine solche lediglich vorläufige Regelung kann insbesondere dann bestehen, wenn zum Erlasszeitpunkt des vorläufigen Bescheids eine tatsächliche Unsicherheit besteht. Das Subventionsverhältnis wird dabei zunächst durch den Zuwendungsbescheid geregelt, der aber unter den Vorbehalt der späteren Festsetzung gestellt wird und damit auf eine Ergänzung durch einen weiteren Verwaltungsakt angelegt ist, durch den die Zuwendung in den offen gehaltenen Punkten abschließend geregelt werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 15 juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 63, juris.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Vorbehalt endgültiger Regelung bewirkt, dass die Behörde die vorläufige Regelung im Ausgangsbescheid durch die endgültige Regelung im Schlussbescheid ersetzen kann, ohne insoweit an die Einschränkungen der §§ 48, 49 VwVfG gebunden zu sein. Bei einer späteren endgültigen Regelung durch einen Schlussbescheid bedarf es insoweit keiner Aufhebung der unter Vorbehalt ergangenen Bewilligung, da diese durch den Schlussbescheid ersetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 16, juris; OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); HK-VerwR/Kyrill-Alexander Schwarz, 5. Aufl. 2021, VwVfG § 35 Rn. 28; Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 245.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Wie weit der Vorbehalt der endgültigen Regelung reicht und ob er die Bewilligung insgesamt oder nur Teilregelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids umfasst, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Denn die Vorläufigkeit muss sich nicht auf den ersten Bescheid insgesamt beziehen, sondern kann und muss gegebenenfalls auf einzelne Aspekte beschränkt sein. Es können also auch bereits im vorläufigen Bewilligungsbescheid endgültige Teil-Regelungen getroffen und dem Adressaten insoweit gesicherte (Teil-) Rechtspositionen vermittelt werden. Auch wenn daher die Behörde einen unter Vorbehalt gestellten Verwaltungsakt später durch einen Schlussbescheid ersetzt, so kommt eine inhaltlich abweichende Regelung im Schlussbescheid - außer in den Fällen der §§ 48, 49 VwVfG - nur in Betracht, wenn sie aus den Gründen ergeht, wegen derer die frühere Regelung unter Vorbehalt gestellt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –,Rn. 17, juris.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unterliegen insoweit der Auslegung aus Sicht eines objektiven Empfängers entsprechend der §§ 133, 157 BGB. Das Gericht hat den Bewilligungsbescheid dahin zu erforschen, wie der Adressat ihn unter Berücksichtigung der ihm bekannten oder erkennbaren Umstände bei objektiver Auslegung verstehen musste.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 – 10 C 5.17 –,Rn. 25, juris; BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, Rn. 14, juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 56, juris; OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 5, juris.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Abzustellen ist dabei auf Sicht des Adressaten zum Erlasszeitpunkt des ursprünglichen Bewilligungsbescheides unter Berücksichtigung allein der zu diesem Zeitpunkt bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umstände. Nach Erlass eines Zuwendungsbescheides kann die Behörde nicht mehr frei über die Auslegung von darin verwandten Begrifflichkeiten entscheiden. Der Bescheid hat insoweit Fakten geschaffen, über die sie sich auch im Rahmen des Zuwendungsrechts nicht nach Ermessen hinwegsetzen kann.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 7, juris.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Welche Teile des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung stehen und welche bereits im ursprünglichen Bescheid endgültige Regelungen treffen, muss sich vor allem aus dem vorläufigen Bewilligungsbescheid selbst ergeben. Insoweit muss in diesem ausdrücklich bezeichnet oder zumindest eindeutig erkennbar sein, hinsichtlich welcher Regelung die Erlassbehörde sich eine spätere Entscheidung vorbehalten will. Dies folgt einerseits aus dem Gebot hinreichender Bestimmtheit von Verwaltungsakten im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG, andererseits mit Blick auf den Vertrauensschutz des Adressaten. Unklarheiten gehen zu Lasten der Erlassbehörde, die es insoweit in der Hand hat, Bestimmtheits- oder Auslegungsprobleme durch eindeutige Formulierungen im ursprünglichen Bescheid zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 247.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen ist es nicht ausreichend, wenn sich die Auslegung als vorläufiger Verwaltungsakt lediglich als noch mögliche Deutung neben einer Vielzahl weiterer möglicher Auslegungen darstellt. Es genügt für die Annahme eines Regelungsvorbehalts nicht, dass ein Bewilligungsbescheid als vorläufiger Verwaltungsakt verstanden werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104 – 105, juris.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist es erforderlich, dass der Regelungsvorbehalt aus dem Bescheid sowie den erkennbaren Umständen für einen objektiven Empfänger als die einzig sinnvolle Deutung erscheint und sich dieses Verständnis dem objektiven Empfänger aufdrängen muss. Dabei gebieten es die mit dem Vorbehalt späterer endgültiger Entscheidung verbundene Folge des Ausschlusses von Vertrauensschutz und die Verwandtheit dieser Regelungsweise mit Befristung, Bedingung und Widerrufsvorbehalt (§ 36 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwVfG),</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, 3 C 7.09, juris, Rn. 20,</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">strenge Anforderungen an die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots (§ 37 VwVfG NRW) für die Vorläufigkeit einer Regelung und ihres genauen Umfangs zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, 15 A 708/88, NVWZ 1991, 588 (589); Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 160; König, BayVBl. 1989, 36; Martens, DÖV 1987, 998.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab ist der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 dahin auszulegen, dass er die dem Kläger gewährte Förderung insbesondere auch der Höhe nach endgültig regelt. Der Beklagte hat sich im insoweit allein maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 den Erlass eines Schlussbescheides weder ausdrücklich noch zumindest noch ausreichend deutlich vorbehalten, sondern den Antrag des Klägers vom 27.03.2020 – auch hinsichtlich der Höhe der Soforthilfe – in Wahrheit abschließend beschieden.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 bringt an keiner Stelle, insbesondere im Tenor und/oder in den einschlägigen Ziffern II. 3., 4. und 8. der Nebenbestimmungen, die Vorläufigkeit bzw. Vorbehaltlichkeit der Gewährung der Soforthilfe für den objektiven Empfängerhorizont mit (noch) hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Ausreichend, aber auch notwendig wäre es hierzu gewesen, einen entsprechenden Entscheidungsvorbehalt bzw. eine Vorläufigkeit der Bewilligung der Zuwendung mit Blick auf eine erst zukünftig (abschließend) zu bewilligende Zuwendung mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit zum Inhalt des Bescheids zu machen. Das ist hier nicht geschehen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid enthält unter Ziffer „1. Bewilligung“ die der Höhe nach einschränkungslose „Bewilligung“ einer „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00 €“. Ein Hinweis auf eine etwaige Höchstbetragsförderung mit späterer endgültiger Abrechnung etwa über den Zusatz „bis zu 9.000,00 €“, der sich gerichtsbekannt in einer Fülle von Bewilligungsbescheiden der Bezirksregierung L. bei anderen Förderprogrammen findet, fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Bewilligung „als einmalige Pauschale“ spricht hingegen nicht hinreichend deutlich für eine vorläufige Regelung zur Höhe der Corona Soforthilfe. Denn die Wortbedeutung erfasst zwar auch eine vorläufige Geldsumme, die man vor der endgültigen Abrechnung erhält. Eine einmalige Pauschale kann aber auch als ein Geldbetrag, der mehrere Teilsummen zusammenfasst, die nicht einzeln abgerechnet werden, verstanden werden. Ebenso kann der Begriff der Pauschale auch genau umgekehrt zu der von dem Beklagten vorgenommenen Deutung verstanden werden, dass nämlich gerade keine genaue Ermittlung des durch die Förderung zu kompensierenden Ausfalls erfolgen soll, sondern dieser durch eine einmalige – z. B. aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder Beschleunigung vorgenommene – Pauschalzahlung abgegolten wird. Diese mehrfache Wortbedeutung schließt die erforderliche Bestimmtheit im oben dargelegten Sinn aus.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch die Festlegung eines dreimonatigen Bewilligungszeitraums in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 zwingt nicht zu dem Schluss, es handle sich um eine bloß vorläufige Bewilligung. Die Festlegung eines Bewilligungszeitraums ist keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal eines vorläufigen Verwaltungsakts, sondern erfolgt regelmäßig auch bei endgültigen Förderbescheiden. Dies macht auch bei endgültigen Förderbescheiden, denen ebenfalls ein Verwendungsnachweisverfahren – ggfs. verbunden mit einem Widerrufsverfahren nach § 49 Abs. 3 VwVfG – nachgeschaltet sein kann, Sinn, um den relevanten Zeitraum hinsichtlich förderungsrelevanter Ausgaben und Kosten zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Der im Zuwendungsbescheid unter Ziffer II. 3. der Nebenbestimmung zu findende Passus,</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraumes feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der Landeskasse....unter Angabe des Aktenzeichens zurückzuzahlen. ...“,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">reicht nicht aus, um hierdurch einen Vorläufigkeitsvorbehalt mit hinreichender Bestimmtheit begründen zu können. Zwar kommt in ihr zum Ausdruck, dass die ausgezahlte Finanzhilfe noch von zukünftigen Faktoren abhängig ist, die zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht feststehen. Es gibt jedoch unterschiedlichste verwaltungsrechtliche Regelungsmöglichkeiten, wie mit solchen zukünftigen Faktoren umgegangen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. instruktiv BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 23 ff., juris.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist aus Sicht eines objektiven Empfängers nicht als Vorbehalt einer abschließenden Behördenentscheidung zu verstehen. Mit dieser Regelung wurde vielmehr von dem Kläger nach dem eindeutigen Wortlaut eine von ihm selbst und eigenverantwortlich vorzunehmende nachträgliche Berechnung von Ist-Werten zur tatsächlichen Höhe des Umsatzausfalls und des Liquiditätsengpasses während des Bewilligungszeitraums verlangt, mit der Folge die selbsttätig errechneten zu viel gewährten Unterstützungsgelder zurückzuzahlen. Aus dieser selbsttätig und eigenverantwortlich vorzunehmenden Berechnungs- und Prüfpflicht des Zuwendungsempfängers und einer hieraus gegebenenfalls resultierenden Rückzahlungspflicht kann unter Anwendung des gebotenen strengen Maßstabs nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont nicht mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit entnommen werden, dass damit der Begünstigte die empfangene Leistung in jedem Fall nur vorläufig bis zum Erlass einer späteren endgültigen Regelung durch die Behörde behalten darf. Denn von einem irgendwie gearteten – nachträglichen – Tätigwerden der Behörde ist hier überhaupt nicht die Rede. Dies gilt umso mehr für den Fall, dass die selbsttätig und eigenverantwortlich vom Begünstigten vorgenommene Berechnung keinen zu viel gezahlten Betrag ergeben sollte. Eine vorbehaltene endgültige Festsetzung der Höhe der Soforthilfe in einem zweiten Verwaltungsakt ist damit in dieser Regelung nicht vorgesehen. Soweit in dieser Regelung ein Hinweis auf ein späteres Rückmeldeverfahren gesehen wurde,</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">kann die erkennende Kammer einen solchen Hinweis weder dem Wortlaut noch dem Sinn der Regelung entnehmen. Ein solches Verfahren wird in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, der ausdrücklich nur den Bescheidadressaten anspricht, nicht erwähnt.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Es dürfte viel dafür sprechen, dass es sich stattdessen bei dieser Regelung um eine Auflage i.S.v. § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW handelt. Einem solchen Verständnis könnte jedenfalls nicht entgegengehalten werden, dass die Konstruktion einer nachträglichen Kontrolle der Förderung durch Begründung einer Mitwirkungsverpflichtung zur Selbstkontrolle in Form einer Auflage ungeeignet wäre, um eine angemessene Überprüfung der Förderung zu ermöglichen. Denn wenn es in diesem Fall dazu käme, dass ein Adressat einer solchen Mitwirkungsverpflichtung nicht nachkäme, stehen im Rahmen des allgemeinen Verwaltungsrechts geeignete Möglichkeiten zum Beispiel in Form eines Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG zur Verfügung, um die benötigten Angaben zu ermitteln und gegebenenfalls überzahlte Beträge zurückzufordern. Ob es sich bei der Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 tatsächlich um eine Auflage handelt und welcher Inhalt dieser genau zukommt, kann offenbleiben. Denn der Beklagte hält dem Kläger in dem angefochtenen Schlussbescheid einen solchen Auflagenverstoß jedenfalls nicht vor. In der von dem Beklagten umgesetzten „Rückmeldung des Liquiditätsengpasses NRW Soforthilfe 2020“ des Klägers vom 30.10.2021 heißt es dementsprechend: „Dieses Rückmelde-Formular dient der Meldung des vorzeitig freiwillig ermittelten Liquiditätsengpasses….“. Bei einer freiwilligen Ermittlungstätigkeit des Zuwendungsempfängers selbst handelt es sich aber nicht um die behördliche Ausübung einer im Bewilligungsbescheid gemachten vorläufigen Regelung.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Ein Vorbehalt einer späteren Entscheidung ergibt sich auch nicht aus den Regelungen in den Ziffern II. 4., 5. und 8. des Bewilligungsbescheids.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 4. enthält eine Regelung hinsichtlich eventueller Rückzahlungspflichten wegen falscher Angaben bei der Antragstellung oder wegen Überkompensation. Damit wird lediglich eine Rückzahlungspflicht für diese Fälle geregelt, ohne dass sich hierin die Vorläufigkeit der Bewilligung insgesamt in hinreichender Klarheit ausdrücken würde.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">In Ziffer II. 5. wird sich ausdrücklich „im Einzelfall“ eine spätere Verwendungsprüfung vorbehalten, was jedenfalls keinen Vorbehalt einer abschließenden Entscheidung für die Gesamtförderung begründet. Die Existenz eines Verwendungsnachweisverfahrens für sich allein genommen ist insoweit ebenfalls nicht aussagekräftig, weil eine Verwendungsnachweisprüfung auch bei endgültigen Förderbescheiden stattfindet und gegebenenfalls etwa im Falle der zweckwidrigen Verwendung zu einem Rückforderungsverfahren nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG führen kann. Allein die Notwendigkeit eines nachträglichen Verwendungsnachweises besagt für sich genommen dementsprechend nichts über die Frage der Vorläufigkeit einer Zuwendungsbewilligung aus. Diese ergibt sich erst im Zusammenspiel mit etwaigen weiteren Regelungen eines Bescheides, etwa in der Zusammenschau mit einer Höchstbetrags-/Anteilsfinanzierung. Anderweitige Anzeichen für eine vorläufige Regelung finden sich im Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 aber gerade nicht. Außerdem wäre sinnlos, zu formulieren, dass „im Einzelfall eine Prüfung“ vorbehalten wird, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Da im Bewilligungsbescheid nach alledem keine erkennbaren und belastbaren Anhaltspunkte für eine bloß vorläufige Bewilligung vorliegen, käme die Annahme, dass der Bescheid gleichwohl eine bloße vorläufige Bewilligung regelt, wenn überhaupt nur noch in Betracht, wenn sich für den objektiven Adressaten aus sonstigen Umständen zwingend der Schluss aufdrängen musste, dass der Bescheid – gleichsam entgegen seines Wortlauts – lediglich eine bloß vorläufige Bewilligung ausspricht. Zu einem derartigen Schluss zwingen aber weder die Antragsunterlagen, die nach Ziffer 2. des Bewilligungsbescheides Bescheidbestandteil sind, noch die sonst zum Bewilligungszeitpunkt verfügbaren Informationen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">In den Antragsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein expliziter Hinweis darauf, dass eine Bewilligung bloß vorläufig erfolgen und nach Ablauf des Bewilligungszeitraums ein späteres Rückmeldeverfahren mit Erlass eines Schlussbescheides stattfinden solle. Insbesondere kann aus der in Ziffer 6.11 der Antragsunterlagen abgegebenen Versicherung, es sei bekannt, dass der Zuschuss im Falle einer Überkompensation zurückzuzahlen sei, kein Schluss auf eine bloß vorläufige Bewilligung gezogen werden. Denn allein die abstrakte Verpflichtung zur Rückzahlung einer Überkompensation sagt nichts darüber aus, wie eine solche Rückzahlungsverpflichtung verwaltungsverfahrensrechtlich konstruiert wird. Auch insoweit kämen neben einer bloß vorläufigen Bewilligung alternative Gestaltungen – z. B. in Form einer auflösenden Bedingung oder eines späteren Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 VwVfG – in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Auch die übrigen zum Zeitpunkt der Bewilligung veröffentlichten Informationen zwingen nicht zum Schluss, es finde mit dem Bewilligungsbescheid lediglich eine vorläufige Bewilligung statt. Soweit in den „Eckpunkte[n] zur Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie dem Bundesministerium der Finanzen vom 23.03.2020 ausgeführt ist, dass die „Finanzielle Soforthilfe „…. Bis 9.000,00 € … bzw. Bis 15.000,00 € …“ betrage und es in den „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ (Stand 30.03.2020) heißt, dass ein einmaliger Zuschuss „von bis zu 9.000,00 €“ bzw. „bis zu 15.000,00 € beantragt werden könne sowie der Antragsteller eine „einmalige Soforthilfe“ beantrage, deren Höhe sich bis zur Höchstgrenze von 9.000,00 € an dem vom Antragsteller glaubhaft versicherten Liquiditätsengpass für drei aufeinander folgende Monate“ orientiere, kommt damit nicht zugleich hinreichend deutlich im Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 selbst eine Höchstbetragsfinanzierung unter Vorbehalt einer späteren endgültigen Bewilligung zum Ausdruck. Denn der Bewilligungsbescheid bewilligt im Gegensatz zu diesen Regelungen nach seinem eindeutigen Wortlaut eine „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00“ und enthält gerade nicht den Zusatz „bis zu“.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass andere veröffentlichte Informationen im Gegenteil zu dem Schluss berechtigen konnten, dass der Förderbetrag in Maximalhöhe und endgültig bewilligt wird. In den von dem Beklagten veröffentlichten FAQs, die insoweit für die Allgemeinheit Hinweise und Informationen zur Förderung durch die Soforthilfe des Beklagten geben sollen und daher von einem objektiven Empfänger zur Auslegung des Bewilligungsbescheids herangezogen werden können, heißt es etwa in der Fassung vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 002) auf die Frage „Wie hoch ist die Förderung?“</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">„Die Soforthilfe erfolgt im Rahmen eines einmaligen, nicht rückzahlbaren Zuschusses. Sie […] beträgt für drei Monate: 9.000 Euro für antragsberechtigte Solo-Selbstständige und Antragsberechtigte mit bis zu 5 Beschäftigten“.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob geprüft wird, ob dem Antragsteller die Hilfe wirklich zugestanden hat und wenn nein, ob die Hilfe ggfs. zurückgezahlt werden muss, antworten die FAQs vom 27.03.2020 noch (Anlage B4, Beiakte 002):</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">„Der Antragsteller versichert im Formular, dass er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen und wahrheitstreu gemacht hat. […] Da dem Antrag die Steuernummer bzw. die Steuer-ID beizufügen ist, hat das Finanzamt die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu prüfen. […] Stellt sich am Ende der Bezugszeit von drei Monaten heraus, dass der Antragsberechtigte mehr erhalten hat, als sein Schaden war, ist er gehalten, das überschüssige Geld zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Auch hier ist an keiner Stelle auch nur ansatzweise die Rede davon, die Soforthilfe würde lediglich vorläufig bewilligt und dann in einem separaten Verfahren durch einen Schlussbescheid des Beklagten abschließend festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte sich darüber hinaus auf nach dem Erlasszeitpunkt des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 veröffentlichte Hinweise und Regelwerke, insbesondere auf die Soforthilfe-Richtlinie oder die zwischen Bund und dem Beklagten geschlossene Verwaltungsvereinbarung beruft, kann dahinstehen, ob diese für die von dem Beklagten vertretene Auslegung des Bewilligungsbescheids sprechen. Denn ihnen kann von vornherein keine Bedeutung für die Auslegung des Bewilligungsbescheids zukommen, da der maßgebliche objektive Empfängerhorizont des Bescheidempfängers sich von vornherein nur anhand der im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits bekannten Gesamtumstände bemessen kann. Hierzu gehören später ergangene Regelwerke ersichtlich nicht. Dem Umstand, dass dieser Erlass in rechtlicher Hinsicht mit Rückwirkung zum 27.03.2020, dem ersten Tag der Freischaltung des Online-Antragsverfahrens, in Kraft getreten ist, kommt für die hier allein maßgebliche Frage der Bescheidauslegung ebenfalls keine Bedeutung zu. Denn das rechtlich rückwirkende Inkrafttreten ändert nichts daran, dass die Richtlinien im Zeitpunkt des Bescheiderlasses tatsächlich noch nicht existent und dementsprechend für die Betroffenen schlicht nicht erkennbar waren. Auf die weiteren zwischen den Beteiligten aufgeworfenen Fragen der rechtlichen Zulässigkeit eines rückwirkenden Inkrafttretens kommt es danach nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch den Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der Förderung ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis, an welche die Behörde im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG als objektivem Rechtmäßigkeitskriterium gebunden war.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. April 2003 – 3 C 25.02 –, Rn. 17, juris; OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2022 – 4 A 2368/18 –, Rn. 8 f., juris mit weiteren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Es entsprach gerichtsbekanntermaßen zum Bewilligungszeitpunkt der ständigen Praxis des Beklagten, im Rahmen der Bewilligung von Förderanträgen der Soforthilfe 2020 die Bewilligungsbescheide entsprechend der im verfahrensgegenständlichen Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 getroffenen Formulierungen zu fassen. Ein offensichtlicher Verstoß gegen zum Bewilligungszeitpunkt bereits vorliegende Verwaltungsvorschriften des Beklagten ist insoweit weder vorgetragen noch ersichtlich und wäre auch unerheblich, weil es nicht darauf ankommt, wie die Verwaltungsvorschriften auszulegen sind, sondern allein darauf, wie die Bewilligungsbehörde die Verwaltungsvorschriften in ihrer ständigen tatsächlichen Praxis anwendet.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1979 – 3 C 111.79 –, Rn. 24 – 25, juris; VGH BW, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 9 S 2244/15 –, Rn. 127, juris.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Eine etwa vom Beklagten nach seinem Vorbringen möglicherweise gewollte andersartige Verwaltungspraxis zur Vorläufigkeit der Bewilligungsbescheide ist hingegen irrelevant. Allein maßgeblich ist, was der Beklagte in den Bewilligungsbescheiden objektiv zum Ausdruck gebracht hat.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend wäre es auch unerheblich, wenn der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 den Regelungen der Soforthilfe-Richtlinie widerspräche. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass unabhängig von der Frage, ob eine rückwirkende Inkraftsetzung von Verwaltungsvorschriften zulässig ist oder nicht, eine zum Zeitpunkt der ausgeübten Verwaltungspraxis schlicht noch nicht existente Verwaltungsvorschrift auf eine tatsächlich ausgeübte, also bereits stattgefundene Verwaltungspraxis denklogisch keinen Einfluss haben und diese nicht prägen kann.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Selbständig entscheidungstragend ist das Gericht der Auffassung, dass die Klage des Klägers auch dann begründet ist, wenn entgegen dem vorstehend Ausgeführten angenommen wird, dass mit dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 die Corona-Soforthilfe hinsichtlich ihrer Höhe nur vorläufig bewilligt worden wäre und der „Schlussbescheid“ vom 17.12.2021 diesen – vorläufigen – Bewilligungsbescheid in seinem Regelungsumfang ersetzt habe. Auch dann erweist sich der angefochtene „Schlussbescheid“ als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Wie bereits dargelegt wurde, sind auch im Falle eines vorläufigen Verwaltungsakts nur die Regelungsbestandteile einer abschließenden Regelung durch Schlussbescheid zugänglich, die auch im ursprünglichen Bewilligungsbescheid unter einen entsprechenden Vorbehalt gestellt wurden. Andere Regelungsbestandteile können bereits abschließende Regelungen enthalten und insoweit nur unter den Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG abgeändert werden.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wäre der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 jedenfalls dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen, unter denen der Beklagte die Förderhöhe abweichend festsetzen könnte, bereits im Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 abschließend geregelt wurden. (dazu 1.). Diesen Vorgaben widerspräche die Festsetzung der Soforthilfe durch den Schlussbescheid vom 17.12.2021 (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 macht die Rückzahlung von zwei Voraussetzungen abhängig: Die zu viel gezahlten Mittel sind zurückzuzahlen, wenn die Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich des Liquiditätsengpasses benötigt werden. Es handelt sich hierbei um zwei grundsätzlich zu unterscheidende Merkmale, nämlich den Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum abzgl. eingesparter Kosten einerseits und die Deckung des Liquiditätsengpasses andererseits. Diese Rückforderungsvoraussetzungen stehen – selbst wenn man entgegen der obigen Würdigung von einer lediglich vorläufigen Festsetzung der Förderungshöhe ausgeht – jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt einer späteren – u.U. auch abweichenden – Entscheidung, sondern werden durch den Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 abschließend festgelegt. Es finden sich im Bewilligungsbescheid keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch die Festlegung der Rückzahlungsvoraussetzungen erst unter Vorbehalt erfolgen sollte. Ein diesbezüglicher Vorbehalt wäre rechtlich auch kaum in zulässiger Weise gestaltbar, denn anders als hinsichtlich der Förderhöhe besteht jedenfalls hinsichtlich eventueller Rückforderungsvoraussetzungen weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Unsicherheit, die es rechtfertigen würde, die Rückforderungsvoraussetzungen von einer späteren Entscheidung abhängig zu machen. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids definierten Voraussetzungen einer Rückzahlungsverpflichtung zugleich definieren, was überhaupt förderfähige Ausgaben im Rahmen des Zuwendungsverhältnisses sind. Schon aus Gründen des Vertrauensschutzes kann es dem Beklagten nicht möglich sein, eine Zuwendung zu bewilligen und auszuzahlen und erst später zu entscheiden, welche Art von Ausgaben mit dieser Zuwendung überhaupt dem Grunde nach gefördert werden soll. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine grundlegende Entscheidung, die der Zuwendungsgeber bereits bei der Begründung des Zuwendungsverhältnisses durch den vorherigen Bewilligungsbescheid treffen kann und hier durch die Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 auch getroffen hat.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 106, juris, wo von der Festlegung von Berechnungsgrößen durch den Bewilligungsbescheid gesprochen wird.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Diese Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist dahin auszulegen, dass sie eine Rückforderung nur dann und auch nur soweit vorsieht, wie die gewährte Förderung sowohl den Liquiditätsengpass als auch den Umsatzausfall überschreitet. Es genügt dagegen nach dieser Regelung nicht, dass lediglich einer dieser beiden Parameter durch die Förderung überschritten wird.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Ausgangspunkt dieses Verständnisses ist der Wortlaut der Regelung in Ziffer II. 3., dem bei der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts besonderes Gewicht beizumessen ist. Die dort geregelten beiden Voraussetzungen werden durch die Konjunktion „und“ verbunden, was für den objektiven Empfänger die Rückzahlungsverpflichtung vom kumulativen Vorliegen beider Voraussetzungen abhängig macht. Aus dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 ergeben sich dagegen keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Verbindung der beiden Voraussetzungen durch „und“ hier als alternative Verbindung im Sinne eines „oder“ zu lesen sein soll. Erst Recht kann entgegen der Ansicht des Beklagten dem übrigen Bescheid kein Anhalt dafür entnommen werden, der Umsatzausfall sei hinsichtlich der Förderungshöhe gänzlich irrelevant. Wäre dies tatsächlich die Regelungsabsicht des Beklagten gewesen, wäre es widersinnig gewesen, den Umsatzausfall im Bewilligungsbescheid – und dann auch noch an der entscheidenden Stelle der Regelung der Rückzahlungsvoraussetzungen – überhaupt zu erwähnen. Soweit der Beklagte damit argumentiert, in Ziffer 2. des Bescheids werde als Zuwendungszweck die Milderung finanzieller Notlagen festgelegt, was bei einem bloßen Umsatzausfall nicht gegeben sei, dringt er mit diesem Einwand nicht durch. Es liegt im Verantwortungsbereich des Beklagten, im Rahmen der Zweckbestimmungsformulierung in seinen Bescheiden eindeutig und möglichst unmissverständlich festzulegen, welchen Zweck er mit der Zuwendung begünstigen will und welche Ausgaben er als von diesem Zweck erfasst ansieht. Der Begriff der „Milderung der finanziellen Notlagen“ schließt es nicht begriffsimmanent aus, hierunter auch erhebliche pandemiebedingte Umsatzausfälle zu fassen. Vielmehr dürfte der objektive Empfänger angesichts der expliziten und in seiner Bedeutung gegenüber dem Liquiditätsengpass in keiner erkennbaren Form eingeschränkten Erwähnung des Umsatzausfalls davon ausgehen, dass auch pandemiebedingte Umsatzausfälle von dem Beklagten als im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehende finanzielle Notlagen definiert werden.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Auch aus den übrigen zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides erkennbaren objektiven Umständen musste sich dem Bescheidadressaten nicht aufdrängen, dass Umsatzausfälle – entgegen des Bescheidwortlauts – mit der Soforthilfe nicht zumindest auch abgedeckt werden sollten.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">So war bereits in den Antragsunterlagen unter Ziffer 6.1 unter anderem zu versichern, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Förderantragstellers durch die Corona-Krise wesentlich beeinträchtigt wurde, weil „die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind“ oder „die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen“. Auch an dieser Stelle werden Umsatzausfall einerseits und ein Liquiditätsengpass (ein solcher dürfte mit der zitierten Formulierung gemeint sein) andererseits gleichrangig neben anderen Fördervoraussetzungen, auf die es hier nicht ankommt, erwähnt. Die Verbindung dieser einzeln aufgezählten Versicherungen erfolgte durch die Konjunktion „oder“, was aus Sicht eines objektiven Empfängers zu dem Schluss nötigt, dass bereits das Vorliegen einer der genannten Versicherungen zur Antragsstellung genügt. Hätte von vornherein festgestanden, dass es im Rahmen der Förderung immer nur um die Deckung eventueller Liquiditätsengpässe gehen sollte, so wäre eine derartig differenzierte Aufzählung nicht erforderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund überzeugt es auch nicht, wenn der Beklagte meint, in den Antragsunterlagen werde der Liquiditätsengpass an anderer Stelle in den Vordergrund gestellt, namentlich in Ziffer 5. und Ziffer 6.2. Hieraus musste ein objektiver Adressat angesichts der alternativen Abfrage von Umsatzausfall und Liquiditätsengpass unter Ziffer 6.1 nicht den Schluss ziehen, allein die Deckung von Liquiditätsengpässen im engeren Sinn sei Gegenstand der Förderung. Ebenso wie im Bescheid wäre es dann nämlich sinnlos, überhaupt eine Versicherung hinsichtlich eines eventuellen Umsatzausfalls zu verlangen, da es in einem solchen Fall auch genügt hätte, einfach eine Versicherung hinsichtlich eines Liquiditätsengpasses zu verlangen. Die von dem Beklagten erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgeworfene Differenzierung zwischen Antragsvoraussetzungen einerseits- und Anspruchsvoraussetzungen andererseits, nach der ein Umsatzausfall zwar zur Antragstellung berechtige, aber nichts über die Förderhöhe aussage, ist demgegenüber in den Antragsunterlagen weder offen noch indirekt angelegt. Da es bereits widersinnig ist, im Rahmen einer vorläufigen Bescheidung wie der Beklagte meint allein über die grundsätzliche Antragsberechtigung zu entscheiden – was soll einem Antragsteller die Feststellung einer derart isolierten Antragsberechtigung ohne spätere endgültige Förderung nützen? – hätte eine derartige Regelung eindeutig und von vornherein in den Antragsunterlagen angelegt sein müssen. Dies umso mehr als Ziffer 1.1 des Antragsformulars bereits regelt, wer „Antragsberechtigt“ ist. Ob eine solche Differenzierung in Antragsberechtigung und Anspruchsberechtigung in der Soforthilfe-Richtlinie angelegt ist, kann die Kammer dahinstehen lassen, da es auch in diesem Kontext auf die Soforthilfe-Richtlinie nicht ankommt. Denn wie bereits oben ausgeführt wurde, können zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schlicht noch nicht existente Umstände – wie der erst nachträgliche Erlass der Soforthilfe-Richtlinie – keine objektiv erkennbaren Umstände im Rahmen der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts darstellen.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Auch die im Internet abrufbaren und von dem Beklagten veröffentlichten FAQs bestätigen dieses Verständnis. So heiß es in der zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten Fassung vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 002) zu der Frage „Was wird gefördert?“ wörtlich [Hervorhebungen im Original]:</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">„<span style="text-decoration:underline">Voraussetzung</span>: erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten in Folge von Corona. Dies wird angenommen wenn […]</p>
<span class="absatzRechts">100</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind […]</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong> […]</p>
<span class="absatzRechts">103</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Unternehmens […] zu zahlen (=Finanzierungsengpass).“</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Die von der Beklagten veröffentlichten FAQs stellen also die Voraussetzungen der Förderung – hier als erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten beschrieben – wiederum in einen Zusammenhang mit Umsatzausfällen. Insbesondere ergibt sich aus der oben zitierten Formulierung abermals unter Verwendung der Konjunktion „oder“, dass bereits Umsatzausfälle zur Annahme von Finanzierungsengpässen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten genügen können. In der zuvor veröffentlichten Fassung der FAQs vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 002) wurde auf die Frage, wie eine Überkompensation definiert sei, wörtlich geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">„Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält als sein tatsächlich eingetretener Schaden – also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z. B. Mietminderung) – ist“[…].</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Hier knüpft der Begriff der Überkompensation sogar im Schwerpunkt (insbesondere) an den Umsatzausfall und gerade nicht an einen Liquiditätsengpass an. Diese Formulierung entspricht hinsichtlich des Umsatzausfalls auch weitestgehend der Formulierung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020, was dessen Auslegung abermals bestätigt.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Angesichts sowohl des eindeutigen Wortlauts des Bewilligungsbescheids als auch der Vielzahl weiterer entsprechender Hinweise in den Antragsunterlagen und den FAQs ist aus Sicht eines objektiven Adressaten auch aus den übrigen zum Bewilligungsbescheid erkennbaren Umständen kein zwingender Schluss geboten, es würde im Rahmen der Förderung allein ein Liquiditätsengpass abgedeckt. Dass in einzelnen veröffentlichten Informationen – z. B. im Eckpunktepapier „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ vom 23.03.2020 dagegen nur von Liquiditätsengpässen und nicht auch von Umsatzausfällen die Rede ist, steht gegenüber allen anderen Anzeichen eindeutig im Hintergrund. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund vieler sich widersprechender Informationen in der Fülle an veröffentlichten Informationen zur Corona-Soforthilfe.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Unerheblich für die Auslegung des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 ist dabei die Soforthilfe-Richtlinie, da diese zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht veröffentlicht, dementsprechend für einen objektiven Adressaten nicht wahrnehmbar und daher für die Ermittlung des Empfängerhorizonts irrelevant sind. Ob diese Dokumente die Auslegung des Beklagten, es komme nur auf einen Liquiditätsengpass an, tragen, kann dementsprechend dahinstehen.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber ist festzustellen, dass dieser Auslegung entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht das Klageverhalten der Gesamtmenge an Förderungsempfängern entgegengehalten werden kann. Soweit der Beklagte im Rahmen einer Art „statistischer Auswertung“ ausführt, dass von über 400.000 Zuwendungsempfängern nur 2.000 Empfänger den jeweils an sie adressierten Bescheid angefochten hätten und über 60.000 Empfänger freiwillig erklärt hätten, mangels eines Liquiditätsengpasses auf die Zuwendung zu verzichten, kann er hieraus keine Argumente für seine Lesart des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 ableiten. Die statistische Analyse des Beklagten hat hierzu keinerlei Aussagewert, da allein aus der Tatsache der Nichterhebung einer Klage keinesfalls der Schluss gezogen werden kann, der jeweilige Adressat habe den jeweiligen Bewilligungsbescheid inhaltsgleich verstanden wie der Beklagte. Hier können auch andere Faktoren – etwa das Vertrauen auf die Aussage des Beklagten als einer an das Rechtsstaatsprinzip gebundenen Behörde oder die Sorge vor mit einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verbundenen Kosten – erheblichen Einfluss auf die Klagebereitschaft der jeweiligen Adressaten gehabt haben.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch die Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der kumulativen Rückforderungsvoraussetzungen Umsatzausfall und Liquiditätsengpass ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Auch sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis. Auch insoweit entsprach es nämlich der allein maßgeblichen tatsächlichen Förderpraxis des Beklagten, Ziffer II. 3. der jeweiligen Bewilligungsbescheide einheitlich entsprechend der Fassung im Bescheid vom 27.03.2020 zu formulieren. Auch hier kommt es auf eine etwaig anders gewollte Verwaltungspraxis nicht an. Ob dies mit der Soforthilfe-Richtlinie vereinbar wäre, kann aus den bereits unter Ziffer I. genannten Gründen dahinstehen, da diese zum Bewilligungszeitpunkt die Verwaltungspraxis nicht prägen konnte, weil sie schlicht noch nicht existierte.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen wäre der Schlussbescheid vom 17.12.2021 auch bei Annahme einer bloß vorläufigen Bewilligung durch den Bescheid vom 27.03.2020 rechtswidrig, weil die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids jedenfalls unter Missachtung der nach obiger Darlegung kumulativ notwendigen beiden Voraussetzungen einer Rückforderung erfolgt wäre. Denn der Beklagte hat in seinem Schlussbescheid allein auf einen im Rahmen des Rückmeldeverfahrens abgefragten Liquiditätsengpass abgestellt, indem er seitens der Adressaten die Einnahmen und Ausgaben aus dem jeweiligen Bewilligungszeitraum abgefragt, die hieraus gebildete Differenz als Liquiditätsengpass festgestellt und zugleich die Soforthilfe in dieser Höhe festgesetzt hat. Dadurch hat er die zweite und nach dem Obenstehenden ebenfalls erforderliche Voraussetzung einer Rückforderung, dass nämlich die Finanzhilfe den Umsatzausfall übersteigt, ignoriert und sich über die verbindlichen Festsetzungen des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 hinweggesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Erforderlich wäre es stattdessen gewesen – ginge man entgegen der unter I. getroffenen Überlegungen überhaupt von einer vorläufigen Bewilligung hinsichtlich der Förderhöhe aus –, zunächst sowohl den Liquiditätsengpass als auch einen Umsatzausfall zu ermitteln. Denn eine Rückforderung kann nach der Formulierung der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 nur soweit erfolgen, wie die beiden dort genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass es zum Behaltendürfen der Förderung nach der Konzeption des Bescheids genügt, wenn die Förderung entweder zur Deckung des Umsatzausfalls oder des Liquiditätsengpasses benötigt wird. Übersteigt einer dieser beiden Parameter den anderen, darf daher nur insoweit zurückgefordert werden, wie die Finanzhilfe nicht auch zur Deckung des höheren Parameters benötigt wird. Dies folgt aus der Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens beider Voraussetzungen, sodass untechnisch gesprochen im Rahmen einer Rückforderung auf den adressatengünstigeren Parameter abzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid schon deswegen rechtswidrig wäre, kann dahinstehen, ob die Ermittlung des Liquiditätsengpasses und ihre Festsetzung in Ziffer 1. des Schlussbescheids vom 17.12.2021 selbst für sich rechtlich nicht zu beanstanden wäre und den Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 entsprochen hätte. Denn selbst wenn man hiervon ausginge, wäre der Schlussbescheid vom 17.12.2021 insgesamt aufzuheben, da nach der Bescheidkonzeption des Beklagten die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids und die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids in untrennbarem Zusammenhang stehen und der Beklagte kein berechtigtes Interesse hat, die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids isoliert bestehen zu lassen.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Ziffer 3. des Schlussbescheids ist nach alledem ebenfalls rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 49a Abs. 1 VwVfG, der nach ständiger Rechtsprechung im Fall der Ersetzung eines vorläufigen Bescheides durch einen Schlussbescheid entsprechende Anwendung findet,</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 24, juris; BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2016 – 10 C 8.15 –, Rn. 11, juris,</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">nicht vorliegen. Denn es handelt sich aus den unter Ziffer I. ausgeführten Gründen bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 nicht um einen der Ersetzung durch einen Schlussbescheid zugänglichen vorläufigen Verwaltungsakt. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Bescheids jedenfalls aus den oben unter Ziffer II. ausgeführten Gründen rechtswidrig erfolgt, sodass auch dann die Rückforderung rechtswidrig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid vom 17.12.2020 sich nach alledem bereits unter zwei selbstständig tragenden Gesichtspunkten als rechtswidrig erweist, kann die Kammer offenlassen, ob der Schlussbescheid darüber hinaus wegen Verstoßes gegen Verfahrens- oder Datenschutzvorschriften rechtswidrig ist.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Der Schlussbescheid vom 17.12.2020 konnte auch nicht nach § 47 Abs. 1 VwVfG zu einem Widerruf des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 gemäß § 49 Abs. 3 VwVfG umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Der umgedeutete Verwaltungsakt darf dabei nicht den erkennbaren Absichten der erlassenden Behörde widersprechen, § 47 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Zunächst widerspräche eine solche Umdeutung den erkennbaren Absichten des Beklagten, der nachdrücklich davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 allein um einen vorläufigen Verwaltungsakt handelt. Zudem ist nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 49 Abs. 3 S. 1 VwVfG überhaupt vorlägen. Insbesondere ein Auflagenverstoß kann dem Kläger nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht vorgeworfen werden. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre eine Umdeutung ausgeschlossen, weil ein Widerruf jedenfalls nicht in der geschehenen Verfahrensweise hätte erfolgen dürfen. Denn bei einem Widerruf wegen eines Auflagenverstoßes oder einer Zweckverfehlung im Einzelfall wäre jedenfalls eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG zwingend erforderlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. 709 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die Berufung war gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 S. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zwar beruht die Entscheidung der Kammer auf der Auslegung eines einzelnen Verwaltungsakts. Dieser Verwaltungsakt ist jedoch inhaltsgleich mit einer Vielzahl von weiteren Bescheiden, gegen die ebenfalls Klage erhoben wurde. Es besteht vor diesem Hintergrund ein allgemeines Klärungsinteresse an der Rechtsmäßigkeit der mit der Fassung des Bescheids verkörperten Verwaltungspraxis der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">7.000 €</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,646 | vg-koln-2022-09-16-16-k-50522 | {
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<p>Der Schlussbescheid der Bezirksregierung L. – Az. 34.Soforthilfe2020-370059 – vom 19.12.2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin betreibt ein Transportunternehmen.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im März 2020 zeichnete sich ab, dass Unternehmer und Selbstständige aufgrund verschiedener infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden. Daher legte der Bund zur Bereitstellung kurzfristiger Finanzhilfen das Förderprogramm „Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ auf. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentlichte hierzu am 23.03.2020 ein Eckpunktepapier.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beschloss, das Programm des Bundes in vollem Umfang an die vorgesehenen Zielgruppen weiterzuleiten. Beide Maßnahmen wurden in dem Förderprogramm „NRW Soforthilfe 2020“ gebündelt. Die federführende Verantwortung lag bei dem damaligen Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf dessen Internetpräsenz waren häufige Fragen zum Förderverfahren, sog. FAQ, in verschiedenen Fassungen unter dem Link https://wirtschaft.nrw.de/nrw-soforthilfe-2020 abrufbar. Zu deren Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorgelegten Fassungen (Beiakte 002) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 30.03.2020 veröffentliche das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ auf seiner Homepage.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 01.04.2020 beantragte die Klägerin über das Online-Formular des Beklagten eine Soforthilfe aus dem Programm „NRW-Soforthilfe 2020“ in Höhe von 25.000,00 EUR. Hierbei versicherte sie, dass ihre wirtschaftliche Tätigkeit durch die COVID-19-Pandemie wesentlich beeinträchtigt sei, da entweder</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 01.03.2020 durch die COVID-19-Pandemie weggefallen seien oder</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert seien oder</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">- die Umsatzerzielungsmöglichkeiten durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt worden seien oder</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unter Ziffer 6.5 stimmte die Klägerin der Erhebung und Verarbeitung ihrer für die Zuschussgewährung erforderlichen Daten im Rahmen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen (DSGVO) zu. Mit Ziffer 6.11 bestätigte die Klägerin, ihr sei bekannt, dass sie die Soforthilfe im Fall einer Überkompensation (Entschädigungs-, Versicherungsleistungen, andere Fördermaßnahmen) zurückzahlen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Noch am 01.04.2020 erging an die Klägerin ein Bewilligungsbescheid. Unter Ziffer 1. des Bescheids bewilligte der Beklagte der Klägerin „eine Soforthilfe i. H. v. 25.000,00 € […] als einmalige Pauschale“. Gemäß Ziffer 2. des Bescheids erfolgte die Soforthilfe ausschließlich zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie als Einmalzahlung für einen dreimonatigen Bewilligungszeitraum ab Antragstellung. Die Soforthilfe diene insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 01.03.2020 in Zusammenhang mit der COVID-19‑Pandemie entstanden seien. Unter Ziffer II. 3. sah der Bescheid vom 31.03.2020 auszugsweise folgende Nebenbestimmung vor:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 01.04.2020 (Bl. 5 – 8 der Verwaltungsvorhänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am 01.04.2020 schlossen der Beklagte und der Bund eine Verwaltungsvereinbarung über die „Soforthilfen des Bundes für die Gewährung von Überbrückungshilfen als Billigkeitsleistungen für „Corona-Soforthilfen insbesondere für kleine Unternehmen und Soloselbständige“. Beigefügt waren Vollzugshinweise des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen in der Endfassung vom 29.03.2020.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Am 31.05.2020 wurden die „Richtlinien des Landes zur Gewährung von Soforthilfen für gewerbliche Kleinunternehmen, Selbstständige und Angehörige freier Berufe, die infolge der Sars-CoV-2-Pandemie in ihrer Existenz gefährdet sind“ als Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie (Az. VB 5 - 2020) – im Folgenden: Soforthilfe - Richtlinie – erlassen und traten laut Ziffer 9. der Soforthilfe-Richtlinie mit Wirkung vom 27.03.2020 in Kraft.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 18.06.2021 forderte der Beklagte die Klägerin zur Berechnung und Rückmeldung ihres Liquiditätsengpasses für den Bewilligungszeitraum unter Verwendung der von dem Beklagten übersandten Formulare auf. Aus der am 31.10.2021 übersandten Rückmeldung ergab sich durch eine Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben ein Liquiditätsengpass von 5.291,00 EUR im Bewilligungszeitraum. Die Klägerin erklärte, einen fiktiven Unternehmerlohn von 2.000,00 EUR nicht in Anspruch zu nehmen. Fragen zum Umsatzausfall wurden in den Formularen des Beklagten nicht gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Am 19.12.2021 erließ der Beklagte einen Schlussbescheid. Mit den Ziffern 1. und 2. des Bescheids stellte er einen Liquiditätsengpass von 5.291,00 EUR fest und setzte die Höhe der Soforthilfe auf diesen Betrag fest. Mit Ziffer 3. des Bescheids forderte er die Klägerin zur Rückzahlung des überzahlten Betrages von 19.709,00 EUR auf.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte der Beklagte aus, er sei nach Ziffer 5.2 der Soforthilfe-Richtlinie auch für die Rückforderung überzahlter Beträge zuständig. Nach den Ziffern 3.1, 3.2, 5.2 und 5.3 der Soforthilfe-Richtlinie werde die NRW-Soforthilfe 2020 zwar zunächst in voller Höhe gewährt. Die endgültige Festsetzung erfolge aber erst nach Rückmeldung und Berechnung des Liquiditätsengpasses. Decke der Liquiditätsengpass die gezahlte Soforthilfe nicht vollständig ab, werde Soforthilfe nur in Höhe des Liquiditätsengpasses gewährt. Auf Grundlage der Rückmeldung der Klägerin bestehe nur ein Liquiditätsengpass in Höhe von 5.291,00 EUR. Der überzahlte Betrag sei daher nach § 49a Abs. 1 VwVfG in entsprechender Anwendung zurückzufordern. Der Schlussbescheid trete insoweit an die Stelle des ursprünglichen Bewilligungsbescheids. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Schlussbescheid vom 19.12.2021 (Bl. 30 – 34 der Verwaltungsvorgänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 17.01.2022 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung ihrer Klage führt sie im Wesentlichen aus: Bei der Beantragung der Soforthilfe sei von einer allgemeinen Rückzahlungsverpflichtung auf Basis des Liquiditätsengpasses nicht die Rede gewesen, sondern allenfalls von einer Rückzahlung bei Überkompensation. Es trete nicht deutlich aus dem Bewilligungsbescheid hervor, dass es sich um eine vorläufige Bewilligung handle. Der Beklagte habe mehrdeutige und intransparente Formulierungen verwendet, was sich zugleich in den veröffentlichten Voraussetzungskatalogen und FAQs zeige. Diese hätten sich fast täglich zu Lasten der Antragsteller verändert. Es sei den Unternehmern eine unbürokratische einmalige Zuwendung „ohne Wenn und Aber“ versprochen worden, worauf man angesichts politischer Äußerungen auch vertraut habe. Der Liquiditätsengpass stelle keinen adäquaten Maßstab zur Bestimmung der Höhe der Soforthilfe dar, weil sich in ihm der Umsatzausfall nicht spiegle. Es handle sich um ein willkürliches Kriterium, welches falsche Anreize zur Verwendung der Soforthilfe setze. So müsse ein Unternehmen, welches seine Rücklagen investiert habe, mangels Liquiditätsengpass zurückzahlen, während andere die Soforthilfe behalten könnten, obwohl beide gleichermaßen von pandemiebedingten Umsatzausfällen betroffen seien. Dies verzerre den Wettbewerb zu Gunsten liquiditätsschwacher Unternehmen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">den Schlussbescheid der Bezirksregierung L. -Az. 34.Soforthilfe-2020-370059- vom 19.12.2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt er aus, der Beklagte habe sich dazu entschieden, den Förderhöchstbetrag als vorläufige Pauschale auszuzahlen, um möglichst schnell Hilfe leisten zu können. Eine Ermittlung des Liquiditätsengpasses sei aber erst rückblickend möglich. Bei der Bewilligung habe es sich bloß um einen vorläufigen Verwaltungsakt gehandelt. Das komme im Begriff der „einmaligen Pauschale“ und vor allem durch die Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids zum Ausdruck und werde durch die zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten allgemeinen Informationen bestätigt. So seien die Bescheide auch von einem Großteil der Betroffenen verstanden worden, da weniger als ein Prozent der Bescheide beklagt worden sei. Die Berechnung des Liquiditätsengpasses erfolge nach der Soforthilfe-Richtlinie, die zwischen Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen differenziere. Den Antrag habe man danach auch auf Basis eines bloßen Umsatzausfalls stellen können, ein endgültiger Anspruch bestehe aber nur bei einem Liquiditätsengpass. Dies entspreche dem Sinn der Förderung, finanzielle Notlagen abzumildern, worauf auch in den Antragsunterlagen hingewiesen worden sei. Die Soforthilfe-Richtlinie stelle auch keinen Fall unzulässiger Rückwirkung dar, weil sie bloß verwaltungsintern wirke.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft. Denn die Klägerin wendet sich gegen den Schlussbescheid vom 19.12.2021, der eine rein belastende Regelung darstellt. Die mit dem Schlussbescheid getroffenen Regelungen führen nämlich noch unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Bewilligungsbescheid und Schlussbescheid dogmatisch zu bewerten ist, jedenfalls dazu, dass der Klägerin eine ihr bereits durch den Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 gewährte subjektive Rechtsposition – die gewährte Förderung von 25.000,00 EUR sowie damit verbunden das Recht, diese Förderung während des Bestands des Bewilligungsbescheids behalten zu dürfen – entzogen wird. Dieser Belastung kann sie sich entsprechend ihres maßgeblichen Klagebegehrens nach § 88 VwGO am besten erwehren, indem sie den Schlussbescheid anficht. Es liegt insbesondere auch kein Fall einer vorrangigen Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 S. Alt. VwGO vor, weil es der Klägerin nicht darum geht, einen materiellen Anspruch durch das Erzwingen des Erlasses eines Verwaltungsakts durchzusetzen. Sie kann durch eine Verpflichtungsklage etwa gerichtet auf Erlass eines Schlussbescheids anderen Inhalts keine Erweiterung ihrer subjektiven öffentlichen Rechte erreichen, da sie bereits aufgrund des Bewilligungsbescheids die Maximalförderung zugesprochen bekommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die auch im Übrigen zulässige Klage ist zudem begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 19.12.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Beklagte hat die mit Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 gewährte Soforthilfe zu Unrecht auf einen Betrag von 5.291,00 EUR festgesetzt (Ziffer 2. des Schlussbescheids) und einen Betrag von 19.709,00 EUR zurückgefordert (Ziffer 3. des Schlussbescheids).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte geht bereits im Ausgangspunkt zu Unrecht davon aus, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 lediglich um eine vorläufige Bewilligung handelt, die er durch einen Schlussbescheid ersetzen durfte (dazu I.). Selbst wenn man dies anders sähe und von einer vorläufigen Bewilligung ausginge, wäre die Klage aber immer noch begründet, da der Beklagte sich durch die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids vom 19.12.2020 in rechtlich nicht zulässiger Weise über verbindliche Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 hinweggesetzt hätte (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom [00.00.0000] trifft hinsichtlich der der Klägerin gewährten Zuwendung in Form der Soforthilfe eine endgültige Regelung und stellt insoweit keinen sogenannten vorläufigen Verwaltungsakt dar.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Von einem vorläufigen Verwaltungsakt ist im Bereich der Zuwendungsgewährung auszugehen, wenn die Zuwendung unter dem Vorbehalt einer späteren abschließenden Entscheidung bewilligt wird. Ein solcher Bewilligungsbescheid ist in seinem Regelungsinhalt dahingehend eingeschränkt, dass der Begünstigte die Zuwendung zunächst nur vorläufig bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung behalten darf. Ob ein Anspruch auf das endgültige Behaltendürfen der Zuwendung besteht, hängt dagegen von dem Inhalt des abschließenden Bewilligungsbescheids, des Schlussbescheids ab.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 33, juris; BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 14 juris.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Bedürfnis für eine solche lediglich vorläufige Regelung kann insbesondere dann bestehen, wenn zum Erlasszeitpunkt des vorläufigen Bescheids eine tatsächliche Unsicherheit besteht. Das Subventionsverhältnis wird dabei zunächst durch den Zuwendungsbescheid geregelt, der aber unter den Vorbehalt der späteren Festsetzung gestellt wird und damit auf eine Ergänzung durch einen weiteren Verwaltungsakt angelegt ist, durch den die Zuwendung in den offen gehaltenen Punkten abschließend geregelt werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 15 juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 63, juris.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Vorbehalt endgültiger Regelung bewirkt, dass die Behörde die vorläufige Regelung im Ausgangsbescheid durch die endgültige Regelung im Schlussbescheid ersetzen kann, ohne insoweit an die Einschränkungen der §§ 48, 49 VwVfG gebunden zu sein. Bei einer späteren endgültigen Regelung durch einen Schlussbescheid bedarf es insoweit keiner Aufhebung der unter Vorbehalt ergangenen Bewilligung, da diese durch den Schlussbescheid ersetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 16, juris; OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); HK-VerwR/Kyrill-Alexander Schwarz, 5. Aufl. 2021, VwVfG § 35 Rn. 28; Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 245.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Wie weit der Vorbehalt der endgültigen Regelung reicht und ob er die Bewilligung insgesamt oder nur Teilregelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids umfasst, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Denn die Vorläufigkeit muss sich nicht auf den ersten Bescheid insgesamt beziehen, sondern kann und muss gegebenenfalls auf einzelne Aspekte beschränkt sein. Es können also auch bereits im vorläufigen Bewilligungsbescheid endgültige Teil-Regelungen getroffen und dem Adressaten insoweit gesicherte (Teil-) Rechtspositionen vermittelt werden. Auch wenn daher die Behörde einen unter Vorbehalt gestellten Verwaltungsakt später durch einen Schlussbescheid ersetzt, so kommt eine inhaltlich abweichende Regelung im Schlussbescheid - außer in den Fällen der §§ 48, 49 VwVfG - nur in Betracht, wenn sie aus den Gründen ergeht, wegen derer die frühere Regelung unter Vorbehalt gestellt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –,Rn. 17, juris.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unterliegen insoweit der Auslegung aus Sicht eines objektiven Empfängers entsprechend der §§ 133, 157 BGB. Das Gericht hat den Bewilligungsbescheid dahin zu erforschen, wie der Adressat ihn unter Berücksichtigung der ihm bekannten oder erkennbaren Umstände bei objektiver Auslegung verstehen musste.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 – 10 C 5.17 –,Rn. 25, juris; BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, Rn. 14, juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 56, juris; OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 5, juris.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Abzustellen ist dabei auf Sicht des Adressaten zum Erlasszeitpunkt des ursprünglichen Bewilligungsbescheides unter Berücksichtigung allein der zu diesem Zeitpunkt bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umstände. Nach Erlass eines Zuwendungsbescheides kann die Behörde nicht mehr frei über die Auslegung von darin verwandten Begrifflichkeiten entscheiden. Der Bescheid hat insoweit Fakten geschaffen, über die sie sich auch im Rahmen des Zuwendungsrechts nicht nach Ermessen hinwegsetzen kann.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 7, juris.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Welche Teile des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung stehen und welche bereits im ursprünglichen Bescheid endgültige Regelungen treffen, muss sich vor allem aus dem vorläufigen Bewilligungsbescheid selbst ergeben. Insoweit muss in diesem ausdrücklich bezeichnet oder zumindest eindeutig erkennbar sein, hinsichtlich welcher Regelung die Erlassbehörde sich eine spätere Entscheidung vorbehalten will. Dies folgt einerseits aus dem Gebot hinreichender Bestimmtheit von Verwaltungsakten im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG, andererseits mit Blick auf den Vertrauensschutz des Adressaten. Unklarheiten gehen zu Lasten der Erlassbehörde, die es insoweit in der Hand hat, Bestimmtheits- oder Auslegungsprobleme durch eindeutige Formulierungen im ursprünglichen Bescheid zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 247.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen ist es nicht ausreichend, wenn sich die Auslegung als vorläufiger Verwaltungsakt lediglich als noch mögliche Deutung neben einer Vielzahl weiterer möglicher Auslegungen darstellt. Es genügt für die Annahme eines Regelungsvorbehalts nicht, dass ein Bewilligungsbescheid als vorläufiger Verwaltungsakt verstanden werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104 – 105, juris.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist es erforderlich, dass der Regelungsvorbehalt aus dem Bescheid sowie den erkennbaren Umständen für einen objektiven Empfänger als die einzig sinnvolle Deutung erscheint und sich dieses Verständnis dem objektiven Empfänger aufdrängen muss. Dabei gebieten es die mit dem Vorbehalt späterer endgültiger Entscheidung verbundene Folge des Ausschlusses von Vertrauensschutz und die Verwandtheit dieser Regelungsweise mit Befristung, Bedingung und Widerrufsvorbehalt (§ 36 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwVfG),</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, 3 C 7.09, juris, Rn. 20,</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">strenge Anforderungen an die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots (§ 37 VwVfG NRW) für die Vorläufigkeit einer Regelung und ihres genauen Umfangs zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, 15 A 708/88, NVWZ 1991, 588 (589); Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 160; König, BayVBl. 1989, 36; Martens, DÖV 1987, 998.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab ist der Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 dahin auszulegen, dass er die der Klägerin gewährte Förderung insbesondere auch der Höhe nach endgültig regelt. Der Beklagte hat sich im insoweit allein maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 den Erlass eines Schlussbescheides weder ausdrücklich noch zumindest noch ausreichend deutlich vorbehalten, sondern den Antrag der Klägerin vom 01.04.2020 – auch hinsichtlich der Höhe der Soforthilfe – in Wahrheit abschließend beschieden.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 bringt an keiner Stelle, insbesondere im Tenor und/oder in den einschlägigen Ziffern II. 3., 4. und 8. der Nebenbestimmungen, die Vorläufigkeit bzw. Vorbehaltlichkeit der Gewährung der Soforthilfe für den objektiven Empfängerhorizont mit (noch) hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Ausreichend, aber auch notwendig wäre es hierzu gewesen, einen entsprechenden Entscheidungsvorbehalt bzw. eine Vorläufigkeit der Bewilligung der Zuwendung mit Blick auf eine erst zukünftig (abschließend) zu bewilligende Zuwendung mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit zum Inhalt des Bescheids zu machen. Das ist hier nicht geschehen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid enthält unter Ziffer „1. Bewilligung“ die der Höhe nach einschränkungslose „Bewilligung“ einer „Soforthilfe i.H.v. 25.000,00 €“. Ein Hinweis auf eine etwaige Höchstbetragsförderung mit späterer endgültiger Abrechnung etwa über den Zusatz „bis zu 25.000,00 €“, der sich gerichtsbekannt in einer Fülle von Bewilligungsbescheiden der Bezirksregierung L. bei anderen Förderprogrammen findet, fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Bewilligung „als einmalige Pauschale“ spricht ebenfalls nicht hinreichend deutlich für eine vorläufige Regelung zur Höhe der Corona Soforthilfe. Denn die Wortbedeutung erfasst zwar auch eine vorläufige Geldsumme, die man vor der endgültigen Abrechnung erhält. Eine einmalige Pauschale kann aber auch als ein Geldbetrag, der mehrere Teilsummen zusammenfasst, die nicht einzeln abgerechnet werden, verstanden werden. Ebenso kann der Begriff der Pauschale auch genau umgekehrt zu der von dem Beklagten vorgenommenen Deutung verstanden werden, dass nämlich gerade keine genaue Ermittlung des durch die Förderung zu kompensierenden Ausfalls erfolgen soll, sondern dieser durch eine einmalige – z. B. aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder Beschleunigung vorgenommene – Pauschalzahlung abgegolten wird. Diese mehrfache Wortbedeutung schließt die erforderliche Bestimmtheit im oben dargelegten Sinn aus.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch die Festlegung eines dreimonatigen Bewilligungszeitraums in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 zwingt nicht zu dem Schluss, es handle sich um eine bloß vorläufige Bewilligung. Die Festlegung eines Bewilligungszeitraums ist keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal eines vorläufigen Verwaltungsakts, sondern erfolgt regelmäßig auch bei endgültigen Förderbescheiden. Dies macht auch bei endgültigen Förderbescheiden, denen ebenfalls ein Verwendungsnachweisverfahren – ggfs. verbunden mit einem Widerrufsverfahren nach § 49 Abs. 3 VwVfG – nachgeschaltet sein kann, Sinn, um den relevanten Zeitraum hinsichtlich förderungsrelevanter Ausgaben und Kosten zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Der im Zuwendungsbescheid unter Ziffer II. 3. der Nebenbestimmung zu findende Passus,</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraumes feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der Landeskasse....unter Angabe des Aktenzeichens zurückzuzahlen. ...“,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">reicht nicht aus, um hierdurch einen Vorläufigkeitsvorbehalt mit hinreichender Bestimmtheit begründen zu können. Zwar kommt in ihm zum Ausdruck, dass die ausgezahlte Finanzhilfe noch von zukünftigen Faktoren abhängig ist, die zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht feststehen. Es gibt jedoch unterschiedlichste verwaltungsrechtliche Regelungsmöglichkeiten, wie mit solchen zukünftigen Faktoren umgegangen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. instruktiv BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 23 ff., juris.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist aus Sicht eines objektiven Empfängers nicht als Vorbehalt einer abschließenden Behördenentscheidung zu verstehen. Mit dieser Regelung wurde vielmehr von der Klägerin nach dem eindeutigen Wortlaut eine von ihr selbst und eigenverantwortlich vorzunehmende nachträgliche Berechnung von Ist-Werten zur tatsächlichen Höhe des Umsatzausfalls und des Liquiditätsengpasses während des Bewilligungszeitraums verlangt, mit der Folge die selbsttätig errechneten zu viel gewährten Unterstützungsgelder zurückzuzahlen. Aus dieser selbsttätig und eigenverantwortlich vorzunehmenden Berechnungs- und Prüfpflicht des Zuwendungsempfängers und einer hieraus gegebenenfalls resultierenden Rückzahlungspflicht kann unter Anwendung des gebotenen strengen Maßstabs nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont nicht mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit entnommen werden, dass damit der Begünstigte die empfangene Leistung in jedem Fall nur vorläufig bis zum Erlass einer späteren endgültigen Regelung durch die Behörde behalten darf. Denn von einem irgendwie gearteten – nachträglichen – Tätigwerden der Behörde ist hier überhaupt nicht die Rede. Dies gilt umso mehr für den Fall, dass die selbsttätig und eigenverantwortlich vom Begünstigten vorgenommene Berechnung keinen zu viel gezahlten Betrag ergeben sollte. Eine vorbehaltene endgültige Festsetzung der Höhe der Soforthilfe in einem zweiten Verwaltungsakt ist damit in dieser Regelung nicht vorgesehen. Soweit in dieser Regelung ein Hinweis auf ein späteres Rückmeldeverfahren gesehen wurde,</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">kann die erkennende Kammer einen solchen Hinweis weder dem Wortlaut noch dem Sinn der Regelung entnehmen. Ein solches Verfahren wird in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, der ausdrücklich nur den Bescheidadressaten anspricht, nicht erwähnt.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Es dürfte viel dafür sprechen, dass es sich stattdessen bei dieser Regelung um eine Auflage i.S.v. § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW handelt. Einem solchen Verständnis könnte jedenfalls nicht entgegengehalten werden, dass die Konstruktion einer nachträglichen Kontrolle der Förderung durch Begründung einer Mitwirkungsverpflichtung zur Selbstkontrolle in Form einer Auflage ungeeignet wäre, um eine angemessene Überprüfung der Förderung zu ermöglichen. Denn wenn es in diesem Fall dazu käme, dass ein Adressat einer solchen Mitwirkungsverpflichtung nicht nachkäme, stehen im Rahmen des allgemeinen Verwaltungsrechts geeignete Möglichkeiten zum Beispiel in Form eines Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG zur Verfügung, um die benötigten Angaben zu ermitteln und gegebenenfalls überzahlte Beträge zurückzufordern. Ob es sich bei der Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 tatsächlich um eine Auflage handelt und welcher Inhalt dieser genau zukommt, kann offenbleiben. Denn der Beklagte hält der Klägerin in dem angefochtenen Schlussbescheid einen solchen Auflagenverstoß jedenfalls nicht vor. In der von dem Beklagten umgesetzten „Rückmeldung des Liquiditätsengpasses NRW Soforthilfe 2020“ der Klägerin vom 31.10.2021 heißt es dementsprechend: „Dieses Rückmelde-Formular dient der Meldung des vorzeitig freiwillig ermittelten Liquiditätsengpasses….“. Bei einer freiwilligen Ermittlungstätigkeit des Zuwendungsempfängers selbst handelt es sich aber nicht um die behördliche Ausübung einer im Bewilligungsbescheid gemachten vorläufigen Regelung.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Ein Vorbehalt einer späteren Entscheidung ergibt sich auch nicht aus den Regelungen in den Ziffern II. 4., 5. und 8. des Bewilligungsbescheids.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 4. enthält eine Regelung hinsichtlich eventueller Rückzahlungspflichten wegen falscher Angaben bei der Antragstellung oder wegen Überkompensation. Damit wird lediglich eine Rückzahlungspflicht für diese Fälle geregelt, ohne dass sich hierin die Vorläufigkeit der Bewilligung insgesamt in hinreichender Klarheit ausdrücken würde.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">In Ziffer II. 5. wird sich ausdrücklich „im Einzelfall“ eine spätere Verwendungsprüfung vorbehalten, was jedenfalls keinen Vorbehalt einer abschließenden Entscheidung für die Gesamtförderung begründet. Die Existenz eines Verwendungsnachweisverfahrens für sich allein genommen ist insoweit ebenfalls nicht aussagekräftig, weil eine Verwendungsnachweisprüfung auch bei endgültigen Förderbescheiden stattfindet und gegebenenfalls etwa im Falle der zweckwidrigen Verwendung zu einem Rückforderungsverfahren nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG führen kann. Allein die Notwendigkeit eines nachträglichen Verwendungsnachweises besagt für sich genommen dementsprechend nichts über die Frage der Vorläufigkeit einer Zuwendungsbewilligung aus. Diese ergibt sich erst im Zusammenspiel mit etwaigen weiteren Regelungen eines Bescheides, etwa in der Zusammenschau mit einer Höchstbetrags-/Anteilsfinanzierung. Anderweitige Anzeichen für eine vorläufige Regelung finden sich im Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 aber gerade nicht. Außerdem wäre sinnlos, zu formulieren, dass „im Einzelfall eine Prüfung“ vorbehalten wird, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Da im Bewilligungsbescheid nach alledem keine erkennbaren und belastbaren Anhaltspunkte für eine bloß vorläufige Bewilligung vorliegen, käme die Annahme, dass der Bescheid gleichwohl eine bloße vorläufige Bewilligung regelt, wenn überhaupt nur noch in Betracht, wenn sich für den objektiven Adressaten aus sonstigen Umständen zwingend der Schluss aufdrängen musste, dass der Bescheid – gleichsam entgegen seines Wortlauts – lediglich eine bloß vorläufige Bewilligung ausspricht. Zu einem derartigen Schluss zwingen aber weder die Antragsunterlagen, die nach Ziffer 2. des Bewilligungsbescheides Bescheidbestandteil sind, noch die sonst zum Bewilligungszeitpunkt verfügbaren Informationen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">In den Antragsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein expliziter Hinweis darauf, dass eine Bewilligung bloß vorläufig erfolgen und nach Ablauf des Bewilligungszeitraums ein späteres Rückmeldeverfahren mit Erlass eines Schlussbescheides stattfinden solle. Insbesondere kann aus der in Ziffer 6.11 der Antragsunterlagen abgegebenen Versicherung, es sei bekannt, dass der Zuschuss im Falle einer Überkompensation zurückzuzahlen sei, kein Schluss auf eine bloß vorläufige Bewilligung gezogen werden. Denn allein die abstrakte Verpflichtung zur Rückzahlung einer Überkompensation sagt nichts darüber aus, wie eine solche Rückzahlungsverpflichtung verwaltungsverfahrensrechtlich konstruiert wird. Auch insoweit kämen neben einer bloß vorläufigen Bewilligung alternative Gestaltungen – z. B. in Form einer auflösenden Bedingung oder eines späteren Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 VwVfG – in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Auch die übrigen zum Zeitpunkt der Bewilligung veröffentlichten Informationen zwingen nicht zum Schluss, es finde mit dem Bewilligungsbescheid lediglich eine vorläufige Bewilligung statt. Soweit in den „Eckpunkte[n] zur Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie dem Bundesministerium der Finanzen vom 23.03.2020 ausgeführt ist, dass die „Finanzielle Soforthilfe „…. Bis 9.000,00 € … bzw. Bis 15.000,00 € …“ betrage und es in den „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ (Stand 30.03.2020) heißt, dass ein einmaliger Zuschuss „von bis zu 9.000,00 €“ bzw. „bis zu 15.000,00 € beantragt werden könne sowie der Antragsteller eine „einmalige Soforthilfe“ beantrage, deren Höhe sich bis zur Höchstgrenze von 9.000,00 € an dem vom Antragsteller glaubhaft versicherten Liquiditätsengpass für drei aufeinander folgende Monate“ orientiere, kommt damit nicht zugleich hinreichend deutlich im Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 selbst eine Höchstbetragsfinanzierung unter Vorbehalt einer späteren endgültigen Bewilligung zum Ausdruck. Denn der Bewilligungsbescheid bewilligt im Gegensatz zu diesen Regelungen nach seinem eindeutigen Wortlaut eine „Soforthilfe i.H.v. 25.000,00“ und enthält gerade nicht den Zusatz „bis zu“.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass andere veröffentlichte Informationen im Gegenteil zu dem Schluss berechtigen konnten, dass der Förderbetrag in Maximalhöhe und endgültig bewilligt wird. In den von dem Beklagten veröffentlichten FAQs, die insoweit für die Allgemeinheit Hinweise und Informationen zur Förderung durch die Soforthilfe des Beklagten geben sollen und daher von einem objektiven Empfänger zur Auslegung des Bewilligungsbescheids herangezogen werden können, heißt es etwa in der Fassung vom 31.03.2020 (Anlage B9, Beiakte 002) auf die Frage „Wie hoch ist die Förderung?“</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">„Die Soforthilfe erfolgt im Rahmen eines einmaligen, nicht rückzahlbaren Zuschusses. Sie […] beträgt für drei Monate: 9.000 Euro für antragsberechtigte Solo-Selbstständige und Antragsberechtigte mit bis zu 5 Beschäftigten“.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob geprüft wird, ob dem Antragsteller die Hilfe wirklich zugestanden hat und wenn nein, ob die Hilfe ggfs. zurückgezahlt werden muss, antworten die FAQs vom 27.03.2020 noch (Anlage B4, Beiakte 002):</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">„Der Antragsteller versichert im Formular, dass er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen und wahrheitstreu gemacht hat. […] Da dem Antrag die Steuernummer bzw. die Steuer-ID beizufügen ist, hat das Finanzamt die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu prüfen. […] Stellt sich am Ende der Bezugszeit von drei Monaten heraus, dass der Antragsberechtigte mehr erhalten hat, als sein Schaden war, ist er gehalten, das überschüssige Geld zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage „Muss nachgewiesen werden wofür der Zuschuss eingesetzt wird?“ wurde in den FAQs vom 29.03.2020 (Ablage B8, Beiakte 002) noch geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">„Nein, ein solcher Nachweis muss nicht erbracht werden.“</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Auch hier ist an keiner Stelle auch nur ansatzweise die Rede davon, die Soforthilfe würde lediglich vorläufig bewilligt und dann in einem separaten Verfahren durch einen Schlussbescheid des Beklagten abschließend festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte sich darüber hinaus auf nach dem Erlasszeitpunkt des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 veröffentlichte Hinweise und Regelwerke, insbesondere auf die Soforthilfe-Richtlinie oder die zwischen Bund und dem Beklagten geschlossene Verwaltungsvereinbarung beruft, kann dahinstehen, ob diese für die von dem Beklagten vertretene Auslegung des Bewilligungsbescheids sprechen. Denn ihnen kann von vornherein keine Bedeutung für die Auslegung des Bewilligungsbescheids zukommen, da der maßgebliche objektive Empfängerhorizont des Bescheidempfängers sich von vornherein nur anhand der im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits bekannten Gesamtumstände bemessen kann. Hierzu gehören später ergangene Regelwerke ersichtlich nicht. Dem Umstand, dass dieser Erlass in rechtlicher Hinsicht mit Rückwirkung zum 27.03.2020, dem ersten Tag der Freischaltung des Online-Antragsverfahrens, in Kraft getreten ist, kommt für die hier allein maßgebliche Frage der Bescheidauslegung ebenfalls keine Bedeutung zu. Denn das rechtlich rückwirkende Inkrafttreten ändert nichts daran, dass die Richtlinien im Zeitpunkt des Bescheiderlasses tatsächlich noch nicht existent und dementsprechend für die Betroffenen schlicht nicht erkennbar waren. Auf die weiteren zwischen den Beteiligten aufgeworfenen Fragen der rechtlichen Zulässigkeit eines rückwirkenden Inkrafttretens kommt es danach nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch den Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der Förderung ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis, an welche die Behörde im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG als objektivem Rechtmäßigkeitskriterium gebunden war.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. April 2003 – 3 C 25.02 –, Rn. 17, juris; OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2022 – 4 A 2368/18 –, Rn. 8 f., juris mit weiteren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Es entsprach gerichtsbekanntermaßen zum Bewilligungszeitpunkt der ständigen Praxis des Beklagten, im Rahmen der Bewilligung von Förderanträgen der Soforthilfe 2020 die Bewilligungsbescheide entsprechend der im verfahrensgegenständlichen Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 getroffenen Formulierungen zu fassen. Ein offensichtlicher Verstoß gegen zum Bewilligungszeitpunkt bereits vorliegende Verwaltungsvorschriften des Beklagten ist insoweit weder vorgetragen noch ersichtlich und wäre auch unerheblich, weil es nicht darauf ankommt, wie die Verwaltungsvorschriften auszulegen sind, sondern allein darauf, wie die Bewilligungsbehörde die Verwaltungsvorschriften in ihrer ständigen tatsächlichen Praxis anwendet.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1979 – 3 C 111.79 –, Rn. 24 – 25, juris; VGH BW, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 9 S 2244/15 –, Rn. 127, juris.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Eine etwa vom Beklagten nach seinem Vorbringen möglicherweise gewollte andersartige Verwaltungspraxis zur Vorläufigkeit der Bewilligungsbescheide ist hingegen irrelevant. Allein maßgeblich ist, was der Beklagte in den Bewilligungsbescheiden objektiv zum Ausdruck gebracht hat.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend wäre es auch unerheblich, wenn der Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 den Regelungen der Soforthilfe-Richtlinie widerspräche. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass unabhängig von der Frage, ob eine rückwirkende Inkraftsetzung von Verwaltungsvorschriften zulässig ist oder nicht, eine zum Zeitpunkt der ausgeübten Verwaltungspraxis schlicht noch nicht existente Verwaltungsvorschrift auf eine tatsächlich ausgeübte, also bereits stattgefundene Verwaltungspraxis denklogisch keinen Einfluss haben und diese nicht prägen kann.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Selbständig entscheidungstragend ist das Gericht der Auffassung, dass die Klage der Klägerin auch dann begründet ist, wenn entgegen dem vorstehend Ausgeführten angenommen wird, dass mit dem Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 die Corona-Soforthilfe hinsichtlich ihrer Höhe nur vorläufig bewilligt worden wäre und der „Schlussbescheid“ vom 19.12.2021 diesen – vorläufigen – Bewilligungsbescheid in seinem Regelungsumfang ersetzt habe. Auch dann erweist sich der angefochtene „Schlussbescheid“ als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Wie bereits dargelegt wurde, sind auch im Falle eines vorläufigen Verwaltungsakts nur die Regelungsbestandteile einer abschließenden Regelung durch Schlussbescheid zugänglich, die auch im ursprünglichen Bewilligungsbescheid unter einen entsprechenden Vorbehalt gestellt wurden. Andere Regelungsbestandteile können bereits abschließende Regelungen enthalten und insoweit nur unter den Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG abgeändert werden.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wäre der Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 jedenfalls dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen, unter denen der Beklagte die Förderhöhe abweichend festsetzen könnte, bereits im Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 abschließend geregelt wurden. (dazu 1.). Diesen Vorgaben widerspräche die Festsetzung der Soforthilfe durch den Schlussbescheid vom 19.12.2021 (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 macht die Rückzahlung von zwei Voraussetzungen abhängig: Die zu viel gezahlten Mittel sind zurückzuzahlen, wenn die Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich des Liquiditätsengpasses benötigt werden. Es handelt sich hierbei um zwei grundsätzlich zu unterscheidende Merkmale, nämlich den Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum abzgl. eingesparter Kosten einerseits und die Deckung des Liquiditätsengpasses andererseits. Diese Rückforderungsvoraussetzungen stehen – selbst wenn man entgegen der obigen Würdigung von einer lediglich vorläufigen Festsetzung der Förderungshöhe ausgeht – jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt einer späteren – u.U. auch abweichenden – Entscheidung, sondern werden durch den Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 abschließend festgelegt. Es finden sich im Bewilligungsbescheid keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch die Festlegung der Rückzahlungsvoraussetzungen erst unter Vorbehalt erfolgen sollte. Ein diesbezüglicher Vorbehalt wäre rechtlich auch kaum in zulässiger Weise gestaltbar, denn anders als hinsichtlich der Förderhöhe besteht jedenfalls hinsichtlich eventueller Rückforderungsvoraussetzungen weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Unsicherheit, die es rechtfertigen würde, die Rückforderungsvoraussetzungen von einer späteren Entscheidung abhängig zu machen. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids definierten Voraussetzungen einer Rückzahlungsverpflichtung zugleich definieren, was überhaupt förderfähige Ausgaben im Rahmen des Zuwendungsverhältnisses sind. Schon aus Gründen des Vertrauensschutzes kann es dem Beklagten nicht möglich sein, eine Zuwendung zu bewilligen und auszuzahlen und erst später zu entscheiden, welche Art von Ausgaben mit dieser Zuwendung überhaupt dem Grunde nach gefördert werden soll. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine grundlegende Entscheidung, die der Zuwendungsgeber bereits bei der Begründung des Zuwendungsverhältnisses durch den vorherigen Bewilligungsbescheid treffen kann und hier durch die Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 auch getroffen hat.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 106, juris, wo von der Festlegung von Berechnungsgrößen durch den Bewilligungsbescheid gesprochen wird.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Diese Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist dahin auszulegen, dass sie eine Rückforderung nur dann und auch nur soweit vorsieht, wie die gewährte Förderung sowohl den Liquiditätsengpass als auch den Umsatzausfall überschreitet. Es genügt dagegen nach dieser Regelung nicht, dass lediglich einer dieser beiden Parameter durch die Förderung überschritten wird.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Ausgangspunkt dieses Verständnisses ist der Wortlaut der Regelung in Ziffer II. 3., dem bei der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts besonderes Gewicht beizumessen ist. Die dort geregelten beiden Voraussetzungen werden durch die Konjunktion „und“ verbunden, was für den objektiven Empfänger die Rückzahlungsverpflichtung vom kumulativen Vorliegen beider Voraussetzungen abhängig macht. Aus dem Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 ergeben sich dagegen keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Verbindung der beiden Voraussetzungen durch „und“ hier als alternative Verbindung im Sinne eines „oder“ zu lesen sein soll. Erst Recht kann entgegen der Ansicht des Beklagten dem übrigen Bescheid kein Anhalt dafür entnommen werden, der Umsatzausfall sei hinsichtlich der Förderungshöhe gänzlich irrelevant. Wäre dies tatsächlich die Regelungsabsicht des Beklagten gewesen, wäre es widersinnig gewesen, den Umsatzausfall im Bewilligungsbescheid – und dann auch noch an der entscheidenden Stelle der Regelung der Rückzahlungsvoraussetzungen – überhaupt zu erwähnen. Soweit der Beklagte damit argumentiert, in Ziffer 2. des Bescheids werde als Zuwendungszweck die Milderung finanzieller Notlagen festgelegt, was bei einem bloßen Umsatzausfall nicht gegeben sei, dringt er mit diesem Einwand nicht durch. Es liegt im Verantwortungsbereich des Beklagten, im Rahmen der Zweckbestimmungsformulierung in seinen Bescheiden eindeutig und möglichst unmissverständlich festzulegen, welchen Zweck er mit der Zuwendung begünstigen will und welche Ausgaben er als von diesem Zweck erfasst ansieht. Der Begriff der „Milderung der finanziellen Notlagen“ schließt es nicht begriffsimmanent aus, hierunter auch erhebliche pandemiebedingte Umsatzausfälle zu fassen. Vielmehr dürfte der objektive Empfänger angesichts der expliziten und in seiner Bedeutung gegenüber dem Liquiditätsengpass in keiner erkennbaren Form eingeschränkten Erwähnung des Umsatzausfalls davon ausgehen, dass auch pandemiebedingte Umsatzausfälle von dem Beklagten als im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehende finanzielle Notlagen definiert werden.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Auch aus den übrigen zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides erkennbaren objektiven Umständen musste sich dem Bescheidadressaten nicht aufdrängen, dass Umsatzausfälle – entgegen des Bescheidwortlauts – mit der Soforthilfe nicht zumindest auch abgedeckt werden sollten.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">So war bereits in den Antragsunterlagen unter Ziffer 6.1 unter anderem zu versichern, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Förderantragstellers durch die Corona-Krise wesentlich beeinträchtigt wurde, weil „die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind“ oder „die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen“. Auch an dieser Stelle werden Umsatzausfall einerseits und ein Liquiditätsengpass (ein solcher dürfte mit der zitierten Formulierung gemeint sein) andererseits gleichrangig neben anderen Fördervoraussetzungen, auf die es hier nicht ankommt, erwähnt. Die Verbindung dieser einzeln aufgezählten Versicherungen erfolgte durch die Konjunktion „oder“, was aus Sicht eines objektiven Empfängers zu dem Schluss nötigt, dass bereits das Vorliegen einer der genannten Versicherungen zur Antragsstellung genügt. Hätte von vornherein festgestanden, dass es im Rahmen der Förderung immer nur um die Deckung eventueller Liquiditätsengpässe gehen sollte, so wäre eine derartig differenzierte Aufzählung nicht erforderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund überzeugt es auch nicht, wenn der Beklagte meint, in den Antragsunterlagen werde der Liquiditätsengpass an anderer Stelle in den Vordergrund gestellt, namentlich in Ziffer 5. und Ziffer 6.2. Hieraus musste ein objektiver Adressat angesichts der alternativen Abfrage von Umsatzausfall und Liquiditätsengpass unter Ziffer 6.1 nicht den Schluss ziehen, allein die Deckung von Liquiditätsengpässen im engeren Sinn sei Gegenstand der Förderung. Ebenso wie im Bescheid wäre es dann nämlich sinnlos, überhaupt eine Versicherung hinsichtlich eines eventuellen Umsatzausfalls zu verlangen, da es in einem solchen Fall auch genügt hätte, einfach eine Versicherung hinsichtlich eines Liquiditätsengpasses zu verlangen. Die von dem Beklagten erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgeworfene Differenzierung zwischen Antragsvoraussetzungen einerseits- und Anspruchsvoraussetzungen andererseits, nach der ein Umsatzausfall zwar zur Antragstellung berechtige, aber nichts über die Förderhöhe aussage, ist demgegenüber in den Antragsunterlagen weder offen noch indirekt angelegt. Da es bereits widersinnig ist, im Rahmen einer vorläufigen Bescheidung wie der Beklagte meint allein über die grundsätzliche Antragsberechtigung zu entscheiden – was soll einem Antragsteller die Feststellung einer derart isolierten Antragsberechtigung ohne spätere endgültige Förderung nützen? – hätte eine derartige Regelung eindeutig und von vornherein in den Antragsunterlagen angelegt sein müssen. Dies umso mehr als Ziffer 1.1 des Antragsformulars bereits regelt, wer „Antragsberechtigt“ ist. Ob eine solche Differenzierung in Antragsberechtigung und Anspruchsberechtigung in der Soforthilfe-Richtlinie angelegt ist, kann die Kammer dahinstehen lassen, da es auch in diesem Kontext auf die Soforthilfe-Richtlinie nicht ankommt. Denn wie bereits oben ausgeführt wurde, können zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schlicht noch nicht existente Umstände – wie der erst nachträgliche Erlass der Soforthilfe-Richtlinie – keine objektiv erkennbaren Umstände im Rahmen der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts darstellen.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Auch die im Internet abrufbaren und von dem Beklagten veröffentlichten FAQs bestätigen dieses Verständnis. So heiß es in der zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten Fassung vom 01.04.2020 (Anlage B10, Beiakte 003) zu der Frage „Was wird gefördert?“ wörtlich [Hervorhebungen im Original]:</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">„<span style="text-decoration:underline">Voraussetzung</span>: erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten in Folge von Corona. Dies wird angenommen wenn […]</p>
<span class="absatzRechts">102</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind […]</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong> […]</p>
<span class="absatzRechts">105</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Unternehmens […] zu zahlen (=Finanzierungsengpass).“</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Die von dem Beklagten veröffentlichten FAQs stellen also die Voraussetzungen der Förderung – hier als erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten beschrieben – wiederum in einen Zusammenhang mit Umsatzausfällen. Insbesondere ergibt sich aus der oben zitierten Formulierung abermals unter Verwendung der Konjunktion „oder“, dass bereits Umsatzausfälle zur Annahme von Finanzierungsengpässen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten genügen können. In der zuvor veröffentlichten Fassung der FAQs vom 29.03.2020 (Anlage B8, Beiakte 003) wurde auf die Frage, wie eine Überkompensation definiert sei, wörtlich geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">„Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält als sein tatsächlich eingetretener Schaden – also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z. B. Mietminderung) – ist“[…].</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Hier knüpft der Begriff der Überkompensation sogar im Schwerpunkt (insbesondere) an den Umsatzausfall und gerade nicht an einen Liquiditätsengpass an. Diese Formulierung entspricht hinsichtlich des Umsatzausfalls auch weitestgehend der Formulierung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020, was dessen Auslegung abermals bestätigt.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Angesichts sowohl des eindeutigen Wortlauts des Bewilligungsbescheids als auch der Vielzahl weiterer entsprechender Hinweise in den Antragsunterlagen und den FAQs ist aus Sicht eines objektiven Adressaten auch aus den übrigen zum Bewilligungsbescheid erkennbaren Umständen kein zwingender Schluss geboten, es würde im Rahmen der Förderung allein ein Liquiditätsengpass abgedeckt. Dass in einzelnen veröffentlichten Informationen – z. B. im Eckpunktepapier „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ vom 23.03.2020 und den Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes vom 30.03.2020 dagegen nur von Liquiditätsengpässen und nicht auch von Umsatzausfällen die Rede ist, steht gegenüber allen anderen Anzeichen eindeutig im Hintergrund. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund vieler sich widersprechender Informationen in der Fülle an veröffentlichten Informationen zur Corona-Soforthilfe.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Unerheblich für die Auslegung des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 ist dabei die Soforthilfe-Richtlinie, da diese zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht veröffentlicht, dementsprechend für einen objektiven Adressaten nicht wahrnehmbar und daher für die Ermittlung des Empfängerhorizonts irrelevant sind. Ob diese Dokumente die Auslegung des Beklagten, es komme nur auf einen Liquiditätsengpass an, tragen, kann dementsprechend dahinstehen.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber ist festzustellen, dass dieser Auslegung entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht das Klageverhalten der Gesamtmenge an Förderungsempfängern entgegengehalten werden kann. Soweit der Beklagte im Rahmen einer Art „statistischer Auswertung“ ausführt, dass von über 400.000 Zuwendungsempfängern nur 2.000 Empfänger den jeweils an sie adressierten Bescheid angefochten hätten und über 60.000 Empfänger freiwillig erklärt hätten, mangels eines Liquiditätsengpasses auf die Zuwendung zu verzichten, kann er hieraus keine Argumente für seine Lesart des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 ableiten. Die statistische Analyse des Beklagten hat hierzu keinerlei Aussagewert, da allein aus der Tatsache der Nichterhebung einer Klage keinesfalls der Schluss gezogen werden kann, der jeweilige Adressat habe den jeweiligen Bewilligungsbescheid inhaltsgleich verstanden wie der Beklagte. Hier können auch andere Faktoren – etwa das Vertrauen auf die Aussage des Beklagten als einer an das Rechtsstaatsprinzip gebundenen Behörde oder die Sorge vor mit einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verbundenen Kosten – erheblichen Einfluss auf die Klagebereitschaft der jeweiligen Adressaten gehabt haben.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch die Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der kumulativen Rückforderungsvoraussetzungen Umsatzausfall und Liquiditätsengpass ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Auch sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis. Auch insoweit entsprach es nämlich der allein maßgeblichen tatsächlichen Förderpraxis des Beklagten, Ziffer II. 3. der jeweiligen Bewilligungsbescheide einheitlich entsprechend der Fassung im Bescheid vom 01.04.2020 zu formulieren. Auch hier kommt es auf eine etwaig anders gewollte Verwaltungspraxis nicht an. Ob dies mit der Soforthilfe-Richtlinie vereinbar wäre, kann aus den bereits unter Ziffer I. genannten Gründen dahinstehen, da diese zum Bewilligungszeitpunkt die Verwaltungspraxis nicht prägen konnte, weil sie schlicht noch nicht existierte.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen wäre der Schlussbescheid vom 19.12.2021 auch bei Annahme einer bloß vorläufigen Bewilligung durch den Bescheid vom 01.04.2020 rechtswidrig, weil die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids jedenfalls unter Missachtung der nach obiger Darlegung kumulativ notwendigen beiden Voraussetzungen einer Rückforderung erfolgt wäre. Denn der Beklagte hat in seinem Schlussbescheid allein auf einen im Rahmen des Rückmeldeverfahrens abgefragten Liquiditätsengpass abgestellt, indem er seitens der Adressaten die Einnahmen und Ausgaben aus dem jeweiligen Bewilligungszeitraum abgefragt, die hieraus gebildete Differenz als Liquiditätsengpass festgestellt und zugleich die Soforthilfe in dieser Höhe festgesetzt hat. Dadurch hat er die zweite und nach dem Obenstehenden ebenfalls erforderliche Voraussetzung einer Rückforderung, dass nämlich die Finanzhilfe den Umsatzausfall übersteigt, ignoriert und sich über die verbindlichen Festsetzungen des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 hinweggesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Erforderlich wäre es stattdessen gewesen – ginge man entgegen der unter I. getroffenen Überlegungen überhaupt von einer vorläufigen Bewilligung hinsichtlich der Förderhöhe aus –, zunächst sowohl den Liquiditätsengpass als auch einen Umsatzausfall zu ermitteln. Denn eine Rückforderung kann nach der Formulierung der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 nur soweit erfolgen, wie die beiden dort genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass es zum Behaltendürfen der Förderung nach der Konzeption des Bescheids genügt, wenn die Förderung entweder zur Deckung des Umsatzausfalls oder des Liquiditätsengpasses benötigt wird. Übersteigt einer dieser beiden Parameter den anderen, darf daher nur insoweit zurückgefordert werden, wie die Finanzhilfe nicht auch zur Deckung des höheren Parameters benötigt wird. Dies folgt aus der Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens beider Voraussetzungen, sodass untechnisch gesprochen im Rahmen einer Rückforderung auf den adressatengünstigeren Parameter abzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid schon deswegen rechtswidrig wäre, kann dahinstehen, ob die Ermittlung des Liquiditätsengpasses und ihre Festsetzung in Ziffer 1. des Schlussbescheids vom 19.12.2021 selbst für sich rechtlich nicht zu beanstanden wäre und den Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 entsprochen hätte. Denn selbst wenn man hiervon ausginge, wäre der Schlussbescheid vom 19.12.2021 insgesamt aufzuheben, da nach der Bescheidkonzeption des Beklagten die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids und die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids in untrennbarem Zusammenhang stehen und der Beklagte kein berechtigtes Interesse hat, die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids isoliert bestehen zu lassen.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Ziffer 3. des Schlussbescheids ist nach alledem ebenfalls rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 49a Abs. 1 VwVfG, der nach ständiger Rechtsprechung im Fall der Ersetzung eines vorläufigen Bescheides durch einen Schlussbescheid entsprechende Anwendung findet,</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 24, juris; BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2016 – 10 C 8.15 –, Rn. 11, juris,</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">nicht vorliegen. Denn es handelt sich aus den unter Ziffer I. ausgeführten Gründen bei dem Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 nicht um einen der Ersetzung durch einen Schlussbescheid zugänglichen vorläufigen Verwaltungsakt. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Bescheids jedenfalls aus den oben unter Ziffer II. ausgeführten Gründen rechtswidrig erfolgt, sodass auch dann die Rückforderung rechtswidrig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid vom 19.12.2020 sich nach alledem bereits unter zwei selbstständig tragenden Gesichtspunkten als rechtswidrig erweist, kann die Kammer offenlassen, ob der Schlussbescheid darüber hinaus wegen Verstoßes gegen Verfahrens- oder Datenschutzvorschriften rechtswidrig ist.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Der Schlussbescheid vom 19.12.2020 konnte auch nicht nach § 47 Abs. 1 VwVfG zu einem Widerruf des Bewilligungsbescheids vom 01.04.2020 gemäß § 49 Abs. 3 VwVfG umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Der umgedeutete Verwaltungsakt darf dabei nicht den erkennbaren Absichten der erlassenden Behörde widersprechen, § 47 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Zunächst widerspräche eine solche Umdeutung den erkennbaren Absichten des Beklagten, der nachdrücklich davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 01.04.2020 allein um einen vorläufigen Verwaltungsakt handelt. Zudem ist nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 49 Abs. 3 S. 1 VwVfG überhaupt vorlägen. Insbesondere ein Auflagenverstoß kann der Klägerin nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht vorgeworfen werden. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre eine Umdeutung ausgeschlossen, weil ein Widerruf jedenfalls nicht in der geschehenen Verfahrensweise hätte erfolgen dürfen. Denn bei einem Widerruf wegen eines Auflagenverstoßes oder einer Zweckverfehlung im Einzelfall wäre jedenfalls eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG zwingend erforderlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. 709 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Berufung war gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 S. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zwar beruht die Entscheidung der Kammer auf der Auslegung eines einzelnen Verwaltungsakts. Dieser Verwaltungsakt ist jedoch inhaltsgleich mit einer Vielzahl von weiteren Bescheiden, gegen die ebenfalls Klage erhoben wurde. Es besteht vor diesem Hintergrund ein allgemeines Klärungsinteresse an der Rechtsmäßigkeit der mit der Fassung des Bescheids verkörperten Verwaltungspraxis der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">19.709,00 €</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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<p>Der Schlussbescheid der Bezirksregierung L. – Az. 34.Soforthilfe2020-557352 – vom 19.12.2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="h2 absatzLinks">T a t b e s t a n d</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger ist als Solo-Selbstständiger im Bereich Transportwesen gewerblich tätig.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im März 2020 zeichnete sich ab, dass Unternehmer und Selbstständige aufgrund verschiedener infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden. Daher legte der Bund zur Bereitstellung kurzfristiger Finanzhilfen das Förderprogramm „Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ auf. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentliche hierzu am 23.03.2020 ein Eckpunktepapier.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 30.03.2020 veröffentliche das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ auf seiner Homepage.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beschloss, das Programm des Bundes in vollem Umfang an die vorgesehenen Zielgruppen weiterzuleiten. Beide Maßnahmen wurden in dem Förderprogramm „NRW Soforthilfe 2020“ gebündelt. Die federführende Verantwortung lag bei dem damaligen Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf dessen Internetpräsenz waren häufige Fragen zum Förderverfahren, sog. FAQ, in verschiedenen Fassungen unter dem Link https://wirtschaft.nrw.de/nrw-soforthilfe-2020 abrufbar. Zu deren Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorgelegten Verwaltungsvorgänge (Beiakte 002) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 01.04.2020 schlossen der Beklagte und der Bund eine Verwaltungsvereinbarung über die „Soforthilfen des Bundes für die Gewährung von Überbrückungshilfen als Billigkeitsleistungen für „Corona-Soforthilfen insbesondere für kleine Unternehmen und Soloselbständige“. Beigefügt waren Vollzugshinweise des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen in der Endfassung vom 29.03.2020.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 26.05.2020 beantragte der Kläger über das Online-Formular des Beklagten eine Soforthilfe aus dem Programm „NRW-Soforthilfe 2020“ in Höhe von 9.000 EUR. Unter Ziffer 6.1 des Antragsformulars versicherte er, dass seine wirtschaftliche Tätigkeit durch die COVID-19-Pandemie wesentlich beeinträchtigt sei, da entweder</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 01.03.2020 durch die COVID-19-Pandemie weggefallen seien oder</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">- die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert seien (Gründungen: Vormonat) oder</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">- die Umsatzerzielungsmöglichkeiten durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt worden seien oder</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen (z. B. Mieten, Kredite für Betriebsräume, Leasingraten).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Unter Ziffer 6.5 stimmte der Kläger der Erhebung und Verarbeitung seiner für die Zuschussgewährung erforderlichen Daten im Rahmen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen (DSGVO) zu. Mit Ziffer 6.11 bestätigte der Kläger, ihm sei bekannt, dass er die Soforthilfe im Fall einer Überkompensation (Entschädigungs-, Versicherungsleistungen, andere Fördermaßnahmen) zurückzahlen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Noch am 26.05.2020 erging an den Kläger ein Bewilligungsbescheid. Unter Ziffer 1. des Bescheids bewilligte der Beklagte dem Kläger „eine Soforthilfe i. H. v. 9.000,00 € […] als einmalige Pauschale“. Gemäß Ziffer 2. des Bescheids erfolgte die Soforthilfe ausschließlich zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie als Einmalzahlung für einen dreimonatigen Bewilligungszeitraum ab Antragstellung. Die Soforthilfe diene insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 01.03.2020 in Zusammenhang mit der COVID-19‑Pandemie entstanden seien. Unter Ziffer II. 3. sah der Bescheid vom 26.05.2020 folgende Nebenbestimmung vor:</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der […] zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 26.05.2020 (Bl. 5 – 10 Beiakte 001) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Am 31.05.2020 wurden die „Richtlinien des Landes zur Gewährung von Soforthilfen für gewerbliche Kleinunternehmen, Selbstständige und Angehörige freier Berufe, die infolge der Sars-CoV-2-Pandemie in ihrer Existenz gefährdet sind“ als Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie (Az. VB 5 - 2020) – im Folgenden: Soforthilfe - Richtlinie – erlassen und traten laut Ziffer 9. der Soforthilfe-Richtlinie mit Wirkung vom 27.03.2020 in Kraft.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 18.06.2021 forderte der Beklagte den Kläger auf, zur nachträglichen Berechnung des Liquiditätsengpasses die der Mail beigefügten Rückmeldeformulare auszufüllen und an den Beklagte digital zurückzusenden.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">In seiner Rückmeldung vom 31.10.2021 gab der Kläger an, er wähle als Förderzeitraum den Zeitraum April bis Juni 2020 aus und nehme den fiktiven Unternehmerlohn in Höhe von 2.000 EUR in Anspruch. Aus der Gegenüberstellung der Einnahmen des Klägers mit seinen Ausgaben aus den drei Monaten des Bewilligungszeitraums ergab sich ein betrieblicher Liquiditätsengpass von 0 EUR. Er versicherte, ihm sei bekannt, dass er „für den Fall einer erforderlichen Rückzahlung den Betrag selbstständig zurück überweisen“ müsse. Fragen zum Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum sahen die Rückmeldeformulare des Beklagten nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Am 19.12.2021 erließ der Beklagte einen Schlussbescheid. Mit den Ziffern 1. und 2. des Bescheids stellte er einen Liquiditätsengpass von 0 EUR fest und setzte die Höhe der Soforthilfe auf diesen Betrag fest. Mit Ziffer 3. des Bescheids forderte er den Kläger zur Rückzahlung des überzahlten Betrages von 9.000,00 EUR auf. Der fiktive Unternehmerlohn wurde als „nicht ansetzbar“ angesehen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte der Beklagte aus, er sei nach Ziffer 5.2 der Soforthilfe-Richtlinie auch für die Rückforderung überzahlter Beträge zuständig. Nach den Ziffern 3.1, 3.2, 5.2 und 5.3 der Soforthilfe-Richtlinie werde die NRW-Soforthilfe 2020 zwar zunächst in voller Höhe gewährt. Die endgültige Festsetzung erfolge aber erst nach Rückmeldung und Berechnung des Liquiditätsengpasses. Decke der Liquiditätsengpass die gezahlte Soforthilfe nicht vollständig ab, werde Soforthilfe nur in Höhe des Liquiditätsengpasses gewährt. Auf Grundlage der Rückmeldung des Klägers bestehe ein Liquiditätsengpass von 0 EUR. Der überzahlte Betrag sei daher nach § 49a Abs. 1 VwVfG in entsprechender Anwendung zurückzufordern. Der Schlussbescheid trete insoweit an die Stelle des ursprünglichen Bewilligungsbescheids. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Schlussbescheid vom 19.12.2021 (Bl. 22 – 26 Beiakte 001) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 17.01.2022 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seiner Klage führt er im Wesentlichen aus: Bei der Beantragung der Soforthilfe sei von einer allgemeinen Rückzahlungsverpflichtung auf Basis des Liquiditätsengpasses nicht die Rede gewesen, sondern allenfalls von einer Rückzahlung bei Überkompensation. Es trete nicht deutlich aus dem Bewilligungsbescheid hervor, dass es sich um eine vorläufige Bewilligung handle. Die Beklagte habe mehrdeutige und intransparente Formulierungen verwendet, was sich zugleich in den veröffentlichten Voraussetzungskatalogen und FAQs zeige. Diese hätten sich fast täglich zu Lasten der Antragsteller verändert. Es sei den Unternehmern eine unbürokratische einmalige Zuwendung „ohne Wenn und Aber“ versprochen worden, worauf man angesichts politischer Äußerungen auch vertraut habe. Der Liquiditätsengpass stelle keinen adäquaten Maßstab zur Bestimmung der Höhe der Soforthilfe dar, weil sich in ihm der Umsatzausfall nicht spiegle. Es handle sich um ein willkürliches Kriterium, welches falsche Anreize zur Verwendung der Soforthilfe setze. So müsse ein Unternehmen, welches seine Rücklagen investiert habe, mangels Liquiditätsengpass zurückzahlen, während andere die Soforthilfe behalten könnten, obwohl beide gleichermaßen von pandemiebedingten Umsatzausfällen betroffen seien. Dies verzerre den Wettbewerb zu Gunsten liquiditätsschwacher Unternehmen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">den Schlussbescheid der Bezirksregierung L. – Az. 34.Soforthilfe2020-557352- vom 19.12.2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt er aus, der Beklagte habe sich dazu entschieden, den Förderhöchstbetrag als vorläufige Pauschale auszuzahlen, um möglichst schnell Hilfe leisten zu können. Eine Ermittlung des Liquiditätsengpasses sei aber erst rückblickend möglich. Bei der Bewilligung habe es sich bloß um einen vorläufigen Verwaltungsakt gehandelt. Das komme im Begriff der „einmaligen Pauschale“ und vor allem durch die Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids zum Ausdruck und werde durch die zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten allgemeinen Informationen bestätigt. So seien die Bescheide auch von einem Großteil der Betroffenen verstanden worden, da weniger als ein Prozent der Bescheide beklagt worden sei. Die Berechnung des Liquiditätsengpasses erfolge nach der Soforthilfe-Richtlinie, die zwischen Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen differenziere. Den Antrag habe man danach auch auf Basis eines bloßen Umsatzausfalls stellen können, ein endgültiger Anspruch bestehe aber nur bei einem Liquiditätsengpass. Dies entspreche dem Sinn der Förderung, finanzielle Notlagen abzumildern, worauf auch in den Antragsunterlagen hingewiesen worden sei. Die Soforthilfe-Richtlinie stelle auch keinen Fall unzulässiger Rückwirkung dar, weil sie bloß verwaltungsintern wirke.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft. Denn der Kläger wendet sich gegen den Schlussbescheid vom 19.12.2021, der eine ihn rein belastende Regelung darstellt. Die mit dem Schlussbescheid getroffenen Regelungen führen nämlich noch unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Bewilligungsbescheid und Schlussbescheid dogmatisch zu bewerten ist, jedenfalls dazu, dass dem Kläger eine ihm bereits durch den Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 gewährte subjektive Rechtsposition – die gewährte Förderung von 9.000 EUR sowie damit verbunden das Recht, diese Förderung während des Bestands des Bewilligungsbescheids behalten zu dürfen – entzogen wird. Dieser Belastung kann er sich entsprechend seines maßgeblichen Klagebegehrens nach § 88 VwGO am besten erwehren, indem er den Schlussbescheid anficht. Es liegt insbesondere auch kein Fall einer vorrangigen Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 S. Alt. VwGO vor, weil es dem Kläger nicht darum geht, einen materiellen Anspruch durch das Erzwingen des Erlasses eines Verwaltungsakts durchzusetzen. Er kann durch eine Verpflichtungsklage etwa gerichtet auf Erlass eines Schlussbescheids anderen Inhalts keine Erweiterung seiner subjektiven öffentlichen Rechte erreichen, da er bereits aufgrund des Bewilligungsbescheids die Maximalförderung zugesprochen bekommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die auch im Übrigen zulässige Klage ist zudem begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 19.12.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Beklagte hat die mit Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 gewährte Soforthilfe zu Unrecht auf einen Betrag von 0 EUR festgesetzt (Ziffer 2. des Schlussbescheids) und einen Betrag von 9.000,00 EUR zurückgefordert (Ziffer 3. des Schlussbescheids).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte geht bereits im Ausgangspunkt zu Unrecht davon aus, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 lediglich um eine vorläufige Bewilligung handelt, die er durch einen Schlussbescheid ersetzen durfte (dazu I.). Selbst wenn man dies anders sähe und von einer vorläufigen Bewilligung ausginge, wäre die Klage aber immer noch begründet, da der Beklagte sich durch die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids vom 19.12.2021 in rechtlich nicht zulässiger Weise über verbindliche Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 hinweggesetzt hätte (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 trifft hinsichtlich der dem Kläger gewährten Zuwendung in Form der Soforthilfe eine endgültige Regelung und stellt insoweit keinen sogenannten vorläufigen Verwaltungsakt dar.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Von einem vorläufigen Verwaltungsakt ist im Bereich der Zuwendungsgewährung auszugehen, wenn die Zuwendung unter dem Vorbehalt einer späteren abschließenden Entscheidung bewilligt wird. Ein solcher Bewilligungsbescheid ist in seinem Regelungsinhalt dahingehend eingeschränkt, dass der Begünstigte die Zuwendung zunächst nur vorläufig bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung behalten darf. Ob ein Anspruch auf das endgültige Behaltendürfen der Zuwendung besteht, hängt dagegen von dem Inhalt des abschließenden Bewilligungsbescheids, des Schlussbescheids ab.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 33, juris; BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 14 juris.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Das Bedürfnis für eine solche lediglich vorläufige Regelung kann insbesondere dann bestehen, wenn zum Erlasszeitpunkt des vorläufigen Bescheids eine tatsächliche Unsicherheit besteht. Das Subventionsverhältnis wird dabei zunächst durch den Zuwendungsbescheid geregelt, der aber unter den Vorbehalt der späteren Festsetzung gestellt wird und damit auf eine Ergänzung durch einen weiteren Verwaltungsakt angelegt ist, durch den die Zuwendung in den offen gehaltenen Punkten abschließend geregelt werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 15 juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 63, juris.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Vorbehalt endgültiger Regelung bewirkt, dass die Behörde die vorläufige Regelung im Ausgangsbescheid durch die endgültige Regelung im Schlussbescheid ersetzen kann, ohne insoweit an die Einschränkungen der §§ 48, 49 VwVfG gebunden zu sein. Bei einer späteren endgültigen Regelung durch einen Schlussbescheid bedarf es insoweit keiner Aufhebung der unter Vorbehalt ergangenen Bewilligung, da diese durch den Schlussbescheid ersetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7/09 –, Rn. 16, juris; OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); HK-VerwR/Kyrill-Alexander Schwarz, 5. Aufl. 2021, VwVfG § 35 Rn. 28; Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 245.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Wie weit der Vorbehalt der endgültigen Regelung reicht und ob er die Bewilligung insgesamt oder nur Teilregelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids umfasst, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Denn die Vorläufigkeit muss sich nicht auf den ersten Bescheid insgesamt beziehen, sondern kann und muss gegebenenfalls auf einzelne Aspekte beschränkt sein. Es können also auch bereits im vorläufigen Bewilligungsbescheid endgültige Teil-Regelungen getroffen und dem Adressaten insoweit gesicherte (Teil-) Rechtspositionen vermittelt werden. Auch wenn daher die Behörde einen unter Vorbehalt gestellten Verwaltungsakt später durch einen Schlussbescheid ersetzt, so kommt eine inhaltlich abweichende Regelung im Schlussbescheid - außer in den Fällen der §§ 48, 49 VwVfG - nur in Betracht, wenn sie aus den Gründen ergeht, wegen derer die frühere Regelung unter Vorbehalt gestellt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –,Rn. 17, juris.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unterliegen insoweit der Auslegung aus Sicht eines objektiven Empfängers entsprechend der §§ 133, 157 BGB. Das Gericht hat den Bewilligungsbescheid dahin zu erforschen, wie der Adressat ihn unter Berücksichtigung der ihm bekannten oder erkennbaren Umstände bei objektiver Auslegung verstehen musste.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 – 10 C 5.17 –,Rn. 25, juris; BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, Rn. 14, juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 56, juris; OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 5, juris.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Abzustellen ist dabei auf Sicht des Adressaten zum Erlasszeitpunkt des ursprünglichen Bewilligungsbescheides unter Berücksichtigung allein der zu diesem Zeitpunkt bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umstände. Nach Erlass eines Zuwendungsbescheides kann die Behörde nicht mehr frei über die Auslegung von darin verwandten Begrifflichkeiten entscheiden. Der Bescheid hat insoweit Fakten geschaffen, über die sie sich auch im Rahmen des Zuwendungsrechts nicht nach Ermessen hinwegsetzen kann.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 7, juris.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Welche Teile des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung stehen und welche bereits im ursprünglichen Bescheid endgültige Regelungen treffen, muss sich vor allem aus dem vorläufigen Bewilligungsbescheid selbst ergeben. Insoweit muss in diesem ausdrücklich bezeichnet oder zumindest eindeutig erkennbar sein, hinsichtlich welcher Regelung die Erlassbehörde sich eine spätere Entscheidung vorbehalten will. Dies folgt einerseits aus dem Gebot hinreichender Bestimmtheit von Verwaltungsakten im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG, andererseits mit Blick auf den Vertrauensschutz des Adressaten. Unklarheiten gehen zu Lasten der Erlassbehörde, die es insoweit in der Hand hat, Bestimmtheits- oder Auslegungsprobleme durch eindeutige Formulierungen im ursprünglichen Bescheid zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 247.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen ist es nicht ausreichend, wenn sich die Auslegung als vorläufiger Verwaltungsakt lediglich als noch mögliche Deutung neben einer Vielzahl weiterer möglicher Auslegungen darstellt. Es genügt für die Annahme eines Regelungsvorbehalts nicht, dass ein Bewilligungsbescheid als vorläufiger Verwaltungsakt verstanden werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104 – 105, juris.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist es erforderlich, dass der Regelungsvorbehalt aus dem Bescheid sowie den erkennbaren Umständen für einen objektiven Empfänger als die einzig sinnvolle Deutung erscheint und sich dieses Verständnis dem objektiven Empfänger aufdrängen muss. Dabei gebieten es die mit dem Vorbehalt späterer endgültiger Entscheidung verbundene Folge des Ausschlusses von Vertrauensschutz und die Verwandtheit dieser Regelungsweise mit Befristung, Bedingung und Widerrufsvorbehalt (§ 36 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwVfG),</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, 3 C 7.09, juris, Rn. 20,</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">strenge Anforderungen an die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots (§ 37 VwVfG NRW) für die Vorläufigkeit einer Regelung und ihres genauen Umfangs zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, 15 A 708/88, NVWZ 1991, 588 (589); Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 160; König, BayVBl. 1989, 36; Martens, DÖV 1987, 998.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab ist der Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 dahin auszulegen, dass er die dem Kläger gewährte Förderung insbesondere auch der Höhe nach endgültig regelt. Der Beklagte hat sich im insoweit allein maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 den Erlass eines Schlussbescheides weder ausdrücklich noch zumindest noch ausreichend deutlich vorbehalten, sondern den Antrag des Klägers vom 26.05.2020 – auch hinsichtlich der Höhe der Soforthilfe - in Wahrheit abschließend beschieden.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 bringt an keiner Stelle, insbesondere im Tenor und/oder in den einschlägigen Ziffern II. 3.,4. und 8. der Nebenbestimmungen, die Vorläufigkeit bzw. Vorbehaltlichkeit der Gewährung der Soforthilfe für den objektiven Empfängerhorizont mit (noch) hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Ausreichend, aber auch notwendig wäre es hierzu gewesen, einen entsprechenden Entscheidungsvorbehalt bzw. eine Vorläufigkeit der Bewilligung der Zuwendung mit Blick auf eine erst zukünftig (abschließend) zu bewilligende Zuwendung mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit zum Inhalt des Bescheids zu machen. Das ist hier nicht geschehen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid enthält unter Ziffer „1. Bewilligung“ die der Höhe nach einschränkungslose „Bewilligung“ einer „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00 €“. Ein Hinweis auf eine etwaige Höchstbetragsförderung mit späterer endgültiger Abrechnung etwa über den Zusatz „bis zu 9.000,00 €“, der sich gerichtsbekannt in einer Fülle von Bewilligungsbescheiden der Bezirksregierung L. bei anderen Förderprogrammen findet, fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Bewilligung „als einmalige Pauschale“ spricht hingegen nicht hinreichend deutlich für eine vorläufige Regelung zur Höhe der Corona Soforthilfe. Denn die Wortbedeutung erfasst zwar auch eine vorläufige Geldsumme, die man vor der endgültigen Abrechnung erhält. Eine einmalige Pauschale kann aber auch als ein Geldbetrag, der mehrere Teilsummen zusammenfasst, die nicht einzeln abgerechnet werden, verstanden werden. Ebenso kann der Begriff der Pauschale auch genau umgekehrt zu der von dem Beklagten vorgenommenen Deutung verstanden werden, dass nämlich gerade keine genaue Ermittlung des durch die Förderung zu kompensierenden Ausfalls erfolgen soll, sondern dieser durch eine einmalige – z. B. aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder Beschleunigung vorgenommene – Pauschalzahlung abgegolten wird. Diese mehrfache Wortbedeutung schließt die erforderliche Bestimmtheit im oben dargelegten Sinn aus.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Auch die Festlegung eines dreimonatigen Bewilligungszeitraums in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 zwingt nicht zu dem Schluss, es handle sich um eine bloß vorläufige Bewilligung. Die Festlegung eines Bewilligungszeitraums ist keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal eines vorläufigen Verwaltungsakts, sondern erfolgt regelmäßig auch bei endgültigen Förderbescheiden. Dies macht auch bei endgültigen Förderbescheiden, denen ebenfalls ein Verwendungsnachweisverfahren – ggfs. verbunden mit einem Widerrufsverfahren nach § 49 Abs. 3 VwVfG – nachgeschaltet sein kann, Sinn, um den relevanten Zeitraum hinsichtlich förderungsrelevanter Ausgaben und Kosten zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der im Zuwendungsbescheid unter Ziffer II. 3. der Nebenbestimmung zu findende Passus,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraumes feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der Landeskasse....unter Angabe des Aktenzeichens zurückzuzahlen. ...“,</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">reicht nicht aus, um hierdurch einen Vorläufigkeitsvorbehalt mit hinreichender Bestimmtheit begründen zu können. Zwar kommt in ihm zum Ausdruck, dass die ausgezahlte Finanzhilfe noch von zukünftigen Faktoren abhängig ist, die zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht feststehen. Es gibt jedoch unterschiedlichste verwaltungsrechtliche Regelungsmöglichkeiten, wie mit solchen zukünftigen Faktoren umgegangen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. instruktiv BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 23 ff., juris.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist aus Sicht eines objektiven Empfängers nicht als Vorbehalt einer abschließenden Behördenentscheidung zu verstehen. Mit dieser Regelung wurde vielmehr vom Kläger nach dem eindeutigen Wortlaut eine von ihm selbst und eigenverantwortlich vorzunehmende nachträgliche Berechnung von Ist-Werten zur tatsächlichen Höhe des Umsatzausfalls und des Liquiditätsengpasses während des Bewilligungszeitraums verlangt, mit der Folge die selbsttätig errechneten zu viel gewährten Unterstützungsgelder zurückzuzahlen. Aus dieser selbsttätig und eigenverantwortlich vorzunehmenden Berechnungs- und Prüfpflicht des Zuwendungsempfängers und einer hieraus gegebenenfalls resultierenden Rückzahlungspflicht kann unter Anwendung des gebotenen strengen Maßstabs nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont nicht mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit entnommen werden, dass damit der Begünstigte die empfangene Leistung in jedem Fall nur vorläufig bis zum Erlass einer späteren endgültigen Regelung durch die Behörde behalten darf. Denn von einem irgendwie gearteten – nachträglichen – Tätigwerden der Behörde ist hier überhaupt nicht die Rede. Dies gilt umso mehr für den Fall, dass die selbsttätig und eigenverantwortlich vom Begünstigten vorgenommene Berechnung keinen zu viel gezahlten Betrag ergeben sollte. Eine vorbehaltene endgültige Festsetzung der Höhe der Soforthilfe in einem zweiten Verwaltungsakt ist damit in dieser Regelung nicht vorgesehen. Soweit in dieser Regelung ein Hinweis auf ein späteres Rückmeldeverfahren gesehen wurde,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris,</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">kann die erkennende Kammer einen solchen Hinweis weder dem Wortlaut noch dem Sinn der Regelung entnehmen. Ein solches Verfahren wird in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, der ausdrücklich nur den Bescheidadressaten anspricht, nicht erwähnt.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Es dürfte viel dafür sprechen, dass es sich stattdessen bei dieser Regelung um eine Auflage i.S.v. § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW handelt. Einem solchen Verständnis könnte jedenfalls nicht entgegengehalten werden, dass die Konstruktion einer nachträglichen Kontrolle der Förderung durch Begründung einer Mitwirkungsverpflichtung zur Selbstkontrolle in Form einer Auflage ungeeignet wäre, um eine angemessene Überprüfung der Förderung zu ermöglichen. Denn wenn es in diesem Fall dazu käme, dass ein Adressat einer solchen Mitwirkungsverpflichtung nicht nachkäme, stehen im Rahmen des allgemeinen Verwaltungsrechts geeignete Möglichkeiten zum Beispiel in Form eines Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG zur Verfügung, um die benötigten Angaben zu ermitteln und gegebenenfalls überzahlte Beträge zurückzufordern. Ob es sich bei der Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 tatsächlich um eine Auflage handelt und welcher Inhalt dieser genau zukommt, kann offenbleiben. Denn der Beklagte hält dem Kläger in dem angefochtenen Schlussbescheid einen solchen Auflagenverstoß jedenfalls nicht vor. In der von dem Beklagten umgesetzten „Rückmeldung des Liquiditätsengpasses NRW Soforthilfe 2020“ des Klägers vom 31.10.2021 heißt es dementsprechend: „Dieses Rückmelde-Formular dient der Meldung des vorzeitig freiwillig ermittelten Liquiditätsengpasses….“. Bei einer freiwilligen Ermittlungstätigkeit des Zuwendungsempfängers selbst handelt es sich aber nicht um die behördliche Ausübung einer im Bewilligungsbescheid gemachten vorläufigen Regelung.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Ein Vorbehalt einer späteren Entscheidung ergibt sich auch nicht aus den Regelungen in den Ziffern II. 4., 5. und II. 8. des Bewilligungsbescheids.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 4. enthält eine Regelung hinsichtlich eventueller Rückzahlungspflichten wegen falscher Angaben bei der Antragstellung oder wegen Überkompensation. Damit wird lediglich eine Rückzahlungspflicht für diese Fälle geregelt, ohne dass sich hierin die Vorläufigkeit der Bewilligung insgesamt in hinreichender Klarheit ausdrücken würde.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">In Ziffer II. 5. wird sich ausdrücklich „im Einzelfall“ eine spätere Verwendungsprüfung vorbehalten, was jedenfalls keinen Vorbehalt einer abschließenden Entscheidung für die Gesamtförderung begründet. Die Existenz eines Verwendungsnachweisverfahrens für sich allein genommen ist insoweit ebenfalls nicht aussagekräftig, weil eine Verwendungsnachweisprüfung auch bei endgültigen Förderbescheiden stattfindet und gegebenenfalls etwa im Falle der zweckwidrigen Verwendung zu einem Rückforderungsverfahren nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG führen kann. Allein die Notwendigkeit eines nachträglichen Verwendungsnachweises besagt für sich genommen dementsprechend nichts über die Frage der Vorläufigkeit einer Zuwendungsbewilligung aus. Diese ergibt sich erst im Zusammenspiel mit etwaigen weiteren Regelungen eines Bescheides, etwa in der Zusammenschau mit einer Höchstbetrags-/Anteilsfinanzierung. Anderweitige Anzeichen für eine vorläufige Regelung finden sich im Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 aber gerade nicht. Außerdem wäre sinnlos, zu formulieren, dass „im Einzelfall eine Prüfung“ vorbehalten wird, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Da im Bewilligungsbescheid nach alledem keine erkennbaren und belastbaren Anhaltspunkte für eine bloß vorläufige Bewilligung vorliegen, käme die Annahme, dass der Bescheid gleichwohl eine bloße vorläufige Bewilligung regelt, wenn überhaupt nur noch in Betracht, wenn sich für den objektiven Adressaten aus sonstigen Umständen zwingend der Schluss aufdrängen musste, dass der Bescheid – gleichsam entgegen seines Wortlauts – lediglich eine bloß vorläufige Bewilligung ausspricht. Zu einem derartigen Schluss zwingen aber weder die Antragsunterlagen, die nach Nr. 2. des Bewilligungsbescheides Bescheidbestandteil sind, noch die sonst zum Bewilligungszeitpunkt verfügbaren Informationen.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">In den Antragsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein expliziter Hinweis darauf, dass eine Bewilligung bloß vorläufig erfolgen und nach Ablauf des Bewilligungszeitraums ein späteres Rückmeldeverfahren mit Erlass eines Schlussbescheides stattfinden solle. Insbesondere kann aus der in Ziffer 6.11 der Antragsunterlagen abgegebenen Versicherung, es sei bekannt, dass der Zuschuss im Falle einer Überkompensation zurückzuzahlen sei, kein Schluss auf eine bloß vorläufige Bewilligung gezogen werden. Denn allein die abstrakte Verpflichtung zur Rückzahlung einer Überkompensation sagt nichts darüber aus, wie eine solche Rückzahlungsverpflichtung verwaltungsverfahrensrechtlich konstruiert wird. Auch insoweit kämen neben einer bloß vorläufigen Bewilligung alternative Gestaltungen – z. B. in Form einer auflösenden Bedingung oder eines späteren Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 VwVfG – in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Auch die übrigen zum Zeitpunkt der Bewilligung veröffentlichten Informationen zwingen nicht zum Schluss, es finde mit dem Bewilligungsbescheid lediglich eine vorläufige Bewilligung statt. Soweit in den „Eckpunkte[n] zur Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie dem Bundesministerium der Finanzen vom 23.03.2020 ausgeführt ist, dass die „Finanzielle Soforthilfe „…. Bis 9.000,00 € … bzw. Bis 15.000,00 € …“ betrage und es in den „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ (Stand 30.03.2020) heißt, dass ein einmaliger Zuschuss „von bis zu 9.000,00 €“ bzw. „bis zu 15.000,00 € beantragt werden könne sowie der Antragsteller eine „einmalige Soforthilfe“ beantrage, deren Höhe sich bis zur Höchstgrenze von 9.000,00 € an dem vom Antragsteller glaubhaft versicherten Liquiditätsengpass für drei aufeinander folgende Monate“ orientiere, kommt damit nicht zugleich hinreichend deutlich im Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 selbst eine Höchstbetragsfinanzierung unter Vorbehalt einer späteren endgültigen Bewilligung zum Ausdruck. Denn der Bewilligungsbescheid bewilligt im Gegensatz zu diesen Regelungen nach seinem eindeutigen Wortlaut eine „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00“ und enthält gerade nicht den Zusatz „bis zu“. Entsprechendes gilt mit Blick auf die Formulierung in den Vollzugshinweisen des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes NRW vom 29.03.2020 zur Verwaltungsvereinbarung vom 01.04.2020 wonach „Antragsteller …. eine einmalige Soforthilfe von bis zu 9.000,00 € erhalten“.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass andere veröffentlichte Informationen im Gegenteil zu dem Schluss berechtigen konnten, dass der Förderbetrag in Maximalhöhe und endgültig bewilligt wird. In den von dem Beklagten veröffentlichten FAQs, die insoweit für die Allgemeinheit Hinweise und Informationen zur Förderung durch die Soforthilfe des Beklagten geben sollen und daher von einem objektiven Empfänger zur Auslegung des Bewilligungsbescheids herangezogen werden können, heißt es etwa in der Fassung vom 13./14.05.2020 (Anlage B16, Beiakte 002) auf die Frage „Wie hoch ist die Förderung?“</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">„Die Soforthilfe erfolgt im Rahmen eines einmaligen, nicht rückzahlbaren Zuschusses. Sie […] beträgt für drei Monate: 9.000 Euro für antragsberechtigte Solo-Selbstständige und Antragsberechtigte mit bis zu 5 Beschäftigten“.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob geprüft wird, ob dem Antragsteller die Hilfe wirklich zugestanden hat und wenn nein, ob die Hilfe ggfs. zurückgezahlt werden muss, antworten die FAQs vom 13./14.05.2020 (Anlage B16, Beiakte 002):</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">„Der Antragsteller versichert im Formular, dass er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen und wahrheitsgetreu gemacht hat. Falsche Angaben, die zu einer unberechtigten Inanspruchnahme der Leistung führen, sind Subventionsbetrug. Die Leistung muss dann nicht nur zurückgeführt werden, es kann dann zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommen. Der Antragsteller ist gehalten, den Zuschuss in seiner Steuererklärung für 2020 aufzunehmen. Da dem Antrag die Steuernummer bzw. die Steuer-ID beizufügen ist, hat das Finanzamt die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu überprüfen.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Der Zuschuss wird als sogenannte Billigkeitsleistung ausgezahlt. Auch im Falle einer Überkompensation (z.B. durch andere Fördermaßnahmen) muss die erhaltene Soforthilfe zurückgezahlt werden. Stellt sich am Ende der Bezugszeit von drei Monaten heraus, dass der Antragsberechtigte mehr erhalten hat als ihm zusteht, ist das überschüssige Geld zurückzuzahlen. Hilfestellung bei der Berechnung einer solchen Überkompensation bietet ein Vordruck, den alle Zuwendungsempfänger in einem gesonderten Schreiben (inkl. Ausfüll-Anleitung) rechtzeitig erhalten“.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage „Muss nachgewiesen werden wofür der Zuschuss eingesetzt wird?“ wurde geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">„Am Ende des Bewilligungszeitraums werden alle Soforthilfeempfänger angeschrieben und gebeten zu überprüfen, ob eine Überkompensation vorgelegen hat. Der Nachweis der Verwendung der Soforthilfe erfolgt unter Zuhilfenahme eines Vordrucks, den alle Zuwendungsempfänger in einem gesonderten Schreiben (inkl. Ausfüll-Anleitung) rechtzeitig erhalten. Dazu gehörende Unterlagen sind 10 Jahre aufzubewahren.“ (Fassung 13.05.2020 – Anlage B16, Beiakte 002).</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Zur Frage „Wie ist eine Überkompensation definiert und was passiert in diesem Fall?“ wurden folgende Antworten gegeben:</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">„Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält, als sein tatsächlich eingetretener Schaden – also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) ist. Eine Überkompensation ist nach der dreimonatigen Förderphase zurückzuerstatten. Hilfestellung bei der Berechnung einer Überkompensation bietet ein Vordruck de alle Zuschussempfänger in einem gesonderten Schreiben (inkl. Ausfüll-Anleitung) rechtzeitig erhalten“. (Fassung 13.05.2020 – Anlage B16, Beiakte 002).</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid war auch vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen nach dem objektiven Empfängerhorizont nicht als vorläufige Reglung der Zuwendungshöhe mit einem späteren Abrechnungsverfahren zu verstehen. Mag damit auch verdeutlicht worden sein, dass es gegebenenfalls zu einer späteren Rückzahlungsverpflichtung der Zuwendungsempfänger – unter welchen Voraussetzungen genau sei dahingestellt – kommen konnte, kommt damit nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass der Begünstigte die empfangene Leistung in jedem Fall nur vorläufig bis zum Erlass einer späteren endgültigen Regelung durch die Behörde behalten darf. Der Information über eine Rückzahlungsverpflichtung unter bestimmten Voraussetzungen kommt nicht zugleich der Bedeutungsgehalt über eine – quasi automatisch – damit verbundene Vorläufigkeit der Bewilligung der Corona-Sorforthilfe – zu. Solche Rückzahlungsverpflichtungen sind nämlich in rechtlicher Hinsicht ganz unterschiedlichen rechtlichen Ausgestaltungen zugänglich und nicht nur unter der Annahme einer „vorläufigen Regelung“.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14.04.1983 – 3 C 8.82 – juris, Rn. 23ff.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Außerdem bestätigt insbesondere die zitierte Antwort,</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">„Am Ende des Bewilligungszeitraums werden alle Soforthilfeempfänger angeschrieben und gebeten zu überprüfen, ob eine Überkompensation vorgelegen hat.“,</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">das oben genannte Verständnis der Ziffer II.3. des Bewilligungsbescheides, nach dem die Überprüfung der Rückzahlungspflicht nach der Regelungstechnik des Bescheides Sache des Zuwendungsempfängers ist.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Dieses Verständnis erschließt sich auch aus der Antwort auf die Frage „Wird immer der Maximalbetrag ausgezahlt“?</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Dort heißt es nämlich:</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">„…. Bei Überkompensation sind die Beträge zurückzuzahlen (s.o.) Entsprechende Hinweise und die Kontonummer für die Rückzahlung zu viel erhaltener Soforthilfen enthält der Bewilligungsbescheid. Rückzahlungen sind eigenständig nach Ablauf der drei Monate zu bestimmen und an das Konto der Landeskasse […] vorzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">An genau diese Reglung knüpft der Bewilligungsbescheid mit Ziffer II. 3. der Nebenbestimmungen an, inclusive der angegebenen Kontonummer.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Bestätigt wird dies nochmal durch die Antwort auf die Frage „Muss nachgewiesen werden, wofür der Zuschuss eingesetzt wird? wenn es dort heißt:</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">„Am Ende des Bewilligungszeitraums werden alle Soforthilfeempfänger angeschrieben und gebeten zu überprüfen, ob eine Überkompensation vorgelegen hat“.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes ergibt sich aus der Verwaltungsvereinbarung vom 01.04.2020 zwischen dem Bund und dem Beklagten. Diese verhält sich zu der hier interessierenden Frage einer Vorläufigkeit der Bewilligungsbescheide gar nicht.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte sich darüber hinaus auf nach dem Erlasszeitpunkt des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 veröffentlichte Hinweise und Regelwerke, insbesondere auf die Soforthilfe-Richtlinie beruft, kann dahinstehen, ob diese für die von dem Beklagten vertretene Auslegung des Bewilligungsbescheids sprechen. Denn ihnen kann von vornherein keine Bedeutung für die Auslegung des Bewilligungsbescheids zukommen, da der maßgebliche objektive Empfängerhorizont des Bescheidempfängers sich von vornherein nur anhand der im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits bekannten Gesamtumstände bemessen kann. Hierzu gehören später ergangene Regelwerke ersichtlich nicht. Dem Umstand, dass dieser Erlass in rechtlicher Hinsicht mit Rückwirkung zum 27.03.2020, dem ersten Tag der Freischaltung des Online-Antragsverfahrens, in Kraft getreten ist, kommt für die hier allein maßgebliche Frage der Bescheidauslegung ebenfalls keine Bedeutung zu. Denn das rechtlich rückwirkende Inkrafttreten ändert nichts daran, dass die Richtlinien im Zeitpunkt des Bescheiderlasses tatsächlich noch nicht existent und dementsprechend für die Betroffenen schlicht nicht erkennbar waren. Auf die weiteren zwischen den Beteiligten aufgeworfenen Fragen der rechtlichen Zulässigkeit eines rückwirkenden Inkrafttretens kommt es danach nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch den Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der Förderung ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis, an welche die Behörde im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG als objektivem Rechtmäßigkeitskriterium gebunden war.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. April 2003 – 3 C 25.02 –, Rn. 17, juris; OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2022 – 4 A 2368/18 –, Rn. 8 f., juris mit weiteren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Es entsprach gerichtsbekanntermaßen zum Bewilligungszeitpunkt der ständigen Praxis des Beklagten, im Rahmen der Bewilligung von Förderanträgen der Soforthilfe 2020 die Bewilligungsbescheide entsprechend der im verfahrensgegenständlichen Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 getroffenen Formulierungen zu fassen. Ein offensichtlicher Verstoß gegen zum Bewilligungszeitpunkt bereits vorliegende Verwaltungsvorschriften des Beklagten ist insoweit weder vorgetragen noch ersichtlich und wäre auch unerheblich, weil es nicht darauf ankommt, wie die Verwaltungsvorschriften auszulegen sind, sondern allein darauf, wie die Bewilligungsbehörde die Verwaltungsvorschriften in ihrer ständigen tatsächlichen Praxis anwendet.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1979 – 3 C 111.79 –, Rn. 24 – 25, juris; VGH BW, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 9 S 2244/15 –, Rn. 127, juris.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Eine etwa vom Beklagten nach seinem Vorbringen möglicherweise gewollte (andersartige) Verwaltungspraxis zur Vorläufigkeit der Bewilligungsbescheide ist hingegen irrelevant. Allein maßgeblich ist, was der Beklagte in den Bewilligungsbescheiden objektiv zum Ausdruck gebracht hat.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend wäre es auch unerheblich, wenn der Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 den Regelungen der Soforthilfe-Richtlinie widerspräche. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass unabhängig von der Frage, ob eine rückwirkende Inkraftsetzung von Verwaltungsvorschriften zulässig ist oder nicht, eine zum Zeitpunkt der ausgeübten Verwaltungspraxis schlicht noch nicht existente Verwaltungsvorschrift auf eine tatsächlich ausgeübte, also bereits stattgefundene Verwaltungspraxis denklogisch keinen Einfluss haben und diese nicht prägen kann.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Selbständig entscheidungstragend ist das Gericht der Auffassung, dass die Klage des Klägers auch dann begründet ist, wenn entgegen dem vorstehend Ausgeführten angenommen wird, dass mit dem Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 die Corona-Soforthilfe hinsichtlich ihrer Höhe nur vorläufig bewilligt worden wäre und der „Schlussbescheid“ vom 19.12.2021 diesen – vorläufigen – Bewilligungsbescheid in seinem Regelungsumfang ersetzt habe. Auch dann erweist sich der angefochtene „Schlussbescheid“ als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Wie bereits dargelegt wurde, sind auch im Falle eines vorläufigen Verwaltungsakts nur die Regelungsbestandteile einer abschließenden Regelung durch Schlussbescheid zugänglich, die auch im ursprünglichen Bewilligungsbescheid unter einen entsprechenden Vorbehalt gestellt wurden. Andere Regelungsbestandteile können bereits abschließende Regelungen enthalten und insoweit nur unter den Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG abgeändert werden.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wäre der Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 jedenfalls dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen, unter denen der Beklagte die Förderhöhe abweichend festsetzen könnte, bereits im Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 abschließend geregelt wurden. (dazu 1.). Diesen Vorgaben widerspräche die Festsetzung der Soforthilfe durch den Schlussbescheid vom 19.12.2021 (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 macht die Rückzahlung von zwei Voraussetzungen abhängig: Die zu viel gezahlten Mittel sind zurückzuzahlen, wenn die Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich des Liquiditätsengpasses benötigt werden. Es handelt sich hierbei um zwei grundsätzlich zu unterscheidende Merkmale, nämlich den Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum abzgl. eingesparter Kosten einerseits und die Deckung des Liquiditätsengpasses andererseits. Diese Rückforderungsvoraussetzungen stehen – selbst wenn man entgegen der obigen Würdigung von einer lediglich vorläufigen Festsetzung der Förderungshöhe ausgeht – jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt einer späteren – u.U. auch abweichenden – Entscheidung, sondern werden durch den Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 abschließend festgelegt. Es finden sich im Bewilligungsbescheid keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch die Festlegung der Rückzahlungsvoraussetzungen erst unter Vorbehalt erfolgen sollte. Ein diesbezüglicher Vorbehalt wäre rechtlich auch kaum in zulässiger Weise gestaltbar, denn anders als hinsichtlich der Förderhöhe besteht jedenfalls hinsichtlich eventueller Rückforderungsvoraussetzungen weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Unsicherheit, die es rechtfertigen würde, die Rückforderungsvoraussetzungen von einer späteren Entscheidung abhängig zu machen. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die in Ziffer II. 3 des Bewilligungsbescheids definierten Voraussetzungen einer Rückzahlungsverpflichtung zugleich definieren, was überhaupt förderfähige Ausgaben im Rahmen des Zuwendungsverhältnisses sind. Schon aus Gründen des Vertrauensschutzes kann es dem Beklagten nicht möglich sein, eine Zuwendung zu bewilligen und auszuzahlen und erst später zu entscheiden, welche Art von Ausgaben mit dieser Zuwendung überhaupt dem Grunde nach gefördert werden soll. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine grundlegende Entscheidung, die der Zuwendungsgeber bereits bei der Begründung des Zuwendungsverhältnisses durch den vorherigen Bewilligungsbescheid treffen kann und hier durch die Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 auch getroffen hat.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 106, juris, wo von der Festlegung von Berechnungsgrößen durch den Bewilligungsbescheid gesprochen wird.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Diese Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist dahin auszulegen, dass sie eine Rückforderung nur dann und auch nur soweit vorsieht, wie die gewährte Förderung sowohl den Liquiditätsengpass als auch den Umsatzausfall überschreitet. Es genügt dagegen nach dieser Regelung nicht, dass lediglich einer dieser beiden Parameter durch die Förderung überschritten wird.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Ausgangspunkt dieses Verständnisses ist der Wortlaut der Regelung in Ziffer II. 3., dem bei der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts besonderes Gewicht beizumessen ist. Die dort geregelten beiden Voraussetzungen werden durch die Konjunktion „und“ verbunden, was für den objektiven Empfänger die Rückzahlungsverpflichtung vom kumulativen Vorliegen beider Voraussetzungen abhängig macht. Aus dem Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 ergeben sich dagegen keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Verbindung der beiden Voraussetzungen durch „und“ hier als alternative Verbindung im Sinne eines „oder“ zu lesen sein soll. Erst Recht kann entgegen der Ansicht des Beklagten dem übrigen Bescheid kein Anhalt dafür entnommen werden, der Umsatzausfall sei hinsichtlich der Förderungshöhe gänzlich irrelevant. Wäre dies tatsächlich die Regelungsabsicht des Beklagten gewesen, wäre es widersinnig gewesen, den Umsatzausfall im Bewilligungsbescheid – und dann auch noch an der entscheidenden Stelle der Regelung der Rückzahlungsvoraussetzungen – überhaupt zu erwähnen. Soweit der Beklagte damit argumentiert, in Ziffer 2. des Bescheids werde als Zuwendungszweck die Milderung finanzieller Notlagen festgelegt, was bei einem bloßen Umsatzausfall nicht gegeben sei, dringt er mit diesem Einwand nicht durch. Es liegt im Verantwortungsbereich des Beklagten, im Rahmen der Zweckbestimmungsformulierung in seinen Bescheiden eindeutig und möglichst unmissverständlich festzulegen, welchen Zweck er mit der Zuwendung begünstigen will und welche Ausgaben er als von diesem Zweck erfasst ansieht. Der Begriff der „Milderung der finanziellen Notlagen“ schließt es nicht begriffsimmanent aus, hierunter auch erhebliche pandemiebedingte Umsatzausfälle zu fassen. Vielmehr dürfte der objektive Empfänger angesichts der expliziten und in seiner Bedeutung gegenüber dem Liquiditätsengpass in keiner erkennbaren Form eingeschränkten Erwähnung des Umsatzausfalls davon ausgehen, dass auch pandemiebedingte Umsatzausfälle von dem Beklagten als im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehende finanzielle Notlagen definiert werden.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Auch aus den übrigen zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides erkennbaren objektiven Umständen musste sich dem Bescheidadressaten nicht aufdrängen, dass Umsatzausfälle – entgegen des Bescheidwortlauts – mit der Soforthilfe nicht zumindest auch abgedeckt werden sollten.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">So war bereits in den Antragsunterlagen unter Ziffer 6.1 unter anderem zu versichern, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Förderantragstellers durch die Corona-Krise wesentlich beeinträchtigt wurde, weil „die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind“ oder „die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen“. Auch an dieser Stelle werden Umsatzausfall einerseits und ein Liquiditätsengpass (ein solcher dürfte mit der zitierten Formulierung gemeint sein) andererseits gleichrangig neben anderen Fördervoraussetzungen, auf die es hier nicht ankommt, erwähnt. Die Verbindung dieser einzeln aufgezählten Versicherungen erfolgte durch die Konjunktion „oder“, was aus Sicht eines objektiven Empfängers zu dem Schluss nötigt, dass bereits das Vorliegen einer der genannten Versicherungen zur Antragsstellung genügt. Hätte von vornherein festgestanden, dass es im Rahmen der Förderung immer nur um die Deckung eventueller Liquiditätsengpässe gehen sollte, so wäre eine derartig differenzierte Aufzählung nicht erforderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund überzeugt es auch nicht, wenn der Beklagte meint, in den Antragsunterlagen werde der Liquiditätsengpass an anderer Stelle in den Vordergrund gestellt, namentlich in Ziffer 5. und Ziffer 6.2. Hieraus musste ein objektiver Adressat angesichts der alternativen Abfrage von Umsatzausfall und Liquiditätsengpass unter Ziffer 6.1 nicht den Schluss ziehen, allein die Deckung von Liquiditätsengpässen im engeren Sinn sei Gegenstand der Förderung. Ebenso wie im Bescheid wäre es dann nämlich sinnlos, überhaupt eine Versicherung hinsichtlich eines eventuellen Umsatzausfalls zu verlangen, da es in einem solchen Fall auch genügt hätte, einfach eine Versicherung hinsichtlich eines Liquiditätsengpasses zu verlangen. Die von dem Beklagten erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgeworfene Differenzierung zwischen Antragsvoraussetzungen einerseits- und Anspruchsvoraussetzungen andererseits, nach der ein Umsatzausfall zwar zur Antragstellung berechtige, aber nichts über die Förderhöhe aussage, ist demgegenüber in den Antragsunterlagen weder offen noch indirekt angelegt. Da es bereits widersinnig ist, im Rahmen einer vorläufigen Bescheidung wie der Beklagte meint allein über die grundsätzliche Antragsberechtigung zu entscheiden – was soll einem Antragsteller die Feststellung einer derart isolierten Antragsberechtigung ohne spätere endgültige Förderung nützen? – hätte eine derartige Regelung eindeutig und von vornherein in den Antragsunterlagen angelegt sein müssen. Dies umso mehr als Ziffer 1.1 des Antragsformulars bereits regelt, wer „Antragsberechtigt“ ist. Ob eine solche Differenzierung in Antragsberechtigung und Anspruchsberechtigung in der Soforthilfe-Richtlinie angelegt ist, kann die Kammer dahinstehen lassen, da es auch in diesem Kontext auf die Soforthilfe-Richtlinie nicht ankommt. Denn wie bereits oben ausgeführt wurde, können zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schlicht noch nicht existente Umstände – wie der erst nachträgliche Erlass der Soforthilfe-Richtlinie – keine objektiv erkennbaren Umstände im Rahmen der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts darstellen.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Auch die im Internet abrufbaren und von dem Beklagten veröffentlichten FAQs bestätigen dieses Verständnis. So heiß es in der zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten Fassung vom 13./14.05.2020 (Anlage B16, Beiakte 002) zu der Frage „Was wird gefördert?“ wörtlich [Hervorhebungen im Original]:</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">„<span style="text-decoration:underline">Voraussetzung</span>: erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten in Folge von Corona. Dies wird angenommen wenn […]</p>
<span class="absatzRechts">117</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind […]</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong> […]</p>
<span class="absatzRechts">120</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Unternehmens […] zu zahlen (=Finanzierungsengpass).“</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Die von dem Beklagten veröffentlichten FAQs stellen also die Voraussetzungen der Förderung – hier als erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten beschrieben – wiederum in einen Zusammenhang mit Umsatzausfällen. Insbesondere ergibt sich aus der oben zitierten Formulierung abermals unter Verwendung der Konjunktion „oder“, dass bereits Umsatzausfälle zur Annahme von Finanzierungsengpässen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten genügen können. In den FAQs in der Fassung vom 13./14.05.2020 (Anlage B16, Beiakte 002) wurde weiter auf die Frage, wie eine Überkompensation definiert sei, wörtlich geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">„Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält als sein tatsächlich eingetretener Schaden – also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z. B. Mietminderung) – ist“[…].</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Hier knüpft der Begriff der Überkompensation sogar im Schwerpunkt (insbesondere) an den Umsatzausfall und gerade nicht an einen Liquiditätsengpass an. Diese Formulierung entspricht hinsichtlich des Umsatzausfalls auch weitestgehend der Formulierung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020, was dessen Auslegung abermals bestätigt.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Angesichts sowohl des eindeutigen Wortlauts des Bewilligungsbescheids als auch der Vielzahl weiterer entsprechender Hinweise in den Antragsunterlagen und den FAQs ist aus Sicht eines objektiven Adressaten auch aus den übrigen zum Bewilligungsbescheid erkennbaren Umständen kein zwingender Schluss geboten, es würde im Rahmen der Förderung allein ein Liquiditätsengpass abgedeckt. Dass in einzelnen veröffentlichten Informationen – z. B. im Eckpunktepapier „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ vom 23.03.2020, dem Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes vom 30.03.2020 und den Vollzugshinweisen vom 29.03.2020 zur Verwaltungsvereinbarung vom 01.04.2020 dagegen nur von Liquiditätsengpässen und nicht auch von Umsatzausfällen die Rede ist, steht gegenüber allen anderen Anzeichen eindeutig im Hintergrund. Dies insbesondere angesichts der Vielzahl sich zudem widersprechender Informationen.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Unerheblich für die Auslegung des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 ist dabei die Soforthilfe-Richtlinie, da diese zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht veröffentlicht, dementsprechend für einen objektiven Adressaten nicht wahrnehmbar und daher für die Ermittlung des Empfängerhorizonts irrelevant sind. Ob diese die Auslegung des Beklagten, es komme nur auf einen Liquiditätsengpass an, trägt, kann dementsprechend dahinstehen.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber ist festzustellen, dass dieser Auslegung entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht das Klageverhalten der Gesamtmenge an Förderungsempfängern entgegengehalten werden kann. Soweit der Beklagte im Rahmen einer Art „statistischer Auswertung“ ausführt, dass von über 400.000 Zuwendungsempfängern nur 2.000 Empfänger den jeweils an sie adressierten Bescheid angefochten hätten und über 60.000 Empfänger freiwillig erklärt hätten, mangels eines Liquiditätsengpasses auf die Zuwendung zu verzichten, kann er hieraus keine Argumente für seine Lesart des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 ableiten. Die statistische Analyse des Beklagten hat hierzu keinerlei Aussagewert, da allein aus der Tatsache der Nichterhebung einer Klage keinesfalls der Schluss gezogen werden kann, der jeweilige Adressat habe den jeweiligen Bewilligungsbescheid inhaltsgleich verstanden wie der Beklagte. Hier können auch andere Faktoren – etwa das Vertrauen auf die Aussage des Beklagten als einer an das Rechtsstaatsprinzip gebundenen Behörde oder die Sorge vor mit einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verbundenen Kosten – erheblichen Einfluss auf die Klagebereitschaft der jeweiligen Adressaten gehabt haben.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch die Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der kumulativen Rückforderungsvoraussetzungen Umsatzausfall und Liquiditätsengpass ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Auch sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis. Auch insoweit entsprach es nämlich der allein maßgeblichen tatsächlichen Förderpraxis des Beklagten, Ziffer II. 3. der jeweiligen Bewilligungsbescheide einheitlich entsprechend der Fassung im Bescheid vom 26.05.2020 zu formulieren. Auch hier kommt es auf eine etwaig anders gewollte Verwaltungspraxis nicht an. Ob dies mit der Soforthilfe-Richtlinie vereinbar wäre, kann aus den bereits unter Ziffer I. genannten Gründen dahinstehen, da diese zum Bewilligungszeitpunkt die Verwaltungspraxis nicht prägen konnte, weil sie schlicht noch nicht existierte.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen wäre der Schlussbescheid vom 19.12.2021 auch bei Annahme einer bloß vorläufigen Bewilligung durch den Bescheid vom 26.05.2020 rechtswidrig, weil die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids jedenfalls unter Missachtung der nach obiger Darlegung kumulativ notwendigen beiden Voraussetzungen einer Rückforderung erfolgt wäre. Denn der Beklagte hat in seinem Schlussbescheid allein auf einen im Rahmen des Rückmeldeverfahrens abgefragten Liquiditätsengpass abgestellt, indem er seitens der Adressaten die Einnahmen und Ausgaben aus dem jeweiligen Bewilligungszeitraum abgefragt, die hieraus gebildete Differenz als Liquiditätsengpass festgestellt und zugleich die Soforthilfe in dieser Höhe festgesetzt hat. Dadurch hat er die zweite und nach dem Obenstehenden ebenfalls erforderliche Voraussetzung einer Rückforderung, dass nämlich die Finanzhilfe den Umsatzausfall übersteigt, ignoriert und sich über die verbindlichen Festsetzungen des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 hinweggesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Erforderlich wäre es stattdessen gewesen – ginge man entgegen der unter I. getroffenen Überlegungen überhaupt von einer vorläufigen Bewilligung hinsichtlich der Förderhöhe aus –, zunächst sowohl den Liquiditätsengpass als auch einen Umsatzausfall zu ermitteln. Denn eine Rückforderung kann nach der Formulierung der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 nur soweit erfolgen, wie die beiden dort genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass es zum Behaltendürfen der Förderung nach der Konzeption des Bescheids genügt, wenn die Förderung entweder zur Deckung des Umsatzausfalls oder des Liquiditätsengpasses benötigt wird. Übersteigt einer dieser beiden Parameter den anderen, darf daher nur insoweit zurückgefordert werden, wie die Finanzhilfe nicht auch zur Deckung des höheren Parameters benötigt wird. Dies folgt aus der Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens beider Voraussetzungen, sodass untechnisch gesprochen im Rahmen einer Rückforderung auf den adressatengünstigeren Parameter abzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid schon deswegen rechtswidrig wäre, kann dahinstehen, ob die Ermittlung des Liquiditätsengpasses und ihre Festsetzung in Ziffer 1. des Schlussbescheids vom 19.12.2021 selbst für sich rechtlich nicht zu beanstanden wäre und den Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 entsprochen hätte. Denn selbst wenn man hiervon ausginge, wäre der Schlussbescheid vom 19.12.2021 insgesamt aufzuheben, da nach der Bescheidkonzeption des Beklagten die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids und die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids in untrennbarem Zusammenhang stehen und der Beklagte kein berechtigtes Interesse hat, die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids isoliert bestehen zu lassen.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Ziffer 3. des Schlussbescheids ist nach alledem ebenfalls rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 49a Abs. 1 VwVfG, der nach ständiger Rechtsprechung im Fall der Ersetzung eines vorläufigen Bescheides durch einen Schlussbescheid entsprechende Anwendung findet,</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 24, juris; BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2016 – 10 C 8.15 –, Rn. 11, juris,</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">nicht vorliegen. Denn es handelt sich aus den unter Ziffer I. ausgeführten Gründen bei dem Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 nicht um einen der Ersetzung durch einen Schlussbescheid zugänglichen vorläufigen Verwaltungsakt. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Bescheids jedenfalls aus den oben unter Ziffer II. ausgeführten Gründen rechtswidrig erfolgt, sodass auch dann die Rückforderung rechtswidrig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid vom 19.12.2020 sich nach alledem bereits unter zwei selbstständig tragenden Gesichtspunkten als rechtswidrig erweist, kann die Kammer offenlassen, ob der Schlussbescheid darüber hinaus wegen Verstoßes gegen Verfahrens- oder Datenschutzvorschriften rechtswidrig ist.</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Der Schlussbescheid vom 19.12.2020 konnte auch nicht nach § 47 Abs. 1 VwVfG zu einem Widerruf des Bewilligungsbescheids vom 26.05.2020 gemäß § 49 Abs. 3 VwVfG umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Der umgedeutete Verwaltungsakt darf dabei nicht den erkennbaren Absichten der erlassenden Behörde widersprechen, § 47 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Zunächst widerspräche eine solche Umdeutung den erkennbaren Absichten des Beklagten, der nachdrücklich davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 26.05.2020 allein um einen vorläufigen Verwaltungsakt handelt. Zudem ist nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 49 Abs. 3 S. 1 VwVfG überhaupt vorlägen. Insbesondere ein Auflagenverstoß kann dem Kläger nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht vorgeworfen werden. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre eine Umdeutung ausgeschlossen, weil ein Widerruf jedenfalls nicht in der geschehenen Verfahrensweise hätte erfolgen dürfen. Denn bei einem Widerruf wegen eines Auflagenverstoßes oder einer Zweckverfehlung im Einzelfall wäre jedenfalls eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG zwingend erforderlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. 709 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Die Berufung war gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 S. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zwar beruht die Entscheidung der Kammer auf der Auslegung eines einzelnen Verwaltungsakts. Dieser Verwaltungsakt ist jedoch inhaltsgleich mit einer Vielzahl von weiteren Bescheiden, gegen die ebenfalls Klage erhoben wurde. Es besteht vor diesem Hintergrund ein allgemeines Klärungsinteresse an der Rechtsmäßigkeit der mit der Fassung des Bescheids verkörperten Verwaltungspraxis der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">9.000,00 €</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,634 | vg-koln-2022-09-16-16-k-40622 | {
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<p>Der Schlussbescheid der Bezirksregierung L. – Az. 34.Soforthilfe2020-335954 – vom 18.12.2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger bietet freiberufliche Dienstleistungen im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung mit den Schwerpunkten Coaching, Mediation und Konfliktmanagement an.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im März 2020 zeichnete sich ab, dass Unternehmer und Selbstständige aufgrund verschiedener infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden. Daher legte der Bund zur Bereitstellung kurzfristiger Finanzhilfen das Förderprogramm „Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ auf. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentlichte hierzu am 23.03.2020 ein Eckpunktepapier.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beschloss, das Programm des Bundes in vollem Umfang an die vorgesehenen Zielgruppen weiterzuleiten. Beide Maßnahmen wurden in dem Förderprogramm „NRW Soforthilfe 2020“ gebündelt. Die federführende Verantwortung lag bei dem damaligen Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf dessen Internetpräsenz waren häufige Fragen zum Förderverfahren, sog. FAQ, in verschiedenen Fassungen unter dem Link https://wirtschaft.nrw.de/nrw-soforthilfe-2020 abrufbar. Zu deren Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorgelegten Fassungen (Beiakte 002) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 30.03.2020 veröffentliche das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ auf seiner Homepage.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 31.03.2020 beantragte der Kläger über das Online-Formular des Beklagten eine Soforthilfe aus dem Programm „NRW-Soforthilfe 2020“ in Höhe von 9.000 EUR. Hierbei versicherte er, dass seine wirtschaftliche Tätigkeit durch die COVID-19-Pandemie wesentlich beeinträchtigt sei, da entweder</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 01.03.2020 durch die COVID-19-Pandemie weggefallen seien oder</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert seien oder</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">- die Umsatzerzielungsmöglichkeiten durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt worden seien oder</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unter Ziffer 6.5 stimmte der Kläger der Erhebung und Verarbeitung seiner für die Zuschussgewährung erforderlichen Daten im Rahmen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen (DSGVO) zu. Mit Ziffer 6.11 bestätigte der Kläger, ihm sei bekannt, dass er die Soforthilfe im Fall einer Überkompensation (Entschädigungs-, Versicherungsleistungen, andere Fördermaßnahmen) zurückzahlen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Noch am 31.03.2020 erging an den Kläger ein Bewilligungsbescheid. Unter Ziffer 1. des Bescheids bewilligte der Beklagte dem Kläger „eine Soforthilfe i. H. v. 9.000,00 € […] als einmalige Pauschale“. Gemäß Ziffer 2. des Bescheids erfolgte die Soforthilfe ausschließlich zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie als Einmalzahlung für einen dreimonatigen Bewilligungszeitraum ab Antragstellung. Die Soforthilfe diene insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 01.03.2020 in Zusammenhang mit der COVID-19‑Pandemie entstanden seien. Unter Ziffer II. 3. sah der Bescheid vom 31.03.2020 auszugsweise folgende Nebenbestimmung vor:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 31.03.2020 (Bl. 5 – 8 der Verwaltungsvorhänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am 01.04.2020 schlossen der Beklagte und der Bund eine Verwaltungsvereinbarung über die „Soforthilfen des Bundes für die Gewährung von Überbrückungshilfen als Billigkeitsleistungen für „Corona-Soforthilfen insbesondere für kleine Unternehmen und Soloselbständige“. Beigefügt waren Vollzugshinweise des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen in der Endfassung vom 29.03.2020.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Am 31.05.2020 wurden die „Richtlinien des Landes zur Gewährung von Soforthilfen für gewerbliche Kleinunternehmen, Selbstständige und Angehörige freier Berufe, die infolge der Sars-CoV-2-Pandemie in ihrer Existenz gefährdet sind“ als Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie (Az. VB 5 - 2020) – im Folgenden: Soforthilfe - Richtlinie – erlassen und traten laut Ziffer 9. der Soforthilfe-Richtlinie mit Wirkung vom 27.03.2020 in Kraft.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 18.06.2021 forderte der Beklagte den Kläger zur Berechnung und Rückmeldung seines Liquiditätsengpasses für den Bewilligungszeitraum unter Verwendung der von dem Beklagten übersandten Formulare auf. Aus der am 28.10.2021 übersandten Rückmeldung ergab sich durch eine Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben ein Liquiditätsengpass von 0 EUR im Bewilligungszeitraum. Der Kläger erklärte, einen fiktiven Unternehmerlohn von 2.000 EUR in Anspruch zu nehmen. Fragen zum Umsatzausfall wurden in den Formularen des Beklagten nicht gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Am 18.12.2021 erließ der Beklagte einen Schlussbescheid. Mit den Ziffern 1. und 2. des Bescheids stellte er einen Liquiditätsengpass von 2.000 EUR fest und setzte die Höhe der Soforthilfe auf diesen Betrag fest. Mit Ziffer 3. des Bescheids forderte er den Kläger zur Rückzahlung des überzahlten Betrages von 7.000 EUR auf.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte der Beklagte aus, er sei nach Ziffer 5.2 der Soforthilfe-Richtlinie auch für die Rückforderung überzahlter Beträge zuständig. Nach den Ziffern 3.1, 3.2, 5.2 und 5.3 der Soforthilfe-Richtlinie werde die NRW-Soforthilfe 2020 zwar zunächst in voller Höhe gewährt. Die endgültige Festsetzung erfolge aber erst nach Rückmeldung und Berechnung des Liquiditätsengpasses. Decke der Liquiditätsengpass die gezahlte Soforthilfe nicht vollständig ab, werde Soforthilfe nur in Höhe des Liquiditätsengpasses gewährt. Auf Grundlage der Rückmeldung des Klägers bestehe nur ein Liquiditätsengpass in Höhe von 2.000 EUR. Der überzahlte Betrag sei daher nach § 49a Abs. 1 VwVfG in entsprechender Anwendung zurückzufordern. Der Schlussbescheid trete insoweit an die Stelle des ursprünglichen Bewilligungsbescheids. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Schlussbescheid vom 18.12.2021 (Bl. 23 – 27 der Verwaltungsvorgänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 16.01.2022 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung seiner Klage führt er im Wesentlichen aus: Bei der Beantragung der Soforthilfe sei von einer allgemeinen Rückzahlungsverpflichtung auf Basis des Liquiditätsengpasses nicht die Rede gewesen, sondern allenfalls von einer Rückzahlung bei Überkompensation. Es trete nicht deutlich aus dem Bewilligungsbescheid hervor, dass es sich um eine vorläufige Bewilligung handle. Die Beklagte habe mehrdeutige und intransparente Formulierungen verwendet, was sich zugleich in den veröffentlichten Voraussetzungskatalogen und FAQs zeige. Diese hätten sich fast täglich zu Lasten der Antragsteller verändert. Es sei den Unternehmern eine unbürokratische einmalige Zuwendung „ohne Wenn und Aber“ versprochen worden, worauf man angesichts politischer Äußerungen auch vertraut habe. Der Liquiditätsengpass stelle keinen adäquaten Maßstab zur Bestimmung der Höhe der Soforthilfe dar, weil sich in ihm der Umsatzausfall nicht spiegle. Es handle sich um ein willkürliches Kriterium, welches falsche Anreize zur Verwendung der Soforthilfe setze. So müsse ein Unternehmen, welches seine Rücklagen investiert habe, mangels Liquiditätsengpass zurückzahlen, während andere die Soforthilfe behalten könnten, obwohl beide gleichermaßen von pandemiebedingten Umsatzausfällen betroffen seien. Dies verzerre den Wettbewerb zu Gunsten liquiditätsschwacher Unternehmen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">den Schlussbescheid der Bezirksregierung L. -Az. 34.Soforthilfe-2020-335954- vom 18.12.2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt er aus, der Beklagte habe sich dazu entschieden, den Förderhöchstbetrag als vorläufige Pauschale auszuzahlen, um möglichst schnell Hilfe leisten zu können. Eine Ermittlung des Liquiditätsengpasses sei aber erst rückblickend möglich. Bei der Bewilligung habe es sich bloß um einen vorläufigen Verwaltungsakt gehandelt. Das komme im Begriff der „einmaligen Pauschale“ und vor allem durch die Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids zum Ausdruck und werde durch die zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten allgemeinen Informationen bestätigt. So seien die Bescheide auch von einem Großteil der Betroffenen verstanden worden, da weniger als ein Prozent der Bescheide beklagt worden sei. Die Berechnung des Liquiditätsengpasses erfolge nach der Soforthilfe-Richtlinie, die zwischen Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen differenziere. Den Antrag habe man danach auch auf Basis eines bloßen Umsatzausfalls stellen können, ein endgültiger Anspruch bestehe aber nur bei einem Liquiditätsengpass. Dies entspreche dem Sinn der Förderung, finanzielle Notlagen abzumildern, worauf auch in den Antragsunterlagen hingewiesen worden sei. Die Soforthilfe-Richtlinie stelle auch keinen Fall unzulässiger Rückwirkung dar, weil sie bloß verwaltungsintern wirke.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft. Denn der Kläger wendet sich gegen den Schlussbescheid vom 18.12.2021, der eine ihn rein belastende Regelung darstellt. Die mit dem Schlussbescheid getroffenen Regelungen führen nämlich noch unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Bewilligungsbescheid und Schlussbescheid dogmatisch zu bewerten ist, jedenfalls dazu, dass dem Kläger eine ihm bereits durch den Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 gewährte subjektive Rechtsposition – die gewährte Förderung von 9.000 EUR sowie damit verbunden das Recht, diese Förderung während des Bestands des Bewilligungsbescheids behalten zu dürfen – entzogen wird. Dieser Belastung kann er sich entsprechend seines maßgeblichen Klagebegehrens nach § 88 VwGO am besten erwehren, indem er den Schlussbescheid anficht. Es liegt insbesondere auch kein Fall einer vorrangigen Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 S. Alt. VwGO vor, weil es dem Kläger nicht darum geht, einen materiellen Anspruch durch das Erzwingen des Erlasses eines Verwaltungsakts durchzusetzen. Er kann durch eine Verpflichtungsklage etwa gerichtet auf Erlass eines Schlussbescheids anderen Inhalts keine Erweiterung seiner subjektiven öffentlichen Rechte erreichen, da er bereits aufgrund des Bewilligungsbescheids die Maximalförderung zugesprochen bekommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die auch im Übrigen zulässige Klage ist zudem begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 18.12.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Beklagte hat die mit Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 gewährte Soforthilfe zu Unrecht auf einen Betrag von 2.000 EUR festgesetzt (Ziffer 2. des Schlussbescheids) und einen Betrag von 7.000 EUR zurückgefordert (Ziffer 3. des Schlussbescheids).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte geht bereits im Ausgangspunkt zu Unrecht davon aus, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 lediglich um eine vorläufige Bewilligung handelt, die er durch einen Schlussbescheid ersetzen durfte (dazu I.). Selbst wenn man dies anders sähe und von einer vorläufigen Bewilligung ausginge, wäre die Klage aber immer noch begründet, da der Beklagte sich durch die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids vom 18.12.2020 in rechtlich nicht zulässiger Weise über verbindliche Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 hinweggesetzt hätte (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom [00.00.0000] trifft hinsichtlich der dem Kläger gewährten Zuwendung in Form der Soforthilfe eine endgültige Regelung und stellt insoweit keinen sogenannten vorläufigen Verwaltungsakt dar.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Von einem vorläufigen Verwaltungsakt ist im Bereich der Zuwendungsgewährung auszugehen, wenn die Zuwendung unter dem Vorbehalt einer späteren abschließenden Entscheidung bewilligt wird. Ein solcher Bewilligungsbescheid ist in seinem Regelungsinhalt dahingehend eingeschränkt, dass der Begünstigte die Zuwendung zunächst nur vorläufig bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung behalten darf. Ob ein Anspruch auf das endgültige Behaltendürfen der Zuwendung besteht, hängt dagegen von dem Inhalt des abschließenden Bewilligungsbescheids, des Schlussbescheids ab.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 33, juris; BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 14 juris.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Bedürfnis für eine solche lediglich vorläufige Regelung kann insbesondere dann bestehen, wenn zum Erlasszeitpunkt des vorläufigen Bescheids eine tatsächliche Unsicherheit besteht. Das Subventionsverhältnis wird dabei zunächst durch den Zuwendungsbescheid geregelt, der aber unter den Vorbehalt der späteren Festsetzung gestellt wird und damit auf eine Ergänzung durch einen weiteren Verwaltungsakt angelegt ist, durch den die Zuwendung in den offen gehaltenen Punkten abschließend geregelt werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 15 juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 63, juris.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Vorbehalt endgültiger Regelung bewirkt, dass die Behörde die vorläufige Regelung im Ausgangsbescheid durch die endgültige Regelung im Schlussbescheid ersetzen kann, ohne insoweit an die Einschränkungen der §§ 48, 49 VwVfG gebunden zu sein. Bei einer späteren endgültigen Regelung durch einen Schlussbescheid bedarf es insoweit keiner Aufhebung der unter Vorbehalt ergangenen Bewilligung, da diese durch den Schlussbescheid ersetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 16, juris; OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); HK-VerwR/Kyrill-Alexander Schwarz, 5. Aufl. 2021, VwVfG § 35 Rn. 28; Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 245.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Wie weit der Vorbehalt der endgültigen Regelung reicht und ob er die Bewilligung insgesamt oder nur Teilregelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids umfasst, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Denn die Vorläufigkeit muss sich nicht auf den ersten Bescheid insgesamt beziehen, sondern kann und muss gegebenenfalls auf einzelne Aspekte beschränkt sein. Es können also auch bereits im vorläufigen Bewilligungsbescheid endgültige Teil-Regelungen getroffen und dem Adressaten insoweit gesicherte (Teil-) Rechtspositionen vermittelt werden. Auch wenn daher die Behörde einen unter Vorbehalt gestellten Verwaltungsakt später durch einen Schlussbescheid ersetzt, so kommt eine inhaltlich abweichende Regelung im Schlussbescheid - außer in den Fällen der §§ 48, 49 VwVfG - nur in Betracht, wenn sie aus den Gründen ergeht, wegen derer die frühere Regelung unter Vorbehalt gestellt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –,Rn. 17, juris.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unterliegen insoweit der Auslegung aus Sicht eines objektiven Empfängers entsprechend der §§ 133, 157 BGB. Das Gericht hat den Bewilligungsbescheid dahin zu erforschen, wie der Adressat ihn unter Berücksichtigung der ihm bekannten oder erkennbaren Umstände bei objektiver Auslegung verstehen musste.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 – 10 C 5.17 –,Rn. 25, juris; BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, Rn. 14, juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 56, juris; OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 5, juris.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Abzustellen ist dabei auf Sicht des Adressaten zum Erlasszeitpunkt des ursprünglichen Bewilligungsbescheides unter Berücksichtigung allein der zu diesem Zeitpunkt bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umstände. Nach Erlass eines Zuwendungsbescheides kann die Behörde nicht mehr frei über die Auslegung von darin verwandten Begrifflichkeiten entscheiden. Der Bescheid hat insoweit Fakten geschaffen, über die sie sich auch im Rahmen des Zuwendungsrechts nicht nach Ermessen hinwegsetzen kann.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 7, juris.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Welche Teile des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung stehen und welche bereits im ursprünglichen Bescheid endgültige Regelungen treffen, muss sich vor allem aus dem vorläufigen Bewilligungsbescheid selbst ergeben. Insoweit muss in diesem ausdrücklich bezeichnet oder zumindest eindeutig erkennbar sein, hinsichtlich welcher Regelung die Erlassbehörde sich eine spätere Entscheidung vorbehalten will. Dies folgt einerseits aus dem Gebot hinreichender Bestimmtheit von Verwaltungsakten im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG, andererseits mit Blick auf den Vertrauensschutz des Adressaten. Unklarheiten gehen zu Lasten der Erlassbehörde, die es insoweit in der Hand hat, Bestimmtheits- oder Auslegungsprobleme durch eindeutige Formulierungen im ursprünglichen Bescheid zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 247.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen ist es nicht ausreichend, wenn sich die Auslegung als vorläufiger Verwaltungsakt lediglich als noch mögliche Deutung neben einer Vielzahl weiterer möglicher Auslegungen darstellt. Es genügt für die Annahme eines Regelungsvorbehalts nicht, dass ein Bewilligungsbescheid als vorläufiger Verwaltungsakt verstanden werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104 – 105, juris.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist es erforderlich, dass der Regelungsvorbehalt aus dem Bescheid sowie den erkennbaren Umständen für einen objektiven Empfänger als die einzig sinnvolle Deutung erscheint und sich dieses Verständnis dem objektiven Empfänger aufdrängen muss. Dabei gebieten es die mit dem Vorbehalt späterer endgültiger Entscheidung verbundene Folge des Ausschlusses von Vertrauensschutz und die Verwandtheit dieser Regelungsweise mit Befristung, Bedingung und Widerrufsvorbehalt (§ 36 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwVfG),</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, 3 C 7.09, juris, Rn. 20,</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">strenge Anforderungen an die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots (§ 37 VwVfG NRW) für die Vorläufigkeit einer Regelung und ihres genauen Umfangs zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, 15 A 708/88, NVWZ 1991, 588 (589); Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 160; König, BayVBl. 1989, 36; Martens, DÖV 1987, 998.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab ist der Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 dahin auszulegen, dass er die dem Kläger gewährte Förderung insbesondere auch der Höhe nach endgültig regelt. Der Beklagte hat sich im insoweit allein maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 den Erlass eines Schlussbescheides weder ausdrücklich noch zumindest noch ausreichend deutlich vorbehalten, sondern den Antrag des Klägers vom 31.03.2020 – auch hinsichtlich der Höhe der Soforthilfe – in Wahrheit abschließend beschieden.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 bringt an keiner Stelle, insbesondere im Tenor und/oder in den einschlägigen Ziffern II. 3., 4. und 8. der Nebenbestimmungen, die Vorläufigkeit bzw. Vorbehaltlichkeit der Gewährung der Soforthilfe für den objektiven Empfängerhorizont mit (noch) hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Ausreichend, aber auch notwendig wäre es hierzu gewesen, einen entsprechenden Entscheidungsvorbehalt bzw. eine Vorläufigkeit der Bewilligung der Zuwendung mit Blick auf eine erst zukünftig (abschließend) zu bewilligende Zuwendung mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit zum Inhalt des Bescheids zu machen. Das ist hier nicht geschehen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid enthält unter Ziffer „1. Bewilligung“ die der Höhe nach einschränkungslose „Bewilligung“ einer „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00 €“. Ein Hinweis auf eine etwaige Höchstbetragsförderung mit späterer endgültiger Abrechnung etwa über den Zusatz „bis zu 9.000,00 €“, der sich gerichtsbekannt in einer Fülle von Bewilligungsbescheiden der Bezirksregierung L. bei anderen Förderprogrammen findet, fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Bewilligung „als einmalige Pauschale“ spricht hingegen nicht hinreichend deutlich für eine vorläufige Regelung zur Höhe der Corona Soforthilfe. Denn die Wortbedeutung erfasst zwar auch eine vorläufige Geldsumme, die man vor der endgültigen Abrechnung erhält. Eine einmalige Pauschale kann aber auch als ein Geldbetrag, der mehrere Teilsummen zusammenfasst, die nicht einzeln abgerechnet werden, verstanden werden. Ebenso kann der Begriff der Pauschale auch genau umgekehrt zu der von dem Beklagten vorgenommenen Deutung verstanden werden, dass nämlich gerade keine genaue Ermittlung des durch die Förderung zu kompensierenden Ausfalls erfolgen soll, sondern dieser durch eine einmalige – z. B. aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder Beschleunigung vorgenommene – Pauschalzahlung abgegolten wird. Diese mehrfache Wortbedeutung schließt die erforderliche Bestimmtheit im oben dargelegten Sinn aus.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch die Festlegung eines dreimonatigen Bewilligungszeitraums in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 zwingt nicht zu dem Schluss, es handle sich um eine bloß vorläufige Bewilligung. Die Festlegung eines Bewilligungszeitraums ist keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal eines vorläufigen Verwaltungsakts, sondern erfolgt regelmäßig auch bei endgültigen Förderbescheiden. Dies macht auch bei endgültigen Förderbescheiden, denen ebenfalls ein Verwendungsnachweisverfahren – ggfs. verbunden mit einem Widerrufsverfahren nach § 49 Abs. 3 VwVfG – nachgeschaltet sein kann, Sinn, um den relevanten Zeitraum hinsichtlich förderungsrelevanter Ausgaben und Kosten zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Der im Zuwendungsbescheid unter Ziffer II. 3. der Nebenbestimmung zu findende Passus,</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraumes feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der Landeskasse....unter Angabe des Aktenzeichens zurückzuzahlen. ...“,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">reicht nicht aus, um hierdurch einen Vorläufigkeitsvorbehalt mit hinreichender Bestimmtheit begründen zu können. Zwar kommt in ihr zum Ausdruck, dass die ausgezahlte Finanzhilfe noch von zukünftigen Faktoren abhängig ist, die zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht feststehen. Es gibt jedoch unterschiedlichste verwaltungsrechtliche Regelungsmöglichkeiten, wie mit solchen zukünftigen Faktoren umgegangen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. instruktiv BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 23 ff., juris.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist aus Sicht eines objektiven Empfängers nicht als Vorbehalt einer abschließenden Behördenentscheidung zu verstehen. Mit dieser Regelung wurde vielmehr von dem Kläger nach dem eindeutigen Wortlaut eine von ihm selbst und eigenverantwortlich vorzunehmende nachträgliche Berechnung von Ist-Werten zur tatsächlichen Höhe des Umsatzausfalls und des Liquiditätsengpasses während des Bewilligungszeitraums verlangt, mit der Folge die selbsttätig errechneten zu viel gewährten Unterstützungsgelder zurückzuzahlen. Aus dieser selbsttätig und eigenverantwortlich vorzunehmenden Berechnungs- und Prüfpflicht des Zuwendungsempfängers und einer hieraus gegebenenfalls resultierenden Rückzahlungspflicht kann unter Anwendung des gebotenen strengen Maßstabs nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont nicht mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit entnommen werden, dass damit der Begünstigte die empfangene Leistung in jedem Fall nur vorläufig bis zum Erlass einer späteren endgültigen Regelung durch die Behörde behalten darf. Denn von einem irgendwie gearteten – nachträglichen – Tätigwerden der Behörde ist hier überhaupt nicht die Rede. Dies gilt umso mehr für den Fall, dass die selbsttätig und eigenverantwortlich vom Begünstigten vorgenommene Berechnung keinen zu viel gezahlten Betrag ergeben sollte. Eine vorbehaltene endgültige Festsetzung der Höhe der Soforthilfe in einem zweiten Verwaltungsakt ist damit in dieser Regelung nicht vorgesehen. Soweit in dieser Regelung ein Hinweis auf ein späteres Rückmeldeverfahren gesehen wurde,</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">kann die erkennende Kammer einen solchen Hinweis weder dem Wortlaut noch dem Sinn der Regelung entnehmen. Ein solches Verfahren wird in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, der ausdrücklich nur den Bescheidadressaten anspricht, nicht erwähnt.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Es dürfte viel dafür sprechen, dass es sich stattdessen bei dieser Regelung um eine Auflage i.S.v. § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW handelt. Einem solchen Verständnis könnte jedenfalls nicht entgegengehalten werden, dass die Konstruktion einer nachträglichen Kontrolle der Förderung durch Begründung einer Mitwirkungsverpflichtung zur Selbstkontrolle in Form einer Auflage ungeeignet wäre, um eine angemessene Überprüfung der Förderung zu ermöglichen. Denn wenn es in diesem Fall dazu käme, dass ein Adressat einer solchen Mitwirkungsverpflichtung nicht nachkäme, stehen im Rahmen des allgemeinen Verwaltungsrechts geeignete Möglichkeiten zum Beispiel in Form eines Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG zur Verfügung, um die benötigten Angaben zu ermitteln und gegebenenfalls überzahlte Beträge zurückzufordern. Ob es sich bei der Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 18.12.2022 tatsächlich um eine Auflage handelt und welcher Inhalt dieser genau zukommt, kann offenbleiben. Denn der Beklagte hält dem Kläger in dem angefochtenen Schlussbescheid einen solchen Auflagenverstoß jedenfalls nicht vor. In der von dem Beklagten umgesetzten „Rückmeldung des Liquiditätsengpasses NRW Soforthilfe 2020“ des Klägers vom 28.10.2021 heißt es dementsprechend: „Dieses Rückmelde-Formular dient der Meldung des vorzeitig freiwillig ermittelten Liquiditätsengpasses….“. Bei einer freiwilligen Ermittlungstätigkeit des Zuwendungsempfängers selbst handelt es sich aber nicht um die behördliche Ausübung einer im Bewilligungsbescheid gemachten vorläufigen Regelung.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Ein Vorbehalt einer späteren Entscheidung ergibt sich auch nicht aus den Regelungen in den Ziffern II. 4., 5. und 8. des Bewilligungsbescheids.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 4. enthält eine Regelung hinsichtlich eventueller Rückzahlungspflichten wegen falscher Angaben bei der Antragstellung oder wegen Überkompensation. Damit wird lediglich eine Rückzahlungspflicht für diese Fälle geregelt, ohne dass sich hierin die Vorläufigkeit der Bewilligung insgesamt in hinreichender Klarheit ausdrücken würde.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">In Ziffer II. 5. wird sich ausdrücklich „im Einzelfall“ eine spätere Verwendungsprüfung vorbehalten, was jedenfalls keinen Vorbehalt einer abschließenden Entscheidung für die Gesamtförderung begründet. Die Existenz eines Verwendungsnachweisverfahrens für sich allein genommen ist insoweit ebenfalls nicht aussagekräftig, weil eine Verwendungsnachweisprüfung auch bei endgültigen Förderbescheiden stattfindet und gegebenenfalls etwa im Falle der zweckwidrigen Verwendung zu einem Rückforderungsverfahren nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG führen kann. Allein die Notwendigkeit eines nachträglichen Verwendungsnachweises besagt für sich genommen dementsprechend nichts über die Frage der Vorläufigkeit einer Zuwendungsbewilligung aus. Diese ergibt sich erst im Zusammenspiel mit etwaigen weiteren Regelungen eines Bescheides, etwa in der Zusammenschau mit einer Höchstbetrags-/Anteilsfinanzierung. Anderweitige Anzeichen für eine vorläufige Regelung finden sich im Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 aber gerade nicht. Außerdem wäre sinnlos, zu formulieren, dass „im Einzelfall eine Prüfung“ vorbehalten wird, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Da im Bewilligungsbescheid nach alledem keine erkennbaren und belastbaren Anhaltspunkte für eine bloß vorläufige Bewilligung vorliegen, käme die Annahme, dass der Bescheid gleichwohl eine bloße vorläufige Bewilligung regelt, wenn überhaupt nur noch in Betracht, wenn sich für den objektiven Adressaten aus sonstigen Umständen zwingend der Schluss aufdrängen musste, dass der Bescheid – gleichsam entgegen seines Wortlauts – lediglich eine bloß vorläufige Bewilligung ausspricht. Zu einem derartigen Schluss zwingen aber weder die Antragsunterlagen, die nach Ziffer 2. des Bewilligungsbescheides Bescheidbestandteil sind, noch die sonst zum Bewilligungszeitpunkt verfügbaren Informationen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">In den Antragsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein expliziter Hinweis darauf, dass eine Bewilligung bloß vorläufig erfolgen und nach Ablauf des Bewilligungszeitraums ein späteres Rückmeldeverfahren mit Erlass eines Schlussbescheides stattfinden solle. Insbesondere kann aus der in Ziffer 6.11 der Antragsunterlagen abgegebenen Versicherung, es sei bekannt, dass der Zuschuss im Falle einer Überkompensation zurückzuzahlen sei, kein Schluss auf eine bloß vorläufige Bewilligung gezogen werden. Denn allein die abstrakte Verpflichtung zur Rückzahlung einer Überkompensation sagt nichts darüber aus, wie eine solche Rückzahlungsverpflichtung verwaltungsverfahrensrechtlich konstruiert wird. Auch insoweit kämen neben einer bloß vorläufigen Bewilligung alternative Gestaltungen – z. B. in Form einer auflösenden Bedingung oder eines späteren Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 VwVfG – in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Auch die übrigen zum Zeitpunkt der Bewilligung veröffentlichten Informationen zwingen nicht zum Schluss, es finde mit dem Bewilligungsbescheid lediglich eine vorläufige Bewilligung statt. Soweit in den „Eckpunkte[n] zur Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie dem Bundesministerium der Finanzen vom 23.03.2020 ausgeführt ist, dass die „Finanzielle Soforthilfe „…. Bis 9.000,00 € … bzw. Bis 15.000,00 € …“ betrage und es in den „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ (Stand 30.03.2020) heißt, dass ein einmaliger Zuschuss „von bis zu 9.000,00 €“ bzw. „bis zu 15.000,00 € beantragt werden könne sowie der Antragsteller eine „einmalige Soforthilfe“ beantrage, deren Höhe sich bis zur Höchstgrenze von 9.000,00 € an dem vom Antragsteller glaubhaft versicherten Liquiditätsengpass für drei aufeinander folgende Monate“ orientiere, kommt damit nicht zugleich hinreichend deutlich im Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 selbst eine Höchstbetragsfinanzierung unter Vorbehalt einer späteren endgültigen Bewilligung zum Ausdruck. Denn der Bewilligungsbescheid bewilligt im Gegensatz zu diesen Regelungen nach seinem eindeutigen Wortlaut eine „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00“ und enthält gerade nicht den Zusatz „bis zu“.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass andere veröffentlichte Informationen im Gegenteil zu dem Schluss berechtigen konnten, dass der Förderbetrag in Maximalhöhe und endgültig bewilligt wird. In den von dem Beklagten veröffentlichten FAQs, die insoweit für die Allgemeinheit Hinweise und Informationen zur Förderung durch die Soforthilfe des Beklagten geben sollen und daher von einem objektiven Empfänger zur Auslegung des Bewilligungsbescheids herangezogen werden können, heißt es etwa in der Fassung vom 31.03.2020 (Anlage B9, Beiakte 002) auf die Frage „Wie hoch ist die Förderung?“</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">„Die Soforthilfe erfolgt im Rahmen eines einmaligen, nicht rückzahlbaren Zuschusses. Sie […] beträgt für drei Monate: 9.000 Euro für antragsberechtigte Solo-Selbstständige und Antragsberechtigte mit bis zu 5 Beschäftigten“.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob geprüft wird, ob dem Antragsteller die Hilfe wirklich zugestanden hat und wenn nein, ob die Hilfe ggfs. zurückgezahlt werden muss, antworten die FAQs vom 27.03.2020 noch (Anlage B4, Beiakte 002):</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">„Der Antragsteller versichert im Formular, dass er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen und wahrheitstreu gemacht hat. […] Da dem Antrag die Steuernummer bzw. die Steuer-ID beizufügen ist, hat das Finanzamt die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu prüfen. […] Stellt sich am Ende der Bezugszeit von drei Monaten heraus, dass der Antragsberechtigte mehr erhalten hat, als sein Schaden war, ist er gehalten, das überschüssige Geld zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage „Muss nachgewiesen werden wofür der Zuschuss eingesetzt wird?“ wurde in den FAQs vom 29.03.2020 (Ablage B8, Beiakte 002) noch geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">„Nein, ein solcher Nachweis muss nicht erbracht werden.“</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Auch hier ist an keiner Stelle auch nur ansatzweise die Rede davon, die Soforthilfe würde lediglich vorläufig bewilligt und dann in einem separaten Verfahren durch einen Schlussbescheid des Beklagten abschließend festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte sich darüber hinaus auf nach dem Erlasszeitpunkt des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 veröffentlichte Hinweise und Regelwerke, insbesondere auf die Soforthilfe-Richtlinie oder die zwischen Bund und dem Beklagten geschlossene Verwaltungsvereinbarung beruft, kann dahinstehen, ob diese für die von dem Beklagten vertretene Auslegung des Bewilligungsbescheids sprechen. Denn ihnen kann von vornherein keine Bedeutung für die Auslegung des Bewilligungsbescheids zukommen, da der maßgebliche objektive Empfängerhorizont des Bescheidempfängers sich von vornherein nur anhand der im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits bekannten Gesamtumstände bemessen kann. Hierzu gehören später ergangene Regelwerke ersichtlich nicht. Dem Umstand, dass dieser Erlass in rechtlicher Hinsicht mit Rückwirkung zum 27.03.2020, dem ersten Tag der Freischaltung des Online-Antragsverfahrens, in Kraft getreten ist, kommt für die hier allein maßgebliche Frage der Bescheidauslegung ebenfalls keine Bedeutung zu. Denn das rechtlich rückwirkende Inkrafttreten ändert nichts daran, dass die Richtlinien im Zeitpunkt des Bescheiderlasses tatsächlich noch nicht existent und dementsprechend für die Betroffenen schlicht nicht erkennbar waren. Auf die weiteren zwischen den Beteiligten aufgeworfenen Fragen der rechtlichen Zulässigkeit eines rückwirkenden Inkrafttretens kommt es danach nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch den Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der Förderung ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis, an welche die Behörde im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG als objektivem Rechtmäßigkeitskriterium gebunden war.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. April 2003 – 3 C 25.02 –, Rn. 17, juris; OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2022 – 4 A 2368/18 –, Rn. 8 f., juris mit weiteren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Es entsprach gerichtsbekanntermaßen zum Bewilligungszeitpunkt der ständigen Praxis des Beklagten, im Rahmen der Bewilligung von Förderanträgen der Soforthilfe 2020 die Bewilligungsbescheide entsprechend der im verfahrensgegenständlichen Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 getroffenen Formulierungen zu fassen. Ein offensichtlicher Verstoß gegen zum Bewilligungszeitpunkt bereits vorliegende Verwaltungsvorschriften des Beklagten ist insoweit weder vorgetragen noch ersichtlich und wäre auch unerheblich, weil es nicht darauf ankommt, wie die Verwaltungsvorschriften auszulegen sind, sondern allein darauf, wie die Bewilligungsbehörde die Verwaltungsvorschriften in ihrer ständigen tatsächlichen Praxis anwendet.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1979 – 3 C 111.79 –, Rn. 24 – 25, juris; VGH BW, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 9 S 2244/15 –, Rn. 127, juris.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Eine etwa vom Beklagten nach seinem Vorbringen möglicherweise gewollte andersartige Verwaltungspraxis zur Vorläufigkeit der Bewilligungsbescheide ist hingegen irrelevant. Allein maßgeblich ist, was der Beklagte in den Bewilligungsbescheiden objektiv zum Ausdruck gebracht hat.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend wäre es auch unerheblich, wenn der Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 den Regelungen der Soforthilfe-Richtlinie widerspräche. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass unabhängig von der Frage, ob eine rückwirkende Inkraftsetzung von Verwaltungsvorschriften zulässig ist oder nicht, eine zum Zeitpunkt der ausgeübten Verwaltungspraxis schlicht noch nicht existente Verwaltungsvorschrift auf eine tatsächlich ausgeübte, also bereits stattgefundene Verwaltungspraxis denklogisch keinen Einfluss haben und diese nicht prägen kann.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Selbständig entscheidungstragend ist das Gericht der Auffassung, dass die Klage des Klägers auch dann begründet ist, wenn entgegen dem vorstehend Ausgeführten angenommen wird, dass mit dem Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 die Corona-Soforthilfe hinsichtlich ihrer Höhe nur vorläufig bewilligt worden wäre und der „Schlussbescheid“ vom 18.12.2021 diesen – vorläufigen – Bewilligungsbescheid in seinem Regelungsumfang ersetzt habe. Auch dann erweist sich der angefochtene „Schlussbescheid“ als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Wie bereits dargelegt wurde, sind auch im Falle eines vorläufigen Verwaltungsakts nur die Regelungsbestandteile einer abschließenden Regelung durch Schlussbescheid zugänglich, die auch im ursprünglichen Bewilligungsbescheid unter einen entsprechenden Vorbehalt gestellt wurden. Andere Regelungsbestandteile können bereits abschließende Regelungen enthalten und insoweit nur unter den Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG abgeändert werden.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wäre der Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 jedenfalls dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen, unter denen der Beklagte die Förderhöhe abweichend festsetzen könnte, bereits im Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 abschließend geregelt wurden. (dazu 1.). Diesen Vorgaben widerspräche die Festsetzung der Soforthilfe durch den Schlussbescheid vom 18.12.2021 (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 macht die Rückzahlung von zwei Voraussetzungen abhängig: Die zu viel gezahlten Mittel sind zurückzuzahlen, wenn die Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich des Liquiditätsengpasses benötigt werden. Es handelt sich hierbei um zwei grundsätzlich zu unterscheidende Merkmale, nämlich den Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum abzgl. eingesparter Kosten einerseits und die Deckung des Liquiditätsengpasses andererseits. Diese Rückforderungsvoraussetzungen stehen – selbst wenn man entgegen der obigen Würdigung von einer lediglich vorläufigen Festsetzung der Förderungshöhe ausgeht – jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt einer späteren – u.U. auch abweichenden – Entscheidung, sondern werden durch den Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 abschließend festgelegt. Es finden sich im Bewilligungsbescheid keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch die Festlegung der Rückzahlungsvoraussetzungen erst unter Vorbehalt erfolgen sollte. Ein diesbezüglicher Vorbehalt wäre rechtlich auch kaum in zulässiger Weise gestaltbar, denn anders als hinsichtlich der Förderhöhe besteht jedenfalls hinsichtlich eventueller Rückforderungsvoraussetzungen weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Unsicherheit, die es rechtfertigen würde, die Rückforderungsvoraussetzungen von einer späteren Entscheidung abhängig zu machen. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids definierten Voraussetzungen einer Rückzahlungsverpflichtung zugleich definieren, was überhaupt förderfähige Ausgaben im Rahmen des Zuwendungsverhältnisses sind. Schon aus Gründen des Vertrauensschutzes kann es dem Beklagten nicht möglich sein, eine Zuwendung zu bewilligen und auszuzahlen und erst später zu entscheiden, welche Art von Ausgaben mit dieser Zuwendung überhaupt dem Grunde nach gefördert werden soll. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine grundlegende Entscheidung, die der Zuwendungsgeber bereits bei der Begründung des Zuwendungsverhältnisses durch den vorherigen Bewilligungsbescheid treffen kann und hier durch die Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 auch getroffen hat.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 106, juris, wo von der Festlegung von Berechnungsgrößen durch den Bewilligungsbescheid gesprochen wird.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Diese Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist dahin auszulegen, dass sie eine Rückforderung nur dann und auch nur soweit vorsieht, wie die gewährte Förderung sowohl den Liquiditätsengpass als auch den Umsatzausfall überschreitet. Es genügt dagegen nach dieser Regelung nicht, dass lediglich einer dieser beiden Parameter durch die Förderung überschritten wird.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Ausgangspunkt dieses Verständnisses ist der Wortlaut der Regelung in Ziffer II. 3., dem bei der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts besonderes Gewicht beizumessen ist. Die dort geregelten beiden Voraussetzungen werden durch die Konjunktion „und“ verbunden, was für den objektiven Empfänger die Rückzahlungsverpflichtung vom kumulativen Vorliegen beider Voraussetzungen abhängig macht. Aus dem Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 ergeben sich dagegen keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Verbindung der beiden Voraussetzungen durch „und“ hier als alternative Verbindung im Sinne eines „oder“ zu lesen sein soll. Erst Recht kann entgegen der Ansicht des Beklagten dem übrigen Bescheid kein Anhalt dafür entnommen werden, der Umsatzausfall sei hinsichtlich der Förderungshöhe gänzlich irrelevant. Wäre dies tatsächlich die Regelungsabsicht des Beklagten gewesen, wäre es widersinnig gewesen, den Umsatzausfall im Bewilligungsbescheid – und dann auch noch an der entscheidenden Stelle der Regelung der Rückzahlungsvoraussetzungen – überhaupt zu erwähnen. Soweit der Beklagte damit argumentiert, in Ziffer 2. des Bescheids werde als Zuwendungszweck die Milderung finanzieller Notlagen festgelegt, was bei einem bloßen Umsatzausfall nicht gegeben sei, dringt er mit diesem Einwand nicht durch. Es liegt im Verantwortungsbereich des Beklagten, im Rahmen der Zweckbestimmungsformulierung in seinen Bescheiden eindeutig und möglichst unmissverständlich festzulegen, welchen Zweck er mit der Zuwendung begünstigen will und welche Ausgaben er als von diesem Zweck erfasst ansieht. Der Begriff der „Milderung der finanziellen Notlagen“ schließt es nicht begriffsimmanent aus, hierunter auch erhebliche pandemiebedingte Umsatzausfälle zu fassen. Vielmehr dürfte der objektive Empfänger angesichts der expliziten und in seiner Bedeutung gegenüber dem Liquiditätsengpass in keiner erkennbaren Form eingeschränkten Erwähnung des Umsatzausfalls davon ausgehen, dass auch pandemiebedingte Umsatzausfälle von dem Beklagten als im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehende finanzielle Notlagen definiert werden.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Auch aus den übrigen zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides erkennbaren objektiven Umständen musste sich dem Bescheidadressaten nicht aufdrängen, dass Umsatzausfälle – entgegen des Bescheidwortlauts – mit der Soforthilfe nicht zumindest auch abgedeckt werden sollten.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">So war bereits in den Antragsunterlagen unter Ziffer 6.1 unter anderem zu versichern, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Förderantragstellers durch die Corona-Krise wesentlich beeinträchtigt wurde, weil „die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind“ oder „die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen“. Auch an dieser Stelle werden Umsatzausfall einerseits und ein Liquiditätsengpass (ein solcher dürfte mit der zitierten Formulierung gemeint sein) andererseits gleichrangig neben anderen Fördervoraussetzungen, auf die es hier nicht ankommt, erwähnt. Die Verbindung dieser einzeln aufgezählten Versicherungen erfolgte durch die Konjunktion „oder“, was aus Sicht eines objektiven Empfängers zu dem Schluss nötigt, dass bereits das Vorliegen einer der genannten Versicherungen zur Antragsstellung genügt. Hätte von vornherein festgestanden, dass es im Rahmen der Förderung immer nur um die Deckung eventueller Liquiditätsengpässe gehen sollte, so wäre eine derartig differenzierte Aufzählung nicht erforderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund überzeugt es auch nicht, wenn der Beklagte meint, in den Antragsunterlagen werde der Liquiditätsengpass an anderer Stelle in den Vordergrund gestellt, namentlich in Ziffer 5. und Ziffer 6.2. Hieraus musste ein objektiver Adressat angesichts der alternativen Abfrage von Umsatzausfall und Liquiditätsengpass unter Ziffer 6.1 nicht den Schluss ziehen, allein die Deckung von Liquiditätsengpässen im engeren Sinn sei Gegenstand der Förderung. Ebenso wie im Bescheid wäre es dann nämlich sinnlos, überhaupt eine Versicherung hinsichtlich eines eventuellen Umsatzausfalls zu verlangen, da es in einem solchen Fall auch genügt hätte, einfach eine Versicherung hinsichtlich eines Liquiditätsengpasses zu verlangen. Die von dem Beklagten erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgeworfene Differenzierung zwischen Antragsvoraussetzungen einerseits- und Anspruchsvoraussetzungen andererseits, nach der ein Umsatzausfall zwar zur Antragstellung berechtige, aber nichts über die Förderhöhe aussage, ist demgegenüber in den Antragsunterlagen weder offen noch indirekt angelegt. Da es bereits widersinnig ist, im Rahmen einer vorläufigen Bescheidung wie der Beklagte meint allein über die grundsätzliche Antragsberechtigung zu entscheiden – was soll einem Antragsteller die Feststellung einer derart isolierten Antragsberechtigung ohne spätere endgültige Förderung nützen? – hätte eine derartige Regelung eindeutig und von vornherein in den Antragsunterlagen angelegt sein müssen. Dies umso mehr als Ziffer 1.1 des Antragsformulars bereits regelt, wer „Antragsberechtigt“ ist. Ob eine solche Differenzierung in Antragsberechtigung und Anspruchsberechtigung in der Soforthilfe-Richtlinie angelegt ist, kann die Kammer dahinstehen lassen, da es auch in diesem Kontext auf die Soforthilfe-Richtlinie nicht ankommt. Denn wie bereits oben ausgeführt wurde, können zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schlicht noch nicht existente Umstände – wie der erst nachträgliche Erlass der Soforthilfe-Richtlinie – keine objektiv erkennbaren Umstände im Rahmen der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts darstellen.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Auch die im Internet abrufbaren und von dem Beklagten veröffentlichten FAQs bestätigen dieses Verständnis. So heiß es in der zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten Fassung vom 31.03.2020 (Anlage B9, Beiakte 002) zu der Frage „Was wird gefördert?“ wörtlich [Hervorhebungen im Original]:</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">„<span style="text-decoration:underline">Voraussetzung</span>: erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten in Folge von Corona. Dies wird angenommen wenn […]</p>
<span class="absatzRechts">102</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind […]</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong> […]</p>
<span class="absatzRechts">105</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Unternehmens […] zu zahlen (=Finanzierungsengpass).“</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Die von der Beklagten veröffentlichten FAQs stellen also die Voraussetzungen der Förderung – hier als erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten beschrieben – wiederum in einen Zusammenhang mit Umsatzausfällen. Insbesondere ergibt sich aus der oben zitierten Formulierung abermals unter Verwendung der Konjunktion „oder“, dass bereits Umsatzausfälle zur Annahme von Finanzierungsengpässen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten genügen können. In der zuvor veröffentlichten Fassung der FAQs vom 29.03.2020 (Anlage B8, Beiakte 003) wurde auf die Frage, wie eine Überkompensation definiert sei, wörtlich geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">„Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält als sein tatsächlich eingetretener Schaden – also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z. B. Mietminderung) – ist“[…].</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Hier knüpft der Begriff der Überkompensation sogar im Schwerpunkt (insbesondere) an den Umsatzausfall und gerade nicht an einen Liquiditätsengpass an. Diese Formulierung entspricht hinsichtlich des Umsatzausfalls auch weitestgehend der Formulierung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020, was dessen Auslegung abermals bestätigt.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Angesichts sowohl des eindeutigen Wortlauts des Bewilligungsbescheids als auch der Vielzahl weiterer entsprechender Hinweise in den Antragsunterlagen und den FAQs ist aus Sicht eines objektiven Adressaten auch aus den übrigen zum Bewilligungsbescheid erkennbaren Umständen kein zwingender Schluss geboten, es würde im Rahmen der Förderung allein ein Liquiditätsengpass abgedeckt. Dass in einzelnen veröffentlichten Informationen – z. B. im Eckpunktepapier „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ vom 23.03.2020 und den Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes vom 30.03.2020 dagegen nur von Liquiditätsengpässen und nicht auch von Umsatzausfällen die Rede ist, steht gegenüber allen anderen Anzeichen eindeutig im Hintergrund. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund vieler sich widersprechender Informationen in der Fülle an veröffentlichten Informationen zur Corona-Soforthilfe.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Unerheblich für die Auslegung des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 ist dabei die Soforthilfe-Richtlinie, da diese zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht veröffentlicht, dementsprechend für einen objektiven Adressaten nicht wahrnehmbar und daher für die Ermittlung des Empfängerhorizonts irrelevant sind. Ob diese Dokumente die Auslegung des Beklagten, es komme nur auf einen Liquiditätsengpass an, tragen, kann dementsprechend dahinstehen.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber ist festzustellen, dass dieser Auslegung entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht das Klageverhalten der Gesamtmenge an Förderungsempfängern entgegengehalten werden kann. Soweit der Beklagte im Rahmen einer Art „statistischer Auswertung“ ausführt, dass von über 400.000 Zuwendungsempfängern nur 2.000 Empfänger den jeweils an sie adressierten Bescheid angefochten hätten und über 60.000 Empfänger freiwillig erklärt hätten, mangels eines Liquiditätsengpasses auf die Zuwendung zu verzichten, kann er hieraus keine Argumente für seine Lesart des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 ableiten. Die statistische Analyse des Beklagten hat hierzu keinerlei Aussagewert, da allein aus der Tatsache der Nichterhebung einer Klage keinesfalls der Schluss gezogen werden kann, der jeweilige Adressat habe den jeweiligen Bewilligungsbescheid inhaltsgleich verstanden wie der Beklagte. Hier können auch andere Faktoren – etwa das Vertrauen auf die Aussage des Beklagten als einer an das Rechtsstaatsprinzip gebundenen Behörde oder die Sorge vor mit einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verbundenen Kosten – erheblichen Einfluss auf die Klagebereitschaft der jeweiligen Adressaten gehabt haben.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch die Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der kumulativen Rückforderungsvoraussetzungen Umsatzausfall und Liquiditätsengpass ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Auch sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis. Auch insoweit entsprach es nämlich der allein maßgeblichen tatsächlichen Förderpraxis des Beklagten, Ziffer II. 3. der jeweiligen Bewilligungsbescheide einheitlich entsprechend der Fassung im Bescheid vom 31.03.2020 zu formulieren. Auch hier kommt es auf eine etwaig anders gewollte Verwaltungspraxis nicht an. Ob dies mit der Soforthilfe-Richtlinie vereinbar wäre, kann aus den bereits unter Ziffer I. genannten Gründen dahinstehen, da diese zum Bewilligungszeitpunkt die Verwaltungspraxis nicht prägen konnte, weil sie schlicht noch nicht existierte.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen wäre der Schlussbescheid vom 18.12.2021 auch bei Annahme einer bloß vorläufigen Bewilligung durch den Bescheid vom 31.03.2020 rechtswidrig, weil die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids jedenfalls unter Missachtung der nach obiger Darlegung kumulativ notwendigen beiden Voraussetzungen einer Rückforderung erfolgt wäre. Denn der Beklagte hat in seinem Schlussbescheid allein auf einen im Rahmen des Rückmeldeverfahrens abgefragten Liquiditätsengpass abgestellt, indem er seitens der Adressaten die Einnahmen und Ausgaben aus dem jeweiligen Bewilligungszeitraum abgefragt, die hieraus gebildete Differenz als Liquiditätsengpass festgestellt und zugleich die Soforthilfe in dieser Höhe festgesetzt hat. Dadurch hat er die zweite und nach dem Obenstehenden ebenfalls erforderliche Voraussetzung einer Rückforderung, dass nämlich die Finanzhilfe den Umsatzausfall übersteigt, ignoriert und sich über die verbindlichen Festsetzungen des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 hinweggesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Erforderlich wäre es stattdessen gewesen – ginge man entgegen der unter I. getroffenen Überlegungen überhaupt von einer vorläufigen Bewilligung hinsichtlich der Förderhöhe aus –, zunächst sowohl den Liquiditätsengpass als auch einen Umsatzausfall zu ermitteln. Denn eine Rückforderung kann nach der Formulierung der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 nur soweit erfolgen, wie die beiden dort genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass es zum Behaltendürfen der Förderung nach der Konzeption des Bescheids genügt, wenn die Förderung entweder zur Deckung des Umsatzausfalls oder des Liquiditätsengpasses benötigt wird. Übersteigt einer dieser beiden Parameter den anderen, darf daher nur insoweit zurückgefordert werden, wie die Finanzhilfe nicht auch zur Deckung des höheren Parameters benötigt wird. Dies folgt aus der Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens beider Voraussetzungen, sodass untechnisch gesprochen im Rahmen einer Rückforderung auf den adressatengünstigeren Parameter abzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid schon deswegen rechtswidrig wäre, kann dahinstehen, ob die Ermittlung des Liquiditätsengpasses und ihre Festsetzung in Ziffer 1. des Schlussbescheids vom 18.12.2021 selbst für sich rechtlich nicht zu beanstanden wäre und den Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 entsprochen hätte. Denn selbst wenn man hiervon ausginge, wäre der Schlussbescheid vom 18.12.2021 insgesamt aufzuheben, da nach der Bescheidkonzeption des Beklagten die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids und die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids in untrennbarem Zusammenhang stehen und der Beklagte kein berechtigtes Interesse hat, die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids isoliert bestehen zu lassen.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Ziffer 3. des Schlussbescheids ist nach alledem ebenfalls rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 49a Abs. 1 VwVfG, der nach ständiger Rechtsprechung im Fall der Ersetzung eines vorläufigen Bescheides durch einen Schlussbescheid entsprechende Anwendung findet,</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 24, juris; BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2016 – 10 C 8.15 –, Rn. 11, juris,</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">nicht vorliegen. Denn es handelt sich aus den unter Ziffer I. ausgeführten Gründen bei dem Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 nicht um einen der Ersetzung durch einen Schlussbescheid zugänglichen vorläufigen Verwaltungsakt. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Bescheids jedenfalls aus den oben unter Ziffer II. ausgeführten Gründen rechtswidrig erfolgt, sodass auch dann die Rückforderung rechtswidrig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid vom 18.12.2020 sich nach alledem bereits unter zwei selbstständig tragenden Gesichtspunkten als rechtswidrig erweist, kann die Kammer offenlassen, ob der Schlussbescheid darüber hinaus wegen Verstoßes gegen Verfahrens- oder Datenschutzvorschriften rechtswidrig ist.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Der Schlussbescheid vom 18.12.2020 konnte auch nicht nach § 47 Abs. 1 VwVfG zu einem Widerruf des Bewilligungsbescheids vom 31.03.2020 gemäß § 49 Abs. 3 VwVfG umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Der umgedeutete Verwaltungsakt darf dabei nicht den erkennbaren Absichten der erlassenden Behörde widersprechen, § 47 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Zunächst widerspräche eine solche Umdeutung den erkennbaren Absichten des Beklagten, der nachdrücklich davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 allein um einen vorläufigen Verwaltungsakt handelt. Zudem ist nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 49 Abs. 3 S. 1 VwVfG überhaupt vorlägen. Insbesondere ein Auflagenverstoß kann dem Kläger nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht vorgeworfen werden. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre eine Umdeutung ausgeschlossen, weil ein Widerruf jedenfalls nicht in der geschehenen Verfahrensweise hätte erfolgen dürfen. Denn bei einem Widerruf wegen eines Auflagenverstoßes oder einer Zweckverfehlung im Einzelfall wäre jedenfalls eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG zwingend erforderlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. 709 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Die Berufung war gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 S. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zwar beruht die Entscheidung der Kammer auf der Auslegung eines einzelnen Verwaltungsakts. Dieser Verwaltungsakt ist jedoch inhaltsgleich mit einer Vielzahl von weiteren Bescheiden, gegen die ebenfalls Klage erhoben wurde. Es besteht vor diesem Hintergrund ein allgemeines Klärungsinteresse an der Rechtsmäßigkeit der mit der Fassung des Bescheids verkörperten Verwaltungspraxis der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">7.000 €</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,633 | vg-koln-2022-09-16-16-k-12722 | {
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<p>Der Schlussbescheid der Bezirksregierung L. – Az. 34.Soforthilfe2020-2297 – vom 17.12.2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>T a t b e s t a n d</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist als Solo-Selbstständige in der Musikbranche gewerblich tätig.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im März 2020 zeichnete sich ab, dass Unternehmer und Selbstständige aufgrund verschiedener infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden. Daher legte der Bund zur Bereitstellung kurzfristiger Finanzhilfen das Förderprogramm „Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ auf. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentliche hierzu am 23.03.2020 ein Eckpunktepapier.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beschloss, das Programm des Bundes in vollem Umfang an die vorgesehenen Zielgruppen weiterzuleiten. Beide Maßnahmen wurden in dem Förderprogramm „NRW Soforthilfe 2020“ gebündelt. Die federführende Verantwortung lag bei dem damaligen Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf dessen Internetpräsenz waren häufige Fragen zum Förderverfahren, sog. FAQ, in verschiedenen Fassungen unter dem Link https://wirtschaft.nrw.de/nrw-soforthilfe-2020 abrufbar. Zu deren Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorgelegten Verwaltungsvorgänge (Beiakte 003) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 20.03.2020 stellte die Klägerin einen Förderantrag aus dem „Sofortprogramm Künstler“ und erhielt hierauf eine Auszahlung in Höhe von 2.000,00 €.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 27.03.2020 beantragte die Klägerin über das Online-Formular des Beklagten eine Soforthilfe aus dem Programm „NRW-Soforthilfe 2020“ in Höhe von 9.000 EUR. Unter Ziffer 6.1 des Antragsformulars versicherte sie, dass ihre wirtschaftliche Tätigkeit durch die COVID-19-Pandemie wesentlich beeinträchtigt sei, da entweder</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 01.03.2020 durch die COVID-19-Pandemie weggefallen seien oder</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert seien (Gründungen: Vormonat) oder</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">- die Umsatzerzielungsmöglichkeiten durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt worden seien oder</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen (z. B. Mieten, Kredite für Betriebsräume, Leasingraten).</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Unter Ziffer 6.5 stimmte die Klägerin der Erhebung und Verarbeitung ihrer für die Zuschussgewährung erforderlichen Daten im Rahmen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen (DSGVO) zu. Mit Ziffer 6.11 bestätigte die Klägerin, ihr sei bekannt, dass sie die Soforthilfe im Fall einer Überkompensation (Entschädigungs-, Versicherungsleistungen, andere Fördermaßnahmen) zurückzahlen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Noch am 27.03.2020 erging an die Klägerin ein Bewilligungsbescheid. Unter Ziffer 1. des Bescheids bewilligte der Beklagte der Klägerin „eine Soforthilfe i. H. v. 9.000,00 € […] als einmalige Pauschale“. Gemäß Ziffer 2. des Bescheids erfolgte die Soforthilfe ausschließlich zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie als Einmalzahlung für einen dreimonatigen Bewilligungszeitraum ab Antragstellung. Die Soforthilfe diene insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 01.03.2020 in Zusammenhang mit der COVID-19‑Pandemie entstanden seien. Unter Ziffer II. 3. sah der Bescheid vom 27.03.2020 folgende Nebenbestimmung vor:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der […] zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 27.03.2020 (Bl. 5 – 7 Beiakte 001) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am 30.03.2020 veröffentliche das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ auf seiner Homepage.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Am 31.05.2020 wurden die „Richtlinien des Landes zur Gewährung von Soforthilfen für gewerbliche Kleinunternehmen, Selbstständige und Angehörige freier Berufe, die infolge der Sars-CoV-2-Pandemie in ihrer Existenz gefährdet sind“ als Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie (Az. VB 5 - 2020) – im Folgenden: Soforthilfe - Richtlinie – erlassen und traten laut Ziffer 9. der Soforthilfe-Richtlinie mit Wirkung vom 27.03.2020 in Kraft.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 14.06.2021 forderte der Beklagte die Klägerin auf, zur nachträglichen Berechnung des Liquiditätsengpasses die der Mail beigefügten Rückmeldeformulare auszufüllen und an den Beklagte digital zurückzusenden.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">In ihrer Rückmeldung vom 23.10.2021 gab die Klägerin an, sie wähle als Förderzeitraum den Zeitraum April bis Juni 2020 aus und nehme den fiktiven Unternehmerlohn in Höhe von 2.000 EUR nicht in Anspruch. Aus der Gegenüberstellung der Einnahmen der Klägerin mit ihren Ausgaben aus den drei Monaten des Bewilligungszeitraums ergab sich ein betrieblicher Liquiditätsengpass von 209,00 €. Sie versicherte, ihr sei bekannt, dass sie „für den Fall einer erforderlichen Rückzahlung den Betrag selbstständig zurück überweisen“ müsse. Fragen zum Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum sahen die Rückmeldeformulare des Beklagten nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Am 17.12.2021 erließ der Beklagte einen Schlussbescheid. Mit den Ziffern 1. und 2. des Bescheids stellte er einen Liquiditätsengpass von 209,00 EUR fest und setzte die Höhe der Soforthilfe auf diesen Betrag fest. Mit Ziffer 3. des Bescheids forderte er die Klägerin zur Rückzahlung des überzahlten Betrages von 8.791,00 EUR auf.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte der Beklagte aus, er sei nach Ziffer 5.2 der Soforthilfe-Richtlinie auch für die Rückforderung überzahlter Beträge zuständig. Nach den Ziffern 3.1, 3.2, 5.2 und 5.3 der Soforthilfe-Richtlinie werde die NRW-Soforthilfe 2020 zwar zunächst in voller Höhe gewährt. Die endgültige Festsetzung erfolge aber erst nach Rückmeldung und Berechnung des Liquiditätsengpasses. Decke der Liquiditätsengpass die gezahlte Soforthilfe nicht vollständig ab, werde Soforthilfe nur in Höhe des Liquiditätsengpasses gewährt. Auf Grundlage der Rückmeldung der Klägerin bestehe nur ein Liquiditätsengpass in Höhe von 8.791,00 EUR. Der überzahlte Betrag sei daher nach § 49a Abs. 1 VwVfG in entsprechender Anwendung zurückzufordern. Der Schlussbescheid trete insoweit an die Stelle des ursprünglichen Bewilligungsbescheids. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Schlussbescheid vom 17.12.2021 (Bl. 32-36 Beiakte 001) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 10.01.2022 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt sie vor, der Schlussbescheid sei bereits aus formellen Gründen rechtswidrig. Im Verfahren sei der Datenschutz nicht gewährleistet und insoweit gegen Art. 22 DSGVO verstoßen worden. Der Beklagte habe außerdem ohne entsprechende Ermächtigung nach § 35a VwVfG ein rein digitales Rückmeldeverfahren durchgeführt. Zudem sei sie nicht angehört worden. In materieller Hinsicht habe es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 nicht um eine vorläufige, sondern um eine endgültige Bewilligung gehandelt. Der Bescheid bringe an keiner Stelle eindeutig zum Ausdruck, dass es sich um eine vorläufige Bewilligung handle. Der Begriff „vorläufig“ komme im Bescheid nicht vor. Insbesondere begründe Ziffer II. 3. des Bescheids nicht die Vorläufigkeit der Bewilligung, sondern enthalte eine selbstständige Rückzahlungsverpflichtung der Klägerin unter Angabe bereits der IBAN und des Verwendungszwecks der Rückzahlung, sodass es eines weiteren Verwaltungsverfahrens insoweit nicht bedürfe. Auf die später erlassene Soforthilfe-Richtlinie sowie die später geschlossene Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern könne es insoweit nicht ankommen. Zumindest müsse aber auch der Umsatzausfall im Rahmen einer Schlussbescheidung Berücksichtigung finden. Sowohl die von dem Beklagten veröffentlichten FAQs als auch der Bewilligungsbescheid in Ziffer II. 3. würden hierauf Bezug nehmen, sodass die Klägerin darauf vertrauen dürfe, dass auch der Umsatzausfall im Rahmen eines Schlussbescheides umfasst sei. Dass das Land dies gegebenenfalls anders beabsichtigt habe, sei unerheblich, da es auf die tatsächliche Umsetzung im Bewilligungsbescheid ankomme. Die von dem Beklagten nunmehr vorgeschlagene Differenzierung in Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen finde in den Antragsunterlagen, den FAQs und dem Bewilligungsbescheid keine Stütze. Bestimmtheitsmängel gingen insoweit zu Lasten des Beklagten. Eine Umdeutung in eine Teil-Rücknahme oder einen Teil-Widerruf scheitere am erklärten Willen des Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">den Schlussbescheid der Bezirksregierung L. mit dem Az. 34.Soforthilfe-2020-2297 vom 17.12.2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Er führt aus, das Soforthilfe-Programm habe auf einer Bundesförderung beruht, die auf die Überbrückung akuter Liquiditätsengpässe gerichtet gewesen sei. Der Beklagte habe sich dazu entschieden, den Förderhöchstbetrag als vorläufige Pauschale auszuzahlen, um möglichst schnell Hilfe leisten zu können. Eine Ermittlung des Liquiditätsengpasses sei aber erst rückblickend möglich. Einer Anhörung vor Erlass des Schlussbescheides habe es nach § 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG nicht bedurft. Ein Verstoß gegen § 35a VwVfG scheide ebenfalls aus, weil dieser in Fällen wie hier teleologisch zu reduzieren sei. Eventuelle Verstöße hiergegen seien aber jedenfalls nach § 46 VwVfG unbeachtlich. Der Beklagte sei nach seiner Verwaltungspraxis verpflichtet, vorläufig ausgezahlte Höchstbeträge gleichheitsmäßig entsprechend des Zuwendungszwecks zurückzufordern. Der Bewilligungsbescheid habe hier zulässigerweise als vorläufiger Bescheid erlassen werden dürfen. Dies komme auch im Begriff der „einmaligen Pauschale“, durch den andernfalls sinnlosen dreimonatigen Bewilligungszeitraum und die Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids hinreichend bestimmt zum Ausdruck. Bei der Bewertung der Regelungen des Bewilligungsbescheides aus Sicht des objektiven Empfängers müsse auch beachtet werden, dass von 400.000 Bescheiden lediglich 2.000 beklagt worden seien und 60.000 Betroffene freiwillig erklärt hätten, keinen Liquiditätsengpass erlitten zu haben und daher auf die Soforthilfe zu verzichten. Ein Großteil der Empfänger habe den Bescheid daher so verstanden wie der Beklagte. Die Berechnung des Liquiditätsengpasses erfolge nach den Vorgaben der Soforthilfe-Richtlinie, die zwischen Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen differenziere. Ein Antrag habe danach schon bei einem Umsatzausfall erfolgen können, ein Anspruch bestehe aber nur bei einem Liquiditätsengpass. Dies entspreche dem Sinn der Förderung, wirtschaftliche Notlagen abzumildern, da bei einem bloßen Umsatzausfall eine solche Notlage noch nicht vorliegen müsse. Ersichtlich sei dies auch aus den Antragsunterlagen, in welchen auf eine existenzbedrohliche Wirtschaftslage Bezug genommen werde, welche bei bloßen Umsatzausfällen nicht vorliege. Die Richtlinie stelle auch keine unzulässige Rückwirkung dar, da sie nur verwaltungsintern das Ermessen leite. Selbst wenn man von einer Rückwirkung ausgehe, sei der Fördersachverhalt zudem noch nicht abgeschlossen gewesen. Eine Rückwirkung liege aber auch deshalb nicht vor, weil die Soforthilfe-Richtlinie die bestehende Verwaltungspraxis gerade bestätigt habe. Maßgeblich für den Schlussbescheid sei aber nur die Verwaltungspraxis zum Zeitpunkt dessen Erlasses, in welchem die Soforthilfe-Richtlinie jedenfalls gegolten habe.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft. Denn die Klägerin wendet sich gegen den Schlussbescheid vom 17.12.2021, der eine sie rein belastende Regelung darstellt. Die mit dem Schlussbescheid getroffenen Regelungen führen nämlich noch unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Bewilligungsbescheid und Schlussbescheid dogmatisch zu bewerten ist, jedenfalls dazu, dass der Klägerin eine ihr bereits durch den Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 gewährte subjektive Rechtsposition – die gewährte Förderung von 9.000 EUR sowie damit verbunden das Recht, diese Förderung während des Bestands des Bewilligungsbescheids behalten zu dürfen – in Höhe von 8.791,00 € entzogen wird. Dieser Belastung kann sie sich entsprechend ihres maßgeblichen Klagebegehrens nach § 88 VwGO am besten erwehren, indem sie den Schlussbescheid anficht. Es liegt insbesondere auch kein Fall einer vorrangigen Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 S. Alt. VwGO vor, weil es der Klägerin nicht darum geht, einen materiellen Anspruch durch das Erzwingen des Erlasses eines Verwaltungsakts durchzusetzen. Sie kann durch eine Verpflichtungsklage etwa gerichtet auf Erlass eines Schlussbescheids anderen Inhalts keine Erweiterung ihrer subjektiven öffentlichen Rechte erreichen, da sie bereits aufgrund des Bewilligungsbescheids die Maximalförderung zugesprochen bekommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die auch im Übrigen zulässige Klage ist zudem begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 17.12.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Beklagte hat die mit Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 gewährte Soforthilfe zu Unrecht auf einen Betrag von 209,00 EUR festgesetzt (Ziffer 2. des Schlussbescheids) und einen Betrag von 8.791,00 EUR zurückgefordert (Ziffer 3. des Schlussbescheids).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte geht bereits im Ausgangspunkt zu Unrecht davon aus, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 lediglich um eine vorläufige Bewilligung handelt, die er durch einen Schlussbescheid ersetzen durfte (dazu I.). Selbst wenn man dies anders sähe und von einer vorläufigen Bewilligung ausginge, wäre die Klage aber immer noch begründet, da der Beklagte sich durch die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids vom 17.12.2020 in rechtlich nicht zulässiger Weise über verbindliche Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 hinweggesetzt hätte (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 trifft hinsichtlich der der Klägerin gewährten Zuwendung in Form der Soforthilfe eine endgültige Regelung und stellt insoweit keinen sogenannten vorläufigen Verwaltungsakt dar.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Von einem vorläufigen Verwaltungsakt ist im Bereich der Zuwendungsgewährung auszugehen, wenn die Zuwendung unter dem Vorbehalt einer späteren abschließenden Entscheidung bewilligt wird. Ein solcher Bewilligungsbescheid ist in seinem Regelungsinhalt dahingehend eingeschränkt, dass der Begünstigte die Zuwendung zunächst nur vorläufig bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung behalten darf. Ob ein Anspruch auf das endgültige Behaltendürfen der Zuwendung besteht, hängt dagegen von dem Inhalt des abschließenden Bewilligungsbescheids, des Schlussbescheids ab.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 33, juris; BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 14 juris.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Das Bedürfnis für eine solche lediglich vorläufige Regelung kann insbesondere dann bestehen, wenn zum Erlasszeitpunkt des vorläufigen Bescheids eine tatsächliche Unsicherheit besteht. Das Subventionsverhältnis wird dabei zunächst durch den Zuwendungsbescheid geregelt, der aber unter den Vorbehalt der späteren Festsetzung gestellt wird und damit auf eine Ergänzung durch einen weiteren Verwaltungsakt angelegt ist, durch den die Zuwendung in den offen gehaltenen Punkten abschließend geregelt werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 15 juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 63, juris.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Vorbehalt endgültiger Regelung bewirkt, dass die Behörde die vorläufige Regelung im Ausgangsbescheid durch die endgültige Regelung im Schlussbescheid ersetzen kann, ohne insoweit an die Einschränkungen der §§ 48, 49 VwVfG gebunden zu sein. Bei einer späteren endgültigen Regelung durch einen Schlussbescheid bedarf es insoweit keiner Aufhebung der unter Vorbehalt ergangenen Bewilligung, da diese durch den Schlussbescheid ersetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7/09 –, Rn. 16, juris; OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); HK-VerwR/Kyrill-Alexander Schwarz, 5. Aufl. 2021, VwVfG § 35 Rn. 28; Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 245.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Wie weit der Vorbehalt der endgültigen Regelung reicht und ob er die Bewilligung insgesamt oder nur Teilregelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids umfasst, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Denn die Vorläufigkeit muss sich nicht auf den ersten Bescheid insgesamt beziehen, sondern kann und muss gegebenenfalls auf einzelne Aspekte beschränkt sein. Es können also auch bereits im vorläufigen Bewilligungsbescheid endgültige Teil-Regelungen getroffen und dem Adressaten insoweit gesicherte (Teil-) Rechtspositionen vermittelt werden. Auch wenn daher die Behörde einen unter Vorbehalt gestellten Verwaltungsakt später durch einen Schlussbescheid ersetzt, so kommt eine inhaltlich abweichende Regelung im Schlussbescheid – außer in den Fällen der §§ 48, 49 VwVfG – nur in Betracht, wenn sie aus den Gründen ergeht, wegen derer die frühere Regelung unter Vorbehalt gestellt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 17, juris.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unterliegen insoweit der Auslegung aus Sicht eines objektiven Empfängers entsprechend der §§ 133, 157 BGB. Das Gericht hat den Bewilligungsbescheid dahin zu erforschen, wie der Adressat ihn unter Berücksichtigung der ihm bekannten oder erkennbaren Umstände bei objektiver Auslegung verstehen musste.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 – 10 C 5.17 –,Rn. 25, juris; BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, Rn. 14, juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 56, juris; OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 5, juris.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Abzustellen ist dabei auf Sicht des Adressaten zum Erlasszeitpunkt des ursprünglichen Bewilligungsbescheides unter Berücksichtigung allein der zu diesem Zeitpunkt bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umstände. Nach Erlass eines Zuwendungsbescheides kann die Behörde nicht mehr frei über die Auslegung von darin verwandten Begrifflichkeiten entscheiden. Der Bescheid hat insoweit Fakten geschaffen, über die sie sich auch im Rahmen des Zuwendungsrechts nicht nach Ermessen hinwegsetzen kann.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 7, juris.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Welche Teile des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung stehen und welche bereits im ursprünglichen Bescheid endgültige Regelungen treffen, muss sich vor allem aus dem vorläufigen Bewilligungsbescheid selbst ergeben. Insoweit muss in diesem ausdrücklich bezeichnet oder zumindest eindeutig erkennbar sein, hinsichtlich welcher Regelung die Erlassbehörde sich eine spätere Entscheidung vorbehalten will. Dies folgt einerseits aus dem Gebot hinreichender Bestimmtheit von Verwaltungsakten im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG, andererseits mit Blick auf den Vertrauensschutz des Adressaten. Unklarheiten gehen zu Lasten der Erlassbehörde, die es insoweit in der Hand hat, Bestimmtheits- oder Auslegungsprobleme durch eindeutige Formulierungen im ursprünglichen Bescheid zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 247.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen ist es nicht ausreichend, wenn sich die Auslegung als vorläufiger Verwaltungsakt lediglich als noch mögliche Deutung neben einer Vielzahl weiterer möglicher Auslegungen darstellt. Es genügt für die Annahme eines Regelungsvorbehalts nicht, dass ein Bewilligungsbescheid auch als vorläufiger Verwaltungsakt verstanden werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104 – 105, juris.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist es erforderlich, dass der Regelungsvorbehalt aus dem Bescheid sowie den erkennbaren Umständen für einen objektiven Empfänger als die einzig sinnvolle Deutung erscheint und sich dieses Verständnis dem objektiven Empfänger aufdrängen muss. Dabei gebieten es die mit dem Vorbehalt späterer endgültiger Entscheidung verbundene Folge des Ausschlusses von Vertrauensschutz und die Verwandtheit dieser Regelungsweise mit Befristung, Bedingung und Widerrufsvorbehalt (§ 36 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwVfG),</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, 3 C 7.09, juris, Rn. 20,</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">strenge Anforderungen an die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots (§ 37 VwVfG NRW) für die Vorläufigkeit einer Regelung und ihres genauen Umfangs zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, 15 A 708/88, NVWZ 1991, 588 (589); Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 160; König, BayVBl. 1989, 36; Martens, DÖV 1987, 998.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab ist der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 dahin auszulegen, dass er die der Klägerin gewährte Förderung insbesondere auch der Höhe nach endgültig regelt. Der Beklagte hat sich im insoweit allein maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 den Erlass eines Schlussbescheides weder ausdrücklich noch zumindest noch ausreichend deutlich vorbehalten, sondern den Antrag der Klägerin vom 27.03.2020 – auch hinsichtlich der Höhe der Soforthilfe - in Wahrheit abschließend beschieden.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 bringt an keiner Stelle, insbesondere im Tenor und/oder in den einschlägigen Ziffern II. 3., 4. und 8. der Nebenbestimmungen, die Vorläufigkeit bzw. Vorbehaltlichkeit der Gewährung der Soforthilfe für den objektiven Empfängerhorizont mit (noch) hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Ausreichend, aber auch notwendig wäre es hierzu gewesen, einen entsprechenden Entscheidungsvorbehalt bzw. eine Vorläufigkeit der Bewilligung der Zuwendung mit Blick auf eine erst zukünftig (abschließend) zu bewilligende Zuwendung mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit zum Inhalt des Bescheids zu machen. Das ist hier nicht geschehen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid enthält unter Ziffer „1. Bewilligung“ die der Höhe nach einschränkungslose „Bewilligung“ einer „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00 €“. Ein Hinweis auf eine etwaige Höchstbetragsförderung mit späterer endgültiger Abrechnung etwa über den Zusatz „bis zu 9.000,00 €“, der sich gerichtsbekannt in einer Fülle von Bewilligungsbescheiden der Bezirksregierung L. bei anderen Förderprogrammen findet, fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Bewilligung „als einmalige Pauschale“ spricht nicht hinreichend deutlich für eine vorläufige Regelung zur Höhe der Corona Soforthilfe. Denn die Wortbedeutung erfasst zwar auch eine vorläufige Geldsumme, die man vor der endgültigen Abrechnung erhält. Eine einmalige Pauschale kann aber auch als ein Geldbetrag, der mehrere Teilsummen zusammenfasst, die nicht einzeln abgerechnet werden, verstanden werden. Ebenso kann der Begriff der Pauschale auch genau umgekehrt zu der von dem Beklagten vorgenommenen Deutung verstanden werden, dass nämlich gerade keine genaue Ermittlung des durch die Förderung zu kompensierenden Ausfalls erfolgen soll, sondern dieser durch eine einmalige – z. B. aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder Beschleunigung vorgenommene – Pauschalzahlung abgegolten wird. Diese mehrfache Wortbedeutung schließt die erforderliche Bestimmtheit im oben dargelegten Sinn aus.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Auch die Festlegung eines dreimonatigen Bewilligungszeitraums in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 zwingt nicht zu dem Schluss, es handle sich um eine bloß vorläufige Bewilligung. Die Festlegung eines Bewilligungszeitraums ist keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal eines vorläufigen Verwaltungsakts, sondern erfolgt regelmäßig auch bei endgültigen Förderbescheiden. Dies macht auch bei endgültigen Förderbescheiden, denen ebenfalls ein Verwendungsnachweisverfahren – ggfs. verbunden mit einem Widerrufsverfahren nach § 49 Abs. 3 VwVfG – nachgeschaltet sein kann, Sinn, um den relevanten Zeitraum hinsichtlich förderungsrelevanter Ausgaben und Kosten zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der im Zuwendungsbescheid unter Ziffer II. 3. der Nebenbestimmung zu findende Passus,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraumes feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der Landeskasse....unter Angabe des Aktenzeichens zurückzuzahlen. ...“,</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">reicht nicht aus, um hierdurch einen Vorläufigkeitsvorbehalt mit hinreichender Bestimmtheit begründen zu können. Zwar kommt in ihm zum Ausdruck, dass die ausgezahlte Finanzhilfe noch von zukünftigen Faktoren abhängig ist, die zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht feststehen. Es gibt jedoch unterschiedlichste verwaltungsrechtliche Regelungsmöglichkeiten, wie mit solchen zukünftigen Faktoren umgegangen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Vgl. instruktiv BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8/82 –, Rn. 23 ff., juris.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist aus Sicht eines objektiven Empfängers nicht als Vorbehalt einer abschließenden Behördenentscheidung zu verstehen. Mit dieser Regelung wurde vielmehr von der Klägerin nach dem eindeutigen Wortlaut eine von ihr selbst und eigenverantwortlich vorzunehmende nachträgliche Berechnung von Ist-Werten zur tatsächlichen Höhe des Umsatzausfalls und des Liquiditätsengpasses während des Bewilligungszeitraums verlangt, mit der Folge die selbsttätig errechneten zu viel gewährten Unterstützungsgelder zurückzuzahlen. Aus dieser selbsttätig und eigenverantwortlich vorzunehmenden Berechnungs- und Prüfpflicht des Zuwendungsempfängers und einer hieraus gegebenenfalls resultierenden Rückzahlungspflicht kann unter Anwendung des gebotenen strengen Maßstabs nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont nicht mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit entnommen werden, dass damit der Begünstigte die empfangene Leistung in jedem Fall nur vorläufig bis zum Erlass einer späteren endgültigen Regelung durch die Behörde behalten darf. Denn von einem irgendwie gearteten – nachträglichen – Tätigwerden der Behörde ist hier überhaupt nicht die Rede. Dies gilt umso mehr für den Fall, dass die selbsttätig und eigenverantwortlich vom Begünstigten vorgenommene Berechnung keinen zu viel gezahlten Betrag ergeben sollte. Eine vorbehaltene endgültige Festsetzung der Höhe der Soforthilfe in einem zweiten Verwaltungsakt ist damit in dieser Regelung nicht vorgesehen. Soweit in dieser Regelung ein Hinweis auf ein späteres Rückmeldeverfahren gesehen wurde,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris,</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">kann die erkennende Kammer einen solchen Hinweis weder dem Wortlaut noch dem Sinn der Regelung entnehmen. Ein solches Verfahren wird in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, der ausdrücklich nur den Bescheidadressaten anspricht, nicht erwähnt.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Es dürfte viel dafür sprechen, dass es sich stattdessen bei dieser Regelung um eine Auflage i.S.v. § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW handelt. Einem solchen Verständnis könnte jedenfalls nicht entgegengehalten werden, dass die Konstruktion einer nachträglichen Kontrolle der Förderung durch Begründung einer Mitwirkungsverpflichtung zur Selbstkontrolle in Form einer Auflage ungeeignet wäre, um eine angemessene Überprüfung der Förderung zu ermöglichen. Denn wenn es in diesem Fall dazu käme, dass ein Adressat einer solchen Mitwirkungsverpflichtung nicht nachkäme, stehen im Rahmen des allgemeinen Verwaltungsrechts geeignete Möglichkeiten zum Beispiel in Form eines Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG zur Verfügung, um die benötigten Angaben zu ermitteln und gegebenenfalls überzahlte Beträge zurückzufordern. Ob es sich bei der Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 tatsächlich um eine Auflage handelt und welcher Inhalt dieser genau zukommt, kann offenbleiben. Denn der Beklagte hält der Klägerin in dem angefochtenen Schlussbescheid einen solchen Auflagenverstoß jedenfalls nicht vor. In der von dem Beklagten umgesetzten „Rückmeldung des Liquiditätsengpasses NRW Soforthilfe 2020“ der Klägerin vom 23.10.2021 heißt es dementsprechend: „Dieses Rückmelde-Formular dient der Meldung des vorzeitig freiwillig ermittelten Liquiditätsengpasses….“. Bei einer freiwilligen Ermittlungstätigkeit des Zuwendungsempfängers selbst handelt es sich aber nicht um die behördliche Ausübung einer im Bewilligungsbescheid gemachten vorläufigen Regelung.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Ein Vorbehalt einer späteren Entscheidung ergibt sich auch nicht aus den Regelungen in den Ziffern II. 4., 5. und II. 8. des Bewilligungsbescheids.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 4. enthält eine Regelung hinsichtlich eventueller Rückzahlungspflichten wegen falscher Angaben bei der Antragstellung oder wegen Überkompensation. Damit wird lediglich eine Rückzahlungspflicht für diese Fälle geregelt, ohne dass sich hierin die Vorläufigkeit der Bewilligung insgesamt in hinreichender Klarheit ausdrücken würde.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">In Ziffer II. 5. wird sich ausdrücklich „im Einzelfall“ eine spätere Verwendungsprüfung vorbehalten, was jedenfalls keinen Vorbehalt einer abschließenden Entscheidung für die Gesamtförderung begründet. Die Existenz eines Verwendungsnachweisverfahrens für sich allein genommen ist insoweit ebenfalls nicht aussagekräftig, weil eine Verwendungsnachweisprüfung auch bei endgültigen Förderbescheiden stattfindet und gegebenenfalls etwa im Falle der zweckwidrigen Verwendung zu einem Rückforderungsverfahren nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG führen kann. Allein die Notwendigkeit eines nachträglichen Verwendungsnachweises besagt für sich genommen dementsprechend nichts über die Frage der Vorläufigkeit einer Zuwendungsbewilligung aus. Diese ergibt sich erst im Zusammenspiel mit etwaigen weiteren Regelungen eines Bescheides, etwa in der Zusammenschau mit einer Höchstbetrags-/Anteilsfinanzierung. Anderweitige Anzeichen für eine vorläufige Regelung finden sich im Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 aber gerade nicht. Außerdem wäre sinnlos, zu formulieren, dass „im Einzelfall eine Prüfung“ vorbehalten wird, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Da im Bewilligungsbescheid nach alledem keine erkennbaren und belastbaren Anhaltspunkte für eine bloß vorläufige Bewilligung vorliegen, käme die Annahme, dass der Bescheid gleichwohl eine bloße vorläufige Bewilligung regelt, wenn überhaupt nur noch in Betracht, wenn sich für den objektiven Adressaten aus sonstigen Umständen zwingend der Schluss aufdrängen musste, dass der Bescheid – gleichsam entgegen seines Wortlauts – lediglich eine bloß vorläufige Bewilligung ausspricht. Zu einem derartigen Schluss zwingen aber weder die Antragsunterlagen, die nach Ziffer 2. des Bewilligungsbescheides Bescheidbestandteil sind, noch die sonst zum Bewilligungszeitpunkt verfügbaren Informationen.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">In den Antragsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein expliziter Hinweis darauf, dass eine Bewilligung bloß vorläufig erfolgen und nach Ablauf des Bewilligungszeitraums ein späteres Rückmeldeverfahren mit Erlass eines Schlussbescheides stattfinden solle. Insbesondere kann aus der in Ziffer 6.11 der Antragsunterlagen abgegebenen Versicherung, es sei bekannt, dass der Zuschuss im Falle einer Überkompensation zurückzuzahlen sei, kein Schluss auf eine bloß vorläufige Bewilligung gezogen werden. Denn allein die abstrakte Verpflichtung zur Rückzahlung einer Überkompensation sagt nichts darüber aus, wie eine solche Rückzahlungsverpflichtung verwaltungsverfahrensrechtlich konstruiert wird. Auch insoweit kämen neben einer bloß vorläufigen Bewilligung alternative Gestaltungen – z. B. in Form einer auflösenden Bedingung oder eines späteren Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 VwVfG – in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Auch die übrigen zum Zeitpunkt der Bewilligung veröffentlichten Informationen zwingen nicht zum Schluss, es finde mit dem Bewilligungsbescheid lediglich eine vorläufige Bewilligung statt. Soweit in den „Eckpunkte[n] zur Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie dem Bundesministerium der Finanzen vom 23.03.2020 ausgeführt ist, dass die „Finanzielle Soforthilfe „…. Bis 9.000,00 € … bzw. Bis 15.000,00 € …“ betrage, kommt damit nicht zugleich hinreichend deutlich im Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 selbst eine Höchstbetragsfinanzierung unter Vorbehalt einer späteren endgültigen Bewilligung zum Ausdruck. Denn der Bewilligungsbescheid bewilligt im Gegensatz zu diesen Regelungen nach seinem eindeutigen Wortlaut eine „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00“ und enthält gerade nicht den Zusatz „bis zu“.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass andere veröffentlichte Informationen im Gegenteil zu dem Schluss berechtigen konnten, dass der Förderbetrag in Maximalhöhe und endgültig bewilligt wird. In den von dem Beklagten veröffentlichten FAQs, die insoweit für die Allgemeinheit Hinweise und Informationen zur Förderung durch die Soforthilfe des Beklagten geben sollen und daher von einem objektiven Empfänger zur Auslegung des Bewilligungsbescheids herangezogen werden können, heißt es etwa in der Fassung vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 003) auf die Frage „Wie hoch ist die Förderung?“</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">„Die Soforthilfe erfolgt im Rahmen eines einmaligen, nicht rückzahlbaren Zuschusses. Sie […] beträgt für drei Monate: 9.000 Euro für antragsberechtigte Solo-Selbstständige und Antragsberechtigte mit bis zu 5 Beschäftigten“.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob geprüft wird, ob dem Antragsteller die Hilfe wirklich zugestanden hat und wenn nein, ob die Hilfe ggfs. zurückgezahlt werden muss, antworten die FAQs vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 003):</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">„Der Antragsteller versichert im Formular, dass er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen und wahrheitstreu gemacht hat. […] Da dem Antrag die Steuernummer bzw. die Steuer-ID beizufügen ist, hat das Finanzamt die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu prüfen. […] Stellt sich am Ende der Bezugszeit von drei Monaten heraus, dass der Antragsberechtigte mehr erhalten hat, als sein Schaden war, ist er gehalten, das überschüssige Geld zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Auch hier ist an keiner Stelle auch nur ansatzweise die Rede davon, die Soforthilfe würde lediglich vorläufig bewilligt und dann in einem separaten Verfahren durch einen Schlussbescheid des Beklagten abschließend festgesetzt. Vielmehr bestätigt insbesondere die zweite zitierte Antwort das oben genannte Verständnis der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, nach dem die Überprüfung einer Rückzahlungspflicht nach der Regelungstechnik des Bescheids zunächst Sache des Zuwendungsempfängers ist. Es wäre sinnlos, zu formulieren, dass der Antragsberechtigte zur Rückzahlung überzahlter Mittel „gehalten“ ist, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets und in jedem Einzelfall im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte sich darüber hinaus auf nach dem Erlasszeitpunkt des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 veröffentlichte Hinweise und Regelwerke, insbesondere auf die Soforthilfe-Richtlinie beruft, kann dahinstehen, ob diese für die von dem Beklagten vertretene Auslegung des Bewilligungsbescheids sprechen. Denn ihnen kann von vornherein keine Bedeutung für die Auslegung des Bewilligungsbescheids zukommen, da der maßgebliche objektive Empfängerhorizont des Bescheidempfängers sich von vornherein nur anhand der im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits bekannten Gesamtumstände bemessen kann. Hierzu gehören später ergangene Regelwerke ersichtlich nicht. Dem Umstand, dass dieser Erlass in rechtlicher Hinsicht mit Rückwirkung zum 27.03.2020, dem ersten Tag der Freischaltung des Online-Antragsverfahrens, in Kraft getreten ist, kommt für die hier allein maßgebliche Frage der Bescheidauslegung ebenfalls keine Bedeutung zu. Denn das rechtlich rückwirkende Inkrafttreten ändert nichts daran, dass die Richtlinien im Zeitpunkt des Bescheiderlasses tatsächlich noch nicht existent und dementsprechend für die Betroffenen schlicht nicht erkennbar waren. Auf die weiteren zwischen den Beteiligten aufgeworfenen Fragen der rechtlichen Zulässigkeit eines rückwirkenden Inkrafttretens kommt es danach nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch den Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der Förderung ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis, an welche die Behörde im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG als objektivem Rechtmäßigkeitskriterium gebunden war.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. April 2003 – 3 C 25.02 –, Rn. 17, juris; OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2022 – 4 A 2368/18 –, Rn. 8 f., juris mit weiteren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Es entsprach gerichtsbekanntermaßen zum Bewilligungszeitpunkt der ständigen Praxis des Beklagten, im Rahmen der Bewilligung von Förderanträgen der Soforthilfe 2020 die Bewilligungsbescheide entsprechend der im verfahrensgegenständlichen Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 getroffenen Formulierungen zu fassen. Ein offensichtlicher Verstoß gegen zum Bewilligungszeitpunkt bereits vorliegende Verwaltungsvorschriften des Beklagten ist insoweit weder vorgetragen noch ersichtlich und wäre auch unerheblich, weil es nicht darauf ankommt, wie die Verwaltungsvorschriften auszulegen sind, sondern allein darauf, wie die Bewilligungsbehörde die Verwaltungsvorschriften in ihrer ständigen tatsächlichen Praxis anwendet.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1979 – 3 C 111.79 –, Rn. 24 – 25, juris; VGH BW, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 9 S 2244/15 –, Rn. 127, juris.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Eine etwa vom Beklagten nach seinem Vorbringen möglicherweise gewollte andersartige Verwaltungspraxis zur Vorläufigkeit der Bewilligungsbescheide ist hingegen irrelevant. Allein maßgeblich ist, was der Beklagte in den Bewilligungsbescheiden objektiv zum Ausdruck gebracht hat.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend wäre es auch unerheblich, wenn der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 den Regelungen der Soforthilfe-Richtlinie widerspräche. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass unabhängig von der Frage, ob eine rückwirkende Inkraftsetzung von Verwaltungsvorschriften zulässig ist oder nicht, eine zum Zeitpunkt der ausgeübten Verwaltungspraxis schlicht noch nicht existente Verwaltungsvorschrift auf eine tatsächlich ausgeübte, also bereits stattgefundene Verwaltungspraxis denklogisch keinen Einfluss haben und diese nicht prägen kann.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Selbständig entscheidungstragend ist das Gericht der Auffassung, dass die Klage der Klägerin auch dann begründet ist, wenn entgegen dem vorstehend Ausgeführten angenommen wird, dass mit dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 die Corona-Soforthilfe hinsichtlich ihrer Höhe nur vorläufig bewilligt worden wäre und der „Schlussbescheid“ vom 17.12.2021 diesen – vorläufigen – Bewilligungsbescheid in seinem Regelungsumfang ersetzt habe. Auch dann erweist sich der angefochtene „Schlussbescheid“ als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Wie bereits dargelegt wurde, sind auch im Falle eines vorläufigen Verwaltungsakts nur die Regelungsbestandteile einer abschließenden Regelung durch Schlussbescheid zugänglich, die auch im ursprünglichen Bewilligungsbescheid unter einen entsprechenden Vorbehalt gestellt wurden. Andere Regelungsbestandteile können bereits abschließende Regelungen enthalten und insoweit nur unter den Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG abgeändert werden.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wäre der Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 jedenfalls dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen, unter denen der Beklagte die Förderhöhe abweichend festsetzen könnte, bereits im Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 abschließend geregelt wurden. (dazu 1.). Diesen Vorgaben widerspräche die Festsetzung der Soforthilfe durch den Schlussbescheid vom 17.12.2021 (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 macht die Rückzahlung von zwei Voraussetzungen abhängig: Die zu viel gezahlten Mittel sind zurückzuzahlen, wenn die Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich des Liquiditätsengpasses benötigt werden. Es handelt sich hierbei um zwei grundsätzlich zu unterscheidende Merkmale, nämlich den Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum abzgl. eingesparter Kosten einerseits und die Deckung des Liquiditätsengpasses andererseits. Diese Rückforderungsvoraussetzungen stehen – selbst wenn man entgegen der obigen Würdigung von einer lediglich vorläufigen Festsetzung der Förderungshöhe ausgeht – jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt einer späteren – u.U. auch abweichenden – Entscheidung, sondern werden durch den Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 abschließend festgelegt. Es finden sich im Bewilligungsbescheid keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch die Festlegung der Rückzahlungsvoraussetzungen erst unter Vorbehalt erfolgen sollte. Ein diesbezüglicher Vorbehalt wäre rechtlich auch kaum in zulässiger Weise gestaltbar, denn anders als hinsichtlich der Förderhöhe besteht jedenfalls hinsichtlich eventueller Rückforderungsvoraussetzungen weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Unsicherheit, die es rechtfertigen würde, die Rückforderungsvoraussetzungen von einer späteren Entscheidung abhängig zu machen. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids definierten Voraussetzungen einer Rückzahlungsverpflichtung zugleich definieren, was überhaupt förderfähige Ausgaben im Rahmen des Zuwendungsverhältnisses sind. Schon aus Gründen des Vertrauensschutzes kann es dem Beklagten nicht möglich sein, eine Zuwendung zu bewilligen und auszuzahlen und erst später zu entscheiden, welche Art von Ausgaben mit dieser Zuwendung überhaupt dem Grunde nach gefördert werden soll. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine grundlegende Entscheidung, die der Zuwendungsgeber bereits bei der Begründung des Zuwendungsverhältnisses durch den vorherigen Bewilligungsbescheid treffen kann und hier durch die Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 auch getroffen hat.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 106, juris, wo von der Festlegung von Berechnungsgrößen durch den Bewilligungsbescheid gesprochen wird.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Diese Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist dahin auszulegen, dass sie eine Rückforderung nur dann und auch nur soweit vorsieht, wie die gewährte Förderung sowohl den Liquiditätsengpass als auch den Umsatzausfall überschreitet. Es genügt dagegen nach dieser Regelung nicht, dass lediglich einer dieser beiden Parameter durch die Förderung überschritten wird.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Ausgangspunkt dieses Verständnisses ist der Wortlaut der Regelung in Ziffer II. 3., dem bei der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts besonderes Gewicht beizumessen ist. Die dort geregelten beiden Voraussetzungen werden durch die Konjunktion „und“ verbunden, was für den objektiven Empfänger die Rückzahlungsverpflichtung vom kumulativen Vorliegen beider Voraussetzungen abhängig macht. Aus dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 ergeben sich dagegen keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Verbindung der beiden Voraussetzungen durch „und“ hier als alternative Verbindung im Sinne eines „oder“ zu lesen sein soll. Erst Recht kann entgegen der Ansicht des Beklagten dem übrigen Bescheid kein Anhalt dafür entnommen werden, der Umsatzausfall sei hinsichtlich der Förderungshöhe gänzlich irrelevant. Wäre dies tatsächlich die Regelungsabsicht des Beklagten gewesen, wäre es widersinnig gewesen, den Umsatzausfall im Bewilligungsbescheid – und dann auch noch an der entscheidenden Stelle der Regelung der Rückzahlungsvoraussetzungen – überhaupt zu erwähnen. Soweit der Beklagte damit argumentiert, in Ziffer 2. des Bescheids werde als Zuwendungszweck die Milderung finanzieller Notlagen festgelegt, was bei einem bloßen Umsatzausfall nicht gegeben sei, dringt er mit diesem Einwand nicht durch. Es liegt im Verantwortungsbereich des Beklagten, im Rahmen der Zweckbestimmungsformulierung in seinen Bescheiden eindeutig und möglichst unmissverständlich festzulegen, welchen Zweck er mit der Zuwendung begünstigen will und welche Ausgaben er als von diesem Zweck erfasst ansieht. Der Begriff der „Milderung der finanziellen Notlagen“ schließt es nicht begriffsimmanent aus, hierunter auch erhebliche pandemiebedingte Umsatzausfälle zu fassen. Vielmehr dürfte der objektive Empfänger angesichts der expliziten und in seiner Bedeutung gegenüber dem Liquiditätsengpass in keiner erkennbaren Form eingeschränkten Erwähnung des Umsatzausfalls davon ausgehen, dass auch pandemiebedingte Umsatzausfälle von dem Beklagten als im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehende finanzielle Notlagen definiert werden.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Auch aus den übrigen zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides erkennbaren objektiven Umständen musste sich dem Bescheidadressaten nicht aufdrängen, dass Umsatzausfälle – entgegen des Bescheidwortlauts – mit der Soforthilfe nicht zumindest auch abgedeckt werden sollten.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">So war bereits in den Antragsunterlagen unter Ziffer 6.1 unter anderem zu versichern, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Förderantragstellers durch die Corona-Krise wesentlich beeinträchtigt wurde, weil „die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind“ oder „die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen“. Auch an dieser Stelle werden Umsatzausfall einerseits und ein Liquiditätsengpass (ein solcher dürfte mit der zitierten Formulierung gemeint sein) andererseits gleichrangig neben anderen Fördervoraussetzungen, auf die es hier nicht ankommt, erwähnt. Die Verbindung dieser einzeln aufgezählten Versicherungen erfolgte durch die Konjunktion „oder“, was aus Sicht eines objektiven Empfängers zu dem Schluss nötigt, dass bereits das Vorliegen einer der genannten Versicherungen zur Antragsstellung genügt. Hätte von vornherein festgestanden, dass es im Rahmen der Förderung immer nur um die Deckung eventueller Liquiditätsengpässe gehen sollte, so wäre eine derartig differenzierte Aufzählung nicht erforderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund überzeugt es auch nicht, wenn der Beklagte meint, in den Antragsunterlagen werde der Liquiditätsengpass an anderer Stelle in den Vordergrund gestellt, namentlich in Ziffer 5. und Ziffer 6.2. Hieraus musste ein objektiver Adressat angesichts der alternativen Abfrage von Umsatzausfall und Liquiditätsengpass unter Ziffer 6.1 nicht den Schluss ziehen, allein die Deckung von Liquiditätsengpässen im engeren Sinn sei Gegenstand der Förderung. Ebenso wie im Bescheid wäre es dann nämlich sinnlos, überhaupt eine Versicherung hinsichtlich eines eventuellen Umsatzausfalls zu verlangen, da es in einem solchen Fall auch genügt hätte, einfach eine Versicherung hinsichtlich eines Liquiditätsengpasses zu verlangen. Die von dem Beklagten erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgeworfene Differenzierung zwischen Antragsvoraussetzungen einerseits- und Anspruchsvoraussetzungen andererseits, nach der ein Umsatzausfall zwar zur Antragstellung berechtige, aber nichts über die Förderhöhe aussage, ist demgegenüber in den Antragsunterlagen weder offen noch indirekt angelegt. Da es bereits widersinnig ist, im Rahmen einer vorläufigen Bescheidung wie der Beklagte meint allein über die grundsätzliche Antragsberechtigung zu entscheiden – was soll einem Antragsteller die Feststellung einer derart isolierten Antragsberechtigung ohne spätere endgültige Förderung nützen? – hätte eine derartige Regelung eindeutig und von vornherein in den Antragsunterlagen angelegt sein müssen. Dies umso mehr als Ziffer 1.1 des Antragsformulars bereits regelt, wer „Antragsberechtigt“ ist. Ob eine solche Differenzierung in Antragsberechtigung und Anspruchsberechtigung in der Soforthilfe-Richtlinie angelegt ist, kann die Kammer dahinstehen lassen, da es auch in diesem Kontext auf die Soforthilfe-Richtlinie nicht ankommt. Denn wie bereits oben ausgeführt wurde, können zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schlicht noch nicht existente Umstände – wie der erst nachträgliche Erlass der Soforthilfe-Richtlinie – keine objektiv erkennbaren Umstände im Rahmen der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts darstellen.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Auch die im Internet abrufbaren und von dem Beklagten veröffentlichten FAQs bestätigen dieses Verständnis. So heiß es in der zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten Fassung vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 003) zu der Frage „Was wird gefördert?“ wörtlich [Hervorhebungen im Original]:</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">„<span style="text-decoration:underline">Voraussetzung</span>: erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten in Folge von Corona. Dies wird angenommen wenn […]</p>
<span class="absatzRechts">101</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind […]</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong> […]</p>
<span class="absatzRechts">104</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Unternehmens […] zu zahlen (=Finanzierungsengpass).“</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Die von der Beklagten veröffentlichten FAQs stellen also die Voraussetzungen der Förderung – hier als erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten beschrieben – wiederum in einen Zusammenhang mit Umsatzausfällen. Insbesondere ergibt sich aus der oben zitierten Formulierung abermals unter Verwendung der Konjunktion „oder“, dass bereits Umsatzausfälle zur Annahme von Finanzierungsengpässen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten genügen können. In der Fassung der FAQs vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 003) wurde außerdem auf die Frage, wie eine Überkompensation definiert sei, wörtlich geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">„Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält als sein tatsächlich eingetretener Schaden – also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z. B. Mietminderung) – ist“[…].</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Hier knüpft der Begriff der Überkompensation sogar im Schwerpunkt (insbesondere) an den Umsatzausfall und gerade nicht an einen Liquiditätsengpass an. Diese Formulierung entspricht hinsichtlich des Umsatzausfalls auch weitestgehend der Formulierung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020, was dessen Auslegung abermals bestätigt.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Angesichts sowohl des eindeutigen Wortlauts des Bewilligungsbescheids als auch der Vielzahl weiterer entsprechender Hinweise in den Antragsunterlagen und den FAQs ist aus Sicht eines objektiven Adressaten auch aus den übrigen zum Bewilligungsbescheid erkennbaren Umständen kein Schluss geboten, es würde im Rahmen der Förderung allein ein Liquiditätsengpass abgedeckt. Dass in einzelnen veröffentlichten Informationen – z. B. im Eckpunktepapier „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ vom 23.03.2020 dagegen nur von Liquiditätsengpässen und nicht auch von Umsatzausfällen die Rede ist, steht gegenüber allen anderen Anzeichen eindeutig im Hintergrund.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Unerheblich für die Auslegung des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 sind dabei die Kurzfakten zum Bundesprogramm vom 30.03.2020 und die Soforthilfe-Richtlinie, da diese zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht veröffentlicht, dementsprechend für einen objektiven Adressaten nicht wahrnehmbar und daher für die Ermittlung des Empfängerhorizonts irrelevant sind. Ob diese Dokumente die Auslegung des Beklagten, es komme nur auf einen Liquiditätsengpass an, tragen, kann dementsprechend dahinstehen.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber ist festzustellen, dass dieser Auslegung entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht das Klageverhalten der Gesamtmenge an Förderungsempfängern entgegengehalten werden kann. Soweit der Beklagte im Rahmen einer Art „statistischer Auswertung“ ausführt, dass von über 400.000 Zuwendungsempfängern nur 2.000 Empfänger den jeweils an sie adressierten Bescheid angefochten hätten und über 60.000 Empfänger freiwillig erklärt hätten, mangels eines Liquiditätsengpasses auf die Zuwendung zu verzichten, kann er hieraus keine Argumente für seine Lesart des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 ableiten. Die statistische Analyse des Beklagten hat hierzu keinerlei Aussagewert, da allein aus der Tatsache der Nichterhebung einer Klage keinesfalls der Schluss gezogen werden kann, der jeweilige Adressat habe den jeweiligen Bewilligungsbescheid inhaltsgleich verstanden wie der Beklagte. Hier können auch andere Faktoren – etwa das Vertrauen auf die Aussage des Beklagten als einer an das Rechtsstaatsprinzip gebundenen Behörde oder die Sorge vor den mit einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verbundenen Kosten – erheblichen Einfluss auf die Klagebereitschaft der jeweiligen Adressaten gehabt haben.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch die Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der kumulativen Rückforderungsvoraussetzungen Umsatzausfall und Liquiditätsengpass ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Auch sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis. Auch insoweit entsprach es nämlich der allein maßgeblichen tatsächlichen Förderpraxis des Beklagten, Ziffer II. 3. der jeweiligen Bewilligungsbescheide einheitlich entsprechend der Fassung im Bescheid vom 27.03.2020 zu formulieren. Auch hier kommt es auf eine etwaig anders gewollte Verwaltungspraxis nicht an. Ob dies mit der Soforthilfe-Richtlinie vereinbar wäre, kann aus den bereits unter Ziffer I. genannten Gründen dahinstehen, da diese zum Bewilligungszeitpunkt die Verwaltungspraxis nicht prägen konnte, weil sie schlicht noch nicht existierte.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen wäre der Schlussbescheid vom 17.12.2021 auch bei Annahme einer bloß vorläufigen Bewilligung durch den Bescheid vom 27.03.2020 rechtswidrig, weil die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids jedenfalls unter Missachtung der nach obiger Darlegung kumulativ notwendigen beiden Voraussetzungen einer Rückforderung erfolgt wäre. Denn der Beklagte hat in seinem Schlussbescheid allein auf einen im Rahmen des Rückmeldeverfahrens abgefragten Liquiditätsengpass abgestellt, indem er seitens der Adressaten die Einnahmen und Ausgaben aus dem jeweiligen Bewilligungszeitraum abgefragt, die hieraus gebildete Differenz als Liquiditätsengpass festgestellt und zugleich die Soforthilfe in dieser Höhe festgesetzt hat. Dadurch hat er die zweite und nach dem Obenstehenden ebenfalls erforderliche Voraussetzung einer Rückforderung, dass nämlich die Finanzhilfe den Umsatzausfall übersteigt, ignoriert und sich über die verbindlichen Festsetzungen des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 hinweggesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Erforderlich wäre es stattdessen gewesen – ginge man entgegen der unter I. getroffenen Überlegungen überhaupt von einer vorläufigen Bewilligung hinsichtlich der Förderhöhe aus –, zunächst sowohl den Liquiditätsengpass als auch einen Umsatzausfall zu ermitteln. Denn eine Rückforderung kann nach der Formulierung der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 nur soweit erfolgen, wie die beiden dort genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass es zum Behaltendürfen der Förderung nach der Konzeption des Bescheids genügt, wenn die Förderung entweder zur Deckung des Umsatzausfalls oder des Liquiditätsengpasses benötigt wird. Übersteigt einer dieser beiden Parameter den anderen, darf daher nur insoweit zurückgefordert werden, wie die Finanzhilfe nicht auch zur Deckung des höheren Parameters benötigt wird. Dies folgt aus der Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens beider Voraussetzungen, sodass untechnisch gesprochen im Rahmen einer Rückforderung auf den adressatengünstigeren Parameter abzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid schon deswegen rechtswidrig wäre, kann dahinstehen, ob die Ermittlung des Liquiditätsengpasses und ihre Festsetzung in Ziffer 1. des Schlussbescheids vom 17.12.2021 selbst für sich rechtlich nicht zu beanstanden wäre und den Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 entsprochen hätte. Denn selbst wenn man hiervon ausginge, wäre der Schlussbescheid vom 17.12.2021 insgesamt aufzuheben, da nach der Bescheidkonzeption des Beklagten die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids und die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids in untrennbarem Zusammenhang stehen und der Beklagte kein berechtigtes Interesse hat, die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids isoliert bestehen zu lassen.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Ziffer 3. des Schlussbescheids ist nach alledem ebenfalls rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 49a Abs. 1 VwVfG, der nach ständiger Rechtsprechung im Fall der Ersetzung eines vorläufigen Bescheides durch einen Schlussbescheid entsprechende Anwendung findet,</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 24, juris; BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2016 – 10 C 8.15 –, Rn. 11, juris,</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">nicht vorliegen. Denn es handelt sich aus den unter Ziffer I. ausgeführten Gründen bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 nicht um einen der Ersetzung durch einen Schlussbescheid zugänglichen vorläufigen Verwaltungsakt. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Bescheids jedenfalls aus den oben unter Ziffer II. ausgeführten Gründen rechtswidrig erfolgt, sodass auch dann die Rückforderung rechtswidrig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid vom 17.12.2020 sich nach alledem bereits unter zwei selbstständig tragenden Gesichtspunkten als rechtswidrig erweist, kann die Kammer offenlassen, ob der Schlussbescheid darüber hinaus wegen Verstoßes gegen Verfahrens- oder Datenschutzvorschriften rechtswidrig ist.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Der Schlussbescheid vom 17.12.2020 konnte auch nicht nach § 47 Abs. 1 VwVfG zu einem Widerruf des Bewilligungsbescheids vom 27.03.2020 gemäß § 49 Abs. 3 VwVfG umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Der umgedeutete Verwaltungsakt darf dabei nicht den erkennbaren Absichten der erlassenden Behörde widersprechen, § 47 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Zunächst widerspräche eine solche Umdeutung den erkennbaren Absichten des Beklagten, der nachdrücklich davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 27.03.2020 allein um einen vorläufigen Verwaltungsakt handelt. Zudem ist nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 49 Abs. 3 S. 1 VwVfG überhaupt vorlägen. Insbesondere ein Auflagenverstoß kann der Klägerin nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht vorgeworfen werden. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre eine Umdeutung ausgeschlossen, weil ein Widerruf jedenfalls nicht in der geschehenen Verfahrensweise hätte erfolgen dürfen. Denn bei einem Widerruf wegen eines Auflagenverstoßes oder einer Zweckverfehlung im Einzelfall wäre jedenfalls eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG zwingend erforderlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. 709 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Die Berufung war gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 S. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zwar beruht die Entscheidung der Kammer auf der Auslegung eines einzelnen Verwaltungsakts. Dieser Verwaltungsakt ist jedoch inhaltsgleich mit einer Vielzahl von weiteren Bescheiden, gegen die ebenfalls Klage erhoben wurde. Es besteht vor diesem Hintergrund ein allgemeines Klärungsinteresse an der Rechtsmäßigkeit der mit der Fassung des Bescheids verkörperten Verwaltungspraxis der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">8.781,00 EUR</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
|
346,619 | vg-koln-2022-09-16-16-k-12522 | {
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<p>Der Schlussbescheid der Bezirksregierung L. – Az. 34.Soforthilfe2020-171358 – vom 18.12.2021 wird aufgehoben.</p>
<p>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist als Solo-Selbstständige im Bereich Musik gewerblich tätig.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im März 2020 zeichnete sich ab, dass Unternehmer und Selbstständige aufgrund verschiedener infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würden. Daher legte der Bund zur Bereitstellung kurzfristiger Finanzhilfen das Förderprogramm „Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ auf. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentlichte hierzu am 23.03.2020 ein Eckpunktepapier.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beschloss, das Programm des Bundes in vollem Umfang an die vorgesehenen Zielgruppen weiterzuleiten. Beide Maßnahmen wurden in dem Förderprogramm „NRW Soforthilfe 2020“ gebündelt. Die federführende Verantwortung lag bei dem damaligen Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf dessen Internetpräsenz waren häufige Fragen zum Förderverfahren, sog. FAQ, in verschiedenen Fassungen unter dem Link https://wirtschaft.nrw.de/nrw-soforthilfe-2020 abrufbar. Zu deren Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorgelegten Fassungen (Beiakte 003) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 28.03.2020 beantragte die Klägerin über das Online-Formular des Beklagten eine Soforthilfe aus dem Programm „NRW-Soforthilfe 2020“ in Höhe von 9.000 EUR. Unter Ziffer 6.1 des Antragsformulars versicherte sie, dass ihre wirtschaftliche Tätigkeit durch die COVID-19-Pandemie wesentlich beeinträchtigt sei, da entweder</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">- mehr als die Hälfte der Aufträge aus der Zeit vor dem 01.03.2020 durch die COVID-19-Pandemie weggefallen seien oder</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">- die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert seien (Gründungen: Vormonat) oder</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">- die Umsatzerzielungsmöglichkeiten durch eine behördliche Auflage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie massiv eingeschränkt worden seien oder</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">- die vorhandenen Mittel nicht ausreichten, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen (z. B. Mieten, Kredite für Betriebsräume, Leasingraten).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Unter Ziffer 6.5 stimmte die Klägerin der Erhebung und Verarbeitung ihrer für die Zuschussgewährung erforderlichen Daten im Rahmen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen (DSGVO) zu. Mit Ziffer 6.11 bestätigte die Klägerin, ihr sei bekannt, dass sie die Soforthilfe im Fall einer Überkompensation (Entschädigungs-, Versicherungsleistungen, andere Fördermaßnahmen) zurückzahlen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Noch am 28.03.2020 erging an die Klägerin ein Bewilligungsbescheid. Unter Ziffer 1. des Bescheids bewilligte der Beklagte der Klägerin „eine Soforthilfe i. H. v. 9.000,00 € […] als einmalige Pauschale“. Gemäß Ziffer 2. des Bescheids erfolgte die Soforthilfe ausschließlich zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie als Einmalzahlung für einen dreimonatigen Bewilligungszeitraum ab Antragstellung. Die Soforthilfe diene insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 01.03.2020 in Zusammenhang mit der COVID-19‑Pandemie entstanden seien. Unter Ziffer II. 3. sah der Bescheid vom 28.03.2020 folgende Nebenbestimmung vor:</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der […] zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 28.03.2020 (Bl. 5 – 8 der Verwaltungsvorgänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Am 30.03.2020 veröffentliche das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie „Kurzfakten zum Corona-Soforthilfe-programm des Bundes“ auf seiner Homepage.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am 31.05.2020 wurden die „Richtlinien des Landes zur Gewährung von Soforthilfen für gewerbliche Kleinunternehmen, Selbstständige und Angehörige freier Berufe, die infolge der Sars-CoV-2-Pandemie in ihrer Existenz gefährdet sind“ als Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie (Az. VB 5 - 2020) – im Folgenden: Soforthilfe - Richtlinie – erlassen und traten laut Ziffer 9. der Soforthilfe-Richtlinie mit Wirkung vom 27.03.2020 in Kraft.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Mit E-Mail vom 15.06.2021 forderte der Beklagte die Klägerin auf, zur nachträglichen Berechnung des Liquiditätsengpasses die der Mail beigefügten Rückmeldeformulare auszufüllen und an den Beklagte digital zurückzusenden.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">In ihrer Rückmeldung vom 08.11.2021 gab die Klägerin an, sie wähle als Förderzeitraum den Zeitraum April bis Juni 2020 aus und nehme den fiktiven Unternehmerlohn in Höhe von 2.000 EUR nicht in Anspruch. Aus der Gegenüberstellung der Einnahmen der Klägerin mit ihren Ausgaben aus den drei Monaten des Bewilligungszeitraums ergab sich ein betrieblicher Liquiditätsengpass von 2.588 EUR. Sie versicherte, ihr sei bekannt, dass sie „für den Fall einer erforderlichen Rückzahlung den Betrag selbstständig zurück überweisen“ müsse. Fragen zum Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum sahen die Rückmeldeformulare des Beklagten nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Am 18.12.2021 erließ der Beklagte einen Schlussbescheid. Mit den Ziffern 1. und 2. des Bescheids stellte er einen Liquiditätsengpass von 2.588 EUR fest und setzte die Höhe der Soforthilfe auf diesen Betrag fest. Mit Ziffer 3. des Bescheids forderte er die Klägerin zur Rückzahlung des überzahlten Betrages von 6.412 EUR auf.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führte der Beklagte aus, er sei nach Ziffer 5.2 der Soforthilfe-Richtlinie auch für die Rückforderung überzahlter Beträge zuständig. Nach den Ziffern 3.1, 3.2, 5.2 und 5.3 der Soforthilfe-Richtlinie werde die NRW-Soforthilfe 2020 zwar zunächst in voller Höhe gewährt. Die endgültige Festsetzung erfolge aber erst nach Rückmeldung und Berechnung des Liquiditätsengpasses. Decke der Liquiditätsengpass die gezahlte Soforthilfe nicht vollständig ab, werde Soforthilfe nur in Höhe des Liquiditätsengpasses gewährt. Auf Grundlage der Rückmeldung der Klägerin bestehe nur ein Liquiditätsengpass in Höhe von 2.588 EUR. Der überzahlte Betrag sei daher nach § 49a Abs. 1 VwVfG in entsprechender Anwendung zurückzufordern. Der Schlussbescheid trete insoweit an die Stelle des ursprünglichen Bewilligungsbescheids. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Schlussbescheid vom 18.12.2021 (Bl. 23 – 27 der Verwaltungsvorgänge) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 10.01.2022 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt sie vor, der Schlussbescheid sei bereits aus formellen Gründen rechtswidrig. Im Verfahren sei der Datenschutz nicht gewährleistet und insoweit gegen Art. 22 DSGVO verstoßen worden. Der Beklagte habe außerdem ohne entsprechende Ermächtigung nach § 35a VwVfG ein rein digitales Rückmeldeverfahren durchgeführt. Zudem sei sie nicht angehört worden. In materieller Hinsicht habe es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 nicht um eine vorläufige, sondern um eine endgültige Bewilligung gehandelt. Der Bescheid bringe an keiner Stelle eindeutig zum Ausdruck, dass es sich um eine vorläufige Bewilligung handle. Der Begriff „vorläufig“ komme im Bescheid nicht vor. Insbesondere begründe Ziffer II. 3. des Bescheids nicht die Vorläufigkeit der Bewilligung, sondern enthalte eine selbstständige Rückzahlungsverpflichtung der Klägerin unter Angabe bereits der IBAN und des Verwendungszwecks der Rückzahlung, sodass es eines weiteren Verwaltungsverfahrens insoweit nicht bedürfe. Auf die später erlassene Soforthilfe-Richtlinie sowie die später geschlossene Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern könne es insoweit nicht ankommen. Zumindest müsse aber auch der Umsatzausfall im Rahmen einer Schlussbescheidung Berücksichtigung finden. Sowohl die von dem Beklagten veröffentlichten FAQs als auch der Bewilligungsbescheid in Ziffer II. 3. würden hierauf Bezug nehmen, sodass die Klägerin darauf vertrauen dürfe, dass auch der Umsatzausfall im Rahmen eines Schlussbescheides umfasst sei. Dass das Land dies gegebenenfalls anders beabsichtigt habe, sei unerheblich, da es auf die tatsächliche Umsetzung im Bewilligungsbescheid ankomme. Die von dem Beklagten nunmehr vorgeschlagene Differenzierung in Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen finde in den Antragsunterlagen, den FAQs und dem Bewilligungsbescheid keine Stütze. Bestimmtheitsmängel gingen insoweit zu Lasten des Beklagten. Eine Umdeutung in eine Teil-Rücknahme oder einen Teil-Widerruf scheitere am erklärten Willen des Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">den Schlussbescheid der Bezirksregierung L. mit dem Az. 34.Soforthilfe-2020 -171358 vom 18.12.2021 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Er führt aus, das Soforthilfe-Programm habe auf einer Bundesförderung beruht, die auf die Überbrückung akuter Liquiditätsengpässe gerichtet gewesen sei. Der Beklagte habe sich dazu entschieden, den Förderhöchstbetrag als vorläufige Pauschale auszuzahlen, um möglichst schnell Hilfe leisten zu können. Eine Ermittlung des Liquiditätsengpasses sei aber erst rückblickend möglich. Einer Anhörung vor Erlass des Schlussbescheides habe es nach § 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG nicht bedurft. Ein Verstoß gegen § 35a VwVfG scheide ebenfalls aus, weil dieser in Fällen wie hier teleologisch zu reduzieren sei. Eventuelle Verstöße hiergegen seien aber jedenfalls nach § 46 VwVfG unbeachtlich. Der Beklagte sei nach seiner Verwaltungspraxis verpflichtet, vorläufig ausgezahlte Höchstbeträge gleichheitsmäßig entsprechend des Zuwendungszwecks zurückzufordern. Der Bewilligungsbescheid habe hier zulässigerweise als vorläufiger Bescheid erlassen werden dürfen. Dies komme auch im Begriff der „einmaligen Pauschale“, durch den andernfalls sinnlosen dreimonatigen Bewilligungszeitraum und die Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids hinreichend bestimmt zum Ausdruck. Bei der Bewertung der Regelungen des Bewilligungsbescheides aus Sicht des objektiven Empfängers müsse auch beachtet werden, dass von 400.000 Bescheiden lediglich 2.000 beklagt worden seien und 60.000 Betroffene freiwillig erklärt hätten, keinen Liquiditätsengpass erlitten zu haben und daher auf die Soforthilfe zu verzichten. Ein Großteil der Empfänger habe den Bescheid daher so verstanden wie der Beklagte. Die Berechnung des Liquiditätsengpasses erfolge nach den Vorgaben der Soforthilfe-Richtlinie, die zwischen Antrags- und Anspruchsvoraussetzungen differenziere. Ein Antrag habe danach schon bei einem Umsatzausfall erfolgen können, ein Anspruch bestehe aber nur bei einem Liquiditätsengpass. Dies entspreche dem Sinn der Förderung, wirtschaftliche Notlagen abzumildern, da bei einem bloßen Umsatzausfall eine solche Notlage noch nicht vorliegen müsse. Ersichtlich sei dies auch aus den Antragsunterlagen, in welchen auf eine existenzbedrohliche Wirtschaftslage Bezug genommen werde, welche bei bloßen Umsatzausfällen nicht vorliege. Die Richtlinie stelle auch keine unzulässige Rückwirkung dar, da sie nur verwaltungsintern das Ermessen leite. Selbst wenn man von einer Rückwirkung ausgehe, sei der Fördersachverhalt zudem noch nicht abgeschlossen gewesen. Eine Rückwirkung liege aber auch deshalb nicht vor, weil die Soforthilfe-Richtlinie die bestehende Verwaltungspraxis gerade bestätigt habe. Maßgeblich für den Schlussbescheid sei aber nur die Verwaltungspraxis zum Zeitpunkt dessen Erlasses, in welchem die Soforthilfe-Richtlinie jedenfalls gegolten habe.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft. Denn die Klägerin wendet sich gegen den Schlussbescheid vom 18.12.2021, der eine sie rein belastende Regelung darstellt. Die mit dem Schlussbescheid getroffenen Regelungen führen nämlich noch unabhängig von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Bewilligungsbescheid und Schlussbescheid dogmatisch zu bewerten ist, jedenfalls dazu, dass der Klägerin eine ihr bereits durch den Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 gewährte subjektive Rechtsposition – die gewährte Förderung von 9.000 EUR sowie damit verbunden das Recht, diese Förderung während des Bestands des Bewilligungsbescheids behalten zu dürfen – entzogen wird. Dieser Belastung kann sie sich entsprechend ihres maßgeblichen Klagebegehrens nach § 88 VwGO am besten erwehren, indem sie den Schlussbescheid anficht. Es liegt insbesondere auch kein Fall einer vorrangigen Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 S. Alt. VwGO vor, weil es der Klägerin nicht darum geht, einen materiellen Anspruch durch das Erzwingen des Erlasses eines Verwaltungsakts durchzusetzen. Sie kann durch eine Verpflichtungsklage etwa gerichtet auf Erlass eines Schlussbescheids anderen Inhalts keine Erweiterung ihrer subjektiven öffentlichen Rechte erreichen, da sie bereits aufgrund des Bewilligungsbescheids die Maximalförderung zugesprochen bekommen hat.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die auch im Übrigen zulässige Klage ist zudem begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 18.12.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Der Beklagte hat die mit Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 gewährte Soforthilfe zu Unrecht auf einen Betrag von 2.588 EUR festgesetzt (Ziffer 2. des Schlussbescheids) und einen Betrag von 6.412 EUR zurückgefordert (Ziffer 3. des Schlussbescheids).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte geht bereits im Ausgangspunkt zu Unrecht davon aus, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 lediglich um eine vorläufige Bewilligung handelt, die er durch einen Schlussbescheid ersetzen durfte (dazu I.). Selbst wenn man dies anders sähe und von einer vorläufigen Bewilligung ausginge, wäre die Klage aber immer noch begründet, da der Beklagte sich durch die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids vom 18.12.2020 in rechtlich nicht zulässiger Weise über verbindliche Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 hinweggesetzt hätte (dazu II.).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 28.03.2022 trifft hinsichtlich der der Klägerin gewährten Zuwendung in Form der Soforthilfe eine endgültige Regelung und stellt insoweit keinen sogenannten vorläufigen Verwaltungsakt dar.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Von einem vorläufigen Verwaltungsakt ist im Bereich der Zuwendungsgewährung auszugehen, wenn die Zuwendung unter dem Vorbehalt einer späteren abschließenden Entscheidung bewilligt wird. Ein solcher Bewilligungsbescheid ist in seinem Regelungsinhalt dahingehend eingeschränkt, dass der Begünstigte die Zuwendung zunächst nur vorläufig bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung behalten darf. Ob ein Anspruch auf das endgültige Behaltendürfen der Zuwendung besteht, hängt dagegen von dem Inhalt des abschließenden Bewilligungsbescheids, des Schlussbescheids ab.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8.82 –, Rn. 33, juris; BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 14 juris.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Bedürfnis für eine solche lediglich vorläufige Regelung kann insbesondere dann bestehen, wenn zum Erlasszeitpunkt des vorläufigen Bescheids eine tatsächliche Unsicherheit besteht. Das Subventionsverhältnis wird dabei zunächst durch den Zuwendungsbescheid geregelt, der aber unter den Vorbehalt der späteren Festsetzung gestellt wird und damit auf eine Ergänzung durch einen weiteren Verwaltungsakt angelegt ist, durch den die Zuwendung in den offen gehaltenen Punkten abschließend geregelt werden sollte.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 15 juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 63, juris.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Vorbehalt endgültiger Regelung bewirkt, dass die Behörde die vorläufige Regelung im Ausgangsbescheid durch die endgültige Regelung im Schlussbescheid ersetzen kann, ohne insoweit an die Einschränkungen der §§ 48, 49 VwVfG gebunden zu sein. Bei einer späteren endgültigen Regelung durch einen Schlussbescheid bedarf es insoweit keiner Aufhebung der unter Vorbehalt ergangenen Bewilligung, da diese durch den Schlussbescheid ersetzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7/09 –, Rn. 16, juris; OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); HK-VerwR/Kyrill-Alexander Schwarz, 5. Aufl. 2021, VwVfG § 35 Rn. 28; Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 245.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Wie weit der Vorbehalt der endgültigen Regelung reicht und ob er die Bewilligung insgesamt oder nur Teilregelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids umfasst, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Denn die Vorläufigkeit muss sich nicht auf den ersten Bescheid insgesamt beziehen, sondern kann und muss gegebenenfalls auf einzelne Aspekte beschränkt sein. Es können also auch bereits im vorläufigen Bewilligungsbescheid endgültige Teil-Regelungen getroffen und dem Adressaten insoweit gesicherte (Teil-) Rechtspositionen vermittelt werden. Auch wenn daher die Behörde einen unter Vorbehalt gestellten Verwaltungsakt später durch einen Schlussbescheid ersetzt, so kommt eine inhaltlich abweichende Regelung im Schlussbescheid – außer in den Fällen der §§ 48, 49 VwVfG – nur in Betracht, wenn sie aus den Gründen ergeht, wegen derer die frühere Regelung unter Vorbehalt gestellt wurde.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 17, juris.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Regelungen des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unterliegen insoweit der Auslegung aus Sicht eines objektiven Empfängers entsprechend der §§ 133, 157 BGB. Das Gericht hat den Bewilligungsbescheid dahin zu erforschen, wie der Adressat ihn unter Berücksichtigung der ihm bekannten oder erkennbaren Umstände bei objektiver Auslegung verstehen musste.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 – 10 C 5.17 –,Rn. 25, juris; BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, Rn. 14, juris; OVG NRW, Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 A 436/17 –, Rn. 56, juris; OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 5, juris.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Abzustellen ist dabei auf Sicht des Adressaten zum Erlasszeitpunkt des ursprünglichen Bewilligungsbescheides unter Berücksichtigung allein der zu diesem Zeitpunkt bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umstände. Nach Erlass eines Zuwendungsbescheides kann die Behörde nicht mehr frei über die Auslegung von darin verwandten Begrifflichkeiten entscheiden. Der Bescheid hat insoweit Fakten geschaffen, über die sie sich auch im Rahmen des Zuwendungsrechts nicht nach Ermessen hinwegsetzen kann.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2017 – 4 A 1513/15 –, Rn. 7, juris.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Welche Teile des ursprünglichen Bewilligungsbescheids unter dem Vorbehalt einer abschließenden Regelung stehen und welche bereits im ursprünglichen Bescheid endgültige Regelungen treffen, muss sich vor allem aus dem vorläufigen Bewilligungsbescheid selbst ergeben. Insoweit muss in diesem ausdrücklich bezeichnet oder zumindest eindeutig erkennbar sein, hinsichtlich welcher Regelung die Erlassbehörde sich eine spätere Entscheidung vorbehalten will. Dies folgt einerseits aus dem Gebot hinreichender Bestimmtheit von Verwaltungsakten im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG, andererseits mit Blick auf den Vertrauensschutz des Adressaten. Unklarheiten gehen zu Lasten der Erlassbehörde, die es insoweit in der Hand hat, Bestimmtheits- oder Auslegungsprobleme durch eindeutige Formulierungen im ursprünglichen Bescheid zu vermeiden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990 - 15 A 708/88 -, NVWZ 1991, 588 (589); Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 35 Rn. 247.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen ist es nicht ausreichend, wenn sich die Auslegung als vorläufiger Verwaltungsakt lediglich als noch mögliche Deutung neben einer Vielzahl weiterer möglicher Auslegungen darstellt. Es genügt für die Annahme eines Regelungsvorbehalts nicht, dass ein Bewilligungsbescheid auch als vorläufiger Verwaltungsakt verstanden werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104 – 105, juris.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Vielmehr ist es erforderlich, dass der Regelungsvorbehalt aus dem Bescheid sowie den erkennbaren Umständen für einen objektiven Empfänger als die einzig sinnvolle Deutung erscheint und sich dieses Verständnis dem objektiven Empfänger aufdrängen muss. Dabei gebieten es die mit dem Vorbehalt späterer endgültiger Entscheidung verbundene Folge des Ausschlusses von Vertrauensschutz und die Verwandtheit dieser Regelungsweise mit Befristung, Bedingung und Widerrufsvorbehalt (§ 36 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwVfG),</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009, 3 C 7.09, juris, Rn. 20,</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">strenge Anforderungen an die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots (§ 37 VwVfG NRW) für die Vorläufigkeit einer Regelung und ihres genauen Umfangs zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. September 1990, 15 A 708/88, NVWZ 1991, 588 (589); Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 160; König, BayVBl. 1989, 36; Martens, DÖV 1987, 998.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab ist der Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 dahin auszulegen, dass er die der Klägerin gewährte Förderung insbesondere auch der Höhe nach endgültig regelt. Der Beklagte hat sich im insoweit allein maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 den Erlass eines Schlussbescheides weder ausdrücklich noch zumindest noch ausreichend deutlich vorbehalten, sondern den Antrag der Klägerin vom 28.03.2020 – auch hinsichtlich der Höhe der Soforthilfe - in Wahrheit abschließend beschieden.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 bringt an keiner Stelle, insbesondere im Tenor und/oder in den einschlägigen Ziffern II. 3., 4. und 8. der Nebenbestimmungen, die Vorläufigkeit bzw. Vorbehaltlichkeit der Gewährung der Soforthilfe für den objektiven Empfängerhorizont mit (noch) hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Ausreichend, aber auch notwendig wäre es hierzu gewesen, einen entsprechenden Entscheidungsvorbehalt bzw. eine Vorläufigkeit der Bewilligung der Zuwendung mit Blick auf eine erst zukünftig (abschließend) zu bewilligende Zuwendung mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit zum Inhalt des Bescheids zu machen. Das ist hier nicht geschehen.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid enthält unter Ziffer „1. Bewilligung“ die der Höhe nach einschränkungslose „Bewilligung“ einer „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00 €“. Ein Hinweis auf eine etwaige Höchstbetragsförderung mit späterer endgültiger Abrechnung etwa über den Zusatz „bis zu 9.000,00 €“, der sich gerichtsbekannt in einer Fülle von Bewilligungsbescheiden der Bezirksregierung L. bei anderen Förderprogrammen findet, fehlt.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Bewilligung „als einmalige Pauschale“ spricht nicht hinreichend deutlich für eine vorläufige Regelung zur Höhe der Corona Soforthilfe. Denn die Wortbedeutung erfasst zwar auch eine vorläufige Geldsumme, die man vor der endgültigen Abrechnung erhält. Eine einmalige Pauschale kann aber auch als ein Geldbetrag, der mehrere Teilsummen zusammenfasst, die nicht einzeln abgerechnet werden, verstanden werden. Ebenso kann der Begriff der Pauschale auch genau umgekehrt zu der von dem Beklagten vorgenommenen Deutung verstanden werden, dass nämlich gerade keine genaue Ermittlung des durch die Förderung zu kompensierenden Ausfalls erfolgen soll, sondern dieser durch eine einmalige – z. B. aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder Beschleunigung vorgenommene – Pauschalzahlung abgegolten wird. Diese mehrfache Wortbedeutung schließt die erforderliche Bestimmtheit im oben dargelegten Sinn aus.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">A. A. wohl VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auch die Festlegung eines dreimonatigen Bewilligungszeitraums in Ziffer 2. des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 zwingt nicht zu dem Schluss, es handle sich um eine bloß vorläufige Bewilligung. Die Festlegung eines Bewilligungszeitraums ist keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal eines vorläufigen Verwaltungsakts, sondern erfolgt regelmäßig auch bei endgültigen Förderbescheiden. Dies macht auch bei endgültigen Förderbescheiden, denen ebenfalls ein Verwendungsnachweisverfahren – ggfs. verbunden mit einem Widerrufsverfahren nach § 49 Abs. 3 VwVfG – nachgeschaltet sein kann, Sinn, um den relevanten Zeitraum hinsichtlich förderungsrelevanter Ausgaben und Kosten zu ermitteln.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Der im Zuwendungsbescheid unter Ziffer II. 3. der Nebenbestimmung zu findende Passus,</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">„Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraumes feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der Landeskasse....unter Angabe des Aktenzeichens zurückzuzahlen. ...“,</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">reicht nicht aus, um hierdurch einen Vorläufigkeitsvorbehalt mit hinreichender Bestimmtheit begründen zu können. Zwar kommt in ihm zum Ausdruck, dass die ausgezahlte Finanzhilfe noch von zukünftigen Faktoren abhängig ist, die zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht feststehen. Es gibt jedoch unterschiedlichste verwaltungsrechtliche Regelungsmöglichkeiten, wie mit solchen zukünftigen Faktoren umgegangen werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Vgl. instruktiv BVerwG, Urteil vom 14. April 1983 – 3 C 8/82 –, Rn. 23 ff., juris.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist aus Sicht eines objektiven Empfängers nicht als Vorbehalt einer abschließenden Behördenentscheidung zu verstehen. Mit dieser Regelung wurde vielmehr von der Klägerin nach dem eindeutigen Wortlaut eine von ihr selbst und eigenverantwortlich vorzunehmende nachträgliche Berechnung von Ist-Werten zur tatsächlichen Höhe des Umsatzausfalls und des Liquiditätsengpasses während des Bewilligungszeitraums verlangt, mit der Folge die selbsttätig errechneten zu viel gewährten Unterstützungsgelder zurückzuzahlen. Aus dieser selbsttätig und eigenverantwortlich vorzunehmenden Berechnungs- und Prüfpflicht des Zuwendungsempfängers und einer hieraus gegebenenfalls resultierenden Rückzahlungspflicht kann unter Anwendung des gebotenen strengen Maßstabs nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont nicht mit der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit entnommen werden, dass damit der Begünstigte die empfangene Leistung in jedem Fall nur vorläufig bis zum Erlass einer späteren endgültigen Regelung durch die Behörde behalten darf. Denn von einem irgendwie gearteten – nachträglichen – Tätigwerden der Behörde ist hier überhaupt nicht die Rede. Dies gilt umso mehr für den Fall, dass die selbsttätig und eigenverantwortlich vom Begünstigten vorgenommene Berechnung keinen zu viel gezahlten Betrag ergeben sollte. Eine vorbehaltene endgültige Festsetzung der Höhe der Soforthilfe in einem zweiten Verwaltungsakt ist damit in dieser Regelung nicht vorgesehen. Soweit in dieser Regelung ein Hinweis auf ein späteres Rückmeldeverfahren gesehen wurde,</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 104, juris,</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">kann die erkennende Kammer einen solchen Hinweis weder dem Wortlaut noch dem Sinn der Regelung entnehmen. Ein solches Verfahren wird in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, der ausdrücklich nur den Bescheidadressaten anspricht, nicht erwähnt.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Es dürfte viel dafür sprechen, dass es sich stattdessen bei dieser Regelung um eine Auflage i.S.v. § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW handelt. Einem solchen Verständnis könnte jedenfalls nicht entgegengehalten werden, dass die Konstruktion einer nachträglichen Kontrolle der Förderung durch Begründung einer Mitwirkungsverpflichtung zur Selbstkontrolle in Form einer Auflage ungeeignet wäre, um eine angemessene Überprüfung der Förderung zu ermöglichen. Denn wenn es in diesem Fall dazu käme, dass ein Adressat einer solchen Mitwirkungsverpflichtung nicht nachkäme, stehen im Rahmen des allgemeinen Verwaltungsrechts geeignete Möglichkeiten zum Beispiel in Form eines Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG zur Verfügung, um die benötigten Angaben zu ermitteln und gegebenenfalls überzahlte Beträge zurückzufordern. Ob es sich bei der Regelung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom [00.00.0000] tatsächlich um eine Auflage handelt und welcher Inhalt dieser genau zukommt, kann offenbleiben. Denn der Beklagte hält der Klägerin in dem angefochtenen Schlussbescheid einen solchen Auflagenverstoß jedenfalls nicht vor. In der von dem Beklagten umgesetzten „Rückmeldung des Liquiditätsengpasses NRW Soforthilfe 2020“ der Klägerin vom 08.11.2021 heißt es dementsprechend: „Dieses Rückmelde-Formular dient der Meldung des vorzeitig freiwillig ermittelten Liquiditätsengpasses….“. Bei einer freiwilligen Ermittlungstätigkeit des Zuwendungsempfängers selbst handelt es sich aber nicht um die behördliche Ausübung einer im Bewilligungsbescheid gemachten vorläufigen Regelung.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Ein Vorbehalt einer späteren Entscheidung ergibt sich auch nicht aus den Regelungen in den Ziffern II. 4., 5. und II. 8. des Bewilligungsbescheids.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 4. enthält eine Regelung hinsichtlich eventueller Rückzahlungspflichten wegen falscher Angaben bei der Antragstellung oder wegen Überkompensation. Damit wird lediglich eine Rückzahlungspflicht für diese Fälle geregelt, ohne dass sich hierin die Vorläufigkeit der Bewilligung insgesamt in hinreichender Klarheit ausdrücken würde.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">In Ziffer II. 5. wird sich ausdrücklich „im Einzelfall“ eine spätere Verwendungsprüfung vorbehalten, was jedenfalls keinen Vorbehalt einer abschließenden Entscheidung für die Gesamtförderung begründet. Die Existenz eines Verwendungsnachweisverfahrens für sich allein genommen ist insoweit ebenfalls nicht aussagekräftig, weil eine Verwendungsnachweisprüfung auch bei endgültigen Förderbescheiden stattfindet und gegebenenfalls etwa im Falle der zweckwidrigen Verwendung zu einem Rückforderungsverfahren nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG führen kann. Allein die Notwendigkeit eines nachträglichen Verwendungsnachweises besagt für sich genommen dementsprechend nichts über die Frage der Vorläufigkeit einer Zuwendungsbewilligung aus. Diese ergibt sich erst im Zusammenspiel mit etwaigen weiteren Regelungen eines Bescheides, etwa in der Zusammenschau mit einer Höchstbetrags-/Anteilsfinanzierung. Anderweitige Anzeichen für eine vorläufige Regelung finden sich im Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 aber gerade nicht. Außerdem wäre sinnlos, zu formulieren, dass „im Einzelfall eine Prüfung“ vorbehalten wird, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Da im Bewilligungsbescheid nach alledem keine erkennbaren und belastbaren Anhaltspunkte für eine bloß vorläufige Bewilligung vorliegen, käme die Annahme, dass der Bescheid gleichwohl eine bloße vorläufige Bewilligung regelt, wenn überhaupt nur noch in Betracht, wenn sich für den objektiven Adressaten aus sonstigen Umständen zwingend der Schluss aufdrängen musste, dass der Bescheid – gleichsam entgegen seines Wortlauts – lediglich eine bloß vorläufige Bewilligung ausspricht. Zu einem derartigen Schluss zwingen aber weder die Antragsunterlagen, die nach Ziffer 2. des Bewilligungsbescheides Bescheidbestandteil sind, noch die sonst zum Bewilligungszeitpunkt verfügbaren Informationen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">In den Antragsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein expliziter Hinweis darauf, dass eine Bewilligung bloß vorläufig erfolgen und nach Ablauf des Bewilligungszeitraums ein späteres Rückmeldeverfahren mit Erlass eines Schlussbescheides stattfinden solle. Insbesondere kann aus der in Ziffer 6.11 der Antragsunterlagen abgegebenen Versicherung, es sei bekannt, dass der Zuschuss im Falle einer Überkompensation zurückzuzahlen sei, kein Schluss auf eine bloß vorläufige Bewilligung gezogen werden. Denn allein die abstrakte Verpflichtung zur Rückzahlung einer Überkompensation sagt nichts darüber aus, wie eine solche Rückzahlungsverpflichtung verwaltungsverfahrensrechtlich konstruiert wird. Auch insoweit kämen neben einer bloß vorläufigen Bewilligung alternative Gestaltungen – z. B. in Form einer auflösenden Bedingung oder eines späteren Widerrufsverfahrens nach § 49 Abs. 3 VwVfG – in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Auch die übrigen zum Zeitpunkt der Bewilligung veröffentlichten Informationen zwingen nicht zum Schluss, es finde mit dem Bewilligungsbescheid lediglich eine vorläufige Bewilligung statt. Soweit in den „Eckpunkte[n] zur Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie dem Bundesministerium der Finanzen vom 23.03.2020 ausgeführt ist, dass die „Finanzielle Soforthilfe „…. Bis 9.000,00 € … bzw. Bis 15.000,00 € …“ betrage, kommt damit nicht zugleich hinreichend deutlich im Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 selbst eine Höchstbetragsfinanzierung unter Vorbehalt einer späteren endgültigen Bewilligung zum Ausdruck. Denn der Bewilligungsbescheid bewilligt im Gegensatz zu diesen Regelungen nach seinem eindeutigen Wortlaut eine „Soforthilfe i.H.v. 9.000,00“ und enthält gerade nicht den Zusatz „bis zu“.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, dass andere veröffentlichte Informationen im Gegenteil zu dem Schluss berechtigen konnten, dass der Förderbetrag in Maximalhöhe und endgültig bewilligt wird. In den von dem Beklagten veröffentlichten FAQs, die insoweit für die Allgemeinheit Hinweise und Informationen zur Förderung durch die Soforthilfe des Beklagten geben sollen und daher von einem objektiven Empfänger zur Auslegung des Bewilligungsbescheids herangezogen werden können, heißt es etwa in der Fassung vom 28.03.2020 (Anlage B5, Beiakte 003) auf die Frage „Wie hoch ist die Förderung?“</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">„Die Soforthilfe erfolgt im Rahmen eines einmaligen, nicht rückzahlbaren Zuschusses. Sie […] beträgt für drei Monate: 9.000 Euro für antragsberechtigte Solo-Selbstständige und Antragsberechtigte mit bis zu 5 Beschäftigten“.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Auf die Frage, ob geprüft wird, ob dem Antragsteller die Hilfe wirklich zugestanden hat und wenn nein, ob die Hilfe ggfs. zurückgezahlt werden muss, antworten die FAQs vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 003):</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">„Der Antragsteller versichert im Formular, dass er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen und wahrheitstreu gemacht hat. […] Da dem Antrag die Steuernummer bzw. die Steuer-ID beizufügen ist, hat das Finanzamt die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu prüfen. […] Stellt sich am Ende der Bezugszeit von drei Monaten heraus, dass der Antragsberechtigte mehr erhalten hat, als sein Schaden war, ist er gehalten, das überschüssige Geld zurückzuzahlen.“</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Auch hier ist an keiner Stelle auch nur ansatzweise die Rede davon, die Soforthilfe würde lediglich vorläufig bewilligt und dann in einem separaten Verfahren durch einen Schlussbescheid des Beklagten abschließend festgesetzt. Vielmehr bestätigt insbesondere die zweite zitierte Antwort das oben genannte Verständnis der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids, nach dem die Überprüfung einer Rückzahlungspflicht nach der Regelungstechnik des Bescheids zunächst Sache des Zuwendungsempfängers ist. Es wäre sinnlos, zu formulieren, dass der Antragsberechtigte zur Rückzahlung überzahlter Mittel „gehalten“ ist, wenn beabsichtigt gewesen wäre, eine eventuelle Rückzahlungsverpflichtung stets und in jedem Einzelfall im Rahmen eines Schlussbescheids rechtsverbindlich und vollziehbar festzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte sich darüber hinaus auf nach dem Erlasszeitpunkt des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 veröffentlichte Hinweise und Regelwerke, insbesondere auf die Soforthilfe-Richtlinie beruft, kann dahinstehen, ob diese für die von dem Beklagten vertretene Auslegung des Bewilligungsbescheids sprechen. Denn ihnen kann von vornherein keine Bedeutung für die Auslegung des Bewilligungsbescheids zukommen, da der maßgebliche objektive Empfängerhorizont des Bescheidempfängers sich von vornherein nur anhand der im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits bekannten Gesamtumstände bemessen kann. Hierzu gehören später ergangene Regelwerke ersichtlich nicht. Dem Umstand, dass dieser Erlass in rechtlicher Hinsicht mit Rückwirkung zum 27.03.2020, dem ersten Tag der Freischaltung des Online-Antragsverfahrens, in Kraft getreten ist, kommt für die hier allein maßgebliche Frage der Bescheidauslegung ebenfalls keine Bedeutung zu. Denn das rechtlich rückwirkende Inkrafttreten ändert nichts daran, dass die Richtlinien im Zeitpunkt des Bescheiderlasses tatsächlich noch nicht existent und dementsprechend für die Betroffenen schlicht nicht erkennbar waren. Auf die weiteren zwischen den Beteiligten aufgeworfenen Fragen der rechtlichen Zulässigkeit eines rückwirkenden Inkrafttretens kommt es danach nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch den Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der Förderung ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis, an welche die Behörde im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG als objektivem Rechtmäßigkeitskriterium gebunden war.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 23. April 2003 – 3 C 25.02 –, Rn. 17, juris; OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2022 – 4 A 2368/18 –, Rn. 8 f., juris mit weiteren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Es entsprach gerichtsbekanntermaßen zum Bewilligungszeitpunkt der ständigen Praxis des Beklagten, im Rahmen der Bewilligung von Förderanträgen der Soforthilfe 2020 die Bewilligungsbescheide entsprechend der im verfahrensgegenständlichen Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 getroffenen Formulierungen zu fassen. Ein offensichtlicher Verstoß gegen zum Bewilligungszeitpunkt bereits vorliegende Verwaltungsvorschriften des Beklagten ist insoweit weder vorgetragen noch ersichtlich und wäre auch unerheblich, weil es nicht darauf ankommt, wie die Verwaltungsvorschriften auszulegen sind, sondern allein darauf, wie die Bewilligungsbehörde die Verwaltungsvorschriften in ihrer ständigen tatsächlichen Praxis anwendet.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1979 – 3 C 111.79 –, Rn. 24 – 25, juris; VGH BW, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 9 S 2244/15 –, Rn. 127, juris.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Eine etwa vom Beklagten nach seinem Vorbringen möglicherweise gewollte andersartige Verwaltungspraxis zur Vorläufigkeit der Bewilligungsbescheide ist hingegen irrelevant. Allein maßgeblich ist, was der Beklagte in den Bewilligungsbescheiden objektiv zum Ausdruck gebracht hat.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend wäre es auch unerheblich, wenn der Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 den Regelungen der Soforthilfe-Richtlinie widerspräche. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass unabhängig von der Frage, ob eine rückwirkende Inkraftsetzung von Verwaltungsvorschriften zulässig ist oder nicht, eine zum Zeitpunkt der ausgeübten Verwaltungspraxis schlicht noch nicht existente Verwaltungsvorschrift auf eine tatsächlich ausgeübte, also bereits stattgefundene Verwaltungspraxis denklogisch keinen Einfluss haben und diese nicht prägen kann.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Selbständig entscheidungstragend ist das Gericht der Auffassung, dass die Klage der Klägerin auch dann begründet ist, wenn entgegen dem vorstehend Ausgeführten angenommen wird, dass mit dem Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 die Corona-Soforthilfe hinsichtlich ihrer Höhe nur vorläufig bewilligt worden wäre und der „Schlussbescheid“ vom 18.12.2021 diesen – vorläufigen – Bewilligungsbescheid in seinem Regelungsumfang ersetzt habe. Auch dann erweist sich der angefochtene „Schlussbescheid“ als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Wie bereits dargelegt wurde, sind auch im Falle eines vorläufigen Verwaltungsakts nur die Regelungsbestandteile einer abschließenden Regelung durch Schlussbescheid zugänglich, die auch im ursprünglichen Bewilligungsbescheid unter einen entsprechenden Vorbehalt gestellt wurden. Andere Regelungsbestandteile können bereits abschließende Regelungen enthalten und insoweit nur unter den Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG abgeändert werden.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wäre der Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 jedenfalls dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen, unter denen der Beklagte die Förderhöhe abweichend festsetzen könnte, bereits im Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 abschließend geregelt wurden. (dazu 1.). Diesen Vorgaben widerspräche die Festsetzung der Soforthilfe durch den Schlussbescheid vom 18.12.2021 (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 macht die Rückzahlung von zwei Voraussetzungen abhängig: Die zu viel gezahlten Mittel sind zurückzuzahlen, wenn die Finanzhilfe höher ist als der Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich des Liquiditätsengpasses benötigt werden. Es handelt sich hierbei um zwei grundsätzlich zu unterscheidende Merkmale, nämlich den Umsatzausfall im Bewilligungszeitraum abzgl. eingesparter Kosten einerseits und die Deckung des Liquiditätsengpasses andererseits. Diese Rückforderungsvoraussetzungen stehen – selbst wenn man entgegen der obigen Würdigung von einer lediglich vorläufigen Festsetzung der Förderungshöhe ausgeht – jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt einer späteren – u.U. auch abweichenden – Entscheidung, sondern werden durch den Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 abschließend festgelegt. Es finden sich im Bewilligungsbescheid keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch die Festlegung der Rückzahlungsvoraussetzungen erst unter Vorbehalt erfolgen sollte. Ein diesbezüglicher Vorbehalt wäre rechtlich auch kaum in zulässiger Weise gestaltbar, denn anders als hinsichtlich der Förderhöhe besteht jedenfalls hinsichtlich eventueller Rückforderungsvoraussetzungen weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Unsicherheit, die es rechtfertigen würde, die Rückforderungsvoraussetzungen von einer späteren Entscheidung abhängig zu machen. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids definierten Voraussetzungen einer Rückzahlungsverpflichtung zugleich definieren, was überhaupt förderfähige Ausgaben im Rahmen des Zuwendungsverhältnisses sind. Schon aus Gründen des Vertrauensschutzes kann es dem Beklagten nicht möglich sein, eine Zuwendung zu bewilligen und auszuzahlen und erst später zu entscheiden, welche Art von Ausgaben mit dieser Zuwendung überhaupt dem Grunde nach gefördert werden soll. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine grundlegende Entscheidung, die der Zuwendungsgeber bereits bei der Begründung des Zuwendungsverhältnisses durch den vorherigen Bewilligungsbescheid treffen kann und hier durch die Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 auch getroffen hat.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 16. August 2022 – 20 K 7488/20 –, Rn. 106, juris, wo von der Festlegung von Berechnungsgrößen durch den Bewilligungsbescheid gesprochen wird.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Diese Festlegung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids ist dahin auszulegen, dass sie eine Rückforderung nur dann und auch nur soweit vorsieht, wie die gewährte Förderung sowohl den Liquiditätsengpass als auch den Umsatzausfall überschreitet. Es genügt dagegen nach dieser Regelung nicht, dass lediglich einer dieser beiden Parameter durch die Förderung überschritten wird.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Ausgangspunkt dieses Verständnisses ist der Wortlaut der Regelung in Ziffer II. 3., dem bei der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts besonderes Gewicht beizumessen ist. Die dort geregelten beiden Voraussetzungen werden durch die Konjunktion „und“ verbunden, was für den objektiven Empfänger die Rückzahlungsverpflichtung vom kumulativen Vorliegen beider Voraussetzungen abhängig macht. Aus dem Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 ergeben sich dagegen keinerlei belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Verbindung der beiden Voraussetzungen durch „und“ hier als alternative Verbindung im Sinne eines „oder“ zu lesen sein soll. Erst Recht kann entgegen der Ansicht des Beklagten dem übrigen Bescheid kein Anhalt dafür entnommen werden, der Umsatzausfall sei hinsichtlich der Förderungshöhe gänzlich irrelevant. Wäre dies tatsächlich die Regelungsabsicht des Beklagten gewesen, wäre es widersinnig gewesen, den Umsatzausfall im Bewilligungsbescheid – und dann auch noch an der entscheidenden Stelle der Regelung der Rückzahlungsvoraussetzungen – überhaupt zu erwähnen. Soweit der Beklagte damit argumentiert, in Ziffer 2. des Bescheids werde als Zuwendungszweck die Milderung finanzieller Notlagen festgelegt, was bei einem bloßen Umsatzausfall nicht gegeben sei, dringt er mit diesem Einwand nicht durch. Es liegt im Verantwortungsbereich des Beklagten, im Rahmen der Zweckbestimmungsformulierung in seinen Bescheiden eindeutig und möglichst unmissverständlich festzulegen, welchen Zweck er mit der Zuwendung begünstigen will und welche Ausgaben er als von diesem Zweck erfasst ansieht. Der Begriff der „Milderung der finanziellen Notlagen“ schließt es nicht begriffsimmanent aus, hierunter auch erhebliche pandemiebedingte Umsatzausfälle zu fassen. Vielmehr dürfte der objektive Empfänger angesichts der expliziten und in seiner Bedeutung gegenüber dem Liquiditätsengpass in keiner erkennbaren Form eingeschränkten Erwähnung des Umsatzausfalls davon ausgehen, dass auch pandemiebedingte Umsatzausfälle von dem Beklagten als im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehende finanzielle Notlagen definiert werden.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Auch aus den übrigen zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides erkennbaren objektiven Umständen musste sich dem Bescheidadressaten nicht aufdrängen, dass Umsatzausfälle – entgegen des Bescheidwortlauts – mit der Soforthilfe nicht zumindest auch abgedeckt werden sollten.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">So war bereits in den Antragsunterlagen unter Ziffer 6.1 unter anderem zu versichern, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Förderantragstellers durch die Corona-Krise wesentlich beeinträchtigt wurde, weil „die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind“ oder „die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens zu erfüllen“. Auch an dieser Stelle werden Umsatzausfall einerseits und ein Liquiditätsengpass (ein solcher dürfte mit der zitierten Formulierung gemeint sein) andererseits gleichrangig neben anderen Fördervoraussetzungen, auf die es hier nicht ankommt, erwähnt. Die Verbindung dieser einzeln aufgezählten Versicherungen erfolgte durch die Konjunktion „oder“, was aus Sicht eines objektiven Empfängers zu dem Schluss nötigt, dass bereits das Vorliegen einer der genannten Versicherungen zur Antragsstellung genügt. Hätte von vornherein festgestanden, dass es im Rahmen der Förderung immer nur um die Deckung eventueller Liquiditätsengpässe gehen sollte, so wäre eine derartig differenzierte Aufzählung nicht erforderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund überzeugt es auch nicht, wenn der Beklagte meint, in den Antragsunterlagen werde der Liquiditätsengpass an anderer Stelle in den Vordergrund gestellt, namentlich in Ziffer 5. und Ziffer 6.2. Hieraus musste ein objektiver Adressat angesichts der alternativen Abfrage von Umsatzausfall und Liquiditätsengpass unter Ziffer 6.1 nicht den Schluss ziehen, allein die Deckung von Liquiditätsengpässen im engeren Sinn sei Gegenstand der Förderung. Ebenso wie im Bescheid wäre es dann nämlich sinnlos, überhaupt eine Versicherung hinsichtlich eines eventuellen Umsatzausfalls zu verlangen, da es in einem solchen Fall auch genügt hätte, einfach eine Versicherung hinsichtlich eines Liquiditätsengpasses zu verlangen. Die von dem Beklagten erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgeworfene Differenzierung zwischen Antragsvoraussetzungen einerseits- und Anspruchsvoraussetzungen andererseits, nach der ein Umsatzausfall zwar zur Antragstellung berechtige, aber nichts über die Förderhöhe aussage, ist demgegenüber in den Antragsunterlagen weder offen noch indirekt angelegt. Da es bereits widersinnig ist, im Rahmen einer vorläufigen Bescheidung wie der Beklagte meint allein über die grundsätzliche Antragsberechtigung zu entscheiden – was soll einem Antragsteller die Feststellung einer derart isolierten Antragsberechtigung ohne spätere endgültige Förderung nützen? – hätte eine derartige Regelung eindeutig und von vornherein in den Antragsunterlagen angelegt sein müssen. Dies umso mehr als Ziffer 1.1 des Antragsformulars bereits regelt, wer „Antragsberechtigt“ ist. Ob eine solche Differenzierung in Antragsberechtigung und Anspruchsberechtigung in der Soforthilfe-Richtlinie angelegt ist, kann die Kammer dahinstehen lassen, da es auch in diesem Kontext auf die Soforthilfe-Richtlinie nicht ankommt. Denn wie bereits oben ausgeführt wurde, können zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schlicht noch nicht existente Umstände – wie der erst nachträgliche Erlass der Soforthilfe-Richtlinie – keine objektiv erkennbaren Umstände im Rahmen der Ermittlung des objektiven Empfängerhorizonts darstellen.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Auch die im Internet abrufbaren und von dem Beklagten veröffentlichten FAQs bestätigen dieses Verständnis. So heiß es in der zum Bewilligungszeitpunkt veröffentlichten Fassung vom 28.03.2020 (Anlage B5, Beiakte 003) zu der Frage „Was wird gefördert?“ wörtlich [Hervorhebungen im Original]:</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">„<span style="text-decoration:underline">Voraussetzung</span>: erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten in Folge von Corona. Dies wird angenommen wenn […]</p>
<span class="absatzRechts">100</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">die Umsätze gegenüber dem Vorjahresmonat mehr als halbiert sind […]</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks"><strong>oder</strong> […]</p>
<span class="absatzRechts">103</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Unternehmens […] zu zahlen (=Finanzierungsengpass).“</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Die von der Beklagten veröffentlichten FAQs stellen also die Voraussetzungen der Förderung – hier als erhebliche Finanzierungsengpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten beschrieben – wiederum in einen Zusammenhang mit Umsatzausfällen. Insbesondere ergibt sich aus der oben zitierten Formulierung abermals unter Verwendung der Konjunktion „oder“, dass bereits Umsatzausfälle zur Annahme von Finanzierungsengpässen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten genügen können. In der zuvor veröffentlichten Fassung der FAQs vom 27.03.2020 (Anlage B4, Beiakte 003) wurde auf die Frage, wie eine Überkompensation definiert sei, wörtlich geantwortet:</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">„Eine Überkompensation entsteht dann, wenn der Antragsteller mehr Zuwendungen erhält als sein tatsächlich eingetretener Schaden – also insbesondere der durch die Corona-Krise eingetretene Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z. B. Mietminderung) – ist“[…].</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Hier knüpft der Begriff der Überkompensation sogar im Schwerpunkt (insbesondere) an den Umsatzausfall und gerade nicht an einen Liquiditätsengpass an. Diese Formulierung entspricht hinsichtlich des Umsatzausfalls auch weitestgehend der Formulierung in Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020, was dessen Auslegung abermals bestätigt.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Angesichts sowohl des eindeutigen Wortlauts des Bewilligungsbescheids als auch der Vielzahl weiterer entsprechender Hinweise in den Antragsunterlagen und den FAQs ist aus Sicht eines objektiven Adressaten auch aus den übrigen zum Bewilligungsbescheid erkennbaren Umständen kein Schluss geboten, es würde im Rahmen der Förderung allein ein Liquiditätsengpass abgedeckt. Dass in einzelnen veröffentlichten Informationen – z. B. im Eckpunktepapier „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige“ vom 23.03.2020 dagegen nur von Liquiditätsengpässen und nicht auch von Umsatzausfällen die Rede ist, steht gegenüber allen anderen Anzeichen eindeutig im Hintergrund.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Unerheblich für die Auslegung des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 sind dabei die Kurzfakten zum Bundesprogramm vom 30.03.2020 und die Soforthilfe-Richtlinie, da diese zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht veröffentlicht, dementsprechend für einen objektiven Adressaten nicht wahrnehmbar und daher für die Ermittlung des Empfängerhorizonts irrelevant sind. Ob diese Dokumente die Auslegung des Beklagten, es komme nur auf einen Liquiditätsengpass an, tragen, kann dementsprechend dahinstehen.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Der Vollständigkeit halber ist festzustellen, dass dieser Auslegung entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht das Klageverhalten der Gesamtmenge an Förderungsempfängern entgegengehalten werden kann. Soweit der Beklagte im Rahmen einer Art „statistischer Auswertung“ ausführt, dass von über 400.000 Zuwendungsempfängern nur 2.000 Empfänger den jeweils an sie adressierten Bescheid angefochten hätten und über 60.000 Empfänger freiwillig erklärt hätten, mangels eines Liquiditätsengpasses auf die Zuwendung zu verzichten, kann er hieraus keine Argumente für seine Lesart des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 ableiten. Die statistische Analyse des Beklagten hat hierzu keinerlei Aussagewert, da allein aus der Tatsache der Nichterhebung einer Klage keinesfalls der Schluss gezogen werden kann, der jeweilige Adressat habe den jeweiligen Bewilligungsbescheid inhaltsgleich verstanden wie der Beklagte. Hier können auch andere Faktoren – etwa das Vertrauen auf die Aussage des Beklagten als einer an das Rechtsstaatsprinzip gebundenen Behörde oder die Sorge vor den mit einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verbundenen Kosten – erheblichen Einfluss auf die Klagebereitschaft der jeweiligen Adressaten gehabt haben.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Die nach alledem durch die Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 erfolgte verbindliche Festsetzung der kumulativen Rückforderungsvoraussetzungen Umsatzausfall und Liquiditätsengpass ist für sich auch rechtlich nicht zu beanstanden. Auch sie widerspricht insbesondere nicht der zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung ausgeübten tatsächlichen Verwaltungspraxis. Auch insoweit entsprach es nämlich der allein maßgeblichen tatsächlichen Förderpraxis des Beklagten, Ziffer II. 3. der jeweiligen Bewilligungsbescheide einheitlich entsprechend der Fassung im Bescheid vom 28.03.2020 zu formulieren. Auch hier kommt es auf eine etwaig anders gewollte Verwaltungspraxis nicht an. Ob dies mit der Soforthilfe-Richtlinie vereinbar wäre, kann aus den bereits unter Ziffer I. genannten Gründen dahinstehen, da diese zum Bewilligungszeitpunkt die Verwaltungspraxis nicht prägen konnte, weil sie schlicht noch nicht existierte.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dessen wäre der Schlussbescheid vom 18.12.2021 auch bei Annahme einer bloß vorläufigen Bewilligung durch den Bescheid vom 28.03.2020 rechtswidrig, weil die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids jedenfalls unter Missachtung der nach obiger Darlegung kumulativ notwendigen beiden Voraussetzungen einer Rückforderung erfolgt wäre. Denn der Beklagte hat in seinem Schlussbescheid allein auf einen im Rahmen des Rückmeldeverfahrens abgefragten Liquiditätsengpass abgestellt, indem er seitens der Adressaten die Einnahmen und Ausgaben aus dem jeweiligen Bewilligungszeitraum abgefragt, die hieraus gebildete Differenz als Liquiditätsengpass festgestellt und zugleich die Soforthilfe in dieser Höhe festgesetzt hat. Dadurch hat er die zweite und nach dem Obenstehenden ebenfalls erforderliche Voraussetzung einer Rückforderung, dass nämlich die Finanzhilfe den Umsatzausfall übersteigt, ignoriert und sich über die verbindlichen Festsetzungen des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 hinweggesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Erforderlich wäre es stattdessen gewesen – ginge man entgegen der unter I. getroffenen Überlegungen überhaupt von einer vorläufigen Bewilligung hinsichtlich der Förderhöhe aus –, zunächst sowohl den Liquiditätsengpass als auch einen Umsatzausfall zu ermitteln. Denn eine Rückforderung kann nach der Formulierung der Ziffer II. 3. des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 nur soweit erfolgen, wie die beiden dort genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass es zum Behaltendürfen der Förderung nach der Konzeption des Bescheids genügt, wenn die Förderung entweder zur Deckung des Umsatzausfalls oder des Liquiditätsengpasses benötigt wird. Übersteigt einer dieser beiden Parameter den anderen, darf daher nur insoweit zurückgefordert werden, wie die Finanzhilfe nicht auch zur Deckung des höheren Parameters benötigt wird. Dies folgt aus der Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens beider Voraussetzungen, sodass untechnisch gesprochen im Rahmen einer Rückforderung auf den adressatengünstigeren Parameter abzustellen ist.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid schon deswegen rechtswidrig wäre, kann dahinstehen, ob die Ermittlung des Liquiditätsengpasses und ihre Festsetzung in Ziffer 1. des Schlussbescheids vom 18.12.2021 selbst für sich rechtlich nicht zu beanstanden wäre und den Vorgaben des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 entsprochen hätte. Denn selbst wenn man hiervon ausginge, wäre der Schlussbescheid vom 18.12.2021 insgesamt aufzuheben, da nach der Bescheidkonzeption des Beklagten die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids und die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Schlussbescheids in untrennbarem Zusammenhang stehen und der Beklagte kein berechtigtes Interesse hat, die Feststellung des Liquiditätsengpasses in Ziffer 1. des Schlussbescheids isoliert bestehen zu lassen.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">III.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Ziffer 3. des Schlussbescheids ist nach alledem ebenfalls rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 49a Abs. 1 VwVfG, der nach ständiger Rechtsprechung im Fall der Ersetzung eines vorläufigen Bescheides durch einen Schlussbescheid entsprechende Anwendung findet,</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 2009 – 3 C 7.09 –, Rn. 24, juris; BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2016 – 10 C 8.15 –, Rn. 11, juris,</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">nicht vorliegen. Denn es handelt sich aus den unter Ziffer I. ausgeführten Gründen bei dem Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 nicht um einen der Ersetzung durch einen Schlussbescheid zugänglichen vorläufigen Verwaltungsakt. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre die Festsetzung der Soforthilfe in Ziffer 2. des Bescheids jedenfalls aus den oben unter Ziffer II. ausgeführten Gründen rechtswidrig erfolgt, sodass auch dann die Rückforderung rechtswidrig wäre.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Da der Schlussbescheid vom 18.12.2020 sich nach alledem bereits unter zwei selbstständig tragenden Gesichtspunkten als rechtswidrig erweist, kann die Kammer offenlassen, ob der Schlussbescheid darüber hinaus wegen Verstoßes gegen Verfahrens- oder Datenschutzvorschriften rechtswidrig ist.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Der Schlussbescheid vom 18.12.2020 konnte auch nicht nach § 47 Abs. 1 VwVfG zu einem Widerruf des Bewilligungsbescheids vom 28.03.2020 gemäß § 49 Abs. 3 VwVfG umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Der umgedeutete Verwaltungsakt darf dabei nicht den erkennbaren Absichten der erlassenden Behörde widersprechen, § 47 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Zunächst widerspräche eine solche Umdeutung den erkennbaren Absichten des Beklagten, der nachdrücklich davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Bewilligungsbescheid vom 28.03.2020 allein um einen vorläufigen Verwaltungsakt handelt. Zudem ist nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 49 Abs. 3 S. 1 VwVfG überhaupt vorlägen. Insbesondere ein Auflagenverstoß kann der Klägerin nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht vorgeworfen werden. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre eine Umdeutung ausgeschlossen, weil ein Widerruf jedenfalls nicht in der geschehenen Verfahrensweise hätte erfolgen dürfen. Denn bei einem Widerruf wegen eines Auflagenverstoßes oder einer Zweckverfehlung im Einzelfall wäre jedenfalls eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG zwingend erforderlich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. 709 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Die Berufung war gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 S. 1 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zwar beruht die Entscheidung der Kammer auf der Auslegung eines einzelnen Verwaltungsakts. Dieser Verwaltungsakt ist jedoch inhaltsgleich mit einer Vielzahl von weiteren Bescheiden, gegen die ebenfalls Klage erhoben wurde. Es besteht vor diesem Hintergrund ein allgemeines Klärungsinteresse an der Rechtsmäßigkeit der mit der Fassung des Bescheids verkörperten Verwaltungspraxis der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">6.412 EUR</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Der festgesetzte Betrag entspricht der Höhe der streitigen Geldleistung (§ 52 Abs. 3 GKG).</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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346,618 | vg-koln-2022-09-16-15-l-144122a | {
"id": 844,
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"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 15 L 1441/22.A | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-09-20T10:01:48 | 2022-10-17T11:10:18 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0916.15L1441.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<table cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td></td>
</tr>
</tbody>
</table><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der bei sachgerechter Auslegung (§ 122 Abs. 1, § 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)) gestellte Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 4983/22.A gegen die Abschiebungsanordnung unter Ziffer 3 des Tenors des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. August 2022 anzuordnen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">hat keinen Erfolg. Er ist bereits unzulässig (dazu I.). Überdies wäre er unbegründet (dazu II).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">I. Der Antrag ist unzulässig, weil er nicht fristgerecht erhoben worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Vorgaben für die Bekanntgabe enthält § 10 Asylgesetz (AsylG). Die Vorschrift ist im Fall des Antragstellers anwendbar, weil er, wie nach § 10 Abs. 7 AsylG erforderlich, bei der Antragstellung schriftlich und gegen Empfangsbekenntnis auf sie hingewiesen worden ist. Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 AsylG hat in einer Aufnahmeeinrichtung diese Zustellungen an die Ausländer, die nach Maßgabe des Absatzes 2 Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der Anschrift der Aufnahmeeinrichtung gegen sich gelten lassen müssen, vorzunehmen. Der Ausländer hat nach § 10 Abs. 4 Satz 3 AsylG sicherzustellen, dass ihm Posteingänge während der Postausgabe- und Postverteilungszeiten in der Aufnahmeeinrichtung ausgehändigt werden können. Zustellungen und formlose Mitteilungen sind nach Satz 4 der Vorschrift mit der Aushändigung an den Ausländer bewirkt; im Übrigen gelten sie am dritten Tag nach Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung als bewirkt. Ist die tatsächliche Übergabe trotz korrekten Aushangs und ordnungsgemäßer Durchführung der Postausgabe bzw. -verteilung aus welchen Gründen auch immer nicht innerhalb von drei Tagen nach der Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung erfolgt, greift diese Fiktion der Bekanntgabe ein.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Preisner, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Ausländerrecht, § 10 AsylG, Rn. 36.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt, gilt die Zustellung des angegriffenen Bescheid aufgrund von § 10 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 AsylG als am Montag, dem 22. August 2022, bewirkt. Denn der Bescheid ist der Zentralen Unterbringungseinrichtung Sankt Augustin, in der der Antragsteller aufgenommen worden war, am Freitag, dem 19. August 2022, übergeben worden. Für Fehler bei der Durchführung der Postausgabe ist nichts vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, obwohl die Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung auf die Verfristung hingewiesen hat. Ausgehend davon ist der erst am Donnerstag, dem 1. September 2022, bei Gericht eingegangene Antrag verfristet, weil die Antragsfrist bereits am Montag, dem 29. August 2022, ablief. Zu keinem anderen Ergebnis führt es im Übrigen, wenn davon ausgegangen würde, dass für den Ablauf der dreitägigen Frist des § 10 Abs. 4 Satz 4 AsylG nur Werktage maßgeblich sind.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zum Meinungsstand Preisner, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Ausländerrecht, § 10 AsylG, Rn. 36.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Denn auch dann wäre der Antrag verfristet. Die Zustellung gälte in diesem Falle nämlich als am Mittwoch, dem 24. August 2022, bewirkt mit der Folge, dass die Antragsfrist mit Ablauf des 31. August 2022 verstrichen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">II. Der Antrag wäre im Übrigen auch unbegründet. Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Interessenabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus, weil sich der angegriffene Bescheid des Bundesamts nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand als offensichtlich rechtmäßig erweist. Zutreffend ist das Bundesamt davon ausgegangen, dass der Asylantrag des Antragstellers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig ist, weil Kroatien, das Land, in dem der Antragsteller nach seiner Ausreise aus der Türkei einen Asylantrag gestellt hat, aufgrund Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Diese Zuständigkeit ist auch nicht aufgrund der Regelung in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO wegen systemischer Schwachstellen des kroatischen Asylsystems entfallen. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob an den Außengrenzen Kroatiens illegale Pushbacks stattfinden, weil keine Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass Dublin-Rückkehrer, die wie der Antragsteller bereits im kroatischen Asylsystem registriert sind, ohne eine Entscheidung über ihren Asylantrag über die EU-Außengrenze zurückgeschoben würden.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 4. Mai 2022 - 2a L 542/22.A -, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 4. Februar 2022 - 12 L 59/22 -, juris, Rn. 48; VG Hannover, Beschluss vom 31. Januar 2022 - 7 B 6223/21 -, juris Rn. 29 ff.; VG Chemnitz, Beschluss vom 10. Dezember 2021 - 4 L 519/21.A. -, juris, Rn. 31; VG Ansbach, Beschluss vom 20. Dezember 2021 - AN 14 S 21.50254 -, juris, Rn. 44; VG München, Beschluss vom 24. Februar 2021 - M 30 S 21.50066 -, juris, Rn. 23; a.A. VG Braunschweig, Beschluss vom 25. Februar 2022 - 2 B 27/22 -, juris, Rn. 29 ff.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon hat das Bundesamt zutreffend gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die Abschiebung des Antragstellers nach Kroatien angeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen nimmt das Gericht zur weiteren Begründung gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug auf die Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
|
346,617 | olgbs-2022-09-16-1-ar-ausl-1822 | {
"id": 602,
"name": "Oberlandesgericht Braunschweig",
"slug": "olgbs",
"city": null,
"state": 11,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 1 AR (Ausl.) 18/22 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-09-20T10:01:24 | 2022-10-17T11:10:18 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div><dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Auslieferungshaft dauert fort.</p></dd>
</dl></div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Gegen den Verfolgten liegt ein Europäischer Haftbefehl des Gerichts in Măcin Stadt vom 4. Mai 2022 (AZ. 1830/253/2021) vor. Dem Europäischen Haftbefehl liegt wiederum das rechtskräftige Strafurteil Nr. 11 des Gerichtshofs Măcin vom 15. Februar 2022 zugrunde. Mit diesem Urteil wurden unter Widerruf der zuvor jeweils erfolgten Strafaussetzungen sowohl die Vollstreckung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten als auch des Restes einer freiheitsentziehenden Internierung von noch 178 Tagen angeordnet. Die Gesamtstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten beruht auf einem seit dem 6. Juli 2021 rechtskräftigen Urteil des Gerichtshofs Măcin (Nr. 84/2021), durch das der Verfolgte wegen schweren Diebstahls gemäß Art. 228 Abs. 1, Art. 229 Abs. 1 Buchstabe b und d des rumänischen Strafgesetzbuches in zwei Fällen verurteilt wurde. Der Vollstreckung der freiheitsentziehenden Internierung von noch 178 Tagen liegt das Urteil Nr. 119 des Gerichtshofs Măcin vom 28. Oktober 2016 zugrunde. Durch dieses Urteil wurde der seinerzeit noch minderjährige Verfolgte wegen Vergewaltigung für die Dauer von 4 Jahren mit einer erziehenden Maßnahme der Internierung in einem Gefangenenzentrum (einer freiheitsentziehenden Sanktion im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 IRG) belegt. Sowohl die Gesamtstrafe als auch der Rest der Internierung von 178 Tagen sind vorbehaltlich anzurechnender Auslieferungshaft noch vollständig zu vollstrecken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der Senat hat mit Beschluss vom 2. September 2022 die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland nach Rumänien zum Zweck der Strafvollstreckung für zulässig erklärt und die Fortdauer der Auslieferungshaft beschlossen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Generalstaatsanwaltschaft hat daraufhin am 6. September 2022 gegenüber den rumänischen Behörden die Auslieferung des Verfolgten bewilligt. Die rumänischen Behörden haben sodann am 7. September 2022 über das Landeskriminalamt mitgeteilt, dass die Übergabe erst am 20. September 2022 erfolgen könne. Es sei geplant, an diesem Tag mit Flug Nummer RO 302 von Frankfurt nach Bukarest zu reisen. Auf ergänzende Nachfrage der Generalstaatsanwaltschaft hat SIRENE Rumänien am 8. September 2022 ausgeführt, dass alle früheren Flüge ohne Zwischenlandung bereits ausgebucht seien. Es verspreche auch keine Zeitersparnis, den Transport mit einer Zwischenlandung in einem Drittstaat durchzuführen. Die dafür erforderliche Genehmigung des Drittstaates nehme mindestens 7 Werktage in Anspruch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Generalstaatsanwaltschaft hat aus diesem Anlass am 9. September 2022 beantragt, die Auslieferungshaft gegen den Verfolgten fortdauern zu lassen. Es lägen Gründe im Sinne des § 83c Abs. 4 Satz 3 IRG vor, einen neuen Termin zur Übergabe zu vereinbaren. Die von den rumänischen Behörden mitgeteilten Gründe stellten sich als Umstände höherer Gewalt dar, die sich dem Einfluss aller beteiligten Staaten entzögen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Verfolgte hatte rechtliches Gehör.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft führt zur Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft. Der Senat verweist insoweit auf die fortbestehenden Gründe des Beschlusses vom 2. September 2022.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Der Haftfortdauer steht es nicht entgegen, dass die Übergabe erst für den 20. September 2022 geplant ist. Zwar liegt dieser Termin nicht in der Frist des § 83c Abs. 4 Satz 2 IRG, wonach die Übergabe innerhalb von 10 Tagen nach der Entscheidung über die Bewilligung erfolgen soll. Aber die für die Überstellung und damit auch für die Vereinbarung eines Übergabetermins nach deutschem Recht angesichts des Wortlauts des § 13 Abs. 2 IRG verantwortliche Generalstaatsanwaltschaft (zu deren Zuständigkeit: OLG Oldenburg, Beschluss vom 23. Juni 2022, 1 Ausl 18/22, juris, Rn. 8; a.A.: OLG München, Beschluss vom 9. Juni 2022, 1 AR 122/22) kann, wie hier, gemäß § 83c Abs. 4 Satz 3 IRG mit dem ersuchenden Mitgliedstaat einen späteren Termin vereinbaren, wenn die Einhaltung der Frist aufgrund von Umständen unmöglich ist, die sich dem Einfluss der beteiligten Staaten entziehen. Derartige Umstände sind bei ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Ereignissen gegeben, auf die derjenige, der sich darauf beruft, keinen Einfluss hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (OLG Oldenburg, a.a.O., Rn. 5). Eine solche Situation liegt vor. Wie das Oberlandesgericht Oldenburg (a.a.O.) mit Recht ausgeführt hat, sind die beteiligten Staaten für die Durchführung des Transports eines Verfolgten nach Rumänien auf Fluggesellschaften angewiesen, an die sie sich erst nach der Entscheidung über die Auslieferung, also mit einem sehr kurzen zeitlichen Vorlauf, wenden können. Wenn, wie hier, alle innerhalb der Frist des § 83c Abs. 4 Satz 2 IRG liegenden Flüge ohne Zwischenlandung bereits ausgebucht sind, fehlt den beteiligten Mitgliedstaaten eine Einflussmöglichkeit. Flüge mit einer Zwischenlandung in einem Drittstaat stellen – jedenfalls vorliegend – keine Alternative dar. Denn ein solches Vorgehen verspricht wegen der für eine Durchlieferung mit geplanter Zwischenlandung erforderlichen Genehmigung im Sinne des Art 25 RB-EUHbkeine Zeitersparnis.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Da die Frist des § 83c Abs. 4 Satz 2 IRG nach aktueller Planung nur um 4 Tage überschritten wird, steht die Fortdauer der Haft im Einklang mit Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (dazu: OLG Oldenburg, a.a.O., Rn. 10) und ist auch weiterhin verhältnismäßig. Eine Fristüberschreitung von lediglich 4 Tagen ist anzunehmen, weil die Frist mit der Bewilligungsentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft beginnt. Soweit das Niedersächsische Justizministerium in einem Erlass vom 14. Juni 2022 [9520.190 (SH 4)] aus Anlass des Urteils der 2. Kammer des Europäischen Gerichtshofs vom 28. April 2022 (C-804/21 PPU) die Auffassung vertritt, die Frist des § 83c Abs. 4 Satz 2 IRG werde bereits durch die vorangegangene Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung gemäß §§ 29, 78 Abs. 1 IRG ausgelöst, ist dem mit dem Oberlandesgericht Oldenburg (a.a.O., Rn. 4) nicht zu folgen. Die Regelung in § 83c Abs. 4 Satz 2 IRG stellt nach ihrem eindeutigen Wortlaut auf die „Entscheidung über die Bewilligung“ ab, die hier – der Systematik der §§ 12, 79 IRG folgend – nach der gerichtlichen Zulässigkeitsentscheidung mit Recht von der Generalstaatsanwaltschaft getroffen wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Dass der Europäische Gerichtshof die Generalstaatsanwaltschaften in Deutschland wegen ihrer Weisungsabhängigkeit nicht als vollstreckende Justizbehörde im Sinne des Art 6 Abs. 2 RB-EUHb ansieht, trifft zwar zu (EuGH, Urteil vom 28. April 2022, C-804/21, Rn.61; EuGH, Urteil vom 24. November 2020, C-510/19, Rn. 54). Dadurch werden die Oberlandesgerichte aber nicht zur vollstreckenden Justizbehörde (Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021, 1 AR (Ausl.) 17/20, juris, Rn.19). Der an nationales Recht (IRG) gebundene Senat kann und darf dem Umstand, dass die Generalstaatsanwaltschaften in Deutschland keine vollstreckenden Justizbehörden im Sinne des Art 6 Abs. 2 RB-EUHb sind, vielmehr nur in den vom Europäischen Gerichtshof gezogenen Grenzen der rahmenbeschlusskonformen Auslegung (zu diesen Grenzen: EuGH, Urteil vom 24. Juni 2019, C-573/17, Rn. 74 ff., 109) Rechnung tragen. Die nationale Regelung des § 83 c Abs. 4 Satz 2 IRG, wonach die Frist mit der „Entscheidung über die Bewilligung“ ausgelöst wird, ist jedoch insoweit keiner rahmenbeschlusskonformen Auslegung zugänglich. Sie ist in Bezug auf den Fristbeginn ebenso eindeutig wie die grundsätzliche Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bewilligungsbehörde und Oberlandesgericht, die u.a. in §§ 12, 79 IRG zum Ausdruck kommt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE269612022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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</div>
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346,615 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-16-2-b-3522 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
"slug": "vg-schleswig-holsteinisches",
"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 2 B 35/22 | 2022-09-16T00:00:00 | 2022-09-20T10:00:55 | 2022-10-17T11:10:18 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0916.2B35.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung die sofortige Vollziehung des Bescheides über die Ausübung des Vorkaufsrechts gem. § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 BauGB des Antragsgegners vom 24.05.2022 anzuordnen, wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Erstattungsfähig sind die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1), nicht hingegen die der Beigeladenen zu 2) und 3).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 471.000,- € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Es bestehen bereits durchgreifende Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit des Antrages.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Auffassung der Beigeladenen geht die Kammer allerdings noch von der Statthaftigkeit des Antrags aus. Legt ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt ein, kann die Behörde gemäß § 80 a Abs. 1 Nr. 1 VwGO auf Antrag des Begünstigten nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung anordnen. Gemäß § 80 a Abs. 3 VwGO kann auch das Gericht auf Antrag solche Maßnahmen treffen. Die Kammer folgt nicht der Auffassung der Beigeladenen im Schriftsatz vom 03.08.2022, dass die Antragstellerin schon nicht Begünstigte im Sinne dieser Vorschrift sei, weil durch die Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts gemäß § 28 Abs. 2 S. 2 BauGB iVm § 464 Abs. 2 BGB lediglich ein Wechsel in der Person des Käufers stattfinde, ohne dass hierdurch ein rechtlich erheblicher Vorteil der Verkäuferin begründet oder bestätigt werde. Durch die Ausübung des Vorkaufsrechts wird nicht nur die Person des Käufers ausgewechselt, sondern vielmehr entsteht ein neuer Kaufvertrag zwischen der früheren Verkäuferin und der Gemeinde. Aus diesem Kaufvertrag ergibt sich für die Verkäuferin dem Grunde nach ein Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises. Hierin kann eine Begünstigung im Sinne des § 80 a Abs. 1 Nr. 1 VwGO gesehen werden. Aus Sicht der Kammer ist diese Auslegung geboten, weil andernfalls eine mit Artikel 19 Abs. 4 GG nicht vereinbare Rechtsschutzlücke entstehen würde. Würde man die Antragstellerin nämlich nicht als Begünstigte ansehen, wäre nicht ersichtlich, auf Grundlage welcher Vorschrift der VwGO die Antragstellerin dann dem Grunde nach vorläufigen Rechtschutz sollte erlangen können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Dem Antrag dürfte es allerdings bereits an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Die Beigeladenen weisen zu Recht darauf hin, dass die begehrte Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 24.05.2022 für das Gericht nur dazu führen könnte, dass der Verwaltungsakt – seinem konkreten Inhalt nach – vollzogen werden kann. Der Bescheid vom 24.05.2022 bestimmt indes sogar in seinem Tenor ausdrücklich, dass die Kaufpreiszahlung erst mit Eintritt der Bestandskraft erfolgt. Selbst bei Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 24.05.2022 würde die Kaufpreiszahlung daher erst mit Eintritt der Bestandskraft erfolgen können. Die beantragte Anordnung der Vollziehung des Bescheides hätte für die Antragstellerin keinen Vorteil. Die Antragstellerin wendet hiergegen in ihrem Schriftsatz vom 29.08.2022 ein, diese Regelung im Bescheid vom 24.05.2022 würde der maßgebenden gesetzlichen Regelung über die Ausübung des Vorkaufsrechts widersprechen. Mit Ausübung des Vorkaufsrechts komme gemäß<br>§ 28 Abs. 2 S. 2 BauGB iVm § 464 Abs. 2 BGB der Kaufvertrag zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin zustande, welcher zuvor zwischen der Antragstellerin und den Beigeladenen geschlossen worden sei. Das gelte insbesondere auch für die Fälligkeitsabrede. Diese sei lediglich an die geänderten Umstände anzupassen, was aber nicht dazu führe, dass die Antragsgegnerin im Ergebnis bessergestellt werde als die Beigeladenen. Diese Auffassung mag zwar zutreffend sein, ändert aber nichts daran, dass der Bescheid vom 24.05.2022 eine entgegenstehende Regelung enthält. Diese Regelung mag möglicherweise rechtswidrig sein, jedenfalls ist sie nicht nichtig und steht daher einem Anspruch auf Auszahlung des Kaufpreises vor Bestandskraft des Bescheides entgegen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Bescheid vom 24.05.2022 insoweit von der Antragstellerin mit Widerspruch angefochten worden wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Darüber hinaus dürfte auch aus einem anderen Grunde ein Anspruch der Antragstellerin auf Kaufpreiszahlung noch nicht bestehen. Gemäß § 3 Ziffer 2 des Kaufvertrages vom 22.12.2016 hat der Verkäufer bei Eigentumsumschreibung für ein lastenfreies Grundbuch zu sorgen. Nach den unwidersprochenen Aufführungen des Antragsgegners im Schriftsatz vom 31.08.2022 befindet sich aber in Ausführung des § 10 des Kaufvertrages noch eine vorrangige Vormerkungseintragung zu Gunsten der Beigeladenen zu 1) im Grundbuch. Der Antragsgegner hätte auch nach Eintragung als Eigentümer im Grundbuch keine Möglichkeit, eine Löschung dieser Auflassungsvormerkung zugunsten der Beigeladenen zu 1) zu erreichen. Wird die Gemeinde nach Ausübung des Vorkaufsrechts im Grundbuch als Eigentümerin eingetragen, kann sie gemäß § 28 Abs. 2 S. 6 BauGB das Grundbuchamt ersuchen, eine zur Sicherung des Übereignungsanspruches des Käufers im Grundbuch eingetragene Vormerkung zu löschen; sie darf das Ersuchen nur stellen, wenn die Ausübung des Vorkaufsrechts für den Käufer unanfechtbar ist. Vollziehbarkeit und Unanfechtbarkeit sind aber zweierlei. Der Antragsgegner dürfte zur Zahlung des Kaufpreises aber nur Zug um Zug gegen Verschaffung lastenfreien Eigentums verpflichtet sein. Auch aus diesem Grunde würde die begehrte Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 24.05.2022 nicht dazu führen, dass der Antragsgegner nunmehr den Kaufpreis zu entrichten hätte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Darüber hinaus ist der Antrag auch unbegründet. Auch dann, wenn man der Auffassung folgt, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 VwGO trotz der eindeutigen Bezugnahme auf § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO nicht das Vorliegen eines besonderen Vollzugsinteresses erfordert, so darf die Anordnung nach dem Wortlaut des § 80 Abs. 2, S. 1 Nr. 4 nur bei Vorliegen eines überwiegenden Interesses eines Beteiligten erfolgen. Im Falle der Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts sind daher die beteiligten Belange der Verkäuferin, der Gemeinde und der ursprünglichen Käuferin gegeneinander abzuwägen. Dabei können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides über die Ausübung des Vorkaufsrechts mit in die Abwägung eingestellt werden. Im Rahmen der im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes nur möglichen summarischen Prüfung lässt sich nicht ohne Weiteres eine offensichtliche Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides feststellen. Die Beigeladenen haben mit Schriftsatz vom 23. Juni 2022 in ihrem „Drittwiderspruch“ substantiiert Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Ausübung des Vorkaufsrechts erhoben, die einer Prüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen. Eine Interessenabwägung geht vorliegend aber eindeutig zu Lasten der Antragstellerin aus. Zunächst verweist der Antragsgegner zutreffend auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 05.05.1988 (- III ZR 105/87 -; NJW 1989, 37), durch das der Bundesgerichtshof einen Anspruch des Verkäufers gegen die Gemeinde aus enteignendem Eingriff wegen verspäteter Erlangung des Kaufpreises nach Ausübung des Vorkaufsrechts durch die Gemeinde gemäß § 24 BauGB versagt hat. Zur Begründung hat der Bundesgerichtshof u. a. ausgeführt, dass im Hinblick auf die in § 80 Abs. 1 VwGO angeordnete aufschiebende Wirkung ein – unter Umständen jahrelanger – Schwebezustand eintrete, währenddessen der Verkäufer keinen Anspruch auf den Kaufpreis habe, allerdings auch noch Eigentümer des Grundstücks bleibe. Die Einbußen, die der Verkäufer dadurch erleide, dass er den Kaufpreis erst später erhalte und nutzen könne, würden zumindest zu einem erheblichen Teil dadurch aufgewogen, dass ihm Besitz und Nutzungen des veräußerten Grundstücks länger zustünden. Etwa verbleibende Vermögensnachteile des Verkäufers beruhten auf der Situationsgebundenheit seines Grundeigentums und seien als Ausprägung der Sozialbindung im Sinne des Art. 14 Abs. 2 GG entschädigungslos hinzunehmen. Die Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts, auch wenn der Käufer sie anfechte, stelle keine unverhältnismäßige und gegen die durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Verfügungs- und Veräußerungsfreiheit des Eigentümers verstoßende Maßnahme dar, dies gelte umso mehr, als der Verkäufer mit dem Käufer vereinbaren könne, dass dieser auf eine Anfechtung der Ausübung des Vorkaufsrechts verzichte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Diese Gesichtspunkte gelten auch hier. Der Antragstellerin war schon durch den Kaufvertrag aus dem Jahre 2016 bekannt, dass die Gemeinde ihr Vorkaufsrecht nach § 24 BauGB würde ausüben können. Sie hätte sich daher seinerzeit in dem Kaufvertrag dadurch absichern können, dass sie mit den Beigeladenen einen Verzicht auf Anfechtung eines ausgeübten Vorkaufsrechts vereinbart hätte. Durch das Abwarten der Hauptsacheentscheidung drohen der Antragstellerin auch keine schwerwiegenden, unumkehrbaren Nachteile. Sie bleibt Eigentümerin des veräußerten Grundstücks. Sie kann auch weiterhin dieses Grundstück wirtschaftlich nutzen. So wird auch in § 4 des Kaufvertrages vom 22.12.2016 ausgeführt, dass die Verkäuferin den Kaufgegenstand als Ackerland bewirtschaftet und sie daher eine verbindliche Information über den Zeitpunkt der Übergabe wenigstens drei Monate vor der Übergabe benötige. Die Antragstellerin kann daher gegenwärtig die Nutzungen aus ihrem Grundstück ziehen, wie sie es auch vor der Veräußerung getan hat. Es ist auch nicht von der Antragstellerin substantiiert dargelegt worden, dass ihr durch ein Zuwarten schwerwiegende existenzielle Nachteile drohen. In ihrem Schriftsatz vom 29.08.2022 hat sie lediglich pauschal ausgeführt, auf den Erhalt des Kaufpreises angewiesen zu sein, da sie im Rahmen einer Erbauseinandersetzung finanzielle Mittel benötige, über die sie ohne den Erhalt des Kaufpreises nicht verfüge. Dies allein reicht mit Sicherheit nicht aus, um eine in die Abwägung einzustellende existenzielle finanzielle Notlage annehmen zu können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Demgegenüber drohen sowohl dem Antragsgegner als auch den Beigeladenen im Falle der Anordnung der sofortigen Vollziehung schwerwiegende, nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens möglicherweise unumkehrbare Nachteile. Sollte das Widerspruchsverfahren bzw. das anschließende Klageverfahren der Beigeladenen gegen die Ausübung des Vorkaufsrechts Erfolg haben, hätte der Antragsgegner den Kaufpreis entrichtet, ohne ein gesichertes Recht an dem Grundstück zu haben. Wie ausgeführt, wäre nämlich die zugunsten der Beigeladenen eingetragene vorrangige Auflassungsvormerkung zu berücksichtigen. Der Antragsgegner müsste dann die geleistete Kaufpreiszahlung von der Antragstellerin zurückfordern und trüge insoweit das Insolvenzrisiko.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Andererseits laufen die Beigeladenen Gefahr, dass der Antragsgegner nach Aufstellung des Bebauungsplans oder schon zuvor das Grundstück möglicherweise an einen Investor weiterveräußert und die Eigentumsübertragung mühsam rückabgewickelt werden müsste.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Insgesamt geht daher, die Zulässigkeit des Antrages unterstellt, die Interessenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht vorliegend nach § 162 Abs. 3 VwGO der Billigkeit, nur die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) für erstattungsfähig zu erklären, weil die Beigeladenen zu 2) und 3) keinen eigenen Sachantrag gestellt und sich damit nicht einem Kostenrisiko im Sinne des § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Der Streitwert ist danach nach der sich aus dem Antrag der Antragstellerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen des Gerichts zu bestimmen. Dieses wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin ist hier vom Gericht schätzungsweise bestimmt worden. Das Interesse der Antragstellerin besteht darin, nicht jahrelang auf den im Ursprungskaufvertrag vereinbarten Kaufpreis warten zu müssen, sondern bereits jetzt darüber verfügen zu können. Die Antragstellerin würde sich dann die Aufnahme von Fremdmitteln ersparen. Bei einer geschätzten Verfahrensdauer von 3 Jahren und einem Finanzierungszinssatz von 4 % würden sich bei der Summe von 3.925.000 € ersparte Aufwendungen in Höhe von 471.000 € ergeben.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,903 | vg-koln-2022-09-15-6-l-133722 | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 L 1337/22 | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-10-13T10:01:14 | 2022-10-17T11:11:02 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0915.6L1337.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<ul class="ol"><li><p>1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.</p>
</li>
<li><p>2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.</p>
</li>
</ul>
<p> Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<ul class="ol"><li><p>3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15.000,00 Euro festgesetzt.</p>
</li>
</ul><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war ungeachtet des im vorliegenden Verfahren fehlenden Nachweises der Bedürftigkeit der Antragstellerin abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung entgegen § 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO aus den unter II. genannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">II. Das Rechtsschutzziel der Antragstellerin bedarf zunächst der Auslegung. Ausweislich ihres Schreibens vom 04.08.2022 wurde der Eilantrag für die Klage 6 K 3333/22 gestellt, offenbar in Reaktion darauf, dass ihr im genannten Hauptsacheverfahren durch das Gericht mitgeteilt worden war, dass eine dort von der Antragstellerin erwartete Entscheidung bis zum Beginn des Wintersemesters 2022/2023 nicht zu erwarten sein dürfte. Maßgeblich ist daher im Ausgangspunkt das Begehren der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren 6 K 3333/22. Dort wendet sie sich gegen die Ablehnung ihrer Promotion durch die Antragsgegnerin und begehrt vornehmlich, dass ihre Promotion an einer zweiten Hochschule bis 30.09.2022 angenommen und korrigiert und erfolgreich mit der Disputation abgeschlossen wird; vorzugsweise solle diese zweite Hochschule die Goethe-Universität Frankfurt am Main sein. Mit dort vorgelegtem Schriftsatz vom 07.07.2022 schildert die Antragstellerin ihren Werdegang, die Entstehung ihrer Dissertation und den Ablauf von deren Bewertung. Abschließend teilt sie mit, dass sie auch mit einer benoteten Dissertation und einer mündlichen Prüfung und damit einem Abschluss in Bonn einverstanden wäre. Letzteres Begehren hat die Antragstellerin inzwischen wieder aufgegeben. Denn mit Schriftsatz vom 04.08.2022 im vorliegenden Verfahren hat sie zwar präzisiert, dass sie „die Promotion behalten“ und „wieder einreichen“ möchte, dies aber mittlerweile nicht mehr in Bonn bei der Antragsgegnerin. Neben dem offensichtlichen Rechtsschutzziel der Antragstellerin, ihr Promotionsvorhaben nunmehr an einer anderen Universität zum Abschluss zu bringen, ist zu berücksichtigen, dass sie dieses Begehren im Rahmen eines Verwaltungsgerichtsverfahrens gegen die Antragsgegnerin verfolgt. Dem liegt offenbar die Vorstellung zu Grunde, die Antragsgegnerin habe für die Verwirklichung des Promotionsvorhabens der Antragstellerin andernorts Sorge zu tragen. Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin in dem Antrag,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, zu veranlassen, dass die Antragstellerin an einer anderen Universität, vorzugsweise der Goethe-Universität Frankfurt am Main, vorläufig zum Promotionsverfahren für eine Dissertation mit dem Arbeitstitel „Profane Wandmalereien in Südtirol im Spätmittelalter“ zugelassen wird,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">verwirklicht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der so verstandene Antrag bleibt ohne Erfolg. Er ist jedenfalls nicht begründet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin kann nicht beanspruchen, dass ihr die Antragsgegnerin eine anderweitige Promotionszulassung vermittelt. Über die Zulassung zur Promotion entscheiden die Universitäten nur innerhalb ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereichs. Sie verfügen als eigene Rechtsträger im Rahmen ihrer Organisationshoheit über ihr eigenes Zulassungsverfahren (jeweils nach dem für sie geltenden Hochschulgesetz und der für sie geltenden Promotionsordnung). Der Antrag auf Zulassung einer Promotion ist daher an die entsprechende Universität selbst zu richten.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Ein Anspruch auf Verschaffung einer Promotionszulassung an einer anderen Universität ergibt sich auch nicht daraus, dass die Antragstellerin mit Bescheiden vom 13.07.2011 zur Qualifikationsphase und vom 19.08.2021 zur Prüfungsphase der Promotion zugelassen worden ist (vgl. zu den Phasen des Promotionsverfahrens: § 2 Abs. 3 der Promotionsordnung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn vom 30.04.2014 i. d. F. der dritten Änderungsordnung vom 11.12.2017 – PO –). Diese Verwaltungsakte berechtigten die Antragstellerin (nur) dazu, Zugang zu der entsprechenden Phase des Promotionsverfahrens zu erhalten. Die Rechtswirkungen beschränken sich jedoch auf das Rechtsverhältnis zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin. Darüber hinausgehende Rechte hinsichtlich der Teilnahme am Promotionsverfahren außerhalb der Philosophischen Fakultät der Antragsgegnerin sind damit nicht verbunden.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">IV. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG, § 53 Abs. 2 Nr. 1 Fall 1 GKG. Die Kammer hat sich dabei an Ziffer 18.7 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit orientiert. Von der nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehenen Halbierung des Hauptsachestreitwertes sieht die Kammer ab, da die im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes begehrte Zulassung zur Promotion die Hauptsache vorwegnimmt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekannt-gabe schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen entscheidet, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 3 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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346,890 | olgham-2022-09-15-5-ws-24322 | {
"id": 821,
"name": "Oberlandesgericht Hamm",
"slug": "olgham",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": null,
"level_of_appeal": "Oberlandesgericht"
} | 5 Ws 243/22 | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-10-12T10:01:22 | 2022-10-17T11:10:59 | Beschluss | ECLI:DE:OLGHAM:2022:0915.5WS243.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus wird angeordnet.</p>
<p>Die Haftprüfung für die nächsten drei Monate wird dem nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständigen Gericht übertragen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe</span>:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Angeklagte ist am 03.03.2022 festgenommen worden und befindet sich seit demselben Tag aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Essen vom 02.03.2022 (Az.: 66 Gs 195/22) ununterbrochen in Untersuchungshaft. In dem Haftbefehl ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, sich als Heranwachsender am 00.02.2022 in A wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 und 5, 226 Abs. 1 Nr. 1, 52 StGB, §§ 1, 105 JGG strafbar gemacht zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Konkret sollen der Angeklagte und der Geschädigten B sich in den Tagen vor der Tat gegenseitig beleidigt haben. Als der Geschädigte am Tattag den Schulhof der (..)schule C gegen 20 Uhr aufsuchte, auf welchem sich der Angeklagte mit drei Begleitern befand, um den Streit im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung zu klären, soll der Angeklagte zunächst unvermittelt auf den Geschädigten losgegangen sein und versucht haben, den Geschädigten mit einer Flasche zu schlagen. Anschließend soll er versucht haben, die Flasche auf den Geschädigten zu werfen, wobei er sein Ziel allerdings verfehlte. Der Geschädigte soll hierauf geflüchtet sein und von dem Angeklagten und seinen Begleitern verfolgt und eingekesselt worden sein. Sodann soll der Angeklagte eine weitere Flasche zerschlagen und mindesten zweimal mit dem abgebrochenen Flaschhenhals in Richtung des Auge des Geschädigten gestoßen haben. Hierdurch soll der Sehnerv des Geschädigten so stark verletzt worden sein, dass dieser seine Sehkraft nicht wieder erlangen wird. Der Haftbefehl ist auf die Haftgründe der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) sowie der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO) gestützt. Der Angeklagte sei insbesondere bereits wegen räuberischen Diebstahls verurteilt und gegen ihn seien weiterhin Anklagen wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung mittels eines Totschlägers sowie tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte erhoben worden.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Auf den Haftprüfungsantrag des Angeklagten vom 16.03.2022 hat das Amtsgericht Gelsenkirchen am 25.03.2022 die Aufrechtungerhaltung des Haftbefehls aus den Gründen seiner Anordnung beschlossen und in den Gründen ausgeführt, dass ein dringender Tatverdacht nicht wegen vollendeter, sondern versuchter schwerer Körperverletzung bestehe, da sich zum jetztigen Zeitpunkt noch nicht sicher beurteilen lasse, in welchem Umfang der Geschädigte seine Sehkraft verloren habe.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Nach Durchführung der Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft Essen am 23.05.2022 Anklage vor dem Landgericht Essen – Jugendkammer – erhoben und dem Angeklagten eine schwere Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie den Mitangeklagten D und E eine Beihilfe hierzu vorgeworfen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Darstellung in der Anklageschrift vom 23.05.2022 Bezug genommen. Am 02.06.2022 hat der Vorsitzende der XXIV. großen Strafkammker – Jugendkammer – die Zustellung der Anklageschrift verfügt und eine Stellungnahmefrist von drei Wochen gesetzt, wobei übersehen wurde, dass sich auch bereits für den Angeklagten D ein Verteidiger zur Akte gemeldet hatte. Die Anklageschrift wurde den Verteidigern des Angeklagten und des Mitangeklagten E am 08.06.2022 und 09.06.2022 und dem Angeklagten D und seinen Eltern am 09.06.2022 zugestellt. Eine Zustellung an den Angeklagten E und seine Mutter erfolgte nicht, da als Anschrift noch eine Jugenschutzstellte notiert war, in welcher sich der Mitangeklagte E nicht mehr aufhielt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 18.07.2022 vermerkte der Berichterstatter, dass er bis zum Tag zuvor krank gewesen sei und ihm die Akte nunmehr das erste Mal vorgelegen habe. Ein Entscheidung zu einem früheren Zeitpunkt sei der Kammer aufgrund zahlreicher laufender Verfahren sowie der Erkrankungen des Vorsitzenden und dessen Stellvertreter Richters bis zum gestrigen Tage sowie in Anbetracht der angezeigten Kammerüberlastung nicht möglich gewesen. Noch am gleichen Tat beschloss die XXIV. große Strafkammer – Jugendkammer – die Anklage zur Hauptverhandlung zuzulassen und eröffnete das Verfahren vor dem Amtsgericht Gelsenkirchen – Jugendschöffengericht. Ferner wurde die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Auf den Angeklagten als Haupttäter finde voraussichtlich Jugendstrafrecht Anwendung. Eine Zuständigkeit der Jugenstrafkammer nach § 41 JGG bestehe nicht. Insbesondere ergebe die vorzunehmende Gesamtwürdigung, dass der Angeklagte zwar mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen habe, dass diese aber prognostisch nicht oberhalb von fünf Jahren liege.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach Eingang der Akten am 19.07.2022 beim Amtsgericht hat dies unter dem 21.07.2022 die Staatsanwaltschaft zunächst um Stellungnahme zur Aufrechterhaltung und Außervollzugsetzung des Haftbefehls gebeten und sodann unter dem 25.07.2022 Terminsvorschläge für den 25.08.2022, 15.09.2022 und 06.10.2022 unterbreitet. Während der Verteidiger des Angeklagten alle drei Termine hätte wahrnehmen könnte, teilte der Verteidiger des Mitangeklagten D mit, am 25.08.2022 wegen Urlaubs verhindert zu sein. Der Verteidiger des weiteren Angeklagten E beantwortete die Terminsanfrage nicht und konnte auch telefonisch nicht erreicht werden. Unter dem 16.08.2022 schlug die Vorsitzende des Schöffengerichts sodann als weitere Termine den 17.10.2022, 31.10.2022, 10.11.2022, 17.11.2022, 21.11.2022, 24.11.2022 und dem 01.12.2022 vor.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit weiterem Beschluss vom 16.08.2022 hat das Amtsgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und die Akten gemäß §§ 121, 122 StPO dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft sind der Auffassung des Amtsgerichts beigetreten. Die Akte ist am 29.08.2022 beim Oberlandesgericht eingegangen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Angeklagte hat beantragt, den Haftbefehl des Amtsgerichts Essen vom 02.03.2022 aufzuheben, hilfsweise diesen außer Vollzug zu setzen. Insbesondere sei das Verfahren nicht mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden. Zum einen sei es zu vermeidbaren Verzögerungen durch die Anklage vor dem unzuständigen Gericht gekommen. Zum anderen könnten die zwischenzeitlichen Erkrankungen der Richter sowie die Verhinderung der weiteren Verteidiger seinem Mandanten nicht zugerechnet werden. Nunmehr sei Hauptverhandlungstermin erst für den 10.11.2022 anberaumt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verteidigungsvorbringens wird auf die Schriftsätze des Verteidigers vom 30.08.2022, 06.09.2022, 07.09.2022, 08.09.2022 und 12.09.2022 verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die weitere Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft des Angeklagten auch über sechs Monate hinaus war anzuordnen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">1)</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Angeklagte ist nach dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen der ihm im Haftbefehl vom 02.03.2022 zur Last gelegten schweren Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 StGB) dringend verdächtig.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Bezüglich des dringenden Tatverdachts nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft Essen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in ihrer Anklageschrift vom 23.05.2022.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Angeklagte hat in seinen Einlassungen vor dem Haftrichter anlässlich seiner Haftprüfung sowie seiner Anhörung im Haftprüfungstermin die Körperverletzungshandlungen nicht in Abrede gestellt, sondern sich auf Notwehr bzw. alkoholbedingte Ausfallerscheinungen berufen. Es ist jedoch mit der für den dringenden Tatverdacht erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Angeklagte weder durch (aa)) Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt ist noch im Zustand der (bb)) Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) handelte.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">aa)</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Nach den Aussagen des Geschädigten, des Zeugen F, des Mitangeklagten D und des Spurenbildes ist der Angeklagte dringend verdächtig, den Geschädigten nach dessen Provokationen an der Treppe des Schulgebäudes verfolgt und zusammen mit den Mitangeklagten eingekesselt zu haben, wobei er sich mit einem abgebrochenenen Flaschenhals bewaffnet hatte. Eine Notwehrsituation im Zeitpunkt des Zustechens mit dem abgebrochenen Flaschenhals liegt daher fern.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">bb)</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt in Bezug auf die Schuldfähigkeit, soweit der Angeklagte sich auf alkoholbedingte Ausfallerscheinungen beruft. Trotz der erheblichen Trinkmengenangaben des Angeklagten im Haftprüfungstermin war dieser noch zu einer Verfolgung des Geschädigten und zu gezielten Zustechbewegungen im Zuge der körperlichen Auseinandersetzung sowie zur anschließenden Flucht fähig. Eine vollständige Aufhebung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit infolge der Alkoholintoxikation lag daher im Tatzeitpunkt aller Voraussicht nach nicht vor. Im Übrigen weichen aber auch die Einlassungen des Angeklagten zum Nachtatverhalten – er habe sich ganze Nacht übergeben – und die Aussage seiner Freundin, der Zeugin G, die lediglich das Heulen des Angeklagten in der Nacht berichtete – voneinander ab. Die Trinkmengenangaben und der behauptete (teilweise) Erinnerungsverlust des Angeklagten sind daher ohnehin mit erheblichen Zweifel verbunden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">In rechtlicher Hinsicht ist die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat – wie in Haftbefehl und Anklageschrift und damit abweichend vom Beschluss des Haftprüfungstermins vom 25.03.2022 – als gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit <span style="text-decoration:underline">vollendeter</span> (und nicht nur versuchter) schwerer Körperverletzung gem. §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 und 5, 226 Abs. 1 Nr. 1, 52 StGB zu werten.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der von § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorausgesetzte Verlust des Sehvermögens auf einem Auge oder beiden Augen der verletzten Person ist die irreversible Aufhebung der Fähigkeit, mittels des einen Auges oder der beiden Augen Gegenstände wahrzunehmen, wenn auch nur auf kurze Entfernung (Eschelbach, in: Beck´scherOK StGB, Stand: 01.05.2022, § 226 StGB Rn. 6). Alleine verbleibende Lichtempfindlichkeit ist kein Sehvermögen mehr (Eschelbach, in: Beck´scherOK StGB, a.a.O., § 226 StGB Rn. 6). Dem Totalverlust des Sehvermögens steht hierbei eine nahezu vollständige Aufhebung gleich (BGH, Beschluss vom 07.03.2017 – 1 StVKR 569/16, BeckRS 2017, 104191). Gleiches gilt, falls für den Geschädigten im Ergebnis eine wertlose Restfähigkeit zurückbleibt (BGH Beschl. v. 8.12.2010 – 5 StR 516/10, BeckRS 2010, 30925, beck-online). Dies ist nach dem gegenwärtigen Stand anzunehmen. Nach der telefonischen Auskunft des Arztes H (Augenklinik des Universitätsklinikums A vom 01.03.2022) ist der Sehnerv des Geschädigten zwar nicht vollständig zerstört. Selbst bei einem guten Verlauf werde dieser jedoch allenfalls Umrisse und Bewegungen schemenhaft erkennen können. Dass der Geschädigte seine Sehkraft vollständig zurück erlange sei ausgeschlossen. Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass der Geschädigte auch auf kurze Entfernung Gegenstände konkret und nicht nur schemenhafte Umrisse von diesen wahrnehmen kann.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">2)</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Bezüglich des Angeklagten sind des Weiteren die Haftgründe der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO sowie der Wiederholungsgefahr nach § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Nach § 112 Abs. 3 StPO darf gegen den Beschuldigten, der unter anderem einer Straftat nach § 226 StGB dringend verdächtig ist, die Untersuchungshaft auch dann angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach § 112 Absatz 2 StPO nicht besteht. Dieser Haftgrund ist verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, dass nach den Umständen des Falles der Flucht- oder Verdunkelungsverdacht nicht auszuschließen ist oder die ernstliche Befürchtung besteht, dass der Beschuldigte weitere Straftaten ähnlicher Art begehen werde (BVerfGE 19, 342 (350); BGH NJW 2017, 341; OLG Oldenburg BeckRS 2010, 06441; Krauß, in: Beck´scherOK, Stand: 01.04.2022, § 112 StPO Rn. 41).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr unter anderem, wenn der Beschuldigte dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat nach den §§ 224 bis 227 StGB begangen zu haben, und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, daß er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde, die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich und eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">c)</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Beide Haftgründe sind vorliegend gegeben. Neben dem hier gegenständlichen Vorfall ist der Angeklagte dringend verdächtig, am 30.09.2021 eine versuchte gefährliche Körperverletzung (Verfahren StA Essen 50 Js 122/22) im Sinne von §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22, 23 StGB und damit einen Katalogtat im Sinne von § 112a Abs. 1 Nr. 2 StGB begangen zu haben. Nach der betreffenden Anklageschrift vom 03.02.2022 wird dem Angeklagten zur Last gelegt, das Jugendzentrum an der Istraße in J aufgesucht und nach einer verbalen Auseinandersetzung versucht zu haben, den Geschädigten Z mittels eines Schlagstocks oder ausziehbaren Totschlägers gegen den Rücken zu schlagen. Der dringende Tatverdacht beruht hierbei insbesondere auf der schriftlichen Schilderung des Vorfalls durch die Zeugin K vom 25.10.2021, welche mit ihrer mündlichen Aussagen sowie der Aussage des Zeugen L gegenüber der Polizei bei der Aufnahme des Vorfalls am Tattag korrespondiert. Der Angeklagte ist daher – wie von § 112a Abs. Nr. 2 StPO vorausgesetzt, dringend verdächtig, wiederholt Straftaten nach § 224 bzw. 226 StGB begangen zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">d)</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Es besteht weiterhin die Gefahr, dass er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen wird.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Angeklagte ist vom Amtsgericht Gelsenkirchen am 21.03.2019 wegen eines gemeinschaftlichen räuberischen Diebstahls verurteilt worden. Er ist weiterhin aufgrund der in der Anklageschrift vom 13.10.2021 (StA Essen 50 Js 830/21) genannten Beweismittel sowie insbesondere der Zeugenaussage der unbeteiligten Bahnfahrerin M des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte dringend verdächtig, indem er am 13.03.2021 bei einem Polizeieinsatz in der U(..) den Polizeibeamten N mit seine Körper in den Rücken gerannt und diesen gegen die halb geschlossene Wagontür gestoßen haben soll.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Angeklagte ist somit innerhalb eines kurzen Zeitraums mit einer Reihe von Gewaltstraftaten in Erscheinung getreten, wobei der Schweregrad der Gewalthandlungen zunimmt und der Angeklagte auch vor dem Einsatz gefährlicher Werkzeuge sowie deren lebensgefährdendem Einsatz nicht zurückschreckt. Zudem hat er im Haftprüfungstermin vom 24.03.222 selbst erklärt, zwar selten, dann aber viel Alkohol zu trinken. Weiterhin hat er in der Hauptverhandlung vom 10.02.2022 (Verfahren StA Essen 50 Js 830/21) angegeben, gelegentlich zu „kiffen“. Die danach bestehende Mischung aus enormer Gewaltbereitschaft sowie regelmäßiger alkohol- bzw. drogeninduzierter Enthemmung lässt besorgen, dass er in naher Zukunft weitere gefährliche Körperverletzungshandlungen begehen wird, die gerade aufgrund der Enthemmung jederzeit in den schweren Folgen des § 226 StGB münden können.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">3)</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Der vom dem Angeklagten ausgehenden Wiederholungsgefahr kann nur durch den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft begegnet werden. Mildere Mittel im Sinne des § 116 StPO sind nicht ersichtlich und können bei der derzeitigen Sachlage auch nicht in Erwägung gezogen werden. Die bisherige Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und zu der im Verurteilungsfall den Angeklagten erwartenden hohen Haftstrafe.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">4)</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die besonderen Voraussetzungen des § 121 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus sind gleichfalls gegeben.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">a)</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung ist insgesamt (noch) gewahrt.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot, das für das gesamte Ermittlungs- und Strafverfahren gilt und bei Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen besondere Beachtung verlangt, gebietet, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen sowie eine gerichtliche Entscheidung über die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (KG Berlin, Beschluss vom 15. August 2013 – 4 Ws 108/13 –, Rn. 10, juris). Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (KG Berlin, Beschluss vom 15. August 2013 – 4 Ws 108/13 –, Rn. 10, juris). Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (OLG Hamm, Beschluss vom 23. April 2020 – III-3 Ws 131/20 –, Rn. 25, juris).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">b)</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Nach diesem Maßstab und den zum jetzigen Zeitpunkt zu stellenden Anforderungen ist die Fortdauer der Untersuchungshaft vorliegend noch gerechtfertigt.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">aa)</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Ermittlungsverfahren ist ohne Verzögerung betrieben worden. Nach der Festnahme des Angeklagten am 03.03.2022 konnte bereits am 23.05.2022 und damit nach etwas über zweieinhalb Monaten Anklage erhoben werden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">bb)</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Das Zwischenverfahren ist durch das Landgericht unverzüglich eingeleitet worden.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">(1)</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Nach Eingang beim Landgericht am 01.06.2022 hat der Vorsitzende mit Verfügung vom 02.06.2022 den Verteidigern des Angeklagten sowie des Mitangeklagten E sowie dem Angeklagten und den Mitangeklagten sowie den Eltern der Mitangeklagten die Anklageschrift mit einer Stellungnahmefrist von drei Wochen zugestellt. Dass hierbei übersehen wurde, dass sich bereits Rechtsanwalt O am 25.05.2022 als Verteidiger des Angeklagten D gemeldet hat, hat hierbei zu keiner Verfahrensverzögerung geführt. Denn nachdem Rechtsanwalt O unter dem 07.07.2022 auf dieses Versehen aufmerksam gemacht hatte, wurde zwar am 17.07.2022 eine Umbestellung vorgenommen, aber betreffend die Eröffnungsentscheidung keine weiteren Stellungnahmenfristen gesetzt. Gleiches gilt im Ergebnis betreffend die gescheiterte Zustellung an den Mitangeklagten E. An den Mitangeklagten E konnte zwar weder unter der Adresse Pstraße 00, J noch unter der Adresse Qstraße 00, J zugestellt werden. Da die Kammer aber auch insoweit die Zustellung nicht abgewartet hat, ist es hierdurch ebenfalls nicht zu einer der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung gekommen.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">(2)</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Des Weiteren ist eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes nicht darin zu erblicken, dass die Staatsanwaltschaft Essen Anklage vor der Jugendkammer des Landgerichts erhoben und die Kammer mit Beschluss vom 18.07.2022 die Eröffnung abweichend vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Gelsenkirchen eröffnet hat.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Anklage vor einem unzuständigen Gericht und dadurch eingetretene Verfahrensverzögerungen können zwar im Einzelfall der Annahme eines wichtigen Grundes im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO entgegenstehen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. September 1992 – 2 BvR 1305/92 –, Rn. 9, juris; Schmitt, in: Meyer/Goßner, 65. Aufl. 2022, § 121 StPO Rn. 24). Dies setzt allerdings voraus, dass die Anklage aus nicht vertretbaren Erwägungen bei einem unzuständigen Gericht erhoben wird (Schultheis, in: Karlsruher Kommentar, 8. Aufl. 2019, § 121 StPO Rn. 21). So verhält es sich hier indes nicht. Die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass die Jugendkammer des Landgerichts für den erhobenen Tatvorwurf sachlich zuständig ist, erweist sich weder als willkürlich noch als unvertretbar. Nach § 41 Abs. 1 Nr. 5 JGG ist die Jugendkammer des Landgerichts in Sachen zuständig, bei denen dem Beschuldigten eine Tat der in § 7 Abs. 2 JGG bezeichneten Art vorgeworfen wird und eine höhere Strafe als fünf Jahre Jugendstrafe oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Vorliegend handelt es sich bei der dem Angeklagten zur Last gelegten schweren Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB) um eine Katalogtat im Sinne von § 7 Abs. 2 Nr. 1 a) JGG. Die Annahme von einer Straferwartung von mehr als fünf Jahren Jugendstrafe erweist sich aufgrund der vom Landgericht im Eröffnungsbeschluss zutreffend aufgeführten, zahlreichen strafschärfenden Umstände, die einen ganz erheblichen Erziehungsbedarf des Angeklagten belegen, nicht als grob rechtsfehlerhaft. Der Angeklagte ist bereits erheblich und auch in unterschiedlichen Deliktsbereichen strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Verhängung von Zuchtmitteln hat ihn nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten können. Die strafrechtliche Entwicklung stellt zudem sich als progredient dar. Nunmehr wird dem Angeklagten eine besonders brutale und gefährliche Gewalthandlung zur Last gelegt. Der Angeklagte schreckt – wie auch die versuchte gefährlicher Körperverletzung mittels eines Schlagstocks bzw. Totschlägers belegt – nicht vor dem rücksichtslosen Einsatz von gefährlichen Werkzeugen gegen seine Opfer zurück, wobei er auch bei nichtigen Anlässen schwerste Körperverletzungsfolgen rücksichtslos in Kauf nimmt. Auch unter Berücksichtigung des strafmildernden Umstandes, dass der Geschädigte den Angeklagten vorliegend unmittelbar vor der Tat provoziert hatte, ist eine Straferwartung von mehr als fünf Jahren – wie das Landgericht in seiner Eröffnungsentscheidung ausdrücklich ausgeführt hat – lediglich „(noch) nicht“ gegeben und nicht fernliegend.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">(3)</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls als noch angemessen stellt sich die Verfahrensförderung nach Ablauf der dreiwöchigen Stellungnahmefrist zur Anklageschrift am 30.06.2022 bis zur Entscheidung über die Eröffnung dar.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Dem Berichterstatter ist – wie sich aus dessen Vermerk ergibt – die Akte erstmalig am 18.07.2022 und damit ca. zweieinhalb Wochen nach Fristablauf – was regelmäßig nicht der gebotenen Beschleunigung entspricht – vorgelegt worden. Der Senat vermag insofern zwar nicht beurteilen, ob insofern eine zügigere Sachbehandlung aus den im Vermerk des Berichterstatters vom 18.07.2022 genannten Gründen – Erkrankungen des Berichterstatters, Vorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden sowie Überlastung der Kammer – ausnahmsweise nicht möglich war. Denn dem Vermerk lassen sich weder die genauen Erkrankungszeiträume der Kammermitglieder noch der Inhalt der Überlastungsanzeige sowie die Reaktion von Verwaltung und Präsidium hierauf entnehmen. Einer weiteren Aufklärung der obwaltenden Umstände bedurfte es jedoch insofern nicht, da hierdurch entstandene etwaige Verfahrensverzögerungen durch die besonders beschleunigte Bearbeitung kompensiert wurden. So hat die Kammer noch am 18.07.2022 und damit am gleichen Tag über die Eröffnung des Verfahrens entschieden. Das Zwischenverfahren hat damit insgesamt etwa einhalb Monaten und die Entscheidung über die Eröffnung nach Ablauf der Stellungnahmefrist etwa zweieinhalb Wochen gedauert. Im Hinblick auf die Schwere des Tatvorwurfs und den Umfang des Verfahrens ist diese Bearbeitungsdauer insgesamt noch nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">cc)</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist die Sache zwar im Hauptverfahren nicht durchgängig mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden (s. hierzu (3)). Soweit eine unzureichende Verfahrensförderung anzunehmen ist, hat diese jedoch im Ergebnis zu keiner der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung geführt, da es auch bei einer pflichtgemäßen Verfahrensförderung nicht zu einer schnelleren Durchführung des Hauptverfahrens gekommen wäre (s. hierzu (4)).</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">(1)</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Als noch hinreichend zügig stellt sich die Unterbreitung erster Terminsvorschläge seitens der Vorsitzenden des Jugendschöffengerichts mit Verfügung vom 25.07.2022 dar. Die Akte ist beim Amtsgericht am 19.07.2022 eingegangen und die Vorsitzende des Jugenschöffengerichts hat bereits mit Verfügung vom 21.07.2022 die Staatsanwaltschaft zur Frage der Aufrechterhaltung des Haftbefehls Stellung nehmen lassen. Sodann hat die Vorsitzende des Jugendschöffengerichts unter dem 25.07.2022 und damit nicht einmal eine Woche nach Akteneingang, drei Terminsvorschläge unterbreitet, wobei der erste Terminsvorschlag am 25.08.2022 und damit binnen eines Monats und noch innerhalb der 6-Monats-Frist lag. Die Terminierung auf diesen Termin scheiterte ausschließlich daran, dass – was einen anderen wichtigen Grund im Sinne von § 121 StPO darstellt – Rechtsanwalt O als Pfichtverteidiger des Mitangeklagten D und damit als unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter wegen Urlaubs verhindert war.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich des weiteren Terminvorschlags am 15.09.2022, der trotz des zu koordinierenden Mitwirkens von drei Verteidigern gerade einmal sieben Wochen nach Vorschlagsunterbreitung und noch vor dem am 19.09.2022 beginnenden und bereits im Hinblick auf das hiesige Strafverfahren verschob einen Erholungsurlaub der Vorsitzenden lag, ging auch nach mehrfachen telefonischen Anfragen bis zum 16.08.2022 keine Antwort des weiteren Verteidigers Rechtsanwalt R ein. Aus diesem Grund durfte die Vorsitzende ihren Terminsvorschlag als gescheitert ansehen. Im Übrigen war aber bereits zum damaligen Zeitpunkt der Vorschlagsunterbreitung, was im Hinblick auf den Verfahrensumfang sowie die angedachte Verfahrensverbindung des Verfahrens AG Gelsenkirchen 303 Ls 312/21 mit vier Anklagen auch sachgerecht war, die Vereinbarung eines Fortsetzungstermins sowie ggfls. eines weiteren Fortsetzungstermins vorgesehen. Die Vereinbarung von mindestens zwei Forsetzungsterminen innerhalb der dreiwöchigen Frist des § 229 Abs. 1 StPO wäre aber im Hinblick auf den Erholungsurlaub der Vorsitzenden vom 19.09.2022 bis zum 03.10.2022 und des anschließenden Erholungsurlaubs des Verteidigers Rechtsanwalt R ab dem 04.10.2022 ohnehin nicht möglich gewesen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">(2)</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Weiterhin ist nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende keine Terminsvorschläge für den Zeitraum ihres Erholungsurlaubs vom 19.09.2022 bis zum 03.10.2022 unterbreitete und keine Verhandlung durch ihren Vertreter in Erwägung gezogen hat.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob zur Verfahrensbeschleunigung die Hauptverhandlung nicht durch den originär zuständigen Richter sondern in dessen Erholungsurlaub durch den nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Vertreter durchzuführen ist, kann nicht allgemein beurteilt werden, sondern erfordert eine Gesamtabwägung der im Einzelfall obwaltenden Umstände. In Blick zu nehmen sind insofern insbesondere die Dauer der bisherigen Untersuchungshaft, der von Umfang und Komplexität des Verfahrens abhängige voraussichtliche Einarbeitungsaufwand und die Anzahl der voraussichtlich erforderlichen Termine. Danach durfte zum damaligen Zeitpunkt noch von einer Terminierung im Urlaubszeitraum abgesehen werden. Der Angeklagte befand sich zu diesem Zeitpunkt „nur“ knapp über die 6-Monatsgrenze hinaus, nämlich 6 ½ Monate bis 7 Monate in Untersuchungshaft. Für die Hauptverhandlung sollten mindestens zwei Termine sowie dreizehn Zeugen und gegebenfalls elf weitere Zeugen in dem hinzuverbundenen Verfahren geladen werden. Die Notwendigkeit weiterer Hautpverhandlungstermine – insbesondere aufgrund der Verhinderung von Zeugen – lag nicht fern. Im vorliegenden Fall erweist sich daher die Entscheidung, keine Hauptverhandlungstermine im Zeitpunkt des Erholungsurlaubs vorzuschlagen, als vertretbar.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">(3)</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Als nicht hinreichend stellt sich die Verfahrensförderung hingegen dar, soweit unter dem 16.08.2022 für den Zeitraum nach der Urlaubsrückkehr am 04.10.2022 nur zwei Terminsvorschläge für den Oktober 2022, namentlich der 17.10.2022 und der 31.10.2022, unterbreitet wurden.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Im Hinblick darauf, dass die Mitwirkung von drei Verteidigern zu koordinieren und die erste Terminsvorschlagsrunde bereits gescheitert waren, war es nunmehr geboten, durch eine Vielzahl von Terminsvorschlägen auf eine Terminsfindung hinzuwirken. Dabei war auch zu beachten, dass Haftsachen den Nichthaftsachen vorgehen und mit größtmöglicher Beschleunigung zu betreiben sind. (Böhm, in: MünchKomm, 1. Aufl. 2014, § 121 StPO Rn. 82).</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Diesem Erfordernis werden die am 16.08.2022 unterbreiteten Terminierungsvorschläge für den Monat Oktober 2022 nicht gerecht. Nach der vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahme der Vorsitzenden des Schöffengerichts vom 07.09.2022 standen dieser als Sitzungstage der Montag und Donnerstag sowie – nach Absprache mit den Kolleginnen – der Freitag zu Verfügung. Weder war die von der Vorsitzenden Richterin frei gewählte Einteilung, dass montags regelmäßig nur Einzelrichtersachen verhandelt werden, für die Unterbreitung von Terminsvorschlägen von Relevanz noch standen nach der dienstlichen Auskunft in diesem Zeitraum anderweitige Haftsache an, welche der hiesigen Strafsache hätten vorgehen können. Allein an den regulären Sitzungstagen hätten als weitere Termine daher jedenfalls der 06.10.2022 (der Termin ist bei der ersten Vorschlagsrunde von keinem der Verteidiger abgelehnt worden), 07.10.2022, 10.10.2022, 13.10.2022, 14.10.2022, 20.10.2022 , 21.10.2022, 24.10.2022 und 28.10.2022 vorgeschlagen werden können. Angesichts der Vielzahl möglicher weiterer Termine braucht der Senat die Frage nicht entscheiden, ob bereits zu diesem Zeitpunkt auch Terminsvorschläge für Tage zu unterbreiten waren, bei welchen es sich nicht um reguläre Sitzungstage handelte.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">(4)</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die vorstehend unter (3) beschriebene, nicht hinreichende Verfahrensförderung hat jedoch im Ergebnis nicht zu einer Verfahrensverzögerung geführt, so dass insofern keine Verletzung des Beschleunigungsgebots gegeben ist.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Auf die Anfrage des Senats haben sämtliche Verteidiger mitgeteilt, an welchen Tagen eine Terminierung im Oktober 2022 hätte stattfinden können, wenn diese am 16.08.2022 vom Amtsgericht angefragt worden wäre. Nach den erteilten Auskünften ist davon auszugehen, dass nach Urlaubsrückkehr der Vorsitzenden zum 04.10.2022 Rechtsanwalt S am 12.10.2022, 17.10.2022 und 24.10.0222 verhindert gewesen wäre und Rechtsanwalt O lediglich am 05.10.2022, 07.10.2022, 10.10.2022, 13.10.2022 und 18.10.2022 zur Verfügung gestanden hätte. Rechtsanwalt R hätte sich – die etwaige außerplanmäßige Fortsetzung des von ihm in der Stellungnahme vom 12.09.2022 angesprochenen Schwurgerichtsverfahrens ließ keine andere Planung zu-zunächst im Zeitraum vom 04.10.2022 bis zum 16.10.2022 im Urlaub befunden und war im Zeitraum vom 17.10.2022 bis 31.10.2022 vollständig austerminiert. Selbst bei der gebotenen Verfahrensförderung durch die Unterbreitung weiterer Terminsvorschläge wäre daher eine Termininerung unter Beteiligung der weiteren Pflichtverteidiger Rechtsanwalt R und Rechtsanwalt O im Oktober 2022 nicht zustande gekommen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">(5)</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Für den Monat November 2022 sind von der Vorsitzenden Richterin insgesamt vier Terminsvorschläge unterbreitet worden. Der Senat kann offen lassen, ob diese Anzahl hinreichend ist. Jedenfalls sind am 10.11.2022 und 17.11.2022 Hauptverhandlungstermine und damit der erste Termin noch im ersten Drittel des Monats November 2022 zustande gekommen, so dass es insofern nicht zu einer wesentlichen Verfahrensverzögerung gekommen ist.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">(6)</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Schließlich ist bis zum jetztigen Verfahrensstadium nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende Richterin nicht durch Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten eine zügigere Terminierung ermöglicht hat. Soweit ein früherer Prozessbeginn an der Verhinderung des Verteidigers des nicht inhaftierten Angeklagten scheitert, ist zwar an die Möglichkeit der Trennung der Verfahren in diesem Zusammenhang zu denken. (Gärtner in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 121 StPO). Die Trennung steht gleichwohl im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (Scheuten, in: Karlsruher Kommentar, 8. Aufl. 2019, § 2 StPO Rn. 14). In die Gesamtabwägung sind hierbei insbesondere der Freiheitsanspruch des Betroffenen und das Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit einzustellen. Danach ist vorliegend einerseits zu berücksichtigen, dass der Angeklagte bis zum Beginn der Hauptverhandlung acht Monate und eine Woche in Untersuchungshaft verbracht haben wird. Zum anderen wären die abgetrennten Angeklagten, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift zutreffend hingewiesen hat, ebenfalls zu laden gewesen und hätten von ihrem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch machen können. Insbesondere im Hinblick darauf dass der Mitangeklagte D sich am 27.05.2022 umfangreich gegenüber der Polizei eingelassen hat, wäre daher eine erhebliche Behinderung der Sachaufklärung zu besorgen gewesen. Wegen des gewichtigen Tatvorwurfs überwiegt jedenfalls gegenwärtig das Strafverfolgungsinteresse noch den Freiheitsanspruch des Angeklagten, so dass dieser (noch) zurückzutreten hat.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">(7)</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt im Ergebnis, soweit der Verteidiger des Angeklagten nunmehr die Auffassung vertritt, dass die Pflichtverteidiger der Mitangeklagten von ihren Pflichten hätten entbunden werden können, um eine zügigere Durchführung des Verfahrens zu ermöglichen. Angesichts der Schwere des Tatvorwurfs überwog jedenfalls im damaligen Verfahrensstadium das Interesse der Angeklagten von den Verteidiger ihres Vertrauens verteidigt zu werden. Dass Rechtsanwalt R zwischenzeitlich mitgeteilt hat, dass ausgrund seiner starken Terminsbelastung nunmehr die Terminswahrnehmung durch seinen Kanzleikollegen Rechtswalt T angedacht sei, rechtfertigt keine andere Bewertung, da dies für das Gericht nicht erkennbar und dies nicht gehalten war, dem Mitangeklagten E einen Verteidigerwechsel anzusinnen.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Nebenentscheidung folgt aus § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.</p>
|
346,839 | vg-dusseldorf-2022-09-15-16-k-516721 | {
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} | 16 K 5167/21 | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-10-06T10:01:30 | 2022-10-17T11:10:51 | Urteil | ECLI:DE:VGD:2022:0915.16K5167.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Das beklagte Land wird verpflichtet, über den Antrag der Klägerin vom 23. März 2021 auf Gewährung von Corona-Überbrückungshilfe III unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden, soweit es im Bescheid der C. E. vom 1. Juli 2022 die von der Klägerin in ihrem Antrag unter den Kostenpositionen 01 (Mieten und Pachten für Gebäude, Grundstücke und Räumlichkeiten) und 21 (Investitionen für Digitalisierung) geltend gemachte Kosten nicht als förderfähig berücksichtigt hat.</strong></p>
<p><strong>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</strong></p>
<p><strong>Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu zwei Dritteln (2/3) und das beklagte Land zu einem Drittel (1/3).</strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin, die in E. ein Restaurant betreibt, begehrt mit der vorliegende Klage vom beklagten Land die Gewährung einer erhöhten Zuwendung im Rahmen der Phase 3 der Überbrückungshilfe für kleine und mittelständische Unternehmen, die ihren Geschäftsbetrieb im Zuge der Corona-Krise ganz oder zu wesentlichen Teilen einstellen mussten (Überbrückungshilfe III).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 23. März 2021 beantragte die Klägerin über ihre Steuerberaterin als sog. prüfende Dritte (pD) bei der C. E. (BRD NRW) die Gewährung von Überbrückungshilfe III, wobei das automatisierte Online-Antragsverfahren eine Gesamtfördersumme von 27.602,24 € auswies unter Berechnung eines Anteils förderbarer Fixkosten von 60 %. Der Antrag enthielt u.a. folgende Angaben zu förderbaren Fixkosten:</p>
<span class="absatzRechts">4</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Monat</p>
</td>
<td><p>Kostenposition 01</p>
<p>(Mieten und Pachten für Gebäude, Grundstücke und Räumlichkeiten)</p>
</td>
<td><p>Kostenposition 10</p>
<p>(Versicherungen, Abonnements und andere feste Ausgaben)</p>
</td>
<td><p>Kostenposition 21</p>
<p>(Investitionen für Digitalisierung)</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>01/2021</p>
</td>
<td><p>42,31</p>
</td>
<td><p>79,45</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>02/2021</p>
</td>
<td><p>9.300,00</p>
</td>
<td><p>473,02</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>03/2021</p>
</td>
<td><p>3.911,00</p>
</td>
<td><p>4.704,88</p>
</td>
<td><p>2.790,00</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>04/2021</p>
</td>
<td><p>3.911,00</p>
</td>
<td><p>150,00</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>05/2021</p>
</td>
<td><p>3.911,00</p>
</td>
<td><p>150,00</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>06/2021</p>
</td>
<td><p>3.911,00</p>
</td>
<td><p>150,00</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>Summe</p>
</td>
<td><p>24.986,31</p>
</td>
<td><p>5.707,35</p>
</td>
<td><p>2.790,00</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach Antragseingang kam es durch die BRD NRW gegenüber der pD zu Nachfragen und Aufforderungen zur Vorlage von Belegen sowie diesbezüglicher Korrespondenz über das Online-Antragsportal betreffend die Kostenpositionen 01, 10 und 21: Am 22. April 2021 bat die BRD NRW die pD um Zusendung folgender Unterlagen: (1.) Gewerbemietvertrag, (2.) Rechnungen bezogen auf das Geltendmachen von Digitalisierung, (3.) Rechnungen bzw. Gebührenbescheide bezogen auf das Geltendmachen der Kosten für Versicherungen, Abonnements und andere feste Ausgaben und (4.) die Arbeitnehmer-Sozialversicherungs-Meldebescheinigungen. Daraufhin übermittelte die pD der BRD NRW Arbeitnehmermeldebescheinigungen, einen Mietvertrag über eine Gaststätte nebst Wirtewohnung, eine im März 2021 ausgestellte Rechnung über eine TSE-Kasse und vier im November 2020 ausgestellte Rechnungen über Buchhaltungsarbeiten, ferner eine betriebswirtschaftliche Auswertung (BWA) für März 2021, und erläuterte dazu: Sämtliche Buchhaltungsrechnungen seien im März 2021 bezahlt worden. Die BWA liefere einen Überblick über die Kosten. In den Folgemonaten sei eine Orientierung sowohl an den Umsatzerlösen März 2021 als auch an den laufenden Kosten erfolgt. In der Folgezeit legte die pD auf Anforderung der BRD NRW zusätzlich noch eine Vermieterbescheinigung betreffend den Gaststättenmietvertrag vor.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 11. Mai 2021 wurde seitens der BRD NRW im Verwaltungsvorgang vermerkt:</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">„Nach Sichtung der von der Steuerberaterin eingereichten Unterlagen ergeben sich folgende Änderungen bezogen auf die Angaben im Antrag:</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Punkt 1 (Gewerbemiete):- Januar: nicht zu beanstanden-Februar: 3.100,00,--März: 3.100,00,--April: 3.100,00,--Mai: 3.100,00,--Juni: 3.100,00,-Weitere Gewerbemietverträge wurden nicht eingereicht.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Punkt 10 (Versicherungen, Abo´s, andere feste Kosten):-Januar: 0,00,--Februar: 0,00,--März: 0,00,--April: 0,00,--Mai: 0,00,--Juni: 0,00,-Die Abweichungen ergeben sich aus dem Umstand das die Steuerberaterin lediglich vier Rechnungen (…) eingereicht hat die im November fällig geworden sind. Der Monat November ist jedoch nicht förderfähig.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Punkt 21 (Digitalisierung):Im gesamten Förderzeitraum können keine Kosten für Digitalisierung geltend gemacht werden. Dies liegt daran das der Erwerb einer Kasse nebst Drucker nicht von Punkt 21 erfasst werden.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Danach kann nur eine Teilbewilligung erfolgen.“</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Durch Bescheid vom 1. Juli 2021 bewilligte die BRD NRW der Klägerin daraufhin Überbrückungshilfe III in Höhe von 15.019,27 € und lehnte deren Antrag im Übrigen ab. Begründet wurde die Teilablehnung bezogen auf die Kostenpositionen 01 und 10 im Kern wie folgt: „Die im Antrag (…) geltend gemachten Ausgaben unter Fixkostenpunkt Nr. 01 und 10 in den Monaten von Januar bis Juni 2021 konnten in der angegebenen Höhe weder durch Nachweise noch durch eine Erklärung Ihrerseits hinreichend plausibilisiert werden. Diese Kosten können aus den nachfolgend dargelegten Gründen nicht (vollumfänglich) berücksichtigt werden und wirken sich auf die Förderhöhe aus. (…) Die von Ihnen für die Monate von Januar bis Juni 2021 unter Punkt 01 und 10 angesetzten wurden nicht vollständig berücksichtigt, da von Ihnen hinsichtlich der Höhe keine Nachweise vorgelegt wurden und der erhebliche Anstieg der Fixkosten nicht hinreichend plausibilisiert werden konnte Ein Anspruch auf Förderung dieser Kosten entfällt. Ihr Antrag ist somit für diese Fixkosten teilweise abzulehnen. Der Bewilligungsbetrag wurde deshalb um 12.582,97 Euro reduziert. Die geltend gemachten Personalkosten wurden entsprechend der nicht anerkannten Fixkosten prozentual gekürzt.“ Bezogen auf die Kostenposition 21 wurde die Teilablehnung im Kern wie folgt begründet: „Ausweislich der vorliegenden Unterlagen haben Sie im Antrag (…) die Kosten für Investitionen für Digitalisierung (Fixkosten Nr. 21) im März 2021 geltend gemacht. Diese Kosten können aus den nachfolgend dargelegten Gründen nicht berücksichtigt werden und wirken sich auf die Förderhöhe aus. (…) Die von Ihnen für März 2021 unter Punkt 21. angesetzten Kosten für Investitionen für Digitalisierung wurden nicht berücksichtigt, weil von Ihnen keine Zwischen- oder Schlussrechnung vorgelegt werden konnte. Ein Anspruch auf Förderung dieser Kosten entfällt. Der Bewilligungsbetrag wurde deshalb um 12.582,97 Euro reduziert.“</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Am 26. Juli 2021 hat die Klägerin Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Diese begründet sie im Kern wie folgt: Die Bescheidbegründung, es seien keine Nachweise hinsichtlich der Fixkosten beigebracht worden, und generell der Vorwurf der nicht vollständigen Vorlage von Unterlagen im Antragsverfahren seien unzutreffend; alle diesbezüglichen Anfragen sei vollständig beantwortet worden, alle angeforderten Rechnungen und Nachweise seien fristgerecht vorgelegt worden. Dabei würden die im März 2021 bezahlten Buchhaltungskosten den erheblichen Anstieg unter Punkt 10 erklären. Für die Monate April bis Juni 2021 sei eine Schätzung erfolgt. Soweit die geltend gemachten Mietkosten nicht vollständig anerkannt worden seien, sei dies auch in der Sache unbegründet; die Miete bestehe aus eigentlicher Miete und Nebenkosten, was zusammen 3.911,00 € monatlich ab dem 1. Januar 2021 ergebe. Die Kosten der Digitalisierung seien durch Vorlage der Rechnung für die angeschaffte TSE-Kasse nachgewiesen worden und die diesbezügliche Ablehnung auch der Sache nach nicht gerechtfertigt. Angesichts des Ablaufs der gesetzlichen Frist für die Anschaffung einer TSE-Kasse während der Corona-Pandemie seien die Kosten coronabedingt gewesen und die Anschaffung habe auch der Existenzsicherung gedient, weil ohne eine solche ein Weiterbetrieb des Restaurants ohne Verstoß gegen strafrechtliche Vorschriften nicht möglich gewesen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Klägerin hat zuvor schriftsätzlich beantragt:</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong>„Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin unter Abänderung des Bescheids vom 01.07.2021 die restliche beantragte, jedoch abgelehnte Corona-Überbrückungshilfe III zu bezahlen.“</strong></p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen,</strong></p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">und tritt der Klage mit folgenden Argumenten entgegen: Die Klage sei bereits unzulässig, weil die Klägerin mangels Stellung eines Änderungsantrages auf den ergangenen Bescheid hin, soweit mit diesem der Antrag abgelehnt worden sei, ihre Mitwirkungspflichten verletzt habe. Die Klage sei jedenfalls auch unbegründet, weil anhand der eingereichten Nachweise keine höhere Bewilligung möglich gewesen sei als erfolgt. Die im Antrag angegebene Nettomiete sei zu kürzen gewesen; aus den vorgelegten Unterlagen ergäben sich 2.650,00 € Nettomiete für die Gaststätte und 411,00 € Nettomiete für die Wirtewohnung, insgesamt also 3.061,00 €, die auf 3.100,00 € aufgerundet worden seien. Kosten für Versicherungen, Abonnements und andere feste Ausgaben seien nicht nachgewiesen; es seien nur im Förderzeitraum fällige Fixkosten förderfähig, was auf die geltend gemachten Lohnbuchhaltungskosten nicht zutreffe; soweit Lohnbuchhaltungsrechnungen aus November 2020 vorgelegt worden seien, seien diese im Übrigen ggf. bereits durch die Novemberhilfe, die der Klägerin zusätzlich zu der streitgegenständlichen Überbrückungshilfe III bewilligt worden sei, abgegolten; im Übrigen habe die Klägerin trotz diesbezüglicher Aufforderung und eigener Mitwirkungspflicht keine weiteren Nachweise für die unter Punkt 10 des Antrages angesetzten Fixkosten erbracht, so dass solche Kosten nicht berücksichtigungsfähig seien. Die geltend gemachten Kosten der Digitalisierung seien schließlich ausweislich der maßgeblichen Förderrichtlinien nicht förderfähig, weil die Pflicht zur Anschaffung einer TSE-Kasse nicht im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehe.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte des beklagten Landes die Begründung des Bescheides der BRD NRW vom 1. Juli 2021 und die diesbezüglichen Ermessenserwägungen wie folgt ergänzt: „Bezüglich der Mietkosten sind für die Monate Februar bis Juni 2021 3.100,00 € monatlich angesetzt worden. Diese beziehen sich auf die Nettokaltmiete und die Nettonebenkosten. Im Januar 2021 ist der Betrag von 42,31 € entsprechend dem Antrag angesetzt worden. Hinsichtlich der unter Punkt 21 erfassten Kosten für die Digitalisierung konnten die Ansätze von März 2021 nicht gefördert werden. Es konnte keine Zwischen- oder Schlussabrechnung vorgelegt werden, die sich auf förderfähige Anschaffungen beziehen.“</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der BRD NRW verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klägerin bzw. deren Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil der Prozessbevollmächtigter in der Ladung hierauf hingewiesen worden ist (§§ 102 Abs. 1 und 2 VwGO). Zwar wurde die Ladung dem Prozessbevollmächtigten ausweislich dessen Empfangsbekenntnis erst am 6. September 2022 zugestellt mit der Folge, dass die sich aus § 102 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergebende Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen nicht eingehalten wurde. Jedoch hat der Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 8. September 2022 ausdrücklich auf die Einhaltung der Ladungsfrist verzichtet und dem Gericht dadurch zu erkennen gegeben, dass es auch ohne Einhaltung der Ladungsfrist verhandeln und entscheiden kann.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Statthaft ist sie in Form einer auf Erlass eines abgelehnten Verwaltungsakts gerichteten Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Fallvariante 2 VwGO – als eine solche legt das Gericht den formulierten Klageantrag aus.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Zulässigkeit der Klage scheitert dabei entgegen der Annahme des beklagten Landes nicht an fehlendem Rechtsschutzbedürfnis. Vor Anrufung der Gerichte braucht sich ein Rechtsschutzsuchender grundsätzlich nicht vergeblich an den Rechtsschutzgegner gewandt zu haben, es sei denn, das Prozessrecht sieht ausdrücklich eine Antragstellung bei der Verwaltung vor,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">vgl. Ehlers in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, vor § 40 VwGO, Rn. 82, 42. EL Februar 2022, m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Da keine Rechtsvorschrift existiert, aus der sich ergibt, dass die Klägerin vor der Ergreifung des Rechtsbehelfs der Klage, welcher in der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides des BRD NRW vom 1. Juli 2021 ausdrücklich als solcher bezeichnet ist, einen Änderungsantrag bei der BRD NRW stellen müsste, steht eine solche Option dem Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin nicht entgegen. Hinzu kommt, dass die Stellung eines Änderungsantrages und das Abwarten auf dessen Bescheidung mit dem Risiko verbunden sein kann, die Klagefrist zu versäumen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Begründet ist die Klage in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang, im Übrigen unbegründet: Soweit die Klägerin die Verpflichtung des beklagten Landes begehrt, ihr über die durch Bescheid der BRD NRW vom 1. Juli 2021 bereits bewilligte Überbrückungshilfe III hinaus weitere Überbrückungshilfe in sich aus ihrem Antrag vom 23. März 2021 ergebender Höhe zu bewilligen, steht ihr lediglich ein Anspruch auf Neubescheidung durch das beklagte Land bezogen auf die im Tenor genannten Kostenpositionen zu; im Übrigen, d.h. sowohl betreffend die im Tenor genannten Kostenpositionen über eine reine Neubescheidung hinausgehend als auch bezogen auf die weitere Kostenposition 10 (Versicherungen, Abonnements und andere feste Ausgaben) generell, steht ihr kein Anspruch gegen das beklagte Land zu.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Das beklagte Land gewährt auf der Grundlage von § 53 der Landeshaushaltsordnung und den als Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie Nordrhein-Westfalen – V A 3 – 81.11.18.02 – vom 10. Februar 2021 veröffentlichten Richtlinien des Landes zur fortgesetzten Gewährung von Überbrückungshilfe für kleine und mittelständische Unternehmen 2021 („Überbrückungshilfe III NRW“ und „Überbrückungshilfe III Plus NRW“) (nachfolgend: Förderrichtlinien – FRL) in Verbindung mit den unter A.1.(2) b) und c) der FRL benannten weiteren Bestimmungen aufgrund pflichtgemäßen Ermessens die Überbrückungshilfe in Form einer Billigkeitsleistung als freiwillige Zahlung im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Förderrichtlinien begründen damit vom Ansatz her keinen gebundenen Anspruch auf eine Billigkeitsleistung in bestimmter Höhe, sondern es besteht zusammen mit § 40 VwVfG NRW, wonach die Behörde, wenn sie ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat, ein Anspruch eines jeden Antragstellers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde über dessen Antrag. Dabei ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO die gerichtliche Kontrolle auf die Prüfung beschränkt, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen des behördlich auszuübenden Ermessens kommt den Förderrichtlinien, bei denen es sich nicht um eine Rechtsnorm, d.h. nicht einen Rechtssatz mit Außenwirkung, sondern um eine (bloße) interne Verwaltungsvorschrift handelt, die Funktion zu, für die Verteilung der Fördermittel einheitliche Maßstäbe zu setzen und dadurch das Ermessen der Bewilligungsbehörde intern zu binden und zu steuern. Als ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften unterliegen derartige Förderrichtlinien auch keiner eigenständigen richterlichen Auslegung wie Rechtsnormen. Entscheidend ist vielmehr, wie die zuständigen Behörden die Verwaltungsvorschrift im maßgeblichen Zeitpunkt in ständiger Praxis gehandhabt haben und in welchem Umfang sie infolgedessen durch den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind. Durch den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ist die Bewilligungsbehörde nämlich in ihrem rechtlichen Verhältnis zum Förderempfänger – abgesehen von den sonstigen gesetzlichen Grenzen des Verwaltungshandelns – gebunden. Wenn sich die Behörde an ihre Förderrichtlinien hält, ist sie daher durch das Gleichbehandlungsgebot verpflichtet, dies auch weiterhin zu tun, sofern nicht sachliche Gründe im Einzelfall eine Abweichung rechtfertigen oder gar gebieten. Weicht sie hingegen generell von den Förderrichtlinien ab, so verlieren diese insoweit ihre ermessensbindende Wirkung; ob das Verwaltungshandeln mit dem Gleichbehandlungsgebot vereinbar ist, beurteilt sich dann nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. April 1979 - 3 C 111/79 -, BVerwGE 58, 45 ff. = juris, Rn. 24, vom 25. April 2012 - 8 C 18/11 -, BVerwGE 143, 50 ff., Rn. 31 f., vom 17. Januar 1996 - 11 C 5/95 -, NJW 1996, 1766 f. = juris, Rn. 21, und vom 16. Juni 2015 - 10 C 15/14 -, BVerwGE 152, 211 ff., Rn. 24, jeweils m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Zur Feststellung der tatsächlich geübten Verwaltungspraxis kann dabei neben den Förderrichtlinien ergänzend auf öffentliche Verlautbarungen der Bewilligungsbehörde, der dieser übergeordneten Landesbehörde oder der aufgrund Verwaltungsvereinbarung in die Förderung eingebundene zuständige Bundesbehörde zurückgegriffen werden, wenn diese Aufschluss über die tatsächlich geübte Verwaltungspraxis geben.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 3. Dezember 2021 - 19 K 2760/20 - juris, Rn. 38; VG Halle (Saale), Urteil vom 25. April 2022 - 4 A 28/22 -, juris, Rn. 20.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Relevant insoweit sind namentlich die gemeinsam vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und dem Bundesministerium der Finanzen veröffentlichten FAQs zur „Corona-Überbrückungshilfe für kleine und mittelständische Unternehmen“ – Dritte Phase von November 2020 bis Juni 2021,</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">https://www.ueberbrueckungshilfe-unternehmen.de/UBH/Navigation/DE/Dokumente/FAQ/Ueberbrueckungshilfe-III/ueberbrueckungshilfe-lll.html,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">(nachfolgend: FAQ).</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich der Anspruch der Klägerin auf Neubescheidung bezogen auf die Kostenpositionen 01 (Mieten und Pachten für Gebäude, Grundstücke und Räumlichkeiten) und 21 (Investitionen für Digitalisierung) daraus, dass die insoweit im streitgegenständlichen Bescheid erfolgte Ablehnungsentscheidung sich als gemessen an § 114 Satz 1 VwGO ermessensfehlerhaft erweist, da das beklagte Land bzw. die BRD NRW nicht sämtliche Erwägungen in die Entscheidung hat einfließen lassen, die anhand der tatsächlich geübten Verwaltungspraxis für die Entscheidung von Relevanz waren.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Dies gilt zum einen für die Kostenposition 21, in deren Rahmen die Klägerin in dem Antrag des pD Kosten in Höhe von 2.790,00 € geltend gemacht hat und auf die diesbezüglichen Nachfragen und Aufforderungen der BRD NRW zur Vorlage von Belegen hin eine Rechnung der Fa. J. GmbH vom 00. März 2021 über eine „Aaden Kasse (Restaurant)“ – bei welcher es sich gemäß weiterer Beschreibung in der Rechnung um eine T. -TSE-Kasse handelt – nebst „H. U. “ zum Gesamtnettopreis von 2.790,00 € bzw. Gesamtbruttopreis incl. 19 % Umsatzsteuer von 3.320,10 € vorgelegt hat. Angesichts dieser Rechnungsvorlage lässt sich die Antragsablehnung nicht auf die im streitgegenständlichen Bescheid als Begründung dargelegte Erwägung stützen, zu den für März 2021 unter Punkt 21 angesetzten Kosten für Investitionen für Digitalisierung sei keine Zwischen- oder Schlussrechnung vorgelegt worden. Diese Begründung geht offensichtlich von einem falschen Sachverhalt aus und erweist sich damit, sollte sie für die getroffene Ermessensentscheidung leitend gewesen sein, als ermessensdefizitär. Sollte hingegen nicht diese im Bescheid gegebene Begründung, sondern die von dieser Begründung abweichende, in der im Verwaltungsvorgang der BRD NRW unter „Kommentare Historie“ niedergelegte Erwägung, der Erwerb einer Kasse nebst Drucker werde „nicht von Punkt 21 erfasst“, für die getroffene Ermessensentscheidung leitend gewesen sein, erweist sich diese Entscheidung auch gemessen hieran nicht als ermessensfehlerfrei. Zwar hat das beklagte Land diesen Aspekt in seiner Klageerwiderungsschrift vom 18. September 2021 wie folgt näher erläutert:„Nach den FAQ zur Corona-Überbrückungshilfe", dort Ziffer 2.4. Punkt 14, können Investitionen in Digitalisierung erstattet werden. Anhang 4 der FAQ enthält eine Beispielliste mit ansetzbaren Kosten. Zudem wird im Anhang 4 ausgeführt, dass die vorgenommene Digitalisierungsmaßnahme „primär der Existenzsicherung des Unternehmens in der Pandemie dienen" muss und „kein Abbau eines Investitionsstaus (das heißt Maßnahmen, die bereits vor Beginn der Pandemie angestanden hätten und durch diese nicht bedingt sind) sein darf. Es wird weiter ausgeführt: „Ebenso sind Maßnahmen nicht förderfähig, die zur Einhaltung bereits vor der Pandemie bestehenden gesetzlichen Vorgaben dienen. Förderfähig sind vornehmlich Kosten, die infolge von Vorschriften zur Eindämmung der Corona-Pandemie (zum Beispiel Corona-Arbeitsschutzverordnung, Homeoffice-Pflicht, Maskenpflicht und so weiter) entstehen beziehungsweise entstanden sind. [...] Eine Begründung und Einzelfallprüfung ist in jedem Fall erforderlich.“ Nach diesen Grundsätzen waren die Kosten für die Anschaffung einer TSE-Kasse (technische Sicherheitseinrichtung = TSE) nicht förderfähig. Die Pflicht, eine TSE-Kasse einzusetzen, folgt aus dem Kassengesetz und besteht bereits seit dem 01.01.2020. Die Anschaffungsfrist wurde in Nordrhein-Westfalen bis zum 31.03.2021 verlängert. Die Verpflichtung zur Einsetzung einer TSE-Kasse folgt jedoch eindeutig nicht aus den Vorschriften zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Auch sonst steht die Kassenpflicht in keinem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Die Klägerin hat auch nicht vorgetragen, inwiefern die Anschaffung einer TSE-Kasse primär der Existenzsicherung des Unternehmens· in der Pandemie dienen sollte.“Ungeachtet dessen, dass bloßes schriftsätzliches Vorbringen im gerichtlichen Verfahren ohne ausdrückliche Kennzeichnung als solche nicht als Ergänzung von Ermessenserwägungen im Sinne des § 114 Satz 2 VwGO anzusehen ist,</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 – 1 C 14/10 –, BVerwGE 141, 253 ff., Rn. 18,</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">lässt selbst diese ausführliche Erläuterung nicht hinreichend erkennen, dass die BRD NRW im Rahmen ihrer Ermessensausübung sämtliche für die zu treffende Entscheidung maßgeblichen Aspekte hinreichend gewürdigt hat. Dabei geht das Gericht mangels anderer Anhaltspunkte davon aus und die aus der Klageerwiderungsschrift zitieren Ausführungen implizieren dies auch, dass sich die tatsächlich geübte Verwaltungspraxis des beklagten Landes bzw. der BRD NRW betreffend die Erstattungsfähigkeit von sog. Digitalisierungskosten vollständig an den FRL in Verbindung mit den FAQ orientieren. In seiner Inbezugnahme der FAQ verschweigt das beklagte Land aber, dass in diesen unter Punkt 2.4., Unterpunkt 14. ausdrücklich ausgeführt ist: „Förderungsfähig sind auch Anschaffungen und Erweiterung von elektronischen Aufzeichnungssystemen im Sinne des § 146a Abgabenordnung (AO).“ Um ein solches System handelt es sich bei der TSE-Kasse. Auch erwähnt das beklagte Land die in Anhang 4 der FAQ enthaltene Beispielliste mit ansetzbaren Kosten, lässt aber das konkret Kassensysteme betreffende Beispiel „Wechsel des Kassensystems, um neue digitale Services zu ermöglichen zum Beispiel "am Tisch per Handy ordern"“ unerwähnt. Um einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG auszuschließen, hätte die BRD NRW jedenfalls zusätzlich zu den in der Klageerwiderungsschrift dargelegten Erwägungen die Möglichkeit prüfen müssen, ob es sich bei der von der Klägerin angeschafften TSE-Kasse um einen Wechsel des Kassensystems, um neue digitale Services zu ermöglichen, handelt, zumal die FAQ, wie vom beklagten Land selbst zitiert, ausdrücklich vorgeben, dass eine Begründung und Einzelfallprüfung in jedem Fall erforderlich ist. Da auch die vom Prozessbevollmächtigten des beklagten Landes in der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung, mit der ausdrücklich die für den streitgegenständlichen Bescheid maßgeblichen Ermessenserwägungen ergänzt wurden, eine dementsprechende erschöpfende Einzelfallprüfung unter Einbeziehung der Frage eines Wechsels des Kassensystems, um neue digitale Services zu ermöglichen, nicht enthält, wird das beklagte Land im Rahmen der ihr obliegenden Neuentscheidung dieser Frage nachzugehen und sodann unter Würdigung sämtlicher Einzelfallumstände unter Zugrundelegung ihrer ständigen Verwaltungspraxis eine abschließende Entscheidung über die Förderfähigkeit der von der Klägerin angeschafften TSE-Kasse zu treffen haben.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Dies gilt desweiteren für die Kostenposition 01, in deren Rahmen die Klägerin in dem von ihrer pD gestellten Antrag Mietkosten in Höhe von insgesamt 24.986,31 € geltend gemacht hat. Insoweit ergibt sich aus dem Verwaltungsvorgang der BRD NRW unter „Kommentare Historie“, dass für Januar 2021 die geltend gemachten Mietkosten von 42,31 € in voller Höhe anerkannt wurden und für die Monate Februar bis einschließlich Juni 2021 eine Teilanerkennung der geltend gemachten Kosten – für Februar 2021 waren dies 9.300,00 € für die weiteren Monate jeweils 3.911,00 € – in Höhe von monatlich 3.100,00 € erfolgt ist. Auch insoweit fehlt es jedoch an einer nachvollziehbaren, ermessensfehlerfreien Darlegung, warum die über 3.100,00 € monatlich hinausgehenden Kosten nicht anerkannt wurden.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Der insoweit auf die diesbezüglichen Nachfragen und Aufforderungen der BRD NRW zur Vorlage von Belegen hin vorgelegte Mietvertrag vom 5. August 2020 über eine Gaststätte nebst im darüber gelegenen Geschoss befindlicher Wirtewohnung weist unter § 4 Nr. 1 folgende Mietkosten aus:- Nettomiete für die Gaststätte (Wirtschafts- und Nebenräume) 2.550,00 €- zzgl. ges. Mehrwertsteuer, zurzeit 19 % 484,50 €- Vorauszahlungen auf die Nebenkosten für die Gaststätte 550,00 €- zzgl. ges. Mehrwertsteuer, zurzeit 19 % 104,50 €- Nettomiete für die Wirtewohnung 411,00 €- Vorauszahlungen auf die Nebenkosten für die Wirtewohnung <span style="text-decoration:underline"> 100,00 €</span> 4.200,00 €Ferner enthält der Mietvertrag unter § 4 Nr. 4 einen Passus, wonach sich die monatliche Nettomiete der Gaststätte (Wirtschafts- und Nebenräume) ab dem 1. Januar 2021 um 100,00 € auf 2.650,00 € erhöht und in den Folgejahren zum jeweils Jahresersten um weitere 100,00 € monatlich bis zur letzten Erhöhung ab dem 1. Januar 2027 um 100,00 € auf 3.250,00 €.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Angesichts der Vorlage dieses Mietvertrages lässt sich die Ablehnung der über die anerkannten Kosten hinausgehenden Kosten nicht auf die im streitgegenständlichen Bescheid gegebene Begründung stützen, die für die Monate von Januar bis Juni 2021 unter Punkt 01 und 10 angesetzten Kosten seien nicht vollständig berücksichtigt worden, da hinsichtlich der Höhe keine Nachweise vorgelegt worden seien und der erhebliche Anstieg der Fixkosten nicht habe hinreichend plausibilisiert werden können. Wiederum geht die Begründung offensichtlich von einem falschen Sachverhalt aus und erweist sich damit, sollte sie für die getroffene Ermessensentscheidung leitend gewesen sein, als ermessensdefizitär, denn es wurde von der pD der Klägerin in Form des Mietvertrages ein Nachweis hinsichtlich der Höhe der Mietkosten vorgelegt, der erkennbar von der BRD NRW geprüft wurde und diese veranlasste, nur einen Teil der Kosten anzuerkennen. Aus der vom Prozessbevollmächtigten des beklagten Landes in der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung, mit der ausdrücklich die für den streitgegenständlichen Bescheid maßgeblichen Ermessenserwägungen ergänzt wurden, lässt sich nunmehr auch erschließen, welche Kostenbestandteile die für Februar bis einschließlich Juni 2021 anerkannten Mietkosten in Höhe von monatlich insgesamt 3.100,00 € enthalten: Ordnet man die vom Prozessbevollmächtigten benannte „Nettokaltmiete“ als Nettomiete für die Gaststätte (Wirtschafts- und Nebenräume) gemäß Mietvertrag in Höhe von 2.550,00 € ein und erblickt man in den vom Prozessbevollmächtigten benannten „Nettonebenkosten“ die Vorauszahlungen auf die Nebenkosten für die Gaststätte in Höhe von 550,00 €, ergibt sich der Gesamtbetrag von 3.100,00 €. Da die Klägerin jedoch durch den vorgelegten Mietvertrag höhere monatliche Mietkosten als nur 3.100,00 € monatlich nachgewiesen hat, nämlich darüber hinausgehend 100,00 € zusätzliche Nettomiete für die Gaststätte (Wirtschafts- und Nebenräume) aufgrund der Mieterhöhung ab dem 1. Januar 2021, 411,00 € Nettomiete für die Wirtewohnung, 100,00 € Vorauszahlungen auf die Nebenkosten für die Wirtewohnung und im Übrigen 19 % Mehrwertsteuer auf Nettomiete und Nebenkostenvorauszahlungen für die Gaststätte, hätte es einer Befassung der BRD NRW anhand der für ihre Ermessensausübung maßgeblichen Leitlinien bedurft, warum sie diese weiteren nachgewiesenen Kosten nicht anerkennt, was jedoch – auch im Rahmen der in der mündlichen Verhandlung nachgeschobenen Ermessenserwägungen – bislang nicht erfolgt ist. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, warum die sich aus § 4 Nr. 4 des Mietvertrages ergebende Nettomieterhöhung von 100,00 € monatlich zum 1. Januar 2021 nicht förderfähig sein soll, obwohl das beklagte Land diese in ihrer Klageerwiderungsschrift vom 18. September 2021 selbst den förderfähigen Fixkosten zugerechnet hat. Auch geht das beklagte Land in der Klageerwiderungsschrift abweichend von der in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärung ihres Prozessbevollmächtigten von der Förderfähigkeit der Nettomiete für die Wirtewohnung aus, so dass es auch insoweit – und zusätzlich bezogen auf die diesbezüglichen Nebenkostenvorauszahlungen – Erwägungen anhand der tatsächlich geübten Verwaltungspraxis bedarf, warum diese förderfähig oder nicht förderfähig ist. Angesichts des bisherigen Fehlens derartiger Erwägungen wird das beklagte Land im Rahmen der anstehenden Neuentscheidung der Frage nachzugehen haben, welche der vorbenannten Kosten zusätzlich anerkannt werden können und im Falle der fehlenden Anerkennungsfähigkeit die hierfür maßgeblichen Erwägungen zu dokumentieren und darzulegen haben.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Als gemessen an § 114 Satz 1 VwGO ermessensfehlerfrei und damit rechtmäßig erweist sich hingegen die erfolgte Ablehnung bezogen auf die Kostenposition 10 (Versicherungen, Abonnements und andere feste Ausgaben) mit der Folge, dass der Klägerin insoweit kein Anspruch auf Neubescheidung zusteht.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die oben wiedergegebene, sich nicht nur auf die Kostenposition 01, sondern auch auf die Kostenposition 10 beziehende Begründung im streitgegenständlichen Bescheid, die für die Monate von Januar bis Juni 2021 unter Punkt 01 und 10 angesetzten Kosten seien nicht vollständig berücksichtigt worden, da hinsichtlich der Höhe keine Nachweise vorgelegt worden seien und der erhebliche Anstieg der Fixkosten nicht habe hinreichend plausibilisiert werden können, trifft bezogen auf die Kostenposition 10 zu und vermag deshalb die im Rahmen der Ermessensausübung insoweit getroffene Ablehnungsentscheidung zu tragen. Zwar hatte die pD der Klägerin auch bezogen auf die Kostenposition 10 auf die diesbezüglichen Nachfragen und Aufforderungen zur Vorlage von Belegen der BRD NRW hin Unterlagen vorgelegt. Allerdings bezog sich keine der vorgelegten Rechnungen auf den Förderzeitraum Januar bis einschließlich Juni 2021, sondern die vier vorgelegten Rechnungen über Buchhaltungsarbeiten datierten aus November 2020. Angesichts der Vorgabe in Nr. 2.10 der FAQ, wonach die zeitliche Zuordnung von Rechnungen nach dem Fälligkeitsprinzip zu erfolgen hat, namentlich bei einer Rechnungsstellung ohne Zahlungsziel die Fixkosten mit dem Erhalt der Rechnung als fällig gelten und betriebliche Fixkosten, die nicht im Förderzeitraum fällig sind, nicht anteilig angesetzt werden dürfen, ist die Bescheidbegründung, es seien keine Nachweise vorgelegt worden, in Verbindung mit den FAQ dahin zu verstehen, dass keine den Förderzeitraum betreffenden Nachweise vorgelegt wurden – eine dementsprechende Dokumentation ist auch am 11. Mai 2021 im Verwaltungsvorgang der BRD NRW unter „Kommentare/Historie“ erfolgt –, und ist mit diesem Verständnis rechtlich nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Ebensowenig rechtlich zu beanstanden ist die Bescheidbegründung, es seien keine Nachweise vorgelegt worden, mit Blick darauf, dass die pD der Klägerin eine BWA für März 2021 vorgelegt hat und hierzu erläutert hat, diese liefere einen Überblick über die Kosten und für die Folgemonate sei eine Orientierung sowohl an den Umsatzerlösen März 2021 als auch an den laufenden Kosten erfolgt. Da die BRD NRW die pD der Klägerin explizit aufgefordert hatte, „Rechnungen bzw. Gebührenbescheide bezogen auf das Geltendmachen der Kosten für Versicherungen, Abonnements und andere feste Ausgaben“ vorzulegen verbunden mit dem Hinweis, dass „weder selbst erstellte Kontenblätter oder Dauermietrechnungen die oben genannten Unterlagen zu ersetzen vermögen und deswegen unsererseits nicht akzeptiert werden“, bestand keine Veranlassung für die BRD NRW, die vorgelegte BWA für März 2021 als Ausgabennachweis für im Rahmen der Kostenposition 10 entstandene Kosten zu akzeptieren. In der Folge ist es auch nicht zu beanstanden, dass die BRD NRW die für die Monate April, Mai und Juni 2021 sinngemäß als Schätzkosten geltend gemachten Kosten als nicht nachgewiesen angesehen hat, denn mangels jeglichen Nachweises konkret entstandener Kosten der Kostenposition 10 in den Monaten Januar, Februar und März 2021 – für die Monate Januar und Februar 2021 hatte die pD der Klägerin ohnehin nicht einen einzigen Nachweis vorgelegt – fehlte es an jeglicher Grundlage für eine Schätzung der Kosten für die Nachfolgemonate.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei waren folgende Überlegungen für die Bildung der Kostenquote maßgeblich: Dass die Klage mit dem über einen reinen Neubescheidungsantrag hinausgehenden Antrag auf Bewilligung von Überbrückungshilfe insgesamt keinen Erfolg hatte, wertet das Gericht bereits als hälftiges Unterliegen der Klägerin mit der Folge der hälftigen Kostentragungslast (1/2 = 3/6). Innerhalb des Neubescheidungsbegehrens, welches mithin insgesamt die andere Hälfte der zu verteilenden Kostenlast ausmacht, hat der Erfolg der Klägerin einen Anteil von ca. 2/3, woraus sich ein vom beklagten Land zu tragender Kostenanteil von 2/3 x 1/2 = 2/6 = 1/3 ergibt, und der Misserfolg der Klägerin einen Anteil von ca. 1/3, was einen diesbezüglich von ihr zu tragenden Kostenanteil von 1/3 x 1/2 = 1/6 ergibt, zusammengerechnet mit dem weiteren Kostenanteil von 1/2 = 3/6 mithin insgesamt 1/6 + 3/6 = 4/6 = 2/3.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Auf die seit dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen,</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 6. Kammer - vom 27. Mai 2020 geändert und die Klage abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Kläger trägt die Kosten beider Instanzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Kläger begehrt die Bewilligung einer Dürrehilfe für das Jahr 2018.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der landwirtschaftlich tätige und Tierhaltung betreibende Kläger beantragte am 30. November 2018 die Gewährung einer Dürrehilfe für das Jahr 2018. In seinem Antrag teilte er für die Jahre 2014 bis 2016, unter Vorlage der Einkommenssteuerbescheide für die Jahre 2014 und 2015 sowie der Buchungsabschlüsse für die Wirtschaftsjahre 2014/15 bis 2016/17, durchschnittliche jährliche Gesamteinkünfte in Höhe von 49.267 EUR mit. Seinen dürrebedingten Schaden bezifferte er mit 47.207,75 EUR.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Höhe des Schadens bei selbstverbrauchtem Grundfutter berechnete der Kläger wie folgt (Bl. 40 VV):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr>
<th colspan="8" rowspan="1"></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Nutzung</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Fläche 2018 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös 2018</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Grünland</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">100,82</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">88,25 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">44,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">87.991,34</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">43.872,83</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Ackergras</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">8,22 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">92,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">54,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">7.479,21</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">4.389,97</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Gesamtschaden</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">47.207,75</p>
</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Hinsichtlich selbstverbrauchtem Grundfutter gab er Grünland-Flächen von 112,65 ha (2014/2015), 80,18 ha (2015/2016), 80,8 ha (2016/2017) sowie 100,82 ha (2018) an (Bl. 42 VV).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>In der Tabelle „Feststellung des Schadens bei Marktfrüchten“ machte der Kläger hinsichtlich der als Grünland genutzten Fläche folgende Angaben (Bl. 41 VV):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr>
<th colspan="8" rowspan="1"></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Nutzung</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Fläche 2018 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös 2018</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Grünland</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">87,75 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">7,84 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Dabei gab er für das Wirtschaftsjahr 2014/2015 eine Fläche von 7,53 ha, für 2015/2016 eine Fläche von 7,57 ha und für 2016/2017 eine Fläche von 6,28 ha an (Bl. 43 VV).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Juni 2019 seinen Antrag auf Gewährung einer Dürrehilfe mit der Begründung ab, der errechnete Schaden in Höhe von 46.459,71 EUR sei nicht größer als der durchschnittliche Cash-Flow III im vorangegangen Dreijahreszeitraum in Höhe von 47.020,72 EUR. Gesichtspunkte, die eine andere Entscheidung rechtfertigen würden, seien nicht erkennbar. Der ermittelte Schaden bei Marktfrüchten beträgt nach der Berechnung der Beklagten 1.802,74 EUR, der Schaden bei selbstverbrauchtem Grundfutter 44.656,97 EUR (Bl. 51 VV, Bl. 217, 217R d.A.). Von den 100,82 ha Grünlandfläche ordnete die Beklagte eine Fläche von 93,69 ha selbstverbrauchtem Grundfutter und eine Fläche von 7,13 ha Marktfrüchten zu. Die Flächenanteile berechnete sie durch Division der jährlichen Erlöse aus dem Verkauf von Marktfrüchten in den Jahren 2014 bis 2016 durch den jeweiligen durchschnittlichen Preis dividiert durch den jährlichen durchschnittlichen Ertrag. Von den sich danach ergebenden drei Hektarflächen der Jahre 2014 bis 2016 bildete sie den Mittelwert und ordnete diesen dem Jahr 2018 als Fläche für Marktfrüchte zu:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr>
<th colspan="5" rowspan="1"></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Jahr </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">2014 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">2015 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">2016 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">2018 </p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Erlös laut Buchabschluss</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">5.313,60 EUR</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">4.981,50 EUR</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">4.422,36 EUR</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Preis EUR/t lt. Marktreferat LWK Nds.</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">78,38 EUR</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">80,22 EUR</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">76,54 EUR</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Menge in t</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">67,79 t</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">62,10 t</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">57,78 t</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Ertrag t/ha laut Tabelle Landesstatistikamt Nds.</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">9 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">8,2 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">9,2 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Entsprechende Fläche für Futterverkauf</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">7,53 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">7,58 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">6,28 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">7,13 ha</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Notwendige Fläche Grundfutter Eigenverbrauch</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">112,65 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">80,17 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">80,80 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">93,69 ha</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Grünland gesamt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">120,18 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">87,75 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">87,08 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">100,82 ha</p>
</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Schadensberechnung der Beklagten hinsichtlich selbstverbrauchten Grundfutters stellt sich demnach, abweichend von der des Klägers, wie folgt dar:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr>
<th colspan="8" rowspan="1"></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Nutzung</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Fläche 2018 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös 2018</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Grünland</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">93,69<br>(= 100,82 - 7,13 ha)</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">88,25 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">44,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">81.768,80<br>(Statt rechnerisch richtig: 81.771,93)</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">40.770,14</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Ackergras</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">8,22 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">99,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">54,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">8.048,28</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">4.389,97</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Gesamt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">89.817,08</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">45.160,11</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Gesamtschaden</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">44.665,97</p>
</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Den Schaden hinsichtlich Marktfrüchten berechnete sie wie folgt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr>
<th colspan="8" rowspan="1"></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Nutzung</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Fläche 2018 ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlös 2018</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Grünland</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">7,13 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">87,75 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">44,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">7,84 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">4.905,15</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">3.102,69</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:justify">Schaden</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">1.802,74<br>(Statt rechnerisch richtig: 1.802,46)</p>
</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Nach ihrer Berechnung ergibt sich damit, unter Zugrundelegung der von der Beklagten verwendeten Zahlen, der von ihr angenommene Gesamtschaden in Höhe von insgesamt 46.459,43 EUR.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Gegen die Ablehnung der von ihm beantragten Dürrehilfe hat der Kläger am 23. Juli 2019 Klage erhoben. Zur Begründung führte er aus, der Schaden betrage abweichend von der Berechnung der Beklagten 47.207,75 EUR und liege damit über dem durchschnittlichen Cash-Flow III. Ihr müsse ein Rechenfehler unterlaufen sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 25. Juni 2019 aufzuheben und sie zu verpflichten, ihm eine Billigkeitsleistung in Höhe von 41,57664 % von 47.207,75 Euro zu bewilligen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat vor dem Verwaltungsgericht beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>die Klage abzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Zur Erwiderung auf die Klage führte sie Folgendes aus: Im Rahmen der Antragsprüfung habe sie festgestellt, dass der Kläger im Referenzzeitraum regelmäßig Grundfutter verkauft habe. Zur Ermittlung des Schadens habe sie daher errechnet, von welchem Teil der (vom Kläger angegebenen) Grundfutterfläche Futter verkauft worden sei und von welchem Teil die Tiere versorgt worden seien. Der verkaufte Teil sei als Marktfrüchte zu erfassen, nur der verfütterte Teil als Grundfutter Eigenverbrauch. Anhand des Verkaufserlöses und des Standardpreises laut Liste sei der Durchschnittsertrag und die dafür notwendige Fläche für den Referenzzeitraum ermittelt worden. In der Tabelle „Ertrag Grundfutter Eigenverbr.“ sei dann diese Fläche abgezogen und in der Tabelle „Ertrag Marktfrüchte“ mit den Durchschnittserträgen erfasst worden. Für das Dürrejahr 2018 sei ebenfalls die Durchschnittsfläche des Referenzzeitraums berücksichtigt worden. Die Schadenshöhe habe sich daher aufgrund der unterschiedlichen Preisvorgaben für selbstverbrauchtes Grundfutter und Marktfrüchte verringert. Die Notwendigkeit für die unterschiedliche Ermittlung der Erlöse liege darin, dass für das Grundfutter Eigenverbrauch die Ertragsdifferenz (fehlende Grundfuttermenge) im Dürrejahr 2018 zur Versorgung der Tiere zu den zu dieser Zeit höheren Preisen habe nachgekauft werden müssen. Die Berechnung des Schadens im Dürrejahr basiere auf der betrieblichen Situation vor der Dürre. Abstrakt betrachtet kaufe der Betrieb das Grundfutter intern von der „Verkaufsfläche“ im Dürrejahr um einen Teil der fehlenden Grundfuttermenge von der Fläche für das nichtvorhandene selbstverbrauchte Grundfutter auszugleichen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat mit der angegriffenen Entscheidung vom 27. Mai 2020 den Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2019 aufgehoben und sie verpflichtet, dem Kläger eine Billigkeitsleistung im Rahmen der Dürrebeihilfe für das Antragsjahr 2018 in Höhe von 19.627,40 EUR zu bewilligen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Das der Beklagten bei der Entscheidung über die Gewährung einer Dürrebeihilfe zustehende Ermessen sei entsprechend (dem Entscheidungstenor) reduziert. Zwar sei nicht zu beanstanden, dass die Beklagte zur Berechnung des Schadens und des Cash-Flow III die Nrn. 4.2, 5.1 und 5.2 der Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern (VV) sowie Nr. 5.3 des Durchführungserlasses herangezogen habe, jedoch sei die konkrete Anwendung nicht fehlerfrei erfolgt. Denn die Unterscheidung zwischen Marktfrüchten und Grundfutter Eigenverbrauch für das Dürrejahr 2018 sei willkürlich. Nach Nr. 4.1 VV könnten bestimmte in ihrer Existenz gefährdete Unternehmen gefördert werden. Eine Existenzgefährdung in diesem Sinn liege nach Nr. 4.2 vor, wenn nach Inanspruchnahme anderer Fördermittel die Weiterbewirtschaftung bis zum nächsten Wirtschaftsjahr nicht gewährleistet sei. Dies sei in der Regel der Fall, wenn der gemäß Nrn. 5.1 und 5.2 VV errechnete Schaden größer sei als der durchschnittliche Cash-Flow III im vorangegangenen Dreijahreszeitraum. Dementsprechend sei der Kläger in seiner Existenz gefährdet gewesen, weil der Cash-Flow III 47.020,72 EUR und der Schaden jedenfalls 47.207,75 EUR betrage. Nach Nr. 5.1 Satz 3 bis 5 VV erfolge die Berechnung des Schadens auf der Ebene des einzelnen Empfängers. Alternativ könne der Schaden auf Basis von regionalen Referenzwerten berechnet werden. Zur Ermittlung des Schadens gemäß Nr. 3.1 und 3.3 der Rahmenrichtlinie könnten die Länder das Berechnungsschema der Tabellen 1-3 der Anlage verwenden. Nach Nr. 3 Buchstabe f) Satz 1 des Merkblatts seien die für den Antrag anzuwendenden Preise einheitlich festgelegt worden. Danach ergebe sich ein Schaden des Klägers von jedenfalls 47.207,75 EUR:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp" style="margin-left:18pt">
<tr>
<th colspan="5" rowspan="1"></th>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="2" valign="top">
<p style="text-align:center"> Anbau/ Nutzung</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="2" valign="top">
<p style="text-align:center">Fläche 2018</p>
</td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erntemengen in dt/ha</p>
</td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Preise</p>
</td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">Erlöse</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">ø d. 3 Vorjahre</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">2018 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">2018 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">2018 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">ø aus 3 Vorj.<br>(Fläche x ø Erntemengen d. 3 Vorj. x Preis 2018)</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:center">2018<br>(Fläche 2018 x Erntemenge 2018 x Preis 2018)</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Grünland</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">100,82</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">88,25 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">44,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">87.994,94 €</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">43.872,83 €</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Ackergras</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">8,22 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">99,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">54,00 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">9,89 </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">8.048,28 €</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">4.389,97 €</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Summe </p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">101,91</p>
</td>
<td colspan="4" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">96.043,22 €</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">48.262,80 €</p>
</td>
</tr>
<tr>
<td colspan="7" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:left">Schaden</p>
</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">
<p style="text-align:right">47.780,42 €</p>
</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Der Schaden sei höher als er vom Kläger im Antrag angegeben worden sei. Denn die durchschnittlichen Erlöse aus den drei Vorjahren seien beim Grünland um 3,60 EUR höher anzusetzen. Wie der Kläger unter Zugrundelegung derselben Zahlen nur Erlöse von 87.991,34 EUR ausgerechnet habe, sei nicht nachvollziehbar. Zudem sei der Schaden auch deshalb höher, weil die Beklagte beim Ackergras eine durchschnittliche Ertragsmenge der drei Vorjahre von 99 dt/ha zugrunde gelegt habe, der Kläger in seinem Antrag nur 92 dt/ha. Dass sich ein höherer Schaden ergebe, als der Kläger in seinem Antrag angegeben habe, sei aber unerheblich. Denn dem Gericht sei es verwehrt, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine höhere Dürrebeihilfe aufgrund des Schadens zuzusprechen, der über 47.207,75 EUR hinausgehe, weil der anwaltlich vertretene Kläger ausdrücklich eine Billigkeitsleistung in Höhe von 41,57664 % von 47.207,75 EUR beantragt habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Demgegenüber habe die Beklagte zu Unrecht einen Schaden von nur 44.459,71 EUR angenommen. Die Unterscheidung zwischen dem Schaden Marktfrüchte und Grundfutter Eigenverbrauch für das Dürrejahr 2018 sei willkürlich und deshalb ermessensfehlerhaft. Für die Annahme, der Kläger würde auch im Dürrejahr 2018 einen Teil seines Grundfutters als Marktfrüchte verkaufen, fehle es an einem sachlichen Grund. Dass der Kläger im Referenzzeitraum Silage und Heu verkauft habe, vermöge eine andere Beurteilung nicht zu rechtfertigen. Denn bei der veräußerten Menge handele es sich um einen sehr geringen Anteil des aus dem Grünland gewonnenen Ertrags. Nach der Berechnung der Beklagten habe dieser Anteil in 2014 etwa 6 % (7,53 ha von 120,18 ha), in 2015 etwa 9 % (7,58 ha von 87,75 ha) und in 2016 etwa 7 % (6,28 ha von 87,08 ha) ausgemacht. Es sei kein plausibler Grund ersichtlich, auch für 2018 davon auszugehen, dass der Kläger einen Teil seines Ertrags, nämlich den von einer Fläche von 7,13 ha, verkauft habe. Nach den von der Beklagten zugrunde gelegten Zahlen betrage die Erntemenge für 2018 lediglich 44 dt/ha. Der durchschnittliche Ertrag aus dem Referenzzeitraum betrage dagegen 88,25 dt/ha. Es sei lebensfremd, bei einer (bezogen auf die Gesamtfläche von 100,82 ha) um 4.461,29 dt geringeren Ertragsmenge davon auszugehen, dass der Kläger einen Ertrag von 313,72 dt (= 7,13 ha * 44 dt/ha) verkaufe, wenn er den nicht verkauften Teil im Referenzzeitraum (der um mehr als 4.000 dt höher gewesen sei) als selbstverbrauchtes Grundfutter verwendet habe. Dann sei für das Jahr 2018 davon auszugehen, dass er den gesamten Ertrag selbst verbraucht habe. So habe es der Kläger auch im Antrag angegeben, indem er die gesamte Grünlandfläche in der Tabelle für selbstverbrauchtes Grundfutter angesetzt habe. Für die Annahme eines Ertrags für Marktfrüchte in 2018 gebe es keine Anhaltspunkte. Dass die Beklagte davon ausgehe, dass der Kläger das fehlende Grundfutter intern von den Erträgen der Marktfrüchte „kaufen“ können würde, wäre allenfalls dann plausibel, wenn der Ertrag Marktfrüchte mindestens dem entsprechen würde, was dem Kläger als Grundfutter Eigenbedarf fehle. Das sei aber nicht der Fall.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Aber selbst wenn die Unterscheidung zwischen dem Schaden Marktfrüchte und dem Schaden Grundfutter Eigenverbrauch für das Dürrejahr 2018 nicht willkürlich wäre, sei - selbständig tragend - mit 47.102,98 EUR gleichwohl ein Schaden gegeben, der den Cash-Flow III von 47.020,72 EUR übersteige. Die von der Beklagten gewählte Berechnung der Fläche 2018 sei nicht nachvollziehbar, insbesondere warum die Beklagte die durchschnittlichen Erlöse des Referenzzeitraums anhand der Fläche 2018 multipliziert mit den durchschnittlichen Erntemengen des Referenzzeitraums multipliziert mit dem durchschnittlichen Preis des Referenzzeitraums berechnet habe. Denn aus den Buchabschlüssen des Klägers ergebe sich bereits die konkrete Höhe der jeweiligen Erlöse für 2014 bis 2016. Dass die Beklagte von diesen betriebsbezogenen Zahlen nicht den Durchschnitt genommen habe, weiche von ihrer ständigen Praxis ab, die konkreten Daten des Referenzzeitraums zugrunde zu legen, und sei nicht nachvollziehbar, zumal die Ergebnisse kaum voneinander abwichen: Nach der Berechnung der Beklagten ergäben sich durchschnittliche Erlöse im Referenzzeitraum in Höhe von 4.905,15 EUR. Der Durchschnitt der tatsächlichen Erlöse betrage 4.905,82 EUR. Obgleich die Art der Berechnung auf die Höhe der durchschnittlichen Erlöse im Referenzzeitraum keinen nennenswerten Einfluss habe, ergäben sich in Bezug auf die „Entspr. Fl. Ha Futterverkauf“ 2018 erhebliche Unterschiede, die sich auf die Höhe des Schadens auswirkten. Ausgehend von den durchschnittlichen Erlösen 2014 bis 2016 geteilt durch den durchschnittlichen Ertrag für 2014 bis 2016 geteilt durch den Preis 2018 betrage die Fläche 2018 nur 5,65 ha. Somit ergebe sich für 2018 nur ein Erlös von 2.459,90 EUR (= Fläche 2018 multipliziert mit der Erntemenge 2018 multipliziert mit dem Preis 2018) und ein Schaden von 2.445,92 EUR (= 4.905,82 EUR - 2.459,90 EUR). Die Berechnung der Fläche 2018 mit 5,65 ha entspreche, was die Rechenschritte angehe, zwar der der Beklagten für die Jahre 2014, 2015 und 2016. Der Unterschied bestehe jedoch - unabhängig vom Ergebnis - darin, dass der oben genannten Berechnung (durch das Gericht) möglichst wenig standardisierte Referenzwerte zugrunde lägen, um die Lage des zu beurteilenden Unternehmens möglichst betriebsbezogen darzustellen. Dies sei bei der Berechnung der Beklagten nicht der Fall. Die Beklagte berechne für jedes einzelne Jahr die „Entspr. Fl. Ha Futterverkauf“, um hiervon für die Fläche 2018 den Durchschnitt zu bilden. Der Kläger habe auf der „Entspr. Fl. Ha Futterverkauf“ 2014, 2015 und 2016 aber nicht tatsächlich das Grundfutter angebaut, das er verkauft habe. Bei der durch die Beklagte errechneten Fläche handele es sich vielmehr um einen fiktiven Wert. Ein sachlicher Grund sei hierfür - jedenfalls für die Jahre 2014 bis 2016 - nicht zu sehen. Dass die Größe der Grünlandfläche des Klägers im Referenzzeitraum variiert habe, ändere daran nichts. Denn die Beklagte habe den Referenzzeitraum 2014 bis 2016 gerade deshalb gewählt, um mit konkreten Daten arbeiten zu können, die für alle Betriebe gleichermaßen vorlägen. Es seien keine sachlichen Gründe ersichtlich, von dieser sachgerechten Praxis abzuweichen. Der Praxis der Beklagten entspreche es, dass nach der Regelung in Nr. 5.1 Satz 4 VV, die sie zur Schadensberechnung heranziehe, die Berechnung des Schadens auf der Ebene des einzelnen Empfängers erfolge. Zwar könne der Schaden nach Nr. 5.1 Satz 5 VV alternativ auf Basis von regionalen Referenzwerten berechnet werden. Dies gelte aber vorrangig für den Fall, dass eine Berechnung des Schadens auf Ebene des Betriebs nicht möglich sei, weil der Betroffene keine entsprechenden Daten (zum Beispiel in den Buchabschlüssen) bereithalte. Dass für die Berechnung der Erlöse 2018 auf standardisierte Werte zurückgegriffen werde, sei hingegen nicht zu beanstanden. Denn für 2018 seien betriebsindividuelle Daten nicht vorhanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 8. Juli 2020 die vom Verwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassene Berufung eingelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Sie bringt zur Begründung ihrer Berufung vor, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die Unterscheidung zwischen Marktfrüchten und selbstverbrauchtem Grundfutter nicht willkürlich sei. Diese sei mit der sich anschließenden Berechnung aufgrund des Vermerks vom 26. Oktober 2018 einheitlich und sachgerecht für diese besonderen Fälle in Abstimmung mit dem Niedersächsischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz von der Beklagten angewandt worden. Die Unterscheidung sei notwendig, weil der in der Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern beschriebene Rechengang der besonderen Situation der Tierhalter nicht gerecht werde. Auch sei sie - die Beklagte - nicht von einem Futterverkauf des klägerischen Betriebs in 2018 ausgegangen. Vielmehr sei die Grundfutterfläche in der Berechnung kalkulatorisch ermittelt worden, die für die Versorgung der Tiere im Referenzzeitraum benötigt worden sei. Würde beim Kläger die gesamte Grundfutterfläche für die Berechnung herangezogen, käme es zu einer Überkompensation des Schadens. Dies sei jedoch von der Beklagten in Abstimmung mit dem Ministerium nicht gewollt gewesen, sondern die Unterscheidung von Marktfrüchten und selbstverbrauchtem Grundfutter. Das Verwaltungsgericht lasse daher den Sinn und Zweck der Billigkeitsleistung sowie deren Auslegung und die tatsächliche Verwaltungspraxis der Beklagten außer Betracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Auch der Rechenweg sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts logisch und nachvollziehbar sowie einheitlich angewandt worden und daher auch nicht willkürlich. Die Ermittlung der Flächen, die in jedem Jahr des Referenzzeitraums notwendig seien, könne nur jährlich vorgenommen werden, um die betrieblichen Grundlagen wie Flächenausstattung und Durchschnittsertrag pro ha im Referenzzeitraum 2014 bis 2016 zugrunde legen zu können. Das Verwaltungsgericht habe bei der Berechnung der Fläche für Marktfrüchte mit 5,65 ha einen gravierenden Fehler gemacht, indem es ausgehend von den Durchschnittserlösen 2014 bis 2016 geteilt durch die Durchschnittserträge 2014 bis 2016 den Preis für 2018 statt den Durchschnittspreis für die Jahre 2014 bis 2016 zugrunde gelegt habe. Lege man die Durchschnittspreise zugrunde, betrage die Fläche 7,13 ha. Verkaufserlöse und Fläche würden aus der Buchführung übernommen. Da landwirtschaftliche Betriebe ihre Erträge der Grundfutterflächen nicht ermitteln würden, da ja auch nicht gewogen werden könne, wieviel ein Rind auf der Wiese gefressen habe, könnten für die Erträge je ha nur die Standartwerte aus der Tabelle des Landesstatistikamtes zugrunde gelegt werden. Sie - die Beklagte - habe aufgrund pflichtgemäßen Ermessens und nach Maßgabe der Rahmenrichtlinie, der Verwaltungsvereinbarung bzw. der Vorgaben des Ministeriums ermessensfehlerfrei entschieden, um eine einheitliche Praxis für alle Antragsteller zu gewährleisten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 27. Mai 2020 zu ändern und die Klage abzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Die zulässige Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts hat Erfolg. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat der Kläger keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 25. Juni 2019 über die Ablehnung der von ihm beantragten Dürrehilfe und Gewährung einer Billigkeitsleistung im Rahmen des Dürrehilfeprogramms 2018 in Höhe von 19.627,40 EUR. Denn die Beklagte hat die Dürrehilfe gegenüber dem Kläger rechtsfehlerfrei mit der Begründung ablehnt, der errechnete Schaden sei nicht größer als der durchschnittliche Cash-Flow III im vorangegangen Dreijahreszeitraum.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Rechtsgrundlage für die von dem Kläger begehrte Bewilligung einer Dürrehilfe für das Antragsjahr 2018 ist der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) i.V.m. den im Folgenden dargestellten Richtlinien, Erlassen und Vereinbarungen des Bundes und des Landes Niedersachsen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Das Land Niedersachsen gewährt unter Beteiligung des Bundes Dürrehilfen für das Antragsjahr 2018 nach Maßgabe der vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erlassenen nationalen Rahmenrichtlinie zur Gewährung staatlicher Zuwendungen zur Bewältigung von Schäden in der Land- und Forstwirtschaft verursacht durch Naturkatastrophen oder widrige Witterungsverhältnisse vom 26. August 2015 - Rahmenrichtlinie - (BAnz AT 31.8.2015 B4 im Folgenden: RRL) und der auf dieser Rahmenrichtlinie beruhenden Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern über die Beteiligung des Bundes an Hilfsprogrammen der Länder für landwirtschaftliche Unternehmen, die durch die Folgen der Dürre 2018 in ihrer Existenz gefährdet sind vom 8. Oktober 2018 bzw. vom 18. April 2019 (im Folgenden: VV). Die Rahmenrichtlinie findet auf die Verwaltungsvereinbarung vollumfänglich Anwendung, es sei denn, dass die Vereinbarung strengere Bestimmungen enthält (Nr. 2 Abs. 1 VV). Nach der Rahmenrichtlinie und der Verwaltungsvereinbarung besteht kein Rechtsanspruch auf die Zuwendung in Form der Dürrehilfe (Ziff. 1.2 Satz 1 RRL, Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 VV). Vielmehr entscheidet die jeweilige Bewilligungsstelle nach Antragstellung aufgrund pflichtgemäßen Ermessens und nach Maßgabe der Rahmenrichtlinie und der Verwaltungsvereinbarung unter dem Vorbehalt der Verfügbarkeit entsprechender Haushaltsmittel (Ziff. 1.2 Sätze 2 und 3 RRL, Nr. 2 Abs. 2 Satz 3 VV).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Der Kläger hat daher lediglich einen Anspruch auf eine einzelfallbezogene Ermessensentscheidung der Beklagten über seinen Antrag auf Gewährung einer Dürrehilfe (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 13). Eine solche ist von der Beklagten mit dem angegriffenen Bescheid auch erfolgt, ohne dass sie dabei die Grenzen einer rechtmäßigen Ermessensausübung überschritten hätte (§ 1 NVwVfG i.V.m. § 40 VwVfG, § 114 VwGO). Die Ablehnung der Dürrehilfe aufgrund der Verwaltungsvereinbarung sowie der sie konkretisierenden Erlasse des Niedersächsischen Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (im Folgenden: ML) steht in Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz, insbesondere hat die Beklagte die gesetzlichen Grenzen eingehalten, die Art. 3 Abs. 1 GG ihrer Ermessensausübung zieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 14).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Regelungen wie die Rahmenrichtlinie und die Verwaltungsvereinbarung sowie die diesbezüglichen Erlasse des ML begründen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als bloße ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften, anders als Gesetze und Rechtsverordnungen, nicht schon durch ihr Vorhandensein subjektive Rechte und damit verbundene Ansprüche der Zuwendungsbewerber auf Gewährung der Zuwendung (vgl. BVerwG, Urteile vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 15, vom 23.4.2003 – 3 C 25.02 –, juris Rn. 14 und vom 17.1.1996 – 11 C 5.95 –, juris Rn. 21, jeweils m.w.N.; Senatsurteil vom 3.2.2021 – 10 LC 88/20 –, juris Rn. 23 m.w.N.). Die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften unterliegen auch keiner eigenständigen richterlichen Auslegung wie Rechtsnormen (BVerwG, Urteile vom 16.6.2015 – 10 C 15.14 –, juris Rn. 24, sowie vom 17.1.1996 – 11 C 5.95 –, juris Rn. 21). Die Gerichte haben solche Verwaltungsvorschriften vielmehr als Willenserklärung der obersten Fachbehörde des Landes unter Berücksichtigung des wirklichen Willens des Erklärenden und der von der obersten Fachbehörde gebilligten tatsächlichen Handhabung durch die Bewilligungsbehörden des Landes auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 2.2.1995 – 2 C 19.94 –, juris Rn. 18; Senatsurteil vom 21.02.2006 – 10 LB 45/03 –, juris Rn. 31; Bayerischer VGH, Beschluss vom 17.11.2010 – 4 ZB 10.1689 –, juris Rn. 19 f.). Eine über die den Verwaltungsvorschriften zunächst nur innewohnende verwaltungsinterne Bindung hinausgehende anspruchsbegründende Außenwirkung wird nur durch den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) vermittelt (BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 15), dies zudem nur in der Ausprägung, die die Verwaltungsvorschriften durch die ständige Verwaltungspraxis gefunden haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.01.1996 – 11 C 5.95 –, juris Rn. 21). Maßgeblich ist mithin, wie die zu ihrer Anwendung berufene Behörde die Verwaltungsvorschrift im maßgeblichen Zeitpunkt in ständiger, vom Urheber der Verwaltungsvorschrift gebilligter oder jedenfalls geduldeter Praxis gehandhabt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 2.2.1995 – 2 C 19.94 –, juris Rn. 18; Senatsurteil vom 3.2.2021 – 10 LC 88/20 –, juris Rn. 23 m.w.N.). Eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift stellt dabei ein Indiz für das Vorhandensein einer entsprechenden Verwaltungspraxis einer Behörde dar und führt, sofern keine abweichende und gebilligte bzw. geduldete Praxis vorhanden ist, in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG zu einer Selbstbindung des Ermessens (vgl. Senatsbeschluss vom 27.3.2014 – 10 LB 94/12 –, juris Rn. 39).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Subventionsgeber nicht nur ein gleichheitsgerechtes Verteilungsprogramm zu erstellen, sondern überdies begründet er zugunsten jedes Zuwendungsbewerbers einen Anspruch darauf, entsprechend dem aufgestellten Verteilungsprogramm behandelt zu werden (BVerwG, Urteil vom 8.4.1997 – 3 C 6.95 –, juris Rn. 20; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 27.5.2020 – 2 LC 21/17 –, juris Rn. 27). Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17.6.2020 – 1 BvR 1134/15 –, juris Rn. 9; vgl. auch Senatsurteil vom 21.8.2018 – 10 KN 10/18 –, juris Rn. 76 m.w.N.). Er gilt sowohl für Belastungen als auch für Begünstigungen. Verboten ist auch ein gleichheitswidriger Ausschluss, bei dem eine Begünstigung dem einen Personenkreis gewährt, dem anderen aber vorenthalten wird (BVerfG, Beschluss vom 21.6.2011 – 1 BvR 2035/07 –, juris Rn. 63 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 16). Der Gleichheitssatz ist allerdings nicht bei jeder Differenzierung verletzt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.03.1994 – 1 BvL 8/85 –, juris Rn. 54). Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 –, juris Rn. 121). Dabei ist es grundsätzlich die Sache des Normgebers, zu entscheiden, welche Merkmale er bei dem Vergleich von Lebenssachverhalten als maßgebend ansieht, um sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14.07.2011 – 1 BvR 932/10 –, juris Rn. 33). Art. 3 Abs. 1 GG verbietet dem Normgeber aber einerseits, Sachverhalte ungleich zu behandeln, wenn sich die Differenzierung sachbereichsbezogen nicht auf einen vernünftigen oder sonst einleuchtenden Grund zurückführen lässt, und andererseits, Art und Ausmaß tatsächlicher Unterschiede sachwidrig außer Acht zu lassen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14.7.2011 – 1 BvR 932/10 –, juris Rn. 33). Damit ist der Gleichheitssatz etwa dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (BVerfG, Beschluss vom 21.6.2011 – 1 BvR 2035/07 –, juris Rn. 64; BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 17).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Danach ist der Normgeber bei der Entscheidung darüber, welche Personen oder Unternehmen durch finanzielle Zuwendungen des Staates gefördert werden sollen, weitgehend frei (BVerfG, Urteil vom 20.4.2004 – 1 BvR 905/00 –, juris Rn. 61; BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 18; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 –, juris Rn. 125). Zwar darf der Staat seine Leistungen nicht nach unsachlichen Gesichtspunkten, nicht "willkürlich" verteilen: Subventionen müssen sich gemeinwohlbezogen rechtfertigen lassen, sollen sie vor dem Gleichheitssatz Bestand haben. Sachbezogene Gesichtspunkte stehen jedoch dem Normgeber in sehr weitem Umfang zu Gebote; solange die Regelung sich auf eine der Lebenserfahrung nicht geradezu widersprechende Würdigung der jeweiligen Lebensverhältnisse stützt, insbesondere der Kreis der von der Maßnahme Begünstigten sachgerecht abgegrenzt ist, kann sie verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden (BVerfG, Urteil vom 20.4.2004 – 1 BvR 905/00 –, juris Rn. 61; BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 18 m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 –, juris Rn. 125). Diese Grundsätze gelten auch für Förderrichtlinien (BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 18 m.w.N.) und sonstige ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Die hier maßgeblichen Förderrichtlinien und Verwaltungsvorschriften sind wie folgt ausgestaltet:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Nach Ziff. 1.1 RRL werden die Zuwendungen zum (Teil-)Ausgleich von Schäden land- und forstwirtschaftlicher Unternehmen gewährt, die unmittelbar durch Naturkatastrophen verursacht wurden. Nach Nr. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Nr. 5.1 Satz 1 VV werden aufgrund der Verwaltungsvereinbarung Billigkeitsleistungen zum Teilausgleich von Schäden landwirtschaftlicher Unternehmen gewährt, die unmittelbar durch die Dürre entstanden sind, womit nach Nr. 2 Abs. 1 Satz 1 VV die Dürre im Jahr 2018 gemeint ist. Gemäß Nr. 4.1 VV können bestimmte in der Existenz gefährdete Unternehmen gefördert werden. Eine Existenzgefährdung liegt nach Nr. 4.2 Abs. 1 Satz 1 VV vor, wenn nach Inanspruchnahme anderer Fördermittel die Weiterbewirtschaftung bis zum nächsten Wirtschaftsjahr nicht gewährleistet ist. Dies ist in der Regel der Fall, wenn der gemäß Nr. 5.1 und 5.2 errechnete Schaden größer ist als der durchschnittliche Cash-Flow III im vorangegangenen Dreijahreszeitraum (Nr. 4.2 Abs. 1 Satz 2 VV). Das Unternehmen muss seine Existenzgefährdung aufgrund der Dürre anhand geeigneter Unterlagen darlegen (Nr. 4.2 Abs. 3 VV).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Die hier streitgegenständliche Schadensberechnung wird nach den ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften im Wesentlichen wie folgt durchgeführt: Gemäß Nr. 5.1 VV wird der Schaden aus der Summe der Einkommensminderung in der Boden- und Tierproduktion sowie aus den sonstigen Kosten, die infolge der Dürre entstanden sind (z.B. Futterzukäufe) berechnet. Es gelten die Ziff. 3.1 und 3.3 RRL. Die Berechnung des Schadens erfolgt auf der Ebene des einzelnen Empfängers. Alternativ kann der Schaden auf Basis von regionalen Referenzwerten berechnet werden. Zur Ermittlung des Schadens gemäß Ziff. 3.1 und 3.3 RRL können die Länder das Berechnungsschema der Tabellen 1 bis 3 der Anlage verwenden. Gemäß Ziff. 3.1 Abs. 2 Satz 2 RRL errechnet sich die Einkommensminderung eines betroffenen Produktionsverfahrens aus dem im Basiszeitraum (vgl. Nr. 2.4) erzielten durchschnittlichen Hektarerlös HEB (durchschnittlicher Hektarertrag Basiszeitraum x durchschnittlicher Preis Basiszeitraum), dem Hektarerlös im Schadjahr HES (Hektarertrag x Preis) und der Anbaufläche im Schadjahr AS nach folgender Formel: Einkommensminderung des jeweiligen Produktionsverfahrens = (HEB minus HES) x AS. Alternativ kann der Schaden auch auf Basis von Durchschnitts- oder regionalen Referenzwerten ermittelt werden (Ziff. 3.1 Abs. 2 Satz 3 RRL). Nach Ziff. 2.4 RRL ist die durchschnittliche Jahreserzeugung der im vorangegangenen Dreijahreszeitraum durchschnittlich erzielte Naturalertrag oder der Dreijahresdurchschnitt auf der Grundlage des vorhergehenden Fünfjahreszeitraums unter Ausschluss des höchsten und des niedrigsten Wertes. Die Tabellen 1 bis 3 der Anlage zur VV sehen - vereinfacht - folgendes Schema zur Schadensberechnung vor:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr><th colspan="8" rowspan="1"></th></tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center"> Nutzung</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Fläche</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös 2018</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Weiter konkretisiert werden die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften durch verschiedene Erlasse des ML. Die Beklagte hat unter anderem den Durchführungserlass des ML zur Gewährung von Billigkeitsleistungen zur Bewältigung von Dürreschäden 2018 in landwirtschaftlichen Unternehmen aus Niedersachen und Bremen vom 1. November 2018 sowie das zugehörige Merkblatt vom 12. November 2018 vorgelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>Nach Nr. 2.1 Satz 2 des Erlasses werden die Dürreschäden, wie sie konkret auftreten, nämlich im Pflanzen- und Futterbau ausgeglichen. Schäden in der Tierhaltung werden nicht berücksichtigt (Nr. 2.1 Satz 3). Als durch die Dürre unmittelbar verursachter und eingetretener Schaden gilt der Rückgang der Jahreserzeugung eines landwirtschaftlichen Unternehmens um mehr als 30 Prozent gegenüber der durchschnittlichen Jahreserzeugung (Naturalertrag) im vorangegangenen Dreijahreszeitraum (Nr. 2.2). Von einer Existenzgefährdung wird gemäß Nr. 3.2 Satz 3 des Erlasses ausgegangen, wenn der Schaden größer ist als der Durchschnitts-Cash-Flow III in den vergangenen Jahren (VV 4.2, vgl. Anlage zur Bund-Länder-Vereinbarung). Der Gesamtschaden wird aus der Summe der Einkommensminderung in der Bodenproduktion berechnet (Nr. 5.3 Satz 1 des Erlasses). Es gelten die Ziff. 3.1 und 3.3 RRL (Nr. 5.3 Satz 2 des Erlasses). Der Schaden wird gemäß Nr. 5.3 Satz 3 des Erlasses auf Basis von durch das Niedersächsische Landwirtschaftsministerium festgesetzten regionalen Referenzwerten berechnet. Falls betriebsindividuelle Buchführungsdaten vorliegen, sind diese gemäß Nr. 5.3 Satz 4 des Erlasses vorrangig heranzuziehen. Sofern ein Antragsteller anhand belastbarer Unterlagen einen größeren Verlust nachweist, kann dieser anerkannt werden (Nr. 5.3 Satz 5 des Erlasses). Unter der durchschnittlichen Jahreserzeugung sind gemäß Nr. 5.3 Satz 7 des Erlasses die mit den Flächen gewichteten Naturalerträge in der Bodenproduktion des Betriebes zu verstehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Nach Nr. 3 Buchst. b) Satz 1 des Merkblatts erfolgt die Ermittlung des Schadens durch Gegenüberstellung der durchschnittlichen Erlöse der drei Vorjahre und des Schadensjahres je Hektar multipliziert mit der Fläche im Schadjahr. Gemäß Nr. 3 Buchst. b) Satz 2 des Merkblatts sind die Jahre 2014, 2015 und 2016 heranzuziehen. Zur Berechnung der Erlöse sind die Erträge der Buchführung zu entnehmen (sofern vorhanden) und mit den standardisierten Preisen aus der Datei „Dürre 2018 - Ø Erträge und Preise Regional 14-16+18“ zu multiplizieren (Nr. 3 Buchst. c) des Merkblatts). Falls die durchschnittliche Erzeugung der Vorjahre und die diesjährige Einbuße sich nicht belastbar benennen lassen, was insbesondere bei Futterbaubetrieben und bei Mastbetrieben mit Eigenmischung oftmals der Fall ist, gilt folgendes: In allen Bereichen, wo belastbare betriebsindividuelle Erntedaten nicht vorliegen, sind die in der Datei „Dürre 2018 - Ø Erträge und Preise Regional 14-16+18“ genannten Referenzwerte in den Antrag zu übernehmen (Nr. 3 Buchst. d) Abs. 1 Satz 1 des Merkblattes). Ausgewiesen sind nur die wichtigsten Kulturen, für weitere Kulturen sind die Angaben bei der Bewilligungsstelle zu erfragen (Nr. 3 Buchst. d) Abs. 1 Satz 3 des Merkblatts). Für Früchte, die auf dem Betrieb in den Vorjahren nicht angebaut wurden, wird gemäß Nr. 3 Buchst. d) Abs. 3 des Merkblatts für den Durchschnittsertrag der Vorjahre der Referenzwert unterstellt. Ein höherer Ernteverlust kann anerkannt werden, wenn die Buchführung oder Lieferscheine diesen eindeutig belegen oder wenn ein Gutachten eines vereidigten amtlichen Sachverständigen vorliegt (Nr. 3 Buchst. e) Satz 1 des Merkblatts). Die für den Antrag anzuwendenden Preise wurden einheitlich festgelegt (Nr. 3 Buchst. f) Abs. 1 des Merkblatts). Sofern ein Antragsteller anhand belastbarer Zahlen einen größeren monetären Verlust ausweist, kann dieser gemäß Nr. 3 Buchst. f) Abs. 2 Satz 1 des Merkblatts anerkannt werden. Preissteigerungen werden dabei schadensmindernd berücksichtigt (Nr. 3 Buchst. f) Abs. 3 Satz 1 des Merkblatts). Sofern beim ökologischen Landbau keine betrieblichen Daten vorliegen, ist nach Nr. 3 Buchst. k) des Merkblatts die Vorgehensweise bei der Landwirtschaftskammer zu erfragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Weichen die Erlasse des Landes von der Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern ab, so kann der Antragsteller hieraus keine subjektiven Rechte herleiten. Denn die Verwaltungsvereinbarung hat keine unmittelbare Außenwirkung und wirkt insbesondere nicht unmittelbar auf das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten. Etwaige Abweichungen von der Verwaltungsvereinbarung seitens der Beklagten wirken sich lediglich im Verhältnis zwischen Bund und Land aus. Denn die Verwaltungsvereinbarung haben der Bund und die Länder geschlossen, um die finanzielle Beteiligung des Bundes an dem Dürrehilfsprogramm zu regeln. Subventionsgeber ist hier aber allein das Land Niedersachsen, welches die Zuwendung in eigener Zuständigkeit unter finanzieller Beteiligung des Bundes gewährt (vgl. Vorbemerkung Abs. 3 RRL und Nr. 1 VV). Dass sich der Bund über die Verwaltungsvereinbarung an der Dürrehilfe beteiligt, macht diese nicht zu einer Zuwendung des Bundes. Soweit jedoch die Erlasse des ML nicht von der Verwaltungsvereinbarung abweichen, ist davon auszugehen, dass auch diese das Ermessen der Beklagten im Land Niedersachsen lenken soll. Dementsprechend bestimmt Nr. 1.2 a) des Erlasses des Landes durch das ML vom 1. November 2018 ausdrücklich, dass die Billigkeitsleistung zur Bewältigung der Dürreschäden 2018 auch nach Maßgabe der Verwaltungsvereinbarung gewährt wird (Senatsurteil vom 3.2.2021 – 10 LC 150/20 –, juris Rn. 29).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Nach diesen Vorgaben konnte die Beklagte ohne nach § 114 Satz 1 VwGO zu berücksichtigende Ermessenfehler und insbesondere unter Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes die von dem Kläger beantragte Dürrehilfe für das Jahr 2018 mit der Begründung ablehnen, sein Schaden sei nicht größer als der Cash-Flow III, weshalb von einer Existenzgefährdung nicht auszugehen sei. Ermessensfehlerfrei und insbesondere nicht willkürlich hat die Beklagte einen Schaden des Klägers berechnet, der entgegen seiner Auffassung nicht größer ist als der Cash-Flow III in Höhe von 47.020,72 EUR. Ihr Vorgehen hält sich im Rahmen der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften und der Verwaltungspraxis der Beklagten, ohne dabei den Gleichheitssatz zu verletzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Die Überprüfung der Anwendung von Richtlinien - wie der hier streitgegenständlichen Verwaltungsvorschriften - durch die Verwaltungsgerichte hat sich an den Maßstäben zu orientieren, die in § 114 VwGO für die Fälle gesetzt sind, in denen die Behörden durch Rechtsvorschriften des materiellen Rechts ermächtigt worden sind, nach ihrem Ermessen zu handeln (BVerwG, Urteil vom 26.4.1979 – 3 C 111.79 –, juris Rn. 25; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17.5.2018 – 3 LB 5/15 –, juris Rn. 34; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 14.3.2018 – 10 C 1.17 –, juris Rn. 13, 28). Gemäß § 114 Satz 1 VwGO prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist, soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln. Die Vorschrift legt damit den begrenzten gerichtlichen Prüfungsumfang bei Ermessensentscheidungen fest (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.5.2016 – 10 C 8.15 –, juris Rn. 13). Dementsprechend ist den Gerichten verwehrt, eigenes Ermessen an die Stelle des behördlichen Ermessens zu setzen (BVerwG, Urteil vom 27.5.2010 – 5 C 8.09 –, juris Rn. 25). Damit ist die behördliche Entscheidung auch nur anhand derjenigen Erwägungen zu überprüfen, die die Behörde tatsächlich angestellt hat, wozu in Einklang mit § 114 Satz 2 VwGO auch nachgeschobene Erwägungen zählen (BVerwG, Urteil vom 11.5.2016 – 10 C 8.15 –, juris Rn. 13 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>Ein nach § 114 Satz 1 VwGO beachtlicher Ermessensfehler liegt hier nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>Nach den oben dargestellten verschiedenen Verwaltungsvorschriften wird der Schaden entsprechend der Verwaltungspraxis der Beklagten grundsätzlich berechnet, indem die durchschnittliche Erntemenge der Jahre 2014 bis 2016 (= Vorjahre) mit dem durchschnittlichen Preis der Vorjahre und der Fläche im Jahr 2018 multipliziert wird (= durchschnittlicher Erlös der Vorjahre) und von dem Ergebnis die Erntemenge im Jahr 2018 multipliziert mit dem Preis aus dem Jahr 2018 sowie der Fläche im Jahr 2018 (= Erlös 2018) abgezogen wird. Danach würde sich ein Schaden des Klägers in Höhe von lediglich 27.872,58 EUR ergeben:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr><th colspan="8" rowspan="1"></th></tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Nutzung</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Fläche 2018 ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös 2018</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Grünland</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">100,82</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">88,25 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">44,00 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">7,84 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">9,89 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">69.755,34</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">43.872,83</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Ackergras</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">8,22 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">99,00 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">54,00 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">7,84 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">9,89 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">6.380,04</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">4.389,97</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Gesamtschaden</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">27.872,58</p></td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>Von diesem Schema weicht die Beklagte in Abstimmung mit dem ML entsprechend dem Vermerk vom 26. Oktober 2018 (Bl. 136 d.A.) in ihrer Verwaltungspraxis allerdings in den Fällen selbst erzeugter und im Betrieb verbrauchter Futtermittel zugunsten dieser Antragsteller ab, indem sie auch hinsichtlich des durchschnittlichen Erlöses der Vorjahre auf den Preis im Jahr 2018 abstellt. Hintergrund dieser Privilegierung bestimmter Antragsteller ist nach dem Vorbringen der Beklagten und dem Vermerk vom 26. Oktober 2018, dass in diesen Konstellationen der im Jahr 2018 dürrebedingt gestiegene Marktpreis zu einer Erhöhung des Schadens führt, weil die Ertragsdifferenz (fehlende Grundfuttermenge) für die Versorgung der Tiere zu dem im Jahr 2018 höheren Preis nachgekauft werden musste und sich nicht - wie bei der Veräußerung des Grundfutters - lediglich die Erlösdifferenz verringert hat. Mit diesen Erwägungen liegen der unterschiedlichen Behandlung nicht wesentlich gleicher Sachverhalte, die den Kläger zudem begünstigt, sachliche Gründe zugrunde und ist die abweichende Behandlung von Betrieben, die Grundfutter für den Eigenverbrauch produzieren, rechtlich nicht zu beanstanden (vgl. Senatsurteil vom 21.4.2022 – 10 LC 204/20 –, juris Rn. 54 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><table class="RspIndent">
<tr><th colspan="3" rowspan="1"></th></tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">1.</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">Die Beklagte konnte im Rahmen dieser Privilegierung tierhaltender Betriebe auch ermessensfehlerfrei lediglich bei einem Teil (93,69 ha) der vom Kläger als Grünland genutzten Fläche von insgesamt 100,82 ha den höheren Preis aus dem Jahr 2018 für den durchschnittlichen Erlös der Vorjahre zugrunde legen. Denn auch dieser weiteren Differenzierung hinsichtlich der Verwertung der Erträge (Grundfutter Eigenverbrauch / Marktfrüchte) liegen sachliche Erwägungen zugrunde und sie entspricht der vom ML gebilligten Verwaltungspraxis der Beklagten.</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat insoweit ermittelt, welcher Anteil der Grundfutterfläche im Referenzzeitraum 2014 bis 2016 für den Verkauf von Grundfutter und welcher Anteil zur Versorgung von Tieren genutzt worden war, um den dürrebedingten Ertragsrückgang im Bereich selbstverbrauchtes Grundfutter, dem die Privilegierung durch Zugrundelegung des höheren Preises aus dem Jahr 2018 zu Gute kommen soll, zu berechnen. Den nach ihrer Berechnung im Referenzzeitraum durchschnittlich für Marktfrüchte genutzten Anteil an der Grünlandfläche hat sie von der Gesamtgrünlandfläche des Jahres 2018 dann abgezogen und für den dortigen Ertrag den geringeren Preis des Referenzzeitraums für Marktfrüchte zugrunde gelegt. Hierdurch solle eine „Überkompensation des Schadens“ vermieden werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>Auch diese Erwägungen der Beklagten sind sachgerecht und nachvollziehbar, insbesondere nicht willkürlich. Denn würde demgegenüber - wie nach der Auffassung des Klägers - für seine gesamte, zur Erzeugung selbstverbrauchten Grundfutters genutzte Grünlandfläche des Jahres 2018 zur Ermittlung der Erlöse im Referenzzeitraum der höhere Preis aus dem Jahr 2018 berücksichtigt, würde der Kläger den höheren Ausgleich des Schadens (durch Berücksichtigung der Preise des Jahres 2018) auch für den Ertragsrückgang erhalten, den er selbst im Jahr 2018 durch eine Vergrößerung der für selbstverbrauchtes Grundfutter genutzten Fläche bereits kompensiert hat. Dafür ist die von der Beklagten vorgenommene Privilegierung nicht vorgesehen, wie aus dem Vermerk vom 26. Oktober 2018 hervorgeht. Dies wird veranschaulicht durch das dortige Beispiel, wonach ein Betrieb im Vorjahr 1.000 Heuballen für die Versorgung der eigenen Tiere erzeugt hatte, im Dürrejahr 2018 allerdings nur 700 und er daher gezwungen ist, 300 Heuballen zu dem höheren Preis nachzukaufen. Nutzt der Betrieb allerdings im Dürrejahr 2018 - wie der des Klägers - einen gegenüber dem Vorjahr größeren Anteil seiner Grünlandfläche zur Erzeugung von Grundfutter für den Eigenverbrauch, so muss er keine 300 Heuballen nachkaufen, sondern eine im Verhältnis der Flächen- bzw. Nutzungserweiterung geringere Menge. Hier liegt der Schaden des Klägers hinsichtlich der im Referenzzeitraum für Marktfrüchte durchschnittlich genutzten Fläche von 7,13 ha vielmehr darin, dass er das Grundfutter auf dieser Fläche im Jahr 2018 wegen der Dürre nicht mehr als Marktfrüchte veräußert, sondern für seine eigenen Tiere verwendet und dementsprechend keinen Erlös aus der Veräußerung von Marktfrüchten erzielt hat. Zugleich hat der Kläger damit einen Teil des dürrebedingten Schadens bei selbstverbrauchtem Grundfutter kompensiert. Den insoweit verbleibenden Schaden hat die Beklagte sachgerecht durch den Vergleich der durchschnittlichen Erlöse in den drei Vorjahren mit dem “fiktiven“ Erlös des Jahres 2018 ermittelt. Die Beklagte konnte ermessensfehlerfrei annehmen, es komme zu einer Überkompensation des Schadens, wenn bei einem solchen Antragsteller dennoch die gesamte Fläche mit im Beispielsfall zusätzlich 300 Heuballen und dem höheren Preis aus dem Jahr 2018 im Rahmen der Schadensberechnung zugrunde gelegt würde, obwohl er keine oder nur eine geringere Menge nachkaufen musste. Diese Annahme ist sachlich gerechtfertigt und entspricht auch der von der Beklagten mit der Unterscheidung zwischen selbstverbrauchtem Grundfutter und Marktfrüchten bezweckten Privilegierung von Betrieben, die Grundfutter für den Eigenverbrauch produzieren und dieses im Dürrejahr aufgrund des Ertragsrückgangs zu dem hohen Preis nachkaufen mussten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p>Damit ist nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte zur Vermeidung dieser Überkompensation des Schadens bei der Nutzung der Grünlandfläche unterschiedliche Preise für den Ertrag im Referenzzeitraum zugrunde legt, nämlich zum einen für den Anteil der Grünlandfläche, der auch im Referenzzeitraum für selbstverbrauchtes Grundfutter genutzt, und zum anderen für den Anteil, dessen Ertrag veräußert wurde. Die Relevanz der in den Vorjahren für den Futterbau genutzten Flächen geht auch aus der dem Vermerk vom 26. Oktober 2018 angefügten Beispielsrechnung (Bl. 137 d.A.) hervor, in der hinsichtlich des durchschnittlichen Erlöses der Vorjahre auf die durchschnittliche Fläche der Vorjahre abgestellt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>Anders als das Verwaltungsgericht meint, hat die Beklagte dabei auch nicht angenommen, dass der Kläger auch im Jahr 2018 einen Teil seines Ertrages aus der Grünlandfläche veräußert habe. Vielmehr hat sie dem Kläger lediglich die Privilegierung insoweit versagt, als er im Jahr 2018 einen weiteren Anteil seiner Grünlandfläche für selbstverbrauchtes Grundfutter genutzt hat, der zuvor für die Produktion von Marktfrüchten verwendet worden war. Anderenfalls würde der Ertragsrückgang bei dem selbstverbrauchten Grundfutter nicht zutreffend und zu hoch abgebildet, weil der durchschnittliche Ertrag in den Jahren 2014 bis 2016 anhand einer Fläche berechnet würde, die in diesen Jahren nicht für die Erzeugung von Grundfutter für den Eigenverbrauch verwendet worden war. Denn dies hätte zur Folge, dass auch der Ertrag auf der für Marktfrüchte genutzten Fläche als Ertrag Grundfutter Eigenverbrauch gewertet und insoweit der höhere Preis aus dem Jahr 2018 berücksichtigt würde. Der Erlösrückgang wäre dann größer als nach dem verhältnismäßigen Rückgang des Ertrages Grundfutter Eigenverbrauch gerechtfertigt und der Schaden würde mehr als in anderen Fällen ausgeglichen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><table class="RspIndent">
<tr><th colspan="3" rowspan="1"></th></tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">2.</td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top">Auch die konkrete Ermittlung des im Jahr 2018 als für die Erzeugung von selbstverbrauchtem Grundfutter zu wertenden Anteils der Grünlandfläche durch die Beklagte ist nicht zu beanstanden.</td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat zur Ermittlung dieser Fläche die den Buchführungsunterlagen des Klägers zu entnehmenden Erlöse für die Veräußerung von Heu bzw. Silage in den Jahren 2014 bis 2016 jeweils durch den Referenzpreis des Jahres (EUR/t) dividiert und ist so zu der jährlich produzierten Menge in Tonnen gekommen. Diese hat sie wiederum durch den durchschnittlichen Referenzertrag des jeweiligen Jahres (t/ha) dividiert, was zu der im jeweiligen Jahr für den Anbau für Marktfrüchte genutzten Fläche in Hektar geführt hat (7,53 ha, 7,58 ha und 6,28 ha). Aus diesen 3 Flächenanteilen in den Jahren 2014 bis 2016 hat sie den Mittelwert gebildet und diesen als Flächenanteil (7,13 ha) von der Gesamtgrünlandfläche im Jahr 2018 (100,82 ha) abgezogen, um den im Jahr 2018 als für Grundfutter Eigenverbrauch genutzten Anteil an der Grünlandfläche (100,82 ha – 7,13 ha = 93,69 ha) zu erhalten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p>Diese nachvollziehbare und in sich schlüssige Berechnungsart weist zu Lasten des Klägers keine Ermessensfehler auf, verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz und ist insbesondere auch nicht willkürlich. Insbesondere musste die Beklagte bei ihrer Berechnung nicht, wie das Verwaltungsgericht meint, die jeweiligen Erlöse der Referenzjahre durch den Preis im Jahr 2018 statt durch die Referenzpreise der jeweiligen Vorjahre dividieren. Denn der Preis im Jahr 2018 war in den Vorjahren nicht zu erzielen und lag daher auch nicht den von dem Kläger erwirtschafteten Erlösen des jeweiligen Referenzjahres zugrunde. Bei Berücksichtigung des Preises aus dem Jahr 2018 statt der Preise der Referenzjahre würde die für Marktfrüchte genutzte Fläche zu klein berechnet, in der Berechnung des Verwaltungsgerichts mit 5,65 ha. Zwar handelt es sich bei den von der Beklagten in den Referenzjahren ermittelten Flächen für Marktfrüchte, wie das Verwaltungsgericht anführt, um fiktive Werte, weil die Beklagte für die Preise Referenzwerte angesetzt hat. Der dies rechtfertigende sachliche Grund, den das Verwaltungsgericht nicht zu erkennen vermochte, ist allerdings darin zu sehen, dass den Buchführungsunterlagen des Klägers die von ihm tatsächlich erzielten Preise (EUR/t) nicht zu entnehmen sind und die Beklagte somit auf die durchschnittlichen Preise der Vorjahre zurückgreifen musste. Insbesondere wäre der vom Verwaltungsgericht vorgenommene Rückgriff auf den Preis im Jahr 2018 - wie bereits ausgeführt - weder sachgerecht noch würde er zu einem Ergebnis führen, das die tatsächlichen Gegebenheiten zutreffender abbilden würde. Zudem handelt es sich auch bei dem Preis des Jahres 2018 um einen Referenzwert (Bl. 226R d.A.). Dass die Berechnungsweise der Beklagten sachgerecht und insbesondere nicht willkürlich ist, zeigt sich auch daran, dass der Kläger in seinem Antrag auf Dürrehilfe selbst die Größe seiner für Marktfrüchte genutzten Fläche in den Jahren 2014 bis 2016 mit 7,53 ha, 7,57 ha und 6,28 ha angegeben hat, was ebenfalls zu dem von der Beklagten errechneten Mittelwert von 7,13 ha führt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p>Wäre die Beklagte, was möglicherweise die im Jahr 2018 für selbstverbrauchtes Grundfutter anzusetzende Fläche zutreffender abgebildet hätte, von dem Durchschnitt der vom Kläger für die Vorjahre angegebenen Teilflächen Grundfutter Eigenverbrauch (112,65 ha, 80,18 ha und 80,8 ha) ausgegangen, wäre die Fläche im Jahr 2018 mit 91,21 ha, und folglich auch der Schaden, noch kleiner gewesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p>Nach der ermessensfehlerfrei praktizierten Berechnung des Schadens durch die Beklagte ergibt sich demnach aufgrund des Ertragsrückgangs bei selbstverbrauchtem Grundfutter im Jahr 2018 gegenüber den Vorjahren ein Schaden in Höhe von 44.660,10 EUR:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr><th colspan="8" rowspan="1"></th></tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Nutzung</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Fläche 2018 ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös 2018</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Grünland</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">93,69 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">88,25 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">44,00 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">9,89 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">9,89 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">81.771,93</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">40.770,14</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Ackergras</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">8,22 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">99,00 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">54,00 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">9,89 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">9,89 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">8.048,28</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">4.389,97</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Gesamt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">89.817,08</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">45.160,11</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Gesamtschaden</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">44.660,10</p></td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p>Soweit für die Grünlandfläche von der Beklagten ermessensfehlerfrei nicht der höhere Preis für selbstverbrauchtes Grundfutter zugrunde gelegt und von einer Privilegierung abgesehen wurde, ergibt sich, entsprechend der grundsätzlich nach den Verwaltungsvorschriften vorgesehenen Berechnung, ein Schaden in Höhe von 1.802,46 EUR:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_70">70</a></dt>
<dd><table border="1" class="Rsp">
<tr><th colspan="8" rowspan="1"></th></tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Nutzung</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Fläche 2018 ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge Ø 3 Vorjahre dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erntemenge 2018 dt/ha</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise Ø 3 Vorjahre EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Preise 2018 EUR/dt</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös Ø 3 Vorjahre</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">Erlös 2018</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Grünland</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">7,13 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">87,75 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">44,00 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">7,84 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">9,89 </p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">4.905,15</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:right">3.102,69</p></td>
</tr>
<tr>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:justify">Schaden</p></td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="1" rowspan="1" valign="top"> </td>
<td colspan="2" rowspan="1" valign="top"><p style="text-align:center">1.802,46</p></td>
</tr>
</table></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_71">71</a></dt>
<dd><p>Nach alledem ist der dürrebedingte Gesamtschaden in Höhe von 46.462,56 EUR (= 44.660,10 EUR + 1.802,46 EUR) geringer als der Cash-Flow III mit 47.020,72 EUR und das Verwaltungsgericht hat die Beklagte daher zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger die von ihm begehrte und vor dem Verwaltungsgericht beantragte Dürrehilfe in Höhe von 41,57664 % von 47.207,75 EUR zu gewähren. Dies gilt unabhängig davon, ob der aufgrund der Referenzwerte ermittelte durchschnittliche Erlös der Vorjahre in Höhe von 4.905,15 EUR oder - wie das Verwaltungsgericht anführt - der aufgrund der Buchführungsunterlagen ermittelbare Erlös in Höhe von 4.905,82 EUR anzusetzen ist, da sich die Werte lediglich um 0,67 EUR unterscheiden und sich die Differenz infolgedessen nicht auszuwirken vermag.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_72">72</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_73">73</a></dt>
<dd><p>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_74">74</a></dt>
<dd><p>Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007229&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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|
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346,797 | lsgbw-2022-09-15-l-6-vg-114822 | {
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<p><strong> Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. März 2022 wird zurückgewiesen.</strong></p><p><strong>Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.</strong></p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td> </td><td> </td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Klägerin begehrt die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund behaupteter psychischer Gewalt durch ihren Ex-Mann während der Ehe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Sie ist 1961 in C geboren und hat dort von 1968 bis 1978 die Schule besucht, die sie mit der mittleren Reife abschloss. Nach einer Ausbildung zur Grundschullehrerin an der Fachhochschule war sie an einer Körperbehindertenschule tätig, zuletzt seit 1998 in D (vgl. Anamnese H, Gutachten im SB-Verfahren, Blatt 79 VerwAkte). Sie hat eine 1983 geborene Tochter. Bei ihr ist seit dem 18. September 2015 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 16. Mai 2019 beantragte sie bei dem Regierungspräsidium S die Gewährung von Leistungen nach dem OEG, welches den Antrag an das Landratsamt B (LRA) weiterleitete. Sie machte geltend, dass im Januar 2017 die Situation zu Hause völlig eskaliert sei. Sie habe ihren Ehemann an diesem Tag wieder damit konfrontiert, dass er psychisch sehr krank sei. Daraufhin sei er immer aggressiver und wütender geworden, habe sie angeschrien, dass er gesund sei und habe sie mit böser scharfer Stimme beschimpft. Er sei auf sie losgegangen, sodass sie zwischen Schrank und Sessel im Vorraum des Schlafzimmers im Obergeschoß gefallen und zu Boden gestürzt sei. Sie habe sich wieder hochgerappelt, wie erstarrt dagestanden und nicht fassen können, was passiert sei. Er sei wieder auf sie losgegangen und habe sie wieder zu Boden geschmissen. Er habe dabei wie von Sinnen geschrien und sie beschuldigt. Als sie wieder auf die Füße gekommen sei, sei er wieder auf sie zugekommen und habe sie attackiert, dass sie in Richtung Badezimmer auf den Badboden gefallen sei. Sie habe nichts sagen, sich nicht wehren können und sei wie erstarrt gewesen. Sie habe sich wiederum hochgerappelt, sei die Treppe hinunter in den Keller gegangen. Dort sei sie zusammengebrochen und irgendwann habe ihre Tochter angerufen, die ihr gesagt habe, dass sie „den Mann“ anzeigen müsse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Neben diesem schlimmsten körperlichen Angriff habe sie ein 20-jähriges Martyrium durch ihren Ehemann erlebt. Dieses sei gekennzeichnet gewesen durch Erniedrigungen, Abwertungen, Beschimpfungen, Aggressivität und Bestrafung. Seine ständigen Schuldzuweisungen hätten zunehmend ihre realistische Wahrnehmung und ihr Selbstbild zerstört. Seine Veränderung habe an dem Tag begonnen, als sie zu ihm gezogen sei. Aus einem charmanten, aufmerksamen Menschen sei ein gefühlskaltes Monster geworden. Lange habe er sein positives Bild noch aufrechterhalten, wenn sie draußen unter anderen Menschen gewesen seien. Zunehmend sei aber auch das soziale Umfeld von ihm irritiert worden. Zuhause sei er kalt und berechnend gewesen, habe Macht und Kontrolle ausgeübt. Er habe sie beherrscht, sie habe versucht, ihn zu retten und habe immer mehr das Gefühl verloren, was normal sei. Nach Aussage seines behandelnden Arztes habe er pathologische Ängste und Zwänge, sie halte ihn für einen Psychopathen und Soziopathen, der selber glaube, gesund und normal zu sein. Sie habe sich im Laufe der Jahre immer mehr zurückgezogen und sei regelrecht verstummt. Erst während der Klinikaufenthalte sei ihr Stück für Stück das Ausmaß der Katastrophe ihres Zustandes bewusst geworden. Sie sei seelisch abgestorben, es habe sich für sie wie ein jahrelanges seelisches Abschlachten angefühlt. In mühsamen und sehr schmerzvollen Monaten in der Klinik habe ein Begreifen ihrer selbst und ein Heilungsprozess eingesetzt, der bis heute andauere. Es sei ein Trauma mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden. Mittlerweile könne sie die Zusammenhänge der schweren psychischen Verletzungen wie die psychischen Symptome verstehen und erkennen. Dass sie so viele Jahre in dieser Beziehung verharrt sei, entsetze sie noch heute zutiefst. Der Angriff von Januar 2017 sei der Gipfel der erlebten Gewalt durch ihren Ehemann gewesen. Kurz darauf habe sie fluchtartig die Wohnung verlassen und sei seitdem nicht mehr dorthin zurückgekehrt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Durch die massive Belastung und die jahrelange psychische Gewalt habe sie zunehmend Angst und Panikattacken sowie Konzentrationsschwierigkeiten gehabt, die sich im Beruf ausgewirkt hätten. Angst habe immer mehr ihr Leben bestimmt, 2013 habe sie ihre Funktion im Leitungsteam der Schule nicht mehr ausüben können, später habe sie nicht mehr als Klassenlehrerin arbeiten können. Seit 28. August 2017 sei sie krankgeschrieben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Zur Akte gelangte der Entlassungsbericht der Aklinik S1 über die stationäre Behandlung vom 12. August bis 8. November 2018, in dem als Diagnose eine PTBS genannt wurde. Die Klägerin habe angegeben, dass sich in den letzten drei Wochen immer häufiger schreckliche Erinnerungsbilder im Zusammenhang mit erlebter emotionaler und körperlicher Gewalt durch ihren Ehemann aufgedrängt hätten. Die Intensität der Bilder habe stetig zugenommen und sei unerträglicher geworden. Die schrecklichen Bilder träten auch nachts auf, sie habe Angst, dass ihr Ehemann bei ihr auftauchen und sie bedrohen könnte. Sie glaube, dass ihr Leben nie mehr so werde, wie es einmal gewesen sei, verstehe selbst nicht, weshalb sie sich von ihrem zweiten Ehemann nicht früher getrennt habe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Ein erster stationärer Aufenthalt in der Klinik habe von April bis Juni 2010 stattgefunden. Davor sei schon eine sechsmonatige ambulante Psychotherapie bei einer psychotherapeutisch tätigen Heilpraktikerin durchgeführt worden, die Gespräche hätten ihr gut getan, das Grundproblem sei aber nicht verstanden worden. Während der Behandlung 2010 habe sie ihre beruflichen Belastungen zum Thema gemacht, nicht aber ihr Hauptproblem, die seit 20 Jahren bestehende Ehe mit ihrem psychisch kranken Ehemann. In dieser Zeit habe sie seelische und zuletzt auch körperliche Gewalt erlebt. 2016 habe sie sich von ihrem Ehemann getrennt. Nachdem sei ihn mit seinen körperlichen Erkrankungen konfrontiert habe, sei er ausgerastet und auch körperlich übergriffig geworden. In diesem Zusammenhang hätten sich neben einem schweren depressiven Krankheitsbild auch Symptome im Sinne einer Reaktion auf eine schwere Belastung entwickelt. Vom 28. August bis 13. Dezember 2017 sei ein erneuter Aufenthalt in der Klinik erfolgt, die anschließende ambulante Psychotherapie sei nach fünf Sitzungen abgebrochen worden, weil die Therapeutin keine Kassenzulassung gehabt habe. Die Entlassung 2017 sei mit guter Prognose erfolgt, es sei ihr recht gut gegangen, sie habe drei Monate gearbeitet. Nach einem Termin beim Rechtsanwalt, der ihr entsprechende Fragen bezüglich ihres Ehemannes gestellt habe, habe sie begonnen alles aufzuschreiben. Hierbei hätten sich die vielen Mosaiksteine zu einem Bild zusammengefügt, das zu erfassen die Klägerin vorher nicht in der Lage gewesen sei. Im Folgenden sei es immer häufiger zum Wiedererleben erfahrener seelischer Gewalt in Kombination mit massiven Ängsten und Panikattacken gekommen, so dass sie überhaupt nicht zur Ruhe und zu sich habe finden können.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Die Diagnose einer PTBS sei anhand der erhobenen klinischen Kriterien gestellt worden. Seit der letzten Entlassung aus der stationären Behandlung seien keine ernsthaften körperlichen Erkrankungen aufgetreten. Bei der Klägerin habe sich nach vielen Jahren emotionaler Gewalt in ihrer zweiten Ehe erst zeitversetzt nach der Trennung ein schweres posttraumatisches Krankheitsbild entwickelt. Der therapeutische Fokus habe über weite Strecken auf Stabilisierung und emotionaler Entlastung gelegen. Die Klägerin sei in Ostdeutschland aufgewachsen, dort zur Leistungsschwimmerin ausgebildet worden und es gewohnt gewesen, über eigene Belastungsgrenzen und Bedürfnisse hinwegzugehen, was das masochistische Aushalten erlebter Gewalt in der Ehe verstehbar mache, ebenso wie der Umstand, dass sie wegen ihres zweiten Mannes ihr Leben im Osten hinter sich gelassen habe, um mit ihm gemeinsam in Westdeutschland zu leben. Durch erlebte Entwurzelung und Verlust der sozialen Identität habe das gemäß dem mütterlichen Modell vollzogene abhängig-duldende Verhalten sowie die masochistisch anmutende Leistungs- und Aushaltementalität auch identitätsstiftenden Charakter gehabt und die Klägerin in ihrer misslichen Situation gefangen gehalten. Erst mit der Verinnerlichung des geschaffenen Krankheitsverständnisses sei es der Klägerin möglich geworden, sich von Schuld- und Schamgefühlen sowie ihren Rettungsphantasien (den kranken Ehemann retten zu müssen) zu distanzieren, was auch sukzessive eine bessere Akzeptanz des Verlustes ermöglichte.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Im Entlassungsbericht über die stationäre Behandlung 2017 wurde dargelegt, dass der Wunsch der Klägerin, über die erlebte körperliche und emotionale Gewalt zu sprechen und diese schwierige Lebensphase rückblickend verstehen zu können, der therapeutischen Zielsetzung entsprochen habe, die zugrundeliegende Psychodynamik klärend und deutend zu bearbeiten und auch eine Trauerarbeit zu ermöglichen, eine zukunftsorientierte Veränderungsmotivation aufzubauen und letztendlich eine lebensgeschichtliche Integration der erlebten Belastungen zu erreichen. Bereits im Aufnahmegespräch habe die Klägerin benennen können, dass sie beim vorhergehenden Aufenthalt zu einer solchen intensiven Hinwendung an das Erlebte noch nicht bereit gewesen sei, dies beim zweiten stationären Aufenthalt aber für sinnvoll und notwendig erachte. In der Suche der Klägerin nach einer „Erklärung“ für ihr langes Verharren in der ehelichen Beziehung habe sie über lange Strecken der Behandlung die Beziehung zu den Eltern in idealisierend anmutender Weise beschrieben. Nach einem synkopalen Ereignis habe sie dann auch über die Angst des Kindes anlässlich der Gewaltszenen zwischen den Eltern gesprochen. Sie sei gelähmt gewesen, habe sich bei gelegentlichen Ausschlenkern des Vaters in ihre Richtung nicht wehren können und habe gespürt, dass wenn sie sich gegen den Vater wehren würde, sie die Mutter noch weiter gefährde. Ein unbewusstes dysfunktionales Muster sei ihr dadurch bewusst geworden, dass es ihr nicht gelungen sei, in der tanztherapeutischen Einzelbehandlung motorische Gesten des Sich-Wehrens auszuführen, sondern stattdessen eine heftige Erschöpfung verspürt habe. In den gebundenen affektmotorischen Äußerungen und in der Erschöpfung zeigten sich die abgewehrten Aggressionen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>Das LRA zog die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Stuttgart (StA – Az.: 22 Js 24432/17) bei. Danach erstattete die Klägerin am 30. Januar 2017 Strafanzeige gegen ihren Ehemann H1 und gab ab, dass sie im Rahmen von Streitigkeiten vom diesem dreimal umgestoßen worden und nach hinten gefallen sei. Durch die Stürze sei sie glücklicherweise nicht verletzt worden. Auf ein Platzverweisverfahren angesprochen habe die Klägerin dies abgelehnt, da sie ab dem nächsten Monat eine eigene Wohnung habe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>In ihrer Geschädigtenvernehmung gab sie an, dass sie seit 2. Februar 2008 mit ihrem Ehemann verheiratet sei. Es sei schon zu Beginn der Ehe zu psychischem Stress gekommen, dieser habe schon begonnen, als sie am 1. August 1998 zu ihm gezogen sei. Ihr Mann fühle sich ständig angegriffen, ein persönliches Gespräch mit ihm sei nie möglich gewesen, er habe immer aggressiv darauf reagiert. Im Juli 2016 sei eine gemeinsame Paartherapie begonnen worden. Hierbei seien bei ihrem Mann seine Ängste und Zwänge erst recht hochgekommen und er habe dann die Therapie abgebrochen. Seitdem wolle er sie loswerden. Sie habe nun auch bemerkt, dass sein Leben auf Lügen aufgebaut sei. Seine vorherige Partnerin habe ihr erzählt, dass ihr Mann übergriffig geworden sei und sie – die Partnerin – der Meinung gewesen sei, noch in der Nacht das Kind zu verlieren. Sie habe dabei nur die Worte Übergriffigkeit und Aggressivität in den Mund genommen, von Schlägen habe sie nicht gesprochen. Vor Weihnachten habe ihr Mann dann endgültig beschlossen, dass sie ausziehen solle. Er sei davor bei einem Anwalt gewesen und habe ihr ein Schreiben zustellen lassen. Ab dem 1. Februar habe sie dann eine neue Wohnung, die Adresse solle ihr Mann nicht erfahren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Am 16. Januar 2017 seien sie beide zu Hause gewesen. Sie habe ihren Mann lediglich gefragt „Warum? Was ist passiert? Lass uns mal über dich sprechen“. Hierauf sei er dann aggressiv geworden und sei auf sie losgegangen. Er habe sie umgestoßen und sie sei rückwärts knapp neben dem Schrank auf den Fußboden gefallen. Sie sei dann wieder aufgestanden und weitere zweimal umgestoßen worden. Geschlagen worden sei sie nicht, sie sei glücklich gefallen und habe sich nicht verletzt. Ihr Mann sei Rentner und es sei immer wieder zu aggressiven Reaktionen durch ihn gekommen, allerdings lediglich verbal. Sie sei der Meinung, dass ihr Mann krank sei und sich einfach nicht helfen lasse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Der Ehemann nahm mit anwaltlichem Schreiben dahingehend Stellung, dass die Klägerin den Sachverhalt falsch darstelle. Im Sommer 2017 (richtig wohl: 2016) habe er seiner Ehefrau mitgeteilt, dass er sich von ihr trennen wolle. Anfang Dezember 2016 habe er sie gebeten, dass sie sich eine eigene Wohnung suche und aus seinem Haus ausziehen möge. Um ein Getrenntleben in seinem Haus zu erreichen, habe er seine Frau gebeten, sie möge sein Schlafzimmer nur noch betreten, wenn sie an ihre dort aufbewahrte Kleider wolle. Im Übrigen überlasse er ihr die gesamte restliche Wohnfläche bis zu ihrem Auszug. Ergänzend sei zu erläutern, dass die Eheleute seit dem Bezug des Hauses, welches er von seinen Eltern zum Wohnen erhalten und zwischenzeitlich geerbt habe, sich dort getrennte Schlafzimmer eingerichtet hätten. Er habe also gewollt, dass die Klägerin sein Schlafzimmer als seinen Rückzugsraum akzeptiere, wenn er einfach mal seine Ruhe haben wolle. Das habe die Klägerin am 16. Januar 2017 nicht getan, sondern mit ihm diskutieren wollen. Das habe er nicht gewollt und sei in sein Schlafzimmer gegangen. Die Klägerin sei ihm dorthin gefolgt und habe das Zimmer auch auf seine Bitte hin nicht verlassen. Weil er nicht mit ihr habe diskutieren wollen, habe sie sich vor ihn gestellt und ihn mit ihrem Körper vor sich her getrieben, bis zu seinem Bett. Dort habe sie ihm mit ihrem Körper einen Stoß gegeben, dass er auf dem Bett zu sitzen gekommen sei. Die Klägerin sei aufgebaut mit ihrem Körper vor ihm stehen geblieben und habe sich trotz Aufforderung nicht aus dem Schlafzimmer entfernt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Um sich gegen die weiteren verbalen Attacken der Klägerin zu wehren, weil sie sein Schlafzimmer nicht verlassen habe und so vor ihm stehen geblieben sei, dass er seine Position, in die sie ihn gezwungen habe, ohne Körperkontakt nicht hätte verlassen können, sei er nunmehr aufgestanden und habe die Klägerin vor sich her geschoben, um sie so aus seinem Schlafzimmer zu entfernen, dass sie freiwillig nicht habe verlassen wollen. Die Klägerin habe seine Lenkung zur Tür aber nicht angenommen, sondern sei in Richtung eines Sessels gegangen und beim Versuch, sich auf diesen fallen zu lassen, auf dem Boden zu sitzen gekommen. Erst darauf bzw. als sie gemerkt habe, dass sie mit ihren verbalen Attacken und ihrer körperlichen Anwesenheit keine Diskussion erreichen konnte, habe sie das Schlafzimmer verlassen. Er habe sich lediglich gegen die Nötigung durch seine Ehefrau gewehrt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Die StA stellte das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) ein. Aufgrund der sich widersprechenden Angaben der Beteiligten lasse sich nicht feststellen, wie sich der Vorfall am 16. Januar 2017 gegen 18.00 Uhr tatsächlich zugetragen habe. Es stehe letztlich Aussage gegen Aussage, ohne dass einer der Aussagen von vornherein ein höherer Beweiswert zukomme und ohne dass unbeteiligte Zeugen zur Verfügung stünden, die mit ihren Angaben ausreichenden Aufschluss über das tatsächliche Geschehen geben könnten. Andere objektive Beweismittel seien nicht vorhanden, für die Erhebung einer öffentlichen Klage sei unter diesen Umständen kein Raum. Etwaige zivilrechtliche Ansprüche blieben unberührt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Mit Bescheid vom 26. Juni 2019 lehnte das LRA die Gewährung von Beschädigtenversorgung ab. Die Prüfung des Antrages habe ergeben, dass objektive Beweismittel fehlten. Das Ermittlungsverfahren sei mit Verfügung der StA vom 28. März 2017 eingestellt worden, da sich aufgrund der sich widersprechenden Angaben nicht habe feststellen lassen, wie sich der Vorfall am 16. Januar 2017 tatsächlich zugetragen habe.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Gegen den Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend, dass sie jahreslanges Opfer extremer psychischer Gewalt durch ihren Ehemann sei. Die Gesamtdimension des erlittenen Leids könne erst nach der Trennung nach und nach aufgearbeitet werden. Sie befinde sich regelmäßig in psychotherapeutischer Betreuung und teilweise auch in stationärer Akutbehandlung. Die psychische Gewalt des Ehemannes habe die Qualität eines tätlichen Angriffs, da diese unmittelbar zu körperlichen Symptomen und Schmerzen geführt habe. Aus dem Abschlussbericht der Aklinik 2017 gehe hervor, dass die Ehe von einem masochistisch-duldenden Aushalten erlebter Gewalt bei gleichzeitiger Unfähigkeit sich davon zu lösen, gekennzeichnet gewesen sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium S – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2019 zurück. Eine Angriffshandlung sei nach Auswertung der beigezogenen Unterlagen nicht erwiesen. Aufgrund der sich widersprechenden Angaben der Beteiligten lasse sich nicht feststellen, wie sie sich der Vorfall am 16. Januar 2017 tatsächlich zugetragen habe. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast gehe die fehlende Beweisbarkeit zu Lasten der Klägerin. Die im Erstantrag geschilderten Verhaltensweisen des Ehemanns erfüllten nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG. Sie stellten keinen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des OEG dar.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Am 21. Januar 2020 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und weitere medizinische Unterlagen vorgelegt. Die S2 hat ausgeführt, dass die Langzeitfolgen von jahrelangem Gewalterleben in der Ehebeziehung der Klägerin noch immer ein Teilnehmen und Abgrenzen in komplexen sozialen Beziehungsgeflechten erschwere. Sie brauche sehr viel Energie, um in ihrem Alltag eine fürsorgliche Haltung sich selbst gegenüber zu bewahren. Situationen mit vielen oder ihr unbekannten Menschen lösten bei ihr immer noch Angstzustände aus, die Fluchttendenzen zur Folge hätten. Die berufliche Wiedereingliederung ab Mai 2019 habe abgebrochen werden müssen, da sie die vielfältigen Herausforderungen im Berufsalltag einer sonderpädagogischen Fachkraft überfordert hätten. Wieder seien es die vielfältigen Kontakte gewesen, die der Berufsalltag mit sich brächte. Nach wie vor gebe es eine Vielzahl von Triggersituationen, die sie mit hohem Energieaufwand meistern müsse um stabil zu bleiben. Nachts erlebe sie noch Alpträume und zeitweise Schlafstörungen. Die beschriebene Symptomatik stünde im direkten Zusammenhang mit der erlebten Gewaltbeziehung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Die K hat dargelegt, die Klägerin seit November 2018 ambulant zu behandeln. Aufgrund jahrelangen Gewalterlebens sei die Teilhabe am sozialen Miteinander deutlich erschwert. Situationen mit mehreren Menschen lösten immer noch Ängste aus. Der Alltagsradius sei eingeschränkt. Die berufliche Wiedereingliederung sei mehrfach abgebrochen worden. Der Berufsalltag einer sonderpädagogischen Fachkraft sei nicht mehr zu bewältigen. Es gebe immer eine Vielzahl von Triggersituationen, Albträume und Schlafstörungen bestünden weiterhin.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16. März 2022 abgewiesen. Soweit die Klägerin geltend mache, durch jahrelange verbale Attacken, Erniedrigungen und Beleidigungen ihres Ehemannes, also durch psychische Gewalt, angegriffen worden zu sein, reiche dies nicht aus, um von einem tätlichen Angriff im Sinne des OEG auszugehen. Selbst wenn die Angaben der Klägerin als wahr unterstellt würden, könne in dem wiederholten Schubsen zwar ein tätlicher Angriff liegen, hierdurch habe sie aber nach ihrem eigenen Vorbringen keinen Schaden erlitten, sodass es an einem Erstschaden fehle.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Am 14. April 2022 hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Sie sei jahrelang extremer psychischer Gewalt durch ihren Ehemann ausgesetzt gewesen, der sie jahrelang kontrolliert, tyrannisiert und bedroht habe. Auf dem Höhepunkt der psychischen Gewalt habe sie alle Zähne und ihre Haare verloren. Hierbei habe es um die Reaktion ihres Körpers auf die andauernde psychische Gewalt gehandelt. Sie habe es nach 20 Jahren geschafft, sich aus der Spirale schwerer psychischer, teilweise auch körperlicher Gewalt zu befreien und aus dem Haus ihres Ehemannes zu flüchten. Die Gesamtdimension des erlittenen Leids habe erst seit der Trennung nach und nach aufgearbeitet werden können. Ihr Ehemann habe keine Empathie besessen und sei in der Lage gewesen, sie so zu manipulieren und zu instrumentalisieren, dass sie sich selbst aufgegeben und keinen Willen oder Lebenswillen mehr gehabt habe. Ihr Ehemann sei zu sozialer Kompetenz nicht fähig. Der Hass, die Ablehnung und die völlig gestörte Selbstwahrnehmung, das irreale Bild von sich selbst und das Leugnen der Realität seien auf sie projiziert worden. Sie sei ein Werkzeug gewesen, die emotionale Frau, empathisch, mit Wertgefühl. Der Ehemann habe der Klägerin all ihre Gefühle genommen, es sei ein langsam schleichender, toxischer Prozess gewesen. Auf diese Art sei es dem Ehemann fast gelungen, sie zum Selbstmord zu bringen. Ihre Tochter habe das alles mit durchgestanden, sie habe miterlebt, wie schlecht es ihr gegangen sei und habe monatelange Angst gehabt, dass sie es nicht überlebe. Ihre Tochter sei jetzt auch am Rande ihrer Kräfte und gehe nächste Woche in eine psychosomatische Klinik. Vor dem Hintergrund der Reform des sozialen Entschädigungsrechts, in dem der Gewaltbegriff um Formen psychischer Gewalt ergänzt werde, erfahre ihr Leid eine ganz neue Bedeutung. Es sei nicht nachvollziehbar, dass sie als Opfer schwerwiegender psychischer Gewalttaten, die Jahrzehnte angedauert hätten, nicht unter den Gewaltbegriff fallen solle.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. März 2022 sowie den Bescheid vom 26. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2019 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 zu gewähren.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="26"/>die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.</td></tr></table>
</td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 16. März 2022, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 16. Dezember 2019 abgewiesen worden ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei den vorliegenden Klagearten der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, BSGE 104, 116 (124); Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 26. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie kann auch nach Überzeugung des Senats die Gewährung einer Beschädigtenversorgung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt beanspruchen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Nach diesen Maßstäben ist schon nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin erwiesen, dass es bei dem Ereignis am 16. Januar 2017 zu keinem Gesundheitserstschaden gekommen ist, der einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung begründen könnte. Die Klägerin hat somit keine gesundheitliche Schädigung erlitten, sodass dieses Tatbestandsmerkmal des § 1 OEG nicht erfüllt ist und es auf den rechtswidrigen tätlichen Angriff nicht entscheidungserheblich ankommt. Die Berufung ist somit schon deshalb unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Daneben ist aber auch ein rechtswidriger tätlicher Angriff nicht wenigstens glaubhaft gemacht. Von diesem Beweismaßstab hat der Senat vorliegend auszugehen. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist nämlich auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 31.5.1989 – 9 RVg 3/89 –, juris, Rz. 12). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R –, juris, Rz. 30).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Dies zu Grunde gelegt, besteht nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit, dass sich die Ereignisse wie von der Klägerin geschildert zugetragen haben. Den Angaben des Ehemannes der Klägerin aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft, die im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. ZPO), entnimmt der Senat nämlich, dass dieser ausführlich und ohne Belastungstendenzen geschildert hat, dass es die Klägerin gewesen ist, die mit ihm diskutieren wollte und nicht zu akzeptieren bereit war, dass er keinen Wert auf ein Gespräch mit ihr gelegt hat. Dies hat die Klägerin in ihrer Geschädigtenvernehmung in gleicher Weise geschildert, indem sie angegeben hat, dass sie mit ihm über seine Krankheit habe reden wollen und er darauf aggressiv geworden sei. Die Schilderungen des Ehemannes, dass er die Klägerin Anfang Dezember 2016 gebeten hat, sich eine eigene Wohnung zu suchen und sie solange in seinem Haus weiter wohnen durfte, korrespondieren mit den Darlegungen der Klägerin in ihrer Geschädigtenvernehmung. Dort hat sie bekundet, dass der Ehemann nach einer wohl im Sommer 2016 gescheiterten Paartherapie beschlossen hatte, sich von ihr zu trennen und sie durch anwaltliches Schreiben hat auffordern lassen, sich eine eigene Wohnung zu suchen, was sie letztlich auch getan hat. Korrespondierend hierzu hat sie auf das von der Polizei angebotene Platzverweisverfahren verzichtet, nachdem sie ab dem 1. Februar 2017 eine eigene Wohnung hatte. Selbst unter Zugrundelegung des mildesten Beweismaßstabes besteht damit nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit, dass es sich um einen rechtswidrigen tätlichen Angriff des Ehemannes auf die Klägerin gehandelt hat und nicht – entsprechend seiner Einlassung – lediglich um eine Verteidigung gegen das Verhalten der Klägerin. Gegen einen rechtswidrigen Angriff des Ehemannes spricht im Übrigen auch, dass die Klägerin nicht unmittelbar polizeiliche Hilfe in Anspruch genommen, sondern mit der Anzeige bis zum 30. Januar 2017 und damit gut zwei Wochen zugewartet hat. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Berufung ebenfalls unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Soweit die Klägerin darüber hinaus geltend macht, unter jahrelanger psychischer Gewalt ihres Ehemannes gelitten zu haben, woraus sie Entschädigungsansprüche herzuleiten versucht, handelt es sich schon um keinen tätlichen Angriff und damit um keinen entschädigungspflichtigen Tatbestand im Sinne des OEG, wie das SG bereits ausführlich dargelegt hat. Eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person ohne physische Einwirkung reicht für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs nicht aus. Dies folgt schon aus der Gesetzgebungsgeschichte, die belegt, dass bewusst darauf verzichtet worden ist, auf das Strafrecht mit seinen vielfältigen und uneinheitlich weit gefassten Gewaltbegriffen zurückzugreifen. Es sollten ausschließlich die Fälle der sogenannten Gewaltkriminalität in die Entschädigung einbezogen werden, die mit einem willentlichen Bruch der Rechtsordnung durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person einhergehen. Auch das Europäische Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten gebietet keine erweiternde Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz.26 ff.). In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Klägerin gegenüber der Polizei bestätigt hat, dass es während der Ehe nur zu verbalen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann gekommen ist. Es stellt somit angepasstes Vorbringen dar, wenn sie nunmehr glauben machen will, dass es während der Ehe zu körperlicher Gewalt gekommen sein soll, wofür es an objektiven Anhaltspunkten gänzlich mangelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Daneben kann sich der Senat aber auch nicht davon überzeugen, dass es sich bei den Schilderungen um erlebnisbasiertes Vorbringen, also um mehr als bloße Pseudoerinnerungen, handelt. Generell gilt, dass eher von einer – objektiv zutreffenden – Erinnerung auszugehen ist, wenn die Schilderungen über einen längeren Zeitraum konstant bleiben, während Geschehensabläufe, die sich nicht zugetragen haben, an die aber subjektiv ein Gedächtnisinhalt besteht, im Laufe der Zeit eher auszuufernd beschrieben werden (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. August 2015 – L 4 VG 5/13 –, juris, Rz. 28; Senatsurteil vom 22. September 2016 – L 6 VG 1927/15 –, juris, Rz. 90; Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, 2012, § 1 OEG Rz. 49 m. w. N.; generell zur Konsistenz mit früheren Aussagen auch Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 5. Aufl. 1994, Rz. 1101). Auf nicht bewusst Erlebtes deutet demgegenüber die ernsthafte Möglichkeit suggestiver Einflüsse hin, insbesondere bei intensiven Gesprächen, Befragungen und Nachforschungen durch andere Autoritätspersonen mit entsprechenden Voreinstellungen und Erwartungen (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, Rz. 324). Dabei besteht mitunter das Bedürfnis, die massiven psychischen und körperlichen Beschwerden, welche über die Jahre hinweg aufgetreten sind, erklären zu können (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, a. a. O., Rz. 28; Senatsurteil vom 9. November 2017 – L 6 VG 2118/17 –, juris, Rz. 44f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die ernsthafte Möglichkeit suggestiver Einflüsse wird aus den Entlassungsberichten der A-Klinik hinreichend deutlich. Der Entlassungsbericht 2018 beschreibt nämlich, dass die Klägerin erst nach einem Hinweis des Anwalts angefangen hat alles aufzuschreiben, wobei sich aus den Mosaiksteinen ein Bild zusammengefügt haben soll. Der Bericht aus 2017 weist explizit darauf hin, dass es der therapeutischen Zielsetzung entsprochen hat, die zugrundeliegende Psychodynamik klärend und deutend zu bearbeiten. Weiter wird beschrieben, dass die Klägerin in der Suche nach einer Erklärung für ihr langes Verharren in der ehelichen Beziehung die Beziehung zu den Eltern idealisierend dargestellt hat, dann aber auch über die Angst des Kindes vor den Gewaltszenen zwischen den Eltern gesprochen hat, woraus sodann Rückschlüsse auf ihr vermeintliche Verhalten in der Ehe gezogen worden sind. Nichts anderes ergibt sich im Übrigen aus dem Vorbringen der Klägerin selbst, wenn sie geltend macht, dass die Gesamtdimension des erlittenen Leids erst nach der Trennung nach und nach hat aufgearbeitet werden können. Dabei ist den Behandlungsberichten zu entnehmen, dass die Angaben zu den tatsächlichen Abläufen offensichtlich unkritisch von der Klägerin übernommen und diese nicht hinreichend hinterfragt worden sind. Wie oben dargelegt, lässt sich der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte entnehmen, dass sich der Ehemann nach einer gescheiterten Paartherapie von der Klägerin getrennt und diese – anwaltlich – zum Auszug aufgefordert hat. Hiermit lässt es sich nicht vereinbaren, wenn die Klägerin nunmehr glauben machen will, dass sie sich von ihrem Mann getrennt habe und aus dem gemeinsamen Haus quasi geflüchtet sei. Tatsächlich hat sich diese – ihren eigenen Angaben gegenüber der Polizei zufolge – auf die Aufforderung des Ehemannes eine eigene Wohnung gesucht und dann bezogen. Ebenso wenig vermag es zu überzeugen, wenn in den Behandlungsberichten nunmehr körperliche Übergriffe während der Ehe zugrundegelegt und bewertet werden, obwohl die Klägerin selbst angegeben hat, dass es nur zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem Ehemann gekommen ist. Weshalb die Klägerin unter Ängsten leiden will, dass ihr Ex-Mann versuchen könnte sie aufzusuchen, erschließt sich vor dem Hintergrund, dass der Ehemann die Beziehung beendet hat und insbesondere keine Aussprache mit ihr wollte, ebenfalls nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung wegen des Vorfalls vom 16. Januar 2017 und der behaupteten psychischen Gewalt jedenfalls gemäß § 2 Abs. 1 OEG ausgeschlossen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung entweder selbst verursacht hat (1. Alternative) oder wenn es aus sonstigen, insbesondere aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (2. Alternative). Als Sonderfall der Unbilligkeit (2. Alternative) ist die 1. Alternative der Vorschrift – Mitverursachung – stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R – BSGE 88, 96; vgl. zum Verhältnis der beiden Alternativen insbesondere BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 – BSGE 66, 115 und vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R – BSGE 84, 54).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Eine Mitverursachung in diesem Sinne kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinweg zu denkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der entschädigungsrechtliche Kausalitätsmaßstab nicht mit dem der gesetzlichen Unfallversicherung identisch ist. Während dort nur ein gegenüber den betrieblichen Gefahren deutlich überwiegendes selbstgeschaffenes Risiko den Versicherungsschutz ausschließt, führt auf dem Gebiet des OEG bereits eine etwa gleichwertige Mitverursachung zur Versagung der Entschädigung (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 – BSGE 66, 115).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Ein Leistungsausschluss ist unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung vor allem dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteile vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54 und vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87). Sie kann aber auch dann vorliegen, wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z. B. eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, BSGE 77, 18; vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87 und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 Alternative 1 OEG ist es gerade, diejenigen von der Versorgung auszuschließen, die sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährden und dadurch einen Schaden erleiden. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht. Das BSG hat im Opferentschädigungsrecht die bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung in Fällen einer hohen Gefahr immer als Leistungsausschlussgrund beurteilt. Die bewusste Selbstgefährdung hat das BSG nur dann nicht dem Opfer angelastet, wenn für sie ein beachtlicher Grund vorlag, so dass die Selbstgefährdung nicht missbilligt werden konnte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich das Opfer nach der besonderen Fallgestaltung für andere eingesetzt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18.10.1995 – 9 RVg 5/95 –, juris, Rz. 16). Eine leichtfertige Selbstgefährdung in diesem Sinne setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit voraus, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechtes entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 18.04.2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18). Es gilt jedoch im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 267 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), sondern ein individueller Maßstab, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, a. a. O.). Voraussetzung ist, dass das Opfer in hohem Maße vernunftswidrig gehandelt und es in grobfährlässiger Weise unterlassen hat, einer höchstwahrscheinlich zu erwartenden Gefahr auszuweichen (vgl. BSG, Urteil vom 21.10.1998 – B 9 VG 4/97 –, juris, Rz. 15). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch hätte anders verhalten können oder müssen und ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl dies ihm zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen (vgl. BSG, Urteil vom 18.04.2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18; Senatsurteil vom 21. März 2013 – L 6 VG 4354/12 –, juris, Rz. 38).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Ein annähernd gleichwertiger Verursachungsbeitrag des Opfers ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt wird, als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat (vgl. Senatsurteil vom 29. April 2014 – L 6 VG 4545/13 –, juris, Rz. 30).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Nach diesen Maßstäben ergibt sich hinsichtlich des Ereignisses vom 16. Januar 2017 aus dem eigenen Vorbringen der Klägerin, dieses zu Grunde gelegt, deutlich, dass sie die wesentliche Ursache für die aggressive Reaktion des Ehemanns dadurch selbst gesetzt hat, dass sie ihn zu einem Gespräch über seine vermeintliche psychische Krankheit anhalten wollte, worauf dieser aggressiv geworden sein soll. Wenn der Klägerin indessen bewusst gewesen ist, dass ihr Ehemann – nach ihrem Vorstellungsbild – psychisch krank ist und er – wie ihr aus dem anwaltlichen Schreiben bekannt war – bereits beschlossen hatte, sich von ihr zu trennen und sie zum Auszug aufgefordert hatte, musste die Klägerin mit einer solchen Reaktion rechnen und es gab vor diesem Hintergrund keinen sachlichen Grund überhaupt ein Gespräch über die vermeintliche Erkrankung des Ehemannes zu initiieren. Abgesehen davon wäre die Klägerin jedenfalls gehalten gewesen, sich der Situation sofort zu entziehen, als sie merkte, dass der Ehemann aggressiv auf ihr Ansinnen reagiert. Das Verhalten der Klägerin hat somit jedenfalls eine Selbstgefährdung dargestellt, die eine Entschädigung unbillig erscheinen lässt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Im Übrigen entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass eine Opferentschädigung wegen „Unbilligkeit“ zu versagen ist, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles nach dem Normzweck eine staatliche Hilfe nach dem OEG als sinnwidrig und damit als ungerechtfertigt erscheinen lassen. Dies kann dann der Fall sein, wenn das Opfer in einer Lebensgemeinschaft verbleibt, die mit einer dauernden Gefahrenlage verbunden ist, in der stets mit einer schweren Misshandlung gerechnet werden muss, da die Gefährdung vermeidbar gewesen ist (vgl. BSG, Urteil vom 3. Oktober 1984 – 9a RVg 6/83 – juris Rz. 13 ff.). Auch diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin – ausgehend von ihrem jetzigen Vorbringen – erfüllt, wobei insbesondere in Rechnung zu stellen ist, dass sie nunmehr behauptet, die Wesensänderung ihres Ehemanns habe bereits nach ihrem Einzug bei ihm 1998 begonnen, sie aber gegenüber der Polizei angegeben hat, ihn erst am 2. Februar 2008 geheiratet zu haben. Der Verbleib bei dem Ehemann und die Heirat nach mindestens 10-jährigem Zusammenleben lässt sich auch nicht dadurch erklären, dass die Klägerin ihrem Ehemann, den sie für psychisch krank hielt, habe helfen wollen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Soweit die Klägerin meint, Entschädigungsansprüche schon deshalb beanspruchen zu können, weil psychische Gewalt nach der Reform des Opferentschädigungsrechts nunmehr ausreiche, folgt der Senat dem nicht. Zwar trifft es zu, dass § 13 Abs. 1 Nr. 2 SGB Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (XIV) in der am 1. Januar 2024 in Kraft tretenden Fassung ein sonstiges, vorsätzliches, rechtswidriges unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten (psychische Gewalttat) als Schädigungstatbestand aufgenommen hat. Allerdings wird dies durch § 13 Abs. 2 SGB IX schon dadurch eingeschränkt, dass ein Verhalten im Sinne von Absatz 1 Nr. 2 als in der Regel dann schwerwiegend bezeichnet wird, wenn es den Tatbestand des Menschenhandels (§§ 223 bis 233a des Strafgesetzbuches), der Nachstellung (§ 238 Absatz 2 und 3 des Strafgesetzbuches), der Geiselnahme (§ 239a des Strafgesetzbuches) oder der räuberischen Erpressung (§ 255 des Strafgesetzbuches) erfüllt oder mindestens von vergleichbarer Schwere ist. Die Gesetzesbegründung weist hierzu ausdrücklich darauf hin, dass zwar nunmehr auch solche Personen einbezogen würden, die durch eine psychische Gewalttat eine gesundheitliche Schädigung erlitten hätten, aber nicht jegliches unerlaubte Verhalten als physische Gewalttat eingestuft werden könne, da der Tatbestand dann uferlos werde. Erfasst werden soll vielmehr nur ein schwerwiegendes Verhalten, das durch Beispiele näher konkretisiert wird. Zwar ist die Aufzählung nicht abschließend, hierdurch soll der Praxis aber nur die Möglichkeit gegeben werden, in Fällen von mindestens vergleichbarer Schwere, Betroffene als Opfer von Gewalttaten anzuerkennen (vgl. BT-Drs 19/13824 S. 176).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Daraus folgt, dass lediglich behauptete und in keiner Weise konkretisierte psychische Gewalt während der Ehe auch nach neuem Recht keinen Entschädigungsanspruch auszulösen geeignet ist. Abgesehen davon, dass Schilderungen, die nicht über bloße Pseudoerinnerungen hinausgehen (vgl. oben), schon den entscheidungserheblichen Tatbestand als solchen nicht belegen, muss weiterhin eine rechtswidrige Handlung vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Eine behauptete Vernachlässigung in der Ehe allein stellt indessen keine schon keine rechtswidrige Handlung dar und ist nicht entschädigungsrelevant. Dies wird schon daran deutlich, dass eine nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV gleichgestellte erhebliche Vernachlässigung von Kindern, insbesondere eine psychische Vernachlässigung, nur relevant ist, wenn sie als dauerhaftes, ausgeprägtes Fehlverhalten der Sorgeberechtigten in Erscheinung tritt. Die Vernachlässigung muss also als erheblich und als eindeutig falsches Erziehungsverhalten zu werten sein (vgl. BT-Drs 19/13824 S. 176 f.). Die Vernachlässigung eines Ehepartners begründet damit keinen Entschädigungsanspruch, da dieser keinem einem Kind vergleichbaren Bedarf an Pflege und Erziehung hat, sondern vielmehr für sich selbst verantwortlich ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Unabhängig davon, dass die Vorschriften des SGB XIV noch nicht in Kraft getreten sind und deshalb gegenwärtig keine Entschädigungsansprüche auslösen können, stünden einem Anspruch auch die Vorschriften der §§ 137, 138 SGB XIV zum besonderen zeitlichen Geltungsbereich entgegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 16. März 2022, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 16. Dezember 2019 abgewiesen worden ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei den vorliegenden Klagearten der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, BSGE 104, 116 (124); Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 26. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie kann auch nach Überzeugung des Senats die Gewährung einer Beschädigtenversorgung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt beanspruchen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Nach diesen Maßstäben ist schon nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin erwiesen, dass es bei dem Ereignis am 16. Januar 2017 zu keinem Gesundheitserstschaden gekommen ist, der einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung begründen könnte. Die Klägerin hat somit keine gesundheitliche Schädigung erlitten, sodass dieses Tatbestandsmerkmal des § 1 OEG nicht erfüllt ist und es auf den rechtswidrigen tätlichen Angriff nicht entscheidungserheblich ankommt. Die Berufung ist somit schon deshalb unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>Daneben ist aber auch ein rechtswidriger tätlicher Angriff nicht wenigstens glaubhaft gemacht. Von diesem Beweismaßstab hat der Senat vorliegend auszugehen. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist nämlich auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 31.5.1989 – 9 RVg 3/89 –, juris, Rz. 12). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R –, juris, Rz. 30).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Dies zu Grunde gelegt, besteht nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit, dass sich die Ereignisse wie von der Klägerin geschildert zugetragen haben. Den Angaben des Ehemannes der Klägerin aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft, die im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. ZPO), entnimmt der Senat nämlich, dass dieser ausführlich und ohne Belastungstendenzen geschildert hat, dass es die Klägerin gewesen ist, die mit ihm diskutieren wollte und nicht zu akzeptieren bereit war, dass er keinen Wert auf ein Gespräch mit ihr gelegt hat. Dies hat die Klägerin in ihrer Geschädigtenvernehmung in gleicher Weise geschildert, indem sie angegeben hat, dass sie mit ihm über seine Krankheit habe reden wollen und er darauf aggressiv geworden sei. Die Schilderungen des Ehemannes, dass er die Klägerin Anfang Dezember 2016 gebeten hat, sich eine eigene Wohnung zu suchen und sie solange in seinem Haus weiter wohnen durfte, korrespondieren mit den Darlegungen der Klägerin in ihrer Geschädigtenvernehmung. Dort hat sie bekundet, dass der Ehemann nach einer wohl im Sommer 2016 gescheiterten Paartherapie beschlossen hatte, sich von ihr zu trennen und sie durch anwaltliches Schreiben hat auffordern lassen, sich eine eigene Wohnung zu suchen, was sie letztlich auch getan hat. Korrespondierend hierzu hat sie auf das von der Polizei angebotene Platzverweisverfahren verzichtet, nachdem sie ab dem 1. Februar 2017 eine eigene Wohnung hatte. Selbst unter Zugrundelegung des mildesten Beweismaßstabes besteht damit nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit, dass es sich um einen rechtswidrigen tätlichen Angriff des Ehemannes auf die Klägerin gehandelt hat und nicht – entsprechend seiner Einlassung – lediglich um eine Verteidigung gegen das Verhalten der Klägerin. Gegen einen rechtswidrigen Angriff des Ehemannes spricht im Übrigen auch, dass die Klägerin nicht unmittelbar polizeiliche Hilfe in Anspruch genommen, sondern mit der Anzeige bis zum 30. Januar 2017 und damit gut zwei Wochen zugewartet hat. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Berufung ebenfalls unbegründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Soweit die Klägerin darüber hinaus geltend macht, unter jahrelanger psychischer Gewalt ihres Ehemannes gelitten zu haben, woraus sie Entschädigungsansprüche herzuleiten versucht, handelt es sich schon um keinen tätlichen Angriff und damit um keinen entschädigungspflichtigen Tatbestand im Sinne des OEG, wie das SG bereits ausführlich dargelegt hat. Eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person ohne physische Einwirkung reicht für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs nicht aus. Dies folgt schon aus der Gesetzgebungsgeschichte, die belegt, dass bewusst darauf verzichtet worden ist, auf das Strafrecht mit seinen vielfältigen und uneinheitlich weit gefassten Gewaltbegriffen zurückzugreifen. Es sollten ausschließlich die Fälle der sogenannten Gewaltkriminalität in die Entschädigung einbezogen werden, die mit einem willentlichen Bruch der Rechtsordnung durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person einhergehen. Auch das Europäische Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten gebietet keine erweiternde Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz.26 ff.). In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Klägerin gegenüber der Polizei bestätigt hat, dass es während der Ehe nur zu verbalen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann gekommen ist. Es stellt somit angepasstes Vorbringen dar, wenn sie nunmehr glauben machen will, dass es während der Ehe zu körperlicher Gewalt gekommen sein soll, wofür es an objektiven Anhaltspunkten gänzlich mangelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Daneben kann sich der Senat aber auch nicht davon überzeugen, dass es sich bei den Schilderungen um erlebnisbasiertes Vorbringen, also um mehr als bloße Pseudoerinnerungen, handelt. Generell gilt, dass eher von einer – objektiv zutreffenden – Erinnerung auszugehen ist, wenn die Schilderungen über einen längeren Zeitraum konstant bleiben, während Geschehensabläufe, die sich nicht zugetragen haben, an die aber subjektiv ein Gedächtnisinhalt besteht, im Laufe der Zeit eher auszuufernd beschrieben werden (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. August 2015 – L 4 VG 5/13 –, juris, Rz. 28; Senatsurteil vom 22. September 2016 – L 6 VG 1927/15 –, juris, Rz. 90; Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, 2012, § 1 OEG Rz. 49 m. w. N.; generell zur Konsistenz mit früheren Aussagen auch Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 5. Aufl. 1994, Rz. 1101). Auf nicht bewusst Erlebtes deutet demgegenüber die ernsthafte Möglichkeit suggestiver Einflüsse hin, insbesondere bei intensiven Gesprächen, Befragungen und Nachforschungen durch andere Autoritätspersonen mit entsprechenden Voreinstellungen und Erwartungen (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, Rz. 324). Dabei besteht mitunter das Bedürfnis, die massiven psychischen und körperlichen Beschwerden, welche über die Jahre hinweg aufgetreten sind, erklären zu können (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, a. a. O., Rz. 28; Senatsurteil vom 9. November 2017 – L 6 VG 2118/17 –, juris, Rz. 44f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Die ernsthafte Möglichkeit suggestiver Einflüsse wird aus den Entlassungsberichten der A-Klinik hinreichend deutlich. Der Entlassungsbericht 2018 beschreibt nämlich, dass die Klägerin erst nach einem Hinweis des Anwalts angefangen hat alles aufzuschreiben, wobei sich aus den Mosaiksteinen ein Bild zusammengefügt haben soll. Der Bericht aus 2017 weist explizit darauf hin, dass es der therapeutischen Zielsetzung entsprochen hat, die zugrundeliegende Psychodynamik klärend und deutend zu bearbeiten. Weiter wird beschrieben, dass die Klägerin in der Suche nach einer Erklärung für ihr langes Verharren in der ehelichen Beziehung die Beziehung zu den Eltern idealisierend dargestellt hat, dann aber auch über die Angst des Kindes vor den Gewaltszenen zwischen den Eltern gesprochen hat, woraus sodann Rückschlüsse auf ihr vermeintliche Verhalten in der Ehe gezogen worden sind. Nichts anderes ergibt sich im Übrigen aus dem Vorbringen der Klägerin selbst, wenn sie geltend macht, dass die Gesamtdimension des erlittenen Leids erst nach der Trennung nach und nach hat aufgearbeitet werden können. Dabei ist den Behandlungsberichten zu entnehmen, dass die Angaben zu den tatsächlichen Abläufen offensichtlich unkritisch von der Klägerin übernommen und diese nicht hinreichend hinterfragt worden sind. Wie oben dargelegt, lässt sich der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte entnehmen, dass sich der Ehemann nach einer gescheiterten Paartherapie von der Klägerin getrennt und diese – anwaltlich – zum Auszug aufgefordert hat. Hiermit lässt es sich nicht vereinbaren, wenn die Klägerin nunmehr glauben machen will, dass sie sich von ihrem Mann getrennt habe und aus dem gemeinsamen Haus quasi geflüchtet sei. Tatsächlich hat sich diese – ihren eigenen Angaben gegenüber der Polizei zufolge – auf die Aufforderung des Ehemannes eine eigene Wohnung gesucht und dann bezogen. Ebenso wenig vermag es zu überzeugen, wenn in den Behandlungsberichten nunmehr körperliche Übergriffe während der Ehe zugrundegelegt und bewertet werden, obwohl die Klägerin selbst angegeben hat, dass es nur zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem Ehemann gekommen ist. Weshalb die Klägerin unter Ängsten leiden will, dass ihr Ex-Mann versuchen könnte sie aufzusuchen, erschließt sich vor dem Hintergrund, dass der Ehemann die Beziehung beendet hat und insbesondere keine Aussprache mit ihr wollte, ebenfalls nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung wegen des Vorfalls vom 16. Januar 2017 und der behaupteten psychischen Gewalt jedenfalls gemäß § 2 Abs. 1 OEG ausgeschlossen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung entweder selbst verursacht hat (1. Alternative) oder wenn es aus sonstigen, insbesondere aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (2. Alternative). Als Sonderfall der Unbilligkeit (2. Alternative) ist die 1. Alternative der Vorschrift – Mitverursachung – stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R – BSGE 88, 96; vgl. zum Verhältnis der beiden Alternativen insbesondere BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 – BSGE 66, 115 und vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R – BSGE 84, 54).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Eine Mitverursachung in diesem Sinne kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinweg zu denkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der entschädigungsrechtliche Kausalitätsmaßstab nicht mit dem der gesetzlichen Unfallversicherung identisch ist. Während dort nur ein gegenüber den betrieblichen Gefahren deutlich überwiegendes selbstgeschaffenes Risiko den Versicherungsschutz ausschließt, führt auf dem Gebiet des OEG bereits eine etwa gleichwertige Mitverursachung zur Versagung der Entschädigung (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 – BSGE 66, 115).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Ein Leistungsausschluss ist unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung vor allem dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteile vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54 und vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87). Sie kann aber auch dann vorliegen, wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z. B. eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, BSGE 77, 18; vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87 und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 Alternative 1 OEG ist es gerade, diejenigen von der Versorgung auszuschließen, die sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährden und dadurch einen Schaden erleiden. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht. Das BSG hat im Opferentschädigungsrecht die bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung in Fällen einer hohen Gefahr immer als Leistungsausschlussgrund beurteilt. Die bewusste Selbstgefährdung hat das BSG nur dann nicht dem Opfer angelastet, wenn für sie ein beachtlicher Grund vorlag, so dass die Selbstgefährdung nicht missbilligt werden konnte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich das Opfer nach der besonderen Fallgestaltung für andere eingesetzt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18.10.1995 – 9 RVg 5/95 –, juris, Rz. 16). Eine leichtfertige Selbstgefährdung in diesem Sinne setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit voraus, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechtes entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 18.04.2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18). Es gilt jedoch im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 267 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), sondern ein individueller Maßstab, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, a. a. O.). Voraussetzung ist, dass das Opfer in hohem Maße vernunftswidrig gehandelt und es in grobfährlässiger Weise unterlassen hat, einer höchstwahrscheinlich zu erwartenden Gefahr auszuweichen (vgl. BSG, Urteil vom 21.10.1998 – B 9 VG 4/97 –, juris, Rz. 15). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch hätte anders verhalten können oder müssen und ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl dies ihm zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen (vgl. BSG, Urteil vom 18.04.2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18; Senatsurteil vom 21. März 2013 – L 6 VG 4354/12 –, juris, Rz. 38).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Ein annähernd gleichwertiger Verursachungsbeitrag des Opfers ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt wird, als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat (vgl. Senatsurteil vom 29. April 2014 – L 6 VG 4545/13 –, juris, Rz. 30).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Nach diesen Maßstäben ergibt sich hinsichtlich des Ereignisses vom 16. Januar 2017 aus dem eigenen Vorbringen der Klägerin, dieses zu Grunde gelegt, deutlich, dass sie die wesentliche Ursache für die aggressive Reaktion des Ehemanns dadurch selbst gesetzt hat, dass sie ihn zu einem Gespräch über seine vermeintliche psychische Krankheit anhalten wollte, worauf dieser aggressiv geworden sein soll. Wenn der Klägerin indessen bewusst gewesen ist, dass ihr Ehemann – nach ihrem Vorstellungsbild – psychisch krank ist und er – wie ihr aus dem anwaltlichen Schreiben bekannt war – bereits beschlossen hatte, sich von ihr zu trennen und sie zum Auszug aufgefordert hatte, musste die Klägerin mit einer solchen Reaktion rechnen und es gab vor diesem Hintergrund keinen sachlichen Grund überhaupt ein Gespräch über die vermeintliche Erkrankung des Ehemannes zu initiieren. Abgesehen davon wäre die Klägerin jedenfalls gehalten gewesen, sich der Situation sofort zu entziehen, als sie merkte, dass der Ehemann aggressiv auf ihr Ansinnen reagiert. Das Verhalten der Klägerin hat somit jedenfalls eine Selbstgefährdung dargestellt, die eine Entschädigung unbillig erscheinen lässt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Im Übrigen entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass eine Opferentschädigung wegen „Unbilligkeit“ zu versagen ist, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles nach dem Normzweck eine staatliche Hilfe nach dem OEG als sinnwidrig und damit als ungerechtfertigt erscheinen lassen. Dies kann dann der Fall sein, wenn das Opfer in einer Lebensgemeinschaft verbleibt, die mit einer dauernden Gefahrenlage verbunden ist, in der stets mit einer schweren Misshandlung gerechnet werden muss, da die Gefährdung vermeidbar gewesen ist (vgl. BSG, Urteil vom 3. Oktober 1984 – 9a RVg 6/83 – juris Rz. 13 ff.). Auch diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin – ausgehend von ihrem jetzigen Vorbringen – erfüllt, wobei insbesondere in Rechnung zu stellen ist, dass sie nunmehr behauptet, die Wesensänderung ihres Ehemanns habe bereits nach ihrem Einzug bei ihm 1998 begonnen, sie aber gegenüber der Polizei angegeben hat, ihn erst am 2. Februar 2008 geheiratet zu haben. Der Verbleib bei dem Ehemann und die Heirat nach mindestens 10-jährigem Zusammenleben lässt sich auch nicht dadurch erklären, dass die Klägerin ihrem Ehemann, den sie für psychisch krank hielt, habe helfen wollen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Soweit die Klägerin meint, Entschädigungsansprüche schon deshalb beanspruchen zu können, weil psychische Gewalt nach der Reform des Opferentschädigungsrechts nunmehr ausreiche, folgt der Senat dem nicht. Zwar trifft es zu, dass § 13 Abs. 1 Nr. 2 SGB Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (XIV) in der am 1. Januar 2024 in Kraft tretenden Fassung ein sonstiges, vorsätzliches, rechtswidriges unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten (psychische Gewalttat) als Schädigungstatbestand aufgenommen hat. Allerdings wird dies durch § 13 Abs. 2 SGB IX schon dadurch eingeschränkt, dass ein Verhalten im Sinne von Absatz 1 Nr. 2 als in der Regel dann schwerwiegend bezeichnet wird, wenn es den Tatbestand des Menschenhandels (§§ 223 bis 233a des Strafgesetzbuches), der Nachstellung (§ 238 Absatz 2 und 3 des Strafgesetzbuches), der Geiselnahme (§ 239a des Strafgesetzbuches) oder der räuberischen Erpressung (§ 255 des Strafgesetzbuches) erfüllt oder mindestens von vergleichbarer Schwere ist. Die Gesetzesbegründung weist hierzu ausdrücklich darauf hin, dass zwar nunmehr auch solche Personen einbezogen würden, die durch eine psychische Gewalttat eine gesundheitliche Schädigung erlitten hätten, aber nicht jegliches unerlaubte Verhalten als physische Gewalttat eingestuft werden könne, da der Tatbestand dann uferlos werde. Erfasst werden soll vielmehr nur ein schwerwiegendes Verhalten, das durch Beispiele näher konkretisiert wird. Zwar ist die Aufzählung nicht abschließend, hierdurch soll der Praxis aber nur die Möglichkeit gegeben werden, in Fällen von mindestens vergleichbarer Schwere, Betroffene als Opfer von Gewalttaten anzuerkennen (vgl. BT-Drs 19/13824 S. 176).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Daraus folgt, dass lediglich behauptete und in keiner Weise konkretisierte psychische Gewalt während der Ehe auch nach neuem Recht keinen Entschädigungsanspruch auszulösen geeignet ist. Abgesehen davon, dass Schilderungen, die nicht über bloße Pseudoerinnerungen hinausgehen (vgl. oben), schon den entscheidungserheblichen Tatbestand als solchen nicht belegen, muss weiterhin eine rechtswidrige Handlung vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="56"/>Eine behauptete Vernachlässigung in der Ehe allein stellt indessen keine schon keine rechtswidrige Handlung dar und ist nicht entschädigungsrelevant. Dies wird schon daran deutlich, dass eine nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV gleichgestellte erhebliche Vernachlässigung von Kindern, insbesondere eine psychische Vernachlässigung, nur relevant ist, wenn sie als dauerhaftes, ausgeprägtes Fehlverhalten der Sorgeberechtigten in Erscheinung tritt. Die Vernachlässigung muss also als erheblich und als eindeutig falsches Erziehungsverhalten zu werten sein (vgl. BT-Drs 19/13824 S. 176 f.). Die Vernachlässigung eines Ehepartners begründet damit keinen Entschädigungsanspruch, da dieser keinem einem Kind vergleichbaren Bedarf an Pflege und Erziehung hat, sondern vielmehr für sich selbst verantwortlich ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Unabhängig davon, dass die Vorschriften des SGB XIV noch nicht in Kraft getreten sind und deshalb gegenwärtig keine Entschädigungsansprüche auslösen können, stünden einem Anspruch auch die Vorschriften der §§ 137, 138 SGB XIV zum besonderen zeitlichen Geltungsbereich entgegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
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346,796 | lsgbw-2022-09-15-l-6-sb-331220 | {
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<blockquote><blockquote><p><strong> Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 14. September 2020 aufgehoben und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 verpflichtet, ab dem 26. November 2016 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.</strong></p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p><strong>Der Beklagte erstattet dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten in beiden Instanzen.</strong></p></blockquote></blockquote>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Der Kläger begehrt die Erstfeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mindestens 50 seit dem 26. November 2016.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Er ist 1988 geboren. Nach dem Abitur hat er Betriebswirtschaft wie Finanzmanagement studiert und ist seit 2008 bei der U-Bank beschäftigt, dort zwischenzeitlich in der Firmenkundenberatung. Er ist ledig, kinderlos und wohnt mit seiner Lebensgefährtin zusammen. In seiner Freizeit geht er langsam laufen und fährt Fahrrad (vgl. Sachverständigengutachten des B und des K).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Am 20. März 2017 beantragte der Kläger beim Landratsamt B1 (LRA) die Erstfeststellung des GdB. Als hierbei zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen und den hieraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen gab er ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) an, wegen dem er unter einem Verlust des Geruchs- und Geschmacksinns und einer motorischen Störung der rechten Körperhälfte leide; infolge einer Gangstörung wie Schwindel sei eine Begleitperson erforderlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Aus dem zur Vorlage gekommenen Bericht der Oklinik über die stationäre Behandlung des Klägers vom 26. November bis zum 7. Dezember 2016 ergab sich, dass dieser am Aufnahmetag unbehelmt vom Pferd auf Asphalt gestürzt sei und sich infolge dessen ein SHT mit traumatischer Subarachnoidalblutung (SAB) rechtsparietal, Kontusionsblutung subkortikal rechts fronto-temporal, Kontusionsödem links frontal, akutem Subduralhämatom rechts fronto-lateral und Kalottenfraktur frontal nach parietal zugezogen habe. Als Therapie sei eine osteoklastische Dekompressionskraniotomie rechts fronto-temporo-parietal und Ausräumung des Subduralhämatoms erfolgt. Im Verlauf habe sich der Kläger zunehmend orientiert bei adäquater Sprache und kräftiger Bewegung aller Extremitäten gezeigt. Bei Entlassung habe weiterhin ein schweres Psychosyndrom mit Desorientierung, Antriebsstörung und schweren Gedächtnisstörungen bestanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Anschließend befand sich der Kläger vom 7. bis zum 15. Dezember 2016 zur stationären Rehabilitation in den Kliniken S, Neurologisches Fach- und Rehabilitationskrankenhaus. Der diesbezügliche Entlassungsbericht nannte als Diagnosen SHT durch Sturz vom Pferd am 26. November 2016 mit Kontusionsblutungen rechts frontal und temporal, Hirnkontusion links frontal, akutem Subduralhämatom rechts temporo-parietal, osteoklastische Dekompression, Hämatomausräumung am 26. Oktober 2016, traumatische SAB rechts parietal, Kalottenfraktur rechts frontal bis parietal, organisches Psychosyndrom nach SHT, amnestisches Syndrom und Zustand nach (Z. n.) Aspirationspneumonie. Bei der Aufnahme habe noch eine allgemeine motorische Schwäche und Gangunsicherheit wie neuropsychologisch ein Frontalhirnsyndrom mit Verkennung der Krankheitssituation imponiert. Die Krankheitseinsicht habe bei erheblichen Defiziten der Merkfähigkeit, der Aufmerksamkeit, der Reaktionszeit und Perseverationen völlig gefehlt. Nach Anpassung eines Helms für die Knochenlücke habe der Kläger mobilisiert werden können und sei sicher gehfähig gewesen. Die räumliche Orientierung sei auf dem Klinikgelände schnell möglich gewesen, im Stationsalltag hätten sich immer wieder gute Gedächtnisleistungen, auch über 24 Stunden hinweg, gezeigt. Trotz verbesserter Therapiemotivation habe weiterhin keine Krankheitseinsicht bestanden, der Kläger habe nach Hause gehen wollen. Es habe eine Weglaufgefährdung mit akuter Eigengefährdung vorgelegen; er habe mit dem Auto fahren und zur Arbeit gehen wollen. Am 15. Dezember 2016 sei er von seiner Betreuerin, seiner Mutter, entgegen ärztlichem Rat abgeholt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Im Rahmen des stationären Aufenthalts vom 20. Februar bis zum 1. März 2017 im B2krankenhaus U1 erfolgte eine Entlastung des subduralen Hämatoms und die Anlage einer autologen Duraplastik sowie die Implantation einer Kranioplastik. Der Kläger sei bei Entlassung zu allen Qualitäten orientiert gewesen, sämtliche Gang-, Stand- und Koordinationsprüfungen hätten sicher durchgeführt werden können. Gezeigt habe sich eine Hypästhesie aller Finger der rechten Hand, ansonsten hätten keine Paresen oder sensiblen Defizite vorgelegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Bei der Vorstellung am 3. März 2017 im B2krankenhaus U1 habe der Kläger berichtet, es ginge ihm gut, Probleme seien keine aufgetreten. Kosmetisch sei ein recht schönes Ergebnis mit lediglich temporo-basal etwas angeschwollenem Musculus temporalis zu verzeichnen gewesen. Eine neuerliche neurologische Störung habe sich nicht gezeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Am 10. April 2017 berichtete der Kläger bei der ambulanten Untersuchung im B2krankenhaus U1, dass er zuletzt unter Kopfschmerzen gelitten habe, die sich aktuell jedoch wieder gebessert hätten. Morgens sehe er verschwommen und teilweise fielen ihm Gegenstände aus der rechten Hand. Die Gang-, Stand- und Koordinationsprüfungen hätten sicher durchgeführt werden können, ein direkter oder indirekter Hinweis auf eine Hemisymptomatik habe sich bis auf die Pelzigkeit der rechten Hand nicht ergeben. Der Verlauf sei insgesamt auch weiterhin gut gewesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Der B3 diagnostizierte am 22. Mai 2017 einen Z. n. nach schwerem Reitunfall am 26. November 2016 mit Schädelfraktur und SHT Grad III, eine persistierende Geruchs- und Geschmacksstörung sowie Hemihypästhesie rechts. Daneben habe eine gebesserte Hörstörung vorgelegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>S1, berichtete dem LRA am 26. Juni 2017, dass der Kläger sich aktuell in einem stationären Aufenthalt im B2krankenhaus U1 wegen einer Liquorzirkulationsstörung befinde, eine weitere Operation sei geplant. Seit dem Reitunfall sei er körperlich sowie psychisch vermindert belastbar und immer noch arbeitsunfähig. Er leide unter einer dauerhaften und vollständigen Anosmie, die Hörstörung habe sich gebessert. Gelegentlich bestünden Kopfschmerzen, ebenso ein Druckgefühl im Bereich der Deckelung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>Aus dem Bericht über den stationären Aufenthalt vom 28. bis zum 29. Juni 2017 ergab sich, dass der Kläger von der letzten Operation gut profitiert habe. Er habe von rezidivierenden Schwellungen über der Schädeldachplastik, insbesondere morgens, berichtet, die nach einigen Minuten in aufrechter Position wieder verschwänden. Die deshalb am 29. Juni 2017 erfolgte Kernspintomographie habe einen regelrechten postoperativen Befund gezeigt. Der Kläger sei wach und allseits orientiert gewesen, sensomotorische Defizite hätten nicht vorgelegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Versorgungsärztlich bewertete E eine Hirnschädigung mit einem Einzel-GdB von 30, der dem Gesamt-GdB entsprach. Befunde, wonach die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung) gegeben seien, lägen nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>Das LRA stellte daraufhin durch Bescheid vom 11. August 2017 einen GdB von 30 seit dem 26. November 2016 fest. Die Schwerbehinderteneigenschaft liege demnach nicht vor. Auch bestehe keine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit im Sinne des § 33b Einkommenssteuergesetz (EStG). Ebenso könnten mangels des Vorliegens der Schwerbehinderteneigenschaft gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung der Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen nicht festgestellt werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Der Kläger erhob Widerspruch, zu dessen Begründung er geltend machte, dass das LRA bei der Feststellung des GdB nicht die bei ihm bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen angemessen berücksichtigt habe. Seine neue Schädeldecke, das Implantat, stehe teilweise hervor, insbesondere morgens nach dem Aufstehen und beim Bücken wie auch bei Anstrengung und Stress. Auf dem rechten Auge sehe er nach dem Aufstehen in der Regel für ein bis zwei Stunden verschwommen und die Farben deutlich abgeschwächt, eine augenärztliche Untersuchung habe darüber hinaus eine Einschränkung des räumlichen Sehens ergeben. Am Hirnschädel bestehe eine Schädelnarbe mit erheblichem Verlust von Knochenmasse. Zusätzlich leide er unter starkem Schwitzen auch ohne Leistungsanstrengung, an einer Anosmie und erheblicher Einschränkung des Geschmacksinns. Die Luft- und Sauerstoffaufnahme durch die Nase sei bis auf weniger als ein Drittel eingeschränkt, eine diesbezügliche Operation sei wegen der Hirnverletzung derzeit jedoch nicht möglich. Es bestünden Ausfälle auf der rechten Seite wie Wegfall bzw. Verkrampfen der rechten Hand, Einschränkung des Fußes, Einschlafen der rechten Seite nach kurzem Hochlegen und deutliche Sensibilitätsunterschiede im Vergleich zur linken Seite. Darüber hinaus leide er unter erheblichen Schlafstörungen (maximal drei bis vier Stunden Schlaf pro Nacht), unter Gleichgewichtsstörungen und erheblichen Kopfschmerzen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Z legte versorgungsärztlich dar, dass eine Abhilfe nicht möglich sei. Auch nach erneuter Aktendurchsicht sei die bekannte Hirnschädigung nach schwerem SHT durch Pferdesturz mit osteoklastischer Kraniotomie und Deckung des knöchernen Defekts bereits ausreichend gewürdigt. Die Anosmie und die Narbenbildung seien berücksichtigt. Nach den Berichten des B2krankenhaus U1 seien wesentliche sensomotorische Defizite nicht eruierbar, auch bestehe ein recht schönes kosmetisches Ergebnis ohne wesentliche Entstellung. Das Gangbild sei sicher, dauerhafte Paresen lägen nicht vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 10. November 2017 zurück. Die Auswertung der zuletzt zur Vorlage gekommenen Unterlage habe ergeben, dass die beim Kläger vorliegenden Behinderungen in vollem Umfang erfasst und mit einem GdB von 30 angemessen bewertet seien. Der Beklagte stützte sich insofern auf die Ausführungen des Z.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Am 15. November 2017 hat der Kläger beim Sozialgericht Konstanz (SG) Klage erhoben, mit der er die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von mindestens 50 verfolgt hat. Er hat neben bereits aktenkundigen weitere medizinische Unterlagen vorgelegt:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>Der M, B2krankenhaus U1, hat in seinem Bericht vom 14. Dezember 2017 zur Vorlage bei der A Versicherungs-AG ausgeführt, der Kläger werde infolge des Sturzes vom Pferd dauerhaft am Kopf/Gehirn sowie am rechten Arm und Bein beeinträchtigt sein. Als Diagnosen hat er ein schweres SHT mit sensomotorischer und vegetativer Residualstörung, führend eine Feinmotorikstörung der rechten Hand, eine Hypästhesie des rechten Arms und Beins, eine Riechstörung, eine intermittierend Hyperhidrosis bifrontal sowie Ein- und Durchschlafstörungen gestellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>Aus dem Bericht des M über die ambulante Untersuchung des Klägers am 5. Dezember 2017 haben sich die vorgenannten Diagnosen ergeben. Der Kläger habe die Beschwerden, die er auch zur Begründung des Widerspruchs geltend gemacht habe, geschildert. Unter einer Tagesmüdigkeit leide er nicht. Seine berufliche Wiedereingliederung sei im Juli 2017 erfolgreich verlaufen, seit August 2017 sei er wieder in Vollzeit beschäftigt, die reale Arbeitszeit betrage zwischen 45 bis 50 Stunden wöchentlich, was er insgesamt gut toleriere; die Arbeit bereite ihm Freude. Im klinisch-neurologischen und psychiatrischen Befund sei der Kläger kognitiv unauffällig gewesen, subjektiv habe er eine Hypästhesie des rechten Arms bis zur Höhe der Schulter und des rechten Beins bis zur Höhe des Oberschenkels ohne Dermatombezug angegeben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>H, W-Kliniken, hat nach der Vorstellung des Klägers am 22. Dezember 2016 berichtet, dass dieser weitestgehend ein normales Leben führen könne, von sehr hohen körperlichen oder auch kognitiven Beanspruchungen sei abzuraten. Ein anspruchsvolles Buch zu lesen oder sich einer komplexeren Aufgabe zu widmen, sei sicherlich sinnvoll.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Aus dem HNO-ärztlichen Bericht des T, B2krankenhaus U1, über die ambulante Untersuchung des Klägers am 24. April 2017 haben sich die Diagnosen Z. n. SHT und Anosmie ergeben. Aufgrund des Traumas sei von einer strukturellen Schädigung des Riechnervs auszugehen, eine Prognose auf Verbesserung bestehe nicht. In der Funktionsdiagnostik habe sich ein nasaler Flow von 31 % des Normalwertes gezeigt, über eine subjektive Nasenatmungsbehinderung habe der Kläger nicht berichtet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Der Beklagte hat die versorgungsärztliche Stellungnahme des G vorgelegt, wonach bei der derzeitigen von M berichteten Befundlage – keine relevante kognitive Beeinträchtigung, diskrete Feinmotorikstörung der rechten Hand, Verlust des Riechvermögens mit Geschmacksstörung und Sensibilitätsstörungen am rechten Arm und Bein – von einem Hirnschaden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung (Einzel-GdB 30) auszugehen sei. Eine deutliche Reduktion des nasalen Flows ohne subjektive Nasenatmungsbehinderung bedinge keinen höheren Einzel-GdB als 10.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>Das SG hat sodann die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen befragt:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>M hat berichtet, den Kläger dreimalig im Jahr 2017 behandelt zu haben. Als Diagnosen hat er diejenigen mitgeteilt, die sich bereits aus seinen zur Vorlage gekommenen Berichten ergeben hatten. Die Bewertung der Hirnschädigung mit einem GdB von 30 sei nachvollziehbar, wenn auch streng, denn selbst wenn keine hirnorganischen Funktionsstörungen und Leistungsbeeinträchtigungen mehr vorlägen, sei der GdB nach offenen Hirnverletzungen nicht mit unter 30 zu bewerten. Berücksichtigt werden sollte, dass die ambulanten Vorstellungen des Klägers wesentlich von dessen Motivation getragen gewesen seien, baldmöglichst seiner beruflichen Tätigkeit wieder nachgehen zu können, so dass diesem eine gewisse Tendenz zur Dissimulation zu unterstellen sei. Die residualen zentralvegitativen Störungen als Ausdruck eines Hirndauerschadens in Form von deutlichen Schlafstörungen und Störung der Schweißregulation könnten als mittelgradig gewertet werden, womit ein GdB von 40 gerechtfertigt wäre. Erhebliche Auswirkungen auf den Allgemeinzustand seien nicht zu erkennen ebenso keine psychischen Störungen, die sich im Alltag deutlich auswirkten, sodass ein GdB von 50 oder mehr als unangemessen hoch erscheine. Möglicherweise seien die berichteten Auffälligkeiten des rechten Arms mit Verkrampfungen und unwillkürlichem Fallenlassen von Dingen Ausdruck epileptiformer-fokaler Anfälle. Solche hätten zwar in den wiederholten EEG-Untersuchungen nicht belegt werden können, deren Nichtnachweis schließe diese jedoch nicht sicher aus. Bei der hypothetischen Annahme von einfach-fokalen Anfällen wäre der GdB mit 50 bis 60 zu bewerten. Aufgrund des fehlenden Nachweises epileptischer Anfälle flössen diese jedoch nicht in den GdB ein. Für die anzunehmende einzelne Feinmotorikstörung geringer Ausprägung erscheine vielmehr der hierfür vorgesehene unterste Anhaltswert (GdB von 30) als angemessen. Der Verlust des Reichvermögens mit damit verbundener Beeinträchtigung der Geschmackswahrnehmung führe zu einem GdB von 15. Für alle anzunehmenden Funktionsbeeinträchtigungen erscheine es damit angebracht, den Gesamt-GdB mit 40 zu bewerten. Dies entspreche dem oberen Anhaltswert für Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung, ein GdB von 30 sei bereits ohne erkennbare Funktionsstörungen nach einem schweren SHT gerechtfertigt, für einen GdB von 50 oder höher fehle der hinreichende Beleg der Erheblichkeit und Deutlichkeit der Auswirkungen der Hirnschädigung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Aus der sachverständigen Zeugenaussage des S1 hat sich die regelmäßige hausärztliche Behandlung des Klägers seit September 2012, zuletzt am 12. März 2018, ergeben. Dieser leide unter einem SHT nach Reitunfall im November 2016, einer Anosmie, einer Ageusie, einem verschwommenen Sehen auf dem rechten Auge, einem abgeschwächten Farbsehen und Einschränkung des räumlichen Sehens, einer Schwerhörigkeit rechts, einer deutlich behinderten Nasenatmung, einem plötzlichen starken Schwitzen ohne erkennbaren Grund, einer Schlafstörung, zeitweisen Gleichgewichtsstörungen, wechselnden Kopfschmerzen, teilweisen Ausfällen beim Schreiben und Sprechen, einem teilweise hervorstehenden Schädeldeckenimplantat, vor allem morgens, einer Schuppenflechte am ganzen Körper, laut Hautärztin sei ein Triggereffekt aufgrund des Unfalls möglich, einer motorischen Störung der rechten Körperhälfte (z. B. Fallenlassen von Dingen, Muskelverkrampfungen, Einschlafen von Extremitäten), unklaren Schmerzen in den Hand- und Fußgelenken, brennenden Fußsohlen und einem deutlichen Unterschied der Sensibilität zwischen der rechten und linken Köperhälfte. Die immer noch vorliegenden komplexen Funktionsstörungen behinderten den Kläger in seinem Alltag und seinem Beruf sehr. Der anerkannte GdB von 30 sei zu niedrig, eine Beurteilung sollte jedoch durch einen Facharzt für Neurologie und/oder Neurochirurgie erfolgen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Neben bereits aktenkundigen medizinischen Unterlagen hat S1 seiner sachverständigen Zeugenaussage den Bericht des Klinikums der Universität M1, Neurochirurgische Klinik und Poliklink, über den stationären Aufenthalt des Klägers vom 26. bis zum 28. Februar 2018 vorgelegt. Am 27. Februar 2018 sei eine Refixierung der Custom-Bone-Kranioplastik mittels eine Kraniofixniete rechts hochfrontal und rechts parietal erfolgt. Bei der Voruntersuchung am 2. Februar 2018 habe sich im Tastbefund keine Auffälligkeit ergeben, der Kläger habe jedoch nachhaltig beschrieben, dass lageabhängig im Bereich der Stirnregion eine tastbare Stufe auftrete, die auch von dessen Mutter wahrgenommen werde. Die am 28. Februar 2018 durchgeführte CT-Kontrolluntersuchung habe eine regelrechte Lage des implantierten Fremdmaterials gezeigt, postoperativ hätte keine weitere Beweglichkeit der Kalottenplastik bestanden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>K1, hat mitgeteilt, den Kläger mehr als zehn Mal, zuletzt am 14. Dezember 2017, behandelt zu haben. Dieser leide unter einem Hörverlust des rechten Ohres von 45 % nach der Tabelle von Röser 1980 und einem kompletten Geruchs- und Geschmacksverlust im Sinne einer Anosmie, die Geschmacksfunktion der Zunge sei erhalten. Der Hörverlust sei mit einem GdB von 10, der Geruchs- und Geschmacksverlust mit einem GdB von 15 zu bewerten, der Gesamt-GdB betrage 25.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Der Beklagte hat nach Auswertung der sachverständigen Zeugenaussagen und der zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen vergleichsweise angeboten, den GdB mit 40 ab dem 26. November 2016 festzustellen. Diesem Vergleichsangebot hat die versorgungsärztliche Stellungnahme des R zugrunde gelegen, wonach der GdB in Anbetracht der bestehenden diskreten Störung der Feinmotorik der rechten Hand, der Gefühlsstörung des rechten Arms und Beins, der Riechstörung, der intermittierenden Hyperhidrosis und den Schlafstörungen im Hinblick auf die Tatsache, dass eine offene Hirnverletzung vorgelegen habe, mit 40 zu bewerten sei. Ein GdB von 50, wie vom Kläger begehrt, sei keinesfalls vertretbar, da ein verbliebener Hirnschaden mit einer mittelschweren Leistungsbeeinträchtigung nicht vorliege. Diese Auffassung werde auch von den behandelnden Ärzten des Klägers geteilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Das Vergleichsangebot hat der Kläger nicht angenommen. Er leide unter einem Hirnschaden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung, der mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten sei. Die mittelschwere Leistungsbeeinträchtigung ergebe sich aus den Ausfällen der rechten Körperseite, die rechte Hand sei ohne Vorankündigung kraftlos und verkrampfte sich. Insgesamt sei seine rechte Körperseite deutlich eingeschränkt, es bestehe eine deutlich unterschiedliche Sensibilität zwischen der linken und rechten Körperseite. Zusätzlich leide er unter Schlafstörungen, er könne maximal drei bis vier Stunden schlafen. Darüber hinaus komme es zu Gleichgewichtsstörungen und erheblichen Kopfschmerzen. Auch die Luft-und Sauerstoffaufnahme durch die Nase sei nur noch zu weniger als einem Drittel möglich. Der Geschmacksinn sei völlig verloren gegangen. Zudem bestünden Problem auf dem rechten Auge und auch mit dem Implantat im Schädelbereich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 12. März 2019 hat der Kläger angegeben, keine sportlichen Aktivitäten mehr ausüben zu können. Er arbeite als Banker, bei einem Kundentermin habe er beispielsweise einfach so ein Glas fallenlassen, wobei er nicht habe verorten können, ob ihm die Kraft gefehlt oder er es kognitiv nicht geschafft habe, das Glas festzuhalten. Das Schädelimplantat stehe zwischenzeitlich nur noch im Umfang einer Fingerkuppe ab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Das SG hat daraufhin bei B der O Klinik, aufgrund der ambulanten Untersuchung des Klägers am 27. Mai 2019 ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten erhoben. Demnach habe ein Z. n. schwerem SHT Grad III am 26. November 2016, eine traumatische SAB rechts-parietal, Kontusionsblutungen subkortikal und rechts fronto-temporal, ein Kontusionsödem, eine osteoklastische Dekompressionskraniotomie am Unfalltag, eine Anosmie, fraglich eine leichte Hörminderung rechts und ein episodischer posttraumatischer Kopfschmerz vorgelegen. Eine Trennung in Einzel-GdB erscheine nicht sinnvoll, der Gesamt-GdB betrage 30. In diesem sei auch der völlige Verlust des Riechvermögens mit einer damit verbundenen Störung der Geschmackswahrnehmung, die mit einem Einzel-GdB von 15 zu bewerten wäre, berücksichtigt. Entgegen den Ausführungen des M werde ein Gesamt-GdB von 40 nicht erreicht. Dessen diesbezügliche Begründung sei die Annahme einer zentral-vegetativen Störung als Ausdruck des Hirnschadens gewesen. Ein wiederkehrendes profuses Schwitzen bedinge aber keine wesentliche Beeinträchtigung im beruflichen oder privaten Alltag, zumindest nicht im Sinne des Schwerbehindertenrechts, so dass auch unter Berücksichtigung des Tagesablaufs des Klägers und des Gesamtbildes die Folgen des SHT keinesfalls als mittelgradig einzustufen seien. Weshalb M einfach-fokale Anfälle diskutiert habe, sei schleierhaft, bislang hätten sich hierfür keine Hinweise ergeben. K1 sei auf seinem HNO-ärztlichen Fachgebiet im Wege einer Addition der Einzel-GdB von einem Gesamt-GdB von 25 ausgegangen, was nicht den Bewertungsvorgaben entspreche. Die vom Kläger beklagten frühmorgendlichen Sehstörungen in Form eines rechtsseitigen Verschwommensehens hätten sich neurologisch nicht validieren und erklären lassen. Ein augenärztlicher Befund sei den Akten nicht zu entnehmen, gegebenenfalls sei eine sachverständige Zeugenaussage des behandelnden Augenarztes einzuholen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Der Kläger sei mit dem PKW ohne Begleitung zur gutachterlichen Untersuchung angereist; er habe keine Probleme beim Führen eines PKW berichtet. Morgens nach dem Aufstehen sehe er mit dem rechten Auge oft verschwommen, auch Farben nehme er weniger intensiv wahr. Die Symptomatik dauere etwa 30 Minuten, danach sei alles wieder normal. Sie trete jedoch auch nach körperlich schwerer Anstrengung auf und stehe nach Erachtens des Klägers möglicherweise im Zusammenhang mit der beweglichen Kopfplatte nach Kalottendefekt; die Platte sei nicht fest eingewachsen. Aus der rechten Hand fielen ihm häufiger Gegenstände, zuletzt eine Bohrmaschine, aber auch schon eine Kaffeetasse. Sein Schlaf sei schlecht, er schlafe zwar ein, wache dann aber wieder auf und könne nicht mehr einschlafen; die durchschnittliche Gesamtschlafzeit betrage dreieinhalb Stunden. Mitunter schlafe auch die rechte Körperseite ein, an dieser habe er auch ein verändertes Schmerz- und Berührungsempfinden. Seit dem Unfall leide er unter Kopfschmerzen, die sich nur in geringem Maße beeinflussen ließen. Es bestehe ein kontinuierlicher Basisschmerz, sein gesamter Kopf sei schmerzhaft, der Schmerz schlecht lokalisierbar. Alle drei bis vier Tage komme es auf der rechten Seite zu heftigen Kopfschmerzen mit einer Dauer zwischen einer und fünf bis sechs Stunden. Schmerzmittel nehme er nicht ein, er versuche die Symptomatik mit Trinken und Bewegung zu kontrollieren; Übelkeit oder Erbrechen bestünden nicht. Darüber hinaus imponiere ein profuses Schwitzen am ganzen Körper und manchmal ein leichter Schwindel. Das Riech-und Geschmacksvermögen sei vollkommen erloschen, das rechte Ohr hörgemindert, ein Hörgerät sei bereits empfohlen worden, ein solches habe er bislang aber nicht tragen wollen. Seit dem Unfall leide er auch unter einer schlechten Nasenatmung, ein operativer Eingriff sei im weiteren Verlauf geplant. Epileptische Anfälle seien bislang nicht aufgetreten. Die seit dem Unfallereignis bestehende Psoriasis vulgaris am ganzen Körper werden mit Kortisonsalbe behandelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>Der Kläger habe im Weiteren angegeben, früher gerne Sport gemacht zu haben, das funktioniere jedoch nicht mehr ganz so gut wie früher. Das Snowboardfahren habe er zwischenzeitlich aufgegeben, langsames Joggen und Fahrradfahren seien ihm wieder möglich. Zuletzt sei er im Frühjahr 2018 mit seiner Partnerin im Urlaub in Ägypten gewesen, dieses Jahr sei ein Italienurlaub mit dem Auto geplant.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Im neurologischen Befund habe sich ein aufrechtes und flüssiges Gangbild mit normaler Schrittlänge und Gehgeschwindigkeit sowie normaler Mitbewegung der Arme gezeigt, minimal reduziert sei die Mitbewegung des rechten Arms gewesen. Bei freier Beweglichkeit des Kopfes habe über der rechten Kalotte eine tastbare Narbe nach großer Kraniotomie ohne Verschieblichkeit des Implantats bestanden. Der Visus sei unauffällig und das Gesichtsfeld fingerperimetrisch intakt bei leichtgradiger Hypästhesie im Bereich der linken Wange und gut erhaltener Schmerzwahrnehmung gewesen. Hinweise auf eine Aphasie oder Dysarthrie hätten nicht bestanden, ebenso nicht auf Paresen. Im Bereich der Extremitäten hätten sich keine Sensibilitätsstörungen feststellen lassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Der psychische Befund sei regelrecht gewesen. Im allgemeinen körperlichen Befund habe ein guter Allgemein- und Ernährungszustand bei ausgedehnter Psoriasis im Bereich beider Arme und kleineren Herden auch am Rücken vorgelegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>Das in den ersten Tagen und Wochen nach dem Unfallereignis bestehende organische Psychosyndrom habe sich erfreulicherweise vollständig zurückgebildet. Der Kläger arbeite wieder als Betriebswirt im Finanzmanagement in Vollzeit. Neurologisch bestehe eine Anosmie für sämtliche aromatische Geruchsstoffe und eine sekundäre Dysgeusie (Geschmacksstörung). Herdneurologische Auffälligkeiten, eine rechtsseitige Spastik oder eine für das Schwerbehindertenrecht relevante Störung der Motorik bzw. Feinmotorik hätten nicht festgestellt werden können. Der Kläger habe sich von dem lebensbedrohlichen schwersten SHT Grad III ausgezeichnet erholt, er sei mobil, fahrtauglich und habe keine Paresen oder klinische Symptome einer zentralen Innervationsstörung gezeigt, auch feinmotorische Tätigkeiten wie Schreiben etc. bereiteten ihm keine Schwierigkeiten. Die angegebenen Kopfschmerzen führten ebenso nicht zu einer schweren alltäglichen Beeinträchtigung oder Arbeitsunfähigkeit, die regelmäßige Einnahme eines Analgetikums sei nicht notwendig. In der Gesamtbetrachtung handele es sich um eine sehr leichte Leistungsbeeinträchtigung nach einem SHT Grad III, die auch unter Berücksichtigung der Anosmie und der glaubhaften posttraumatischen Kopfschmerzen mit einem GdB von 30 zu bewerten sei. Zusätzlich sei der Kläger wieder in der Lage, in begrenztem Maße sportliche Tätigkeiten auszuüben.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Aufgrund der gutachterlichen Ausführungen des B hat der Beklagte das Vergleichsangebot nicht weiter aufrechterhalten. Ein GdB von 30 sei bereits festgestellt. Er hat sich insofern auf die entsprechende versorgungsärztliche Stellungnahme des G gestützt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Der Kläger hat Einwände gegen das Sachverständigengutachten des B erhoben. Dieser habe diverse Angaben, die er gemacht habe, (Schuppenflechte am ganzen Körper, Schmerzen/Beschwerden in den Knöcheln, schlechte Nasenatmung ohne Möglichkeit einer Operation, Verkrampfung der rechten Hand – in der Regel wie ein Faust geformt –, Einschlafen der rechten Köperseite beim Schreiben, Telefonieren oder Sitzen – deswegen Versorgung mit einem höhenverstellbaren Schreibtisch und weiteren Hilfsmitteln –, dauerhafte Kopfschmerzen, Beweglichkeit des Implantats – B sei einer der Ärzte gewesen, die zu einer erneuten Operation geraten hätten, woran er sich bei der Begutachtung nicht mehr habe erinnern können –, Vorstellung in der Notaufnahme nach eineinhalb Tagen Wintersport im Januar 2018 – unter anderem bei B – wegen schwerer Übelkeit und Hervorstehen des Implantats, nur langsames Laufen und kein Joggen möglich, Einschränkung der Leistungsfähigkeit – beruflich nur noch Betreuung der Firmen- und nicht der Privatkunden) nicht beachtet oder hinreichend gewürdigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>B hat diesbezüglich in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme ausgeführt, der Kläger sei am 28. Januar 2018 kurzstationär aufgenommen worden, anamnestisch habe er nach einem sechsstündigen Skifahren mit Helm am Vortag von einem zunehmenden Druckgefühl, diffus am ganzen Körper, einer stark ausgeprägten Übelkeit und Erbrechen ohne postvomitale Beruhigung, aber keiner Gangunsicherheit oder Sturzneigung berichtet. Die Entzündungswerte seien erhöht gewesen, so dass von einem Infekt, unabhängig vom SHT, als Ursache habe ausgegangen werden müssen. Während dieses Aufenthalts habe er den Kläger konsiliarisch gesehen, wobei ihm eine etwas vorgewölbter Knochendeckel bei Z. n. Schädelrepanation aufgefallen sei. Er habe eine konsiliarische Besprechung dieses Befundes mit den Kollegen der Klinik für Neurochirurgie empfohlen, ob dies zwischenzeitlich erfolgt sei, entziehe sich seiner Kenntnis. Bei der Einschätzung des GdB gehe es nicht um Diagnosen, sondern um Funktionseinschränkungen und Beeinträchtigungen im Alltag, die länger als sechs Monate bestünden. Die vom Kläger angegebene Sehstörung in Form eines flüchtigen Verschwommensehens mit einer Dauer von ca. 30 Minuten begründe keine Schwerbehinderteneigenschaft, zumal sich hieraus keine bleibende Funktionsbeeinträchtigung ableiten lasse. Die mitgeteilte Verkrampfung der rechten Hand lasse sich neurologisch nicht nachvollziehen, auch hierdurch werde der Kläger nicht dauerhaft und anhaltend beeinträchtigt. Bei der Bewertung mit einem GdB von 30 seien auch die sich gelegentlich alle drei bis vier Tage verstärkenden und für eine bis maximal fünf bis sechs Stunden anhaltenden Kopfschmerzen berücksichtigt. Anzumerken sei jedoch, dass der Kläger nicht auf die Einnahme von Analgetika angewiesen und kopfschmerzbedingte Fehlzeiten nicht aufgetreten seien. Die im Weiteren vom Kläger angesprochene Psoriasis bereite hauptsächlich ästhetische Probleme, der diesbezügliche GdB betrage maximal 10. Auch die behinderte Nasenatmung sei vermutlich mit keinem höheren GdB zu bewerten, eine Veränderung des Gesamt-GdB ergebe sich hierdurch nicht. Nach nochmaliger Durchsicht der Akte und der dokumentierten medizinischen Unterlagen werde unter Berücksichtigung der Teilhabe, der beruflichen und privaten Lebensgestaltung die Schwerbehinderteneigenschaft nicht erreicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="40"/>Der Kläger hat hiergegen eingewandt, dass sich die Frage stelle, ob B sich die ihm zur Verfügung gestellten Unterlagen angesehen habe. Denn dann hätte er erkennen müssen, dass im Februar/März 2018 eine Behandlung inklusive Operation wegen der hervorstehenden Schädeldecke erfolgt sei. B habe hingegen angegeben, dass er nicht wisse, ob eine Begutachtung durch die Neurochirurgie erfolgt sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="41"/>In einer weiteren ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme hat B darauf hingewiesen, dass sich der Kläger vom 26. bis zum 28. Februar 2018 in kurzstationärer Behandlung in der Neurochirurgischen Klinik des Klinikums G1, M1 befunden habe. Es sei eine Refixierung der Custom-Bone-Kranioplastik erfolgt, der klinische Befund sei anschließend bis auf eine Sensibilitätsstörung des rechten Arms und Beins völlig regelrecht gewesen. Anderweitige, über die Sensibilitätsstörung hinausgehende Auffälligkeiten seien nicht beschrieben worden; der postoperative Verlauf sei komplikationslos gewesen. Ein höherer GdB als 30 bestehe somit nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="42"/>Auch weiterhin hat der Kläger die Bewertung mit einem GdB von 30 nicht für nachvollziehbar gehalten und auf seine bestehenden Funktionsstörungen hingewiesen. Insbesondere sei auch die Platte, die zur Deckelung des Schädeldefekts eingesetzt worden sei, weiterhin beweglich und sichtbar. Aufgrund des Hirnschadens bestünden mittelschwere Beeinträchtigungen, die einen GdB von 50 rechtfertigten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage durch Gerichtsbescheid vom 14. September 2020 abgewiesen. Die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers seien mit einem Gesamt-GdB von 30 ausreichend bewertet. Maßgeblich für die GdB-Bewertung bei Hirnschäden sei das Ausmaß der verbliebenden Ausfallerscheinungen, die nach dem Sachverständigengutachten des B und dessen ergänzenden Stellungnahmen lediglich gering ausgeprägt seien. Nach der sachverständigen Zeugenaussage des K1 seien die zusätzlich bestehende Hörminderung wie auch nach der ergänzenden Stellungnahme des B die Psoriasis und die behinderte Nasenatmung mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 zu bewerten, woraus keine Erhöhung des Gesamt-GdB folge.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Am 20. Oktober 2020 hat der Kläger gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 19. Oktober 2020 zugestellten Gerichtsbescheid Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat das nervenärztliche Gutachten des K aufgrund dessen ambulanter Untersuchung am 11. Juni 2021 erhoben. Diagnostisch habe ein Folgezustand nach einem schweren SHT Grad III am 26. November 2016 mit traumatischer SAB rechts parietal, Kontusionsblutungen (durch Gewalteinwirkung entstandene Einblutungen in das Hirngewebe) subcortical rechts fronto-temporal, Kontusionsödem links frontal, akutem SAB rechts fronto-lateral und Kalottenfraktur frontal bis nach parietal bestanden. Bedingt durch die damit verbundene Schädigung des Gehirns seien dauerhaft kognitive Störungen mit Beeinträchtigung von Konzentration, Merkfähigkeit und Dauerbelastbarkeit, eine komplette Anosmie (vollständiger Verlust des Geruchsinns mit sekundärer starker Beeinträchtigung des Geschmackssinns), eine Hörminderung rechts, anfallsartig auftretende vegetative Störungen mit starkem Schwitzen ohne äußeren Anlass, eine leichte Halbseitensymptomatik rechts mit Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand und unvermittelt auftretender Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beins bis hin zu Stürzen, häufig auftretende posttraumatische Kopfschmerzen mit bis zu mehreren Stunden Dauer, Schlafstörungen mit der Folge vermehrter Tagesmüdigkeit und affektive Störungen mit vermehrter Reizbarkeit und verminderter emotionaler Schwingungsbreite verblieben. Möglicherweise seien die morgendlichen Sehstörungen ebenfalls auf zentrale vegetative Regulationsstörungen, beispielsweise durch Störungen der Blutdruckregulation, zurückzuführen. Zusammenfassend leide der Kläger unter einer mittelgradigen Funktionsbeeinträchtigung des Gehirns nach schwerem SHT. Da sämtliche Funktionsbeeinträchtigungen des Gehirns auf dieselbe Hirnschädigung im Rahmen des stattgehabten schweren SHT zurückzuführen seien und sich gegenseitig beeinflussten, erscheine es nicht sinnvoll, jeder einzelnen Beeinträchtigung einen Einzel-GdB zuzuordnen. Zusammengenommen sei unter Berücksichtigung der Gesamtauswirkungen der beschriebenen Funktionsbeeinträchtigungen ein Gesamt-GdB von 50 gerechtfertigt. B habe überhaupt nicht und M nur bedingt die nachweisbaren kognitiven Einbußen des Klägers berücksichtigt. Zu beachten sei, dass der Kläger bei seiner beruflichen Tätigkeit besonderen kognitiven Anforderungen entsprechen müsse. Ohne die großen Zugeständnisse seines Arbeitgebers mit weitgehend freier Gestaltungsmöglichkeit der Arbeitszeiten in Abhängigkeit von bestehenden Beschwerden hätte dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erhebliche Probleme am Arbeitsplatz; insbesondere, wenn er sich in Konkurrenz mit gesunden Bewerbern um eine neue Stelle bewerben müsste. Insofern sei eine angemessene Beurteilung eines Nachteilsausgleichs für den Kläger umso wichtiger, zumal es genügend Erfahrungen gebe, dass kognitive Beeinträchtigungen nach einem SHT im Langzeitverlauf eher dazu neigten, zuzunehmen als sich – wie in ersten zwei Jahren nach dem Unfall – zu bessern.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Der Kläger habe angegeben, dass im Alltag hauptsächlich Schwierigkeiten mit der rechten Körperseite bestünden. Er habe oft Kopfschmerzen und sehe morgens für die Dauer von einer bis eineinhalb Stunden verschwommen, auch das Farbsehen sei abgeschwächt. Bei körperlicher Anstrengung stehe die in den Schädel eingesetzte Platte auch weiterhin hervor. Aus der rechten Hand fielen ihm immer wieder Gegenstände, beim Gehen blockiere manchmal das rechte Bein, etwa drei bis vier Mal pro Woche, des Öfteren könne er sich auffangen oder mit der Hand festhalten, sonst komme es zu einem Sturz. Die rechte Hand wie auch das rechte Bein seien oft kribbelig. Teilweise verkrampfe sich seine rechte Hand zur Faust, Schreiben gehe so einigermaßen, beim Arbeiten am PC müsse er seine Position häufiger wechseln und seine Hand drehen. Beim Schreiben sei er viel langsamer als früher. Das Temperaturempfinden auf der rechten Seite sei wie auch sein Gesichtsfeld und das räumliche Sehen eingeschränkt. Die Kopfschmerzen träten zweimal pro Woche ganz schlimm auf (Intensität von drei bis neun auf einer Skala bis zehn); im Notfall nehme er Aspirin ein, was meist nicht helfe. Aufgrund von Zugeständnissen seines Arbeitgebers habe er ein Gleitzeitkonto und könne beim Auftreten starker Kopfschmerzen kurzfristig ausstempeln. Ein- bis zweimal in der Woche leide er unter starkem Schwitzen. Auch habe er mit dem Gleichgewicht Probleme, es werde ihm schwindelig und er müsse sich für fünf Minuten hinsetzen. Das Einschlafen sei durch ein Brennen in den Fußsohlen gestört, nachts bestünden erhebliche Schlafstörungen. Hinsichtlich seiner geistigen Leistungsfähigkeit habe seine Schnelligkeit abgenommen, es gehe nicht mehr so gut wie früher. Von Kollegen und Familienmitgliedern habe er das Feedback erhalten, dass seine Aufmerksamkeit und Konzentration nachgelassen hätten, beim Sprechen seien Aussetzer aufgefallen. Oft sei er enttäuscht, dass er Herausforderungen nicht mehr so gut meistern könne wie früher, er sei dann sehr frustriert und unzufrieden mit sich selbst. In den letzten ein bis zwei Jahre sei zusätzlich ein Tinnitus hinzugekommen. Dank des Umstandes, dass man ihn mit der Betreuung von Firmenkunden betraut habe, habe er den Vorteil, pro Woche deutlich weniger Termine absolvieren zu müssen, als wenn er Privatkunden hätte. Wichtig sei für ihn auch, dass er von Seiten seines Vorgesetzten viel Verständnis entgegengebracht bekomme. Sein Büro sei behindertengerecht mit Stehhilfe, höhenverstellbarem Schreibtisch, Headset, spezieller Tastatur und Maus eingerichtet. Nach Ansicht seiner mit ihm zusammenlebenden Lebensgefährtin habe er früher deutlich mehr Emotionen, wie z. B. Freude oder Trauer, gezeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Im psychischen Befund sei der Kläger wach und orientiert bei ausgeglichener Stimmungslage unter zeitweiser depressiver Färbung gewesen. Die affektive Schwingungsfähigkeit habe etwas reduziert imponiert, der Antrieb sei nicht erkennbar beeinträchtigt gewesen. Bei der testpsychologischen Untersuchung (neuropsychologische Testbatterie CERAD PLUS) habe er motiviert mitgearbeitet, es hätten sich dennoch deutlich ausgeprägte kognitive Einbußen gezeigt. Bei acht von 18 Aufgaben habe der Kläger mehr als eine Standardabweichung unterhalb des an Alter und Schulbildung normierten zu erwartenden Testergebnisses gelegen, in drei Tests habe die Abweichung mehr als zwei Standardabweichungen betragen. Die festgestellten Einschränkungen hätten sich schwerpunktmäßig auf das verbale Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit bezogen. Dieses Ergebnis sei ein deutlicher Hinweis dafür, dass sowohl die Beobachtungen der Angehörigen und Kollegen wie auch die Wahrnehmungen des Klägers selbst hinsichtlich der Beeinträchtigung des kognitiven Leistungsvermögens durchaus zutreffend seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Der körperlich-neurologische Untersuchungsbefund habe eine Hypästhesie der rechten Extremitäten und auch ein reduziertes Temperaturempfinden ergeben. Manifeste Paresen hätten nicht vorgelegen, es hätten sich jedoch Hinweise auf eine belastungsabhängige Schwäche mit leichtem Absinken der rechtsseitigen Extremität im Halteversuch wie eine Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand mit langsamerem Fingertapping gegenüber links gezeigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Der Beklagte hat auf das Sachverständigengutachten des K wiederum vergleichsweise angeboten, ab dem 26. November 2016 den GdB mit 40 festzustellen. Nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme des W1 sei es aufgrund der gutachterlichen Feststellungen des K vertretbar, die Hirnschädigung mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Im Gegensatz zur Begutachtung bei B habe K zwar testpsychologische Untersuchungen vorgenommen, diese seien jedoch, weil mitarbeitsabhängig, mit großer Zurückhaltung zu bewerten. Im psychischen Befund hätten sich hingegen keine ausgeprägten Funktionsbeeinträchtigungen gezeigt. Die körperlich-neurologische Untersuchung habe keinen Hinweis auf das Vorliegen einer manifesten Parese ergeben, allenfalls für eine belastungsabhängige Schwäche mit leichtem Absinken der rechtsseitigen Extremität sowie einer Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand, wobei auch diese Befunde mitarbeitsabhängig seien. Selbst wenn B diese Befunde in seinem Sachverständigengutachten etwas unterbewertet habe, ließen sich weder von Seiten kognitiver Störungen noch körperlich-neurologischer Befunde derartig ausgeprägte Funktionseinschränkungen nachweislich ableiten, dass ein Einzel-GdB von 50 begründet wäre. Die Schwerhörigkeit, die Behinderung der Nasenatmung und die Schuppenflechte seien mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 zu bewerten. In Abweichung von den bisherigen Ausführungen könne es vertreten werden, eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Der Kläger hat den Vergleichsvorschlag nicht angenommen und darauf hingewiesen, dass der Beklagte nicht auf den Verlust des Geschmacksinns, den Tinnitus und die Ausfälle der rechten Seite eingegangen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Hierzu hat der Beklagte ausgeführt, dass es zwar zutreffend sei, dass in der versorgungsärztlichen Stellungnahme, die dem Vergleichsangebot zugrunde gelegen habe, der Tinnitus, der Verlust des Geschmackssinns und die Ausfälle der rechten Seite nicht ausdrücklich tenoriert worden seien. Allerdings sei die belastungsabhängige Schwäche der rechtsseitigen Extremitäten sowie die Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand von den Auswirkungen der nun mit einem Einzel-GdB von 40 bewerteten Hirnschädigung umfasst. Der Verlust des Geschmackssinns, der zwar eine Einschränkung der Lebensqualität bedeuten mag, aber keine eigentliche Behinderung sei, sei isoliert mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, der sich nicht auf den Gesamt-GdB auswirke. Dasselbe gelte für den beklagten Tinnitus. Im Ergebnis könne damit ein Gesamt-GdB von 40, nicht jedoch von 50 angeboten werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Zur Berufungsbegründung bekräftigt der Kläger seine Einwände gegen die gutachterlichen Ausführungen des B und stützt sich auf das Sachverständigengutachten des K.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Der Kläger beantragt – sinngemäß –,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="54"/>den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 14. September 2020 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 zu verpflichten, seit dem 26. November 2016 einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="56"/>die Berufung des Klägers zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Ein Gesamt-GdB von 50 und damit die Schwerbehinderteneigenschaft werde entgegen dem Sachverständigengutachten des K nicht erreicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="58"/>Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig, und begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 14. September 2020, mit dem das SG die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) des Klägers auf Abänderung des Bescheides vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 (§ 95 SGG) und Verpflichtung des Beklagten, ab dem 26. November 2016 einen GdB von mindestens 50 festzustellen, abgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, juris, Rz. 26; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung, demnach der 15. September 2022.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Die Begründetheit der Berufung folgt aus der Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), als der Beklagte ab dem 26. November 2016, dem Zeitpunkt des Reitunfalls des Klägers, nur einen GdB von 30 und nicht von 50 festgestellt hat. Der Kläger hat zur Überzeugung des Senats auf seinen Antrag vom 20. März 2017 einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 und damit der Schwerbehinderteneigenschaft. Ein höherer GdB, der Kläger hat die Feststellung eines GdB von mindestens 50 beantragt, wird hingegen nicht erreicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Nach Auswertung der im Verwaltungs- und im erstinstanzlichen Verfahren zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen, ärztlichen Meinungsäußerungen, sachverständigen Zeugenaussagen und insbesondere aufgrund des schlüssigen und nachvollziehbaren Sachverständigengutachtens des K ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass der beim Kläger ab dem 26. November 2016 festgestellte GdB von 30 unterbewertet ist. Die beim ihm infolge des Sturzes vom Pferd verbliebenen Funktionsstörungen erreichen vielmehr ein Ausmaß, dass die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ab dem 26. November 2016 rechtfertigt. Das dem entgegenstehende Sachverständigengutachten des B und die abweichenden versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten, die der Senat als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen berücksichtigt hat, stehen dem nicht entgegen. Sie haben den Senat nicht überzeugen können, da sie die gesetzlichen Vorgaben zur Bewertung des GdB nicht hinreichend berücksichtigt haben. Das SG hat demnach die Klage zu Unrecht durch Gerichtsbescheid vom 14. September 2020 abgewiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Der Anspruch des Klägers auf Feststellung des GdB richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind nach § 2 Abs. 2 SGB IX im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Soweit der Antrag sich auf den Zeitraum vor dem 1. Januar 2018 bezieht, richtet sich der Anspruch nach den in diesem Zeitraum geltenden gesetzlichen Vorgaben (vgl. §§ 69 SGB IX ff. a. F.), nach denen ebenso für die Bewertung des GdB die VersMedV und die VG die maßgebenden Beurteilungsgrundlagen waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2, c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2, e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (VG, Teil A, Nr. 3, a).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VG, Teil A, Nr. 3, c). Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zur Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3, d).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Einzel- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –, juris, Rz. 13). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen des Klägers ab dem 26. November 2016 einen GdB von 50 und damit die Feststellung der Scherbehinderteneigenschaft rechtfertigen. Der Beklagte hat durch Bescheid vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017, durch den er lediglich ab dem vorgenannten Zeitpunkt einen GdB von 30 festgestellt hat, wie auch das SG, das durch Gerichtsbescheid vom 14. September 2020 die auf Verpflichtung des Beklagten gerichtete Klage auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 abgewiesen und damit den festgestellten GdB von 30 bestätigt hat, die beim Kläger bestehenden Funktionsstörungen unterbewertet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Der Kläger leidet, wie der Senat dem schlüssigen und nachvollziehbaren Sachverständigengutachten des K entnimmt, das im Berufungsverfahren auf Antrag nach § 109 SGG nach dessen ambulanter Untersuchung am 11. Juni 2021 erhoben worden ist, unter einem Folgezustand nach einem schweren SHT Grad III am 26. November 2016 mit traumatischer SAB rechts parietal, Kontusionsblutungen subcortical rechts fronto-temporal, Kontusionsödem links frontal, akutem SAB rechts fronto-lateral und Kalottenfraktur frontal bis nach parietal. Begründet durch die damit verbundene Schädigung des Gehirns sind dauerhaft kognitive Störungen mit Beeinträchtigung von Konzentration, Merkfähigkeit und Dauerbelastbarkeit, eine komplette Anosmie, eine Hörminderung wie ein Tinnitus rechts, anfallsartig auftretende vegetative Störungen mit starkem Schwitzen ohne äußeren Anlass, eine leichte Halbseitensymptomatik rechts mit Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand und unvermittelt auftretender Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beins bis hin zu Stürzen, häufig auftretende posttraumatische Kopfschmerzen mit bis zu mehreren Stunden Dauer, Schlafstörungen mit der Folge vermehrter Tagesmüdigkeit, affektive Störungen mit vermehrter Reizbarkeit und verminderter emotionaler Schwingungsbreite, morgendliche Sehstörungen und eine Behinderung der Nasenatmung verblieben. Zusätzlich tritt die in den Schädel eingesetzte Platte, auch nach ihrer Refixierung am 27. Februar 2018 mittels eine Kraniofixniete rechts hochfrontal und rechts parietal, bei schwerer Anstrengung auch weiterhin hervor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Ein Hirnschaden ist nachgewiesen, wenn Symptome einer organischen Veränderung des Gehirns – nach Verletzung oder Krankheit nach dem Abklingen der akuten Phase – festgestellt worden sind. Wenn bei späteren Untersuchungen keine hirnorganischen Funktionsstörungen und Leistungsbeeinträchtigungen mehr zu erkennen sind, beträgt der GdB dann – auch unter Einschluss geringer z. B. vegetativer Beschwerden – 20; nach offenen Hirnverletzungen nicht unter 30 (VG, Teil B, Nr. 3.1, a). Bestimmend für die Beurteilung des GdB ist das Ausmaß der bleibenden Ausfallserscheinungen. Dabei sind der neurologische Befund, die Ausfallserscheinungen im psychischen Bereich unter Würdigung der prämorbiden Persönlichkeit und gegebenenfalls das Auftreten von zerebralen Anfällen zu beachten. Bei der Mannigfaltigkeit der Folgezustände von Hirnschädigungen kommt ein GdB zwischen 20 und 100 in Betracht (VG, Teil B, Nr. 3.1, b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Bei der Bewertung von Hirnschäden soll die in den VG, Teil B, Nr. 3.1.1 genannte Gesamtbewertung im Vordergrund stehen. Die in den VG, Teil B, Nr. 3.1.2 angeführten isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndrome stellen eine ergänzende Hilfe zur Beurteilung dar (VG, Teil B, Nr. 3.1).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>Nach den sich aus den VG, Teil B, Nr. 3.1.1 ergebenden Grundsätzen der Gesamtbewertung von Hirnschäden beträgt der GdB bei Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung 30 bis 40, mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung 50 bis 60 und bei schwerer Leistungsbeeinträchtigung 70 bis 100.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>Gemessen an diesen Vorgaben leidet der Kläger zur Überzeugung des Senats infolge des beim Reitunfall am 26. November 2016 erlittenen schweren SHT Grad III mit traumatischer SAB rechts parietal, Kontusionsblutungen subcortical rechts fronto-temporal, Kontusionsödem links frontal, akutem SAB rechts fronto-lateral und Kalottenfraktur frontal bis nach parietal an einem Hirnschaden mit mittelschweren Leistungsbeeinträchtigungen, für den nach den VG, Teil B, Nr. 3.1 ein Bewertungsrahmen mit einem GdB von 50 bis 60 eröffnet und der im Fall des Klägers mit einem GdB von 50 zu bewerten ist. Die bei diesem verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen erreichen jedoch nicht ein solches Ausmaß, dass der Bewertungsrahmen mit einem GdB von 50 bis 60 auszuschöpfen ist, auch K hat gutachterlich keinen GdB von 60 gesehen. Mittelschwere Leistungsbeeinträchtigungen meinen, wie sich aus der Legaldefinition der mittelgradigen Hirnschäden mit psychischen Störungen (VG, Teil B, Nr. 3.1.2) ergibt, Leistungsbeeinträchtigungen, die sich im Alltag deutlich und nicht lediglich gering auswirken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Maßgebend ist zunächst, dass nach den VG, Teil B, Nr. 3.1, a) nach einer offenen Hirnverletzung, wie sie beim Kläger vorgelegen hat, der GdB nicht unter 30 beträgt. Dieser relativ hohe GdB wird demnach bereits dann erreicht, wenn infolge der Hirnverletzung keine oder nur äußerst geringe, nur unwesentliche, Leistungsbeeinträchtigungen verblieben sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Hieraus wird bereits deutlich, dass B und ihm folgend der Beklaget wie das SG mit der Annahme eines GdB von 30 den GdB deutlich unterbewertet hat, weil selbst die von dem erstinstanzlichen Gutachter beschriebenen, nach wie vor bestehenden Leistungsbeeinträchtigungen nicht unwesentlich sind. Ein GdB von 30 wäre nur dann ausreichend, wenn eine vollständige Genesung von der offenen Hirnverletzung erfolgt wäre. Die offensichtlich unzureichende Bewertung durch B hat zuletzt auch der Beklagte zugestanden, denn in der versorgungsärztlichen Stellungnahme, die dem im Berufungsverfahren nochmals abgegebenen Vergleichsangebot auf Feststellung eines GdB von 40 zugrunde gelegen hat, hat W1 ausgeführt, dass B die von ihm erhobenen Befunde mit der Annahme eines GdB von 30 unterbewertet habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>Der Beklagte, der zuletzt im Berufungsverfahren, wie aus dem Vergleichsangebot deutlich geworden ist, einen GdB von nunmehr 40 als angemessen erachtet, berücksichtigt zur Überzeugung des Senats weiterhin die beim Kläger bestehenden Leistungsbeeinträchtigungen nicht vollumfänglich, bewertet diese damit ebenfalls unter. Denn der Kläger kann seinen Alltag im Beruf und Privatleben nur weiterführen, wenn er alle seine Aktivitäten behinderungsbedingt einschränkt, worin er eine gewisse Fertigkeit entwickelt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Maßgeblich sind nicht die einzelnen Leistungsbeeinträchtigungen, die isoliert betrachtet, wie etwa der völlige Verlust des Geschmackssinns mit einem Einzel-GdB von 10 (VG, Teil B, Nr. 6.3) zu bewerten sind. Denn eine isolierte Betrachtung erfasst die Auswirkungen der verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit auf den körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Bereich des Klägers (VG, Teil A, Nr. 2, a) nicht vollumfänglich und steht letztlich nicht nur den Bewertungsvorgaben der VG, sondern auch den Ausführungen des K und auch des B entgegen, die sich beide gegen eine isolierte Bewertung ausgesprochen haben. Die danach erforderliche Gesamtbetrachtung der verbliebenen Folgen der offenen Hirnverletzung des Klägers ergibt eine nach wie vor bestehende deutliche Leistungseinschränkung im Alltag in sämtlichen Bereichen, die einen GdB von 50 rechtfertigen, wie K überzeugend und nachvollziehbar herausgearbeitet hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>Beim Kläger tritt drei bis viermal pro Woche ein starkes Schwitzen ohne einen äußeren Anlass auf. Er hat gelegentlich Probleme mit dem Gleichgewicht und muss sich für kurze Zeit, fünf Minuten, hinsetzten. Dies ergibt sich für den Senat aus dem Sachverständigengutachten des K und der sachverständigen Zeugenaussage des S1. Zusätzlich besteht, wie der Senat der erstinstanzlichen sachverständigen Aussage des K1 entnimmt, ein kompletter Geruchs- und Geschmacksverlust im Sinne einer Ansomie bei erhaltener Geschmacksfunktion der Zunge und ein Hörverlust von 45 % nach der Tabelle von Röser 1980. Zwischenzeitlich ist nach den glaubhaften Ausführungen des Klägers gegenüber K eine Tinnitussymptomatik hinzugekommen. Ebenso ist nach den Angaben des Klägers die Nasenatmung mittlerweile behindert, auch wenn er bei der Behandlung durch T eine solche noch nicht beklagt hat, hat S1 hiervon berichtet. Aus der sachverständigen Zeugenaussage des S1 ergibt sich darüber hinaus, dass die den Kläger behandelnde Hautärztin von einem Triggern der Psoriasis vulgaris infolge des Unfall ausgeht, wobei auch der erstinstanzliche Sachverständige eine deutliche Symptomatik beschrieben hat. Das Implantat am Schädel tritt bei schwerer körperliche Anstrengung weiterhin hervor. K hat weiter zwar im Wesentlichen einen unauffälligen psychischen Befund erhoben, jedoch gleichwohl eine vermehrte Reizbarkeit und eine verminderte emotionale Schwingungsbreite festgestellt. Bereits diese vorgenannten Funktionsstörungen rechtfertigen zur Überzeugung des Senats einen GdB von 40; sie sind nach den obigen Ausführungen offensichtlich nicht mehr von der Bewertung mit dem Mindest-GdB von 30 nach offenen Hirnverletzungen erfasst.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Der Kläger leidet darüber hinaus unter weiteren verbliebenen Folgen des Reitunfalls vom 26. November 2016, wegen denen ein GdB von 50 begründet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>Er ist zum einen, wie der Senat insbesondere dem Gutachten des K entnimmt, in seinen körperlich-motorischen Funktionen eingeschränkt. Es besteht eine leichte Halbseitensymptomatik rechts mit Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand und eine unvermittelt auftretende Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beins bis hin zu Stürzen. Seine rechte Körperseite schläft häufig ein, seine rechte Hand verkrampft sich häufig zur Faust. Auch das Temperaturempfinden ist abgeschwächt. Deswegen ist der Kläger in seiner Freizeit eingeschränkt. Er hat berichtet, dass ihm eine Bohrmaschine und eine Tasse aus der Hand gefallen sind, er kann im Vergleich zum Zeitraum vor dem Unfall Sport nur noch in einem sehr begrenzten Umfang ausüben, so ist ihm nur noch langsames Laufen und Fahrradfahren möglich. Im beruflichen Bereich hat der Kläger Probleme beim Schreiben, er kann nur noch wesentlich langsamer als früher Schreiben, und ist aufgrund der vorgenannten Funktionsbeeinträchtigungen behindertengerecht mit einem höhenverstellbaren Schreibtisch, einer speziellen Tastatur und Maus sowie einem Headset versorgt. Die Erheblichkeit dieser motorischen Einschränkungen hat zuletzt auch der Beklagte anerkannt, indem er vergleichsweise neben der Feststellung eines GdB von 40 auch die Feststellung der dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit nach § 33b EStG angeboten hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="85"/>Neben den vorgenannten körperlich-motorischen Beeinträchtigungen leidet der Kläger unter Schlafstörungen mit der Folge vermehrter Tagesmüdigkeit. Er schläft, wie er gegenüber B angegeben hat, durchschnittlich nur dreieinhalb Stunden pro Nacht, wodurch er nachvollziehbar in seiner Leistungsfähigkeit in allen Bereichen sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich eingeschränkt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="86"/>Darüber hinaus hat K für den Senat schlüssig und überzeugend verbliebene kognitive Einschränkungen in Bezug auf das verbale Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit des Klägers festgestellt. Der Einwand des Beklagten hiergegen hinsichtlich der Abhängigkeit des Testergebnisses von der Mitarbeit des Klägers bei der von K vorgenommenen testpsychologischen Untersuchung (neurologische Testbatterie CERAD Plus) verfängt insofern nicht, da K zum einen eine motivierte Mitarbeit des Klägers bei dieser Untersuchung festgestellt hat und zum anderen sich die festgestellten kognitiven Einschränkungen auch aufgrund der vom Kläger beschriebenen Feststellungen seiner Kollegen und Familienmitglieder hinsichtlich des Nachlassens von Aufmerksamkeit und Konzentration sowie Aussetzern beim Sprechen objektivieren lassen. Nicht zuletzt habe diese kognitiven Einschränkungen auch im beruflichen Bereich des Klägers dazu geführt, dass er seit dem Reitunfall nur noch Firmen- und nicht mehr Privatkunden betreut, weil er infolge dessen deutlich weniger Kundentermine wahrnehmen muss. Im Übrigen belegt die Krankheitsgeschichte des Klägers eindrucksvoll eine Persönlichkeit, die von Anfang an eher dissimuliert hat, so insbesondere die frühe Entlassung nach dem Unfallereignis entgegen ärztlichem Rat, also das krasse Gegenteil der Unterstellung durch den Versorgungsarzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="87"/>Entgegen den Ausführungen des B ist der Senat auch der Überzeugung, dass die morgendlichen Sehstörungen des Klägers auf dem rechten Auge, das Verschwommensehen, die Einschränkung des räumlichen Sehens und die verminderte Farbwahrnehmung für die Dauer von etwa 30 Minuten, eine nicht unerhebliche Leistungsbeeinträchtigung darstellen. Denn der Kläger ist hierdurch jeden Morgen in der Gestaltung seines Tagesablaufs gehindert, er braucht jeden Morgen eine „Anlaufzeit“ von etwa 30 Minuten, um seinen Verrichtungen vollumfänglich nachkommen zu können. Wenn insofern B von einer nicht dauerhaften Funktionsstörung ausgeht, weil sich die Symptomatik wieder nach etwa 30 Minuten zurückbildet, ist dies nicht nachvollziehbar und steht auch mit den Bewertungsvorgaben der VG nicht in Einklang. Denn etwa auch eine Migräne ist nach den VG, Teil B, Nr. 2.3 für die Bewertung des GdB von Bedeutung, ohne dass sie dauerhaft und damit ständig vorliegen muss. Deren Bewertung richtet nach ihrer Häufigkeit, Dauer und Ausprägung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="88"/>Zuletzt leidet der Kläger infolge des Reitunfalls unter Kopfschmerzen, die in ihrer Intensität zweimal pro Woche zunehmen (drei bis neun auf einer Skala von zehn). Diese führen dazu, dass er im beruflichen Bereich auf das Zugeständnis seines Arbeitgebers angewiesen ist, aufgrund seines Gleitzeitkontos kurzfristig die Arbeit unterbrechen oder mit ihr für diesen Tag aufhören zu können. Mithin ist der Kläger auch infolge der Kopfschmerzen mehr als nur geringgradig beeinträchtigt, das Nichtauftreten von Arbeitsunfähigkeitszeiten, was B als ein maßgebliches Indiz gegen die Schwere und damit GdB-relevanz der Kopfschmerzen gewertet hat, ist vielmehr auf die ihm arbeitgeberseitig zugebilligte flexible Arbeitszeitgestaltung zurückzuführen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="89"/>Unter Berücksichtigung und Bewertung der wegen bei dem Reitunfall erlittenen offenen Hirnverletzung verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen ist der Senat in Übereinstimmung mit den gutachterlichen Feststellungen des K demnach der Ansicht, dass beim Kläger nach den VG, Teil B, Nr. 3.1.1 ein Hirnschaden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung besteht, der mit einem GdB von 50 zu bewerten ist. Dieser GdB entspricht dem Gesamt-GdB.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="90"/>Gegen die Feststellung eines höheren GdB als 50, der Kläger hat die Feststellung eines GdB von mindestens 50 beantragt, spricht, dass dieser trotz der verbliebenen Leistungseinschränkungen nicht in einem über die Bewertung mit einem GdB von 50 hinausgehenden Maße eingeschränkt ist. Es ist ihm trotz der verbliebenen Leistungseinschränkungen möglich, wie der Senat dem im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung <ZPO>) verwerteten Bericht des M entnimmt, seine auch vor dem Reitunfall ausgeübte Beschäftigung als Banker – auch wenn sein Arbeitgeber ihm Zugeständnisse gemacht hat – in Vollzeit in einem Umfang von tatsächlich 45 bis 50 Stunden pro Woche auszuüben. Er ist darüber hinaus in der Lage ein Auto zu führen, ist etwa zur Begutachtung bei K mit dem Auto ohne Begleitperson angereist. In seiner Freizeit kann er, wenn auch eingeschränkter als früher, sportlichen Aktivitäten nachgehen und kann auch Tätigkeiten im Haushalt verrichten; er hat gegenüber K mitgeteilt, eine Bohrmaschine sei ihm aus der Hand gefallen. Nach den weiteren Angaben des Klägers gegenüber K sind ihm auch weitere Freizeitgestaltungen möglich, er war zuletzt in Ägypten im Urlaub und hat zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung ein Urlaub mit dem Auto in Italien geplant. Auch werden die Kopfschmerzen des Klägers nicht mit Analgetika behandelt, er hat gegenüber B angegeben, im Bedarfsfall lediglich Aspirin einzunehmen, was den Leidensdruck relativiert. Nicht zuletzt hat keiner der den Kläger behandelnden und als sachverständigen Zeugen befragten Ärzte und auch nicht K einen höheren Gesamt-GdB als 50 vorgeschlagen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="91"/>Die vorliegenden medizinischen Unterlagen, ärztliche Meinungsäußerungen, sachverständigen Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt. Weitere Ermittlungen waren deshalb nicht vorzunehmen, es würde sich hierbei um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln, mithin um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="92"/>Nach alledem hat der Kläger einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von 50 seit dem 26. November 2016. Der Gerichtsbescheid des SG vom 14. September 2020 war deshalb aufzuheben und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 zu verpflichten, die entsprechende Feststellung zu treffen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="93"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig, und begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 14. September 2020, mit dem das SG die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) des Klägers auf Abänderung des Bescheides vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 (§ 95 SGG) und Verpflichtung des Beklagten, ab dem 26. November 2016 einen GdB von mindestens 50 festzustellen, abgewiesen hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, juris, Rz. 26; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung, demnach der 15. September 2022.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>Die Begründetheit der Berufung folgt aus der Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), als der Beklagte ab dem 26. November 2016, dem Zeitpunkt des Reitunfalls des Klägers, nur einen GdB von 30 und nicht von 50 festgestellt hat. Der Kläger hat zur Überzeugung des Senats auf seinen Antrag vom 20. März 2017 einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 und damit der Schwerbehinderteneigenschaft. Ein höherer GdB, der Kläger hat die Feststellung eines GdB von mindestens 50 beantragt, wird hingegen nicht erreicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>Nach Auswertung der im Verwaltungs- und im erstinstanzlichen Verfahren zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen, ärztlichen Meinungsäußerungen, sachverständigen Zeugenaussagen und insbesondere aufgrund des schlüssigen und nachvollziehbaren Sachverständigengutachtens des K ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass der beim Kläger ab dem 26. November 2016 festgestellte GdB von 30 unterbewertet ist. Die beim ihm infolge des Sturzes vom Pferd verbliebenen Funktionsstörungen erreichen vielmehr ein Ausmaß, dass die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ab dem 26. November 2016 rechtfertigt. Das dem entgegenstehende Sachverständigengutachten des B und die abweichenden versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten, die der Senat als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen berücksichtigt hat, stehen dem nicht entgegen. Sie haben den Senat nicht überzeugen können, da sie die gesetzlichen Vorgaben zur Bewertung des GdB nicht hinreichend berücksichtigt haben. Das SG hat demnach die Klage zu Unrecht durch Gerichtsbescheid vom 14. September 2020 abgewiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Der Anspruch des Klägers auf Feststellung des GdB richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind nach § 2 Abs. 2 SGB IX im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>Soweit der Antrag sich auf den Zeitraum vor dem 1. Januar 2018 bezieht, richtet sich der Anspruch nach den in diesem Zeitraum geltenden gesetzlichen Vorgaben (vgl. §§ 69 SGB IX ff. a. F.), nach denen ebenso für die Bewertung des GdB die VersMedV und die VG die maßgebenden Beurteilungsgrundlagen waren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2, c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2, e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (VG, Teil A, Nr. 3, a).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VG, Teil A, Nr. 3, c). Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zur Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3, d).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Einzel- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –, juris, Rz. 13). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen des Klägers ab dem 26. November 2016 einen GdB von 50 und damit die Feststellung der Scherbehinderteneigenschaft rechtfertigen. Der Beklagte hat durch Bescheid vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017, durch den er lediglich ab dem vorgenannten Zeitpunkt einen GdB von 30 festgestellt hat, wie auch das SG, das durch Gerichtsbescheid vom 14. September 2020 die auf Verpflichtung des Beklagten gerichtete Klage auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 abgewiesen und damit den festgestellten GdB von 30 bestätigt hat, die beim Kläger bestehenden Funktionsstörungen unterbewertet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Der Kläger leidet, wie der Senat dem schlüssigen und nachvollziehbaren Sachverständigengutachten des K entnimmt, das im Berufungsverfahren auf Antrag nach § 109 SGG nach dessen ambulanter Untersuchung am 11. Juni 2021 erhoben worden ist, unter einem Folgezustand nach einem schweren SHT Grad III am 26. November 2016 mit traumatischer SAB rechts parietal, Kontusionsblutungen subcortical rechts fronto-temporal, Kontusionsödem links frontal, akutem SAB rechts fronto-lateral und Kalottenfraktur frontal bis nach parietal. Begründet durch die damit verbundene Schädigung des Gehirns sind dauerhaft kognitive Störungen mit Beeinträchtigung von Konzentration, Merkfähigkeit und Dauerbelastbarkeit, eine komplette Anosmie, eine Hörminderung wie ein Tinnitus rechts, anfallsartig auftretende vegetative Störungen mit starkem Schwitzen ohne äußeren Anlass, eine leichte Halbseitensymptomatik rechts mit Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand und unvermittelt auftretender Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beins bis hin zu Stürzen, häufig auftretende posttraumatische Kopfschmerzen mit bis zu mehreren Stunden Dauer, Schlafstörungen mit der Folge vermehrter Tagesmüdigkeit, affektive Störungen mit vermehrter Reizbarkeit und verminderter emotionaler Schwingungsbreite, morgendliche Sehstörungen und eine Behinderung der Nasenatmung verblieben. Zusätzlich tritt die in den Schädel eingesetzte Platte, auch nach ihrer Refixierung am 27. Februar 2018 mittels eine Kraniofixniete rechts hochfrontal und rechts parietal, bei schwerer Anstrengung auch weiterhin hervor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Ein Hirnschaden ist nachgewiesen, wenn Symptome einer organischen Veränderung des Gehirns – nach Verletzung oder Krankheit nach dem Abklingen der akuten Phase – festgestellt worden sind. Wenn bei späteren Untersuchungen keine hirnorganischen Funktionsstörungen und Leistungsbeeinträchtigungen mehr zu erkennen sind, beträgt der GdB dann – auch unter Einschluss geringer z. B. vegetativer Beschwerden – 20; nach offenen Hirnverletzungen nicht unter 30 (VG, Teil B, Nr. 3.1, a). Bestimmend für die Beurteilung des GdB ist das Ausmaß der bleibenden Ausfallserscheinungen. Dabei sind der neurologische Befund, die Ausfallserscheinungen im psychischen Bereich unter Würdigung der prämorbiden Persönlichkeit und gegebenenfalls das Auftreten von zerebralen Anfällen zu beachten. Bei der Mannigfaltigkeit der Folgezustände von Hirnschädigungen kommt ein GdB zwischen 20 und 100 in Betracht (VG, Teil B, Nr. 3.1, b).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Bei der Bewertung von Hirnschäden soll die in den VG, Teil B, Nr. 3.1.1 genannte Gesamtbewertung im Vordergrund stehen. Die in den VG, Teil B, Nr. 3.1.2 angeführten isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndrome stellen eine ergänzende Hilfe zur Beurteilung dar (VG, Teil B, Nr. 3.1).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>Nach den sich aus den VG, Teil B, Nr. 3.1.1 ergebenden Grundsätzen der Gesamtbewertung von Hirnschäden beträgt der GdB bei Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung 30 bis 40, mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung 50 bis 60 und bei schwerer Leistungsbeeinträchtigung 70 bis 100.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>Gemessen an diesen Vorgaben leidet der Kläger zur Überzeugung des Senats infolge des beim Reitunfall am 26. November 2016 erlittenen schweren SHT Grad III mit traumatischer SAB rechts parietal, Kontusionsblutungen subcortical rechts fronto-temporal, Kontusionsödem links frontal, akutem SAB rechts fronto-lateral und Kalottenfraktur frontal bis nach parietal an einem Hirnschaden mit mittelschweren Leistungsbeeinträchtigungen, für den nach den VG, Teil B, Nr. 3.1 ein Bewertungsrahmen mit einem GdB von 50 bis 60 eröffnet und der im Fall des Klägers mit einem GdB von 50 zu bewerten ist. Die bei diesem verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen erreichen jedoch nicht ein solches Ausmaß, dass der Bewertungsrahmen mit einem GdB von 50 bis 60 auszuschöpfen ist, auch K hat gutachterlich keinen GdB von 60 gesehen. Mittelschwere Leistungsbeeinträchtigungen meinen, wie sich aus der Legaldefinition der mittelgradigen Hirnschäden mit psychischen Störungen (VG, Teil B, Nr. 3.1.2) ergibt, Leistungsbeeinträchtigungen, die sich im Alltag deutlich und nicht lediglich gering auswirken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Maßgebend ist zunächst, dass nach den VG, Teil B, Nr. 3.1, a) nach einer offenen Hirnverletzung, wie sie beim Kläger vorgelegen hat, der GdB nicht unter 30 beträgt. Dieser relativ hohe GdB wird demnach bereits dann erreicht, wenn infolge der Hirnverletzung keine oder nur äußerst geringe, nur unwesentliche, Leistungsbeeinträchtigungen verblieben sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Hieraus wird bereits deutlich, dass B und ihm folgend der Beklaget wie das SG mit der Annahme eines GdB von 30 den GdB deutlich unterbewertet hat, weil selbst die von dem erstinstanzlichen Gutachter beschriebenen, nach wie vor bestehenden Leistungsbeeinträchtigungen nicht unwesentlich sind. Ein GdB von 30 wäre nur dann ausreichend, wenn eine vollständige Genesung von der offenen Hirnverletzung erfolgt wäre. Die offensichtlich unzureichende Bewertung durch B hat zuletzt auch der Beklagte zugestanden, denn in der versorgungsärztlichen Stellungnahme, die dem im Berufungsverfahren nochmals abgegebenen Vergleichsangebot auf Feststellung eines GdB von 40 zugrunde gelegen hat, hat W1 ausgeführt, dass B die von ihm erhobenen Befunde mit der Annahme eines GdB von 30 unterbewertet habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>Der Beklagte, der zuletzt im Berufungsverfahren, wie aus dem Vergleichsangebot deutlich geworden ist, einen GdB von nunmehr 40 als angemessen erachtet, berücksichtigt zur Überzeugung des Senats weiterhin die beim Kläger bestehenden Leistungsbeeinträchtigungen nicht vollumfänglich, bewertet diese damit ebenfalls unter. Denn der Kläger kann seinen Alltag im Beruf und Privatleben nur weiterführen, wenn er alle seine Aktivitäten behinderungsbedingt einschränkt, worin er eine gewisse Fertigkeit entwickelt hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Maßgeblich sind nicht die einzelnen Leistungsbeeinträchtigungen, die isoliert betrachtet, wie etwa der völlige Verlust des Geschmackssinns mit einem Einzel-GdB von 10 (VG, Teil B, Nr. 6.3) zu bewerten sind. Denn eine isolierte Betrachtung erfasst die Auswirkungen der verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit auf den körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Bereich des Klägers (VG, Teil A, Nr. 2, a) nicht vollumfänglich und steht letztlich nicht nur den Bewertungsvorgaben der VG, sondern auch den Ausführungen des K und auch des B entgegen, die sich beide gegen eine isolierte Bewertung ausgesprochen haben. Die danach erforderliche Gesamtbetrachtung der verbliebenen Folgen der offenen Hirnverletzung des Klägers ergibt eine nach wie vor bestehende deutliche Leistungseinschränkung im Alltag in sämtlichen Bereichen, die einen GdB von 50 rechtfertigen, wie K überzeugend und nachvollziehbar herausgearbeitet hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>Beim Kläger tritt drei bis viermal pro Woche ein starkes Schwitzen ohne einen äußeren Anlass auf. Er hat gelegentlich Probleme mit dem Gleichgewicht und muss sich für kurze Zeit, fünf Minuten, hinsetzten. Dies ergibt sich für den Senat aus dem Sachverständigengutachten des K und der sachverständigen Zeugenaussage des S1. Zusätzlich besteht, wie der Senat der erstinstanzlichen sachverständigen Aussage des K1 entnimmt, ein kompletter Geruchs- und Geschmacksverlust im Sinne einer Ansomie bei erhaltener Geschmacksfunktion der Zunge und ein Hörverlust von 45 % nach der Tabelle von Röser 1980. Zwischenzeitlich ist nach den glaubhaften Ausführungen des Klägers gegenüber K eine Tinnitussymptomatik hinzugekommen. Ebenso ist nach den Angaben des Klägers die Nasenatmung mittlerweile behindert, auch wenn er bei der Behandlung durch T eine solche noch nicht beklagt hat, hat S1 hiervon berichtet. Aus der sachverständigen Zeugenaussage des S1 ergibt sich darüber hinaus, dass die den Kläger behandelnde Hautärztin von einem Triggern der Psoriasis vulgaris infolge des Unfall ausgeht, wobei auch der erstinstanzliche Sachverständige eine deutliche Symptomatik beschrieben hat. Das Implantat am Schädel tritt bei schwerer körperliche Anstrengung weiterhin hervor. K hat weiter zwar im Wesentlichen einen unauffälligen psychischen Befund erhoben, jedoch gleichwohl eine vermehrte Reizbarkeit und eine verminderte emotionale Schwingungsbreite festgestellt. Bereits diese vorgenannten Funktionsstörungen rechtfertigen zur Überzeugung des Senats einen GdB von 40; sie sind nach den obigen Ausführungen offensichtlich nicht mehr von der Bewertung mit dem Mindest-GdB von 30 nach offenen Hirnverletzungen erfasst.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Der Kläger leidet darüber hinaus unter weiteren verbliebenen Folgen des Reitunfalls vom 26. November 2016, wegen denen ein GdB von 50 begründet ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>Er ist zum einen, wie der Senat insbesondere dem Gutachten des K entnimmt, in seinen körperlich-motorischen Funktionen eingeschränkt. Es besteht eine leichte Halbseitensymptomatik rechts mit Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand und eine unvermittelt auftretende Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beins bis hin zu Stürzen. Seine rechte Körperseite schläft häufig ein, seine rechte Hand verkrampft sich häufig zur Faust. Auch das Temperaturempfinden ist abgeschwächt. Deswegen ist der Kläger in seiner Freizeit eingeschränkt. Er hat berichtet, dass ihm eine Bohrmaschine und eine Tasse aus der Hand gefallen sind, er kann im Vergleich zum Zeitraum vor dem Unfall Sport nur noch in einem sehr begrenzten Umfang ausüben, so ist ihm nur noch langsames Laufen und Fahrradfahren möglich. Im beruflichen Bereich hat der Kläger Probleme beim Schreiben, er kann nur noch wesentlich langsamer als früher Schreiben, und ist aufgrund der vorgenannten Funktionsbeeinträchtigungen behindertengerecht mit einem höhenverstellbaren Schreibtisch, einer speziellen Tastatur und Maus sowie einem Headset versorgt. Die Erheblichkeit dieser motorischen Einschränkungen hat zuletzt auch der Beklagte anerkannt, indem er vergleichsweise neben der Feststellung eines GdB von 40 auch die Feststellung der dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit nach § 33b EStG angeboten hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="85"/>Neben den vorgenannten körperlich-motorischen Beeinträchtigungen leidet der Kläger unter Schlafstörungen mit der Folge vermehrter Tagesmüdigkeit. Er schläft, wie er gegenüber B angegeben hat, durchschnittlich nur dreieinhalb Stunden pro Nacht, wodurch er nachvollziehbar in seiner Leistungsfähigkeit in allen Bereichen sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich eingeschränkt ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="86"/>Darüber hinaus hat K für den Senat schlüssig und überzeugend verbliebene kognitive Einschränkungen in Bezug auf das verbale Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit des Klägers festgestellt. Der Einwand des Beklagten hiergegen hinsichtlich der Abhängigkeit des Testergebnisses von der Mitarbeit des Klägers bei der von K vorgenommenen testpsychologischen Untersuchung (neurologische Testbatterie CERAD Plus) verfängt insofern nicht, da K zum einen eine motivierte Mitarbeit des Klägers bei dieser Untersuchung festgestellt hat und zum anderen sich die festgestellten kognitiven Einschränkungen auch aufgrund der vom Kläger beschriebenen Feststellungen seiner Kollegen und Familienmitglieder hinsichtlich des Nachlassens von Aufmerksamkeit und Konzentration sowie Aussetzern beim Sprechen objektivieren lassen. Nicht zuletzt habe diese kognitiven Einschränkungen auch im beruflichen Bereich des Klägers dazu geführt, dass er seit dem Reitunfall nur noch Firmen- und nicht mehr Privatkunden betreut, weil er infolge dessen deutlich weniger Kundentermine wahrnehmen muss. Im Übrigen belegt die Krankheitsgeschichte des Klägers eindrucksvoll eine Persönlichkeit, die von Anfang an eher dissimuliert hat, so insbesondere die frühe Entlassung nach dem Unfallereignis entgegen ärztlichem Rat, also das krasse Gegenteil der Unterstellung durch den Versorgungsarzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="87"/>Entgegen den Ausführungen des B ist der Senat auch der Überzeugung, dass die morgendlichen Sehstörungen des Klägers auf dem rechten Auge, das Verschwommensehen, die Einschränkung des räumlichen Sehens und die verminderte Farbwahrnehmung für die Dauer von etwa 30 Minuten, eine nicht unerhebliche Leistungsbeeinträchtigung darstellen. Denn der Kläger ist hierdurch jeden Morgen in der Gestaltung seines Tagesablaufs gehindert, er braucht jeden Morgen eine „Anlaufzeit“ von etwa 30 Minuten, um seinen Verrichtungen vollumfänglich nachkommen zu können. Wenn insofern B von einer nicht dauerhaften Funktionsstörung ausgeht, weil sich die Symptomatik wieder nach etwa 30 Minuten zurückbildet, ist dies nicht nachvollziehbar und steht auch mit den Bewertungsvorgaben der VG nicht in Einklang. Denn etwa auch eine Migräne ist nach den VG, Teil B, Nr. 2.3 für die Bewertung des GdB von Bedeutung, ohne dass sie dauerhaft und damit ständig vorliegen muss. Deren Bewertung richtet nach ihrer Häufigkeit, Dauer und Ausprägung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="88"/>Zuletzt leidet der Kläger infolge des Reitunfalls unter Kopfschmerzen, die in ihrer Intensität zweimal pro Woche zunehmen (drei bis neun auf einer Skala von zehn). Diese führen dazu, dass er im beruflichen Bereich auf das Zugeständnis seines Arbeitgebers angewiesen ist, aufgrund seines Gleitzeitkontos kurzfristig die Arbeit unterbrechen oder mit ihr für diesen Tag aufhören zu können. Mithin ist der Kläger auch infolge der Kopfschmerzen mehr als nur geringgradig beeinträchtigt, das Nichtauftreten von Arbeitsunfähigkeitszeiten, was B als ein maßgebliches Indiz gegen die Schwere und damit GdB-relevanz der Kopfschmerzen gewertet hat, ist vielmehr auf die ihm arbeitgeberseitig zugebilligte flexible Arbeitszeitgestaltung zurückzuführen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="89"/>Unter Berücksichtigung und Bewertung der wegen bei dem Reitunfall erlittenen offenen Hirnverletzung verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen ist der Senat in Übereinstimmung mit den gutachterlichen Feststellungen des K demnach der Ansicht, dass beim Kläger nach den VG, Teil B, Nr. 3.1.1 ein Hirnschaden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung besteht, der mit einem GdB von 50 zu bewerten ist. Dieser GdB entspricht dem Gesamt-GdB.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="90"/>Gegen die Feststellung eines höheren GdB als 50, der Kläger hat die Feststellung eines GdB von mindestens 50 beantragt, spricht, dass dieser trotz der verbliebenen Leistungseinschränkungen nicht in einem über die Bewertung mit einem GdB von 50 hinausgehenden Maße eingeschränkt ist. Es ist ihm trotz der verbliebenen Leistungseinschränkungen möglich, wie der Senat dem im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung <ZPO>) verwerteten Bericht des M entnimmt, seine auch vor dem Reitunfall ausgeübte Beschäftigung als Banker – auch wenn sein Arbeitgeber ihm Zugeständnisse gemacht hat – in Vollzeit in einem Umfang von tatsächlich 45 bis 50 Stunden pro Woche auszuüben. Er ist darüber hinaus in der Lage ein Auto zu führen, ist etwa zur Begutachtung bei K mit dem Auto ohne Begleitperson angereist. In seiner Freizeit kann er, wenn auch eingeschränkter als früher, sportlichen Aktivitäten nachgehen und kann auch Tätigkeiten im Haushalt verrichten; er hat gegenüber K mitgeteilt, eine Bohrmaschine sei ihm aus der Hand gefallen. Nach den weiteren Angaben des Klägers gegenüber K sind ihm auch weitere Freizeitgestaltungen möglich, er war zuletzt in Ägypten im Urlaub und hat zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung ein Urlaub mit dem Auto in Italien geplant. Auch werden die Kopfschmerzen des Klägers nicht mit Analgetika behandelt, er hat gegenüber B angegeben, im Bedarfsfall lediglich Aspirin einzunehmen, was den Leidensdruck relativiert. Nicht zuletzt hat keiner der den Kläger behandelnden und als sachverständigen Zeugen befragten Ärzte und auch nicht K einen höheren Gesamt-GdB als 50 vorgeschlagen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="91"/>Die vorliegenden medizinischen Unterlagen, ärztliche Meinungsäußerungen, sachverständigen Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt. Weitere Ermittlungen waren deshalb nicht vorzunehmen, es würde sich hierbei um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln, mithin um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="92"/>Nach alledem hat der Kläger einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von 50 seit dem 26. November 2016. Der Gerichtsbescheid des SG vom 14. September 2020 war deshalb aufzuheben und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 zu verpflichten, die entsprechende Feststellung zu treffen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="93"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.</td></tr></table></td></tr></table> |
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346,692 | olgce-2022-09-15-24-w-322 | {
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die sofortige Beschwerde des Klägers gegen die Beschlüsse des Landgerichts Verden vom 8. Februar 2022 und vom 12. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">III.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Kläger nimmt die Beklagten auf Erfüllung eines Kaufvertrags über ein gebrauchtes Wohnmobil in Anspruch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Am 22. September 2020 schlossen der Beklagte zu 1 als Verkäufer und der Kläger als Käufer einen Kaufvertrag über ein gebrauchtes Wohnmobil der Marke R./A. zum Preis von 35.000 €. Wegen der Einzelheiten wird auf den Kaufvertrag vom 22. September 2020 Bezug genommen (Anlage K1, Bl. 8 Bd. I d. A.). Der Kläger leistete vereinbarungsgemäß eine Anzahlung von 500 €. Am 16. Oktober 2020 teilten die Beklagten dem Kläger mit, das Wohnmobil sei von einem Mieter falsch betankt worden und deshalb reparaturbedürftig (Anlage K5, Bl. 12 Bd. I d. A.). Mit Schreiben vom 2. November 2020 (Anlage K7, Bl. 14 Bd. I d. A.) forderte der Kläger den Beklagten zu 1 unter einer Frist von zehn Tagen zur Mängelbeseitigung auf. Mit Schreiben vom 11. November 2020 (Anlage K8, Bl. 15 Bd. I d. A.) erklärte der Beklagte zu 1 den Rücktritt vom Kaufvertrag mit der Begründung, „dass die Parameter des Kaufvertrages nicht eingehalten werden können“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1 habe beim Abschluss des Kaufvertrages im Rahmen seiner gewerblichen Tätigkeit der Vermietung und des Verkaufs von Wohnmobilen gehandelt. Die Beklagte zu 2 hafte unter dem Gesichtspunkt der Firmenfortführung, weil der Beklagte zu 1 seinen Betrieb am 8. April 2021 eingestellt und auf die Beklagte zu 2 übertragen habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Kläger behauptet, für den Erwerb eines vergleichbaren Wohnmobils müsse er mindestens 44.000 € aufwenden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 1 habe das Wohnmobil mit Vertrag vom 14. September 2020 (Bl. 183 Bd. I d. A.) an den Zeugen W. veräußert und sei deshalb nicht mehr imstande, den mit dem Kläger geschlossenen Vertrag zu erfüllen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. November 2021 hat der Kläger beantragt, wie folgt für Recht zu erkennen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">1. Die Beklagten werden verurteilt, das gebrauchte Wohnmobil der Marke R. Fahrzeugidentifikationsnummer … an den Kläger zu übergeben und zu übereignen, Zug um Zug gegen Zahlung des Klägers in Höhe von 34.500 € brutto.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Hilfsweise: Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger Schadensersatz in Höhe von 9.500 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13. November 2020 zu zahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">2. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.474,89 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an den Kläger zu zahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Die Beklagten haben beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">die Klage abzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Das Landgericht hat Termin zur Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen W. und zur mündlichen Verhandlung auf den 8. Februar 2022 anberaumt. Durch Beschluss vom 1. Februar 2022 hat es den Parteien und Parteivertretern sowie dem Zeugen gestattet, sich während der Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2022, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird (Bl. 234 Bd. II d. A.), erschienen bei Aufruf der Sache im Wege der Bild- und Tonübertragung der Klägervertreter und der Kläger persönlich sowie der Zeuge W.. Eine Verbindung zum Beklagtenvertreter konnte nicht hergestellt werden. Der Klägervertreter beantragte eine Entscheidung durch Versäumnisurteil. Das Gericht erließ folgenden Beschluss: „Neuer Termin von Amts wegen.“</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Mit Schriftsatz vom 9. Februar 2022 führte der Kläger seine Auffassung näher aus, dass die Voraussetzungen für den Erlass eines Versäumnisurteils erfüllt seien. Habe eine Säumnis nicht vorgelegen, so sei der Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils durch Beschluss zurückzuweisen, gegen den die sofortige Beschwerde statthaft sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die Beklagten tragen vor, sie seien zum Verhandlungstermin am 8. Februar 2022 zusammen mit ihrem Prozessbevollmächtigten im Besprechungsraum in dessen Kanzlei anwesend gewesen, in dem eine Videokonferenzanlage installiert sei. Aus ungeklärten Gründen sei es trotz mehrfacher Versuche nicht möglich gewesen, über die vom Gericht zur Verfügung gestellten Zugangsdaten eine Verbindung zur Videokonferenz herzustellen. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten habe daraufhin mit dem zuständigen Einzelrichter telefoniert, der ihm einen neuen Einwahllink übersandt habe. Auch darüber sei eine Einwahl nicht möglich gewesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze des Klägervertreters vom 9. Februar 2022 (Bl. 236 f Bd. II d. A.) und vom 15. März 2022 (Bl. 255-257 Bd. II d. A.) sowie die Schriftsätze des Beklagtenvertreters vom 28. Februar 2022 (Bl. 240-242 Bd. II d. A.) und vom 7. April 2022 (Bl. 260 f Bd. II d. A.) Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Mit Beschluss vom 12. April 2022, dem Klägervertreter zugestellt am 19. April 2022, hat das Landgericht den Antrag des Klägers auf Erlass eines Versäumnisurteils zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Beklagten seien am 8. Februar 2022 nicht schuldhaft säumig gewesen, weil der Beklagtenvertreter, wie er durch Versicherung an Eides statt (Bl. 260 Bd. II d. A.) glaubhaft gemacht habe, alle notwendigen Vorbereitungen getroffen habe, um eine Bild- und Tonübertragung im Termin sicherzustellen. Es habe nicht erwartet werden können, dass die Beklagten oder ihr Vertreter das aufgetretene technische Problem innerhalb der kurzen Zeit, die für die Verhandlung und Vernehmung des Zeugen zur Verfügung gestanden habe, hätten lösen können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Mit am 2. Mai 2022 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten (Bl. 267-269 Bd. II d. A.) hat der Kläger sofortige Beschwerde eingelegt, mit der er seinen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils weiterverfolgt. Er macht geltend, die Beklagten hätten einen Fall schuldloser Säumnis nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Ihr Prozessbevollmächtigter habe sich mit dem für die Videokonferenz genutzten Programm, das er erstmalig verwendet habe, nicht hinreichend vertraut gemacht. Auch sei nicht klar, welches konkrete technische Problem aufgetreten sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die Beklagten sind der sofortigen Beschwerde entgegengetreten und beantragen deren Zurückweisung (Bl. 271 Bd. II d. A.); sie verteidigen die Entscheidung des Landgerichts.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Mit Beschluss vom 16. Juni 2022 hat das Landgericht entschieden, der sofortigen Beschwerde nicht abzuhelfen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Die sofortige Beschwerde des Klägers ist nicht begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Das Rechtsmittel richtet sich nicht nur gegen den Beschluss vom 12. April 2022, sondern <span style="text-decoration:underline">zugleich auch</span> gegen den Vertagungsbeschluss vom 8. Februar 2022.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>1. Mit dem in der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2022 verkündeten Beschluss „Neuer Termin von Amts wegen“ hat das Landgericht die Verhandlung über den Erlass des Versäumnisurteils gemäß § 337 Satz 1 ZPO von Amts wegen vertagt. Die sofortige Beschwerde richtet sich vor diesem Hintergrund nicht nur gegen den Beschluss vom 12. April 2022, durch den das Landgericht den Antrag auf Erlass des Versäumnisurteils zurückgewiesen hat, sondern auch gegen den Vertagungsbeschluss vom 8. Februar 2022.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>a) Gemäß § 569 Abs. 2 Satz 2 ZPO muss die Beschwerdeschrift die Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen die Entscheidung eingelegt werde. Wegen der geringen Formstrenge reicht es dabei aus, wenn die Schrift bei großzügiger Auslegung den Beschwerdeführer, die angefochtene Entscheidung und das Anliegen der Überprüfung derselben durch die höhere Instanz hinreichend klar erkennen lässt (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - IX ZB 369/02, NJW 2004, 1112, 1113). Bei der Auslegung ist der Grundsatz zu berücksichtigen, dass eine Partei mit ihrem Rechtsmittel im Zweifel dasjenige anstrebt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und ihrer recht verstandenen Interessenlage entspricht (BGH, Beschlüsse vom 8. Oktober 1991 - XI ZB 6/91, NJW 1992, 243 und vom 22. September 2010 - IX ZB 195/09, WM 2010, 2122 Rn. 16).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>b) Die Beschwerdeschrift vom 2. Mai 2022 ist dahingehend auszulegen, dass sie sich nicht nur gegen den in ihr ausdrücklich bezeichneten Beschluss vom 12. April 2022 richtet, sondern insgesamt gegen die Entscheidung des Landgerichts, das beantragte Versäumnisurteil nicht zu erlassen. Damit richtet sie sich auch gegen den Vertagungsbeschluss vom 8. Februar 2022. Denn durch diesen hat das Landgericht zwar den Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils nicht förmlich zurückgewiesen, aber doch entschieden, ein Versäumnisurteil nicht zu erlassen, sondern von Amts wegen einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen, in dem die Beklagten, wenn sie nicht erneut säumig sind, durch ihr Verhandeln zur Sache den Erlass eines Versäumnisurteils abwenden können (OLG Nürnberg, MDR 1963, 507; LAG Frankfurt, NJW 1963, 2046, 2047; Büscher in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 337 Rn. 26; Bartels in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 337 Rn. 14; Anders in Anders/Gehle, ZPO, 80. Aufl., § 337 Rn. 8; aA OLG Dresden, Urteil vom 28. August 1995 - 2 U 921/95, BeckRS 1995, 12462; LAG Düsseldorf, NJW 1961, 2371, 2372). Daneben kommt der förmlichen Zurückweisung des Antrags auf Erlass des Versäumnisurteils durch den Beschluss vom 12. April 2022 in der Sache letztlich keine weitergehende eigenständige Bedeutung zu. Da ein Vertagungsbeschluss nach § 337 Satz 1 ZPO nach der in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretenen Ansicht (OLG München, MDR 1956, 684; OLG Nürnberg aaO; OLG Hamm, NJW-RR 1991, 703; OLG Hamburg, NJW-RR 2022, 1073; Büscher aaO Rn. 28 mwN) mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar ist, ist unter Berücksichtigung der Interessenlage des Klägers anzunehmen, dass er auch diesen Beschluss einer Überprüfung durch das Beschwerdegericht unterstellen wollte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>c) Der Kläger hat die sofortige Beschwerde gegen den Vertagungsbeschluss vom 8. Februar 2022 rechtzeitig innerhalb der zweiwöchigen Beschwerdefrist nach § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>aa) Nach § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist die sofortige Beschwerde binnen einer Notfrist von zwei Wochen einzulegen. Die Frist beginnt nach § 569 Abs. 1 Satz 2 mit der Zustellung der Entscheidung, spätestens mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung des Beschlusses. Auch in Fällen, in denen ein Beschluss durch Verkündung bekanntgegeben wird, beginnt die Beschwerdefrist erst mit der - nach § 329 Abs. 3 ZPO erforderlichen - Zustellung (MüKoZPO/Hamdorf, 6. Aufl., § 569 Rn. 4, 6; Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 24. November 2000, BT-Drucks. 14/4722, S. 112; aA Anders aaO Rn. 9 unter Hinweis auf die vor dem Gesetz zur Reform des Zivilprozesses ergangene Entscheidung OLG Braunschweig, MDR 1992, 292). Eine nur formlose Mitteilung setzt die Frist nicht in Lauf (BGH, Beschluss vom 12. Oktober 1993 - XI ZB 14/93, WM 1993, 2078; MüKoZPO/Hamdorf aaO Rn. 6 mwN). Dass die Partei den Beschluss auf Grund seiner Verkündung auch ohne Zustellung kennt, ist insofern unerheblich (Bartels aaO § 336 Rn. 1; Begründung der Bundesregierung aaO). Wird ein verkündeter Beschluss nicht zugestellt, beginnt die Beschwerdefrist daher nach § 569 Abs. 1 Satz 2 ZPO erst mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>bb) Der in der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2022 verkündete Vertagungsbeschluss ist nicht zugestellt worden; vielmehr ist das Verhandlungsprotokoll, wie sich aus den Akten ergibt, den Parteivertretern lediglich formlos übermittelt worden (Bl. 234 Bd. II d. A.). Die Beschwerdefrist begann daher nach § 569 Abs. 1 Satz 2 ZPO erst am 9. Juli 2022 und ist somit durch die am 2. Mai 2022 beim Landgericht eingegangene sofortige Beschwerde gewahrt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>2. Ob die sofortige Beschwerde gegen den Vertagungsbeschluss vom 8. Februar 2022 statthaft ist (s. o. unter 1. b bb; vgl. Büscher aaO; Göbel in Prütting/Gehrlein, ZPO, 14. Aufl., § 337 Rn. 11; Toussaint in BeckOK ZPO, § 336 Rn. 5.1 [Stand: 1. Juli 2022]; jew. mwN zum Meinungsstand), kann offenbleiben (vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 2006 - IX ZB 171/04, NJW-RR 2006, 1346 Rn. 4 mwN). Denn unabhängig von der Frage, ob die sofortige Beschwerde zulässig ist, ist sie jedenfalls, ebenso wie die sofortige Beschwerde gegen den Zurückweisungsbeschluss vom 12. April 2022, in der Sache nicht begründet. Das Landgericht hat zutreffend angenommen, dass die Beklagten und ihr Prozessbevollmächtigter ohne ihr Verschulden verhindert waren, im Wege der Bild- und Tonübertragung an der Verhandlung teilzunehmen, so dass diese gemäß § 337 Satz 1 ZPO zu vertagen war.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>a) Nach § 337 Satz 1 ZPO vertagt das Gericht die Verhandlung über den Antrag auf Erlass des Versäumnisurteils von Amts wegen, wenn es dafür hält, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>aa) Die Frage, ob die Partei ein Verschulden trifft, ist im Rahmen des § 337 Satz 1 ZPO nicht anders zu beurteilen als bei § 233 ZPO (BGH, Urteil vom 16. Juli 1998 - VII ZR 409/97, NJW 1998, 3125 und Beschluss vom 13. Mai 2004 - V ZB 59/03, NJW 2004, 2309, 2311, insofern in BGHZ 159, 153 nicht abgedruckt). Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gebietet es dabei, die Sorgfaltsanforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, nicht zu überspannen (BGH, Urteil vom 25. November 2004 - VII ZR 320/03, NJW 2005, 678, 679 und Beschluss vom 22. November 2017 - VII ZB 67/15, FamRZ 2018, 281 Rn. 21). Entscheidend ist der Maßstab der üblichen, von einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernden Sorgfalt (BGH, Urteil vom 19. November 1998 - IX ZR 152/98, NJW 1999, 724 mwN). Eröffnet das Gericht die Nutzung technischer Kommunikationsmedien und bedient sich ein Verfahrensbeteiligter derselben, so dürfen die aus deren technischen Gegebenheiten herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden (BGH, Urteil vom 25. November 2004 aaO zur Übermittlung von Schriftsätzen per Telefax). Gleiches gilt für nicht vorhersehbare und nicht vermeidbare technische Störungen einer EDV-Anlage (BGH, Beschluss vom 22. November 2017 aaO Rn. 23 mwN).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>bb) Die Beurteilung der Frage, ob die Säumnis der Partei unverschuldet ist, macht § 337 Satz 1 ZPO vom Dafürhalten des Gerichts abhängig. Entscheidend ist damit ein subjektiver Beurteilungsmaßstab (vgl. Loyal, ZZP 126 [2013], 491, 496 f). Eine Glaubhaftmachung wie in § 236 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 ZPO verlangt das Gesetz bei der Entscheidung über die Vertagung nach § 337 Satz 1 ZPO nicht. Damit trägt es dem Umstand Rechnung, dass im Termin eine Beweisführung nicht möglich ist (MüKoZPO/Prütting, 6. Aufl., § 337 Rn. 8; aA Anders aaO Rn. 5: Glaubhaftmachung wie bei Wiedereinsetzung erforderlich). § 337 Satz 1 ZPO eröffnet dem Gericht einen Beurteilungsspielraum (Bartels aaO § 337 Rn. 14; Göbel aaO Rn. 10; Loyal aaO S. 500). Bei plötzlich eintretenden Ereignissen können einseitige Angaben des verhinderten Verfahrensbeteiligten genügen, ohne dass es einer weitergehenden Glaubhaftmachung bedürfte (Büscher aaO Rn. 25).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>b) Das Landgericht hat im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums zutreffend wegen unverschuldeter Säumnis der Beklagten die Verhandlung nach § 337 Satz 1 ZPO vertagt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>aa) Die Beklagten waren in der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2022 säumig, weil ihr Prozessbevollmächtigter weder im Gerichtssaal physisch zugegen war noch eine Verbindung zum Zwecke der Bild- und Tonübertragung hergestellt werden konnte. Wird die Verhandlung gemäß § 128a Abs. 1 ZPO im Wege der Bild- und Tonübertragung durchgeführt, ist eine Partei säumig, wenn sie weder im Gerichtssaal physisch erscheint und verhandelt noch eine Bild- und Tonübertragung zustande kommt (Stadler in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl., § 128a Rn. 4; Windau, NJW 2020, 2753, 2757). Allein die Anwesenheit des Verfahrensbeteiligten an dem anderen Ort, von dem aus Verfahrenshandlungen vorzunehmen das Gericht ihm gemäß § 128a Abs. 1 Satz 1 ZPO gestattet hat, schließt als solche die Säumnis nicht aus, solange eine Bild- und Tonübertragung nicht zustande kommt (aA MüKoZPO/Fritsche, 6. Aufl., § 128a Rn. 9). Dies entspricht dem Grundsatz, dass nach § 333 ZPO auch bei physischer Anwesenheit im Gerichtssaal das Nichtverhandeln einer Partei dem Nichterscheinen gleichsteht; dieser Grundsatz gilt auch für die Beurteilung der Säumnis im Rahmen des § 337 Satz 1 ZPO (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2016 - VIII ZB 25/15, NJW 2016, 3248 Rn. 14 ff).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>bb) Ob die Säumnis eines Verfahrensbeteiligten, der an einer nach § 128a Abs. 1 ZPO durchgeführten Verhandlung nicht teilnimmt, weil aus technischen Gründen eine Bild- und Tonübertragung nicht zustande kommt, als schuldhaft anzusehen ist, hängt davon ab, ob ein aufgetretenes technisches Problem dem Beteiligten zugerechnet werden kann (Stadler aaO). Dies ist eine Wertungsfrage, bei deren Beurteilung der Zweck der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung nach § 128a Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist. Der Norm, die durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887) eingeführt wurde und durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25. April 2013 (BGBl. I S. 935) ihre heutige Fassung erhielt, liegt das Bestreben zugrunde, durch die Nutzung moderner Kommunikationstechnik das Verfahren effektiver und prozessökonomischer zu gestalten (Kern in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 128a Rn. 1; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 15. Mai 2001, BT-Drucks. 14/6036 S. 116, 119). Dass Gerichte und Verfahrensbeteiligte von dieser Möglichkeit in der Praxis Gebrauch machen, ist im Interesse der Ersparnis von Zeit und Kosten wünschenswert (Gesetzentwurf des Bundesrates vom 24. März 2010, BT-Drucks. 17/1224 S. 10 f). Im Sinne der Akzeptanz dieser Verfahrensweise darf daher ihre Nutzung nicht derart erschwert werden, dass sie für den Verfahrensbeteiligten, der im Wege der Bild- und Tonübertragung an der Verhandlung teilzunehmen beabsichtigt, riskanter ist als das persönliche Erscheinen im Gericht (Mantz/Spoenle, MDR 2020, 637, 643; Windau aaO). Vorbehaltlich der im Rahmen des § 337 Satz 1 ZPO vorzunehmenden Würdigung des Einzelfalls (vgl. MüKoZPO/Prütting aaO Rn. 4) ist eine Partei daher regelmäßig ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert, wenn sie an der Verhandlung nicht teilnehmen kann, weil trotz Beobachtung der als erforderlich anzusehenden Sorgfalt (vgl. Windau aaO) auf Grund nicht mehr aufklärbarer technischer Umstände eine Bild- und Tonübertragung nicht zustande kommt (vgl. LG Bonn, Urteil vom 2. März 2022 - 1 O 347/20, juris Rn. 32; Zschieschack in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl., § 15 Rn. 87).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>cc) Danach waren die Beklagten unverschuldet verhindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Die im einzelnen nicht mehr aufklärbaren technischen Gründe, aus denen eine Bild- und Tonübertragung nicht zustande kam, können ihnen nicht zugerechnet werden. Ein Verstoß gegen die erforderliche Sorgfalt kann ihnen nicht zur Last gelegt werden. Zwar mag es zur erforderlichen Sorgfalt eines Rechtsanwalts gehören, eine vom Gericht angebotene Testmöglichkeit wahrzunehmen (vgl. Windau aaO) und im Vorfeld erteilte technische Hinweise des Gerichts zu berücksichtigen. Das Landgericht hat vorliegend aber weder eine Testmöglichkeit angeboten noch Hinweise erteilt. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten durfte sich daher darauf verlassen, dass eine Bild- und Tonübertragung mit dem ihm vom Gericht zur Verfügung gestellten Einwahllink zustande kommen würde. Ob er das vom Gericht verwendete Videokonferenzprogramm zu ersten Mal nutzte, ist unerheblich, weil besondere technische Kenntnisse zur Teilnahme an der Verhandlung vermittels Videokonferenztechnik nicht gefordert werden können (Windau aaO). Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Prozessbevollmächtigte mit dem Auftreten technischer Probleme rechnen musste, sind ebenso wenig ersichtlich wie Hinweise auf missbräuchliches Vorschieben einer technischen Panne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Argumentation des Klägers (Schriftsatz vom 15. März 2022, S. 2, Bl. 256 Bd. II d. A.) war dem Beklagten und ihrem Prozessbevollmächtigten nicht zuzumuten, sich vermittels eines oder mehrerer Mobiltelefone in die Videokonferenz einzuwählen. Auch wenn dies technisch möglich gewesen sein mag, hätte eine solche Verbindung für eine den Anforderungen des § 128a Abs. 1 ZPO genügende Bild- und Tonübertragung nicht genügt. Damit die Videokonferenz der Situation einer Verhandlung unter Anwesenden hinreichend nahekommt und das rechtliche Gehör aller Beteiligten sowie die Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Verhandlung gewahrt werden, ist es erforderlich, dass jeder Beteiligte zeitgleich alle anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen kann (MüKoZPO/Fritsche aaO Rn. 6; Windau aaO S. 2754). Dabei müssen verbale und nonverbale Äußerungen wie bei persönlicher Anwesenheit wahrnehmbar sein (Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl., § 128a Rn. 6; Windau aaO). Dies wäre bei Verwendung der nur vergleichsweise kleinen Bildschirme von Mobiltelefonen nicht möglich gewesen, zumal außer den Prozessbevollmächtigten auch die Parteien im Wege der Bild- und Tonübertragung zugeschaltet sein sollten und der Termin der Beweisaufnahme einer Zeugenvernehmung diente, bei der es in besonderer Weise auf die Wahrnehmung von Details ankommen kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">III.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 574 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2 Fall 1 ZPO ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, weil die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Dieser Zulassungsgrund ist erfüllt, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen. Ein solcher Anlass besteht für die Entwicklung höchstrichterlicher Leitsätze nur dann, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (BGH, Beschluss vom 27. März 2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 292). Das ist hier der Fall. Zu der - auf Grund des vermehrten Einsatzes von Videokonferenztechnik im Zivilprozess praktisch relevanten - Frage, ob die Säumnis einer Partei unverschuldet ist, wenn die Teilnahme an der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung aus ungeklärten technischen Ursachen scheitert, fehlt es an höchstrichterlichen Leitlinien. Darüber hinaus ist in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt, welcher Grad an Überzeugungsbildung für das „Dafürhalten“ des Gerichts im Sinne von § 337 Satz 1 ZPO erforderlich ist.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
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<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
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<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Einzelrichters der 7. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe vom 22. Februar 2022 abgeändert:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Beklagte wird verurteilt, außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 2.764,50 nebst hieraus Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz p. a. seit dem 21. Mai 2021 an den Kläger zu zahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Widerklage wird abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Das Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aus dem jeweiligen Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Revision wird zugelassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong> I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Kläger hatte bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich: Beklagte) ein Wertpapierdepot. Auf den Vertrag vom 2. Januar 2007 wird Bezug genommen (Blatt 25 f. der Akte).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Parteien schlossen am 1./2. Dezember 2017 einen Wertpapierkreditvertrag. Als Kreditrahmen vereinbarten die Parteien € 100.000,00. Auf den Vertrag wird Bezug genommen (Blatt 7 f. der Akte). In ihm heißt es (Blatt 7R der Akte):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p><em>Sicherheiten</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p><em>„Als Sicherheit erhält ... [scil: die Beklagte] ... die Verpfändung von Guthaben auf Verrechnungskonten/Girokonten, Wertpapierdepots und Wertpapierkreditkonten. Einzelheiten, insbesondere der Sicherungszweck, werden im Rahmen der anliegenden Verpfändungsvereinbarung geregelt. Der Kreditnehmer ist zur Stellung weiterer gleichwertiger Sicherheiten verpflichtet, wenn die vereinbarten Deckungsrelationen nicht nur vorübergehend nicht eingehalten werden oder ein sonstiger unerwarteter Wegfall bzw. wesentliche Minderung des Wertes der genannten Sicherheiten gegeben ist. Für die Verstärkung der Sicherheiten wird ... [scil: die Beklagte] ... dem Kreditnehmer eine angemessene Frist einräumen. Die Bank darf den Wertpapierkredit fristlos kündigen, wenn die Verpflichtung zur Verstärkung der Sicherheiten nicht innerhalb der von der Bank gesetzten Frist erfüllt wird.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p><em>Beleihungswert</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p><em>Für die Einräumung des Wertpapierkredites sind die Beleihungswerte für die verschiedenen Wertpapiergattungen maßgeblich.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p><em>Die aktuellen Beleihungswerte entnehmen Sie bitte unserer Website www.comdirect.de.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p><em>Die [scil: Beklagte] ist berechtigt, aber nicht verpflichtet, zur Wiederherstellung der vereinbarten Deckungsrelationen Depotwerte zu veräußern. Außerdem kann die [scil: Beklagte] anderweitige Sicherheiten verlangen, um die vereinbarte Sicherungsquote wiederherzustellen.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Gleichlautende Regelungen enthalten die Allgemeinen und Produktbezogenen Geschäftsbedingungen der Beklagten für den Wertpapierkredit (Blatt 97 f., 99 der Akte unter Ziff. 10 [Sicherheiten] und Ziff. 12 [Beleihungswert]).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Ebenfalls am 2. Dezember 2017 schlossen die Parteien eine Vereinbarung über die Verpfändung von Guthaben und Wertpapierdepots (Anlage K 4 - Blatt 9 der Akte). Dort ist unter Ziffern 2. und 4. geregelt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p><em>„2. Sicherungszweck</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p><em>Die Verpfändung dient zur Sicherung aller bestehenden, künftigen, auch bedingten Ansprüche, die der Bank gegen den Verpfänder aus der Gewährung von Wertpapierkrediten zustehen.</em><br>...</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p><em>4. Verwertungsrecht der Bank</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p><em>a. Die Bank ist berechtigt, die Pfandgegenstände zu verwerten, wenn der Verpfänder mit fälligen Zahlungen auf die durch diese Verpfändungen gesicherten Forderungen in Verzug ist.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p><em>Diese Maßnahme darf die Bank nur ergreifen, als es zur Erfüllung der fälligen Forderungen erforderlich ist.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p><em>b. Die Bank wird dem Verpfänder die Verwertung der Pfandgegenstände unter Fristsetzung schriftlich androhen. Sofern der Abschluss dieses Vertrages für den Verpfänder ein Handelsgeschäft darstellt, beträgt diese Frist mindestens eine Woche. In allen übrigen Fällen einen Monat.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Im März 2020 befanden sich im Depot des Klägers 20.673 Aktien der Deutsche Bank AG, die er für € 16,93 pro Aktie erworben hatte. Den Wertpapierkredit hatte der Kläger in voller Höhe - insgesamt in Höhe von € 100.005,94 - in Anspruch genommen. Ab Dezember 2019 waren die Aktienkurse flächendeckend eingebrochen, so auch der Kurs der Aktien der Deutsche Bank AG. Mit Schreiben vom 11. März 2020 (Blatt 8R der Akte) schrieb die Beklagte an den Kläger wie folgt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p><em>„... Bei Einräumung des Wertpapierkredites ist vereinbart worden, dass sich die höchstmögliche Inanspruchnahme nach dem Beleihungswert der im Depot befindlichen Wertpapiere richtet. Ihr Wertpapierkreditkonto weist am 10.03.2020 einen Saldo von -100.005,94 EUR auf. Unter Berücksichtigung des aktuellen Beleihungswertes von 85.140,59 EUR ergibt sich eine Unterdeckung von 14.865,35 EUR. Bitte stellen Sie die vertraglich vereinbarten Deckungsrelationen wieder her und führen Sie die Inanspruchnahme des Wertpapierkredites bis </em><strong><em>18.03.2020</em></strong><em> wieder in den Beleihungswert Ihres Depots zurück. ... Sofern Sie die Frist verstreichen lassen, behalten wir uns vor, von unserem Recht Gebrauch zu machen, Wertpapiere aus ihrem Depot im erforderlichen Umfang zu veräußern. ...“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Das Schreiben stellte sie am 11. März 2020 in die Postbox des Klägers ein. Dieser öffnete es spätestens am 23. März 2020. Ebenfalls am 23. März 2020 veräußerte die Beklagte insgesamt 12.923 Aktien der Deutsche Bank AG; sie erlöste insgesamt € 71.417,89. Am 25. März 2020 überwies der Kläger € 20.000,00 und am 27. März 2020 weitere € 3.000,00 auf das Wertpapierkreditkonto.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Wegen des Sachverhalts wird im Übrigen auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen. Das Landgericht hat der auf Einbuchung von 12.923 Aktien der Deutsche Bank AG gegen Zahlung von € 71.417,89 gerichteten Klage stattgegeben. Den Antrag auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten hat es abgewiesen. Des Weiteren hat das Landgericht der Widerklage der Beklagten stattgegeben, festzustellen, dass der Kläger verpflichtet sei, der Beklagten den Mehraufwand zu ersetzen, der ihr im Vergleich zur Erfüllung der Klageforderung am 24. März 2020, 12 Uhr, entstanden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung hat das Landgericht, soweit im Berufungsrechtszug von Interesse, ausgeführt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Ein Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten bestehe nicht, weil sich die Beklagte zum Zeitpunkt der Beauftragung der Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht in Verzug befunden habe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Der Anspruch der Beklagten gegen den Kläger, ihr den Mehraufwand zu erstatten, der ihr im Vergleich mit einer Einbuchung am 24. März 2020, 12 Uhr, entstehe, ergebe sich aus § 254 Abs. 1 BGB. Den Kläger treffe an der Entstehung des Schadens ein erhebliches Mitverschulden:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Er hätte seine Postbox regelmäßig kontrollieren und das Schreiben der Beklagten vom 11. März 2020 zeitnah zur Kenntnis nehmen müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Er habe es unterlassen, die Beklagte telefonisch vorab darauf hinzuweisen, dass er am 25. März 2020 € 20.000,00 auf das Wertpapierkonto einzahlen werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Er hätte der Veräußerung sofort widersprechen müssen, wenn er sie für pflichtwidrig gehalten hätte. Der Kläger behaupte zwar, der Veräußerung telefonisch widersprochen zu haben. Er behaupte aber gerade nicht, der Veräußerung dem Grunde nach, sondern nur der Höhe nach widersprochen zu haben. Darüber hinaus hätte der Kläger in Textform widersprechen müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Insgesamt habe er nicht zu erkennen gegeben, dass er eine Rückgängigmachung der Veräußerung begehre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Nach Einzahlung der € 20.000,00 hätte der Kläger in der Folgezeit die Veräußerung durch einen Deckungskauf zu allenfalls sehr geringen Mehrkosten wirtschaftlich betrachtet rückgängig machen können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er die Abweisung der Widerklage und die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten begehrt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Den Kläger treffe kein Mitverschulden. Doch selbst wenn ihn ein Mitverschulden nach § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB träfe, sei dies als so gering einzustufen, dass es zu vernachlässigen sei. Der Kläger sei mit dem Verkauf nicht einverstanden gewesen und habe sich deshalb telefonisch an die Beklagte gewandt. Die Beklagte habe sich vorgerichtlich immer darauf berufen, dass es sich bei dem Verkauf um eine automatische Order gehandelt habe, auf die sie keinen Einfluss (mehr) habe nehmen können. Die Beklagte habe in außerordentlichem Maße schuldhaft gehandelt und sich über die vertragliche Vereinbarung hinweggesetzt. Die Beklagte habe zu keiner Zeit, auch nicht nach den jüngsten Kurseinbrüchen, versucht, die Aktien günstig zu erwerben. Die Annahme des angefochtenen Urteils, die Beklagte hätte bei einer schriftlichen Beschwer im März 2020 die Aktien in das Depot des Klägers zurückgebucht, sei substanzlos.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte sei spätestens nach dem ersten Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 1. Februar 2021 in Verzug geraten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Der Kläger beantragt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>1. Das Urteil vom 22.02.2022 wird hinsichtlich der Widerklage aufgehoben und die Widerklage wird abgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>2. Die Beklagte wird verurteilt, außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 2.764,50 nebst hieraus Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21.05.2021 zu zahlen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>die Berufung des Klägers zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Der Kläger habe sich nach seinem eigenen Vortrag nur gegen die Anzahl der veräußerten Aktien gewandt. Er hätte die Veräußerung verhindern können, wenn er die € 20.000,00 früher überwiesen und die Überweisung angekündigt hätte. Aufgrund der damaligen Situation hätte sich die Beklagte in der Annahme, zur Verwertung nach Ablauf der in dem Schreiben vom 11. März 2020 gesetzten Frist berechtigt zu sein, nicht auf eine vage Ankündigung eines nicht näher benannten Geldbetrages verlassen können. Der Kläger hätte die € 20.000,00 schon vor dem 23. März 2020 überweisen und so eine Verwertung verhindern können. Ein Gespräch hätte zumindest ergeben, dass der Kläger die Aktien zurückkaufen konnte. Dies hätte ihm auch oblegen, weil ihm die € 23.000,00 zur Verfügung standen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Zur Ergänzung des Sach- und Streitstands wird auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Die Berufung hat Erfolg. Die Widerklage ist abzuweisen. Dem Kläger sind die von ihm begehrten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu erstatten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p><span style="text-decoration:underline">1. Widerklage</span></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Auf die Berufung ist das angefochtene Urteil abzuändern und die Widerklage abzuweisen. Die Beklagte ist dem Kläger zum Schadensersatz verpflichtet, weil sie am 23. März 2020 pflichtwidrig und schuldhaft 12.923 der ihr verpfändeten Aktien der Deutsche Bank AG veräußerte. Den Kläger trifft kein Mitverschulden. Ein etwaiges Mitverschulden des Klägers träte überdies hinter die grob verschuldete Pflichtwidrigkeit der Beklagten zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte ist dem Kläger nach § 280 Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Sie hat die Aktien des Klägers - genauer: seine Miteigentumsanteile am Sammelbestand nach § 6 Abs. 1 Satz 1 DepotG (ggfl. i.V.m. § 9b Abs. 1 Satz 1 DepotG) - veräußert, ohne hierzu berechtigt gewesen zu sein. Hierdurch ist dem Kläger ein Schaden entstanden. Die Beklagte handelte auch schuldhaft.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Weder Schadensersatzanspruch noch Pflichtverletzung noch Grund der Pflichtverletzung stehen aufgrund der Rechtskraft der Entscheidung über den Klageantrag zu 1. fest. Denn das Landgericht hat den Klageantrag zu 1. auch deshalb als begründet erachtet, weil es das Verlangen des Klägers nach Schadensersatz auch als Kaufauftrag interpretiert hat (Seite 7 Ziff. 2 Abs. 2 des angefochtenen Urteils). Auf die Abgrenzung zu Präjudizialität und Vorfragen kommt es damit nicht an.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>aa)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte veräußerte die Miteigentumsanteile des Klägers am Sammelbestand, ohne hierzu nach der Vereinbarung über die Verpfändung von Guthaben und Wertpapierdepots berechtigt gewesen zu sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(1)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Nach Ziff. 4 der Vereinbarung über die Verpfändung von Guthaben und Wertpapierdepots stand der Beklagten kein Recht zu, die Miteigentumsanteile zu verwerten. Der Sicherungsfall war nicht eingetreten. Überdies hat sie die vertraglich vereinbarte und gesetzlich geregelte Frist zwischen Verkaufsandrohung und Verwertung nicht eingehalten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat die ihr sicherungshalber verpfändeten Aktien verwertet, ohne dass der Sicherungsfall eingetreten war. Der Sicherungsfall setzt die (Teil-)Kündigung des Wertpapierkredits voraus; eine derartige Kündigung hat die Beklagte weder angedroht noch ausgesprochen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Der Sicherungsfall setzt die (Teil-)Kündigung des Wertpapierkredits voraus. Nach Ziffer 4.a) der Vereinbarung über die Verpfändung von Guthaben und Wertpapierdepots setzt die Verwertung voraus, dass der Verpfänder, hier also der Kläger, mit fälligen Zahlungen auf die durch die Verpfändung gesicherten Forderungen in Verzug ist. Diese Voraussetzung war vorliegend nicht erfüllt. Die Beklagte hatte das Wertpapierdarlehen zu keiner Zeit gekündigt und die Kündigung auch nicht angedroht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>Überdies hat die Beklagte die vertraglich vereinbarte und gesetzlich geregelte Frist zwischen Verkaufsandrohung und Verwertung nicht eingehalten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Sie verletzte ihre Pflichten aus Ziffer 4.b) der Vereinbarung über die Verpfändung von Guthaben und Wertpapierdepots und aus § 1234 Abs. 2 Satz 1 BGB. Nach diesen Regelungen darf der Verkauf nicht vor dem Ablauf eines Monats nach der Verkaufsandrohung nach § 1234 Abs. 1 BGB erfolgen. Vorliegend hat die Beklagte die Aktien bereits zwölf Tage nach Zugang der Verkaufsandrohung veräußert und die Monatsfrist nicht abgewartet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>bb)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte war auch nicht nach dem Wertpapierkreditvertrag, Stichwort: Beleihungswert Abs. 2 Satz 1, bzw. nach Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 der Allgemeinen und Produktbezogenen Geschäftsbedingungen der Beklagten für den Wertpapierkredit (im Folgenden für beide Bestimmungen: Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1) dazu berechtigt, die Miteigentumsanteile des Klägers zu veräußern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 ist unwirksam. Hiernach ist die Beklagte berechtigt, zur Wiederherstellung der vereinbarten Deckungsrelation Depotwerte zu veräußern. Diese Klausel hat, rechtlich gewendet, drei Regelungsgehalte: Sie ermächtigt die Beklagte, über das Eigentum des Klägers zu verfügen (§ 182 Abs. 1, § 185 Abs. 1 BGB), sie statuiert ein Recht der Beklagten, den Kreditrahmen herabzusetzen, und sie berechtigt die Beklagte, den aus der Veräußerung der Aktien erzielten Erlös zu vereinnahmen. Sämtliche drei Regelungen verstoßen gegen rechtliche Bestimmungen. Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 ist aus jedem der nachfolgend genannten Gründe unwirksam ((1) bis (3)), weil sich die Klausel nicht in ihre jeweiligen Regelungsinhalte aufteilen lässt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(1)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 ist formnichtig (§ 125 Satz 1 BGB). Wie bereits erwähnt, räumt die Klausel der Beklagten unter anderem das Recht ein, über die Miteigentumsanteile des Klägers zu verfügen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>Nach § 13 Abs. 1 DepotG muss eine Erklärung, durch die der Verwahrer, hier also die Beklagte (vgl. § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 1 Satz 1, § 5 Abs. 1 bis 3 DepotG) ermächtigt wird, sich die anvertrauten Wertpapiere anzueignen oder das Eigentum an ihnen auf einen Dritten zu übertragen, und alsdann nur verpflichtet sein soll, Wertpapiere derselben Art zurückzugewähren, für das einzelne Verwahrungsgeschäft ausdrücklich und schriftlich abgegeben werden. In der Erklärung muss zum Ausdruck kommen, dass mit der Ausübung der Ermächtigung das Eigentum auf den Verwahrer oder einen Dritten übergehen soll und mithin für den Hinterleger nur ein schuldrechtlicher Anspruch auf Lieferung nach Art und Zahl bestimmter Wertpapiere entsteht. Die Erklärung darf weder auf andere Urkunden verweisen noch mit anderen Erklärungen des Hinterlegers verbunden sein. Die Vorschriften zur Aneignungsermächtigung gelten auch für die Sammelverwahrung (Walz/Frey in: Scherer, DepotG, 2012, § 13 Rn. 3). Eine Ermächtigungserklärung, die die Formanforderungen des § 13 Abs. 1 DepotG nicht erfüllt, ist gemäß § 125 Satz 1 BGB nichtig (Walz/Frey in: Scherer, DepotG, 2012, § 13 Rn. 14).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>So liegt es hier. Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 ermächtigt die Beklagte, Miteigentumsanteile des Klägers auf Dritte zu übertragen. Sie ist nicht ausdrücklich für das Verwahrgeschäft der Aktien der Deutsche Bank AG abgegeben worden. Überdies ist Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten und damit mit anderen Erklärungen des Klägers verbunden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(2)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>Das mit Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 einhergehende Recht, den Kreditrahmen herabzusetzen, ist nach § 499 Abs. 1, § 512 BGB und nach § 308 Nr. 4 BGB unwirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>Die Klausel ist nach § 499 Abs. 1, § 512 BGB unwirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>Nach § 499 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist in einem, wie hier (vgl. § 492 Abs. 2 Satz 1 BGB), Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag eine Vereinbarung über ein Kündigungsrecht des Darlehensgebers unwirksam, wenn die Kündigungsfrist zwei Monate unterschreitet. Eine Kündigung ist regelmäßig anzunehmen, wenn sich aus der Erklärung ergibt, dass das Darlehen mit Wirkung für die Zukunft beendet werden soll und die Darlehensvaluta zurückzuzahlen ist (Samhat in: Bankrechtshandbuch, 6. Aufl. 2022, § 54 Rn. 25). Nach § 512 Satz 2 BGB findet § 499 Abs. 1 Alt. 2 BGB auch Anwendung, wenn die Vorschrift durch anderweitige Gestaltungen umgangen werden soll.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p>Das Recht der Beklagten, nach Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 den Kreditrahmen herabzusetzen, kommt einer Kündigung gleich und umgeht § 499 Abs. 1 Alt. 2 BGB, sofern und soweit der Darlehensnehmer das Darlehen in einem Umfang in Anspruch genommen hat, der den herabgesetzten Rahmen übersteigt. In diesem Fall beinhaltet die Herabsetzung des Kreditrahmens nämlich, dass der den neuen Rahmen übersteigende bereits in Anspruch genommene Teil des Darlehens von dem Darlehensnehmer zurückzuführen ist. Genau diese Regelung setzt Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 voraus, wenn sie der Beklagten das Recht einräumt, zur Wiederherstellung des Deckungswertes den Veräußerungserlös zu vereinnahmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>Die Klausel ist insoweit auch nach § 308 Nr. 4 BGB unwirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p>Nach dieser Vorschrift ist in Allgemeinen Geschäftsbedingungen insbesondere die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders unwirksam, die versprochene Leistung zu ändern, wenn nicht die Vereinbarung der Änderung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil zumutbar ist. § 308 Nr. 4 BGB verbietet es zum Beispiel dem Darlehensgeber, sich die Befugnis vorzubehalten, nur einen Teil des Darlehens auszuzahlen (Grüneberg in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 308 Rn. 24). Vorliegend behält sich die Beklagte in Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 das Recht vor, den vereinbarten Kreditrahmen von € 100.000,00 einseitig herabzusetzen. Damit räumt sie sich das Recht ein, den Wertpapierkreditvertrag einseitig zu ändern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>Die Vereinbarung dieses Rechts ist dem Kläger auch nicht zuzumuten. Zumutbarkeit setzt voraus, dass Voraussetzungen und Umfang der Änderungen möglichst konkretisiert und kalkulierbar sind, und zwar umso konkreter, je einschneidender die Änderung ist (Grüneberg in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 308 Rn. 25). Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 teilt Voraussetzungen und Umfang der Änderung nur höchst rudimentär mit. Die Wiederherstellung der Deckungsrelation ist das Ergebnis einer mathematischen Rechenoperation. Sowohl die der Rechenoperation zugrundeliegende Formel als auch die die Variablen ausfüllenden Werte muss der Kunde selbst ermitteln. Das ist weder hinreichend konkretisiert noch kalkulierbar. Überdies ist die Folge, der Kunde realisiert Verluste, höchst einschneidend. Dem trägt Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 keine Rechnung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(3)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p>Auch das mit Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 einhergehende Recht der Beklagten, den aus der Veräußerung der Aktien erzielten Erlös zu vereinnahmen, ist unwirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>Diese Regelung ist nach § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Die Regelung ist mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p>Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 BGB weicht, soweit das Recht in Rede steht, den erzielten Erlös zu vereinnahmen, von § 387 BGB ab. Nach § 387 BGB setzt eine Aufrechnung voraus, dass zwei Personen einander gleichartige Leistungen schulden. Die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung muss wirksam und fällig sei. Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 setzt nach ihrem Wortlaut und dem Verständnis der Beklagten aber gerade keine Kündigung voraus, sondern will deren Notwendigkeit umgehen. Ist der Darlehensvertrag aber nicht - teilweise - gekündigt, steht der Beklagten gegen ihren Kunden kein Anspruch zu, mit dem sie gegen dessen Anspruch auf Auskehr des Erlöses (§ 816 Abs. 1 Satz 1 BGB) aufrechnen könnte. Eine Aufrechnung ohne Gegenforderung ist mit dem Grundgedanken des § 387 BGB nicht zu vereinbaren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>(4)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p>Ob Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 auch deshalb nach § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist, weil die Regelung bei kundenfeindlichster Auslegung weder Fristsetzung noch Ankündigung erfordert, kann dahinstehen. Gleiches gilt für die Frage, ob die Klausel möglicherweise kein Vertragsbestandteil geworden ist (§ 305c Abs. 1 BGB), weil der Kläger angesichts der umfangreichen Regelungen zur Verpfändung nicht damit rechnen konnte, dass sich unter der Überschrift „Deckungsrelation“ eine Klausel verbirgt, die die Regeln zur Verpfändung zu Makulatur werden lässt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>cc)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p>Die Pflichtverletzung geschah auch schuldhaft (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB). Durch die unberechtigte Veräußerung der Miteigentumsanteile an den Aktien ist dem Kläger der mit dem angefochtenen Urteil im Tenor zu 1. zugesprochene Schaden entstanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p>Ein Mitverschulden trifft den Kläger nicht. Überdies träte ein etwaiges Mitverschulden hinter das grobe Verschulden der Beklagten zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>aa)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p>Den Kläger trifft kein Mitverschulden an der Entstehung des Schadens (§ 254 Abs. 1 BGB).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_70">70</a></dt>
<dd><p>Der Kläger wies die Beklagte nicht darauf hin, dass er zeitnah € 23.000,00 überweisen werde. Hierin liegt von vornherein keine Mitverursachung der Entstehung des Schadens. Die Beklagte hat die ihr obliegenden Pflichten verletzt, weil sie Miteigentumsanteile veräußert hat, obwohl sie hierzu nicht berechtigt war. Zu einer etwaigen Ankündigung, zeitnah Gelder überweisen zu wollen, besteht kein kausaler Zusammenhang. Rechtswidriges Handeln des Schädigers nicht zu verhindern, verursacht den Schaden nur dann, wenn der Geschädigte seinerseits verpflichtet gewesen wäre, zu handeln. Woraus sich eine derartige Handlungspflicht des Beklagten ergeben könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Kläger war mit der Situation ersichtlich völlig überfordert. Überdies hat die Beklagte nicht behauptet, dass sie aufgrund der Ankündigung einer Überweisung bereit gewesen wäre, die Veräußerung hinauszuschieben. In der Berufungsinstanz trägt sie vielmehr ausdrücklich vor, sie habe sich auf die vage Ankündigung eines nicht näher bezeichneten Geldbetrages nicht verlassen können (Blatt 198 Abs. 2 der Akte).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_71">71</a></dt>
<dd><p>Der Kläger war nicht gehalten, die € 23.000,00 vor Ablauf der ihm rechtswidrig gesetzten Frist zu überweisen. Zum einen hat der Kläger behauptet, die € 23.000,00 sofort überwiesen zu haben, nachdem er sie sich geliehen hatte (Blatt 105 Abs. 3 a.E. der Akte). Für ihre gegenteilige Behauptung hat die Beklagte keinen Beweis angeboten. Zum anderen liegt das rechtswidrige Handeln der Beklagten in der Veräußerung selbst; ob darüber hinaus auch die Frist zu kurz gesetzt war, bedarf keiner Entscheidung. Der Kläger war nicht verpflichtet, die Pflichtwidrigkeit zu beseitigen, indem er sie akzeptierte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>bb)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_72">72</a></dt>
<dd><p>Den Kläger trifft auch kein Mitverschulden, weil er gehalten gewesen wäre, den Schaden abzuwenden oder zu mindern (§ 254 Abs. 2 Satz 1 BGB).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_73">73</a></dt>
<dd><p>Der Kläger war nicht verpflichtet, der Veräußerung der Aktien sofort zu widersprechen. Insoweit hat die Beklagte weder in erster noch in zweiter Instanz behauptet, sie hätte die Veräußerung in diesem Fall rückgängig gemacht. Das steht auch zur Überzeugung des Senats fest (§ 286 ZPO). Der Kläger hat, insoweit unstreitig, nach der Veräußerung bei der Beklagten angerufen und die Veräußerung beanstandet. Die Beklagte wies die Beanstandung zurück. Dass sie anders reagiert hätte, wenn der Kläger seine Beanstandung anders begründet hätte, nämlich mit der Rechtswidrigkeit der Veräußerung der Aktien, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Senat hält es für ausgeschlossen. Die Beklagte hat sich hartnäckig geweigert, die Veräußerung rückgängig zu machen, es handele sich um einen automatischen Prozess. Der Kläger hat überdies bestritten, dass die Beklagte bei anderer Begründung bereit gewesen wäre, die Veräußerung rückgängig zu machen, Beweis hat die Beklagte nicht angeboten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_74">74</a></dt>
<dd><p>Der Kläger war nicht verpflichtet, nach Einzahlung der € 23.000,00 Aktien nachzukaufen. Gemäß § 254 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 BGB ist der Geschädigte im Interesse des Schädigers gehalten, den entstehenden Schaden abzuwenden oder zu mindern. Die Schadensminderungsobliegenheit des § 254 Abs. 2 BGB ist ein Anwendungsfall des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben, der dann eingreift, wenn der Geschädigte Maßnahmen unterlässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Schadensabwendung oder Minderung ergreifen würde (BGH, Urteil vom 17. März 2011 - IX ZR 162/08, Rn. 17). Handelt es sich dagegen um Maßnahmen, die dem Geschädigten zur Schadensminderung nicht zugemutet werden können, führt ihr Unterlassen nicht zum Mitverschulden. Ein eigenes Verhalten des Geschädigten, zu dem er nicht aufgrund seiner Schadensabwendungs- und -minderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB) verpflichtet ist, darf wegen des Grundsatzes, dass überpflichtmäßige Anstrengungen des Geschädigten den Schädiger nicht entlasten sollen, weder in die Schadensberechnungsbilanz eingestellt werden, noch braucht der Geschädigte es sich im Wege der Vorteilsausgleichung anrechnen zu lassen (BGH, Urteil vom 16. Februar 1971 - VI ZR 147/69, Rn. 17; Urteil vom 11. Januar 2005 - X ZR 118/03, Rn. 25; Urteil vom 17. März 2011 - IX ZR 162/08, Rn. 17). Der danach gebotene Abgrenzungsmaßstab ergibt sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (BGH, Urteil vom 17. März 2011 - IX ZR 162/08, Rn. 17). Der Geschädigte ist danach regelmäßig nicht gehalten, den entstandenen Schaden durch ein teures, mit neuen Risiken ausgestattetes Kompensationsgeschäft auszugleichen (BGH, Urteil vom 17. März 2011 - IX ZR 162/08, Rn. 18; Grüneberg in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 254 Rn. 47). So liegt es hier. Ein Nachkauf von Aktien wäre mit erheblichen Risiken verbunden gewesen. Der Kläger musste angesichts der Situation auf den Aktienmärkten damit rechnen, dass die Kurse, auch der Kurs der Aktien der Deutsche Bank AG, weiter fallen könnten. Durch die rechtswidrige Veräußerung seiner Miteigentumsanteile hatte er bereits Verluste realisiert. Kaufte er nach Einzahlung der € 23.000,00 Aktien nach, musste er damit rechnen, bei weiter fallenden Kursen keine Liquidität mehr nachschießen zu können und damit ein erneutes Vorgehen der Beklagten nach Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 hinnehmen und weitergehende Verluste realisieren zu müssen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>cc)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_75">75</a></dt>
<dd><p>Und schließlich träte ein etwaiges Mitverschulden des Klägers hinter die ganz erhebliche Pflichtverletzung der Beklagten zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_76">76</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte veräußerte die Miteigentumsanteile, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein. Dies geschah grob schuldhaft, weil die Voraussetzungen einer Pfandverwertung ersichtlich nicht vorlagen und Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 offensichtlich aus einer Vielzahl von Gründen unwirksam war. Hinter dieses grobe Verschulden träte ein etwaiges Mitverschulden des Klägers zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_77">77</a></dt>
<dd><p><span style="text-decoration:underline">2. Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten</span></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_78">78</a></dt>
<dd><p>Der Kläger kann von der Beklagten auch die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangen. Nach dem Vorstehenden steht dem Kläger gegen die Beklagte wegen der rechtswidrigen Veräußerung seiner Miteigentumsanteile nicht nur ein vertraglicher Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB zu, sondern auch ein deliktischer gemäß § 823 Abs. 1 BGB.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_79">79</a></dt>
<dd><p>Bei der Beurteilung der Frage, ob und in welchem Umfang der dem Geschädigten zustehende Schadensersatzanspruch gemäß § 249 Abs. 1 BGB die Erstattung von Rechtsanwaltskosten umfasst, ist zwischen dem Innenverhältnis des Geschädigten zu dem für ihn tätigen Rechtsanwalt und dem Außenverhältnis des Geschädigten zum Schädiger zu unterscheiden. Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch ist grundsätzlich, dass der Geschädigte im Innenverhältnis zur Zahlung der in Rechnung gestellten Kosten verpflichtet ist und die konkrete anwaltliche Tätigkeit im Außenverhältnis aus der maßgeblichen Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf seine spezielle Situation zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig war (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 22. Juni 2021 - VI ZR 353/20, Rn. 6; Urteil vom 24. Januar 2022 - VIa ZR 100/21, Rn. 12).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_80">80</a></dt>
<dd><p>Ob eine vorprozessuale anwaltliche Zahlungsaufforderung im Innenverhältnis des Mandanten zum Rechtsanwalt eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG auslöst oder als der Vorbereitung der Klage dienende Tätigkeit nach § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVG zum Rechtszug gehört und daher mit der Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG abgegolten ist, bestimmt sich nach Art und Umfang des im Einzelfall erteilten Mandats. Erteilt der Mandant den unbedingten Auftrag, im gerichtlichen Verfahren tätig zu werden (vgl. Vorbemerkung 3 Abs. 1 Satz 1 VV RVG), lösen bereits Vorbereitungshandlungen die Gebühren für das gerichtliche Verfahren aus, und zwar auch dann, wenn der Anwalt zunächst nur außergerichtlich tätig wird. Für das Entstehen der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG ist dann kein Raum mehr. Anders liegt es, wenn sich der Auftrag auf die außergerichtliche Tätigkeit des Anwalts beschränkt oder der Prozessauftrag jedenfalls unter der aufschiebenden Bedingung erteilt wird, dass zunächst vorzunehmende außergerichtliche Einigungsversuche erfolglos bleiben. Ein lediglich (aufschiebend) bedingt für den Fall des Scheiterns des vorgerichtlichen Mandats erteilter Prozessauftrag steht der Gebühr aus Nr. 2300 VV RVG nicht entgegen (BGH, Urteil vom 22. Juni 2021 - VI ZR 353/20, Rn. 7; Urteil vom 24. Februar 2022 - VII ZR 320/21, Rn. 24). Vorliegend hat der Kläger seinem Prozessbevollmächtigten keinen unbedingten Klageauftrag erteilt. So schreibt dieser am 1. Februar 2021 (Anlage K 8, Blatt 15 f. der Akte) und am 21. März 2021 (Anlage K 10, Blatt 18 f. der Akte), er werde dem Kläger anraten, Klage zu erheben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_81">81</a></dt>
<dd><p>Die vorgerichtliche Anwaltstätigkeit war im Außenverhältnis des Klägers zur Beklagten erforderlich und zweckmäßig. Maßgeblich ist an dieser Stelle die ex-ante-Sicht einer vernünftigen, wirtschaftlich denkenden Person in der Situation des Geschädigten, wobei keine überzogenen Anforderungen zu stellen sind (vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 2019 - VI ZR 45/19, Rn. 21, Urteil vom 24. Februar 2022 - VII ZR 320/21, Rn. 18). Da es sich vorliegend nicht um einen einfach gelagerten Schadensfall handelte, bei dem die Haftung der Beklagten nach Grund und Höhe von vornherein unzweifelhaft gewesen wäre, durfte sich der Kläger schon für die erstmalige Geltendmachung ihres Schadens gegenüber der Beklagten anwaltlicher Hilfe bedienen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 2019 - VI ZR 45/19, Rn. 21).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>III.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_82">82</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_83">83</a></dt>
<dd><p>Die Revision wird zugelassen. Die Frage der Wirksamkeit der Klausel Ziff. 12 Abs. 2 Satz 1 ist von grundsätzlicher Bedeutung, weil nicht nur die Beklagte sie verwendet, sondern nach den Recherchen des Senats auch andere depotführende Banken ähnliche Klauseln verwenden.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,673 | ovgnrw-2022-09-15-19-b-97622 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
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} | 19 B 976/22 | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:08 | 2022-10-17T11:10:28 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0915.19B976.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die dargelegten Gründe. Diese Gründe rechtfertigen es nicht, dem Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO unter Änderung des angefochtenen Beschlusses stattzugeben und den Antragsgegner zu verpflichten, sie „vorläufig in die Klasse 9“ des bischöflichen L. -Gymnasiums I. „zu versetzen bis das Widerspruchsverfahren rechtskräftig und unanfechtbar abgeschlossen ist“. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht habe (§ 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwGO, § 294 Abs. 1, § 920 Abs. 2 ZPO). Die Versetzungskonferenz habe nach den vorliegenden Erkenntnissen in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Versetzung nach § 22 Abs. 1 APO‑S I nicht vorlägen, weil die Lehrkräfte die Leistungen der Antragstellerin in sämtlichen im zweiten Schulhalbjahr 2021/2022 unterrichteten Fächern angesichts ihrer Fehlzeiten mangels hinreichender Bewertungsgrundlage als nicht beurteilbar eingestuft hätten, ohne dass dies durch eine Feststellungsprüfung behebbar sei. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass sich die Antragstellerin auch nicht mit Erfolg auf § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I berufen könne, weil es die Versetzungskonferenz der Schule in rechtlich nicht zu beanstandender Weise abgelehnt habe, die nach dieser Vorschrift erforderliche Prognose zu Gunsten der Antragstellerin zu treffen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Antragstellerin allein gegen die letztgenannte Bewertung des Verwaltungsgerichts zu einer Versetzung auf der Grundlage von § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I. Nach dieser Vorschrift kann eine Schülerin auch dann versetzt werden, wenn die Versetzungsanforderungen aus besonderen Gründen nicht erfüllt werden konnten, jedoch erwartet werden kann, dass auf Grund der Leistungsfähigkeit, der Gesamtentwicklung und der Förderungsmöglichkeiten der Schule in der nachfolgenden Klasse eine erfolgreiche Mitarbeit möglich ist. Während Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „besonderen Gründe“ durch die zur Entscheidung berufene Versetzungskonferenz (§ 50 Abs. 2 SchulG NRW, § 7 Abs. 2 Satz 1, § 22 Abs. 2 Satz 1 APO-S I) der vollständigen Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte unterliegt, hat die Versetzungskonferenz bei der Entscheidung über die Versetzung aufgrund positiver Gesamtprognose („erwartet werden kann“) einen schulprüfungsspezifischen Bewertungsspielraum, der einer verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen ist. Bei einer solchen Prognoseentscheidung überschreitet die Versetzungskonferenz ihren prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum nach ständiger Senatsrechtsprechung nur dann, wenn sie einen Verfahrensfehler begeht, anzuwendendes Recht verkennt, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgeht, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt oder sich von sachfremden Erwägungen leiten lässt oder sonst willkürlich handelt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Oktober 2014 ‑ 19 B 971/14 ‑, juris, Rn. 2 (zu § 12 Abs. 3 Satz 1 APO-S I), und vom 29. Dezember 2008 ‑ 19 B 1581/08 ‑, juris, Rn. 24 (zu § 21 Abs. 3 Satz 1 APO-S I 2005); zum prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum bei anderen schul- und lehrerprüfungsrechtlichen Entscheidungen vgl. Beschlüsse vom 15. März 2022 ‑ 19 B 1649/21 ‑, juris, Rn. 7, vom 30. September 2021 ‑ 19 B 1508/21 ‑, juris, Rn. 4, und vom 29. April 2020 ‑ 19 A 110/19 ‑, juris, Rn. 32 ff., jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1. Soweit die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde zunächst geltend macht, es lägen „besondere Gründe“ im Sinn von § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I vor, geht dies an der Entscheidungsstruktur des angegriffenen Beschlusses vorbei. Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen von besonderen Gründen ausdrücklich offen gelassen und allein die Prognoseentscheidung der Versetzungskonferenz einer rechtlichen Prüfung unterzogen (S. 4 des Beschlusses, hierzu sogleich 2.). Die Annahme, die sowohl seitens der Versetzungskonferenz als auch des Verwaltungsgerichts unterlassene ausdrückliche Feststellung des Tatbestandsmerkmals der besonderen Gründe sei „ein Indiz dafür, dass die Konferenz den Sachverhalt möglicherweise anders beurteilt hat und andere Erwägungen hat einfließen lassen, als bei anderen erkrankten Schülern“, ist spekulativ. Es trifft auch in der Sache nicht zu, dass die Schule es unterlassen hätte, bei der Antragstellerin „Möglichkeiten der Förderung“ anzubieten, die anderen erkrankten Schülern zur Verfügung gestanden hätten. Nach Aktenlage haben Vertreterinnen der Antragstellerin, der Schule und des schulpsychologischen Dienstes in einem Gespräch vom 28. September 2021 ‑ insoweit von der Antragstellerin unwidersprochen ‑ diverse Hilfestellungen für die Antragstellerin vereinbart.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ebenfalls nicht zutreffend ist die Behauptung der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt hinsichtlich der unterschiedlichen Ursachen für die Fehlzeiten in der Vergangenheit nicht vollständig gewürdigt. Die seitens der Mutter der Antragstellerin noch am Nachmittag des 9. August 2022 bei Gericht eingereichten Unterlagen hat dieses bei seiner erst um 20:05 Uhr signierten Entscheidung berücksichtigt, wie sich aus den Vermerken des Einzelrichters vom 9. und 10. August 2022 ergibt. Entgegen der Beschwerde gibt es auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Versetzungskonferenz jedenfalls bei ihrer Entscheidung vom 8. August 2022 über den Widerspruch gegen die Nichtversetzung nicht die wesentlichen ärztlichen Atteste und Unterlagen vorgelegen hätten. Das Protokoll der Versetzungskonferenz verweist ausdrücklich auf die seitens der Eltern angegebenen „unterschiedlichen Gründe“ für die Fehlzeiten, und reduziert die Krankheitsgeschichte der Antragstellerin gerade nicht auf „psychosomatische Gründe“.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">2. Die Beschwerde dringt auch nicht mit ihren Rügen durch, soweit sich diese gegen die Entscheidung der Versetzungskonferenz richten, wonach nicht erwartet werden könne, dass der Antragstellerin auf Grund der Leistungsfähigkeit, der Gesamtentwicklung und der Förderungsmöglichkeiten der Schule in der nachfolgenden Klasse eine erfolgreiche Mitarbeit möglich sein werde. Das Verwaltungsgericht hat insoweit richtig auf die einschlägigen Maßstäbe zum prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum abgehoben und herausgearbeitet, dass Rechtsfehler nicht vorlägen. Es hat dabei insbesondere festgestellt, dass die Versetzungskonferenz sowohl einen zutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt als auch den zutreffenden Prognosemaßstab angelegt habe; es sei nicht zu beanstanden, die jüngste gesundheitliche Entwicklung in den Sommerferien nicht zur Grundlage einer positiven Prognose zu machen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die hiergegen, zuletzt ergänzend und vertiefend auch mit Schriftsatz vom 12. September 2022 vorgebrachten Einwände der Beschwerde berücksichtigen nicht die Grenzen der Nachprüfbarkeit der Prognoseentscheidung und sind deshalb von vornherein nicht geeignet, der Beschwerde zum Erfolg zu verhelfen. Die Antragstellerin rügt zu Unrecht, das Verwaltungsgericht habe „verkannt“, dass ihre Leistungen im ersten Halbjahr der Klasse 8 „für die Frage der Gesamtentwicklung von Bedeutung“ seien. Die hiermit angesprochene Leistungsfähigkeit der Antragstellerin hat bereits die Versetzungskonferenz auf der Grundlage ihrer vor dem zweiten Schulhalbjahr erbrachten Leistungen grundsätzlich positiv bewertet und im Rahmen ihrer Prognoseentscheidung berücksichtigt. Auch die pauschale Rüge, „seitens der Schule nicht unterstützt“ worden zu sein, greift vor dem Hintergrund der zuletzt im Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2022 ‑ betreffend die Ablehnung des Nachteilsausgleichs ‑ dokumentierten Bemühungen der Schule sowie der seitens der Eltern nicht wahrgenommenen weiteren Gesprächstermine mit der Schule nicht durch. Ungeachtet dessen ist insoweit grundsätzlich unerheblich, welche Leistungen eine Schülerin unter anderen Umständen ‑ etwa, wenn sie besser gefördert worden wäre ‑ hätte erbringen können; sie kann keine bessere oder andere Bewertung aufgrund hypothetisch möglicher besserer Leistungen verlangen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 7. April 2016 ‑ 19 B 1369/15 ‑, juris, Rn. 5 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zu einer darüber hinausgehenden „Einbeziehung und Einordnung der erreichten Noten im 1. Halbjahr unter Beobachtung der schriftlichen Noten im 2. Halbjahr“ war die Versetzungskonferenz nach Maßgabe der vom Verwaltungsgericht rechtsfehlerfrei herangezogenen Maßstäbe zum Bewertungsspielraum gerade nicht verpflichtet. Erfolglos bleibt ebenfalls der Verweis auf die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin in der Klasse 7. Sie lässt bereits unberücksichtigt, dass es sich hierbei um eine von ihr (freiwillig) wiederholte Klasse handelt. Die weiterhin erhobene Rüge, es sei sachfremd und überschreite die Grenze des prüfungsrechtlichen Bewerteilungsspielraums, „aus vorangegangenen Fehlzeiten eine Belastungsintoleranz zu konstruieren“, ist ebenfalls zurückzuweisen. Es handelt sich bei der konkreten Prognoseentscheidung der Versetzungskonferenz nicht um eine medizinische Beurteilung, sondern um eine pädagogische Bewertung, ob die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Mitarbeit in der nächsthöheren Klasse gegeben sind. Dass ärztliche Stellungnahmen in eine solche Entscheidung einfließen, liegt in der Natur der Sache, ändert aber nichts daran, dass sich die Erwartung, ob auf Grund der Leistungsfähigkeit, der Gesamtentwicklung und der Förderungsmöglichkeiten der Schule in der nachfolgenden Klasse eine erfolgreiche Mitarbeit möglich ist, nach pädagogischen Kriterien bemisst, deren zukunftsbezogene Beurteilung allein den Mitgliedern der Versetzungskonferenz obliegt. Weder die Versetzungskonferenz noch das Verwaltungsgericht sind insoweit von „falschen Tatsachen“ ausgegangen; auch hat das Verwaltungsgericht nicht „den Lehrern ein Beurteilungsfreiheit fern fachlicher oder sachlicher Grundlagen ermöglicht und für den Beschluss ungeprüft übernommen“. Genauso wenig haben Versetzungskonferenz und Verwaltungsgericht allein den „Blick auf die Vergangenheit“ unter Außerachtlassung „ärztliche(r) Aussagen und Feststellungen“ gerichtet. Ferner trifft der Einwand nicht zu, Versetzungskonferenz und Verwaltungsgericht hätten einen „Erfahrungssatz“ aufgestellt, wonach „bei einer bestimmten Fehlstundenanzahl, die Lücken zu groß sein müssen, als dass diese aufgearbeitet werden können“. Einen solchen allgemeinen Satz haben sie gerade nicht aufgestellt, sondern den Blick auf die Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und mithin der Antragstellerin gerichtet.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Schließlich beruft sich die Beschwerde zu Unrecht auf § 4 Abs. 2 der Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe (APO‑GOSt) in Verbindung mit Nr. 4.2.1 VVAPO-GOSt. Die Situation bezogen auf die „besonderen Gründe“ im Sinn des § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I und die zu treffende Prognoseentscheidung sind mit den Folgefragen eines Auslandsaufenthalts in der gymnasialen Oberstufe nicht vergleichbar. Unabhängig davon schränken Erwägungen zur Bedeutung des individuellen Leistungsstands für den Fortgang der Schullaufbahn in der Oberstufe von vornherein nicht den Bewertungsspielraum der Versetzungskonferenz bei der ihnen zugewiesenen Prognoseentscheidung nach § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I ein.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 EUR festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist nicht begründet.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong> Der von dem Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor. Sein Vorbringen ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zu wecken.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel im Sinne dieser Vorschrift bestehen, wenn gegen die Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung gewichtige Gesichtspunkte sprechen. Dies ist der Fall, wenn der die Zulassung des Rechtsmittels begehrende Beteiligte einen die angegriffene Entscheidung tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage stellt und sich dem Rechtsmittelgericht die Ergebnisrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung– unabhängig von der vom Verwaltungsgericht für sie gegebenen Begründung – nicht aufdrängt.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall hier nicht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat entscheidungstragend angenommen, der Klageantrag sei gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Kläger eine den Vor- und Nachnamen betreffende Gesamtlösung anstrebe, in der nur eine einheitliche Entscheidung über die beantragten Namensänderungen erfolgen solle. Hiervon ausgehend sei die Klage unbegründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Änderung des Familiennamens durch die Streichung seines Geburtsnamens „geb. T.“ habe. Das Namensänderungsgesetz sei in der vorliegenden Fallgestaltung, in der (im Ergebnis) der Geburtsname vollständig entfallen solle, nicht anwendbar. Eine vollständige Streichung des Geburtsnamens umgehe die unabdingbare Vorschrift des § 1355 Abs. 6 BGB. Hiernach sei der Geburtsname derjenige Name, der in die Geburtsurkunde eines Ehegatten zum Zeitpunkt der Erklärung (zum Ehenamen) gegenüber dem Standesamt einzutragen sei. Mit seiner Klage verfolge der Kläger das Ziel, seinen Geburtsnamen ersatzlos zu streichen und diesen zu einem weiteren Vornamen zu degradieren. Damit würden die für den Kläger nach den bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen zwingende Namensführung und die Wertentscheidung des Gesetzgebers, den Kläger noch anhand seines Geburtsnamens identifizieren zu können, umgangen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die hiergegen gerichteten Einwände verhelfen dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das Zulassungsvorbringen macht neben allgemeinen Ausführungen zum Namensrecht geltend, die Änderung des Familiennamens in der Form, dass der Kläger künftig den derzeit als Ehenamen („D. von A.“) bezeichneten Teil seines Familiennamens („D. von A. geb. T.“) unter Aufgabe des derzeit als Geburtsnamen („T.“) bezeichneten Teils seines Familiennamens als alleinigen Familiennamen trage, bedinge nicht zugleich den ersatzlosen Fortfall des im Geburtenregister eingetragenen Geburtsnamens. Habe eine Änderung des Familiennamens nach dem Namensänderungsgesetz Auswirkungen auf den Geburtsnamen, so habe die Verwaltungsbehörde, die die Änderung des Familiennamens vollziehe, entsprechende Mitteilung an die das Geburtenregister führende Behörde zu machen. Zu einer vollständigen Löschung des Geburtsnamens komme es nicht. Der Änderung des Familiennamens stehe auch nicht die unabdingbare Wertung des § 1355 Abs. 6 BGB entgegen. Denn eine Änderung des Familiennamens brächte allein die Änderung der von ihr betroffenen Registereinträge mit sich, nicht jedoch eine ersatzlose Streichung und damit Löschung des Registereintrags.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Dieses Vorbringen verfängt nicht. Es vermag weiterhin einen Anspruch des Klägers auf die von ihm erstinstanzlich ausdrücklich beantragte Änderung seines (vermeintlichen) Familiennamens „D. von A., geb. T.“ in „D. von A.“ nicht zu begründen. Es fehlt an einer entsprechenden Anspruchsgrundlage.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob der Umstand, dass Erwerb und Änderung des Familiennamens in familienrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs umfassend geregelt sind, bereits die Anwendbarkeit des Namensänderungsgesetzes sperrt oder ob die öffentlich-rechtliche Änderung des Familiennamens die Natur einer allgemeinen Ausnahme von jenen Regeln hat und nach Maßgabe von § 3 NamÄndG dann ermöglicht werden soll, wenn der nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts geführte Name für den Namensträger zu individuellen Unzuträglichkeiten führt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. Letzteres bejahend: BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2014 ‑ 6 C 16.14 ‑, juris, Rn. 11, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Denn auch die Anwendbarkeit des Namensänderungsgesetzes verhilft dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg. Insbesondere folgt der geltend gemachte Anspruch des Klägers nicht aus §§ 1, 3 Abs. 1 NamÄndG. Hiernach darf der Familienname auf Antrag nur geändert werden, wenn ein wichtiger Grund die Änderung rechtfertigt. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind nicht erfüllt. Der Kläger begehrt keine Änderung seines Familiennamens „D. von A.“. Nur dieser Name und nicht „D. von A. geb. T.“ ist der Familienname des Klägers. Dies folgt aus der gemäß § 10 NamÄndG ausdrücklich unberührt bleibenden Vorschrift des § 1355 BGB, die im Falle der Eheschließung einer Person die Bestimmung ihres Familiennamens und ihres Geburtsnamens regelt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 1355 Abs. 1 Satz 1 BGB sollen die Ehegatten einen gemeinsamen Familiennamen (Ehenamen) bestimmen. Von dieser Möglichkeit haben der Kläger und seine (inzwischen geschiedene) Ehefrau bei ihrer Eheschließung am 00.00.0000 in B. Gebrauch gemacht und den Familiennamen der Ehefrau „von A.“ zum Ehenamen bestimmt. Der Kläger führte nach der Eheschließung unter Voranstellung seines Geburtsnamens „T.“ (vgl. §§ 1355 Abs. 4 Satz 1, Abs. 6 BGB) den Familiennamen „T.- von A.“, den er auch nach seiner Scheidung am 00.00.0000 zunächst weiterführte. Nach seinem „Widerruf der Hinzufügung eines Begleitnamens“ wurde am 00.00.0000 im Eheregister des Standesamts B. der Familienname des Klägers nach Auflösung der Ehe in „von A.“ abgeändert. Am 00.00.0000 wurde durch „Berichtigung von Personenstandsdaten im urkundlichen Teil“ der <span style="text-decoration:underline">Familienname des Klägers</span> (Hervorhebung durch den Senat) im Eheregister in „D. von A.“ abgeändert. Eine Änderung dieses Namens begehrt der Kläger (gerade) nicht. Dies stellt auch der Zulassungsantrag mit seinem Vorbringen klar, der Kläger habe weder eine Änderung seines Familiennamens nach dem Namensänderungsgesetz beantragt noch entspreche dies seinem Begehren.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Soweit der Kläger geltend macht, im personenstandsrechtlichen Sinne sei der Familienname „der Oberbegriff für Geburts-, Ehe- und Begleitnamen“, sagt dies nichts dazu aus, ob der Geburtsname im Einzelfall dem Familiennamen entspricht oder Teil dessen ist. Insbesondere ist aus den dargelegten Gründen nicht darauf zu schließen, dass der Geburtsname „T.“ im Fall des Klägers Teil seines Familiennamens ist, erst recht nicht mit der eine Abweichung vom Familiennamen andeutenden Einleitung „geb.“.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Kläger kann auch die begehrte und von ihm selbst so bezeichnete „Aufgabe“ des Geburtsnamens „T.“ nicht mit Erfolg auf §§ 1, 3 Abs. 1 NamÄndG stützen. Selbst wenn eine „Änderung“ des Geburtsnamens nach dem – grundsätzlich auf die Änderung des Familiennamens bzw. Vornamens abzielenden – Namensänderungsgesetz nicht schlechthin ausgeschlossen sein sollte,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">vgl. BayVGH, Beschluss vom 8. Januar 2019‑ 5 ZB 18.1912 ‑, juris, Rn. 15, unter Hinweis auf Nr. 57 NamÄndVwV,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">wird die (ersatzlose) Aufgabe des Geburtsnamens schon begrifflich nicht von einer bloßen Änderung des Namens erfasst. Mangels Anspruchsgrundlage kommt es auch nicht darauf an, welche Folgen eine „Aufgabe“ des Geburtsnamens „T.“ für die Eintragung in das beim Standesamt geführte Geburtenregister hätte.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Soweit der Zulassungsantrag geltend macht, der Kläger begehre nicht die ersatzlose Streichung des Registereintrags im Geburtenregister, sondern vielmehr, dass sein Ehename („D. von A.“), den er gemäß § 1355 Abs. 5 Satz 1 BGB nach seiner Scheidung behalten hat, zum Geburtsnamen „transferiert“ werde, ist dieses auf Änderung des Geburtsnamens des Klägers gerichtete Begehren vom erstinstanzlich ausdrücklich nur auf die Änderung seines (vermeintlichen) Familiennamens sowie seines Vornamens gerichteten Klageantrag nicht umfasst und damit nicht Gegenstand des Zulassungsverfahrens. Der Einwand des Zulassungsantrags, die Beklagte habe in ihrem Bescheid vom 00.00.0000 das Begehren des Klägers zutreffend so ausgelegt, dass der Ehename in den Geburtsnamen transferiert werden solle, verhilft dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg, weil der Kläger dieses Begehren in seinem nur auf die Änderung seines (vermeintlichen) Familiennamens gerichteten Klageantrag nicht zum Ausdruck gebracht hat.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Ohne Entscheidungserheblichkeit merkt der Senat an, dass der Kläger mit der Überführung seines Ehenamens in den Geburtsnamen letztlich begehrt, dass der Name „D. von A.“ als Ehename wegfällt und ausschließlich als Geburtsname des Klägers erscheint. Dem Zulassungsantrag ist indes nicht zu entnehmen, auf welche Anspruchsgrundlage der Kläger den begehrten <span style="text-decoration:underline">Wegfall</span> des Ehenamens, der zu einer Umgehung der Regelung in § 1355 Abs. 5 Satz 1 BGB führte, gestützt werden soll. Insbesondere sieht § 3 Abs. 1 NamÄndG nur eine „Änderung“, nicht hingegen den Wegfall des Familiennamens vor. Abgesehen davon ist der „Wegfall“ des Ehenamens „D. von A.“ nicht mit dem Begehren des Klägers in Einklang zu bringen, diesen Namen als „alleinigen Familiennamen“ führen zu wollen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong><em>2.</em></strong> Auch der behauptete Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt nicht vor. Der Zulassungsantrag macht geltend, es liege ein Verfahrensmangel vor, weil das Verwaltungsgericht bei der Auslegung des Klagebegehrens gemäß § 88 VwGO nicht berücksichtigt habe, dass der Kläger nicht die ersatzlose Streichung des Registereintrags im Geburtenregister, sondern die Transferierung seines Ehenamens zum Geburtsnamen begehre. Ungeachtet der Frage, ob dieser Einwand einen (reinen) Verfahrensmangel überhaupt begründen kann oder nicht vielmehr die Richtigkeit des angefochtenen Urteils in Frage stellt, greift er schon mit Blick auf die obigen Ausführungen nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks"><strong>3.</strong> Ferner ist der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, nicht gegeben bzw. ist schon nicht hinreichend dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Grundsätzliche Bedeutung im Sinne der genannten Vorschrift hat eine Rechtssache, wenn entweder eine grundsätzliche, bisher obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage aufgeworfen wird, die sich in dem erstrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheit und/oder der Fortentwicklung des Rechts der Klärung bedarf, oder wenn die Rechtssache die Klärung von Fragen erfordert, die in tatsächlicher Hinsicht eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung haben.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">„ob unter einer Namensänderung des Familiennamens im Sinne des Gesetzes für die Änderung von Familiennamen und Vornamen (NamÄndG) auch die Veränderung des Familiennamens zu verstehen ist, wenn die Namensführung in der Form geändert wird, dass ein Namensbestandteil (Geburtsnamen) abgeändert wird, indem er durch den als anderen Namensbestandteil geführten Namen (Ehenamen) ersetzt wird,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">ob die gesetzlichen Wertungen des bürgerlich-rechtlichen Namensrecht die Anwendbarkeit des öffentlich-rechtlichen Namensrechts nach dem NamÄndG sperren, wenn der beantragten Namensänderung ein wichtiger Grund nach den Voraussetzungen des NamÄndG zugrunde liegt und diese weder eine namensgestaltende Erklärung revidiert, noch durch eine ebensolche erreicht werden kann.“</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Der Zulassungsantrag hält die erste Frage für allgemein klärungsbedürftig, weil sie in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt sei und sich die Frage auch nicht anhand des Wortlauts der gesetzlichen Bestimmungen im Namensänderungsgesetz beantworten ließen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Diesem Vorbringen ist indes nicht zu folgen. Der Regelung des § 1355 BGB, auf die § 10 NamÄndG Bezug nimmt, lässt sich die Bestimmung des Familiennamens einer Person nach ihrer Eheschließung eindeutig entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die zweite Frage ist aus Sicht des Zulassungsantrags allgemein klärungsbedürftig, weil in der Rechtsprechung bislang nur geklärt sei, dass bürgerlich-rechtliche Namensgestaltungen, die durch eine namensgestaltende Erklärung bestimmt worden seien, nicht durch eine öffentlich-rechtliche Namensänderung revidiert werden sollten. So liege der Fall hier aber nicht.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dieses Vorbringen verhilft dem Zulassungsantrag schon deshalb nicht zum Erfolg, weil die aufgeworfene Frage nicht entscheidungserheblich ist. Der Kläger hat auch im Falle der Anwendbarkeit des Namensänderungsgesetzes mangels Anspruchsgrundlage keinen Anspruch auf die Abänderung des vermeintlichen Familiennamens „D. von A., geb. T.“ in „D. von A.“ unter Aufgabe seines Geburtsnamens „T.“.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks"><strong>4.</strong> Der von dem Kläger ferner geltend gemachte Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache, § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, ist schon nicht hinreichend dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache weist besondere Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf, wenn die Klärung einer (auch) für die Berufungsentscheidung erheblichen Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art in qualitativer Hinsicht überdurchschnittliche Anforderungen stellt, also eine im konkreten Fall entscheidungserhebliche Normauslegung oder -anwendung bzw. Tatsachenfeststellung einen außergewöhnlichen Aufwand erfordert. Die Darlegung dieses Zulassungsgrundes verlangt vom Zulassungsantragsteller, dass er in konkreter Auseinandersetzung mit den einzelnen Feststellungen des angefochtenen Urteils dartut, aus welchen Erwägungen heraus die Klärung einer sich aufgrund des erstinstanzlichen Urteils entscheidungserheblich stellenden Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art mit das übliche Maß deutlich überschreitenden Problemen verbunden ist,</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">vgl. HessVGH, Beschluss vom 10. Juni 2013– 7 A 418/12.Z –, juris, Rn. 32.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Derartige Schwierigkeiten lassen sich dem Zulassungsantrag nicht entnehmen. Er behauptet, die Streitfragen ergäben sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz und seien auch nicht ohne Weiteres mit den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens zu beantworten. Namentlich seien nachrangige Verordnungen zum Registerrecht und Personenstandsrecht sowie Verwaltungsvorschriften zu prüfen. Sollte das Namensänderungsgesetz anwendbar sein, sei in der Folge auch das umfangreiche psychologische Gutachten von Bedeutung, so dass sich auch in tatsächlicher Hinsicht überdurchschnittliche Schwierigkeiten der Rechtssache ergäben.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen. Aus den o. a. Ausführungen folgt bereits, dass § 1355 BGB die Bestimmung des Familiennamens einer Person nach ihrer Eheschließung und auch im Falle der Ehescheidung regelt und sich der Kläger für die von ihm begehrte Änderung seines (vermeintlichen) Familiennamens „D. von A. geb. T.“ in „D. von A.“ nicht mit Erfolg auf §§ 1, 3 NamÄndG berufen kann. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten ergeben sich daraus nicht.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.</p>
|
346,651 | ovgnrw-2022-09-15-2-b-92922 | {
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} | 2 B 929/22 | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-09-22T10:01:29 | 2022-10-17T11:10:24 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0915.2B929.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Unter Abänderung des erstinstanzlichen Streitwertbeschlusses wird der Streitwert für beide Instanzen auf 44.375,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist jedenfalls unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat mit dem angegriffenen Beschluss die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 938/22 in der Fassung des Schriftsatzes des Antragstellers vom 8. Juni 2022 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. Mai 2022 über die Ausübung des Vorkaufsrechts im Wesentlichen mit der Begründung wiederhergestellt, die Anfechtungsklage sei zulässig und begründet. Der Antrag finde nicht etwa einen bereits bestandskräftigen Bescheid über die Ausübung des Vorkaufsrechts vor. Soweit der Antragsteller die ursprüngliche Verpflichtungsklage (auf Erteilung eines Negativzeugnisses im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 3 BauGB) um die Anfechtung des Bescheids über die Ausübung des Vorkaufsrechts erweitert habe, stelle dies eine zulässige Klageänderung im Sinne des § 91 Abs. 1 VwGO dar. Die Klagebegehren stünden in Zusammenhang. Die Erteilung eines Negativzeugnisses sei akzessorisch bezogen auf das Bestehen eines Vorkaufsrechts. Die Änderung sei auch sachdienlich. Der Streitstoff bleibe im Wesentlichen derselbe. Der Sachdienlichkeit stehe nicht entgegen, dass die als Untätigkeitsklage erhobene Verpflichtungsklage bereits unzulässig gewesen wäre. Vielmehr spreche Vieles dafür, dass die Untätigkeitsklage jedenfalls vor Erlass des Bescheides über die Ausübung des Vorkaufsrechts zulässig geworden sei. Ob ein Vorkaufsrecht bestehe, könne in der Regel – so auch hier – in kurzer Zeit geklärt werden; hierfür seien maximal zwei bis drei Wochen zu veranschlagen. Ohne sachliche Notwendigkeit könne die Gemeinde sich nicht auf die Drei-Monats-Frist in § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB berufen, da diese Frist nur für die Ausübung des Vorkaufsrechts selbst gelte. Das könne hier aber auch dahinstehen, denn eine Bestandskraft des Bescheides über die Ausübung des Vorkaufsrechts sei nicht eingetreten. So spreche Vieles dafür, dass im Anwendungsbereich des § 58 Abs. 1 VwGO selbst zum Zeitpunkt der Eilbeschlussfassung noch eine Anfechtungsklage gegen den Bescheid erhoben werden könnte. In der Sache überwiege das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage 8 K 938/22, soweit sie sich gegen die Ausübung des Vorkaufsrechts mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. Mai 2022 richte, weil diese sich aus den im vorliegenden Verfahren allein zu beurteilenden baurechtlichen Gründen im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als offensichtlich rechtswidrig erweisen werde. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Vorkaufsrechts lägen bei summarischer Prüfung nicht vor. Für Kaufverträge, die vor der Fassung eines Bebauungsplanänderungsbeschlusses und dem anschließenden Beginn der öffentlichen Auslegung des Planentwurfs geschlossen würden, stehe der Gemeinde kein Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Satz 2 BauGB zu. Das sei hier aber der Fall gewesen. Im Zeitpunkt des Abschlusses des notariellen Kaufvertrages am 14. Dezember 2021 hätten die davon erfassten Grundstücke zwar im Geltungsbereich des Bebauungsplans der Antragsgegnerin Nr. 10 Abschnitt C, "E.---straße " gelegen. Dieser hätte indes für die Grundstücke keine Festsetzung der Nutzungsart für öffentliche Zwecke, sondern die Festsetzung "Allgemeines Wohngebiet" enthalten. Der entsprechende Beschluss zur Änderung des Bebauungsplans mit dem Ziel der Änderung des Nutzungszwecks sei vom Rat der Antragsgegnerin erst am 6. April 2022 und damit nach Abschluss des notariellen Kaufvertrages gefasst worden. Auch geltend gemachte besondere Umstände des Einzelfalls geböten keine davon abweichende zeitliche Abfolge. Zwar habe der Notar der Antragsgegnerin den Kaufvertragsabschluss vom 14. Dezember 2021 erst Anfang März 2022 und damit nach ca. 2,5 Monaten mitgeteilt. Daraus habe die Antragsgegnerin aber kein Recht ableiten können, bis zur Ausübung eines Vorkaufsrechts ebenso lange abzuwarten, um hierfür zunächst die dafür erforderlichen bauplanungs- bzw. satzungsrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen. Die Verlängerung der Ausübungsfrist in § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB durch das Gesetz zur Mobilisierung von Bauland vom 14. Juni 2021 (vgl. BGBl. Teil I Nr. 33, S. 1802) von zwei auf drei Monate ergebe nichts anderes. Es handele sich um eine reine verfahrensrechtliche Vorschrift. Der Gesetzgeber habe jedoch nicht § 24 Abs. 1 BauGB – auf diese Vorschrift werde das Vorkaufsrecht gestützt – dahingehend geändert, dass Vorkaufsrechte an Grundstücken durch einen nachträglichen Planänderungs- oder Aufstellungsbeschluss begründet werden könnten. Auch die von der Antragsgegnerin angeführte besondere Situation in Form der durch den Angriff Russlands auf die Ukraine eingeleiteten historischen Zeitenwende und ein damit im Zusammenhang stehendes dringendes Erfordernis der Unterbringung von Kriegsflüchtlingen in Deutschland und im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin erfordere nicht ausnahmsweise die Möglichkeit eines nach Abschluss eines Grundstückskaufvertrages zu schaffenden gemeindlichen Vorkaufsrechts.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Diesen im Einzelnen weitergehend nachvollziehbar und überzeugend begründeten Ausführungen setzt die Beschwerde nichts Durchgreifendes entgegen, was im Ergebnis eine andere Bewertung der Interessenlage im Eilverfahren und die Ablehnung des Eilrechtschutzersuchens begründet.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Ohne Erfolg wendet sich die Beschwerde gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Einbeziehung des Anfechtungsbegehrens gegen den Bescheid über die Ausübung des Vorkaufsrechts in die Klage 8 K 938/22 sei als sachdienliche Klageänderung nach § 91 VwGO zulässig. Die Entscheidung über die Sachdienlichkeit liegt im Ermessen der darüber entscheidenden Instanz.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 13. Dezember 2010 – 4 B 35.10 -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Dafür, dass das Verwaltungsgericht den Rechtsbegriff der Sachdienlichkeit bei seiner Einschätzung verkannt hätte, zeigt die Beschwerde nichts Greifbares auf.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Vorhalt der Beschwerde, es handele sich um einen gänzlich neuen Prozessstoff, ist unbegründet. Zur Erläuterung führt sie an, bei dem Antrag auf Erteilung des sogenannten Negativzeugnisses gehe es um die abstrakte Frage, ob der Antragsgegnerin ein Vorkaufsrecht aus irgendeinem denkbaren Rechtsgrund zustehen könne oder ob sie gewillt sei, ihr Vorkaufsrecht überhaupt auszuüben, während es bei dem streitgegenständlichen Bescheid vom 30. Mai 2022 um die konkrete Ausübung des Vorkaufsrechts gehe. Bei der abstrakten Frage des grundsätzlichen Vorliegens eines Vorkaufsrechts befasse sich ein zur Entscheidung berufenes Gericht lediglich dem Grundsatz nach und in abstrakter Weise mit einer Vielzahl in Betracht kommender Rechtsgrundlagen, so etwa aus dem Baugesetzbuch, dem Denkmalschutzgesetz NRW oder dem StrWG NRW, ohne konkret die weiteren Voraussetzungen und Erwägungen des Einzelfalls prüfen zu können.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Diese Erwägungen sind nicht zielführend, denn weder eine Klagehäufung nach § 44 VwGO noch die Sachdienlichkeit einer darauf abzielenden nachträglichen, nicht bereits nach § 173 VwGO i. V. m. § 264 Nr. 2 ZPO zulässigen Klageerweiterung hängen davon ab, dass für die geltend gemachten Ansprüche abstrakt ein identisches Prüfprogramm in Rede steht.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Wesentlich für den Begriff der Sachdienlichkeit ist vielmehr der Gesichtspunkt der Prozessökonomie, der eine konkrete einzelfallbezogene Betrachtung aus der objektiven gerichtlichen Perspektive erfordert. Danach ist eine Klageänderung regelmäßig schon dann sachdienlich, wenn sie die Möglichkeit bietet, einen zwischen den Beteiligten bestehenden sachlichen Streitstoff endgültig zu bereinigen, und wenn die Rechte der anderen Beteiligten nicht wesentlich verkürzt werden. Ziel ist eine rechtseffektive und effiziente Lösung von Konflikten, die vor allem unter Wahrung der in § 91 Abs. 1 VwGO geschützten Belange der Einwilligungsberechtigten erarbeitet wird.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2016 - 4 CN 4.16 -, juris Rn. 10, und Beschluss vom 13. Dezember 2010 - 4 B 35.10 -, juris Rn. 5, m. w. N.; OVG NRW, Urteil vom 7. Juni 2019 – 2 A 670/17 –, juris Rn. 34; Beschluss vom 30. Mai 2022 – 7 A 1049/21 –, juris Rn. 6 (zur gerichtlichen Perspektive); Peters/Kujath, in: Sodan/Ziekow, VwGO – Kommentar, 5. Auflage 2018, § 91 Rn. 53.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Von diesen Grundsätzen ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Dabei hat es den sachlichen Zusammenhang des neu angebrachten Anfechtungsbegehrens mit dem – bisher aufrechterhaltenen – ursprünglichen Verpflichtungsbegehren im Sinne des § 44 VwGO überzeugend aus dem Umstand abgeleitet, dass die geltend gemachte Erteilung eines Negativzeugnisses akzessorisch bezogen auf das Bestehen eines Vorkaufsrechts sei. Der Antragsteller verlangt in erster Linie die Ausstellung einer Bescheinigung über das Nichtbestehen eines Vorkaufsrechts, dessen Bestand die Antragsgegnerin mit dem von dem Antragsteller in das Klageverfahren eingeführten Bescheid behauptet. Dies erhellt zugleich, dass es sich nicht etwa um einen gänzlich anderen Prozessstoff handelt, sondern die Erweiterung an den ursprünglichen anknüpft. Die Klageerweiterung zielte zugleich auf die Vermeidung eines weiteren Prozesses in Form einer getrennt erhobenen Anfechtungsklage.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde zeigt auch nicht auf, weshalb das Verwaltungsgericht bei dieser Sachlage die Sachdienlichkeit schon deshalb hätte verneinen müssen, weil der Rechtsstreit ohne Berücksichtigung der Klageänderung bereits entscheidungsreif gewesen wäre. Die Frage der Entscheidungsreife des Rechtsstreites vor der Klageänderung ist gerade auch im Falle einer nachträglichen Klagehäufung allenfalls ein Umstand in der Bewertung. Das hebt auch das von der Beschwerde herangezogene Urteil des Bundesgerichtshofes vom 4. Oktober 1976 – VIII ZR 139/75 – (juris Rn. 27 ff.) hervor, das sich im Übrigen mit der Frage der Sachdienlichkeit einer erstmals im Berufungsverfahrens erklärten Aufrechnung befasst, sich also auf gänzlich andere Umstände des Einzelfalls bezieht. Insbesondere wird der Antragsgegnerin hier keine Instanz genommen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Auch ist nichts dagegen zu erinnern, dass das Verwaltungsgericht weiter eingestellt hat, dass das Verpflichtungsbegehren jedenfalls nicht offensichtlich bereits als unzulässig abzuweisen gewesen wäre, sondern Vieles dafür spricht, dass die (Untätigkeits-)Klage vor Erlass des Bescheids über die Ausübung des Vorkaufsrechts zulässig geworden sei.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Es überzeugt, wenn das Verwaltungsgericht zugrunde legt, dass mit der "Unverzüglichkeitsfrist" in § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB eine Art fachliche Sonderregelung zur Dauer der angemessenen Frist vorhanden ist, die als besondere Umstände im Sinne des § 75 Satz 2 2. HS VwGO anzusehen sein dürfte. Danach ist die Negativbescheinigung unverzüglich zu erteilen, wenn ein Vorkaufsrecht nicht besteht. Sie beginnt mit der Kenntnis von dem Fehlen des Vorkaufsrechts zu laufen. Demgegenüber bezieht sich die Dreimonatsfrist in § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB nur auf die Ausübung eines Vorkaufsrechts. Der Einwand der Beschwerde, die Antragsgegnerin habe im Zeitpunkt der Klageerhebung noch gar nicht abschließend für sich entschieden gehabt, ob sie ein Vorkaufsrecht ausübe, bleibt unverständlich. Letztlich war der Antragsgegnerin nach Aktenlage bereits im März 2022 bekannt, dass ein Vorkaufsrecht für die in Rede stehenden Flurstücke nicht bestand und die sachlichen Voraussetzungen hierfür erst (noch) begründet werden sollten. Ein hinlänglicher Grund für die Verweigerung, den Antrag auf Ausstellung eines Negativzeugnisses zu bescheiden, ist indes in dem Ansinnen, ein Vorkaufsrecht erst entstehen zu lassen, nicht zu erkennen, da die Rechtslage in Fällen vorliegender Art eine solche Möglichkeit nicht vorhält, wie das Verwaltungsgericht im Einzelnen zu Recht ausgeführt hat.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Auch lässt sich der Einschätzung des Verwaltungsgerichts zur Sachdienlichkeit der Klageerweiterung nicht entgegenhalten, dass ein Negativzeugnis schon vor der Prozesserklärung zur Klageänderung mit der Ausübung des Vorkaufsrechts nicht mehr verlangt werden konnte. Denn auch dies ist keinesfalls offensichtlich; zudem ist die Frage der Entscheidungsreife des ursprünglichen Klageantrages – wie gesagt - nur einer der für die Beurteilung der Sachdienlichkeit einzustellenden prozessökonomischen Aspekte.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte dafür, dass der Bescheid über die Ausübung des Vorkaufsrechtes entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts rechtmäßig sein könnte, bietet die Beschwerde ebenfalls nicht.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen der Beschwerde zu der in dem angefochtenen Bescheid über die Ausübung des Vorkaufsrechts gegebenen Begründung der sofortigen Vollziehbarkeit sind bereits unerheblich, weil das Verwaltungsgericht diese nicht beanstandet hat. Auch die Kritik, die Ausführungen des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der formellen Prüfung gingen weit über die Anforderungen hinaus, die die Rechtsprechung an eine summarische Prüfung stelle, ist unbeachtlich. Denn das Verwaltungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts nicht an formellen Mängeln leidet, die voraussichtlich zu seiner Aufhebung im Klageverfahren führen würden.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der Einwand, das Verwaltungsgericht habe sich fast ausschließlich mit der grundsätzlichen Frage des Vorkaufsrechts beschäftigt, greift – unabhängig davon, was damit konkret gemeint sein soll - zu kurz. Insbesondere ist nichts dagegen zu erinnern, dass das Verwaltungsgericht die nach § 80 Abs. 5 VwGO geforderte Interessenabwägung maßgeblich auf den Befund gestützt hat, dass der Bescheid über die Ausübung des Vorkaufsrechtes offensichtlich materiell rechtswidrig ist und die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Rechtlich tragfähige Gründe dafür, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts materiell rechtens und die Anfechtungsklage keinen Erfolg haben könnte, lassen sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Der in diesem Zusammenhang erhobene Vorwurf der Beschwerde, die äußerst zögerliche Übermittlung des vollständigen Kaufvertrags erfahre keinerlei rechtliche Betrachtung, geht an den Entscheidungsgründen des angegriffenen Beschlusses vorbei. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr auf Seite 25 f. der Gründe im Einzelnen nachvollziehbar erläutert, dass und aus welchen Gründen der Antragsgegnerin ohne weitere Angaben aus dem Kaufvertrag die Prüfung möglich war, ob bezogen auf die streitigen Flurstücke ein Vorkaufsrecht nach § 24 BauGB oder § 25 BauGB bestand, und ist darauf auf Seite 31 f. noch einmal zurückgekommen. Dem setzt die Beschwerde auch inhaltlich nichts an Substanz entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat auch – anders als die Beschwerde meint – nicht in Abrede gestellt, dass die Verlängerung der Frist in § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB zur Ausübung des Vorkaufsrechtes von zwei auf drei Monate "ein klares Zeichen dafür" ist, dass der Gemeinde ein längerer Zeitraum für die Prüfung und Bewertung der Frage zugestanden werden sollte, ob ein Vorkaufsrecht ausgeübt werde. Es hat allein herausgestellt, dass die Vorschrift nur die Ebene der Ausübung eines Vorkaufsrechts betrifft, also nichts zu den Entstehungsvoraussetzungen besagt und ein Vorkaufsrechtstatbestand nach § 24 Abs. 1 BauGB oder § 25 Abs. 1 BauGB i. V. m. einer gemeindlichen Vorkaufssatzung, der erst nach Abschluss eines Kaufvertrages über ein Grundstück geschaffen wird, für dieses kein Vorkaufsrecht begründet. Soweit die Beschwerde meint, die genannten Vorschriften seien insoweit nicht stringent und widerspruchsfrei formuliert, vermag der Senat dem nicht zu folgen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Rechtslage ist für Fälle wie hier - auch aus Sicht des Senats - eindeutig und die vom Verwaltungsgericht gefundene Auslegung der einschlägigen Vorschriften verfassungsrechtlich vorgezeichnet. Für Kaufverträge, die vor Beginn der öffentlichen Auslegung eines in Aufstellung befindlichen Bebauungsplans geschlossen worden sind, steht der Gemeinde kein Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Satz 2 BauGB – auf den sich die Antragsgegnerin in erster Linie beruft - zu. Die Vorschrift verlangt als Entstehungsgrund eines Vorkaufsrechts "beim Kauf", auf dessen Zustandekommen sich die Ausübung des Vorkaufsrechts gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 BauGB, § 464 Abs. 2 BGB richten soll, einen gefassten Aufstellungsbeschluss und den Beginn der öffentlichen Auslegung, so wie § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB als Entstehungsgrund für ein besonderes Vorkaufsrecht voraussetzt, dass die Gemeinde durch Satzung die Flächen bezeichnet, auf die sie sich den Zugriff sichern will. Ohne dass die vorgeschriebenen Voraussetzungen bereits im Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrages vorliegen, fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage, derer die Gemeinde bedarf, um in das Privatrechtsverhältnis eingreifen zu dürfen, das durch den Kaufvertrag zwischen dem Grundstückseigentümer und einem Dritten geschaffen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Dieser in der Rechtsprechung und Literatur übereinstimmend vertretenen Auffassung,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 1994 – 4 B 70/94 -, BauR 1994, 495 = juris Rn. 3, zu § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 6. Juli 2022 – 5 S 2129/20 -, juris Rn. 24 ff., zu § 24 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 7 BauGB; OVG NRW, Urteil vom 9. Dezember 1993 – 10 A 3593/91 -, BRS 55 Nr. 103 = juris (nur LS) zur Unwirksamkeit einer Vorkaufssatzung hinsichtlich eines rückwirkend bestimmten Zeitpunkts des Inkrafttretens; Bracher, in: Bracher/Reidt/Schiller, Bauplanungsrecht, 9. Aufl. 2022, Die gesetzlichen Vorkaufsrechte der Gemeinde, Rn. 23.4.; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 143. EL August 2021, § 24 Rn. 14 und 57; Kronisch, in: Brügelmann, BauGB, 121. EL Januar 2022, Vor. §§ 24-28 Rn. 28, 46 f.,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">setzt die Beschwerde nichts an Substanz entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">§ 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB rechtfertigt – wie gesagt - keine gegenteiligen Schlüsse. Ist ein Vorkaufsrecht mit Bezug auf den Kauf noch nicht begründet worden, so vermag auch § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB nicht darüber hinwegzuhelfen, dass eine etwaige Erklärung, die sich auf erst zu einem späteren Zeitpunkt geschaffene Voraussetzungen für die Ausübung eines Vorkaufsrechts beim Verkauf von Grundstücken stützt, mangels gesetzlicher Grundlage für einen Rückbezug auf den Zeitpunkt des zuvor abgeschlossenen Kaufvertrages ins Leere geht.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 1994 – 4 B 70/94 -, BauR 1994, 495 = juris Rn. 3, zu § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Annahme der Beschwerde eröffnen die "momentane Situation" und das besonders dringliche Interesse der Antragsgegnerin, Wohnraum für Flüchtlinge aus der Ukraine zu beschaffen, keinen Ansatz für eine "anders gelagerte Betrachtungsweise". Hierzu hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt:</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">"Auch angesichts besonderer politischer Herausforderungen ist allein der Gesetzgeber selbst in historisch einmaligen Situationen von Verfassungs wegen berufen, die erforderlichen rechtlichen Grundlagen für eine erleichterte Ausübung des Vorkaufsrechts im Hinblick auf einen akut gestiegenen Wohnraumbedarf zu regeln. Hingegen kann die Antragsgegnerin als Teil der vollziehenden Gewalt besonderen Entwicklungen nur dort Rechnung tragen, wo ihr ein eigenes Satzungsrecht eingeräumt ist oder Ermessensspielräume bestehen. Von dem ihr zustehenden Satzungsrecht hat sie indes erst durch den Planänderungsbeschluss vom 6. April 2022 und die Satzung über die Ausübung des Vorkaufsrechts für zukünftige Grundstückskaufverträge in deren Geltungsbereich Gebrauch gemacht."</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Dem ist nichts hinzuzufügen. Weshalb bei dieser Sach- und Rechtslage ein besonderes Vollzugsinteresse zu Lasten des Antragstellers bestehen sollte, zeigt die Beschwerde nicht auf. Für den Antragsteller streitet vielmehr bereits die gesetzliche Wertung aus § 80 Abs. 1 VwGO, wonach regelmäßig auch Klagen gegen die Ausübung eines Vorkaufsrechts aufschiebende Wirkung entfalten. Zudem ist zur Sicherung des mit dem angegriffenen Bescheid behaupteten Anspruchs auf Übereignung der in Rede stehenden Flurstücke auf der Grundlage des § 28 Abs. 2 Satz 3 BauGB bereits eine Vormerkung zu Gunsten der Antragsgegnerin eingetragen. Im Übrigen dient die vorgezogene Ausübungsbefugnis nach § 24 Abs. 1 Satz 2 BauGB in den Fällen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB allein dem Interesse, die Umsetzung der öffentlichen Zwecke nach dem hier noch ausstehenden Erlass des Bebauungsplans bzw. Erreichen seiner Planungsreife zu sichern. Das Interesse, die Grundstücke möglichst zeitnah auf der Grundlage der Festsetzungen des bestehenden, in Änderung befindlichen Bebauungsplans zu Wohnzwecken für ukrainische Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, ist demgegenüber im vorliegenden Zusammenhang irrelevant, weil die streitige Ausübung eines Vorkaufsrechts auf dieses Interesse nicht zielt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Der Senat orientiert sich dabei an dem Streitwertkatalog der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 2019 (BauR 2019, 610 f.) Nach Nr. 12 a) dieses Streitwertkatalogs beträgt der Streitwert im Hauptsacheverfahren für den hier gegebenen Fall, dass der Käufer ein von der Gemeinde ausgeübtes Vorkaufsrecht anficht, 25 % des Kaufpreises, hier also 88.750,00 Euro (25 % von 355.000 Euro). Nach Nr. 14 a) des Streitwertkatalogs ist im hier gegebenen Fall der vorläufigen Regelung nach § 80 VwGO als Streitwert regelmäßig die Hälfte des Streitwerts im Hauptsacheverfahren anzunehmen. Das zugrunde gelegt wird der Streitwert hier für beide Instanzen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens auf 44.375 Euro festgesetzt. Die Befugnis zur Abänderung des Streitwertes für das erstinstanzliche verfahren folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p>
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"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 9 A 2999/20.A | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-09-22T10:01:29 | 2022-10-17T11:10:24 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0915.9A2999.20A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Klägerin wird für das zweitinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L. aus L1. beigeordnet.</p>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">I. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Der Zulassungsantrag bot zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags noch hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Klägerin erfüllt außerdem die für die Bewilligung notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen. Die Beiordnung von Rechtsanwalt L. beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">1. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes erforderlich, dass die entsprechende Frage aufgeworfen und substantiiert ausgeführt wird, warum sie für entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. Juli 2018 ‑ 9 A 2789/17.A -, juris Rn. 4 f. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Daran fehlt es hier. Ein Klärungsbedarf in Bezug auf die in der Zulassungsbegründung aufgeworfenen Fragen ist nicht (mehr) gegeben bzw. nicht dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a. Die im Zusammenhang mit dem Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG formulierte Frage,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">ob die Unverzüglichkeitsregelung mit Unions- und Verfassungsrecht vereinbar ist,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">bedarf nicht mehr der Klärung im Berufungsverfahren. Sie ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwischenzeitlich geklärt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Nach dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Dezember 2021 ‑ 1 B 35.21 ‑, juris, war der Gesetzgeber weder verfassungs- noch unionsrechtlich gehindert, die Gewährung internationalen Familienschutzes in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG in Bezug auf Ehegatten und Lebenspartner eines Schutzberechtigten ‑ Entsprechendes gilt für § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG in Bezug auf die Eltern eines minderjährigen ledigen Schutzberechtigten ‑ für den Fall, dass jene nach der Anerkennung des Schutzberechtigten eingereist sind, von der unverzüglichen Stellung des Asylantrags abhängig zu machen (Rn. 14 ff.). Dass § 26 Abs. 2 AsylG ein entsprechendes Erfordernis einer unverzüglichen Antragstellung nicht vorsieht, ist wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern sachlich gerechtfertigt und liegt in der Logik des Gesetzgebers, auch Kindern, die erst nach der Zuerkennung des internationalen Schutzes an den Stammberechtigten geboren sind, internationalen Schutz zu gewähren (Rn. 17).</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Einen darüber hinausgehenden oder erneuten Klärungsbedarf zeigt die Zulassungsbegründung nicht auf.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">b. Einen grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Zulassungsbegründung auch nicht hinsichtlich der Frage auf,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">ob es für die Frage der Gewährung von Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3 und Abs. 5 AsylG auf die erste oder eben letzte Einreise vor Asylantragstellung ankommt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Frage, welche Einreise ‑ bei mehreren Einreisen in das Bundesgebiet ‑ die maßgebliche im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG ist, kann, soweit sie einer generellen Antwort zugänglich ist, auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden. Ausgehend davon, dass durch § 26 AsylG der (engsten) Familie des Schutzberechtigten die Herstellung der Familieneinheit auf der Grundlage eines einheitlichen Schutzstatus ermöglicht werden soll, und dass § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG dazu zu dienen bestimmt ist, den Zusammenhang zu dem Asylverfahren des Stammberechtigten klar- und sicherzustellen,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 17. November 2020 ‑ 1 C 8.19 ‑, BVerwGE 170, 326 = juris Rn. 23 ff., und Beschluss vom 21. Dezember 2021 ‑ 1 B 35.21 ‑, NVwZ 2022, 651 = juris Rn. 15,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">ist regelmäßig maßgeblich die erste Einreise nach der Anerkennung des (stammberechtigten) Familienangehörigen als Asylberechtigter bzw. international Schutzberechtigter. Denn nur so wird der Zusammenhang zu dem Asylverfahren des Stammberechtigten sichergestellt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. Epple, in GK-AsylG, § 26 AsylG (Stand: Dezember 2019) Rn. 49; Schröder, in: Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 26 Rn. 16; Hailbronner, AuslR, § 26 AsylG (Stand: Juni 2022) Rn. 83; VG Augsburg, Urteil vom 14. März 2000 ‑ Au 3 K 99.30714 ‑, InfAuslR 2001, 102 = juris Rn. 22 f.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Auch das Ziel der Herstellung und Wahrung der Familieneinheit im Bundesgebiet spricht für das Erfordernis einer Asylantragstellung unverzüglich nach der ersten Einreise. Das Zulassungsvorbringen rechtfertigt keine abweichende Betrachtung. Der auf Seite 6 unten der Zulassungsbegründung dargestellte Fall betrifft eine andere Konstellation, da der Ausländer dort erst durch die nach der Ausreise aus dem Bundesgebiet erfolgte Eheschließung die Stellung eines Ehegatten erlangt hat, die ‑ bei (Wieder-)Einreise ‑ erst den Anwendungsbereich des § 26 Abs. 1 (i. V. m. Abs. 5) AsylG eröffnet.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Nichts anderes hat im Ergebnis das Verwaltungsgericht angenommen, das die ‑ mit einem vom 14. Februar 2018 bis zum 14. Mai 2018 gültigen Visum zur Familienzusammenführung erfolgte ‑ Einreise der Klägerin am 3. Mai 2018 als maßgeblich angesehen hat. Dies zugrunde gelegt, hat es weiter angenommen, dass die Asylantragstellung am 14. November 2018 ‑ nach einer zwischenzeitlichen Rückreise der Klägerin in den Irak und Wiedereinreise in das Bundesgebiet am 11. November 2018 ‑ nicht unverzüglich im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG gewesen sei. Diese Annahme des Verwaltungsgerichts, dass es an einer unverzüglichen Asylantragstellung fehle, hat die Klägerin im Zulassungsverfahren nicht erfolgreich angegriffen, insbesondere nicht mit einer Verfahrensrüge (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">2. Die Berufung ist auch nicht wegen der weiter geltend gemachten Verfahrensmängel gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 VwGO zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">a. Die Rüge der Klägerin, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei nicht mit Gründen versehen (§ 138 Nr. 6 VwGO), greift nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Nicht mit Gründen im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO versehen ist eine Entscheidung nur dann, wenn sie so mangelhaft begründet ist, dass die Entscheidungsgründe ihre doppelte Funktion ‑ die Beteiligten über die dem Urteil zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu unterrichten und dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit zu ermöglichen ‑ nicht mehr erfüllen können. Das ist nur dann der Fall, wenn die Entscheidungsgründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder sonst derart unbrauchbar sind, dass sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen. Hingegen liegt ein Verstoß gegen § 138 Nr. 6 VwGO nicht schon dann vor, wenn die Entscheidungsgründe lediglich unklar, unvollständig, oberflächlich oder unrichtig sind.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. September 2011 ‑ 1 B 19.11 ‑, juris Rn. 3 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Hiervon ausgehend legt die Klägerin keinen Begründungsmangel dar. Sie rügt, dem Urteil fehlten in Bezug auf § 26 AsylG die Gründe. Das Verwaltungsgericht führe nur aus, dass es „auf der Hand“ liege, dass mit der Asylantragstellung unverzüglich nach Wiedereinreise die Unverzüglichkeit nicht gewahrt sei. Der Hinweis, „es liege auf der Hand“, sei aber keine Begründung im juristischen Sinn. Insbesondere zur Frage des Verschuldens äußere sich das Verwaltungsgericht nicht. Dieses Vorbringen führt indessen nicht auf einen Begründungsmangel. Es gibt bereits die Gründe des angefochtenen Urteils nicht zutreffend wieder. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Klägerin habe den Asylantrag nicht unverzüglich, also nicht ohne schuldhaftes Zögern, gestellt. Diese Einschätzung hat es damit begründet, dass die Klägerin nach der (erstmaligen) Einreise zunächst keinen Asylantrag gestellt habe, sondern wieder in den Irak zurückgereist sei und erst nach der Wiedereinreise ins Bundesgebiet einen Asylantrag gestellt habe. Entgegen der Behauptung im Zulassungsantrag hat sich das Verwaltungsgericht damit zum Verschulden geäußert und ein solches bejaht. Ferner hat das Verwaltungsgericht seine Auffassung, ein Antrag nach Wiedereinreise sei nicht mehr unverzüglich im Sinne des Gesetzes, mit Ausführungen zu dessen Zweck begründet. Abgesehen davon wendet sich das oben wiedergegebene Zulassungsvorbringen allein gegen die Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts und dessen Ausführungen zur Frage der unverzüglichen Asylantragstellung im Sinne von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG, die die Klägerin für unzureichend bzw. unrichtig hält. Eine Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 6 VwGO rechtfertigt dies, wie ausgeführt, jedoch nicht.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">b. Aus der Zulassungsbegründung ergibt sich auch nicht, dass der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt wurde (§ 138 Nr. 3 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht entscheidungserhebliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen hätte. Das Verwaltungsgericht hat insbesondere das Vorbringen der Klägerin, dass sie Familienflüchtlingsschutz, abgeleitet von ihrem vor ihr ins Bundesgebiet eingereisten und als Flüchtling anerkannten minderjährigen Sohn, begehre, zur Kenntnis genommen und sich zu diesem Vorbringen in den Entscheidungsgründen geäußert (Urteilsabdruck S. 2 f. und 4 f.). Dass die Klägerin die diesbezüglichen Würdigungen des Verwaltungsgerichts, insbesondere zur (vom Verwaltungsgericht verneinten) Unverzüglichkeit der Stellung des Asylantrags, für fehlerhaft hält, begründet keine Gehörsverletzung.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
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<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist zulässig. Sie scheitert namentlich nicht am Wegfall des Rechtsschutzinteresses. Dieses ist nicht deshalb entfallen, weil der ursprünglich angestrebte Einstellungstermin - 1.9.2022 - bereits um zwei Wochen verstrichen ist. Es entspricht der üblichen Handhabung des Antragsgegners, die weitere Teilnahme am Auswahlverfahren und den Einstieg in die Ausbildung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst noch in den ersten Wochen des Ausbildungsjahrs (zumindest bis Ende September) zuzulassen. Der Senat legt dies (auch) im vorliegenden Fall zugrunde.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, gibt keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss zu ändern, mit dem das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, den Anträgen zu entsprechen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren, am Auswahlverfahren für die Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 2022 (Einstellungstermin: 1.9.2022) weiter teilnehmen zu lassen,</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">hilfsweise,</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichten, vorläufig, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren, über die Bewerbung des Antragstellers um Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen zum nächstmöglichen Einstellungstermin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Anträge im Wesentlichen mit folgenden Erwägungen abgelehnt: Der Antragsteller werde im Hauptsacheverfahren voraussichtlich nicht obsiegen. Alles spreche dafür, dass der seine Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst ablehnende Bescheid des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen (LAFP) vom 25.5.2022 rechtmäßig sei. Der Antragsgegner habe dem Antragsteller zu Recht die gesundheitliche Eignung für die Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst (Polizeidiensttauglichkeit) abgesprochen. Der Begriff der Polizeidiensttauglichkeit werde maßgeblich durch die Polizeidienstvorschrift 300 "Ärztliche Beurteilung der Polizeidiensttauglichkeit und der Polizeidienstfähigkeit" (PDV 300) konkretisiert, die auch Fürsorgegesichtspunkten Rechnung trage. Nach Nr. 10.1.2 der PDV 300, Ausgabe 2020, schlössen Nahrungsmittelunverträglichkeiten die Polizeidiensttauglichkeit grundsätzlich aus. Die Diagnose einer Laktoseintoleranz werde durch den Antragsteller nicht in Zweifel gezogen. Entgegen seiner Ansicht fehle es auch nicht an einer Auseinandersetzung mit seiner individuellen Situation. Der Antragsgegner habe es nicht dabei belassen, auf Nr. 10.1.2 der PDV 300 zu verweisen, sondern auf der Grundlage der Stellungnahmen des Polizeiarztes LRMD Dr. Q. vom 28.12.2021 und vom 31.1.2022 eine Einzelfallentscheidung hinsichtlich der Polizeidiensttauglichkeit des Antragstellers getroffen. Dass diese fehlerhaft seien, sei weder durch den Antragsteller substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Soweit der Antragsteller unter Vorlage eines Attestes seines Hausarztes vom 23.11.2021 einwende, er wisse um seine Toleranzschwelle und könne durch eine gezielte Auswahl das Auftreten von Beschwerden komplett vermeiden, habe der Polizeiarzt ausgeführt, dass der Laktosegehalt in Nahrungsmitteln sehr hoch sein könne und nicht nur Nahrungsmittel, die als Milchprodukte erkennbar seien, oft erhebliche Mengen an Milchzucker enthielten. Es liege auf der Hand, dass der Antragsteller bei Teilnahme an einer Gemeinschaftsverpflegung - ohne Nahrungsmittelkennzeichnung oder die Möglichkeit einer Nachfrage - nicht zuverlässig beurteilen könne, ob und in gegebenenfalls in welcher Menge die Speisen bzw. einzelne Zutaten Milchzucker enthielten. Aus demselben Grund könne der Antragsteller auch aus dem Umstand, dass er durch Einhaltung einer konsequent laktosearmen Ernährung seit Jahren anhaltend symptomfrei sei, für eine Polizeidiensttauglichkeit nichts herleiten. Letztlich greife auch der Einwand des Antragstellers zu kurz, er habe keine erheblichen bzw. nennenswerten Einschränkungen beim Verzehr von Laktose. Soweit sein Hausarzt im Attest vom 17.1.2022 festgestellt habe, die einzigen Symptome bei vermehrter Laktosezufuhr bestünden beim Antragsteller in Blähneigung ohne Auftreten von Übelkeit, Durchfall oder Bauchkrämpfen, erschließe sich aus dem Zusammenhang, dass die Blähneigung als Symptom einer gelegentlichen, eventuell versehentlichen - und damit erfahrungsgemäß geringfügigen - Aufnahme von Milchzucker beschrieben sei. Eine Aussage zu den Symptomen im Fall der Aufnahme von Milchzucker auch in größerer Häufigkeit und/oder größeren Mengen, zu der es bei einer gegebenenfalls mehrtägigen Teilnahme an der Gemeinschaftsverpflegung kommen könne, lasse sich dem Attest zum einen bereits nicht entnehmen. Um geeignet zu sein, eine milde Symptomatik oder Symptomfreiheit bei Aufnahme von Milchzucker auch in größerer Häufigkeit und/oder in größeren Mengen glaubhaft zu machen, dürfte sich das Attest zum anderen nicht allein auf die - anderweitig nicht glaubhaft gemachten - anamnestischen Angaben des Antragstellers stützen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Diesen weiter begründeten Erwägungen setzt die Beschwerde nichts Durchgreifendes entgegen. Der Antragsteller hat auch im Beschwerdeverfahren keine Umstände glaubhaft gemacht, die einen Anspruch auf Erlass der von ihm begehrten Regelungsanordnung begründen (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dies gilt zunächst für die mit dem Hauptantrag begehrte vorläufige weitere Teilnahme am Auswahlverfahren für die Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 2022. Die Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst bzw. in den Vorbereitungsdienst für den Laufbahnabschnitt II geht mit der Ernennung zum Beamten auf Widerruf einher (vgl. § 15 Abs. 2 LVOPol). Nach Art. 33 Abs. 2 GG und nach § 9 BeamtStG, der nach § 1 dieses Gesetzes für das Statusrecht der Landesbeamten unmittelbar gilt, sind Ernennungen nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen. Geeignet in diesem Sinne ist nur, wer dem angestrebten Amt in körperlicher, psychischer und charakterlicher Hinsicht gewachsen ist. Bei der von Art. 33 Abs. 2 GG geforderten Eignungsbeurteilung hat der Dienstherr daher immer auch eine Entscheidung darüber zu treffen, ob der Bewerber den Anforderungen des jeweiligen Amtes in gesundheitlicher Hinsicht entspricht. Ist nach der körperlichen oder psychischen Konstitution eines Bewerbers die gesundheitliche Eignung nicht gegeben, kann er unabhängig von seiner fachlichen Eignung nicht verbeamtet werden. Er kann nicht in den Leistungsvergleich der Bewerber um die zur Vergabe stehenden Ämter einbezogen werden.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.7.2013 - 2 C 12.11 -, BVerwGE 147, 244 = juris Rn. 10, m. w. N.; OVG NRW, Urteil vom 30.11.2017 - 6 A 2111/14 -, juris Rn. 65.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Verwaltungsgerichte haben über die gesundheitliche Eignung von Beamtenbewerbern zu entscheiden, ohne an tatsächliche oder rechtliche Wertungen des Dienstherrn gebunden zu sein; diesem steht insoweit kein Beurteilungsspielraum zu.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.7.2013 - 2 C 12.11 -, a. a. O. Rn. 24; OVG NRW, Urteil vom 30.11.2017 - 6 A 2111/14 -, a. a. O. Rn. 89.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Spielraum des Dienstherrn bei der Bestimmung der gesundheitlichen Anforderungen für eine Laufbahn rechtfertigt keine Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte bei der Beurteilung der daran anknüpfenden gesundheitlichen Eignung. Dabei ist der Gesundheitszustand des Beamtenbewerbers in Bezug zu den Anforderungen der Beamtenlaufbahn zu setzen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.7.2013 - 2 C 12.11 -, a. a. O. Rn. 27; OVG NRW, Urteil vom 30.11.2017 - 6 A 2111/14 -, a. a. O. Rn. 91.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Diese Grundsätze gelten für die Beurteilung der gesundheitlichen Eignung eines Bewerbers um die Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst bzw. in den Vorbereitungsdienst für den Laufbahnabschnitt II (vgl. § 110 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LBG NRW i. V. m. §§ 15 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 Nr. 3 LVOPol) entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30.11.2017 - 6 A 2111/14 -, a. a. O. Rn. 93.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zwar macht der Antragsteller zu Recht geltend, seine Polizeidiensttauglichkeit könne nicht bereits unter Hinweis darauf verneint werden, dass eine Laktoseintoleranz in der PDV 300 als Merkmal genannt sei, das eine Einstellung ausschließe.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">So VG Minden, Urteil vom 27.9.2012 - 4 K 88/12 -, juris Rn. 26 m. w. N. zu einer nicht näher genannten Vorfassung der PDV 300.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Aus dem Umstand, dass eine Erkrankung in der PDV 300 aufgeführt ist, kann nicht ohne weitere individuelle Prüfung auf die Polizeidienstuntauglichkeit geschlossen werden. Vielmehr ist auch dann, wenn eine Erkrankung in der PDV 300 als Merkmal genannt ist, das die Polizeidiensttauglichkeit "grundsätzlich" - hier wohl gebraucht in der Bedeutung von "ausnahmslos", also offenbar generell und ungeachtet ihrer Schwere und Ausprägung im Einzelfall - ausschließt, dies der gerichtlichen Überprüfung zugänglich und sind jedenfalls bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten die Umstände des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere die konkreten Auswirkungen der Unverträglichkeit auf die Einsatzfähigkeit im Polizeivollzugsdienst, in den Blick zu nehmen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 8.11.2016 - 2 A 484/15 -, juris Rn. 21; OVG Berl.-Bdg., Urteil vom 28.3.2018 - OVG 4 B 19.14 -, juris Rn. 30; VG Köln, Beschluss vom 18.3.2021- 19 L 83/21 -, juris Rn. 20; VG Düsseldorf, Beschluss vom 4.8.2020 - 2 L 1303/20 -, juris Rn. 10; VG Koblenz, Beschluss vom 23.8.2019 - 2 L 802/19.KO -, juris Rn. 17, 22, und Urteil vom 15.6.2022 - 2 K 1313/19.KO -, n.v.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Halten sich die Auswirkungen der Unverträglichkeit in einem Ausmaß, das die umfassende Einsetzbarkeit des Einstellungsbewerbers - unter besonderer Berücksichtigung der Gegebenheiten der Gemeinschaftsverpflegung auch bei mehrtägigen und nicht planbaren Einsätzen - nicht beeinträchtigt, ist (jedenfalls) die aktuelle Polizeidienstfähigkeit gegeben. Denn es obliegt zwar dem Dienstherrn, die körperlichen Anforderungen der jeweiligen Laufbahn zu bestimmen. Hierbei steht ihm ein weiter Einschätzungsspielraum zu, bei dessen Wahrnehmung er sich am typischen Aufgabenbereich der Ämter der Laufbahn zu orientieren hat. Diese Vorgaben bilden den Maßstab, an dem die individuelle körperliche Leistungsfähigkeit der Bewerber zu messen ist; sie hat der Dienstherr im Rahmen des ihm zustehenden Entscheidungsspielraums für alle Bewerber um die Einstellung in den Polizeivollzugsdienst in der PDV 300 näher konkretisiert. Hinsichtlich der anschließenden Frage, ob der einzelne Bewerber den laufbahnbezogenen festgelegten Voraussetzungen in gesundheitlicher Hinsicht genügt, ist dem Dienstherrn hingegen kein Beurteilungsspielraum eröffnet. Die Entscheidung hierüber unterliegt der vollen gerichtlichen Nachprüfbarkeit. Mithin haben darüber letztverantwortlich die Verwaltungsgerichte zu entscheiden, ohne an tatsächliche oder rechtliche Bewertungen des Dienstherrn gebunden zu sein.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 25.7.2013 - 2 C 12.11 -, a. a. O. Rn 24, 30.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Im Streitfall kommt es allerdings nicht darauf an, ob - trotz der Nennung der Nahrungsmittelunverträglichkeiten in Nr. 10.1.2. der Anlage 1 zur PDV 300, Ausgabe 2020, als die Polizeidiensttauglichkeit ausschließendes Merkmal - bei Vorliegen einer Laktoseintoleranz ohne nennenswerte Beschwerden, insbesondere ohne Durchfall, Bauchkrämpfe oder Unwohlsein bei Laktoseverzehr auch in größeren Mengen, Polizeidiensttauglichkeit gegeben ist. Denn es ist nicht glaubhaft gemacht, dass ein solcher Fall gegeben ist. Die einzelfallbezogene Einschätzung des Polizeiarztes, die bestehende Laktoseintoleranz führe bei dem Antragsteller zu seine Polizeidiensttauglichkeit ausschließenden gesundheitlichen Einschränkungen, wird durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Zunächst trifft die Beanstandung der Beschwerde, der Polizeiarzt habe sich nicht mit der individuellen Situation des Antragstellers auseinandergesetzt, nicht zu. Vielmehr hat dieser sich insbesondere in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 31.1.2022 bezugnehmend auf den Befundbericht des Labors Dr. L. vom 22.10.2021 über einen aktuellen Laktosebelastungstest mit der Konstitution des Antragstellers befasst. Er hat unter anderem ausgeführt, die H2-Abatmung habe bei der Testung des Antragstellers bei bis zu 70,2 ppm gelegen, wobei es sich um einen deutlich erhöhten Wert handele. Gründe für die Annahme eines atypischen Falls, bei dem die Laktoseunverträglichkeit die Polizeidiensttauglichkeit nicht beeinträchtige, ergäben sich insgesamt nicht.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Erfolglos verweist die Beschwerde darüber hinaus auf die Bescheinigung des Hausarztes des Antragstellers vom 17.1.2022, in der es heißt, wenn es in der Vergangenheit doch einmal zu einer vermehrten Laktosezufuhr gekommen sei (z.B. bei Restaurantbesuchen), bestünden die einzigen Symptome in Blähneigung ohne Auftreten von Übelkeit, Durchfall oder Bauchkrämpfen. Hiermit hat sich bereits das Verwaltungsgericht zutreffend auseinandergesetzt, ohne dass der Antragsteller dessen Feststellungen mit der Beschwerde durchgreifend in Zweifel zieht. Das Verwaltungsgericht hat zum einen angenommen, aus dem Zusammenhang mit der vorangestellten Empfehlung des Hausarztes, auf Milchzucker dauerhaft (weitgehend) zu verzichten, und der Wortwahl erschließe sich, dass die Blähneigung als Symptom einer nur gelegentlichen, eventuell versehentlichen - und damit erfahrungsgemäß geringfügigen - Aufnahme von Milchzucker beschrieben sei. Eine Aussage zu den Symptomen im Fall der Aufnahme von Milchzucker auch in größerer Häufigkeit und/oder in größeren Mengen, zu der es bei einer gegebenenfalls mehrtägigen Teilnahme an einer Gemeinschaftsverpflegung kommen könne, lasse sich dem Attest bereits nicht entnehmen. Das hiergegen gerichtete Vorbringen, dies könne dem Attest "so nicht entnommen werden" bzw. stelle "keine zulässige Schlussfolgerung" dar, bleibt ohne jede Erläuterung und Substanz. Zum anderen hat das Verwaltungsgericht darauf verwiesen, das Attest sei schon deshalb nicht geeignet, eine milde Symptomatik bzw. Symptomfreiheit des Antragstellers bei Aufnahme von Milchzucker auch in größerer Häufigkeit und/oder Menge glaubhaft zu machen, weil es sich allein auf die anamnestischen Angaben des Antragstellers stütze. Zu dieser Erwägung verhält sich die Beschwerde in keiner Weise. In der Tat ist davon auszugehen, dass die Feststellungen des Arztes nicht auf dessen eigenen Beobachtungen oder gar Testungen beruhen, sondern der Arzt lediglich anamnestische - und hier nicht glaubhaft gemachte - Behauptungen des Antragstellers zur geringen Ausprägung der bei ihm vorliegenden Beschwerden wiedergibt. Denn der Arzt hat - was in hohem Maß nahegelegen hätte - dergleichen nicht erwähnt; der Hinweis auf Restaurantbesuche, bei denen er naturgemäß nicht zugegen gewesen sein wird, deutet zusätzlich darauf hin, dass er sich allein auf Angaben des Antragstellers gestützt hat. Diese Annahme wird nachdrücklich bestätigt durch den Umstand, dass der Antragsteller eigene Beobachtungen oder Testungen des Arztes nicht vorgetragen hat, und zwar auch nicht mit der Beschwerde.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Dass der Antragsteller selbst bei hohem Laktoseverzehr lediglich unter Blähneigung leidet, ist danach jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, aber auch im Übrigen nicht wahrscheinlich. Dies gilt einerseits wegen des hohen bei ihm festgestellten Werts der H2-Abatmung und darüber hinaus auch deshalb, weil es zu einer - hier ausweislich der hausärztlichen Bescheinigungen vom 23.11.2021 und vom 17.1.2022 schon im 12. Lebensjahr des Antragstellers gestellten - ärztlichen Diagnose einer Laktoseintoleranz im Allgemeinen überhaupt nur dann kommt, wenn sich zuvor eine belastende Symptomatik gezeigt hat und diese dem Arzt berichtet worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2021 - 1 B 1511/21 -, juris Rn. 14.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Nicht zum Erfolg der Beschwerde führt ferner das Vorbringen, nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 15.6.2022 - 2 K 1313/19.KO - sei davon auszugehen, dass bei Gemeinschaftsverpflegung die Möglichkeit bestehe, dass ein Gericht keine oder nur wenig Laktose enthalte (gemeint ist wohl: dass bei Gemeinschaftsverpflegung immer auch Gerichte angeboten würden, die keine oder nur wenig Laktose enthielten), wozu auf die Beurteilung des Gutachters bezüglich der ihm vorgelegten repräsentativen Speisepläne bei Gemeinschaftsverpflegung in dem Urteil Bezug genommen werde. Diese Feststellungen sind auf den Streitfall nicht übertragbar. Denn es ging im vom Verwaltungsgericht Koblenz zu entscheidenden Fall um die Einstellung in den Vorbereitungsdienst des mittleren Polizeivollzugsdienstes der Bundespolizei im Jahr 2019; überdies ist das Verwaltungsgericht Koblenz davon ausgegangen, dass der dortige Kläger bei Verzehr von Laktose keine Bauchschmerzen oder sonstigen Symptome entwickele. Dass im Rahmen der Gemeinschaftsverpflegung im Bereich der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen ebenfalls stets auch Gerichte angeboten werden, die nicht oder nur geringfügig Laktose enthalten, ist nach den Ausführungen des Polizeiarztes nicht wahrscheinlich, jedenfalls aber mit der Beschwerde schon nicht behauptet und erst recht nicht glaubhaft gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Unerheblich ist der Vortrag, der Antragsteller habe sich nicht bei der Bundespolizei, sondern bei der Landespolizei beworben, wo längere Einsatzzeiten und damit einhergehende Gemeinschaftsverpflegung nicht die Regel seien. Maßstab der Polizeidienstfähigkeit ist nicht das abstrakt-funktionelle Amt eines Polizeivollzugsbeamten bei seiner Beschäftigungsbehörde, sondern sind sämtliche Ämter der Laufbahn des Polizeivollzugsdienstes. Der Polizeivollzugsbeamte muss zu jeder Zeit, an jedem Ort und in jeder Stellung einsetzbar sein, die seinem statusrechtlichen Amt entspricht.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.11.2014 - 2 B 97.13 -, NVwZ 2015, 439 = juris Rn. 10; OVG NRW, Urteil vom 30.11.2017 - 6 A 2111/14 -, a. a. O. Rn. 95.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Einzustellende Bewerber für den Polizeivollzugsdienst müssen daher die Dienstfähigkeit auch für nur selten vorkommende Einsatzsituationen aufweisen. Es ist unbestritten, dass auch bei der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen mehrtätige Einsatzsituationen mit Gemeinschaftsverpflegung vorkommen können (siehe auch Nr. 1.2 PDV 300). Dementsprechend sieht § 111 Satz 1 LBG NRW vor, dass Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte auf Anordnung verpflichtet sind, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen und an einer Gemeinschaftsverpflegung teilzunehmen.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Schließlich verweist die Beschwerde vergeblich auf das Informationsmaterial der Kreispolizeibehörde N. zur Bewerbung für den Polizeidienst NRW 2023. Zwar trifft es zu, dass darin unter der Überschrift "Merkblatt zur Polizeidiensttauglichkeit (PDV 300)" die Unverträglichkeit gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln nur als "eventueller Ausschlussgrund" aufgeführt ist. Abgesehen davon, dass nach dem oben Ausgeführten die PDV 300 damit nicht zutreffend wiedergegeben ist, legt die Beschwerde schon nicht dar, welche rechtliche Bewandtnis diesem Informationsmaterial einer im Streitfall nicht beteiligten Behörde für die Entscheidungsfindung zukommen soll. Vor allem aber ist nach dem Vorstehenden anzunehmen, dass die Voraussetzungen für die Verneinung der Polizeidiensttauglichkeit - und damit der "eventuelle Ausschlussgrund" - im Fall des Antragstellers gegeben sind.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Nach allem hat der Antragsteller mit der Beschwerde das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs für die mit dem Hilfsantrag begehrte Neubescheidung ebenfalls nicht glaubhaft gemacht.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar.</p>
|
346,648 | ovgnrw-2022-09-15-2-a-245721a | {
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<p>Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwältin Dr. E. wird abgelehnt.</p>
<p>Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung unter Anlegung der für die Gewährung von Prozesskostenhilfe geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu etwa BVerfG, Beschlüsse vom 26. Juni 2003 – 1 BvR 1152/02 – NJW 2003, 3190 = juris Rn. 10, und vom 7. April 2000 – 1 BvR 81/00 –, NJW 2000, 1936 = juris Rn. 16, sowie VerfGH NRW, Beschluss vom 30. April 2019 - 2 /19.VB-2 -, juris Rn. 24 ff. m. w. N.,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">aus den nachstehend bezeichneten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">1. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">a) Der Kläger zeigt nicht auf, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt worden ist, dass das Verwaltungsgericht seinen in der mündlichen Verhandlung am 16. Juli 2021 (unbedingt) gestellten Beweisantrag,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">zum Beweis der Tatsache, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, Beweis durch Einholung eines (weiteren) psychiatrisch-psychologischen Sachverständigengutachtens zu erheben,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">abgelehnt hat.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch die Ablehnung eines Beweisantrags (nur) verletzt, wenn seine Ablehnung im Prozessrecht objektiv keine Stütze findet.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. November 1978 ‑ 1 BvR 158/78 -, BVerfGE 50, 32 = juris Rn. 11, und vom 29. November 1983 - 1 BvR 1313/82 -, BVerfGE 65, 305 = juris Rn. 8; BVerwG, Beschluss vom 24. März 2000 - 9 B 530.99 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308 = juris Rn. 13.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat den Beweisantrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 23. Juli 2021 durch Beschluss als unsubstantiiert abgelehnt und zur Begründung ausgeführt:</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">"Der Kläger hat zu keinem Zeitpunkt das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung substantiiert dargelegt. In dem vorangegangenen Klageverfahren 1 K 7147/18.A hat der Kläger dem Gericht kein ärztliches Attest mit einer entsprechenden Diagnose vorgelegt. In der vom Sachverständigen in dem vorherigen Klageverfahren zur Abfassung des in Auftrag gegebenen Gutachtens eingeholten Verlaufsdokumentation und elektronischen Patientendokumentation der LVR-Klinik wurde die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zwar aufgeführt, hingegen, wie in dem Urteil des genannten Verfahrens dargestellt, ohne Darstellung der tatsächlichen und medizinischen Umstände, auf denen die Diagnose erfolgt ist. Zudem hat die LVR-Klinik die im April und Juli 2019 gestellte Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie der Sachverständige in seinem Gutachten wiedergibt, ab Oktober 2019 nicht mehr gestellt. Die Klinik ist mithin von dieser Diagnose abgerückt. Auch der Sachverständige in dem vorangegangen Klageverfahren ist nicht zu der Annahme des Vorliegens einer posttraumatischen Belastungsstörung gekommen, ebenso wie der vom Amtsgericht W. beauftragte Sachverständige Dr. L. . Behauptet der Kläger damit nach eigenem Vorbringen nun erstmalig das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bedarf es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8/07 -, juris, Rn. 15, zur Substantiierung dieses Vortrages der Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attestes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gehört hierzu insbesondere die Angabe der Grundlage der Diagnose, wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt, dazu gehören auch Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Diesen Voraussetzungen genügen die vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen der LVR-Klinik W. vom 1. Dezember 2020 und 10. Juli 2021 nicht. In diesen fehlen insbesondere die Angaben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und ob die von dem Kläger geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden konnten. In den vorgelegten Stellungnahmen werden im Wesentlichen die Feststellungen früherer Behandlungsunterlagen wiedergegeben und dargelegt, welche Symptome bei einer posttraumatischen Belastungsstörung nach der ICD-10 auftreten und dass der Kläger in den vorangegangenen Behandlungen entsprechende Beschwerden geschildert hat. Allerdings bleibt unklar, auf welcher Grundlage letztlich die in den Stellungnahmen enthaltene Diagnose einer PTBS gestellt wurde und ob die von dem Kläger geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Unabhängig davon fehlt in den fachärztlichen Stellungnahmen jegliche Auseinandersetzung mit den den Stellungnahmen und damit der Diagnose zugrunde gelegten, früheren Behandlungsunterlagen. Die den Kläger zuvor behandelnden Ärzte, deren Aufzeichnungen die aktuelle Ärztin des Klägers für ihre Stellungnahmen heranzieht, sind bei den von dem Kläger geschilderten und nunmehr wiedergegebenen Beschwerden nicht zu der Diagnose einer PTBS gekommen bzw. haben von einer solchen wiederum Abstand genommen. Die den Kläger aktuell behandelnde Ärztin hat sich mit diesem Umstand nicht auseinandergesetzt und nicht plausibel dargetan, aus welchem Grund entgegen der vorherigen ärztlichen Stellungnahmen nunmehr eine PTBS vorliegen soll. Ebenso führt Herr Dr. L. in seinem Gutachten von März 2020 aus, dass es einer weiteren Differenzierung zur Feststellung bedürfe, ob das Vollbild einer PTBS bei dem Kläger vorliege. Eine solche Differenzierung hat die behandelnde Ärztin des Klägers in den vorgelegten Stellungnahmen hingegen, wie bereits aufgezeigt, nicht vorgenommen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Überdies sind die vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen aber auch in sich nicht schlüssig, denn in diesen werden zur Begründung des Vorliegens einer posttraumatischen Belastungsstörung auch von dem Kläger geschilderte Beschwerden herangezogen, die vor dem traumaauslösenden Ereignis gelegen haben und denen daher ersichtlich keine Aussagekraft für das Vorliegen einer PTBS zukommen kann. Insoweit wird in der Stellungnahme vom 10. Juli 2021 etwa auf den Entlassungsbericht der LVR-Klinik W. zum stationären Aufenthalt vom 5. September bis 20. September 2018 und die dort vom Kläger geschilderten Beschwerden Bezug genommen, obgleich der das Trauma auslösende Überfall erst im Februar 2019 stattgefunden hat."</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">In dem angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht darüber hinaus zusammenfassend ausgeführt, dass dem gestellten Beweisantrag nicht nachzugehen gewesen sei, weil die vom Kläger vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen der LVR-Klinik W. vom 1. Dezember 2020 und 10. Juli 2021 aufgrund der vorstehenden Erwägungen nicht geeignet gewesen seien, das im vorangegangen Klageverfahren - 1 K 7147/18.A - eingeholte Sachverständigengutachten von Herrn Dr. T. vom 14. April 2020 zu erschüttern (vgl. Urteilsabschrift, Seite 23 oben).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dass die so begründete Ablehnung seines Beweisantrags prozessordnungswidrig erfolgt ist, hat der Kläger nicht dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht kann den Beweisantrag eines Verfahrensbeteiligten auf Einholung eines (ersten, eigenen) gerichtlichen Sachverständigengutachtens ablehnen, wenn das Vorbringen des Verfahrensbeteiligten gegen das in einem anderen gerichtlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten nach den Grundsätzen der richterlichen Überzeugungsbildung und freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 286 ZPO) nicht geeignet ist, den fachlichen Inhalt dieses Sachverständigengutachtens ernsthaft zu erschüttern.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Juni 2020 - 2 B 30.19 -, NVwZ-RR 2020, 1078 = juris Rn. 27 f. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">So liegt der Fall auch hier.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">So hatte das Verwaltungsgericht im vorangegangen Asylklageverfahren - 1 K 7147/18.A - das Sachverständigengutachten von Herrn Dr. T. vom 14. April 2020 unter anderem zu der Beweisfrage eingeholt, ob der Kläger an einer körperlichen und / oder psychischen Erkrankung leide und wie diese nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) zu klassifizieren sei. In dem Gutachten (vgl. Seite 58 ff. und 76 unten) wird ausgeführt, dass nach den Kriterien der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der 10. Revision (ICD-10/WHO) die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) beim Kläger nicht gestellt werden könne. Nach ICD-10/WHO werde gefordert, dass die Störung mit einer Latenz von Wochen bis Monaten einsetze (zweites Eingangskriterium – sog. Zeitkriterium); beim Kläger bestehe die Symptomatik aber seit dem Vorfall. "Abgesehen davon" habe beim Kläger das für die Diagnoseerstellung der PTBS zwingende Symptom der "emotionalen Taubheit" (deafness) nie vorgelegen und liege auch aktuell nicht vor. "Emotionale Taubheit" bedeute, dass die Betroffenen insbesondere positive Gefühle (aber auch negative Gefühle) nicht spüren könnten. Den Betroffenen sei es z. B. nicht möglich, Liebe und Mitleid zu empfinden für andere Menschen, sie könnten auch nicht spüren, dass sie von diesen Menschen geliebt werden. Dies sei besonders quälend für die Betroffenen, da sie nicht spüren könnten, dass sie z. B. von ihren Ehepartnern oder Eltern geliebt werden, oder dass sie Eltern oder Ehepartner liebten. Der Kläger könne jedoch in jedem Fall die Liebe zu seiner Mutter, das Mitleid mit ihr empfinden, könne auch die Stärkung und die Unterstützung durch sie empfinden, liebe sie auch. Zudem spreche auch die Aufnahme einer neuen nahen Beziehung zu einer neuen Partnerin gegen eine "emotionale Taubheit" des Klägers. Damit hat der Gutachter Dr. T. das Vorliegen einer PTBS beim Kläger aus zwei jeweils selbständig tragenden Gründen - fehlendes "Zeitkriterium" und fehlende "emotionale Taubheit" - verneint. Dieser Einschätzung des Gutachters ist das Verwaltungsgericht in seinem - anschließend rechtskräftig gewordenen - Urteil vom 22. Mai 2020 - 1 K 7147/18.A - gefolgt und hat die Feststellung des Bestehens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt (vgl. Urteilsabschrift, Seite 26 f., 32 f. und 35 ff.).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Daraufhin hat der Kläger am 21. Januar 2021 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter Vorlage der fachärztlichen Stellungnahme der LVR-Klinik W. vom 1. Dezember 2020 einen sog. isolierten Folgeschutzantrag - gerichtet auf Wiederaufgreifen des Verfahrens auf Feststellung des Bestehens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen PTBS - gestellt. Diesen Antrag hat das BAMF mit Bescheid vom 14. April 2021 abgelehnt. Hiergegen hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben und im Laufe des Klageverfahrens die weitere fachärztliche Stellungnahme der LVR-Klinik W. vom 10. Juli 2021 vorgelegt.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Weder die fachärztliche Stellungnahme der LVR-Klinik W. vom 1. Dezember 2020 noch diejenige vom 10. Juli 2021 erschüttert allerdings ernsthaft die Feststellung in dem Sachverständigengutachten von Herrn Dr. T. , das Vorliegen einer PTBS beim Kläger sei aus zwei jeweils selbständig tragenden Gründen - fehlendes "Zeitkriterium" und fehlende "emotionale Taubheit" - zu verneinen. Beide fachärztlichen Stellungnahmen der LVR-Klinik W. sind daher auch keine neuen Beweismittel i. S. d. 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, die eine dem Kläger günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die fachärztliche Stellungnahme der LVR-Klinik W. vom 1. Dezember 2020 enthält zwar die Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1)" für den Kläger, geht aber überhaupt nicht auf das nach dem Gutachten von Herrn Dr. T. vom 14. April 2020 hierfür fehlende "Zeitkriterium" und die ebenfalls fehlende "emotionale Taubheit" ein.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">In der fachärztlichen Stellungnahme der LVR-Klinik W. vom 10. Juli 2021 (vgl. Seite 5 f.) wird zwar unter Bezugnahme auf das Gutachten von Herrn Dr. T. vom 14. April 2020 ausgeführt, dass entgegen der inzwischen in Revision befindlichen ICD-10 die aktuelle wissenschaftliche "S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung" der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (2019) davon ausgehe, dass die Symptomatik einer PTBS auch unmittelbar nach einem traumatischen Geschehen auftreten und langfristig persistieren könne. Es müsse auch nicht zwingend das Vollbild einer PTBS mit allen genannten Symptomen bestehen; diese könnten in unterschiedlicher Ausprägung auch fluktuieren. Jedoch finden sich in der Version von 2019 der "S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung" der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie die in der fachärztlichen Stellungnahme der LVR-Klinik W. vom 10. Juli 2021 angeführten Inhalte so nicht wieder. Vielmehr lautet die Empfehlung Nr. 2 dieser Leitlinie, dass die Diagnostik der PTBS nach klinischen Kriterien der jeweils gültigen Version der ICD erfolgen soll. Dies ist vorliegend jedoch geschehen, da Herr Dr. T. seinem Gutachten die ICD in der 10. Revision zugrunde gelegt hat; die ICD-11 trat erst am 1. Januar 2022 in Kraft. In der Vorgängerversion "S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung ICD-10: F43.1" von 2011 findet sich zwar der Satz, dass die Symptomatik unmittelbar oder auch mit (z.T. mehrjähriger Verzögerung) nach dem traumatischen Geschehen (verzögerte PTBS) auftreten kann. Gleichzeitig heißt es dort jedoch, dass das syndromale Störungsbild "geprägt" ist durch "emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interesseverlust, innere Teilnahmslosigkeit)". Zudem soll nach der Leitlinienempfehlung 3 die Diagnostik der PTBS nach klinischen Kriterien (ICD 10) erfolgen. In der zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung durch Herrn Dr. T. am 14. April 2000 geltenden ICD-10-GM (German Modification) Version 2019 finden sich unter der Rubrik "F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung" allerdings folgende Sätze: "Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von <span style="text-decoration:underline">Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit</span> auftreten. Ferner finden sich <span style="text-decoration:underline">Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit</span> sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. … Der Beginn folgt dem Trauma mit einer <span style="text-decoration:underline">Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann</span>." (Unterstreichungen durch den Senat).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus vermag auch das sonstige Vorbringen des Klägers im erstinstanzlichen Klageverfahren die Feststellung in dem früheren Sachverständigengutachten von Herrn Dr. T. , die Diagnose einer PTBS beim Kläger sei aus zwei jeweils selbständig tragenden Gründen - fehlendes "Zeitkriterium" und fehlende "emotionale Taubheit" - auszuschließen, nicht ernsthaft zu erschüttern. Soweit die Prozessbevollmächtigte des Klägers im Schriftsatz vom 21. Mai 2021 (vgl. Seite 5 f.) ausführt, die beiden vom Gutachter für das Vorliegen einer PTBS angeführten Voraussetzungen - "Zeitkriterium" und "emotionale Taubheit" - seien in der für Deutschland geltenden ICD-10 der WHO nicht existent, trifft dies - wie zuvor bereits ausgeführt - nicht zu. Warum der Gutachter nach Ansicht der Prozessbevollmächtigten des Klägers neben der ICD-10 der WHO auch das in den USA verbreitete Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in der 4. bzw. 5. Revision (DSM-4 bzw. DSM-5) hätte heranziehen sollen, wird im Schriftsatz vom 21. Mai 2021 nicht weiter dargelegt. Schließlich hat der Sachverständige Dr. T. seinem Gutachten vom 14. April 2020 auch alle bis dahin verfügbaren, für die Frage nach dem Vorliegen einer PTBS relevanten ärztlichen Informationen über den Kläger zugrunde gelegt und diese in dem Gutachten - anders als der Kläger meint - umfassend und nachvollziehbar ausgewertet.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">b) Soweit der Kläger ferner geltend macht, das Verwaltungsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es die diagnostischen Feststellungen in den fachärztlichen Stellungnahmen der LVR-Klinik W. vom 1. Dezember 2020 und vom 10. Juli 2021 nicht zur Kenntnis genommen habe, greift dieser Einwand nicht durch. Denn im Tatbestand des angegriffenen erstinstanzlichen Urteils (vgl. Urteilsabschrift, Seite 14 und 16) sind diese diagnostischen Feststellungen aufgeführt. Zudem sind die Feststellungen in den Entscheidungsgründen (vgl. Urteilsabschrift, Seite 18 ff. und 21 ff.) auch rechtlich gewürdigt worden. Dass der Kläger diese Würdigung für falsch hält, begründet keine Gehörsverletzung. Fehler bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind selbst im Falle ihre Vorliegens - wofür hier allerdings nichts spricht - regelmäßig dem sachlichen (materiellen) Recht zuzuordnen und nicht dem Verfahrensrecht.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. November 1995 - 9 B 710.94 -, juris Rn. 4 f., und vom 8. Februar 2011 - 10 B 1.11 -, juris Rn. 3.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">2. Erfolglos bleibt auch die weitere Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung dadurch verletzt, dass es kein (weiteres) Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt habe, ob der Kläger an einer PTBS leide. Eine Verletzung der dem Gericht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht gehört nämlich nicht zu den in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmängeln, bei deren Vorliegen die Berufung zuzulassen ist.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">3. Die Berufung ist auch nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes erforderlich, dass die entsprechende Frage aufgeworfen und substantiiert ausgeführt wird, warum sie für entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. Juli 2018 - 9 A 2789/17.A -, juris Rn. 4 f. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen genügt die Zulassungsbegründung nicht.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat bereits die Entscheidungserheblichkeit der dort als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfenen Frage,</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">ob es zulässig ist, dass das Verwaltungsgericht den Beweisantrag auch dann ablehnen darf, wenn es ohne eigene Sachkunde nur einem Gutachten folgt, welches das Vorliegen einer PTBS "lediglich" auf der Grundlage nicht aktueller wissenschaftlicher Standards beurteilt und es damit ausgeschlossen hat, obwohl bei einer Begutachtung nach aktuellen wissenschaftlichen Standards eine PTBS vorliegen könnte,</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">nicht dargelegt. Denn die Zulassungsbegründung zeigt nicht auf, dass der Ausschluss der Diagnose einer PTBS bei dem Kläger in dem Sachverständigengutachten von Herrn Dr. T. vom 14. April 2020 auf der Grundlage nicht aktueller wissenschaftlicher Standards erfolgt ist. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen unter 1. a) Bezug genommen. Im Übrigen wird mit der aufgeworfenen Frage lediglich die unter 1. a) bereits behandelte Gehörsrüge im Gewande einer Grundsatzrüge erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</p>
|
346,631 | ovgni-2022-09-15-10-kn-9221 | {
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} | 10 KN 92/21 | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-09-21T10:01:10 | 2022-10-17T11:10:21 | Urteil | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Verordnung über die Ausweisung eines Wildschongebietes in der Samtgemeinde Jesteburg vom 14. Mai 2020 ist unwirksam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Antragsgegnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Antragsteller vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller wendet sich gegen die am 14. Mai 2020 vom Rat der Samtgemeinde Jesteburg beschlossene, im Amtsblatt für den Landkreis Harburg Nr. 28 vom 9. Juli 2020 veröffentlichte und am 1. August 2020 in Kraft getretene Verordnung über die Ausweisung eines Wildschongebietes in der Samtgemeinde Jesteburg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Er ist Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebes in G. in der Samtgemeinde H., zu dem u. a. die in seinem Eigentum stehenden Flächen Flurstücke I., J., K. und L. der Flur M., Gemarkung G., und die Pachtfläche Flurstück N. der Flur M., Gemarkung G., gehören, die als Wald, Grünland und Acker genutzt werden und die in dem durch die oben genannte Verordnung ausgewiesenen Wildschongebiet liegen. Auf den Flurstücken L., J. und K. befindet sich ein privater betrieblicher Wirtschaftsweg des Antragstellers.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Die Festlegung des Schongebietes ist auf Antrag der Jagdgenossenschaft G. -O. vom 27. August 2019 erfolgt. In dem Antragschreiben wird ausgeführt, dass das Wildschongebiet an das Landschaftsschutzgebiet Q. -Wald angrenze, in dem ganzjährig ein Leinenzwang bestehe. Aufgrund der fortschreitenden Ausweisung von Wohn- und Gewerbegebieten verkleinere sich der Lebensraum für wildlebende Tiere stetig. Es müsse verhindert werden, dass die Tiere sich immer weiter aus der Fläche zurückzögen. Der Q. -Wald sei als Rückzugsgebiet für Rehwild aufgrund des sehr hohen Jagddruckes durch die Forstverwaltung, die kein Rehwild im Wald haben wolle und keinem Abschussplan unterliege, ungeeignet. Der Rehbestand habe sich in dem geplanten Wildschongebiet innerhalb von drei Jahren von 36-38 Stück auf heute 7-8 Stück gesichtetem Rehwild reduziert. Seit einigen Jahren würden unterhalb der Woche täglich 8-10 freilaufende Hunde und am Wochenende täglich 20-30 freilaufende Hunde im Wald und auf den Grünflächen, die Äsungsflächen für die Rehe seien, gezählt. Ein Teil der Hundehalter zeige sich auch auf persönliche Ansprache uneinsichtig und weigere sich, die Hunde anzuleinen. Diese massive Beeinträchtigung durch die Hunde sei ein Grund für den Rückgang des Bestandes an Rehen, Hasen und Kaninchen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Im Hinblick auf dieses Schreiben schlug der Samtgemeindebürgermeister dem Rat der Samtgemeinde Jesteburg vor, die aus seiner Sicht zum Schutz der Rückzugsmöglichkeiten des Wildes vor Beunruhigung erforderliche Verordnung zu erlassen. Der Rat der Samtgemeinde Jesteburg beschloss daraufhin in seiner Sitzung am 14. Mai 2020 u. a. aufgrund § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des Niedersächsischen Gesetzes über den Wald und die Landschaftsordnung (NWaldLG) die Verordnung über die Ausweisung eines Wildschongebietes in der Samtgemeinde Jesteburg, die u. a. die folgenden Regelungen enthält:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">§ 1</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">Wildschongebiet und Geltungsbereich</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">(1) Zum Schutz der Rückzugsmöglichkeiten des Wildes, insbesondere zum Schutz der Jungtiere sowie der sonstigen wild lebenden Tiere vor Beunruhigung, wird in der Samtgemeinde Jesteburg ein Wildschongebiet ausgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">(2) Die Fläche des Wildschongebietes umfasst die Feld- und Waldflächen sowie die Wirtschaftswege im Revier der Jagdgenossenschaft G. -O..</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">(3) Das Wildschongebiet ist in der anliegenden Karte im Maßstab 1 : 5000 dargestellt. Die Karte ist Bestandteil dieser Verordnung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">(4) Die Kennzeichnung des Wildschongebietes wird durch amtliche Beschilderung an den Zufahrts- und Zugangswegen durchgeführt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">§ 2</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt">Leinenzwang für Hunde</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">(1) innerhalb des in § 1 genannten Gebietes sind Hunde ganzjährig an der Leine zu führen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">(2) Die zulässige Höchstlänge der Leine beträgt 10 m.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">(3) Ausgenommen von der Pflicht nach Abs. 1 sind Hunde, die<br>a. zur befugten Jagdausübung … eingesetzt werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat gegen diese Verordnung am 9. Juni 2021 einen Normenkontrollantrag gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Zu dessen Begründung trägt er im Wesentlichen Folgendes vor: Aus betrieblichen Gründen sei er mit der Festlegung des Schongebietes nicht einverstanden. Er betreibe im Rahmen seines landwirtschaftlichen Betriebes u. a. eine Pferdehaltung und Pferdezucht mit der Ausbildung von Pferden. Zu der Ausbildung junger Pferde gehöre es, Ausritte mit freilaufenden Hunden zu unternehmen und die Ausbildungspferde an umherlaufende Hunde zu gewöhnen, da nur dann die Pferde später auch gewinnbringend verkauft werden könnten. Auf seinen Grünlandflächen innerhalb des Schongebietes und außerhalb seien Hindernisse fest eingebaut. Ausritte fänden auch auf abgeernteten Ackerflächen statt. Er organisiere auch regelmäßig Reitjagden mit dem P. Schleppjagdverein. Bei einer Reitjagd sei eine freilaufende Hundemeute gemeinsam mit den Reitern unterwegs. Dies alles finde auf den Wirtschaftswegen rund um die Hofstelle und insbesondere auf dem betrieblichen Wirtschaftsweg auf den Flurstücken L., J. und K. statt. Dieser Weg sei ein Privatweg und werde von der Hofstelle aus für sämtliche Ausritte und Reitjagden genutzt. Ein anderer Weg, der gleichermaßen gut geeignet sei für Ausritte mit Ausbildungspferden mit Begleithunden und für Reitjagden mit Hundemeute sei vor Ort nicht vorhanden. Der in der Verordnung festgelegte Leinenzwang schränke diese Möglichkeiten erheblich ein. Aus der angefochtenen Verordnung und der beigefügten Karte im Maßstab 1 : 5000 sei nicht ersichtlich, ob sich die Grenze des Schongebietes südlich oder nördlich des Wirtschaftsweges befinde und ob mithin der Wirtschaftsweg von der Verordnung erfasst sei. Denn der untere südliche Begrenzungsstrich auf der Karte befinde sich mitten auf dem Wirtschaftsweg oder südlich des Wirtschaftsweges. Die Karte, die neben der Linie mit der Beschriftung Wildschongebiet noch weitere Umrandungen enthalte, sei auch nicht mit einer Legende versehen und deshalb nicht ohne weiteres zu verstehen. Die vom Antragsgegner vor Ort aufgestellten Schilder zur Kennzeichnung des Schongebietes erfüllten nicht die Anforderungen aus dem Bestimmtheitsgebot. Der Verordnungstext lasse darauf schließen, dass im Widerspruch zur Karte das gesamte Jagdrevier betroffen sein solle. Eine Abgrenzung des Wildschongebietes ergebe sich aus dem Verordnungstext nicht. Die Verordnung sei daher insgesamt zu unbestimmt und aufzuheben. Außerdem sei die Verordnung eine unverhältnismäßige Regelung zu seinen Lasten. Hintergrund der Anordnung des Schongebietes sei, dass sein Wirtschaftsweg regelmäßig von Hundebesitzern aus dem nördlich angrenzenden Wohngebiet benutzt werde und der dortige Jagdpächter mit diesem Zustand nicht einverstanden gewesen sei. Um die Jagdausübung zu verbessern, sollten der Weg und die angrenzenden Felder sowie der nördlich angrenzende Wald bis zu den Wohnhäusern von den Hunden der Anwohner freigehalten werden. Durch die Hunde auf dem Wirtschaftsweg werde das Wild aus dem Gebiet der Jagdgenossenschaft in das große Waldgebiet des angrenzenden Landschaftsschutzgebietes Q. -Wald und Umgebung gedrängt. Es sei fraglich, ob die geringe Größe des Wildschutzgebietes überhaupt einen wesentlichen Beitrag zum Schutz der Rückzugsmöglichkeiten des Wildes oder sonstiger wild lebender Tiere vor Beunruhigung leisten könne. Zum Schutz der Rückzugsmöglichkeiten reiche es vielmehr, dass sich das Wild in das angrenzende Landschaftsschutzgebiet zurückziehen könne, wo eine ganzjährige Leinenpflicht für Hunde gelte. Eine weitere Rückzugsmöglichkeit in einem angrenzenden relativ klein dimensionierten Schongebiet sei daher nicht nötig. Soweit die Jagdgenossenschaft darauf hinweise, dass in dem Landschaftsschutzgebiet Rehwild intensiv gejagt werde und sich deshalb dort kein Rückzugsgebiet für Rehwild befinde, sei dies nicht wesentlich, da die Rechtsgrundlage in § 33 NWaldLG sich nicht allein auf den Schutz von Rehen, sondern auf den Schutz von allen Wildtieren beziehe. Er bestreite seinen Lebensunterhalt ausschließlich aus dem landwirtschaftlichen Betrieb und der Pferdehaltung als dessen wesentlichen Betriebsteil. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das Interesse des Jagdpächters, dass das Rehwild nicht durch Hunde in das angrenzende Landschaftsschutzgebiet abgedrängt werde, vorrangig sein solle gegenüber seinem betrieblichen Interesse an der möglichst uneingeschränkten Ausübung seiner Erwerbstätigkeit.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">die Verordnung über die Ausweisung eines Wildschongebietes in der Samtgemeinde Jesteburg vom 14. Mai 2020 für unwirksam zu erklären.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Antragsgegnerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">den Antrag abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus: Dem Antrag der Jagdgenossenschaft sei eine Versammlung der Jagdgenossenschaft am 5. April 2019 vorausgegangen, an der auch der Antragsteller teilgenommen habe. Die Versammlung habe dem Vorschlag der Errichtung eines Wildschongebietes mit einer ganzjährigen Anleinpflicht für Hunde einstimmig zugestimmt. Auch bei weiteren Versammlungen der Jagdgenossenschaft habe der Antragsteller keine Einwendungen erhoben. Die Ortslage schließe den betrieblichen Wirtschaftsweg des Antragstellers nicht mit ein. Der Weg sei im Privatbesitz des Antragstellers. Dort bestünden keinerlei Einschränkungen. Bei der Schleppjagd handele es sich nicht um eine rechtmäßige Jagdausübung im Sinne des Bundesjagdgesetzes, da es sich bei dieser um eine Jagd auf einer künstlich angelegten Fährte und nicht um eine Jagdausübung im Sinne des Bundesjagdgesetzes handele, die mit der Pflicht zur Hege verbunden sei. Der Schutz des Wildes sei höher anzusiedeln als das Interesse an der Durchführung einer Schleppjagd. Das Wildschongebiet sei in erster Linie eingerichtet worden, um zu verhindern, dass durch die Spaziergänger mit ihren freilaufenden Hunden zu viel Druck auf das Wild ausgeübt werde. Die der Verordnung beigefügte Karte diene der groben Visualisierung. Die von ihrem Bauhof vorgenommene amtliche Kennzeichnung sei eindeutig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Normenkontrollantrag hat Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>I. Der Antrag ist zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>1. Er ist gem. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 75 Niedersächsisches Justizgesetz (NJG) statthaft, da es sich bei der Verordnung über die Ausweisung eines Wildschongebietes in der Samtgemeinde Jesteburg vom 14. Mai 2020 um eine im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift handelt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>2. Der Antrag wurde fristgerecht, nämlich innerhalb der Jahresfrist des § 47 Abs. 2<br>Satz 1 VwGO gestellt. Denn die Verordnung ist in dem (elektronischen) Amtsblatt für den Landkreis Harburg vom 9. Juli 2020 bekannt gemacht worden. Der Antragsteller hat am 9. Juni 2021 den vorliegenden Antrag gestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>3. Der Antragsteller ist antragsbefugt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann – neben Behörden – jede natürliche oder juristische Person, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden, einen Normenkontrollantrag stellen. Der Antragsteller muss insoweit geltend machen und hinreichend substantiiert Tatsachen vortragen, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die angegriffene Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in einem subjektiven Recht verletzt wird (Senatsbeschluss vom 8.8.2018 – 10 KN 3/18 –, juris Rn. 24 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Danach ist hier die Antragsbefugnis des Antragstellers ohne Weiteres zu bejahen, da er zur Begründung der Möglichkeit einer Rechtsverletzung hinreichend konkret dargestellt hat, dass er im Rahmen seines landwirtschaftlichen Betriebes eine Pferdehaltung und Pferdezucht mit der Ausbildung von Pferden betreibt und zu letzterer Ausritte mit freilaufenden Hunden gehören, um die Pferde an umherlaufende Hunde zu gewöhnen. Diese Ausritte unternimmt er nach seinen Angaben vor allem auf dem Wirtschaftsweg, der das ausgewiesene Wildschongebiet südlich begrenzt und auf dem folglich auch die Leinenpflicht für Hunde gilt, sofern dieser nach der gemäß § 1 Abs. 3 der Verordnung maßgeblichen Karte von dem Schongebiet mitumfasst ist. Insofern spielt es keine Rolle, dass nach § 2 Abs. 3 a. der angefochtenen Verordnung und § 33 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 b) NWaldLG die Leinenpflicht nicht besteht für Hunde die zur befugten Jagdausübung eingesetzt werden, da es sich bei der Ausbildung der Pferde mit freilaufenden Hunden jedenfalls nicht um den Einsatz zur Jagdausübung handelt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>4. Daraus ergibt sich auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse für den von ihm gestellten Antrag. Denn wenn ein Antragsteller gem. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder verletzt zu werden, so ist regelmäßig auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse gegeben (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 29.09.2015 – 4 BN 25.15 –, juris Rn. 6). Dies ist auch nicht dadurch entfallen, dass der Antragsteller als Mitglied der Jagdgenossenschaft G. -O. bei den Versammlungen der Jagdgenossenschaft keine Einwendungen gegen die Ausweisung des Wildschongebiets erhoben hat. Denn dies hindert ihn unter keinem Gesichtspunkt an der Geltendmachung seiner Rechte zu einem späteren Zeitpunkt und lässt sein diesbezügliches Rechtsschutzinteresse nicht entfallen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>II. Der Normenkontrollantrag ist vollumfänglich begründet, weil die Verordnung gegen höherrangiges Recht verstößt und dies zu ihrer Gesamtunwirksamkeit führt, weil die Voraussetzungen einer Teilunwirksamkeit insoweit nicht vorliegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>1. Die auf § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 NWaldLG und §§ 10 Abs. 6, 58 Abs. 1 Nr. 5 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes (NKomVG) gestützte Verordnung der Antragsgegnerin verstößt bereits durch die fehlende Veröffentlichung der nach § 1 Abs. 3 der Verordnung maßgeblichen Karte im Originalmaßstab gegen den hier entsprechend anzuwendenden § 11 NKomVG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Nach § 10 Absätze 1 und 6 NKomVG können Kommunen – wie die Antragsgegnerin – ihre Angelegenheiten durch eine Verordnung regeln. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 NWaldLG können die Feld- und Forstordnungsbehörden, deren Aufgaben die Gemeinden nach § 43 Abs. 2 Satz 1 NWaldLG wahrnehmen, durch Verordnung bestimmen, dass Hunde in der freien Landschaft auch außerhalb der Zeit vom 1. April bis zum 15. Juli (allgemeine Brut-, Setz- und Aufzuchtzeit) an der Leine zu führen sind zum Schutz der Rückzugsmöglichkeiten des Wildes oder sonstiger wild lebender Tiere vor Beunruhigung durch Festlegung von Schongebieten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 NKomVG ist die Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften unbeachtlich, wenn sie nicht innerhalb eines Jahres seit Verkündung der Satzung gegenüber der Kommune geltend gemacht worden ist. Dies gilt jedoch nach § 10 Abs. 2 Satz 3 NKomVG nicht, wenn die Vorschriften über die Genehmigung oder die Verkündung der Satzung verletzt worden sind. Die Regelungen des Absatzes 2 gelten nach § 10 Abs. 6 NKomVG auch für Verordnungen der Kommune entsprechend.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 NKomVG erfolgt die Verkündung nach Maßgabe näherer Bestimmung durch die Hauptsatzung in einem amtlichen Verkündungsblatt (1.), in einer örtlichen Tageszeitung (2.) oder in einem im Internet bereitgestellten elektronischen amtlichen Verkündungsblatt der Kommune (3.). Kreisangehörige Gemeinden und Samtgemeinden können nach § 11 Abs. 4 Satz 1 NKomVG durch ihre Hauptsatzung bestimmen, dass ihre Satzungen in dem gedruckten oder elektronischen amtlichen Verkündungsblatt des Landkreises verkündet werden. Sind Pläne, Karten oder Zeichnungen Bestandteile von Satzungen, so kann die Verkündung dieser Teile nach § 11 Abs. 5 Satz 1 NKomVG dadurch ersetzt werden, dass sie bei der Kommune während der Dienststunden öffentlich ausgelegt werden und in der Verkündung des textlichen Teils der Satzungen auf die Dauer und den Ort der Auslegung hingewiesen wird (Ersatzverkündung). Die Ersatzverkündung ist nur zulässig, wenn der Inhalt der Pläne, Karten oder Zeichnungen im textlichen Teil der Satzungen in groben Zügen beschrieben wird (§ 11 Abs. 5 Satz 2 NKomVG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Diese Bestimmungen gelten nach § 11 Abs. 7 Satz 1 NKomVG entsprechend für Verordnungen der Kommunen „nach diesem Gesetz“, also nach dem NKomVG. Danach werden zwar in anderen Rechtsvorschriften angeordnete öffentliche Bekanntmachungen von dieser Regelung nicht erfasst. Soweit dort jedoch – wie hier für den Erlass von Verordnungen nach § 33 Abs. 2 Satz 1 NWaldLG – keine gesonderten Vorgaben bestehen, gilt § 11 NKomVG entsprechend (Wefelmeier in KVR-NKomVG, § 11 Rn. 48 zu § 11 Abs. 6 Satz 1 NKomVG a. F. = § 11 Abs. 7 Satz 1 NKomVG n. F.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 der angefochtenen Verordnung ist das Wildschongebiet in der anliegenden Karte im Maßstab 1 : 5000 dargestellt. Nach Satz 2 dieser Bestimmung ist die Karte Bestandteil der Verordnung. Im Amtsblatt für den Landkreis Harburg Nr. 28 vom 9. Juli 2020, in dem die Verordnung auf den Seiten 708-710 bekannt gemacht worden ist, ist jedoch keine Karte im Maßstab 1 : 5000 veröffentlicht worden. Es ist demnach ein wesentlicher Teil der Verordnung nicht entsprechend den Vorschriften des § 11 NKomVG verkündet worden. Denn auf der Seite 710 des Amtsblatts befindet sich statt der Karte im Maßstab 1 : 5000 eine Karte im Maßstab 1 : 12.500, die ein Auszug aus der amtlichen Karte 1 : 5000 sein soll. Die zum Bestandteil einer Verordnung erklärte Karte ist jedoch maßstabgetreu zu veröffentlichen, weil nur eine maßstabidentische Abbildung die Originalkarte wiedergibt. Die Verkleinerung einer Schongebietskarte ist daher keine vorschriftsgemäße Veröffentlichung (ebenso BayVGH, Beschluss vom 18.2.1991 – 9 N 90.796 –, juris Rn. 22, zur Veröffentlichung einer Schutzgebietskarte betreffend Naturdenkmale; vgl. ferner Niedersächsisches OVG, Urteil vom 20.11.2012 – 4 KN 16/11 –, juris Rn. 26). Da eine Ersatzverkündung nach § 11 Abs. 5 NKomVG hier nicht stattgefunden hat, ist die Verordnung folglich nicht entsprechend § 11 NKomVG ordnungsgemäß verkündet worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Bereits aus diesem Grund ist die Verordnung in vollem Umfang unwirksam, da von der fehlerhaften Verkündung der den räumlichen Geltungsbereich gemäß § 1 Abs. 3 der Verordnung festlegenden Karte die gesamte Verordnung erfasst ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>2. Außerdem verstößt die Darstellung des räumlichen Geltungsbereichs der Verordnung gegen den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergebenden Bestimmtheitsgrundsatz (vgl. BVerwG, Urteil vom 5.2.2009 – 7 CN 1.08 –, juris Rn. 24). Dagegen verstößt ein Normgeber, wenn es wegen der Unbestimmtheit der Norm nicht mehr möglich ist, objektive Kriterien zu gewinnen, die eine willkürliche Handhabung durch die Behörden und Gerichte ausschließen. Aus dem Inhalt der Rechtsvorschrift muss sich mit ausreichender Bestimmtheit ermitteln lassen, was von den pflichtigen Personen verlangt wird (BVerwG, Urteil vom 16.6.1994 – 4 C 2.94 –, juris Rn. 8). Der räumliche Geltungsbereich kann im Falle von Satzungen oder Rechtsverordnungen, die nur für Teilbereiche im Hoheitsgebiet des Satzungs- oder Verordnungsgebers Rechte und Pflichten begründen sollen, in der Regel nur durch genaue Beschreibung des Grenzverlaufs, katastermäßige Bezeichnungen oder die Eintragung der Grenzlinie in einer Karte hinreichend genau festgelegt werden (BVerwG, Urteil vom 16.6.1994 – 4 C 2.94 –, juris Rn. 14).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Diesen Anforderungen genügt die angefochtene Verordnung im Hinblick auf die Bestimmung ihres räumlichen Geltungsbereichs nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>In den von der Antragsgegnerin vorgelegten (Bl. 31 und 32 der Gerichtsakte), jedenfalls in einem (etwas) kleineren Maßstab als 1 : 5000 dargestellten Karten ist das Wildschongebiet von einem ca. 2 mm breiten Begrenzungsstrich eingefasst. Dieser Begrenzungsstrich liegt im Süden des Gebiets mitten auf dem Wirtschaftsweg des Antragstellers, der von diesem für Ausritte mit freilaufenden Hunden genutzt wird. Auch östlich des Gebiets liegt der Strich mitten auf einem Weg. Dies gilt erst recht für die nach dem oben Gesagten fehlerhafterweise nicht im Originalmaßstab veröffentlichte, aber nach § 1 Abs. 3 der Verordnung maßgebliche Karte im Maßstab 1 : 5000, weil in dieser der Begrenzungsstrich noch undeutlicher zu erkennen ist und mit zunehmend größerem Maßstab die Wege nahezu völlig von dem Begrenzungsstrich abgedeckt sind, wie die ferner von der Antragsgegnerin vorgelegte Karte (Blatt 33 der Gerichtsakte) zeigt. Nach der Kartenlage ist folglich unklar, ob die Innenkante oder die Außenkante des Begrenzungsstrichs maßgebend ist. Wäre dessen Innenkante maßgeblich, wären diese Wege nicht vom Wildschongebiet umfasst, soll jedoch die Außenkante maßgeblich sein, lägen die Wege - jedenfalls überwiegend - in diesem Gebiet. Für Letzteres spricht, dass nach der Zielsetzung der Verordnung verhindert werden soll, dass Spaziergänger auf diesen Wegen ihre Hunde freilaufen lassen, die von dort aus in das Gebiet eindringen und das dort befindliche Wild beunruhigen oder gar verdrängen können. Außerdem sollen nach § 1 Abs. 2 der Verordnung gerade auch die Wirtschaftswege im Revier der Jagdgenossenschaft vom Schongebiet umfasst sein. Im Widerspruch hierzu hat die Antragsgegnerin im Rahmen der Antragserwiderung ausgeführt, dass die Ortslage den betrieblichen Wirtschaftsweg des Antragstellers nicht umfasse, weil es sich um einen Privatweg des Antragstellers handele. Der Umstand, dass es sich bei dem betrieblichen Wirtschaftsweg auf den Flurstücken L., J. und K. am Südrand des Wildschongebiets um einen Privatweg handelt, steht seiner Einbeziehung in das Schongebiet jedoch gerade nicht entgegen. Denn nach § 33 Abs. 2 Satz 1 NWaldLG kann die Leinenpflicht für Hunde in der freien Landschaft durch Verordnung angeordnet werden. Zur freien Landschaft gehören nach § 2 Abs. 1 Satz 1 NWaldLG die Flächen des Waldes und der übrigen freien Landschaft, auch wenn die Flächen innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile liegen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 NWaldLG sind Bestandteile dieser Flächen auch die zugehörigen Wege und Gewässer. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 NWaldLG gehören Straßen und Wege nur dann nicht zur freien Landschaft, soweit sie aufgrund straßengesetzlicher Regelung für den öffentlichen Verkehr bestimmt sind, was hier im Falle des Privatwegs des Antragstellers offenbar nicht der Fall ist. Mithin gehört der genannte Privatweg des Antragstellers zur freien Landschaft, die nach § 23 Abs. 1 NWaldLG grundsätzlich von jedem Menschen betreten, d. h. unter anderem begangen und beritten (§ 23 Abs. 3 NWaldLG) werden kann, und in der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 NWaldLG die Leinenpflicht in festgelegten Schongebieten ganzjährig angeordnet werden kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt ergeben sich daher keine Hinweise dafür, ob die Innenkante oder die Außenkante des Begrenzungsstrichs in der maßgeblichen Karte im Maßstab 1 : 5000 maßgeblich ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Es lassen sich hier daher keine objektiven Kriterien für die Grenzziehung gewinnen, die eine willkürliche Handhabung durch die Behörde ausschließen. Es reicht deshalb auch nicht, dass die Beschilderung vor Ort hinreichend klar sein soll. Denn maßgeblich ist nach der Verordnung selbst die Darstellung des Gebiets in der Karte, die jedoch insoweit nicht hinreichend aufschlussreich ist und damit eine willkürliche Handhabung durch die Behörde vor Ort etwa bei der Aufstellung der Schilder ermöglicht. Die Darstellung in der Karte mit einem relativ dicken Begrenzungsstrich wäre dagegen ausreichend, wenn der Verordnungstext klarstellen würde, ob die Innen- oder die Außenkante des Strichs maßgeblich sein soll (vgl. hierzu BayVGH, Beschluss vom 18.2.1991 – 9 N 90.796 –, juris Rn. 21, und VG Meiningen, Urteil vom 18.2.2015 – 5 K 525/12 ME –, juris Rn. 30). Eine solche textliche Beschreibung fehlt hier jedoch in der angefochtenen Verordnung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Eine hinreichende Bestimmtheit des räumlichen Geltungsbereichs der Verordnung ergibt sich auch nicht aus dem Verordnungstext. Dazu heißt es in § 1 Abs. 2 der Verordnung, dass die Fläche des Wildschongebietes die Feld- und Waldflächen sowie die Wirtschaftswege im Revier der Jagdgenossenschaft G. -O. umfasst. Doch es ist völlig unklar, was mit „im Revier der Jagdgenossenschaft“ gemeint ist. Der Wortlaut könnte für sämtliche Feld- und Waldflächen sowie Wirtschaftswege im gesamten Revier der Jagdgenossenschaft sprechen. Es kann aber auch ebenso nur ein Teil des Gebiets mit „im Revier“ gemeint sein, der von der beizufügenden Karte erfasst ist. Da die Reviergrenzen in der Karte nicht dargestellt oder zumindest (mangels Legende) nicht erkennbar sind, liefert auch der Verordnungstext in Verbindung mit der Karte keine hinreichenden Hinweise auf den räumlichen Geltungsbereich der Verordnung. Der Verordnungstext ist insoweit derart unklar, dass auch die Anforderungen nach § 11 Abs. 5 Satz 2 NKomVG an eine Ersatzverkündung nicht erfüllt wären, da das Erfordernis der textlichen Grobbeschreibung des Inhalts von Karten nur dann erfüllt ist, wenn die Gebietsgrenzen im Verordnungstext selbst grob beschrieben werden und diese Gebietsbeschreibung auch ohne Zuhilfenahme von Karten aus sich heraus verständlich ist (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 20.11.2012 – 4 KN 16/11 –, juris Rn. 27), was hier nicht der Fall ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>3. Der mithin vorliegende Verstoß gegen die oben dargestellten Bekanntmachungsvorschriften und gegen das Bestimmtheitserfordernis hat die Unwirksamkeit der gesamten Verordnung zur Folge, so dass nicht mehr entscheidungserheblich ist, ob die Verordnung der Antragsgegnerin materiell-rechtlich mit höherrangigem Recht im Einklang steht. Da aber nicht ausgeschlossen ist, dass die Antragsgegnerin eine inhaltlich gleichlautende Verordnung unter Beachtung der oben genannten Erfordernisse erlassen wird, weist der Senat zur Klarstellung darauf hin, dass die Verordnung der Antragsgegnerin in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden sein dürfte, wobei der Senat davon ausgeht, dass die Verordnung sich auch auf den Wirtschaftsweg des Antragstellers auf den Flurstücken L., J. und K. am Südrand des Wildschongebiets erstrecken soll.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 NWaldLG können die Feld- und Forstordnungsbehörden, deren Aufgaben die Gemeinden wahrnehmen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 NWaldLG), durch Verordnung bestimmen, dass Hunde in der freien Landschaft auch außerhalb der Zeit vom 1. April bis zum 15. Juli an der Leine zu führen sind zum Schutz der Rückzugsmöglichkeiten des Wildes oder sonstiger wild lebender Tiere vor Beunruhigung durch Festlegung von Schongebieten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Nach dem Wortlaut müssen für eine Verordnung nach dieser Vorschrift lediglich zwei Voraussetzungen erfüllt sein (siehe hierzu ausführlich unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien und der Gesetzessystematik sowie unter Auseinandersetzung mit der Kommentarliteratur Niedersächsisches OVG, Urteil vom 20.11.2012 – 4 KN 16/11 –, juris Rn. 29-35):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Zum einen müssen Wild oder sonstige wild lebende Tiere in der freien Landschaft, für die die Anleinpflicht für Hunde auch außerhalb der Zeit vom 1. April bis zum 15. Juli bestehen soll, vorhanden sein. Dies ist hier der Fall. Denn nach dem Schreiben der Jagdgenossenschaft G. -O. an die Antragsgegnerin vom 27. August 2019 befinden sich auf der Fläche Rehe, Hasen und Kaninchen, wobei der Rehbestand innerhalb von drei Jahren von 36-38 Stück auf 7-8 Stück wegen der zunehmenden Zahl von freilaufenden Hunden zurückgegangen ist. Diesen konkreten und glaubhaften Angaben hat auch der Antragsteller nicht widersprochen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>Zum anderen muss die Verordnung dem Schutz der Rückzugsmöglichkeiten des Wildes oder dem Schutz sonstiger wild lebender Tiere vor Beunruhigung dienen. Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Denn wo Wild oder sonstige wild lebende Tiere sich aufhalten, liegt es auf der Hand, dass diese durch freilaufende Hunde, die zudem häufig über einen Jagdinstinkt verfügen, in ihren Rückzugsmöglichkeiten beeinträchtigt bzw. erheblich beunruhigt werden. Hinzu kommt, dass das "Streunen oder Wildern" frei laufender Hunde von den Hundehaltern keineswegs immer wirksam unterbunden wird, wie dies § 33 Abs. 1 Nr. 1 a) NWaldLG fordert, bzw. in bestimmten Situationen wegen des zuweilen schwer kontrollierbaren Jagdinstinkts ihrer Hunde auch nicht immer verhindert werden kann. Außerdem verhalten sich manche Hundehalter diesbezüglich ohnehin gleichgültig, sofern sie nicht durch die Jägerschaft oder die Feld- und Forstordnungsbehörden zu einer verstärkten Aufsicht über ihre Hunde angehalten werden, was angesichts der Vielzahl der Hundehalter nur in verhältnismäßig wenigen Fällen möglich sein dürfte (ebenso Niedersächsisches OVG, Urteil vom 20.11.2012 – 4 KN 16/11 –, juris Rn. 32). Hier hat sich ein Teil der Hundehalter nach dem genannten Schreiben der Jagdgenossenschaft vom 27. August 2019 zudem auch auf persönliche Ansprache uneinsichtig gezeigt und sich geweigert, die Hunde anzuleinen. Es ist daher ohne weiteres nachvollziehbar und glaubhaft, dass von täglich 8-10 freilaufenden Hunde wochentags und 20-30 freilaufenden Hunden am Wochenende, die nicht nur auf den Wegen, sondern auch im Wald und auf den Grünflächen, die Äsungsflächen für die Rehe sind, umherlaufen, eine erhebliche Beunruhigung der Wildtiere ausgeht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>Eine darüber hinausgehende Gefahr etwa für den Bestand des Wildes oder sonstiger wild lebender Tiere auf den geschützten Flächen der freien Landschaft ist nicht erforderlich. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Lebensraum für unter Schutz gestellte Tiere oder besondere Zufluchtsstätten frei lebender Tiere betroffen sind (siehe hierzu ausführlich Niedersächsisches OVG, Urteil vom 20.11.2012 – 4 KN 16/11 –, juris Rn. 33-35).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>Dies bedeutet allerdings nicht, dass die gesamte freie Landschaft einer Kommune uneingeschränkt als Wildschongebiet nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 NWaldLG festgelegt werden kann. Denn bei der Entscheidung über den Erlass der Verordnung, die im ortsgesetzgeberischen Ermessen steht, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Dabei ist der öffentliche Belang des Schutzes der Rückzugsmöglichkeiten des Wildes und der sonstigen wild lebenden Tiere vor Beunruhigung abzuwägen gegen das Interesse der Hundehalter, ihre Hunde frei laufen zu lassen, um deren natürlichem Bedürfnis nach zumindest gelegentlichem freien Auslauf, also nach ungehinderter Bewegung und Spiel (auch) mit anderen Hunden, dem nicht immer auf privaten Grundstücksflächen ausreichend Rechnung getragen werden kann, nachzukommen (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 20.11.2012 – 4 KN 16/11 –, juris Rn. 36). Da hier offenbar nur ein relativ kleiner Teil der Samtgemeindefläche als Wildschongebiet ausgewiesen werden soll, mithin noch erhebliche Flächen freier Landschaft vorhanden sein dürften, die nicht von der Verordnung (und auch nicht von dem angrenzenden Landschaftsschutzgebiet Q. -Wald, in dem es nach § 4 r) der Verordnung des Landkreises Harburg über das Landschaftsschutzgebiet Q. -Wald und Umgebung vom 17. September 1990 verboten ist, Hunde frei laufen lassen) erfasst sind und auf denen die Hundehalter ihren Hunden daher außerhalb der allgemeinen Brut-, Setz- und Aufzuchtzeit vom 1. April bis zum 15. Juli freien Auslauf gewähren können, bestehen unter diesem Gesichtspunkt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Verordnung gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt. Zumal im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als öffentlicher Belang auch zu berücksichtigen ist, dass nach den glaubhaften Angaben in dem genannten Schreiben der Jagdgenossenschaft vom 27. August 2019 die Störungen durch freilaufende Hunde zu einer deutlichen Beeinträchtigung und insbesondere beim Rehwild zu einem erheblichen Rückgang des Wildbestandes in dem durch die Verordnung ausgewiesenen Schongebiet geführt haben und das Rehwild durch den hohen Jagddruck im benachbarten Q. -Wald auch dort keine ausreichenden Rückzugsmöglichkeiten findet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Letzterer Gesichtspunkt dürfte auch gegenüber den vom Antragsteller geltend gemachten betrieblichen Belangen hinsichtlich der Nutzung des Wirtschaftswegs auf den Flurstücken L., J. und K. nach dem gegenwärtig bekannten Sachverhalt überwiegen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Da es sich um einen Privatweg des Antragstellers auf in seinem Eigentum stehenden Flächen handelt, sind zwar auch dessen betriebliche Interessen an der uneingeschränkten Nutzung dieses Weges zu berücksichtigen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gegenüber den genannten öffentlichen Belangen abzuwägen. Doch abgesehen davon, dass die Sozialbindung seines Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 GG auch und insbesondere für Flächen der freien Landschaft, die von jedem betreten werden können, gilt und er die sich daraus ergebenden Einschränkungen der Nutzung seines Eigentums grundsätzlich hinzunehmen hat, hat der Antragsteller lediglich pauschal behauptet, dass ein anderer Weg oder andere Flächen, die gleichermaßen gut geeignet seien für Ausritte mit Ausbildungspferden mit Begleithunden und für Reitjagden mit Hundemeute vor Ort nicht vorhanden seien. Er hat nicht konkret dargelegt, aus welchen Gründen die übrigen Wirtschaftswege und insbesondere die Pferdeweiden um seine Hofstelle, die sich (auch) um seine künftige, im Südosten des Wildschongebiets befindliche Hofstelle erstrecken sollen, sowie freie oder eingezäunte Grünlandflächen und abgeerntete Ackerflächen, die nicht im Schongebiet liegen, hierfür nicht oder nicht ausreichend geeignet sein sollen, und er auch sonst keine (hinreichenden) Möglichkeiten hat, die von ihm zu trainierenden Pferde an freilaufende Hunde zu gewöhnen, wie etwa die Nutzung von Flächen, die nicht in seinem Eigentum stehen. Er hat folglich nicht dargelegt, (zwingend) auf die Nutzung des betrieblichen Wirtschaftsweges auf den Flurstücken L., J. und K. angewiesen zu sein. Dabei geht der Senat davon aus, dass es lediglich darum geht, die Pferde an freilaufende Hunde zu gewöhnen, dies ohne weiteres auf nahezu jeder Fläche stattfinden kann und der Antragsteller daher entgegen seiner Behauptung nicht auf das Training auf einem Wirtschaftsweg in der freien Landschaft angewiesen ist. Insofern ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller seinen Wirtschaftsweg auf den Flurstücken L., J. und K., der nach dem oben Gesagten Bestandteil der freien Landschaft ist, gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 b) NWaldLG jedenfalls nicht in der Zeit vom 1. April bis zum 15. Juli für Ausritte mit freilaufenden Hunden nutzen darf, er also in diesem Zeitraum ohnehin Trainingsmöglichkeiten auf bzw. bei seiner Hofstelle (beispielsweise eingezäunte Wiesen) oder bei anderen Hofstellen außerhalb der freien Landschaft nutzen muss.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Im Übrigen dürften die privaten Interessen des Antragstellers an der Durchführung von Reitjagden mit Hundemeuten – sofern es sich bei diesen nicht um den Einsatz von Hunden zur rechtmäßigen Jagdausübung handelt, für die die Leinenpflicht nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 b) und Abs. 2 Satz 2 NWaldLG und § 2 Abs. 3 a. der Verordnung nicht gilt – als bloße Freizeitbeschäftigung bzw. Sportausübung gegenüber den erheblichen, hier für den Leinenzwang sprechenden öffentlichen Belangen in jedem Fall nachrangig sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Soweit die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass gerade bei den Schleppjagden der Ernstfall des Einsatzes der Pferde mit freilaufenden Hunden trainiert werde, ist zum einen schon nicht ersichtlich, dass die nur zweimal im Jahr durchgeführten Schleppjagden einen nennenswerten Beitrag für das Training der Pferde leisten. Zum anderen sind die Schleppjagden ohnehin nur in einem geringen Umfang durch das Wildschongebiet betroffen. Denn der Wirtschaftsweg des Antragstellers am Südrand des Wildschongebiets bildet nach den Angaben der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers in der mündlichen Verhandlung mit wenigen 100 Metern Länge nur einen kleinen Teil der gesamten Jagdstrecke. Im Übrigen bleibt es dem Antragsteller unbenommen, mit seinen Pferden zu Trainingszwecken an Schleppjagden an anderen Örtlichkeiten teilzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>Aufgrund dieses Sachverhalts bestehen nach allem weder Anhaltspunkte für eine Verletzung der Berufsausübungsfreiheit des Antragstellers nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG noch für eine Verletzung seines Eigentumsrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG durch eine unverhältnismäßige Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten seines privaten Wirtschaftswegs auf den Flurstücken 14/8, 14/5 und 14/6.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.</p></dd>
</dl>
</div></div>
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346,949 | ovgnrw-2022-09-14-15-a-283417 | {
"id": 823,
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} | 15 A 2834/17 | 2022-09-14T00:00:00 | 2022-10-15T10:01:39 | 2022-10-17T11:11:09 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0914.15A2834.17.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufung wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Erhebung eines Erschließungsbeitrags für die erstmalige Herstellung einer Teilstrecke der N.----straße zwischen der T.-------straße und der L.-----straße in C. .</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist Eigentümerin einer aus 14 Flurstücken bestehenden, 13.885 qm großen Fläche, die im Süden an die N.----straße , im Westen an die T.-------straße und im Norden teils unmittelbar an die K.-----------straße und teils - von dieser zurückspringend - an ein mit Wohnblocks bebautes Grundstück grenzt. Diese in der Flur 51 der Gemarkung C. gelegenen Flurstücke werden seit dem 23. Juli 2007 im Grundbuch von C. , Blatt 12229, gemeinsam unter der laufenden Nummer 24 geführt. Auf dem mit mehreren Gebäuden bebauten Grundstück befindet sich ein Betrieb zur Arzneimittelherstellung. Es liegt im Geltungsbereich des im Jahr 1999 in Kraft getretenen Bebauungsplans Nr. II/2/54.00 (N.----straße -West), der für den nordwestlichen, 2.119 qm umfassenden Teil der Grundstücksfläche Mischgebiet, im Übrigen Gewerbegebiet festsetzt. Baugrenzen sind nicht vorgesehen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die N.----straße verläuft von der T1.-------straße im Westen bis zur T2. Straße im Osten in etwa in West-Ost-Richtung. Der technische Straßenbau der hier abgerechneten Teilstrecke der N.----straße zwischen T.-------straße und L.-----straße wurde ausweislich des vorliegenden Protokolls am 5. September 1996 abgenommen und - nach Mängelbeseitigung - am 10. September 1996 endgültig abgeschlossen. Nach Fassung eines Kostenspaltungsbeschlusses zog die Beklagte die Anlieger im Jahr 1999 unter Zurückstellung des seinerzeit noch nicht abgeschlossenen Grunderwerbs zu Erschließungsbeiträgen heran. In den Folgejahren bemühte sich die Beklagte letztlich erfolgreich um den Erwerb der noch nicht in ihrem Eigentum stehenden Straßenflächen. Zuletzt wurde das Eigentum an dem Flurstück 289, das teilweise im Bereich der Straßenfläche liegt, am 2. Januar 2012 auf die Beklagte umgeschrieben.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 7. Oktober 2013 zog die Beklagte die Klägerin hinsichtlich der Grunderwerbskosten zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 69.776,92 Euro heran. Diesen Bescheid hob das Verwaltungsgericht Minden durch Urteil vom 23. Juni 2015 (5 K 3518/13) mit der Begründung auf, dass die sachliche Beitragspflicht mangels Abschluss des Grunderwerbs noch nicht entstanden sei. Es fehle an der Vermessung und Abschreibung der der Erschließung dienenden Teilflächen der für den Straßenbau erworbenen Grundstücke (insbesondere der Flurstücke 289 und 738).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">In der Folge ließ die Beklagte diejenigen Teilflächen der Flurstücke 289, 738, 1271 und 1277, die in der festgesetzten Verkehrsfläche liegen, vermessen und abschreiben. Während die aus dem Flurstück 289 neu gebildeten Flurstücke 1337 und 1338 am 4. Februar 2016 und die aus dem Flurstück 738 neu gebildeten Flurstücke 945 und 946 am 1. Februar 2016 in das Grundbuch eingetragen wurden, sah die Beklagte hinsichtlich der aus den Flurstücken 1271 und 1277 neu gebildeten Flurstücke 1335 und 1336 bzw. 1339 und 1340 (zunächst) von einer Eintragung in das Grundbuch ab. Für diese erteilte das Katasteramt der Beklagten Flurstücks- und Eigentumsnachweise, in denen auf die Befreiung von der Buchungspflicht nach § 3 Abs. 2 GBO Bezug genommen wird.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 19. September 2016 zog die Beklagte die Klägerin hinsichtlich der Grunderwerbskosten zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 68.749,30 Euro heran. Dabei wendete sie auf diejenigen Flächen, für die im Bebauungsplan Mischgebiet festgesetzt ist, einen Art- und Maßzuschlag von 115 v. H. sowie auf die im festgesetzten Gewerbegebiet liegenden Flächen einen Zuschlag von 280 v. H. an.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Am 19. Oktober 2016 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt: Die Beitragspflicht sei nach wie vor nicht entstanden, weil der Grunderwerb immer noch nicht vollständig abgeschlossen sei. Soweit Teilflächen von zuvor im Grundbuch verzeichneten Grundstücken ausgebucht worden seien, hätten diese Ausbuchungen im Grundbuch in den Veränderungsnachweisen vermerkt werden müssen, um eine Übereinstimmung von Kataster und Grundbuch herzustellen. Dessen ungeachtet sei die Bemessung des Beitrags fehlerhaft. Die Beklagte habe zu Unrecht die einzelnen in ihrem Eigentum stehenden Flurstücke zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengefasst. Der Bebauungsplan enthalte eine auffällige Trennlinie, die eine wirtschaftliche Einheit von bebauten und unbebauten Grundstücken ausschließe. Fehlerhaft sei auch der Zuschlag für sechsgeschossige Bebaubarkeit. Nach dem Bebauungsplan sei das Grundstück nur teilweise sechsgeschossig bebaubar. Für das Flurstück 1252 sei durch eine baurechtliche Befreiung aus dem Jahr 1987 lediglich eine fünfgeschossige Bebauung zugelassen worden. Weiterhin seien zahlreiche Flurstücke nicht durch die N.----straße erschlossen, da sie durch auf anderen Flurstücken errichtete Baukörper von dieser getrennt seien. Die nach dem Bebauungsplan im Mischgebiet gelegenen Flächen seien nicht als faktisches Gewerbegebiet im Sinne von § 4 Abs. 9 der Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen der Stadt C. vom 14. Juni 2010 (im Folgenden: Erschließungsbeitragssatzung - EBS -) anzusehen. Außerdem sei ihr zu Unrecht die sog. Eckgrundstücksvergünstigung vorenthalten worden. Die Beitragserhebung verstoße zudem gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, weil der wirtschaftliche Vorteil durch die Straßenbaumaßnahme bereits mit deren technischem Abschluss vor mehr als 20 Jahren eingetreten sei. Schließlich seien der Beklagten Rechenfehler unterlaufen. Nach deren eigenen Vorgaben sei der festgesetzte Erschließungsbeitrag für die im Gewerbegebiet liegenden Flächen um ca. 0,0115 Euro und für die im Mischgebiet liegenden Flächen um ca. 26,99 Euro überhöht.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte den streitbefangenen Erschließungsbeitrag um 16,89 Euro auf 68.732,41 Euro reduziert. Insoweit haben die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">den streitbefangenen Erschließungsbeitragsbescheid der Beklagten vom 19. September 2016 in der Gestalt der Reduzierung vom 19. September 2017 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat sie vorgetragen, die sachliche Beitragspflicht sei mit dem Abschluss des Grunderwerbs entstanden. Die zur Verkehrsfläche gehörenden Flächen seien ausparzelliert und von ihrem übrigen Grundvermögen getrennt worden. Die neu entstandenen Flurstücke 1335 und 1339 seien dabei nicht in das Grundbuch eingetragen worden, weil diese Flächen nach § 3 Abs. 2 GBO von der Buchungspflicht befreit und auch zuvor nicht im Grundbuch geführt worden seien. Anders als Flurstücke, die von Privaten erworben würden und deshalb schon im Grundbuch verzeichnet seien, würden Wegeparzellen, die schon seit längerer Zeit im Eigentum der Stadt stünden und als öffentliche Verkehrsfläche gewidmet seien, häufig nicht im Grundbuch gebucht.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die vom Heranziehungsbescheid erfassten Flurstücke der Klägerin bildeten eine wirtschaftliche Einheit, da sie im Grundbuch unter einer laufenden Nummer verzeichnet seien. Darüber hinaus würden sie auch einheitlich für gewerbliche Zwecke genutzt. Der durch die N.----straße vermittelte Erschließungsvorteil erfasse die gesamte Grundstücksfläche. Auf die Erreichbarkeit sämtlicher Teile des Grundstücks von dort aus komme es nicht an, zumal eine dafür hinderliche Bebauung im Einflussbereich der Eigentümerin liege. Das einheitliche Grundstück sei nach § 4 Abs. 7 EBS mit einem Zuschlag für sechsgeschossige Bebaubarkeit in die Verteilung einzubeziehen, weil mit Befreiungsbescheid vom 10. September 1987 für eine Teilfläche eine Aufstockung auf fünf Obergeschosse genehmigt worden sei und sich mit dem Erdgeschoss insgesamt sechs Vollgeschosse ergäben. Der Artzuschlag nach § 4 Abs. 3 EBS sei auf die im Gewerbegebiet gelegenen Flächen des Grundstücks beschränkt worden, weil die Satzung einen derartigen Zuschlag für Mischgebiete nicht vorsehe. Eine Eckgrundstücksvergünstigung komme auch für die im Mischgebiet gelegene Teilfläche nicht in Betracht, weil diese so weit von der Erschließungsanlage entfernt liege, dass sie nach § 5 Abs. 2 EBS selbst dann keine Vergünstigung erhalten würde, wenn das gesamte Grundstück im Mischgebiet läge. Die Berechnung des Erschließungsbeitrags sei tatsächlich zu Lasten der Klägerin fehlerhaft, und zwar in Höhe von 16,89 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 17. September 2017 abgewiesen. Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Bescheides seien §§ 127 ff. BauGB i. V. m. der Erschließungsbeitragssatzung (EBS) der Beklagten. Gemäß § 133 Abs. 2 BauGB entstehe die sachliche Beitragspflicht mit der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage. Gemäß § 7 Abs. 1 Buchst. a EBS setze die endgültige Herstellung von Straßen u. a. voraus, dass die Stadt Eigentümerin der Flächen für die Erschließungsanlagen sei. Dieses Herstellungsmerkmal sei aber nicht bereits dann erfüllt, wenn die Straßenfläche im zivilrechtlichen Eigentum der Gemeinde stehe, sondern erst dann, wenn die der Erschließung dienende Fläche vermessen, von den anderen Grundstücken abgeschrieben und die Gemeinde als Eigentümerin der so getrennten Flächen im Grundbuch eingetragen sei. In diesem Sinne sei der Grunderwerb nunmehr abgeschlossen, weil die Beklagte bei sämtlichen Grundstücken, deren Fläche nur teilweise zur Erschließungsanlage gehört hatte, die entsprechenden Teilflächen vermessen und abgeschrieben habe. Zwar habe sie nur die aus den vormaligen Flurstücken 289 und 738 herausgetrennten neuen Flurstücke 1338 (Blatt 44078) und 946 (Blatt 44079) unter ihrer Eigentümerstellung in das Grundbuch eintragen lassen, nicht aber die aus den vormaligen Flurstücken 1271 und 1277 herausgetrennten neuen Flurstücke 1335 und 1339. Dies stehe dem Abschluss des Grunderwerbs aber nicht entgegen. Das Herstellungsmerkmal „Eigentümerin der Flächen für die Erschließungsanlagen“ sei dahingehend auszulegen, dass sämtliche unter § 128 BauGB fallenden Kosten des Grunderwerbs und damit auch die Kosten der Grundbucheintragung erfasst werden sollten. Entstünden solche Eintragungskosten im Einzelfall aber nicht, weil die Gemeinde von ihrem Wahlrecht aus § 3 Abs. 2 GBO Gebrauch mache und von einer erstmaligen Eintragung der schon länger in ihrem Eigentum stehenden, nicht der Buchungspflicht nach § 3 Abs. 1 GBO unterliegenden Verkehrsflächen absehe, sei der Grunderwerb bezüglich solcher Flächen mit dieser Entscheidung abgeschlossen. Durch die vom Katasteramt ausgestellten Flurstücks- und Eigentumsnachweise bezüglich der Flurstücke 1335 und 1339 vom 5. Januar 2016 bzw. vom 19. Januar 2016 seien die Eigentumsverhältnisse auch insoweit hinreichend dokumentiert.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Bemessung des dem Grunde nach entstandenen Beitrags sei jedenfalls nicht zu Lasten der Klägerin fehlerhaft. Die Beklagte habe zu Recht die gesamte Fläche der im Erschließungsbeitragsbescheid aufgeführten Flurstücke als ein einheitliches Grundstück im beitragsrechtlichen Sinne angesehen. Auch eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass das gesamte Buchgrundstück als von der Anlage erschlossen anzusehen sei, liege nicht vor. Den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. II/2/54.00 lasse sich eine zweifelsfreie Zuordnung einzelner Bereiche des Buchgrundstücks zu einer bestimmten Erschließungsanlage nicht entnehmen. Gemäß § 4 Abs. 3 EBS sei der Betrag der nach § 4 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 11 EBS maßgeblichen Grundstücksfläche um einen die Art und das Maß der baulichen Ausnutzbarkeit berücksichtigenden Zuschlag in Höhe von 280 v. H. der Grundstücksfläche zu erhöhen, weil das Grundstück im Sinne dieser Regelung „im Gewerbegebiet“ liege und mit bis zu sechs Vollgeschossen bebaut sei. Die Regelung finde auch dann Anwendung, wenn ein Grundstück - wie hier - nicht vollständig in einem Gewerbegebiet liege. Für eine rechnerische Aufteilung des Grundstücks in eine zuschlagspflichtige Gewerbegebiets- und eine zuschlagsfreie Mischgebietsteilfläche, wie sie die Beklagte vorgenommen habe, gebe die Regelung in § 4 Abs. 2 und 3 EBS nichts her.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zu Recht sei die Beklagte von einer sechsgeschossigen Bebaubarkeit des Grundstücks ausgegangen. Denn nach § 4 Abs. 7a) EBS sei bei Grundstücken in beplanten Gebieten, für die der Bebauungsplan weder die Anzahl der Vollgeschosse noch die Baumassenzahl festsetze, die Höchstzahl der tatsächlich vorhandenen Vollgeschosse maßgebend. Aufgrund des Befreiungsbescheides der Beklagten vom 10. Juli 1987 sei das Produktionsgebäude auf dem Buchgrundstück um das 5. Obergeschoss, auf mithin sechs Vollgeschosse, aufgestockt worden.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Eine sog. Eckgrundstücksvergünstigung wegen der Erschließung des Grundstücks durch mehrere Erschließungsanlagen scheide nach § 5 Abs. 5 Buchst. a EBS für Grundstücke in Gewerbegebieten aus, zu denen - ungeachtet der Teilfläche im Mischgebiet - auch das streitbefangene Grundstück zähle. Ob der Beklagten bei der Beitragsberechnung im streitbefangenen Erschließungsbeitragsbescheid ein rechnerischer Fehler in Höhe von ca. 36 Euro unterlaufen sei, wie die Klägerin meine, könne offen bleiben, weil insoweit eine Rechtsverletzung zu ihren Lasten ausgeschlossen sei. Denn der von der Beklagten festgesetzte Erschließungsbeitrag sei durch die rechtsfehlerhafte Beschränkung des erhöhten Artzuschlags auf die von der Gewerbegebietsfestsetzung erfasste Teilfläche hinter der für das streitbefangene Grundstück entstandenen sachlichen Beitragspflicht zurückgeblieben, und zwar in einem Umfang, der den Betrag des angeblichen Rechenfehlers bei Weitem übertreffe.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beitragserhebung verstoße schließlich auch nicht gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Danach sei die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen nach der in Nordrhein-Westfalen geltenden Rechtslage ausgeschlossen, wenn zwischen dem Entstehen einer abzugeltenden Vorteilslage und dem Bescheiderlass mehr als 30 Jahre vergangen seien. Dies sei hier nicht der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung ihrer mit Beschluss vom 8. November 2019 vom Senat zugelassenen Berufung führt die Klägerin aus: Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Auslegung des § 3 Abs. 2 GBO greife zu kurz. Nach der Parzellierung der ehemaligen Flurstücke 1271 und 1277 müssten die aus den genannten Flurstücken gebildeten neuen Flurstücke, die zur Straßenfläche der N.----straße gehörten, zwar nicht in das Grundbuch eingebucht werden, allerdings müsse ihre Nicht-Buchung in den Veränderungsnachweisen des Grundbuchs vermerkt sein. Diesen Anforderungen sei im Hinblick auf die Flurstücke 1335 und 1339 nicht Genüge getan, weshalb die sachliche Beitragspflicht bislang nicht entstanden sei. Der Beitrag sei ferner der Höhe nach unrichtig, weil die Erschließungswirkung der N.----straße planerisch eindeutig auf eine Teilfläche des klägerischen Grundstücks begrenzt sei. Den Festsetzungen des Bebauungsplans lasse sich eine Zuordnung einzelner Bereiche des Buchgrundstücks zu bestimmten Erschließungsanlagen entnehmen. Durch sog. Perlschnüre seien einzelne Teilbereiche des Grundstücks verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten (Mischgebietsfläche im Nordwesten sowie mehrere Gewerbegebietsflächen) zugeordnet worden. Diese Teilflächen, für die jeweils ein unterschiedliches Maß und eine unterschiedliche Art der baulichen Nutzung festgesetzt seien, könnten angesichts ihrer Lage jeweils (nur) einer bestimmten Anbaustraße zugeordnet werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Soweit das Verwaltungsgericht den Artzuschlag nach § 4 Abs. 3 EBS auch auf solche Grundstücke erstreckt habe, die nur teilweise im Gewerbegebiet lägen, lasse sich dies mit der genannten Satzungsnorm nicht in Einklang bringen. Weder der Wortlaut der Vorschrift noch der Gedanke der Vorteilsgerechtigkeit gäben etwas für ein solches Verständnis her. Der größere Vorteil, den die Festsetzung als Gewerbegebiet mit sich bringe, beschränke sich auf den entsprechenden Teilbereich des Grundstücks. Die gesamte Grundstücksfläche sei deshalb in zuschlagspflichtige Gewerbegebiets- und zuschlagsfreie Mischgebietsflächen aufzuteilen. Das Verwaltungsgericht gehe ferner zu Unrecht von einer sechsgeschossigen Bebaubarkeit der gesamten Grundstücksfläche aus. Der in § 4 Abs. 7 Buchst. a EBS verwendete Begriff des „Grundstücks“ müsse restriktiv dahingehend verstanden werden, dass lediglich das jeweilige Flurstück gemeint sei. Ausgehend davon müsse für jedes Flurstück die Höchstzahl der tatsächlich vorhandenen Vollgeschosse gesondert ermittelt werden. Es sei unzulässig, die gesamte Grundstücksfläche einheitlich nach der lediglich auf einem Flurstück vorhandenen Höchstzahl von sechs Vollgeschossen zu behandeln.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Schließlich komme vorliegend der am 1. Juni 2022 in Kraft getretene § 3 BauGB-AG NRW zur Anwendung. Nach dessen Absatz 2 sei eine Beitragserhebung ausgeschlossen, weil der Eintritt der Vorteilslage spätestens mit der Widmung am 25. Oktober 1996 erfolgt sei und im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits mehr als 20 Jahre zurückgelegen habe. Lege man die Norm so aus, dass lediglich der Beitragsbescheid vor Ablauf von 20 Jahren erlassen worden sein müsse, so verstoße dies gegen den Grundsatz der Belastungsklarheit und überdies - im Verhältnis zu den Absatz 1 unterfallenden Konstellationen - gegen Art. 3 Abs. 1 GG, so dass die Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen sei. Zudem sei jedenfalls für die Teilstrecke der N.----straße zwischen L.-----straße und Meller Straße die Beitragserhebung nach § 3 Abs. 4 BauGB-AG NRW ausgeschlossen, weil mit den entsprechenden Bauarbeiten bereits vor 1985 begonnen worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 19. September 2017 abzuändern und den Bescheid der Beklagten vom 19. September 2016 in der Fassung der in der mündlichen Verhandlung vom 19. September 2017 durch die Beklagte erklärten Beitragsreduzierung auf 68.732,41 Euro aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Sie trägt zur Begründung vor: Der Grunderwerb sei abgeschlossen. Bei den von der Klägerin thematisierten Flurstücken 1335 und 1339 handele es sich um solche, die aus den bereits zuvor als Straßenflächen im Eigentum der Beklagten stehenden Flurstücken 1271 und 1277 herausparzelliert worden seien. Diese seien nicht im Grundbuch geführt worden und von der Buchungspflicht nach § 3 Abs. 2 GBO befreit gewesen. Gleiches gelte für die Teilungsvorgänge.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Ein Abweichen vom im Erschließungsbeitragsrecht maßgeblichen Grundstücksbegriff des bürgerlichen Rechts - dem Buchgrundstück - bei der Veranlagung komme nicht in Betracht. Zwar treffe der maßgebliche Bebauungsplan für verschiedene Bereiche des Grundstücks unterschiedliche Festsetzungen. Weder die Unterteilung in Misch- und Gewerbegebiet noch die durch die sog. Perlschnüre erfolgte Trennung von Bereichen, in denen unterschiedliche Gebäudehöhen zulässig seien, rechtfertige jedoch eine daran anknüpfende Zuordnung der Erschließung zu den umliegenden Straßen. Das gesamte Grundstück erfahre vielmehr durch jede der angrenzenden Anlagen eine Gebrauchswerterhöhung.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Für die Geschossanzahl sei die Höchstzahl der Vollgeschosse auf dem Grundstück maßgeblich und irrelevant, ob sich diese nur auf einen Teilbereich erstrecke. Der Gewerbezuschlag sei hingegen - wie von der Klägerin für richtig befunden - nur für die Teilfläche erhoben worden, die im Gewerbegebiet belegen sei. Die Berechnung für den als Mischgebiet ausgewiesenen Teil des Grundstücks habe ursprünglich einen Rechenfehler enthalten. Dieser sei korrigiert und der Beitrag um 16,89 Euro gesenkt worden.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die neu geschaffene Regelung des § 3 BauGB-AG NRW stehe einer Beitragserhebung nicht entgegen. Die Vorteilslage sei erst im Jahr 2012 mit dem Abschluss des Grunderwerbs eingetreten. Etwas anderes ergebe sich aber auch nicht, wenn man auf die Beendigung der technischen Herstellung im Jahr 1996 abstelle. Da der Erschließungsbeitrag im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits mit noch nicht bestandskräftigem Bescheid festgesetzt gewesen sei, komme die 20-Jahres-Frist des § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW zur Anwendung. Diese führe auf einen Fristablauf mit dem 31. Dezember 2016. Maßgeblich sei allein, dass der streitgegenständliche Bescheid vor Fristablauf erlassen worden sei. Es komme allenfalls ein Ausschluss nach § 3 Abs. 4 BauGB-AG NRW in Betracht, weil mit den Bauarbeiten eines Teils der N.----straße (L.-----straße bis N1. Straße) bereits im Jahr 1985 begonnen worden sei. Insofern stehe aber wegen der in § 3 Abs. 4 Satz 2 BauGB-AG NRW vorgesehenen Begrenzung des Ausschlusses auf die entsprechende Teilstrecke allenfalls eine Neuberechnung im Raum.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Die Berufung hat keinen Erfolg. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, weil der streitgegenständliche Bescheid vom 19. September 2016 in der Fassung vom 19. September 2017 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Erschließungsbeitragsbescheid beruht auf §§ 127 ff. BauGB i. V. m. der Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten. Ausgehend davon ist die sachliche Beitragspflicht entstanden (dazu I.) und die festgesetzte Beitragshöhe nicht zu beanstanden (dazu II.). Einer Beitragsfestsetzung steht auch nicht die am 1. Juni 2022 in Kraft getretene Regelung des § 3 BauGB-AG NRW entgegen (dazu III.).</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">I. Die sachliche Beitragspflicht ist mit der Eintragung des Flurstücks 1338 in das Grundbuch am 4. Februar 2016 und dem damit zugleich erfolgten Abschluss des Grunderwerbs entstanden.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach § 7 Abs. 1 Buchst. a EBS gehört zu den Merkmalen der endgültigen Herstellung von Straßen u. a., dass „die Stadt Eigentümerin der Flächen für die Erschließungsanlagen ist“. Eine Regelung dieses Inhalts ist im Allgemeinen so zu verstehen, dass die Gemeinde entweder die vermessenen Flächen von Dritten erworben oder die aus ihrem sonstigen Grundeigentum für die Erschließungsanlage bereitgestellten Flächen vermessen und von den anderen Grundstücken abgeschrieben haben sowie als Eigentümerin der so getrennten Flächen eingetragen sein muss.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 1975- IV C 76.73 -, BeckRS 1975, 31291231; OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Dezember 2008 - 15 A 528/08 -, juris Rn. 27, und vom 18. Juli 2008- 15 A 4139/06 -, juris Rn. 7, sowie Urteil vom 27. September 2002 - 3 A 2259/99 -, juris Rn. 26.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Hintergrund dieser Auslegung ist die Überlegung, dass ein den Grunderwerb zum Herstellungsmerkmal bestimmender Ortsgesetzgeber aller Wahrscheinlichkeit nach mit seiner Satzung von den durch §§ 127 ff. BauGB eingeräumten Möglichkeiten in einem solchen Umfang Gebrauch machen will, dass alle Kosten, die unter § 128 BauGB fallen - mithin auch jene der Vermessung und Grundbucheintragung -, umgelegt werden können und auch dann nicht zu Lasten des allgemeinen Gemeindehaushalts gehen, wenn sie in der Kette der zur Herstellung der Erschließungsanlage aufzuwendenden Kosten - mehr oder weniger zufällig - als letzte entstanden sind.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 1975- IV C 76.73 -, BeckRS 1975, 31291231; OVG NRW, Urteil vom 27. September 2002 - 3 A 2259/99 -, juris Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von diesem Zweck bedarf die dargestellte Rechtsprechung der Konkretisierung für den Fall, dass ein Grundstück nach § 3 Abs. 2 GBO im Grundbuch nicht geführt wird. Nach dieser Vorschrift erhalten u. a. Grundstücke der Gemeinden sowie die öffentlichen Wege ein Grundbuchblatt nur auf Antrag des Eigentümers oder eines Berechtigten. War danach für die Fläche, aus der Teilstücke für die Erschließungsanlage herausparzelliert worden sind, zuvor kein Grundbuchblatt angelegt, und wird ein entsprechender Antrag - mit der Folge des Anlegens eines entsprechenden Grundbuchblattes nebst Eintragung der Gemeinde als Eigentümerin - auch nicht im Zuge der Parzellierung gestellt, bedarf es für die Entstehung der Beitragspflicht der Grundbucheintragung der Gemeinde abweichend vom oben dargestellten Grundsatz nicht. Denn das Erfordernis der Eintragung der Gemeinde für den Abschluss des Grunderwerbs soll lediglich sicherstellen, dass auch die damit verbundenen Kosten zum abrechenbaren Erschließungsaufwand gehören. Entstehen Kosten für eine Grundbucheintragung aber gar nicht, weil kein Antrag auf Anlegung eines Grundbuchblatts gestellt wird, besteht kein Grund für die Anknüpfung an den Eintrag als Voraussetzung für die Entstehung der Beitragspflicht. In diesem Fall bedarf es für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht vielmehr (nur) der Eintragung der Änderungen im Liegenschaftskataster sowie des Eingangs des für die Vermessung und Flurstücksbildung erteilten Gebührenbescheides.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Gemessen daran ist das Herstellungsmerkmal des Grunderwerbs vorliegend erfüllt, weil die Beklagte nicht nur Eigentümerin der gesamten Fläche der Erschließungsanlage ist, sondern darüber hinaus bei sämtlichen Grundstücken, deren Flächen nur teilweise zur Erschließungsanlage gehört hatten, diese Teilflächen vermessen und abgeschrieben hat. Soweit nach dem vorgehend Dargestellten erforderlich, ist die Beklagte auch als Eigentümerin der Flächen im Grundbuch eingetragen. Dies gilt namentlich für die Teilflächen der ehemaligen Flurstücke 289 und 738, an deren Vermessung und Abschreibung es im Jahr 2013 ausweislich der damaligen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung noch gefehlt hatte.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Der Umstand, dass eine Grundbucheintragung der Beklagten im Hinblick auf die zur Fläche der Erschließungsanlage gehörenden Flurstücke 1335 und 1339 unterblieben ist, hindert die Entstehung der Beitragspflicht hingegen nicht. Diese Flurstücke sind durch Parzellierung der vormaligen Flurstücke 1271 und 1277 entstanden, die bereits vor ihrer Teilung im Eigentum der Beklagten standen und deshalb nach § 3 Abs. 2 GBO nicht im Grundbuch erfasst waren. Eine Eintragung ist auch im Zuge der Parzellierung nicht erfolgt und musste auch grundbuchrechtlich nicht erfolgen. Gleiches gilt - ohne dass dies für die Entstehung der Beitragspflicht relevant wäre - im Hinblick auf die durch die notwendige Abschreibung entstandenen Flurstücke 1336 und 1340, die außerhalb der Erschließungsanlage liegen. Die Teilung der Flurstücke ist im Liegenschaftskataster ausweislich der Mitteilungen des Amtes für Geoinformation und Kataster vom 6. Januar 2016 (Flurstück 1335) und vom 20. Januar 2016 (Flurstück 1339) übernommen worden, wobei die Fortführungsmitteilungen jeweils auf die Befreiung von der Buchungspflicht Bezug nehmen. Die Gebührenbescheide für Vermessung und Flurstücksbildung lagen am 11. Januar bzw. am 1. Februar 2016 bei der Beklagten vor.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang ausführt, die Nicht-Buchung der parzellierten Flurstücke müsse in den Veränderungsnachweisen des Grundbuchs vermerkt sein, besteht ein solches Erfordernis schon deswegen nicht, weil bereits für die Flurstücke 1271 und 1277, aus denen die neuen Flurstücke 1335, 1336, 1339 und 1340 hervorgegangen sind, nach § 3 Abs. 2 GBO keine Grundbuchblätter angelegt waren. Insofern bedarf es auch keines Nachweises in den Grundakten, wie diese Flurstücke fortgeführt werden. Schließlich hätte ein derartiges Versäumnis nach dem oben Gesagten auch keinen Einfluss auf die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht, weil mit der Vorlage eines (hier bereits erstellten) Veränderungsnachweises beim Grundbuchamt keine Kosten einhergehen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">II. Der Erschließungsbeitrag ist nicht zu Lasten der Klägerin zu hoch festgesetzt. Das Grundstück ist mit seiner gesamten Fläche bei der Verteilung des umlagefähigen Aufwands zu berücksichtigen (dazu 1.). Der zur Anwendung kommende Artzuschlag beträgt 280 %; Vergünstigungen sind nicht zu gewähren (dazu 2.).</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">1. a) Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das gesamte unter Nr. 24 des Bestandsverzeichnisses im Grundbuch geführte Grundstück, d. h. alle 14 Flurstücke, der Veranlagung zu Grunde zu legen sind. Im Rahmen der erschließungsbeitragsrechtlichen Aufwandsverteilung ist im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit grundsätzlich vom bürgerlich-rechtlichen Grundstücksbegriff im Sinne des Grundbuchrechts auszugehen (formeller Grundstücksbegriff). Unter einem Grundstück in diesem Sinne ist ein solcher Teil der Erdoberfläche zu verstehen, der auf einem besonderen Grundbuchblatt unter einer besonderen Nummer im Verzeichnis der Grundstücke gebucht ist. Nur ausnahmsweise können Aspekte des Vorteilsausgleichs dazu führen, dass von diesem - hier alle Flurstücke erfassenden - Grundstücksbegriff abzuweichen ist. Die Verkleinerung eines Grundstücks im bürgerlich-rechtlichen Sinn kommt dabei nur dann in Betracht, wenn von einem beplanten Buchgrundstück nur ein Teil bebaubar oder erschließungsbeitragsrechtlich relevant nutzbar, der übrige abgrenzbare Teil aber schlechthin von einer Bebaubarkeit ausgeschlossen ist (vgl. § 133 Abs. 1 Satz 1 BauGB).</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 - IV C 35.74 -, juris Rn. 12 f.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben; das gesamte klägerische Grundstück, das überwiegend im Gewerbegebiet und zu einem nur geringen Teil im Mischgebiet liegt, ist baulich nutzbar und auch tatsächlich weitgehend bebaut.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">b) Auch die Erschließungswirkung der Anlage erstreckt sich auf das gesamte Grundstück der Klägerin. Auszugehen ist davon, dass bei einem beplanten Grundstück, das an eine Anbaustraße angrenzt und durch diese erschlossen wird, grundsätzlich die gesamte vom Bebauungsplan erfasste Fläche als durch die Anlage erschlossen anzusehen ist, und zwar auch dann, wenn das Grundstück zusätzlich noch an eine andere Anbaustraße angrenzt. Von diesem Grundsatz kann eine Ausnahme zu machen sein, wenn sich die von einer Anbaustraße ausgehende Erschließungswirkung eindeutig auf eine Teilfläche des Grundstücks beschränkt. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein übergroßes Grundstück zwei ihrem Charakter nach völlig unterschiedlichen Baugebieten angehört und der Bebauungsplan die Teilflächen an verschiedene Anbaustraßen anbindet. Derartige planerische Festsetzungen begründen die Vermutung einer ihnen entsprechenden Begrenzung der Erschließungswirkung. Diese Vermutung kann jedoch durch die tatsächlichen Umstände widerlegt werden, und sie wird jedenfalls dann widerlegt, wenn bei einer solchen Sachlage die Voraussetzungen erfüllt sind, bei deren Vorliegen das Erschlossensein des rückwärtigen Grundstücksteils selbst dann zu bejahen wäre, wenn es sich um ein selbständiges Hinterlieger(buch)grundstück desselben Eigentümers handelte. Das liegt als Konsequenz auf der Hand. Denn die Anforderungen an das Erschlossensein des rückwärtigen Teils eines an eine Anbaustraße angrenzenden Buchgrundstücks können nicht höher sein als die Anforderungen an das Erschlossensein eines Hinterliegergrundstücks, wenn dieses und das trennende Anliegergrundstück im Eigentum derselben Person stehen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1989 - 8 C 78.88 -, juris Rn. 23 f. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Hinterliegergrundstücke sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als erschlossen anzusehen und lösen eine Beitragspflicht aus, wenn das Hinterliegergrundstück durch eine dauerhafte, rechtlich gesicherte Zufahrt mit der Anlage verbunden ist. Doch auch ohne eine solche Zufahrt ist ein Erschlossensein des Hinterliegergrundstücks anzunehmen, wenn entweder das Hinterliegergrundstück zwar durch ein selbständig bebaubares Anliegergrundstück desselben Eigentümers von der Erschließungsanlage getrennt, jedoch tatsächlich durch eine Zufahrt über dieses Grundstück mit der Anlage verbunden ist, oder wenn bei Eigentümeridentität Hinter- und Anliegergrundstück zulässigerweise einheitlich genutzt werden.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Januar 1988 - 8 C 111.86 -, juris Rn. 17 ff., vom 23. Februar 1989- 8 C 78.88 -, juris Rn. 24, vom 12. November 2014 - 9 C 4.13 -, juris Rn. 13, und vom 7. März 2017 - 9 C 20.15 -, juris Rn. 39, sowie Beschluss vom 6. September 2018 - 9 C 8.18 -, juris Rn. 10, 16.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon kann hier dahinstehen, ob die planerischen Festsetzungen die Vermutung für eine begrenzte Erschließungswirkung der Anlage N.----straße für das klägerische Grundstück begründen. Dagegen spricht - wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat -, dass keine Baufenster festgelegt wurden, deren Erschließung einer bestimmten Anbaustraße zugeordnet worden sein könnte, sondern die Grundstückfläche - vorbehaltlich des insofern zulässigen Maßes der baulichen Nutzung - insgesamt überbaubar ist. Ferner handelt es sich bei den abgegrenzten Teilbereichen unterschiedlicher Nutzungsmöglichkeiten - eine Mischgebietsfläche im Nordwesten sowie Gewerbegebietsflächen - nicht um völlig unterschiedliche Baugebiete. Den damit verbundenen Fragen muss der Senat jedoch nicht weiter nachgehen. Denn die (unterstellte) Vermutung für eine begrenzte Erschließungswirkung wird jedenfalls durch die tatsächlichen Umstände widerlegt, weil die rückwärtigen Grundstücksteile - etwa die potentiell auf die T.-------straße ausgerichtete Mischgebietsfläche - auch dann als erschlossen anzusehen wären, wenn es sich um ein selbständiges Hinterlieger(buch)grundstück desselben Eigentümers handelte. Dies folgt hier daraus, dass das Grundstück in zulässiger Weise einheitlich gewerblich genutzt wird.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">2. Auf die nach § 4 Abs. 11 EBS maßgebliche Grundstücksfläche von 13.885 qm ist der die Art und das Maß der baulichen Nutzung berücksichtigende Zuschlag in Höhe von 280 v. H. nach § 4 Abs. 3 EBS für eine sechsgeschossige Bebaubarkeit im Gewerbegebiet anzuwenden.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">a) Das klägerische Grundstück unterfällt dem Regime des § 4 Abs. 3 EBS, der die Höhe der Zuschläge für Grundstücke „in Kern-, Gewerbe- und Industriegebieten sowie in Gebieten [regelt], die entsprechende Festsetzungen aus der Zeit vor Inkrafttreten der Baunutzungsverordnung vom 26.06.1962 (BGBl. I S. 429) enthalten“. Es handelt sich bei dem Grundstück um ein solches in einem Gewerbegebiet im Sinne der Vorschrift, auch wenn nach dem Bebauungsplan für die Teilfläche im Nordwesten die Festsetzung „Mischgebiet“ erfolgt ist. Dies ergibt sich daraus, dass die im Mischgebiet liegende Fläche des (einheitlichen) Grundstücks weniger als 50 % der Gesamtfläche beträgt, und beruht in diesem Zusammenhang auf folgenden Überlegungen:</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Satzungsregelung in § 4 EBS zur Höhe des Zuschlags nach Art und Maß der baulichen Nutzung differenziert im Ausgangspunkt - lässt man die hier unerhebliche Sonderkonstellation der ausschließlichen Festlegung von Baumassezahlen (Absatz 4) außer Betracht - zwischen Grundstücken in Kern-, Gewerbe- und Industriegebieten bzw. Gebieten mit entsprechenden Festsetzungen (Absatz 3, sog. gebietsbezogener Artzuschlag) und sonstigen Grundstücken (Absatz 2). Mangels anderweitiger Anhaltspunkte in der Satzung ist dabei davon auszugehen, dass der Begriff des Grundstücks in § 4 Abs. 3 EBS nach den allgemeinen im Erschließungsbeitragsrecht geltenden Grundsätzen zu bestimmen ist, hier also der bürgerlich-rechtliche Grundstücksbegriff zur Anwendung kommt.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Danach liegt das Grundstück mit 85 % seiner Gesamtfläche in einem festgesetzten Gewerbegebiet und im Übrigen in einem Mischgebiet. Die Erschließungsbeitragssatzung enthält indes weder eine Begrenzung des höheren Zuschlags nach § 4 Abs. 3 EBS auf die im Gewerbegebiet belegene Teilfläche („soweit“) noch eine sonstige ausdrückliche (Sonder-)Regelung für derartige Konstellationen. Aus diesem Grund kommt lediglich die Anwendung der Regelung in Absatz 3 oder - wenn deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind - der „Auffangregelung“ des Absatz 2 jeweils in Bezug auf das gesamte Grundstück in Betracht. Für die Erhebung unterschiedlicher, zwischen den Teilflächen differenzierender Zuschläge, wie sie die Beklagte vorgenommen hat, bietet der Normtext hingegen keinen Anhalt.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt, ist § 4 Abs. 3 EBS auch auf solche Grundstücke anzuwenden, deren im Gewerbe-, Kern- oder Industriebetrieb liegender Flächenanteil mehr als 50 % beträgt. Zwar ließe der Wortlaut der Vorschrift auch Raum für eine noch weitergehende Auslegung, nach der jegliche in einem der genannten Gebiete liegende Teilfläche eines Grundstücks - unabhängig von ihrer Größe - den gebietsbezogenen Artzuschlag auslöst. Allerdings sprechen Sinn und Zweck der Regelung sowie systematische Aspekte für das dargestellte restriktivere Verständnis. Der im Vergleich zu den sonstigen Grundstücken erhöhte, die Art der baulichen Nutzung berücksichtigende Zuschlag für Grundstücke in Gewerbe- und Industriegebieten dient dem Grundsatz der Vorteilsgerechtigkeit. Die durch die Inanspruchnahmemöglichkeit einer hergestellten Straße ausgelösten Erschließungsvorteile für gewerblich und industriell genutzte Grundstücke fallen im Vergleich zu anderen Nutzungsarten erheblich größer aus.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 9 C 28.14 -, juris Rn. 16; OVG NRW, Beschluss vom 28. Mai 2010 - 15 A 3231/07 -, juris Rn. 47.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Der mit der Belegenheit im beplanten Gewerbe- und Industriegebiet bei typisierender Betrachtung verbundene erhöhte Erschließungsvorteil setzt aber voraus, dass das Grundstück zumindest mit einem relevanten Anteil einer entsprechenden Festsetzung unterliegt. Bei der Höhe dieses Anteils ist aus systematischen Erwägungen auf die Regelungen des § 4 Abs. 9 Satz 2 und 3 EBS zurückzugreifen. Für den dort normierten, sog. grundstücksbezogenen Artzuschlag, der für im unbeplanten Bereich liegende Grundstücke gilt, hat der Satzungsgeber zum Ausdruck gebracht, dass im Falle eines Zusammentreffens von qualifizierten und sonstigen Nutzungsarten der Zuschlag des Absatz 3 nur bei einem Überwiegen der qualifizierten Nutzung zur Anwendung gelangen soll. Der Gesichtspunkt der auch in dieser Konstellation zu berücksichtigenden Vorteilsgerechtigkeit sowie der aus § 4 Abs. 9 Satz 2 und 3 EBS abzuleitende mutmaßliche Wille des Satzungsgebers sprechen für eine Übertragung der 50 + x %-Grenze auf den gebietsbezogenen Artzuschlag.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">b) Die gesamte Grundstücksfläche ist nach § 4 Abs. 3 EBS bei der Berechnung des Beitrags mit einem Zuschlag in Höhe von 280 v. H. zu berücksichtigen, weil von einer sechsgeschossigen Bebaubarkeit auszugehen ist. Mangels Festsetzung einer höchstzulässigen Geschosszahl (vgl. § 4 Abs. 5 EBS) oder Baumassenzahl (§ 4 Abs. 4 EBS) im Bebauungsplan ist nach § 4 Abs. 7 Buchst. a EBS die Höchstzahl der tatsächlich vorhandenen Vollgeschosse maßgebend. Aufgrund des Befreiungsbescheides der Beklagten vom 10. Juli 1987 wurde das Produktionsgebäude auf dem Buchgrundstück um das 5. Obergeschoss, auf mithin sechs Vollgeschosse, aufgestockt. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist im Hinblick auf die Höchstzahl der tatsächlich vorhandenen Vollgeschosse nicht nach den verschiedenen Flurstücken des Buchgrundstücks zu differenzieren, sondern bezieht sich der Zuschlag einheitlich auf die gesamte Grundstücksfläche. Zunächst bietet der Wortlaut der Satzung, der an das jeweilige „Grundstück“ anknüpft, für ein solches Verständnis keinen Anhalt. Im Rahmen der erschließungsbeitragsrechtlichen Aufwandsverteilung ist vielmehr, wie bereits dargelegt, im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit grundsätzlich vom bürgerlich-rechtlichen Grundstücksbegriff im Sinne des Grundbuchrechts auszugehen. Ferner setzt die nach der Satzung maßgebliche „Höchstzahl“ der tatsächlich vorhandenen Vollgeschosse auch nicht voraus, dass diese für sämtliche Flurstücke des Buchgrundstücks identisch ist, sondern nimmt ersichtlich - auch für den Fall „gestaffelter“ tatsächlich vorhandener Geschosszahlen - auf die höchste Geschosszahl Bezug. Eine solche Satzungsregelung ist rechtlich nicht zu beanstanden und insbesondere mit dem Grundsatz der Vorteilsgerechtigkeit zu vereinbaren.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1986- 8 C 9.86 -, juris Rn. 36 f.; OVG NRW, Beschluss vom 24. August 2017 - 15 A 705/15 -, juris Rn. 12 ff. m. w. N. (jeweils zu einer Regelung, die auf die „höchstzulässige Zahl der Vollgeschosse“ abstellt); vgl. ferner OVG NRW, Beschluss vom 13. August 2018 - 15 A 1869/17 -, juris Rn. 10 ff. (zum Straßenausbaubeitragsrecht).</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">c) Ob für das Grundstück der Klägerin eine Vergünstigung nach § 5 EBS zu gewähren war, weil es durch mehrere Erschließungsanlagen erschlossen wird, kann dahinstehen. Die dadurch eintretende Ermäßigung auf zwei Drittel (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 EBS) wäre nach § 5 Abs. 4 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 EBS jedenfalls auf eine 900 qm große Teilfläche beschränkt. Die sich daraus potentiell für die Klägerin ergebende Reduktion ist daher deutlich geringer als der Mehrbetrag, der sich aus der zutreffenden Anwendung des Zuschlags in Höhe von 280 v. H. auch für die Mischgebietsfläche ergibt (2.119 qm, die mit einem Zuschlag von nur 115 v. H. statt 280 v. H. berücksichtigt worden sind). Im Übrigen spricht aber auch Vieles für die vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte Auffassung, dass auf das klägerische Grundstück die Eckgrundstücksvergünstigung nach § 5 Abs. 5 Buchst. a EBS keine Anwendung findet, weil es ganz überwiegend im Gewerbegebiet belegen ist und insofern die Ausführungen zu § 4 Abs. 3 EBS entsprechend gelten. Darüber hinaus dürfte die Begrenzung der Vergünstigung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 EBS auf die an der Ecke belegene Teilfläche des jeweiligen Grundstücks bezogen sein, die hier gerade im Gewerbegebiet liegt.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Auch etwaige, von der Klägerin angesprochene Rechenfehler in Höhe eines zweistelligen Betrags, die die Beklagte zudem bereits in gewissem Umfang eingeräumt und den Bescheid insoweit im erstinstanzlichen Verfahren aufgehoben hat, hätten jedenfalls einen geringeren Umfang als der durch den höheren Zuschlag entstehende Mehrbetrag.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">III. Einer Beitragsfestsetzung steht schließlich auch weder die am 1. Juni 2022 in Kraft getretene Regelung des § 3 BauGB-AG NRW noch das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit entgegen.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">1. Gemäß § 3 Abs. 1 BauGB-AG NRW ist die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen nach § 127 BauGB durch die Gemeinden unabhängig vom Entstehen der Beitragspflicht mit Ablauf des zehnten Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Vorteilslage folgt, ausgeschlossen. Für Erschließungsbeitragsbescheide, die - wie der streitgegenständliche - im Zeitpunkt des Inkrafttretens von Absatz 1 noch nicht bestandskräftig waren, beträgt die Frist nach der dem Absatz 1 vorgehenden Sonderregelung des § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB-AG NRW jedoch 20 Jahre. Diese Frist gilt nach Absatz 2 Satz 2 auch für die nach dem Inkrafttreten der Vorschrift erfolgende Erhebung von Erschließungsbeiträgen, wenn die Vorteilslage am 1. Juni 2022 bereits bestand.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Die 20-jährige Frist ist vorliegend - ausgehend vom Eintritt der Vorteilslage im September 1996 - gewahrt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es im Erschließungsbeitragsrecht für das Entstehen der Vorteilslage maßgeblich auf die tatsächliche - bautechnische - Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an, nicht jedoch darauf, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorliegen. Entscheidend ist, ob die Anlage sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung endgültig technisch fertiggestellt ist, d. h. dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht. Unerheblich für den Eintritt der Vorteilslage ist hingegen das Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflichten, wie die Widmung der Anlage, die planungsrechtliche Rechtmäßigkeit ihrer Herstellung, die Wirksamkeit der Beitragssatzung oder der vollständige Grunderwerb.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 12. Dezember 2019 - 9 B 53.18 -, juris Rn. 7, und vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 -, juris Rn. 55; anders zum - hier nicht vorliegenden - Sonderfall geringfügiger Abweichungen vom Bauprogramm OVG NRW, Urteil vom 20. April 2021 - 15 A 4037/19 -, juris Rn. 122 ff.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Ausgehend davon ist die Vorteilslage vorliegend im September 1996 mit dem Abschluss der Bauarbeiten und der Abnahme des Werks erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung der Klägerin ist unerheblich, dass die Vorteilslage bei Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juni 2022 bereits länger als 20 Jahre bestanden hat. Maßgeblich ist allein, dass der streitgegenständliche Bescheid vor Ablauf des 20. Jahres nach Eintritt der Vorteilslage erlassen worden ist. Denn die Vorschrift des § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB-AG NRW ist im Zusammenhang mit § 3 Abs. 1 BauGB-AG NRW zu lesen, der die „Festsetzung“ von Erschließungsbeiträgen nach Ablauf der Frist untersagt. Da die Beitragserhebung erst mit Ablauf des 20. Jahres, das auf den Eintritt der Vorteilslage folgt, ausgeschlossen ist, fällt das Fristende auf den 31. Dezember 2016. Der streitgegenständliche Beitragsbescheid ist aber bereits am 19. September 2016 und damit vor Fristablauf ergangen.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Vorschrift des § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW verstößt - auch in der dargelegten Auslegung - nicht gegen Verfassungsrecht, weshalb das Verfahren entgegen dem Begehren der Klägerin nicht auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG vorzulegen war.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die wegen des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit erforderliche, an den Eintritt der Vorteilslage anknüpfende Höchstfrist für die Beitragserhebung, die in Nordrhein-Westfalen bis zum Inkrafttreten des § 3 BauGB-AG NRW fehlte,</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 20. April 2021- 15 A 4037/19 -, juris Rn. 91 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">ist nunmehr für Erschließungsbeiträge in der besagten Norm ausdrücklich geregelt. Die Vorschrift umfasst mit Absatz 2 auch „Altfälle“, d. h. insbesondere noch nicht bestandskräftige Beitragsbescheide, die - wie der streitgegenständliche - vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung erlassen worden waren. Die Einbeziehung dieser Fälle war angesichts einer entsprechenden Vorgabe an den Gesetzgeber in der das rheinland-pfälzische Erschließungsbeitragsrecht betreffenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geboten.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. November 2021- 1 BvL 1/19 -, juris Rn. 92.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist zwar nicht an den nordrhein-westfälischen Landesgesetzgeber adressiert und betrifft ihn daher nicht unmittelbar. Die rechtlichen Maßgaben lassen sich aber wegen der in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen vergleichbaren früheren Rechtslage übertragen. Danach stellt die adäquate Bemessung der zeitlichen Obergrenze für die Beitragserhebung eine primär dem Gesetzgeber überantwortete Frage dar. Er hat einen weiten Einschätzungsspielraum hinsichtlich des Ausgleichs zwischen allgemeinen Interessen und dem Interesse der in Anspruch zu nehmenden Bürgerinnen und Bürger. Je weiter aber der anspruchsbegründende Zeitpunkt bei der Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge. Jedenfalls genügt eine 30-jährige Ausschlussfrist losgelöst von den Besonderheiten der Wiedervereinigung den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und-vorhersehbarkeit bei vorteilsausgleichenden Abgaben nicht, weil anders als im Falle des § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG kein titulierter Anspruch vorliegt, sodass die Beitragspflichtigen nicht sicher wissen, ob, in welcher Höhe und wann sie zu einem Beitrag herangezogen werden.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. November 2021- 1 BvL 1/19 -, juris Rn. 91 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Diesen Maßgaben genügt die hier zur Anwendung kommende Frist des § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB-AG NRW, weil sie deutlich weniger als 30 Jahre beträgt.</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die 20-Jahres-Frist des § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB-AG NRW verstößt schließlich auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsgleichheit. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seinem Wesen entsprechend ungleich zu behandeln. Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen. Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber nicht alle Differenzierungen. Diese bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Aus dem Gleichheitssatz folgt für das Steuer- und Abgabenrecht der Grundsatz der Belastungsgleichheit. Bei der Auswahl des Abgabengegenstands sowie bei der Bestimmung von Beitragsmaßstäben und Abgabensatz hat der Gesetzgeber einen weitreichenden Gestaltungsspielraum. Werden Beiträge erhoben, verlangt Art. 3 Abs. 1 GG, dass die Differenzierung zwischen Beitragspflichtigen und nicht Beitragspflichtigen nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen wird, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem Beitrag abgegolten werden soll.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2014- 1 BvR 668/10, 1 BvR 2104/10 -, juris Rn. 47 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Daran gemessen wird die Regelung unterschiedlicher Höchstfristen für die Erhebung von Erschließungsvorteilen nach § 3 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB-AG NRW dem Gebot der Belastungsgleichheit gerecht. Da die 20-Jahres-Frist nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BauGB-AG NRW auch für die Abrechnung aller Erschließungsanlagen gilt, bei denen die Vorteilslage am 1. Juni 2022 bereits bestand, kommt die 10-Jahres-Frist letztlich nur dann zur Anwendung, wenn am 1. Juni 2022 noch keine Vorteilslage vorlag, eine Anlage also - vereinfacht gesagt - noch nicht technisch fertiggestellt war.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit der im Vergleich zu Absatz 1 längeren Frist des Absatzes 2 für Bestands- und Altfälle die „Verkürzung“ der Erhebungsfrist abgefedert werden.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Vgl. LT-Drs. 17/16916, S. 3.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Der Vorschrift des § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW kommt damit die Funktion einer Übergangsregelung zu. Die unterschiedslose und sofortige Einführung der 10-Jahres-Frist aus § 3 Abs. 1 BauGB-AG NRW für alle Konstellationen, in denen noch kein bestandskräftiger Bescheid vorliegt, hätte zur Folge gehabt, dass die Kommunen in erheblichem Umfang bereits erhobene Erschließungsbeiträge zurückzahlen müssen und die Kosten für bereits hergestellte Erschließungsanlagen nicht mehr abrechnen können. Die dafür angefallenen Aufwendungen müssen in einem solchen Fall aus Haushaltsmitteln - und damit trotz Sondervorteil der grundsätzlich Beitragspflichtigen - von der Allgemeinheit getragen werden. Die Nichtheranziehung dieser „Altfälle“ trotz Erschließungsvorteils wegen Ablaufs der Höchstfrist ist ihrerseits jedenfalls dann unter Gerechtigkeitsaspekten problematisch, wenn die Kommunen sich - wie hier - auf die neue Rechtslage nicht ausreichend einstellen konnten und eine Heranziehung letztlich daran scheitert.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Verfassungskonformität anderer Übergangsregelungen bei Einführung einer an die Vorteilslage anknüpfenden Höchstfrist im Beitragsrecht LVerfG LSA, Urteil vom 24. Januar 2017 - LVG 1/16 -, KommJur 2017, 137, 140; BVerfG, Beschluss vom 16. September 2020- 1 BvR 1185/17 -, juris Rn. 3.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Angesichts des letztgenannten Umstands sowie unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Senats, wonach auch ohne eine gesetzliche Regelung - sozusagen zumindest - eine Höchstgrenze von 30 Jahren einzuhalten war,</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. April 2021 - 15 A 4037/19 -, juris Rn. 91 ff.,</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">ist die Flankierung der Einführung der 10-Jahres-Frist durch längere Übergangsfristen für Bestands- und Altfälle sachlich gerechtfertigt und verfassungsrechtlich unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Die dabei vorgenommene Anknüpfung der Differenzierung an die Existenz eines Beitragsbescheides bzw. den Eintritt der Vorteilslage vor Inkrafttreten des § 3 BauGB-AG NRW ist rechtlich unbedenklich, weil in diesen Fällen bei Inkrafttreten des Gesetzes die Erhebungsfrist bereits lief und der Regelung insofern eine Rückwirkung zukommt. Der Einwand der Klägerin, dass die Differenzierung nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen eine Beitragsbescheides innerhalb der Frist zu einer Ungleichbehandlung führe, wenn einzelne Beitragspflichtige trotz gleicher Begünstigung einen Beitragsbescheid nicht rechtzeitig (innerhalb der Frist) erhielten, rechtfertigt keine andere Bewertung. Abgesehen davon, dass dies nach der Erhebungspraxis der Gemeinden der Ausnahmefall sein dürfte, wäre die Ungleichbehandlung sachgerecht, weil bei Vorliegen eines Bescheides ein Vertrauen des Adressaten, von der Beitragspflicht verschont zu werden, in der Folge ausscheidet.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">2. Die 25-Jahres-Frist des § 3 Abs. 4 Satz 1 BauGB-AG NRW steht der Rechtmäßigkeit des Bescheides ebenfalls nicht entgegen. Danach ist unabhängig von dem Eintritt der Vorteilslage die Festsetzung der Beitragspflicht für solche Erschließungsanlagen ausgeschlossen, wenn seit dem Beginn der erstmaligen technischen Herstellung mindestens 25 Jahre vergangen sind. Diese Vorschrift ist vorliegend schon nicht anwendbar. Nach ständiger Rechtsprechung richtet sich der maßgebliche Zeitpunkt der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts nicht nach dem Prozessrecht, sondern nach dem jeweiligen materiellen Recht. Danach ergibt sich für die Anfechtungsklage im Allgemeinen, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich ist, es sei denn, das materielle Recht regelt etwas Abweichendes.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2011 - 8 C 11.10 -, juris, Rn. 17.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Letzteres lässt sich lediglich für § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB-AG NRW feststellen, der ausdrücklich bereits vorhandene, aber noch nicht bestandskräftige Bescheide betrifft. Im Hinblick auf § 3 Abs. 4 BauGB-AG NRW fehlen indes Hinweise darauf, dass es für die rechtliche Beurteilung von Erschließungsbeitragsbescheiden auf einen späteren Zeitpunkt als den der letzten Behördenentscheidung ankommt, dass also auch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes erlassene Bescheide unter die Regelung fallen. Denn die Vorschrift knüpft - ebenso wie Absatz 1 - allein an die (erst noch vorzunehmenden) Erhebung bzw. Festsetzung eines Erschließungsbeitrags an und sieht keine Rückwirkung vor. Die Einbeziehung nicht bestandskräftiger Bescheide in den Anwendungsbereich der Norm war auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht erforderlich, weil die Regelung in § 3 Abs. 4 BauGB-AG NRW nicht aus der dem Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit folgenden Pflicht zur Schaffung einer an den Eintritt der Vorteilslage anknüpfenden Höchstfrist erwächst, sondern eine darüber hinausgehende lediglich einfach-rechtlich begründete zeitliche Obergrenze für die Beitragserhebung darstellt. Das oben erwähnte, vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Gebot der Einbeziehung von Altfällen,</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. November 2021- 1 BvL 1/19 -, juris Rn. 92,</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">erstreckt sich mithin nicht auf die Frist des § 3 Abs. 4 BauGB-AG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Zudem enthalten auch die Gesetzesmaterialien keinen Hinweis darauf, dass die Vorschrift auf vor dem 1. Juni 2022 erlassene Erschließungsbeitragsbescheide Anwendung finden soll.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Vgl. die Ausführungen zur Regelung des § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB-AG NRW in LT-Drs. 17/16916, S. 4.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Der dort enthaltene Hinweis auf Art. 5a Abs. 7 BayKAG, an dem sich die nordrhein-westfälische Norm orientiert, spricht vielmehr ebenfalls gegen eine Anwendung auf schon vor dem Inkrafttreten der Norm erlassene Bescheide. Die in Bezug genommene bayerische Regelung ist zwar durch das Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom 8. März 2016 (GVBl. 36) erlassen worden, trat aber erst am 1. April 2021 in Kraft (vgl. § 2 Abs. 2), sodass den Kommunen sogar noch einige Jahre verblieben, um Anlagen, die diesen Maßgaben nicht entsprachen, noch abzurechnen (vgl. auch Art. 13 Abs. 6 BayKAG).</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bay. LT-Drs. 17/8225, S. 6.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Auch in Bayern findet die Ausschlussfrist dementsprechend grundsätzlich nur Anwendung auf Bescheide, die nach dem Stichtag ergangen sind.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Ansbach, Beschluss vom 26. Mai 2021- AN 3 S 21.00729 -, juris Rn. 81; vgl. ferner VG München, Urteil vom 1. September 2021 - M 28 K 21.1559 -, juris Rn. 32 f. (zur Sonderkonstellation der erst nachträglich entstandenen Beitragspflicht).</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Revisionsgründe vorliegt.</p>
|
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<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass sie als Lehrerin mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe I während ihrer aktiven Dienstzeit in gleicher Weise wie Lehrkräfte mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe II zu besolden gewesen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin studierte in N. vom Wintersemester 1974/1975 bis einschließlich zum Wintersemester 1977/1978 Biologie und Mathematik für das Lehramt der Sekundarstufe I. Vom 27. April 1981 an wurde sie durchgängig in der Sekundarstufe I am F. -C. -Gymnasium in V. eingesetzt und hierbei der Besoldungsgruppe A 12 gemäß der LBesO NRW zugeordnet. Zum 1. Februar 2017 wurde sie in den Ruhestand versetzt.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Unter dem 11. April 2017 erhob sie Widerspruch gegen die für den Monat Januar 2017 erhaltene Bezügemitteilung sowie die am 10. Februar 2017 auf Grundlage der Besoldungsgruppe A 12 gemäß der LBesO NRW vorgenommene Festsetzung des Ruhegehaltes und beantragte die Besoldung bzw. Festsetzung des Ruhegehaltes nach der Besoldungsgruppe A 13 gemäß der LBesO NRW zuzüglich der Studienratszulage in Höhe von 86,88 Euro.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen (nachfolgend: LBV NRW) vom 21. November 2017 wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin habe lediglich einen Versorgungsanspruch auf Basis der Besoldungsgruppe A 12 gemäß LBesO NRW. Die Einstufung in diese Besoldungsgruppe für Lehrkräfte mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe I sei amtsangemessen. Insbesondere sei es unter Berücksichtigung des weiten Gestaltungsspielraums des Versorgungsgesetzgebers gerechtfertigt, wenn Lehrkräfte mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe II mit A 13 gemäß LBesO NRW eine um eine Stufe höhere Besoldung erhielten.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat am 20. Dezember 2017 unter dem gerichtlichen Aktenzeichen 3 K 12574/17 Klage sowohl hinsichtlich ihrer Besoldung als auch ihrer Versorgung erhoben. Das Verfahren ist im Hinblick auf die Frage der amtsangemessenen Besoldung während der aktiven Dienstzeit der Klägerin abgetrennt und unter hiesigem Aktenzeichen fortgesetzt worden. Zur Begründung der vorliegenden Klage führt die Klägerin aus, die Besoldung für den letzten Monat ihrer aktiven Dienstzeit verstoße gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der amtsangemessenen Besoldung. Denn es sei – wie sich auch aus einem von Professor C1. im Januar 2015 erstellten Rechtsgutachten ergebe – nach dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht gerechtfertigt, dass Lehrkräfte mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe I geringer besoldet würden als Studienräte, also Lehrkräfte mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe II. Für eine solche Differenzierung fehle es an einem Sachgrund, da nicht erst seit der Lehrerausbildungsreform im Jahre 2009 hinsichtlich Ausbildung sowie Tätigkeit keine hinreichenden Unterschiede zwischen der Lehrtätigkeit in der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II feststellbar seien. Im Rahmen ihrer Tätigkeit am F. -C. -Gymnasium habe sie dieselbe Verantwortung getragen und dieselben Aufgaben wahrgenommen wie ein mit der Besoldungsgruppe A 13 gemäß LBesO NRW besoldeter Studienrat. Für die gleiche Arbeit müsse bereits nach der Landesverfassung schließlich der gleiche Lohn gezahlt werden.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">festzustellen, dass die ihr für den Monat Januar 2017 gewährte Alimentation aus der Besoldungsgruppe A 12 gemäß LBesO NRW den verfassungsrechtlichen Anforderungen einer (amts-)angemessenen Besoldung nicht genügt hat und ihr eine Besoldung nach der Besoldungsgruppe A 13 gemäß LBesO NRW zuzüglich der sogenannten Studienratszulage zu gewähren gewesen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf seine im Verwaltungsverfahren vorgebrachten Argumente. Vertiefend führt er aus, für die Zeit vor 2017 sei die Klage bereits unzulässig, da die Klägerin für die Besoldung in dieser Zeit nicht haushaltsnah ihren Widerspruch erhoben habe. Soweit die Klägerin auf ein Rechtsgutachten verweise, ergebe sich aus diesem jedenfalls für Lehrkräfte, die vor der Reform im Jahr 2009 ausgebildet worden seien, keine Verpflichtung zur gleichen Besoldung von Lehrkräften mit der Lehramtsbefähigung für die Sekundarstufe I und solchen mit der Lehramtsbefähigung für die Sekundarstufe II. Vielmehr obliege dies auch nach dem Rechtsgutachten des Herrn Professor C1. der freien Entscheidung des Gesetzgebers.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Für weitere Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte sowie die im Verfahren 3 K 12574/17 beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig (I.), aber unbegründet (II.).</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist als Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig. Danach kann das Gericht unter anderem das Bestehen eines – streitigen – Rechtsverhältnisses feststellen. Unter einem solchen versteht man die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften ergebenden Rechte und Pflichten unter anderem zwischen einem Hoheitsträger und einer natürlichen Person. Dazu gehört auch der Anspruch eines Beamten auf amtsangemessene Besoldung.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 21. September 2017 - 2 C 30.16 -, juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Zulässigkeit der Feststellungsklage scheitert auch nicht an dem an sich gemäß § 43 Abs. 2 VwGO bestehenden Vorrang von Leistungs- oder Gestaltungsklagen. Soweit die Klägerin im Hinblick auf ihre Besoldung von einer Untätigkeitsklage im Sinne der Verpflichtungsklage als Unterfall der Leistungsklage spricht, trifft dies nicht zu. Denn wegen des besoldungsrechtlichen Vorbehaltes des Gesetzes (vgl. § 2 Abs. 1 des Landesbesoldungsgesetzes Nordrhein-Westfalen – LBesG NRW) kann der Beamte über eine Leistungsklage keine Besoldung erhalten, die sich nicht aus dem Gesetz ergibt. Ist der Beamte daher – wie hier – der Ansicht, dass die gesetzlich normierte Besoldung rechts- bzw. verfassungswidrig ist, verbleibt allein die Feststellungsklage.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. September 2017 - 2 C 30.16 -, juris, Rn. 8, und vom 20. März 2008 - 2 C 49.07 -, juris, Rn. 29; VG Düsseldorf, Urteil vom 13. Mai 2022 - 26 K 9086/18 -, juris, Rn. 10.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Schließlich steht der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen, dass das nach § 54 Abs. 2 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) in Verbindung mit § 103 Abs. 1 Satz 2 des Landesbeamtengesetzes Nordrhein-Westfalen (LBG NRW) für eine Klage erforderliche erfolglos durchgeführte Widerspruchsverfahren nicht vorliegt, weil der Beklagte den Widerspruch der Klägerin nur im Hinblick auf die Versorgung und nicht die hier in Rede stehende Besoldung beschieden hat. Denn nach stetiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, ist von dem Erfordernis des vor Klageerhebung erfolglos durchgeführten Vorverfahrens abzusehen, wenn der Zweck des Vorverfahrens nicht mehr erreicht werden kann oder diesem bereits Rechnung getragen ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich der Beklagte auf die Klage einlässt und deren Abweisung beantragt, ohne das fehlende Vorverfahren zu rügen. Denn dann kann das Vorverfahren seinen Zweck, die Selbstkontrolle der Verwaltung sowie die Entlastung der Verwaltungsgerichte, nicht mehr erreichen, weil feststeht, dass der Widerspruch unabhängig von der Begründung keinen Erfolg haben würde. Das gilt jedenfalls dann, wenn Widerspruchs- und Ausgangsbehörde identisch sind und der Widerspruchsbehörde kein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zukommt.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Oktober 2013 - 2 C 23.12 -, juris, Rn. 36 f., und vom 15. September 2010 - 8 C 21.09 -, juris, Rn. 24 ff. mit weiteren Nachweisen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Demnach war das erfolglose Durchführen eines Widerspruches hier entbehrlich, da das LBV NRW sowohl als Ausgangs- wie als Widerspruchsbehörde fungiert, ihm im Bereich der Besoldung kein Entscheidungsspielraum zukommt und es sich in seiner Klageerwiderung vom 19. Juli 2018 ausdrücklich mit der Klage und der Besoldungsfrage beschäftigt hat, ohne das im Hinblick auf die Besoldung fehlende Vorverfahren zu rügen. Es hat damit ausdrücklich gezeigt, dass ein Widerspruch keinen Erfolg hätte, weswegen der Zweck desselben hier zu erreichen nicht mehr möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat aber in der Sache keinen Erfolg. Zwar kann der Beklagte sich nicht auf die Verwirkung eines etwaigen Anspruchs berufen (1.). Ein Anspruch auf die begehrte Feststellung der Rechtswidrigkeit der Besoldung scheidet aber aus, da gegen die Einstufung der Klägerin in die Besoldungsgruppe A 12 gemäß der Landesbesoldungsordnung Nordrhein-Westfalen (LBesO NRW a.F.) rechtlich nichts zu erinnern ist (2.).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong></p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Soweit der Beklagte in der mündlichen Verhandlung darauf verwiesen hat, die Klägerin sei jahrzehntelang nicht gegen ihre Besoldung vorgegangen, und sich insoweit auf eine Verwirkung berufen hat, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Das letztlich auf den Grundsatz von Treu und Glauben und hierbei das Prinzip der Verwirkung abzielende Argument verkennt, dass – unabhängig davon, ob das Institut der Verwirkung hier neben der Pflicht zur haushaltsnahen Geltendmachung überhaupt Anwendung finden kann – ein reines Untätigbleiben, wie es hier allein vorliegt, nicht ausreicht, sondern es stets auch eines hier aber nicht erkennbaren Umstandes bedarf, aus dem sich ohne Weiteres die Akzeptanz mit dem nunmehr angegriffenen Zustand ergibt.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. allgemein zur materiell-rechtlichen Verwirkung BVerwG, Beschluss vom 16. Juli 2012 - 9 KSt 4.12 -, juris, Rn. 3; Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 58 Rn. 78.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit ihrer zuletzt gewährten Besoldung. Denn ihre Einstufung in die Besoldungsgruppe A 12 gemäß LBesO NRW a. F. entsprach der damaligen gesetzlichen Regelung (a.) und ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht als rechtswidrig einzustufen (b.).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong></p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 des Landesbesoldungsgesetzes Nordrhein-Westfalen in der hier maßgeblichen, bis zum 21. September 2021 geltenden (alten) Fassung (LBesG NRW a.F.) bestimmt sich das Grundgehalt der Beamten nach der Besoldungsgruppe des ihnen verliehenen Amtes. Nach § 22 Abs. 1 und 2 LBesG NRW a. F. erfolgt die Zuordnung der Besoldungsgruppe zu den jeweiligen Ämtern über die im streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Landesbesoldungsordnungen (LBesO a. F.) A (aufsteigende Gehälter) bzw. B (feste Gehälter). Nach der hier einschlägigen, LBesO a. F. A werden Lehrkräfte wie die Klägerin mit der Befähigung für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen und den entsprechenden Jahrgangsstufen der Gesamtschulen – die Sekundarstufe I – der Besoldungsgruppe A 12 zugeordnet, soweit keine Zuordnung zur Besoldungsgruppe A 13 erfolgt. Eine Zuordnung zur Besoldungsgruppe A 13 ist nach der LBesO a. F. A indes nur für Studienräte mit der Befähigung für das Lehramt an Berufskollegs bzw. an Gymnasien und Gesamtschulen oder nur ausnahmsweise und im Einzelfall für Lehrer mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe I vorgesehen, zu denen die Klägerin nicht gehört.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong></p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Diese Zuordnung unterliegt jedenfalls für den hier vorliegenden „Altfall“, in dem der Betroffene vor der Lehrerausbildungsreform im Jahr 2009 ausgebildet und verbeamtet worden ist, keinen (verfassungs-)rechtlichen Bedenken.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>aa)</strong></p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 LBesG NRW a.F. sind die Funktionen der Beamten sachgerecht zu bewerten und entsprechend bei der Ämterzuordnung zu berücksichtigen. Nach Satz 3 sind die Ämter nach ihrer Wertigkeit den Besoldungsgruppen zuzuordnen. Überformt wird diese Regelung durch das über Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes (GG) unmittelbar geltende Alimentationsprinzip. Nach der Vorschrift des Art. 33 Abs. 5 GG ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Ein zentrales Moment dieser hergebrachten Grundsätze ist das Alimentationsprinzip, das insoweit über Art. 33 Abs. 5 GG zu einem (grundrechtsgleichen) subjektiv-öffentlichen Recht mutiert.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 2015 - 2 BvL 19/09 u.a., juris, Rn. 71 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Das Alimentationsprinzip beinhaltet die Verpflichtung des Dienstherrn, dem Beamten und seiner Familie Unterhalt zu leisten, der dem innegehabten Amt angemessen ist. Dabei sind die Dienstbezüge für ihre Amtsangemessenheit so zu bemessen, dass sie je nach Dienstrang, Bedeutung und Verantwortung des Amtes angemessenen Lebensunterhalt gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Urteile vom 14. Februar 2012 - 2 BvL 4/10 -, juris, Rn. 145, vom 6. März 2007 - 2 BvR 556/04 -, juris, Rn. 68 f.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Der Besoldungsgesetzgeber hat allerdings bei der Umsetzung der Pflicht zur amtsangemessenen Alimentation einen weiten Entscheidungsspielraum sowohl hinsichtlich Struktur als auch Höhe der Alimentation. Daher liegt es nicht beim Gericht zu überprüfen, ob die getroffene Entscheidung die gerechteste und zweckmäßigste bzw. vernünftigste Lösung ist. Vielmehr hat die Gerichtsbarkeit nur bei evidenter Sachwidrigkeit einzuschreiten. Im Ergebnis beschränkt sich die materielle Kontrolle folglich auf die Frage, ob die Bezüge der Beamten evident sachwidrig sind.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 23. Mai 2017 - 2 BvR 883/14 u.a., juris, Rn. 75 ff., und vom 17. November 2015 - 2 BvL 19/09 u.a., juris, Rn. 73 ff. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Eine solche evidente Sachwidrigkeit wäre anzunehmen, wenn der Besoldungsgesetzgeber bei der Zuordnung der Besoldungsgruppen den verfassungsrechtlich garantierten Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzte. Nach dieser Grundbestimmung muss unter anderem der Gesetzgeber wesentlich Gleiches gleich bzw. wesentlich Ungleiches ungleich behandeln. Verboten ist daher ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird. Differenzierungen sind damit nicht ausgeschlossen, bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 - 2 BvL 1/12 -, juris, Rn. 93 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Anforderungen an eine Rechtfertigung von (Un-)Gleichbehandlungen schwanken: Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz unterschiedliche Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund, die von auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15. Dezember 2015 - 2 BvL 1/12 -, juris, Rn. 93, und vom 15. Januar 2014 - 1 BvR 1656/09 -, juris, Rn. 54, jeweils m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Im Bereich des Besoldungsrechts bedeutet dies, dass Beamte mit gleichen oder gleichwertigen Ämtern zwar in der Regel gleich zu besolden sind. Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Die Zulässigkeit einer Differenzierung hängt davon ab, ob nach dem Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ein sachlich gerechtfertigter Grund vorliegt.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2017 - 2 BvR 884/14 u.a., juris, Rn. 84.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Dabei ist in der verfassungsrechtlichen Judikatur geklärt, dass die gerichtliche Überprüfung von (Un-)Gleichbehandlungen im Rahmen des Besoldungsrechts wegen des bereits genannten gesetzgeberischen Entscheidungsspielraumes grundsätzlich auf das Willkürverbot beschränkt ist. Denn jede Besoldungsordnung enthält unvermeidbare Härten und mag aus Sicht der Betroffenen fragwürdig sein. Solche Unebenheiten, Friktionen und Mängel müssen in Kauf genommen werden, solange sich für die Regelung ein plausibler und sachlich vertretbarer Grund anführen lässt. Der Gesetzgeber muss insbesondere die Freiheit haben, von der bisherigen Bewertung eines Amtes im Verhältnis zu einem anderen Amt abzuweichen. Anders lässt sich, wenn man eine Besoldungsordnung in ihrem Bestand nicht versteinern will, eine vom Gesetzgeber für notwendig gehaltene vernünftige Neuregelung und Verbesserung nicht bewerkstelligen. Von daher ist das Gericht darauf beschränkt, nur die Überschreitung äußerster Grenzen zu beanstanden, jenseits derer sich gesetzliche Vorschriften bei der Abgrenzung von Lebenssachverhalten als evident sachwidrig erweisen, die vorgenommene Differenzierung mithin auf keinem sachlichen Grund fußt.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 23. Mai 2017 - 2 BvR 883/14 u.a., juris, Rn. 85 f., und vom 6. Mai 2004 - 2 BvL 16/02 -, juris, Rn. 42, und vom 4. April 2001 - 2 BvL 7/98 -, juris, Rn. 44.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks"><strong>bb)</strong></p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben ist zwar vorliegend eine Ungleichbehandlung auszumachen, weil die an einem Gymnasium mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe I tätige Klägerin anders als ebenfalls an Gymnasien tätige Studienräte mit der Lehrbefähigung für die Sekundarstufe II einer niedrigeren Besoldungsgruppe zugeordnet war und insoweit wesentlich Gleiches (Lehrkräfte an Gymnasien) wegen eines bestimmten Differenzierungsmerkmals (Lehrbefähigung für die Sekundarstufe I bzw. II) ungleich (unterschiedliche Besoldungsgruppe) behandelt wird.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Diese Ungleichbehandlung fußt aber aus Sicht des Gerichts auf einem sachlichen, d.h. plausiblen und dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung gerecht werdenden Grund. Denn der Gesetzgeber überschreitet nicht seinen besoldungsrechtlichen Gestaltungsspielraum, wenn er Beamte – wie hier – unterschiedlich behandelt, die im Rahmen ihrer Fachausbildung erheblichen unterschiedlichen Anforderungen unterliegen. Insoweit mag es als unschön wahrgenommen werden, ist aber keineswegs evident sachwidrig, die Wertigkeit eines Amtes mit der für dieses Amt erforderlichen Vorbildung zu bestimmen und insoweit die Besoldung je nach Vorbildung unterschiedlich auszugestalten. Denn die Zuordnung der Ämter zu Besoldungsgruppen beruht unter anderem auf der generellen Überlegung, dass es zulässig und geboten ist, eine höher qualifizierte Vorbildung zur Voraussetzung für eine bessere Besoldung zu machen, wenn die qualifizierte Vorbildung generell für die ordnungsgemäße Erfüllung der höher eingestuften Tätigkeit „von Bedeutung“ ist.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 1983 - 2 BvR 460/80 -, juris, Rn. 42 f.; BVerwG, Urteil vom 21. Dezember 2000 2 C 41.99 -, juris, Rn. 14; OVG NRW, Beschluss vom - 6 A 3712/04 -, juris, Rn. 8; VG Düsseldorf, Urteil vom 13. Mai 2022 - 26 K 9086/18 -, juris, Rn. 51 f.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">So liegt die Sache hier. Für die Ausbildung der Klägerin galt das Lehrerausbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 29. Oktober 1974 (LABG NRW 1974). Zwar ist dieses Gesetz überwiegend erst zum 1. Mai 1975, mithin nach Beginn des Studiums der Klägerin im Oktober 1974, in Kraft getreten. Nach § 25 Abs. 3 LABG NRW 1974 konnten Studierende, die ihr Studium vor Inkrafttreten des Gesetzes aufgenommen haben, ihren Studienabschluss aber nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach der Vorgängerregelung erreichen. Die Klägerin hat ihr Studium indes im Jahr 1978, also nach Ablauf von zwei Jahren nach Inkrafttreten des LABG NRW 1974 und demnach unter den Bedingungen des LABG NRW 1974 abgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Lehramtsausbildung basierte dabei nach dem LABG NRW 1974 gerade auf der Differenzierung zwischen dem Lehramt für die Sekundarstufe I und dem Lehramt für die Sekundarstufe II. Dabei wurden bereits an das Studium – unabhängig seiner individuellen Ausgestaltung und Dauer – unterschiedliche Anforderungen gestellt: Während beim Lehramt für die Sekundarstufe I eine Regelstudiendauer von sechs Semestern vorgesehen war (§ 6 Abs. 1 LABG NRW 1974), betrug die Regelstudiendauer beim Lehramt für die Sekundarstufe II acht Semester (§ 7 Abs. 1 LABG NRW 1974). Diese unterschiedliche Studiendauer war auf den Umfang des Studienstoffes zurückzuführen, der insoweit einen weiteren Differenzierungsgrund liefert. Während das Studium beim Lehramt für die Sekundarstufe I nach § 12 LABG NRW 1974 das erziehungswissenschaftliche Studium sowie das Studium zweier Unterrichtsfächer umfasste, wobei eine Gleichgewichtung aller Studienbestandteile vorgesehen war, wies das Studium beim Lehramt für die Sekundarstufe II nach § 13 Abs. 1 LABG NRW 1974 eine doppelte Gewichtung des Studiums eines der beiden Unterrichtsfächern auf und lässt für die Unterrichtsfächer auch das – umfangreichere – Studium einer beruflichen Fachrichtung zu. Da die Sekundarstufe II die Oberstufe an Gymnasien umfasste, liegt auch eine hinreichende Bedeutung der stärker auf die Unterrichtsfächer gerichteten Vorbildung vor, die eine vorbildungsorientierte Differenzierung nach besagtem Maßstab zulässt.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Angesichts dieser nicht nur marginalen Unterschiede bereits in der Fachausbildung kann von einer evidenten Sachwidrigkeit der vom Gesetzgeber vorgenommenen Differenzierung keine Rede sein. Insoweit bedarf es auch keiner Entscheidung durch das Gericht, ob sich die Sekundarstufen I und II (auch) hinsichtlich Tätigkeitsinhalt und Verantwortungsgrad hinreichend unterscheiden, um die unterschiedliche Besoldung zu rechtfertigen, weil bereits die unterschiedliche Ausgestaltung in der Ausbildung die Differenzierung zu tragen imstande ist.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Soweit die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 13. September 2022 zur Begründung einer evidenten Sachwidrigkeit auf die 2009 erfolgte Lehrerausbildungsreform, bei der nunmehr eine weitestgehende Vereinheitlichung der Lehrerausbildung vorgenommen worden ist, sowie später erfolgte weitere Modifikationen in der Gewinnung der Lehrbefähigung verweist, verkennt sie, dass es im hiesigen Fall darauf nicht ankommt, weil diese Reformen sie gar nicht betroffen haben. Insbesondere ist hierdurch die bisherige Ausbildungsdiversität nicht beseitigt worden. Der benannte hinreichende Differenzierungsgrund bleibt daher jedenfalls für die Klägerin weiterhin beachtlich. Der Gesetzgeber hätte zwar die Reform zum Anlass nehmen können, in den „Altfällen“ wie hier besoldungsrechtliche Angleichungen vorzunehmen. Angesichts der weiterhin bestehenden Ausbildungsunterschiede war er aber nach besagtem Maßstab nicht dazu verpflichtet. Vor diesem Hintergrund überzeugt auch der Hinweis der Klägerseite auf die vom Bundesverfassungsgericht angenommenen prozedualen Überprüfungspflichten nicht. Denn unabhängig davon, dass diese nach der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur zuvörderst die Frage der Höhe der Besoldung an sich und nicht die Frage der Gleichbehandlung und Eingruppierung betreffen, vermag ein etwaiger Verstoß des Gesetzgebers gegen seine Pflicht, die Besoldung regelmäßig zu überprüfen und ggf. anzupassen, freilich keinen subjektiven Anspruch der Klägerin auf eine höhere Besoldung auszulösen, da dies weiterhin von den materiellen Maßstäben des Besoldungsrechts abhängt.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Auch soweit die Klägerin auf das Rechtsgutachten von Herrn Professor C1. verweist, sieht sich das Gericht nicht veranlasst, eine andere Rechtsauffassung zu vertreten. Dies bereits deshalb, weil nach den von der Klägerin selbst zitierten Aussagen des Gutachtens für sog. „Altfälle“ wie hier, in denen die Lehramtsbefähigung vor der Angleichung der Lehrerausbildung im Jahr 2009 erworben worden ist, nur eine Empfehlung ausgesprochen wird, keinesfalls aber – und insoweit zutreffend –von einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung die Rede ist. Auch wenn die Klägerin Anderes meint, spricht Professor C1. gerade ob der unterschiedlichen Lehrerausbildung bis zur Reform 2009 lediglich davon, dass der Gesetzgeber „berechtigt“ ist, die Besoldung hierbei anzugleichen. Insoweit sprächen Aspekte dafür, die Besoldung entsprechend auszugestalten. In dem Gutachten wird – anders als für den Bereich der nach 2009 ausgebildeten Lehrkräfte – in keiner Weise von verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Ungleichbehandlung gesprochen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Eine evidente Sachwidrigkeit vermag sich auch nicht daraus ergeben, dass die Klägerin – wie ihr Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat – während ihrer Dienstzeit eine Strukturzulage in Höhe des Differenzbetrages zwischen den Besoldungsgruppen A 12 und A 13 erhalten haben und dadurch die Widersprüchlichkeit in der Lehrerbesoldung offenkundig sein soll. Denn unabhängig davon, dass Zulagen keinen Einfluss auf die hier allein maßgebliche Frage der Zuordnung der Besoldungsgruppen haben, sieht das Gesetz eine solche Zulage für Lehrkräfte nach A 12 ohnehin nicht vor (vgl. §§ 47, 55 LBesG NRW), weswegen man dem Gesetzgeber auch nicht unterstellen kann, er räume durch die faktische besoldungsrechtliche Gleichbehandlung von Lehrkräften wie der Klägerin mit Studienräten die Erforderlichkeit einer Gleichstellung auch bei der Einordnung in die Besoldungsgruppen ein.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Etwas Anderes ist auch nicht deshalb anzunehmen, weil die LBesO a. F. A auch für Lehrkräfte mit der Befähigung zum Lehramt für die Sekundarstufe I den Aufstieg in die Besoldungsgruppe A 13 ermöglicht. Denn insoweit handelt es sich – offenbar aus Gründen der Attraktivitätssteigerung des Lehramtsberufs vor allem an Grund- und Hauptschulen – um eine stellenmäßig nur begrenzte Beförderungs-, nicht aber um eine Einstiegsmöglichkeit. Gegenstand des Verfahrens ist aber, da die Klägerin jeher nach A 12 besoldet wurde, gerade die allgemeine Ungleichbehandlung zwischen Lehrkräften wie der Klägerin ohne Studium auf Lehramt für die Sekundarstufe II und Lehrkräften mit einem solchen Studium. Dadurch dass eine Beförderung nach A 13 auch für Lehrkräfte wie die Klägerin möglich war, zeigt der Gesetzgeber auch nicht, dass er die Differenzierung zwischen den beiden Lehramtstypen aufzugeben beabsichtigt bzw. keinen Unterschied mehr zwischen beiden sieht. Vielmehr handelt es sich um eine für Lehrkräfte ohne die Befähigung für die Sekundarstufe II eröffnete Möglichkeit des Aufstieges trotz unterschiedlicher Vorbildung. Dadurch wird der allgemeinen Ungleichbehandlung zwischen beiden Lehramtstypen aber nicht per se die Verfassungswidrigkeit bescheinigt.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Schließlich vermag die Kammer auch keine (mittelbare) Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts oder des Alters anzunehmen. Soweit die Klägerin auf den Anteil von Frauen an Grundschulen verweist, ist zu bedenken, dass sie selbst an einem Gymnasium tätig war und daher – eine mittelbare geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung unterstellt – hiervon nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt wäre. Schließlich vermag das Gericht auch keine Altersdiskriminierung erkennen. Unabhängig davon, dass eine solche wohl auch unter Beachtung eines womöglich dann strengeren Rechtfertigungsmaßstabes angesichts der benannten Strukturunterschiede gerechtfertigt wäre, kann eine solche überhaupt erst angenommen werden, wenn die „Neufälle“, in denen Ausbildung und Ernennung auf Lebenszeit nach 2009 erfolgten, tatsächlich besoldungsrechtlich anders behandelt werden, was bislang aber nicht der Fall ist. Dies ergibt sich auch ausdrücklich aus dem von der Klägerin in Bezug genommenen Rechtsgutachten des Herrn Professor C1. , das die Frage nach der Altersdiskriminierung nur für den Fall eine Modifikation des Besoldungssystems, also auf die (potentielle) Zukunft gerichtet, stellt (S. 62 f.).</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Nichts Anderes gilt schließlich, falls man unter Verweis auf die nicht stets eindeutige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts einen plausiblen Sachgrund nicht genügen lassen, sondern die Verhältnismäßigkeit als Rechtfertigungsmaßstab für die Ungleichbehandlung heranziehen wollte. Nach dieser ist eine Differenzierung nur dann gerechtfertigt, wenn für sie Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993 - 1 BvL 38/92 u.a. -, juris, Rn. 36.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Demnach erweist sich die unterschiedliche Besoldungsregulation nicht als gleichheitswidrig, weil sich bereits die Unterschiede in der Lehrerausbildung als so gewichtig erweisen, dass sie den Unterschied in Gestalt von einer Besoldungsstufe als angemessen erscheinen lassen. Das liegt vornehmlich darin begründet, dass die längere Studiendauer sowie die deutlich stärkere Gewichtung und Bedeutung der fachlichen Ausbildung dazu führen, dass für das Erlangen der Lehramtsbefähigung für die Sekundarstufe II ein spürbarer und nicht nur marginaler Mehraufwand in der Ausbildung geleistet werden musste, der nicht außer Verhältnis zu der an ihn anknüpfenden im Vergleich zu Lehrkräften mit der Lehramtsbefähigung für die Sekundarstufe I unterschiedlich ausfallenden besoldungsrechtlichen Folge steht.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Angesichts des Vorstehenden kann sich die Klägerin auch nicht mit Erfolg auf Art. 24 Abs. 2 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen berufen, weil sich hieraus kein anderer Maßstab als der bereits benannte ergibt.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 der Zivilprozessordnung.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks"><strong>IV.</strong></p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, weil sich die Frage der gleichheitswidrigen Besoldung für „Altfälle“ nicht nur in diesem Verfahren, sondern in einer Vielzahl weiterer Verfahren stellen kann.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen und muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Die Begründung ist, wenn sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
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} | 5 Ta 133/22 | 2022-09-14T00:00:00 | 2022-10-01T10:01:25 | 2022-10-17T11:10:44 | Beschluss | ECLI:DE:LAGHAM:2022:0914.5TA133.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die sofortige Beschwerde des Klägers vom 03.02.2022 gegen den Prozesskostenhilfe-Aufhebungsbeschluss des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 04.01.2022 - 7 Ca 29/20 - wird zurückgewiesen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung wegen fehlender Mitwirkung im Prüfungsverfahren.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 06.04.2020 wurde dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten bewilligt mit der Maßgabe, dass kein eigener Beitrag zu den Prozesskosten zu leisten ist.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 20.10.2021, zugestellt am 21.10.2021, wurde der Kläger aufgefordert, eine aktuelle Erklärung über die Einkommensverhältnisse abzugeben und eine Frist von einem Monat gesetzt. Mit weiterem Schreiben vom 24.11.2021 wurde an die Erledigung erinnert und eine neue Frist gesetzt. Nachdem diese Aufforderungen unbeantwortet blieben, hob das Arbeitsgericht den Prozesskostenhilfe-Bewilligungsbeschluss vom 06.04.2020 mit weiterem Beschluss vom 04.01.2022 unter Hinweis auf die Verletzung von Mitwirkungspflichten auf.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Gegen diese dem Prozessbevollmächtigten am 04.01.2022 zugestellte Entscheidung wendet sich der Kläger mit der am 03.02.2022 bei Gericht eingegangenen sofortigen Beschwerde, der eine Verdienstbescheinigung und ein Mietvertrag in Kopie beigefügt waren. Er verwies auf jetzt bestehende Unterhaltspflichten für zwei Kinder sowie eine eröffnete Privatinsolvenz.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 07.02.2022 wurde der Kläger aufgefordert, fehlende Unterlagen, insbesondere eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorzulegen und eine Frist bis zum 07.03.2022 hierfür gesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Nachdem diese trotz einer gewährten Fristverlängerung nicht vorgelegt wurden, legte das Arbeitsgericht die Beschwerde mit Nichtabhilfe-Entscheidung vom 19.04.2022 zur Entscheidung vor.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdekammer forderte den Kläger mit Schreiben vom 02.05.2022 sowie 13.06.2022 dazu auf, fehlende Unterlagen, hier die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie den Beschluss über die Eröffnung der Privatinsolvenz bezüglich des Klägers vorzulegen. Beides ohne Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">I. Die gem. § 11 Abs. 1 RPflG, 78 ArbGG und §§ 127 Abs. 2 S. 2, 567 ff ZPO an sich statthafte, form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1. Nach § 11a Abs. 1 ArbGG i. V. m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 ZPO soll das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtige Angaben über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht oder eine Erklärung im Prozesskostenhilfe-Prüfungsverfahren, § 120 a Abs.1 S. 3 ZPO, nicht abgegeben hat. Ein solches Fehlverhalten setzt in der Regel voraus, dass die Partei unter Fristsetzung ergebnislos zur Vorlage bestimmter, im Einzelnen benannter Belege und/oder zur Abgabe einer Erklärung über eine etwaige Änderung der Verhältnisse aufgefordert worden ist. (Gottschalk/Schneider, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 10. Auflage 2022, Rn 1009 m. w. N.). Kommt die Partei einer solchen konkreten Aufforderung trotz Mahnung nicht in angemessener Zeit nach, ist eine Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung wegen Verletzung der Mitwirkungspflichten gerechtfertigt.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Maßstäben hat das Arbeitsgericht den Prozesskostenhilfe-Bewilligungsbeschluss zu Recht aufgehoben. Der Kläger hat sich trotz Aufforderung und entsprechender Hinweise des Arbeitsgerichts auf die Folgen der Untätigkeit nicht zu den aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen erklärt, was mangels gegenteiliger, mit der Beschwerde vorzubringender Anhaltspunkte, auf grobe Nachlässigkeit schließen lässt.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">a) Letztlich ist der Kläger diesen Pflichten trotz zahlreicher Hinweise beider Instanzen nicht nachgekommen. Die Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Nachprüfungsverfahren ist gem. § 120 a Abs. 4 ZPO unbedingter Bestandteil der notwendigen Angaben/Unterlagen für die Nachprüfung, da nur dort die für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit erforderlichen Angaben beantwortet werden. Dazu zählt insbesondere auch die Erklärung über die Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben unter Buchstabe "K" des Formulars. Das Verlangen nach der Erklärung stellt daher keine bloße Förmelei dar. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Bedürftigkeit aus anderen Gründen offensichtlich ist (OLG Dresden, Beschluss vom 04. April 2018, 4 W 325/18, juris bei fehlender Unterschrift unter der Erklärung; LAG Köln, Beschluss vom 23. Februar 2017, 1 Ta 280/16, juris, Rz. 4).</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Dies ist vorliegend nicht gegeben. Der Kläger hat nicht belegt, dass ein Sachverhalt vorliegt, der eine nachträgliche Anordnung von Raten ausschließt.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">b) Zwar hat sich der Kläger u.a. darauf berufen, dass ein Privatinsolvenzverfahren über sein Vermögen eröffnet sei. Dieses könnte eine Leistungsfähigkeit insoweit ausschließen, als eine nachträgliche Anordnung von Raten nicht mehr in Betracht kommt, wenn die Staatskasse als Insolvenzgläubigerin Zahlungen, die zu einem vor der Insolvenzeröffnung liegenden Zeitpunkt entstanden sind, nicht mehr wirksam vollstrecken könnte. Der Kläger hat dieses aber nicht belegt.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">aa) Der BGH hat hierzu ausgeführt, dass ein vor der Insolvenzeröffnung entstandener Anspruch des Staates auf Gerichtskosten und die nach § 59 Abs. 1 Satz 1 RVG auf die Staatskasse übergegangenen Gebührenansprüche des Rechtsanwalts Insolvenzforderungen sind, die nur im Rahmen des Insolvenzverfahrens - und damit nicht im Wege einer verfahrenskostenhilferechtlichen Zahlungsanordnung - geltend gemacht werden können. Die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandenen Forderungen der Staatskasse, zu deren Geltendmachung die nachträgliche Zahlungsanordnung ergehen würde, seien Insolvenzforderungen im Sinne von §§ 38, 87 InsO (BGH, Beschluss vom 28. August 2019, XII ZB 119/19, Rn. 14, juris).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">bb) Soweit die Pfändungsfreigrenzen nicht mit den Freibeträgen gem. § 115 ZPO korrespondierten, so dass rechnerisch ein anrechenbares Einkommen auch dann verbleiben könne, obwohl eine Pfändbarkeit im Rahmen des Insolvenzverfahrens nicht gegeben sei, stehe dieses nicht entgegen. Dieses gelte auch vor dem Hintergrund, dass eine nicht insolvente, gleichwohl mit Einkommen unterhalb der Pfändungsgrenze gem. §§ 850 c ff ZPO aber oberhalb des Existenzminimums gem. § 115 ZPO lebende Partei Raten zu zahlen hätte (BGH, Beschluss vom 28. August 2019, XII ZB 119/19, Rn. 12, juris).</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Dies entspreche dem gesetzgeberischen Zweck, den das mit einer Restschuldbefreiung verbundene Insolvenzverfahren verfolgt, dem gescheiterten Schuldner einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen. Deshalb sei es folgerichtig, dass für bereits bestehende Verbindlichkeiten nur die Insolvenzmasse (§ 35 Abs. 1 InsO) zur Verfügung stehe, zu der gemäß § 36 Abs. 1 InsO das während des Insolvenzverfahrens erzielte Arbeitseinkommen nur insoweit gehöre, als es pfändbar sei (BGH, Beschluss vom 28. August 2019 – XII ZB 119/19 –, Rn. 21, juris).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Anderenfalls hätte die Eröffnung des Insolvenzverfahrens regelmäßig eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Bedürftigen im Sinne des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur Folge. Denn statt zuvor nach § 115 ZPO absetzbarer Zahlungen auf Verbindlichkeiten, die ursprünglich einer Ratenzahlungsanordnung entgegenstanden, müsste der Bedürftige nur noch die oberhalb der Pfändungsfreigrenzen liegenden Beträge entrichten (vgl. §§ 287 Abs. 2, 305 Abs. 1 Nr. 2 InsO) und verfügte mithin verfahrenskostenhilferechtlich gegebenenfalls über ein einzusetzendes Einkommen, selbst wenn sich - von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgesehen - keine Änderungen seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ergeben hätten. Dies widerspräche aber der Zielrichtung des Insolvenzverfahrens (BGH, Beschluss vom 28. August 2019 – XII ZB 119/19 –, Rn. 22, juris).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">cc) Insbesondere der letztgenannte Aspekt überzeugt, da durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch bisher von der Partei zu bedienende Verpflichtungen im Rahmen der Privatinsolvenz ausgeglichen und nicht etwa aus Beträgen geleistet würden, die unterhalb der Pfändungsgrenze lägen, so dass die Partei, die sich im Insolvenzverfahren befindet, keine Belastungen geltend machen könnte, deren Geltendmachung ihr ansonsten möglich wäre. Die Kammer schließt sich daher der Rechtsprechung des BGH unter Aufgabe der bisherigen, davon abweichenden Rechtsprechung an.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">b) Der Kläger hat sich aber über die Sachverhalte, die eine Überprüfung seiner aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse ermöglichen, vollständig zu erklären.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Dies ist nicht geschehen. Weder hat der Kläger die zwingend gem. § 120 a Abs. 4 ZPO vorzulegende Erklärung, noch einen Beleg darüber, der ihn von dieser Pflicht ggf. entbinden könnte, vorgelegt. Die Eröffnung eines Privatinsolvenzverfahrens ist bisher lediglich behauptet, nicht aber belegt worden.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">c) Da der Kläger somit den erforderlichen Auflagen auch im Beschwerdeverfahren nicht nachgekommen ist, ist er seinen Mitwirkungspflichten nicht hinreichend nachgekommen; eine verantwortliche Prüfung der Vermögensverhältnisse ist nicht möglich. Die sofortige Beschwerde war zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben, denn ein Grund für die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. § 574 Abs. 2 und 3 ZPO) besteht nicht.</p>
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} | 6 K 1920/22.A | 2022-09-14T00:00:00 | 2022-09-28T10:01:12 | 2022-10-17T11:10:36 | Beschluss | ECLI:DE:VGAC:2022:0914.6K1920.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag des Klägers auf Fristverlängerung mit Schreiben vom 26. August 2022 wird abgelehnt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verlängerung der Frist liegen nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG hat der Kläger die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Entscheidung anzugeben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 224 Abs. 2 ZPO können auf Antrag richterliche und gesetzliche Fristen abgekürzt oder verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind, gesetzliche Fristen jedoch nur in den besonders bestimmten Fällen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Daher können gesetzlichen Fristen nur abgeändert werden, wenn das Gesetz selbst die Abänderbarkeit ausdrücklich vorsieht (wie z.B. bei § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Stackmann</em>, in: MüKo ZPO, 6. Aufl. 2020, ZPO § 224 Rn. 4; <em>Jaspersen</em>, in: BeckOK ZPO, 45. Ed. 1.7.2022, ZPO § 224 Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG statuiert für die Klagebegründung eine gesetzliche Frist (ein Monat), die seitens des Gerichts nicht verlängert werden kann.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Schulz-Bredemeier</em>, in: Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, AsylG § 74 Rn. 9.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Denn das AsylG sieht die Abänderbarkeit der gesetzlichen Klagebegründungsfrist des § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht vor.</p>
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} | 2 Wx 190/22 | 2022-09-14T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:09 | 2022-10-17T11:10:28 | Beschluss | ECLI:DE:OLGK:2022:0914.2WX190.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Auf die Beschwerde des Beteiligten vom 23.08.2022 wird der am 22.08.2022 erlassene Beschluss der Rechtspflegerin des Amtsgerichts – Nachlassgerichts – Aachen, 700G VI 1086/22, aufgehoben. Die Tatsachen, die zur Begründung des Antrags des Beteiligten vom 29.04.2022 auf Erteilung eines Alleinerbscheins erforderlich sind, werden für festgestellt erachtet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am xx.xx.2022 ist A B (im Folgenden: Erblasserin) verstorben. Sie war in einziger Ehe verheiratet mit dem am xx.xx.2010 vorverstorbenen C B.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Gemeinsam mit ihrem Ehemann hat die Erblasserin am 23.03.1988 ein privatschriftliches gemeinschaftliches Testament errichtet, in dem sich die Eheleute gegenseitig als Alleinerben eingesetzt, ansonsten aber keine Verfügung getroffen haben.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 17.09.2010 hat die Erblasserin ein privatschriftliches Testament errichtet (Bl. 20 d. Testamentsakte 700G IV 582/22), in dem sie Folgendes verfügt hat:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks"><em>„Hiermit setze ich meinen Sohn D B geb. x.xx.1957 als meinen Alleinerben ein.“ </em></p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit notarieller Urkunde vom 29.04.2022 – UVZ-Nr. X1/22 des Notars E in F - hat der Beteiligte die Erteilung eines Alleinerbscheins beantragt (Bl. 2 ff. d.A.). Er hat sich hierbei auf das Testament vom 17.09.2010 gestützt und ausgeführt, dass die Erblasserin danach von ihm, ihrem Sohn, als Alleinerbe beerbt worden sei.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Das Nachlassgericht hat den Verfahrensbevollmächtigten des Beteiligten daraufhin aufgefordert, eine beglaubigte Geburtsurkunde des Beteiligten zu übersenden. Dem ist der Verfahrensbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 22.06.2022 entgegengetreten und hat ausgeführt, dass der Beteiligte mit Vor- und Nachnamen sowie Geburtsdatum im Testament genannt worden und im Übrigen durch bereits vorliegende Unterlagen identifizierbar sei.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Durch am 22.08.2022 erlassenen Beschluss hat das Nachlassgericht den Erbscheinsantrag des Beteiligten zurückgewiesen, weil er nicht durch Vorlage einer Abstammungsurkunde oder ähnliches nachgewiesen habe, der Sohn der Erblasserin zu sein (Bl. 29 ff. d.A.). Die Bezeichnung als Sohn sei ein maßgebliches Kriterium für die Erbeinsetzung und nicht nur eine ergänzende Angabe zur Identifikation des eingesetzten Erben.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen dem Verfahrensbevollmächtigtem des Beteiligten am 22.08.2022 zugestellten Beschluss hat dieser im Namen des Beteiligten mit am 23.08.2022 beim Amtsgericht Aachen eingegangenen Schriftsatz vom selben Tag Beschwerde eingelegt (Bl. 33 f. d.A.). Er hat vorgetragen, dass der Beteiligte im Testament durch die Angaben von Namen und Geburtsdatum eindeutig als Erbe bezeichnet worden sei und es auf das zusätzliche Merkmal „mein Sohn“ nicht ankomme.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Durch am 07.09.2022 erlassenen Beschluss hat das Nachlassgericht der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht Köln zur Entscheidung vorgelegt (Bl. 51 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde des Beteiligten hat auch in der Sache Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Das Nachlassgericht hat den Erbscheinsantrag des Beteiligten zu Unrecht zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für die Erteilung des beantragten Alleinerbscheins liegen vor. Dementsprechend hat der Senat die Tatsachen, die zur Begründung des Antrags erforderlich sind, gem. § 352e Abs. 1 S. 1, 2 FamFG für festgestellt erachtet.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Ist der Erbe – wie hier - aufgrund einer Verfügung von Todes wegen berufen, so hat er die Verfügung von Todes wegen zu bezeichnen, auf der sein Erbrecht beruht (§ 352 Abs. 2 Nr. 1 FamFG), anzugeben, ob weitere Verfügungen von Todes wegen vorhanden sind (§ 352 Abs. 2 Nr. 2 FamFG), und weitere Angaben über den Todeszeitpunkt und letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers zu machen, sowie darüber, ob ein Rechtsstreit über das Erbrecht anhängig ist, er die Erbschaft angenommen hat und welche Größe sein Erbteil ausmacht. Zusätzlich hat er Angaben über weggefallene Personen zu machen, die seinen Erbteil schmälern oder seine Berufung ausschließen würden (§ 352 Abs. 2 Nr. 3 FamFG). Gem. § 352 Abs. 3 S. 1 FamFG hat er die Urkunde vorzulegen, auf der sein Erbrecht beruht. Diese Voraussetzungen sind gegeben. Insbesondere liegt das Testament vom 17.09.2010 vor, in dem der Beteiligte von der Erblasserin namentlich und unter Angabe seines Geburtsdatums als Alleinerbe bezeichnet worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Zwar kann das Nachlassgericht nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen, wenn hierfür Anhaltspunkte vorliegen. So genügt insbesondere die bloße Vorlage einer Verfügung von Todes wegen nicht, wenn testamentarisch bedachte Personen lediglich über Beschreibungen, z.B. über die Bezeichnung als „Sohn“, und daher nur unter Berücksichtigung weiterer Umstände identifiziert werden können (MüKo-FamFG/Grziwotz, 3. Aufl. 2019, § 352 Rn. 40; BeckOK-FamFG/Schlögel, Stand: 01.07.2022, § 352 Rn. 13; Grüneberg/Weidlich, BGB, 81. Aufl. 2022, § 2353 Rn. 15). In einem solchen Fall kann daher auch der gewillkürte Erbe zur Vorlage einer Abstammungsurkunde verpflichtet sein. Hier hat das Nachlassgericht indes zu Unrecht die Vorlage einer Abstammungsurkunde vom Beteiligten verlangt. Denn die Identität des Erben steht aufgrund der Angaben von Namen und Geburtsdatum des Erben im Testament fest. Auf die Angabe „mein Sohn“ kommt es daher nicht mehr an, zumal diese Bezeichnung des Beteiligten im Testament nicht als Bedingung für seine Einsetzung verstanden werden kann. Denn ob der Beteiligte tatsächlich der Sohn der Erblasserin ist oder von der Erblasserin nur als ihr Sohn bezeichnet worden ist, weil es sich beispielsweise um ein Pflegekind oder einen Sohn ihres vorverstorbenen Ehemannes gehandelt hat, wird die Erblasserin selbst am besten gewusst haben. Es kann daher ausgeschlossen werden, dass die Erblasserin die Alleinerbenstellung des unter Angabe von vollständigem Namen und Geburtsdatum genannten Beteiligten davon abhängig machen wollte, dass er ihr Sohn ist. Der Vorlage einer Abstammungsurkunde bedarf es nicht.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Erbschein ist daher vom Nachlassgericht antragsgemäß zu erteilen.</p>
|
346,675 | ovgnrw-2022-09-14-19-a-138122 | {
"id": 823,
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"slug": "ovgnrw",
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"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 19 A 1381/22 | 2022-09-14T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:09 | 2022-10-17T11:10:28 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0914.19A1381.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet. Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Der Kläger stützt seinen Antrag auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich jedoch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. statt vieler BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 18. März 2022 ‑ 2 BvR 1232/20 ‑, NVwZ 2022, 789, juris, Rn. 23, vom 7. Juli 2021 ‑ 1 BvR 2356/19 -, NVwZ-RR 2021, 961, juris, Rn. 23, vom 16. April 2020 ‑ 1 BvR 2705/16 ‑, NVwZ-RR 2020, 905, juris, Rn. 21, und Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff.; VerfGH NRW, Beschlüsse vom 13. Oktober 2020 ‑ VerfGH 82/20.VB-2 ‑, juris, Rn. 19, und vom 17. Dezember 2019 ‑ VerfGH 56/19.VB-3 -, NVwZ-RR 2020, 377, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die auf § 35 Abs. 1 StAG gestützte und mit Bescheid vom 30. März 2017 verfügte Rücknahme der am 2. Mai 2012 vollzogenen Einbürgerung des Klägers rechtmäßig sei, weil im Zeitpunkt seiner Einbürgerung der Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Satz 1 StAG vorgelegen habe. Tatsächliche Anhaltspunkte im Sinn dieser Vorschrift hätten die Annahme gerechtfertigt, dass der Kläger Bestrebungen unterstützt habe, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet gewesen seien (juris, Rn. 36 ff.). Über diese Unterstützung habe er die Einbürgerungsbehörde arglistig getäuscht.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger macht mit seinem Zulassungsantrag geltend, das Verwaltungsgericht habe eine nicht vertretbare Entscheidung zu der Frage getroffen, ob er bereits im Zeitpunkt der Stellung seines Einbürgerungsantrags im Dezember 2011 und bei Aushändigung der Einbürgerungsurkunde im Mai 2012 Bestrebungen unterstützt habe, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet gewesen seien. Hierbei habe das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf eine vermeintliche Mitgliedschaft in der Gruppierung DAWA EU, geringfügige Spenden für Koranvervielfältigungen und die Inhaberschaft der Domain www.alhijra.de abgestellt. Die Einstufung der Gruppierung DAWA EU als verfassungsfeindlich fuße fast ausschließlich auf den Angaben des Zeugen M. , obwohl erhebliche Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit bestünden. Die genannten Spenden ließen sich nicht als Indiz für eine verfassungsfeindliche Gesinnung anführen, weil sie zu einem Zeitpunkt erfolgten, als die Koranverteilungen im Rahmen der Aktion „Lies!“ noch völlig unverdächtig hinsichtlich möglicher verfassungsfeindlicher Bestrebungen gewesen seien. Die Domain www.alhijra.de sei zu einem Zeitpunkt eingerichtet worden, zu welchem der Bürgerkrieg in Syrien noch nicht ausgebrochen, ein Islamischer Staat (IS) noch nicht gegründet und der Begriff „Hijra“ eine völlig andere Bedeutung als einige Jahre später gehabt habe. Da er im Zeitpunkt seiner Einbürgerung keine salafistischen Bestrebungen unterstützt habe, habe er über diesen Umstand auch nicht täuschen können. Zudem hätten auch das Landesamt für Verfassungsschutz und die anderen polizeilichen Behörden keine Bedenken gegen seine Einbürgerung angemeldet, obwohl bereits seit 2011 Berichte über ihn und über DAWA EU vorgelegen hätten.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit diesem Zulassungsvorbringen stellt der Kläger die Würdigung des Verwaltungsgerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) nicht schlüssig in Frage.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die bloße Möglichkeit einer anderen Bewertung des Ergebnisses einer Beweisaufnahme und der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Erstgerichts allein genügt zur Begründung ernstlicher Zweifel nicht. Soweit sich das tatsächliche Vorbringen im Zulassungsverfahren - wie dies vorliegend der Fall ist - auf die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Sachverhalts- und Beweiswürdigung bezieht, kommt eine Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur in Betracht, wenn aufgezeigt wird, dass die Richtigkeit der richterlichen Überzeugungsbildung mangelhaft ist, weil das Verwaltungsgericht mit Blick auf entscheidungserhebliche Tatsachen von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiserhebung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist, was insbesondere bei einer Verletzung von gesetzlichen Beweisregeln, Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, bei aktenwidrig angenommenem Sachverhalt oder offensichtlich sachwidriger und damit willkürlicher Beweiswürdigung anzunehmen ist.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 16. August 2022 ‑ 19 A 735/21 -, juris, Rn. 12; Bay. VGH, Beschluss vom 5. Juli 2016 ‑ 10 ZB 14.1402 -, juris, Rn. 6, jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Dass derartige Mängel der verwaltungsgerichtlichen Überzeugungsbildung vorliegen, zeigt der Kläger mit seiner Zulassungsbegründung nicht auf.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1. Dies gilt zunächst für die Einwendungen des Klägers gegen die tatrichterliche Bewertung der Angaben des Zeugen M. .</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Kläger zeigt nicht auf, dass die diesbezügliche Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist, sondern beschränkt sich darauf, einzelne Gesichtspunkte zu benennen, die aus seiner Sicht anders hätten bewertet werden können. So rügt der Kläger, dass sich das Verwaltungsgericht mit den in der Anlage zum Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 11. Januar 2021 dargelegten Widersprüchen in den Angaben des Zeugen M. „inhaltlich allenfalls in Ansätzen auseinandergesetzt“ habe und weitere relevante Informationen, die für die Bewertung der Glaubwürdigkeit des Zeugen M. von Bedeutung seien, „außer Acht gelassen“ habe, insbesondere dessen Konflikte im Rahmen seiner Tätigkeit für den Verfassungsschutz.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat sich jedoch ausdrücklich mit der Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugen M. auseinandergesetzt und im Einzelnen begründet, warum es seine Berichte und Aussagen zur Tätigkeit der DAWA EU als glaubhaft ansieht (Rn. 105 ff.). Insbesondere hat es auch die Kritik des Klägers an der Glaubwürdigkeit des Zeugen M. nicht übersehen, sondern überzeugend darauf verwiesen, dass sich die geltend gemachten Widersprüche primär auf spätere Zeiträume bezögen und die Glaubwürdigkeit des Zeugen M. insgesamt nicht in Frage stellten, ebenso wenig das später gegen den Zeugen M. geführte strafrechtliche Ermittlungsverfahren und seine Tätigkeit für den Verfassungsschutz. Es hat sich in der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck vom Zeugen M. verschafft und festgestellt, dass er keine Belastungstendenzen gezeigt und sich nicht in Widerspruch zu seinen früheren Angaben gegenüber dem Verfassungsschutz oder seiner polizeilichen Vernehmung gesetzt habe. Diese Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">2. Der Kläger zeigt auch nicht auf, dass die verwaltungsgerichtliche Überzeugungsbildung im Hinblick auf die Bewertung seiner Spendenzahlungen für die Koranverteilungskampagne „Lies!“ mangelhaft ist.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat ausdrücklich berücksichtigt, dass seine Behauptung, er habe durch die Spenden lediglich den Abbau von Vorurteilen fördern wollen, bei isolierter Betrachtung nachvollziehbar und für andere Personen, die sich mit dem Thema nicht weiter auseinandergesetzt hätten, zutreffend sein möge, und dass diese Spenden zu einem Zeitpunkt erfolgten, als die „Lies!“-Kampagne noch nicht verboten gewesen sei (Rn. 120). Es hat jedoch in diesen Spenden Unterstützungshandlungen für verfassungsfeindliche Bestrebungen im Sinn des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG ausdrücklich nur „in der Gesamtschau“ (Rn. 101) mit den übrigen Handlungen des Klägers gesehen, die es in den Rn. 102 ff. festgestellt hat. Maßgeblich für seine Beweiswürdigung war, dass die Gesamtumstände und das sonstige Engagement des Klägers belegten, dass er schon zum Zeitpunkt seiner Einbürgerung den Ansichten der die Projekte initiierenden Personen zugeneigt gewesen sei. Deshalb sei anzunehmen, dass der Kläger die Tätigkeit dieser Personen bewusst habe fördern wollen, und sei unglaubhaft, dass er mit den Spenden lediglich zum Abbau von Vorurteilen habe beitragen wollen (Rn. 118, 120). Auch diese Beweiswürdigung ist weder lückenhaft noch sachwidrig.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">3. Mit seinen Einwänden gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu seiner Inhaberschaft der Domain www.alhijra.de dringt der Kläger ebenfalls nicht durch.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die vom Kläger betriebene Internetseite www.alhijra.de nicht angeführt, weil sie schon bei isolierter Betrachtung ein Indiz für eine Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen bietet, sondern weil sie sich in das Gesamtbild einfügt. Es hat letztlich nur festgestellt, dass sie jedenfalls zeige, dass Religion für den Kläger bereits vor seiner Reise nach Ägypten eine zentralere Rolle gespielt habe, als er vorgebe. Maßgeblich für die Feststellung, dass der Kläger schon zum Zeitpunkt seiner Einbürgerung verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt habe, waren seine Tätigkeiten für die Gruppierung DAWA EU und insbesondere der Betrieb der Internetseite www.dawa-eu.de. Für eine nähere Auseinandersetzung mit den Inhalten der Internetseite www.alhijra.de bestand für das Verwaltungsgericht vor diesem Hintergrund kein Anlass.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">4. Der abschließende Einwand des Klägers zum Fehlen einer arglistigen Täuschung im Sinn des § 35 Abs. 1 StAG knüpft an seine unbegründete Kritik an der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts an und greift daher ebenfalls nicht durch. Maßgeblich ist, dass der Kläger nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Zeitpunkt seiner Einbürgerung Bestrebungen unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet gewesen sind, und er dazu gegenüber der Einbürgerungsbehörde falsche Angaben gemacht hat. Aus welchen Gründen die Sicherheitsbehörden zum damaligen Zeitpunkt keine Bedenken gegen seine Einbürgerung angemeldet hatten, ist insoweit rechtlich nicht von Bedeutung.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 40, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG. Die Bedeutung der Rücknahme der Einbürgerung für den Kläger, auf die es nach diesen Vorschriften für die Streitwertfestsetzung ankommt, bemisst der Senat im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in ständiger Praxis in Anlehnung an Nr. 42.1 des Streitwertkatalogs 2013 (NWVBl. 2014, Heft 1, Sonderbeilage, S. 11) mit dem doppelten Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschluss vom 11. April 2019 ‑ 19 A 446/18 -, NVwZ-RR 2019, 787, juris, Rn. 23 m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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"city": null,
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} | 19 E 583/22.A | 2022-09-14T00:00:00 | 2022-09-22T10:01:30 | 2022-10-17T11:10:24 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0914.19E583.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird verworfen.</p>
<p>Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter als Einzelrichter, weil auch der angefochtene Beschluss über die Festsetzung des Gegenstandswerts eine Einzelrichterentscheidung ist und die Rechtssache weder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist noch grundsätzliche Bedeutung hat (§ 33 Abs. 8 RVG).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Gegenstandswertbeschwerde ist unzulässig. Der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar. Nach dieser Vorschrift können Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz vorbehaltlich des § 133 Abs. 1 VwGO nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Der angefochtene Beschluss ist eine solche Entscheidung in einer Rechtsstreitigkeit nach dem Asylgesetz.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Vgl. mit ausführlicher Begründung OVG NRW, Beschluss vom 9. März 2020 ‑ 19 E 1077/18.A -, AGS 2020, 488, juris, Rn. 2 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16. Dezember 2021 ‑ A 9 S 3141/20 -, AuAS 2022, 34, juris, Rn. 2 ff., jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Übrigen wäre die Beschwerde auch verfristet. Nach § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG ist die Beschwerde nur zulässig, wenn sie innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung eingelegt wird. Hier lief diese Frist mit dem 3. August 2022 ab, weil das Verwaltungsgericht den angefochtenen Beschluss den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 20. Juli 2022 zugestellt hat. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben die Beschwerde erst am 11. August 2022 und damit nach Fristablauf erhoben. Gründe für eine Wiedereinsetzung nach § 60 VwGO in die Beschwerdefrist sind weder vorgetragen noch ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kostenhinweis ergibt sich aus § 83b AsylG und § 33 Abs. 9 Satz 2 RVG.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).</p>
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346,613 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-14-12-b-4122 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
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"city": 647,
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} | 12 B 41/22 | 2022-09-14T00:00:00 | 2022-09-20T10:00:52 | 2022-10-17T11:10:17 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0914.12B41.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Dem Antragsgegner wird bis zu einer neuen Entscheidung über die Bewerbung der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts untersagt, die Planstelle A 12 „2022 – 01747“ an der Grundschule xxx mit der Beigeladenen zu besetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsgegner trägt ¾, die Antragstellerin ¼ der Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird auf 11.720,34 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der – sinngemäße – Antrag der Antragstellerin,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu untersagen, die Beförderung der Beigeladenen in die Planstelle A12 „2022-01747“ durch Aushändigung der Ernennungsurkunde zu vollziehen und bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens für die Antragstellerin die Planstelle nach A12 „2022-01747“ freizuhalten,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>hat überwiegend Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Verwaltungsrechtsweg ist nach der Bestimmung des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Nach dieser Vorschrift ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Zwar streiten vorliegend zwei Tarifbeschäftigte. Das vorliegende Verfahren ist als Streitigkeit indes öffentlich-rechtlicher Natur, weil es um die Geltendmachung der Verletzung eines auf Art. 33 Abs. 2 GG beruhenden Bewerbungsverfahrensanspruchs geht im Hinblick auf die Besetzung einer Stelle bei Bewerbern mit oder – wie hier – ohne Beamtenstatus bei vom Dienstherrn bereits vorgenommener Organisationsentscheidung, dass die Stelle unmittelbar als Beamtenstelle ausgebracht werden soll (vgl. insoweit BVerwG, Urteil vom 19.07.2017 – 2 A 9/16 –, juris Rn. 6 zur Zuständigkeit der Arbeitsgerichte, wenn die Stellenausschreibung nicht unmittelbar auf die Begründung eines Beamtenverhältnisses ausgerichtet ist, sondern eine spätere Verbeamtung lediglich als Möglichkeit genannt wird). Die Vorschriften der § 54 Abs. 1 BeamtStG und § 126 Abs. 1 BRRG stellen keine spezielleren Regelungen dar, da es in vorliegend nicht um die Streitigkeit eines Beamten aus einem Beamtenverhältnis geht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist mit der nachfolgenden Einschränkung zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Zwar ist die einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO die statthafte Rechtsschutzform, wenn – wie hier – die vorläufige Untersagung der Besetzung einer Beförderungsstelle oder eines nach Maßgabe der Grundsätze der Bestenauslese vergebenen Dienstpostens mit einer Mitbewerberin erstrebt wird. Soweit die Antragstellerin jedoch begehrt, die streitige Stelle bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht zu besetzen, geht das Rechtsschutzbegehren über das hinaus, was der zu sichernde Bewerbungsverfahrensanspruch erfordert, und es fehlt daher das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Es ist in Fällen der vorliegenden Art nicht erforderlich, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, bis eine rechtskräftige Entscheidung im Hauptsacheverfahren ergangen ist. Durch eine einstweilige Anordnung sicherungsfähig ist vielmehr allein das etwaige Recht der Antragstellerin, dass über ihren Bewerbungsverfahrensanspruch betreffend die in Rede stehende Stelle erneut und rechtsfehlerfrei – dabei unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Gerichts – entschieden wird. Nur bis dahin – und nicht notwendig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens – muss diese (Plan-)Stelle vorläufig freigehalten werden. Was die nachfolgende Zeit betrifft, ist der Antragstellerin zuzumuten, nach einer erneuten Auswahl- und Besetzungsentscheidung gegebenenfalls um weiteren vorläufigen Rechtsschutz nachzusuchen (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 07.06 2018 – 1 B 1381/17 –, juris Rn. 10 f. und vom 19.03.2019 – 1 B 1301/18 –, juris Rn. 6; vgl. auch Beschlüsse der Kammer vom 02.03.2020 – 12 B 83/19 –, juris Rn. 18; vom 01.07.2022 – 12 B 18/22 –, juris Rn. 18 f. und vom 06.01.2021 – 12 B 87/20 –, juris Rn. 33).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Soweit der Antrag zulässig ist, ist er auch begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Gemäß § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Satz 2). Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) hat die Antragstellerin sowohl die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Zunächst steht der Antragstellerin ein Anordnungsgrund in Form der Eilbedürftigkeit zur Seite. Der Antragsgegner beabsichtigt, die streitgegenständliche Stelle mit der Beigeladenen zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen. Mit deren Ernennung würde sich der Bewerbungsverfahrensanspruch der Antragstellerin faktisch erledigen. Die Ernennung könnte mit Blick auf den Grundsatz der Ämterstabilität (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 9. Juli 2007 –2 BvR 206/07 -, Rn. 13 juris; OVG Schleswig Beschluss vom 02.09.2016 – 2 MB 21/16 –, juris Rn. 9) nicht mehr rückgängig gemacht werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Auswahl des Beigeladenen verletzt ihren Bewerbungsverfahrensanspruch.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Nach Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz dürfen öffentliche Ämter im statusrechtlichen Sinne nur nach Kriterien vergeben werden, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung betreffen. Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die darüber Aufschluss geben, in welchem Maße die Bewerberinnen und Bewerber den Anforderungen des Amts genügen und sich in einem höheren Amt voraussichtlich bewähren werden. Diese inhaltlichen Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG für die Vergabe höherwertiger Ämter machen bei der Auswahl- und Beförderungsentscheidung grundsätzlich eine Bewerberauswahl notwendig, die einzig aufgrund eines den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG entsprechenden Leistungsvergleichs erfolgt (BVerwG, Beschluss vom 19.12 2014 – 2 VR 1.14 –, juris Rn 21).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Diese grundrechtsgleichen Rechte der Antragstellerin sind durch die Auswahlentscheidung des Antragsgegners zugunsten der Beigeladenen verletzt worden. Ohne Erfolg wendet die Antragstellerin indes ein, die Auswahlentscheidung sei schon deshalb rechtswidrig, weil die sog. Konkurrentenmitteilung keine Begründung enthalte. Zwar stellen die gesonderten Mitteilungen der Auswahlentscheidung an jede Bewerberin, einmal positiven, ansonsten negativen Inhalts, keine inhaltlich eigenständigen Entscheidungen dar, sondern geben die einheitliche, rechtlich untrennbare Auswahlentscheidung bekannt (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.11.2010 – BVerwG 2 C 16/09 –, juris Rn. 25). Die Mitteilung ist für die unterlegene Bewerberin jedoch ein belastender Verwaltungsakt (OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.02.2016 -, juris Rn. 8 m.w.N.). Die Auswahlentscheidung, die in aller Regel in einem Auswahlvermerk niedergelegt wird, ist hingegen kein Verwaltungsakt, da die nach § 106 Absatz 1 LVwG SH vorausgesetzte, unmittelbare Rechtswirkung nach außen nicht gegeben ist. Diese tritt erst mit der (schriftlichen) Mitteilung des Auswahlergebnisses an die unterlegene Bewerberin ein (VGH Kassel, Beschluss vom 23.08.2011 – 1 B 1284/11 –, juris Rn. 3). Die Begründung der Mitteilung muss zwar grundsätzlich die maßgebenden Erwägungen des Dienstherrn erkennen lassen (BVerwG, Urteil vom 4.11.2010, a. a. O., Rn. 25). Fehlt diese, kann sie - wie hier durch die Gegenerklärung vom xxx geschehen - aber gemäß § 114 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 LVwG SH in zulässiger Weise nachgeholt werden (OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.02.2016 a.a.O.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Auswahlentscheidung leidet indes an anderen Rechtsfehlern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Dem Grundsatz der Bestenauslese entspricht es, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerberinnen in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen und als vorrangiges Auswahlkriterium auf aktuelle dienstliche Beurteilungen, und wenn solche nicht vorliegen, auf vergleichbare Leistungsnachweise abzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Dies ist hier auch geschehen, indem man zunächst die Ergebnisse der zweiten Staatsprüfungen der Bewerberinnen miteinander verglichen hat. Ergab sich hiernach kein Qualifikationsvorsprung einer Bewerberin, konnte der Dienstherr im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens das Ergebnis eines (strukturierten) Auswahlgespräches als weiteres Kriterium für die Begründung seiner Auswahlentscheidung heranziehen. Dessen Ergebnis kann indes grundsätzlich nur als Hilfskriterium und damit nur nachrangig zu einem Leistungsvergleich herangezogen werden. Es hat grundsätzlich nur die Funktion, bei einem Vergleich zwischen den im Wesentlichen gleich qualifizierten Bewerberinnen das Bild abzurunden und die Beurteilungsgrundlage zu erweitern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Die durchgeführten Auswahlgespräche begegnen durchgreifenden Bedenken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Auch wenn dem Dienstherrn ein aus seinem Organisationsrecht abgeleitetes weites Ermessen im Hinblick auf die Zusammensetzung der Auswahlkommission eingeräumt ist, in das auch organisatorische, personalwirtschaftliche und personalpolitische Entscheidungen einfließen dürfen, überschreitet er dieses Ermessen jedoch, wenn der Auswahlkommission solche Vertreter angehören, bei denen die Gefahr von Interessen- bzw. Pflichtenkollisionen besteht. Eine derartige Gefahr ist insbesondere anzunehmen, wenn über dieselbe Angelegenheit von derselben Person in verschiedenen Gremien entschieden wird, die nach ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung unterschiedliche oder gar gegensätzliche Ziele verfolgen. Für den objektiven Betrachter ist dann nicht erkennbar, wessen Interessen diese Person tatsächlich vertritt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.08.1993 – 6 C 14.92 –, juris, Rn. 21; OVG Schleswig, Beschluss vom 06.01.1999 – 3 M 63/98 – n.v.; OVG Münster, Beschluss vom 27.06.1994 – 12 B 1084/94 –, juris – Leitsatz; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 04.06.2018 – 12 L 3601/17 –, juris Rn.17ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Als Mitglied der <span style="text-decoration:underline">Auswahl</span>kommission ist im Auswahlvermerk vom xxx ausdrücklich das Personalratsmitglied xxx genannt. Weiter unten heißt es dann, dass die Entscheidung bzw. die Wahl auf die Beigeladene gefallen sei. Dass die (dazu allein berufenen) Schulleiter und sein Stellvertreter diese Entscheidung getroffen haben, lässt sich dem Auswahlvermerk nicht mit der notwendigen Klarheit entnehmen. Vielmehr lässt die Mitgliedschaft der Personalrätin in der <span style="text-decoration:underline">Auswahl</span>kommission auf eine über die bloße Anwesenheit hinausgehende aktive Tätigkeit, insbesondere auch auf eine (unzulässige) Mitwirkung an der (Personal-) Entscheidung schließen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Letztlich braucht darüber aber nicht abschließend befunden zu werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Auswahlgespräche müssen, um im Rahmen des Bewerbungsgesamtvergleichs ein gegebenenfalls ausschlaggebendes Gewicht erlangen zu können, gewissen qualitativen Mindestanforderungen genügen. Je mehr die gestellten Fragen an dem Anforderungsprofil der konkret zu besetzenden Stelle orientiert sind, umso stärker kann dem Inhalt der Antworten Bedeutung für die konkrete Eignungsprognose zugemessen werden. Weiterhin müssen die Sach- und Fachkunde der an dem Auswahlgespräch beteiligten Personen gewährleistet sein. Schließlich muss der Verlauf eines solchen Auswahlgespräches zumindest in Grundzügen aus vorliegenden Aufzeichnungen (z.B. Bewertungsbögen, Protokollen) und/oder dem Text der Begründung des abschließenden Vorschlages des Auswahlgremiums zu entnehmen sein, um so dem Gebot hinreichender Transparenz zu genügen. Die ausreichende Dokumentation der wesentlichen Fragen der Mitglieder der Auswahlkommission und des Inhalts der Antworten gewinnt umso mehr Bedeutung, desto mehr Gewicht dem Auswahlgespräch für die Auswahlentscheidung zukommt. Eine den konkreten Inhalt des Auswahlgesprächs aussagekräftig und nachvollziehbar wiedergebende Dokumentation ist deshalb dann unerlässlich, wenn bei der Auswahlentscheidung – wie hier – letztlich in maßgeblicher Weise auf das Ergebnis dieses Gespräches abgestellt wird. Ob der Dienstherr bei seiner Auswahlentscheidung die Grenzen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums beachtet und eingehalten oder überschritten hat, lässt sich nur mit Hilfe einer hinreichend nachvollziehbaren, aussagekräftigen und schlüssigen Dokumentation der Auswahlgespräche und der darauf gestützten Auswahlerwägungen überprüfen. Die Dokumentationspflicht stellt insofern als Instrument der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ein Korrektiv zu dem gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum dar (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 22.05.2018 – 6 B 88/18 –, juris Rn. 9 ff. m.w.N.; OVG Hamburg, Beschluss vom 10.10.2017 – 5 Bs 111/17 –, juris Rn. 95; Beschluss der Kammer vom 25.11.2019 – 12 B 59/19 –, juris Rn. 29 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Auch wenn es einer wortgetreuen Protokollierung des Gesprächsverlaufes ebenso wenig bedarf wie der Vorlage von eventuellen internen Bewertungsbögen der einzelnen Kommissionsmitglieder, kann das Gericht seiner (eingeschränkten) Kontrollfunktion nur dann gerecht werden, wenn die ihm vorgelegte Dokumentation zumindest in Grundzügen die an die Stellenbewerber gerichteten Fragen bzw. die besprochenen Themen, die Antworten der Bewerber, die Bewertung dieser Antworten durch die Auswahlkommission sowie den persönlichen Eindruck von den Bewerbern umfasst (OVG Hamburg, Beschluss vom 10.10.2017 a.a.O., Rn. 95, 98; OVG Berlin – Brandenburg, Beschluss vom 10.03.2017 – OVG 10 S 38.16 –, juris Rn. 23). Nur wenn die genannten Gesichtspunkte schriftlich fixiert sind, ist dem Gericht insbesondere die Überprüfung möglich, ob der Dienstherr im Rahmen seiner Besetzungsentscheidung von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, sachwidrige Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Diesen Vorgaben ist im vorliegenden Fall nicht in der gebotenen Weise Rechnung getragen worden. Insbesondere fehlt es an einer der Bedeutung der Auswahlgespräche für die Aus-wahlentscheidung entsprechenden sachgerechten Dokumentation. Ein Protokoll über Fragen und die Antworten der Bewerber ist nicht – auch nicht grob – gefertigt worden. Allein der Hinweis darauf, dass beide Bewerberinnen die gleichen Fragen bekommen haben, reicht nicht aus. Insofern sind die Erwägungen im Auswahlvermerk nicht überprüfbar. Es ist auch nicht nachvollziehbar, welche Inhalte die Gespräche konkret aufgewiesen haben. Dies lässt sich dem Auswahlvermerk vom 29.06.2022, in dem der Verlauf dieser Auswahlgespräche nur recht pauschal beschrieben wird, nicht entnehmen. Aus ihm ist nicht ersichtlich – auch nicht sinngemäß –, welche Fragen konkret gestellt, welche Antworten die beiden Bewerberinnen auf die ihnen gestellten Fragen gegeben haben und wie diese Antworten von den Mitgliedern der Auswahlkommission jeweils bewertet wurden. Die Ausführungen erschöpfen sich vielmehr darin, dass sie in knapper Weise das Ergebnis der Auswahlgespräche nachzeichnen, indem sie wiedergeben, welchen Eindruck die Auswahlkommission von den persönlichen Kompetenzen und den fachlichen Qualifikationen der Bewerberinnen gewonnen hat. Der Vermerk enthält im Wesentlichen nur Wertungen, ohne die tatsächlichen Grundlagen zu nennen. Welche konkreten Gegebenheiten (Antworten, Reaktionen) diesen Eindruck erzeugt haben, wird hingegen nicht transparent. Insoweit sind die Auswahlgespräche nicht hinreichend schriftlich fixiert bzw. dokumentiert worden und können die darauf beruhende Auswahlentscheidung nicht tragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Bei der unter Vermeidung des aufgezeigten Mangels erneut zu treffenden Auswahlent-scheidung des Antragsgegners erscheint – nach derzeitigem Erkenntnisstand – ein Erfolg der Bewerbung der Antragstellerin nicht ausgeschlossen bzw. sind ihre Erfolgschancen als offen zu betrachten (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 04.11.2010 – 2 C 16/09 –, juris Rn.32).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 162 Abs. 3 VwGO. Die Kammer bewertet das jeweilige Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten in Höhe der im Tenor ausgeworfenen Kostenquote. Es entspricht ferner nicht der Billigkeit, etwa entstandene außergerichtliche Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, denn diese hat keinen Antrag gestellt und sich damit keinem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 6 Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 GKG festgesetzt worden. Er beträgt ein Viertel der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge des angestrebten Amtes (Besoldungsgruppe A 12, Stufe 4) mit Ausnahme nichtruhegehaltfähiger Zulagen, OVG Schleswig, Beschluss vom 29.06.2018 – 2 MB 3/18 –, juris Rn. 22).</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,904 | ag-rheine-2022-09-13-10-c-19121 | {
"id": 725,
"name": "Amtsgericht Rheine",
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} | 10 C 191/21 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-10-13T10:01:15 | 2022-10-17T11:11:02 | Urteil | ECLI:DE:AGST3:2022:0913.10C191.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.382,19 € abzüglich am 11.10.2021 gezahlter 785,40 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.09.2021 zu zahlen.</p>
<p>Der Beklagte wird ferner verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 185,10 € freizustellen.</p>
<p>Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte zu 74 %, der Kläger zu 26 %.</p>
<p>Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Ohne <strong>Tatbestand</strong> und <strong>Entscheidungsgründe</strong> (gemäß § 313b ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist in aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung (restlichen) Betrages in Höhe von 596,79 € gegenüber dem Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wurde von dem Beklagten beauftragt, für dessen Hochzeitsfeier am 27.08.2021 im XXX in XXX, insbesondere als DJ mit verschiedenen Aufgaben zu fungieren.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat bezüglich seiner Leistung ein Angebot gemacht, welches unstreitig von dem Beklagten angenommen worden war.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Vorliegend ist von einem Werkvertrag im Sinne des § 631 BGB auszugehen. Dieser kann vorliegen, wenn der Beauftragte eine ihm zurechenbare Leistung erbringt und sich dabei in einem von den Vertragsparteien vorgegebenen Rahmen bewegt. Dies erfordert, dass der Beauftragte gewisse gestalterische Freiheiten haben muss, mit denen er sich in dem vorgegebenen Rahmen frei bewegen kann. Als DJ und Moderator war der Kläger insbesondere mit dem Abspielen der Musik beauftragt. Dabei hatte er - eingeschränkt bzw. ergänzt durch Wünsche der Gäste (Wunschkarten) und Musikwunsch list des Brautpaars - einen freien Gestaltungsspielraum. Auch die Moderation (z:B. Brautstraußwerfen, Eröffnung des Buffets etc. ) war zwar im Groben besprochen, letztlich aber verblieb ein erheblicher freier Rahmen, in dem der Kläger sich frei bewegen konnte.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger teilweise hinsichtlich seiner Aufgabe als „erfahrener Hochzeits-DJs und Moderator“ nicht vereinbarungsgemäß und damit mangelhaft nachgekommen ist.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Hierzu wie folgt im Einzelnen: Ausweislich der Rechnung des Klägers hat er eine Musikanlage für bis zu 150 Personen auf- und abgebaut und während der Hochzeitsfeier betrieben. Dafür hat er einen Betrag von 300,00 € in Rechnung gestellt. Das DJ-Honorar für 8 Stunden Engagement als „erfahrener Hochzeits-DJ und Moderator von 18:00 Uhr bis 4:00 Uhr“ hat er mit 530,00 €, zudem 65,00 € als „DJ-Honorarfolgestunden“ plus Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt. Er macht weiter einen Transportkostenanteil i.H.v. 45,00 € geltend und für das Aufstellen der Fotoboxen 250,00 € und für den Betrieb einer Musikanlage für den Außenbereich weitere 150,00 € jeweils plus Mehrwertsteuer geltend.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Unstreitig gehörte es auch zur Aufgabe des Klägers, von ihm entworfene Musikwunschkarten zu verteilen. Die Hochzeitsgäste sollten darin ihre Musikwünsche vermerken und der Kläger sollte sie dementsprechend bei der Musikauswahl berücksichtigen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass der Kläger Musikwunschkarten ausgeteilt hat. Der Zeuge XXX gab diesbezüglich an, er habe die Musikwunschkarten auf den Esstischen der Hochzeitsgäste verteilt. Nach Aufforderung der Braut, der Zeugin XXX, habe er diese wieder eingesammelt. Die Zeugin XXX gab diesbezüglich an, die Musikwunschkarten seien erst nach Aufforderung verteilt worden, jedoch lediglich auf der Theke und nicht wie vorher abgesprochen auf den Tischen der Hochzeitsgesellschaft. Unabhängig von dem Ablageplatz der Musikwunschkarten ist jedenfalls festzustellen, dass Musikwunschkarten ausgeteilt und damit von den Hochzeitsgästen zwecks schriftlicher Niederlegung ihrer Musikwünsche auch genutzt werden konnten.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zudem fest, dass die Auswahl der Musik durch den Kläger zu einem Gewissen Unmut zumindest bei Teilen der Hochzeitsgesellschaft geführt hat. So berichtete der Zeuge XXX, er sei von mehreren Gästen angesprochen worden, die sich über die Musikauswahl insbesondere die einseitige wenig abwechslungsreiche Musik beschwert hätten. Des Weiteren gab der Zeuge XXX an, er sei mehrfach zu dem Kläger gegangen, um als Gast für sich und auch für andere weitere Gäste Musikwünsche zu äußern. Dabei habe es sich um durchaus gängige Schlager etc. gehandelt. Dies habe jedoch bei der Auswahl des Klägers keine Berücksichtigung gefunden. Er habe angegeben, diese Musikwünsche nicht vorrätig zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Unstreitig ist, dass der Kläger die Eröffnung des Buffets anmoderieren sollte. Dabei ist er auch unstreitig von der ursprünglich vereinbarten Reihenfolge abgewichen. Nicht der Brauttisch, insbesondere das Brautpaar, hat das Buffet eröffnet, sondern ein anderer Tisch. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lässt sich nicht aufklären, ob das bewusste Verlassen der ursprünglich vereinbarten Reihenfolge durch den Kläger auf einem Missverständnis informatorischer Art beruhte. So gab der Zeuge XXX an, er sei zur Braut begangen, welche nicht am Hochzeitstisch gesessen habe und habe geäußert, nunmehr solle das Buffet eröffnet werden. Diese habe ihm gegenüber sinngemäß mitgeteilt, es solle ein anderer Tisch das Buffet eröffnen. Dem widerspricht die Braut, die Zeugin XXX vehement.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Wichtige und durchaus vordergründige Aufgabe des Klägers, der sich selbst als „erfahrender Hochzeits-DJ und Moderator“ bezeichnet, war es, für einen reibungslosen und harmonischen Ablauf und soweit ihm möglich für eine gute Stimmung unter allen Hochzeitsgästen Sorge zu tragen. Nach dem im Rahmen der Beweisaufnahme gehörten Zeugen ist ihm dies offensichtlich nur teilweise gelungen. Allerdings ist es erfahrungsgemäß häufig schwierig und auch von den vor Ort gegebenen Umständen bzw. Teilnehmern abhängig, ob dies gelingen kann oder nicht. Präzisierbar und vorwerfbar war jedoch das Vorgehen des Klägers hinsichtlich der Auswahl der Musik. Insoweit hat insbesondere der Zeuge XXX nachvollziehbar und plausibel geschildert, dass Musikwünsche der Gäste keine Berücksichtigung gefunden haben. Dabei ist sicherlich grundsätzlich von einem erfahrenen DJ zu erwarten, dass er ein umfangreiches Repertoire an Musikdateien bei sich führt. Sollte der ein oder andere gewünschte Titel nicht vorrätig sein, wäre es sicherlich dem DJs zuzumuten, vergleichbare ähnliche aus demselben Genre stammende Musikwünsche zu realisieren.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Unmut mehrerer Hochzeitsgäste konnte dem Kläger auch nicht verborgen bleiben. Gerade als der von ihm selbst beschriebene „erfahrene Hochzeits-DJ und Moderator“ wäre er gegebenenfalls gehalten gewesen, Rücksprache mit dem Brautpaar zu nehmen, um diesbezüglich eine Optimierung zu erreichen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Dieser Maßstab muss auch gelten hinsichtlich der Veränderung der ursprünglich vereinbarten Reihenfolge der Eröffnung des Buffets. Die Eröffnung des Buffets auf einer Hochzeit ist – wie es dem Kläger sicherlich überaus geläufig sein dürfte – grundsätzlich dem Brautpaar vorbehalten. Eine Abweichung davon stellt eine erhebliche Abkehr dieser Tradition dar. Lediglich auf Zuruf seines als Assistenten eingesetzten Mitarbeiters des Zeugen XXX, diese doch recht weit reichende Maßnahme durchzuführen, erfüllt nicht den Maßstab, den man an einen erfahrenen Hochzeits-Moderator stellen darf. Der Kläger hätte in der Situation persönlich Rücksprache mit der Braut nehmen müssen (oder dem Bräutigam) um sich nochmals zu vergewissern, dass diese tatsächlich eine Abänderung der Reihenfolge wünschten.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Weitergehende Mängel in der Erfüllung des dem Kläger obliegenden Vertrages sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht festzustellen. So hat sich herausgestellt, dass der Zeugen XXX nicht, wie ursprünglich behauptet, durch den Beklagten von seiner Rede abgehalten worden war. Der weitergehende Vortrag, dem Zeugen sei aber das Halten der Rede durch den Kläger erschwert worden, ist mangels Substanz unbeachtlich.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Letztendlich konnte es dahinstehen, ob es auch Aufgabe des Klägers war, dass Brautstraußwerfen zu moderieren. Unstreitig ist erst im Nachhinein auch dem Brautpaar aufgefallen, dass ein Brautstraußwerfen nicht stattgefunden hat. Hätten sie darauf (gesteigerten) Wert gelegt, wäre es an ihnen gewesen, den Kläger diesbezüglich im Laufe der Hochzeitsfeier (schon aufgrund der ihnen obliegenden Schadensminderungspflicht) anzuhalten.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zudem fest, dass der Kläger, wie vertragsmäßig geschuldet, eine Außenmusikanlage installiert und betrieben hat. Es kann als wahr unterstellt werden, dass diese zeitweise – insbesondere nach den Maßgaben des Wirtes, des Zeugen XXX – zu laut eingestellt war. Dies bestätigte auch der Zeuge XXX. Im Übrigen gab er aber an, dass er persönlich mit dem Kläger gesprochen und darauf hingewiesen habe, dass er bei erneuter Überschreitung der zulässigen Lautstärke für ein Abschalten der Anlage sorgen werde. Danach sei die Anlage im eingeschalteten Betrieb mit akzeptabler Lautstärke weiter betrieben worden. Das vorübergehende gegebenenfalls auch mehrfach erfolgte Überschreiten der zulässigen Lautstärke stellt keine relevante Schlechtleistung dar.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob der Kläger entgegen vorheriger Vereinbarung Familienmitglieder und Trauzeugen auf die Tanzfläche gerufen hat. Die Zeugin XXX hat diesbezüglich nachvollziehbar und glaubhaft die Hintergründe für eine derartige Vereinbarung geschildert. Ein Verstoß dagegen wäre sicherlich ärgerlich, gegebenenfalls auch unangenehm, stellt jedoch keinen gravierenden Verstoß gegen die dem Kläger obliegenden Verpflichtungen dar und ist somit im Rahmen der Anspruchsbemessung nicht zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Ausgehend von der oben näher dargelegten, teilweise mangelhaften Leistung des Klägers, erschien es angemessen, insoweit sein Honorar zu kürzen. Ausweislich der Rechnung beinhaltete dieser Teil der Leistung einen Betrag von 530,00 € „DJ-Honorar, Grundpauschale, 8 Stunden Engagement“ sowie für die Folgestunden weitere 65 € plus Mehrwertsteuer, mithin ein Gesamtbetrag von 708,05 €. Insgesamt erschien es angemessen, eine Reduzierung des insoweit in Rechnung gestellten Lohns von 30 % zu berücksichtigen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Dies führte nach Abzug der bereits gezahlten 785,40 € zu einem noch zu zahlenden Betrag von 596,79 € (plus Zinsen).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Hilfsaufrechnung bzw. Hilfswiderklage sind nicht begründet. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger Veränderungen an der von dem Zeugen XXX eingestellten und von ihm zur Verfügung gestellten Lichtanlage vorgenommen hat. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen. Selbst wenn der Beklagte für die zur Verfügung stehende Ambiente Beleuchtung einen Betrag von 180,00 € bezahlt hat und auch in Abstimmung mit der weiter für 170,00 € gestellten weißen Deko-Rosen den Farbton Violett bzw. Magenta gewählt hat, wäre eine (vorübergehende) Veränderung dieser Ambiente Beleuchtung durch den Kläger kein Ersatzansprüche auslösendes Schadensereignis. Auch in diesem Punkt wäre zudem der Beklagte (oder die Zeugin XXX) gehalten gewesen, vor Ort den Kläger aufzufordern, die Veränderung der Ambientebeleuchtung zu unterlassen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Unstreitig hat der Kläger den Wurfstrauß mitgenommen. Der von dem Beklagten insoweit bezifferte Schaden von 7,50 € ist mangels Substantiiertheit nicht zu berücksichtigen. Es blieb vollkommen offen, worauf sich eine derartige Schadensbemessung ergibt. Anhaltspunkte, die eine Schadensbeurteilung ermöglichen würden, wurden ebenfalls nicht mitgeteilt.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der geltend gemachte Anspruch des Klägers war auch nicht um die von dem Beklagten gezahlte Pauschale für seinen Gehilfen zu reduzieren. Die Behauptung des Beklagten, die Anwesenheit des Mitarbeiters des Klägers sei objektiv nicht erforderlich gewesen, er habe keinerlei Tätigkeiten verübt, wurde nicht unter Beweis gestellt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere der Vernehmung des Zeugen XXX entsteht jedoch der Eindruck, dass dieser durchaus Aufgaben - wie auch von den Kläger behauptet – zu erfüllen hatte.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Anspruch auf Freistellung vorgerichtlicher Anwaltskosten beruht auf Verzugsgesichtspunkten, § 286 BGB.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Dabei war der Streitwert auf 1.382,00 € zu bemessen und entsprechend eine Geschäftsgebühr von 1,3 mit 165,10 € sowie Auslagen i.H.v. 20,00 €, mithin 185,10 € anzusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird auf 809,20 EUR festgesetzt.</p>
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346,885 | ovgni-2022-09-13-5-lb-13320 | {
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} | 5 LB 133/20 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-10-12T10:00:57 | 2022-10-17T11:10:58 | Urteil | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 31. Januar 2019 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beteiligten streiten über die Frage, ob dem Kläger infolge der ihm in seinem Amt als Oberstudienrat (Besoldungsgruppe A 14) übertragenen Funktionstätigkeiten Zuvielarbeit abverlangt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der Kläger ist als Gymnasiallehrer am Gymnasium G. tätig. Dort unterrichtet er die Fächer Latein und Geschichte, ist vollzeitbeschäftigt mit einer Regelstundenzahl von 23,5 Wochenstunden und befindet sich mit zwei Unterrichtsstunden in der Ausgleichsphase des verpflichtenden Arbeitszeitkontos. Mit Wirkung vom … 2015 wurde ihm sein aktueller Dienstposten übertragen und mit Wirkung vom … 2015 wurde er nach einer sechsmonatigen Bewährungszeit zum Oberstudienrat befördert. Der Dienstposten des Klägers umfasst die Funktionsaufgaben „Leitung des Faches Latein; Organisation und Betreuung des Ganztagsangebotes; Koordinierung der Maßnahmen zu Arbeitssicherheit, Arbeitsschutz und Erste Hilfe“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Nachdem der Kläger im November 2017 bereits eine Überlastungsanzeige erstattet hatte, beantragte er mit Schreiben vom 5. April 2018 bei der Funktionsvorgängerin des Beklagten - der damaligen Niedersächsischen H. - die Gewährung von Anrechnungsstunden als Ausgleich für die Wahrnehmung seiner Funktionstätigkeiten. Hierbei bezog er sich auf ein Rechtsgutachten seines jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 8. November 2017 und ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 2015 (- BVerwG 2 C 16.14 -, juris), das die Entlastung von Teilzeitkräften mit Funktionsstelle zum Gegenstand gehabt hatte. Das Niedersächsische Kultusministerium gehe selbst davon aus, dass die Wahrnehmung der besonderen Aufgaben eines Oberstudienrates einen zusätzlichen Zeitaufwand von drei Zeitstunden bzw. zwei Anrechnungsstunden pro Woche mit sich bringe. Kurz darauf verfasste der Kläger eine weitere Überlastungsanzeige.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Funktionsvorgängerin des Beklagten lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29. Juni 2018 ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Niedersächsische Verordnung über die Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten an öffentlichen Schulen (Nds. ArbZVO-Schule) für die Wahrnehmung der Funktionstätigkeiten im Amt eines Oberstudienrates keine Anrechnungsstunden vorsehe. Die vom Kläger angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht einschlägig. Diese betreffe nur teilzeitbeschäftigte Funktionsstelleninhaber. Die Dienstposten der Oberstudienräte an Gymnasien zeichneten sich dadurch aus, dass neben den Aufgaben der Studienräte zusätzlich höherwertige Tätigkeiten (Funktionsaufgaben) zu erfüllen seien, die von ihrem Umfang und ihrer Bedeutung her amtsprägenden Charakter haben müssten. Zwar müssten Oberstudienräte einerseits in demselben Umfang wie Studienräte Unterricht erteilen und zusätzlich Funktionstätigkeiten wahrnehmen, weshalb ihr Arbeitspensum insgesamt höher sei. Anderseits würden Beförderungsämter an besonders leistungsstarke Beamte vergeben, so dass der Dienstherr grundsätzlich erwarten könne, dass die mit dem Beförderungsamt verbundene Mehrbelastung durch planvolle und effiziente Arbeitsorganisation dergestalt bewältigt werde, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit nicht überschritten werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der Kläger hat am 2. August 2018 Klage erhoben, zu deren Begründung er vorgetragen hat:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Gewährung von Anrechnungsstunden für Funktionsaufgaben hänge gemäß § 12 in Verbindung mit Anlage 1 Nds. ArbZVO-Schule von der jeweiligen Aufgabe, zum Teil aber auch von der Größe der Schule und der Schulform ab. An Gymnasien, Abendgymnasien und Kollegs seien die Beförderungsämter des Oberstudienrats (Bes.-Gr. A 14) und des Studiendirektors (Bes.-Gr. A 15) für die zusätzliche Wahrnehmung von Funktionsaufgaben vorgesehen; an anderen Schulformen gebe es vergleichbare Funktionsämter. Anders als bei anderen Schulformen würden Anrechnungsstunden als Ausgleich für Funktionsaufgaben im gymnasialen Bereich nur den Teilzeitkräften gewährt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Der ihm, dem Kläger, übertragene Aufgabenbereich Arbeitssicherheit/Arbeitsschutz gehöre zum Aufgabenbereich eines Schulleiters und werde weder im sog. A 14-Erlass noch im A 15-Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums genannt. Von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit, die Verantwortung für das Ganztagsschulkonzept zu delegieren, habe sein Schulleiter in einem deutlich über den durch den A 14-Erlass (dort Nr. 15) vorgesehenen Maß Gebrauch gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Seine umfangreichen Funktionsaufgaben führten dazu, dass er insgesamt wesentlich mehr als 40 Stunden pro Woche arbeite. Dies hätten auch die beiden Arbeitszeitstudien gezeigt, an denen er teilgenommen habe. Die drei Zeitstunden, die der Beklagte für die Funktionsaufgaben veranschlage, genügten nicht. So habe die Arbeitszeituntersuchung des Instituts für Präventivmedizin der Universität I. ergeben, dass er im Untersuchungszeitraum (12. Februar 2018 bis 11. März 2018) neben dem bereits über der 40-Stunden-Woche liegenden Zeitaufwand für seine unterrichtlichen Aufgaben wöchentlich durchschnittlich 6,8 Stunden für seine Funktionsaufgaben aufgewandt habe; unter Berücksichtigung der Ferienzeiten seien es ca. 5,8 Stunden Mehraufwand. Auf der Grundlage der Arbeitszeituntersuchung der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Universität J. habe das Expertengremium Arbeitszeitanalyse „bedeutsame Verletzungen der Arbeitszeitnormen“ konstatiert und für Lehrkräfte an Gymnasien unter Berücksichtigung der Ferienzeiten mit einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 43,05 Stunden die im Vergleich größte Überschreitung der gesetzlich festgelegten Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche festgestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Nichtgewährung von Anrechnungsstunden verstoße gegen die aus Art. 33 Abs. 5 GG abzuleitende Fürsorgepflicht des Dienstherrn sowie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Rechtsprechung sei in der Vergangenheit stets von einer nur sehr eingeschränkten Kontrollmöglichkeit („grob pauschalierende Betrachtung“) der Arbeitszeitgestaltung ausgegangen und habe dem Dienstherrn insoweit einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt und hohe Anforderungen an den konkreten Nachweis einer Überschreitung der gesetzlich vorgegebenen Arbeitszeit gestellt. Diese Rechtsprechung sei durch die jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Alimentationsprinzip überholt. Das Nds. Oberverwaltungsgericht habe diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 9. Juni 2015, welches die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung von Gymnasiallehrkräften zum Gegenstand gehabt habe, aufgegriffen und aus Art. 33 Abs. 5 GG die prozedurale Pflicht abgeleitet, die tatsächliche Arbeitsbelastung von Lehrern zu ermitteln und für notwendig erachtete Anpassungen entsprechend nachvollziehbar zu begründen. Der Verstoß gegen die prozeduralen Anforderungen des Art. 33 Abs. 5 GG habe zugleich zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Form des Willkürverbotes geführt, weil sich ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung der Gymnasiallehrkräfte im Verhältnis zu den übrigen, nicht von der Stundenzahlerhöhung betroffenen verbeamteten Lehrkräften nicht habe feststellen lassen. Diese Grundsätze gälten auch für die Übertragung von Funktionsaufgaben. Auch hier sei sicherzustellen, dass die wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden im Jahresdurchschnitt nicht überschritten werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Soweit das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang mit einer besonderen Leistungsfähigkeit von Lehrkräften in Beförderungsämtern argumentiere, überzeuge diese Erwägung nicht. Die besondere Leistungsfähigkeit könne zwar ein Kriterium bei der Auswahlentscheidung für ein Beförderungsamt sein. Die Übertragung eines Beförderungsamtes lasse jedoch nicht den Rückschluss zu, dass eine Lehrkraft besonders effizient sei. Das Beförderungsamt des Oberstudienrates zeichne sich durch die Wahrnehmung qualifizierter Tätigkeiten aus. Eine Verpflichtung zur Überschreitung der gesetzlich vorgesehenen Wochenarbeitszeit gehe damit nicht einher. Der Beklagte sei im Nachgang zu dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 2015 für teilzeitbeschäftigte Oberstudienräte zu der Einschätzung gekommen, dass eine vollumfängliche Wahrnehmung von Funktionstätigkeiten in der Regel mit einem Zeitaufwand von drei Zeitstunden pro Woche verbunden sei, was zwei Anrechnungsstunden entspreche. Auch er könne als Vollzeitkraft die Gewährung eben dieser zwei Anrechnungsstunden verlangen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die von ihm wahrgenommenen Funktionsaufgaben „Organisation und Betreuung des Ganztagsangebotes“ und die Fachkonferenzleitung „Latein“, die auch die Verwaltung der Lehrmittel- und Mediensammlung für jenes Fach beinhalte, seien, was den zeitlichen Aufwand betreffe, trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten ohne Weiteres mit den entsprechenden Fachbereichsleitungen an einer Gesamtschule vergleichbar. Trotz der Vergleichbarkeit würden Fachkonferenzleiter an Gymnasien gegenüber Fachbereichsleitern an Gesamtschulen benachteiligt, indem sie für diese Funktionsaufgaben keine Anrechnungsstunden bekämen. Sowohl an Gymnasien als auch an Gesamtschulen gebe es Fachkonferenzleitungen bzw. Fachbereichsleitungen, die nur ein einziges Fach betreuten. Ebenso gebe es an beiden Schulformen die Zusammenfassung mehrerer Unterrichtsfächer bzw. die Kombination aus einem Unterrichtsfach mit einer oder mehreren anderen Funktionsaufgaben. Die Kerncurricula für das Fach Latein seien für beide Schularten nahezu identisch. Sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung seien insofern nicht ersichtlich. Soweit in diesem Zusammenhang mit einer besonderen Leistungsfähigkeit argumentiert werde, stelle sich die Frage, ob den Fachbereichsleitern an Gesamtschulen - auch denen, die nach der Bes.-Gr. A 14 besoldet würden - die besondere Leistungsfähigkeit abgesprochen werde. Zudem sei eine besondere Leistungsfähigkeit nicht objektivierbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Die vom Beklagten vorgetragenen „Entlastungserwägungen“ würden einer sachlichen Prüfung nicht standhalten. Im Gegenteil seien für Lehrkräfte in großem Umfang neue Belastungen hinzugetreten, wie etwa die Eigenverantwortliche Schule, Inklusion, Beschulung von Flüchtlingskindern, Abordnungen, Umstellung auf G 8 und dann wieder auf G 9, Ganztagsschule, Berufsorientierung, Digitalisierung usw.. Die angebliche Entlastung werde durch die Ergebnisse des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse widerlegt. Danach nähmen die außerunterrichtlichen Tätigkeiten immer weiter zu. Der Hinweis des Beklagten auf etwaige entlastende Entwicklungen gehe hier an der Sache vorbei, weil sich diese auf Lehrkräfte aller Schulformen auswirkten, während es vorliegend allein um die zusätzliche Arbeitszeit gehe, die aufgrund von Funktionstätigkeiten an einem Gymnasium zu erbringen sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die unterschiedliche Regelstundenzahl stehe einem Vergleich der Arbeitsbelastung der Lehrer an den verschiedenen Schulformen nicht entgegen. In Anbetracht des Umstands, dass der Beklagte selbst von einer Belastung durch die Funktionsaufgaben im Umfang von drei Wochenstunden (bzw. zwei Anrechnungsstunden) ausgehe, erschließe es sich nicht, weshalb er - der Beklagte - Angaben seines Schulleiters vortrage, aus denen sich hinsichtlich der Funktionsaufgaben nur eine Belastung von 1,3 Stunden pro Woche ergebe, was im krassen Widerspruch zu den Ergebnissen der Arbeitszeitstudien stehe. Von der Aufgabe „Erste Hilfe“, die lediglich einen kleinen Teil seiner Funktionstätigkeiten ausmache, sei er bislang nicht entbunden worden. Ferner habe er bislang die vom Beklagten erwähnte halbe Anrechnungsstunde nicht erhalten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Ergebnisse der J. Arbeitszeitstudie seien vom Beklagten fehlinterpretiert worden. Es sei mitnichten so, dass die Teilgruppe der Lehrkräfte, zu der er zähle, die am wenigsten belastete sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Der Vortrag des Beklagten, dass auch bei Funktionsamtsinhabern, denen Anrechnungsstunden gewährt würden, ein voller Ausgleich der Mehrbelastung nicht stattfinde und auch diese aufgrund höherer Leistungsfähigkeit ein über die Anrechnungsstunden hinausgehendes Arbeitspensum zu bewältigen hätten, überrasche und führe dazu, dass die Ungleichbehandlung der Funktionsamtsinhaber an Gymnasien und Gesamtschulen sich als noch gravierender darstelle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Der Kläger hat beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 29. Juni 2018 zu verpflichten, ihm zum Ausgleich für die ihm als Oberstudienrat übertragenen Funktionstätigkeiten zwei Anrechnungsstunden zu gewähren</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">die Klage abzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Er hat auf die Klage erwidert: Er sehe keinen Anlass, die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Wertung infrage zu stellen, wonach bei beförderten Beamten wie dem Kläger von einer höheren Leistungsfähigkeit auszugehen sei, wodurch das höhere Arbeitspensum kompensiert werde. Da teilzeitbeschäftigte Oberstudienräte ihre Funktionstätigkeiten in vollem Umfang und nicht lediglich anteilig wahrzunehmen hätten, seien sie überproportional belastet und deshalb zu entlasten. Die Entlastung könne bei der unterrichtlichen Tätigkeit oder bei den außerunterrichtlichen Verpflichtungen oder einer Kombination aus beidem erfolgen. Ein mit halber Pflichtstundenzahl beschäftigter Oberstudienrat bekomme deshalb für seine mit zwei Pflichtstunden zu beziffernde, vollumfängliche Funktionstätigkeit eine Anrechnungsstunde zur Entlastung gewährt. Im Ergebnis müsse er also aufgrund seiner erhöhten Leistungsfähigkeit weiterhin ein um eine Stunde erhöhtes Arbeitspensum als ein entsprechend teilzeitbeschäftigter Studienrat (Bes.-Gr. A 13) bewältigen. Dies entspreche im Verhältnis exakt einem vollzeitbeschäftigten Oberstudienrat wie dem Kläger, der um ein zwei Pflichtstunden höheres Pensum in der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit zu bewältigen habe, sodass eine Ungleichbehandlung zwischen den Gruppen der teilzeit- und der vollzeitbeschäftigten Oberstudienräte nicht gegeben sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Gegen eine zeitliche Überforderung des Klägers spreche außerdem die bereits seit einiger Zeit andauernde und sich weiter fortsetzende Verringerung der außerunterrichtlichen Verpflichtungen durch Absenkung der Schülerhöchstzahlen, Ausbau der Ganztagsschulen, Abschaffung der Orientierungsstufe, Ausweitung der Fortbildungsmöglichkeiten usw.. Die Entlastungen beträfen zum Teil das gesamte Kollegium; hieraus ergäben sich Synergieeffekte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Schulleiter des Gymnasiums Alfeld habe zur tatsächlichen Belastung des Klägers mitgeteilt, dass die Leitung des Faches Latein ca. 20 Stunden pro Jahr, die Koordinierung des Ganztagsbereichs ebenfalls ca. 20 Stunden und die Aufgaben als Sicherheitsbeauftragter ca. 15 Stunden in Anspruch nähmen. Der Bereich „Erste Hilfe“ sei dem Kläger abgenommen worden. Zudem werde er bereits mit 0,5 Jahreswochenstunden entlastet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Nach den Feststellungen des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse seien bestimmte Gruppen von Lehrkräften wie Teilzeitbeschäftigte und Schulleitungen besonders belastet. Die Gruppe der vollzeitbeschäftigten Lehrkräfte mit einem Anspruch von weniger als neun Anrechnungsstunden, zu der der Kläger gehöre, zähle hingegen zu den am wenigsten belasteten Gruppen. Zwar weise diese Gruppe eine Überschreitung der wöchentlichen Sollarbeitszeit um 32 Minuten auf. Diese Überschreitung rechtfertige aber nicht eine Entlastung durch zwei Anrechnungsstunden, zumal die besonders zeitintensiven Aufgaben der vollzeitbeschäftigten Lehrkräfte an Gymnasien im Bereich der Korrekturzeiten und Abschlussarbeiten lägen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Soweit der Kläger von einer Ungleichbehandlung der Gymnasiallehrer im Verhältnis zu Gesamtschullehrern ausgehe, treffe dieser Einwand nicht zu, weil diese Schulformen nicht uneingeschränkt miteinander vergleichbar seien. Die Regelungen der Nds. ArbZVO-Schule trügen den Unterschieden der jeweiligen Schulformen Rechnung. Die fehlende Vergleichbarkeit komme insbesondere durch die unterschiedlichen Regelstundenzahlen zum Ausdruck. Zudem müssten bei der Gewährung von Anrechnungsstunden die unterschiedlichen Anforderungen berücksichtigt werden. Der Zuschnitt einer Fachbereichsleitung in einer Gesamtschule obliege dieser selbst, wobei jedoch vorausgesetzt werde, dass sich die Fachbereichsleitung grundsätzlich an den Unterrichtsfächern orientiere. Regelmäßig orientierten sich die Gesamtschulen dabei an der Schwerpunktbildung ihrer Schule. Eine Fachbereichsleitung „nur“ für das Unterrichtsfach Latein sei daher möglich, nicht hingegen eine Fachbereichsleitung „Ganztag“ oder „Arbeitssicherheit, Arbeitsschutz und Erste Hilfe“. Es sei zu berücksichtigen, dass an Gesamtschulen verschiedene Schulformen gebündelt würden, was die Wahrnehmung einer Fachbereichsleitung z.B. für das Unterrichtsfach „Latein“ umfangreicher mache als die Leitung der Fachkonferenz „Latein“ an einem Gymnasium. Außerdem umfasse die Fachbereichsleitung einer Gesamtschule regelmäßig mehrere Unterrichtsfächer (z.B. „Moderne Fremdsprachen“). Sofern die Fachbereichsleitung ausnahmsweise nur ein Unterrichtsfach umfasse, kämen regelmäßig weitere Funktionsaufgaben hinzu (z.B. „Sport und Ganztag“). Selbst an großen Gesamtschulen gebe es maximal neun Fachbereichsleitungen. Ein Drittel der Fachbereichsleitungen an Gesamtschulen seien mit Lehrkräften der Besoldungsgruppe A 13 und zwei Drittel mit solcher nach A 14 besetzt. Selbst an großen Gesamtschulen würden daher maximal 6 Fachbereichsleitungen von Lehrkräften der Besoldungsgruppe A 14 wahrgenommen. Demgegenüber gebe es an großen Gymnasien bis zu 26 Funktionsstellen der Besoldungsgruppe A 14. Am Gymnasium Alfeld gebe es 17 Funktionsämter der Besoldungsgruppe A 14. Die Nichtvergleichbarkeit komme zudem darin zum Ausdruck, dass es für die Arbeit an den einzelnen Schulformen unterschiedliche Erlasse gebe.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Der Verordnungsgeber habe in Anlage 1 zu § 12 Nds. ArbZVO-Schule besondere Funktionen mit besonders zeitintensiven Funktionstätigkeiten identifiziert, die einen Ausgleich erforderten. Zu einem vollständigen Ausgleich komme es jedoch auch bei Gewährung von Anrechnungsstunden nicht. Die betreffenden Beamten müssten dennoch ein über die Anrechnungsstunden hinausgehendes, erhöhtes Arbeitspensum bewältigen und seien somit nicht bessergestellt als der Kläger.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht Hannover - 2. Kammer (Einzelrichter) - hat die Klage mit Urteil vom 31. Januar 2019 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger könne keine Anrechnungsstunden beanspruchen, weil § 12 Nds. ArbZVO-Schule in Verbindung mit der Anlage 1 für die Wahrnehmung von Funktionstätigkeiten im Amt eines Oberstudienrates an einem Gymnasium keine Anrechnungsstunden vorsehe. Hierin sei kein Verstoß gegen die Fürsorgepflicht des Beklagten aus Art. 33 Abs. 5 GG oder gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu sehen. Denn eine Überlastung für vollbeschäftigte Oberstudienräte wie dem Kläger durch die Wahrnehmung von Funktionsaufgaben sei nicht ersichtlich. Der niedersächsische Verordnungsgeber habe in der Nds. ArbZVO-Schule eine fehlerfreie und insbesondere nicht willkürliche Einschätzung der Gewährung von Anrechnungsstunden vorgenommen. Er habe die Möglichkeit, Anrechnungsstunden zu gewähren, nicht gänzlich abgesprochen, da etwa Fachbereichsleiter an Gesamtschulen solche geltend machen könnten. Insofern sei dem Verordnungsgeber diese Möglichkeit nicht unbekannt; vielmehr habe er sich bewusst gegen die Gewährung von Anrechnungsstunden für Fachkonferenzleiter an Gymnasien entschieden. Auch wenn Oberstudienräte ein höheres Arbeitspensum zu bewältigen hätten als Studienräte, könne der Dienstherr, da Beförderungsämter an besonders leistungsstarke Beamte vergeben würden, erwarten, dass trotz der Mehrbelastung die durchschnittliche Wochenarbeitszeit nicht überschritten werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Der Senat hat durch Beschluss vom 20. August 2020 (- 5 LA 71/19 -) die Berufung des Klägers wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zugelassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Zur Begründung der Berufung vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen und trägt ergänzend vor:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Dem Urteil des Verwaltungsgerichts liege mit der Feststellung, dass eine Überlastung vollbeschäftigter Oberstudienräte wie dem Kläger hinsichtlich der Wahrnehmung von Funktionsaufgaben nicht ersichtlich sei, bereits ein falscher Prüfungsmaßstab zugrunde. Es gehe nicht um die abstrakte Prüfung einer wie auch immer gearteten Überlastung, sondern um die Einhaltung der festgelegten Wochenarbeitszeit. Zudem habe das Verwaltungsgericht, indem es sich auf eine Willkürprüfung beschränkt habe, unter Hinweis auf die bereits überholte Rechtsprechung eine allzu eingeschränkte gerichtliche Kontrollkompetenz angenommen. Das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetz- und Verordnungsgeber umfangreiche Sachverhaltsaufklärungs- und Dokumentationspflichten auferlegt, und auch der erkennende Senat habe als Gegenstück zu der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle prozedurale Anforderungen formuliert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Selbst wenn man von einer „besonderen Leistungsfähigkeit“ im Sinne einer erhöhten Arbeitseffizienz von Oberstudienräten an Gymnasien ausgehen wollte, sei zu beachten, dass dieser Gesichtspunkt nicht überspannt werden dürfe und sich deshalb auf „überschaubare Mehrbelastungen“ aufgrund der übertragenen Funktionstätigkeiten beschränken müsse. Die Prüfung, ob und wann diese Grenze überschritten werde, sei vom Verwaltungsgericht nicht vorgenommen worden. Allein der Verweis auf die besondere Leistungsfähigkeit trage nicht und berücksichtige nicht seine - des Klägers - konkrete Situation, dem mehrere unterschiedliche Funktionsaufgaben übertragen worden seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Zudem habe der Verordnungsgeber für alle anderen Funktionsämter gleichwohl die Gewährung von Anrechnungsstunden vorgesehen, ohne dass nachvollziehbar sei, warum ausschließlich Funktionsämter der Besoldungsgruppe A 14 an Gymnasien solche nicht erhielten und anhand welcher Kriterien diese unterschiedliche Handhabung vorgenommen worden sei. Ob der Unterscheidung sachgerechte Erwägungen zugrunde lägen, sei mangels Sachverhaltsaufklärung und Dokumentation nicht nachprüfbar. Für den Fall, dass Funktionsamtsinhaber an Gymnasien (der Bes.-Gr. A 14) tatsächlich die vom Dienstherrn angesetzten drei zusätzlichen Zeitstunden durch effizientere Arbeitsgestaltung kompensieren könnten, müsse diese Annahme gleichermaßen für alle anderen Funktionsamtsinhaber gelten. Diesen würden jedoch zum Ausgleich für die Mehrbelastung Anrechnungsstunden gewährt. Nicht nachzuvollziehen sei darüber hinaus die Argumentation des Verwaltungsgerichts, dass nach den Erkenntnissen des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse zwar bei Gymnasiallehrkräften die gesetzlich festgelegte Wochenarbeitszeit von durchschnittlich drei Stunden überschritten werde, jedoch nicht davon ausgegangen werden könne, dass diese Überschreitung auf übertragenen Funktionstätigkeiten beruhe, weil sich aus der Untersuchung nicht ergebe, in welchem Umfang der Anteil der Überlastung auf die Wahrnehmung von Funktionsaufgaben der Oberstudienräte an Gymnasien zurückzuführen sei. Der Befund hätte dem Gericht Anlass zur Prüfung geben müssen, zumal sich ein Zusammenhang mit den Funktionsaufgaben durchaus aufdränge.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Das Expertengremium Arbeitszeitanalyse habe in seinem Bericht Funktionsamtsinhaber mit Anrechnungsstunden - nur diese seien untersucht worden - als eine Gruppe mit überproportional hoher Arbeitszeit identifiziert und eine Erhöhung der Anrechnungsstunden für Lehrkräfte der Besoldungsgruppe A 15 für dringend erforderlich erachtet. Insofern sei davon auszugehen, dass es auch bei Funktionsamtsinhabern der Besoldungsgruppe A 14 an Gymnasien, die keinen zeitlichen Ausgleich für ihre Funktionstätigkeiten in Form von Anrechnungsstunden erhielten, zur Überschreitung der festgelegten Wochenarbeitszeit komme.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Ferner habe der Dienstherr nach Unionsrecht die Pflicht, die Arbeitszeit seiner Beschäftigten zu erfassen. Hieraus ergebe sich die auch auf den vorliegenden Fall zu übertragende Anforderung, dass der Dienstherr nicht nach Gutsherrenart über die Arbeitszeit bestimmen und eine effektive Kontrolle der Einhaltung der zulässigen Höchstarbeitszeit dadurch unterlaufen dürfe, dass die tatsächliche Arbeitszeit nicht erfasst werde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Er, der Kläger, habe nicht nur aus Fürsorgegründen, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung einen Anspruch auf Gewährung von Anrechnungsstunden. Die vom Verwaltungsgericht angeführten „gewichtigen Aspekte“, die gegen eine Vergleichbarkeit von Gymnasiallehrkräften mit Lehrkräften anderer Schulformen, insbesondere an Gesamtschulen sprächen, seien nicht nur weitestgehend unzutreffend, sondern bezüglich der Frage der Gewährung von Anrechnungsstunden auch unergiebig. Die unterschiedlichen Regelstundenzahlen der Lehrkräfte an Gymnasien und Gesamtschulen stünden in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Frage des angemessenen Ausgleichs für die zusätzliche zeitliche Belastung durch Funktionsaufgaben. Aus den Feststellungen des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse sei zu schließen, dass die für an einer Gesamtschule tätigenden Lehrkräfte festgelegte Regelstundenzahl in Kombination mit der im Vergleich zu den Gymnasien deutlich höheren Zahl von Anrechnungsstunden insgesamt zielgenau zu einer Einhaltung der gesetzlich festgelegten Wochenarbeitszeit führe, wohingegen diese für Gymnasiallehrkräfte im Durchschnitt um drei Stunden überschritten werde. Soweit auf die Bündelung verschiedener Schulformen an Gesamtschulen verwiesen werde, fehle eine Begründung, weshalb dies zu einer Nichtvergleichbarkeit mit Gymnasiallehrkräften führe, zumal der Unterricht auch an Integrierten Gesamtschulen nach Schuljahrgängen gegliedert sei. Schulzweige im organisatorischen Sinne gebe es dort nicht. An den insgesamt noch 36 verbliebenen Kooperativen Gesamtschulen in Niedersachsen sei der Unterricht sehr unterschiedlich organisiert, jedoch zunehmend ohne Schulzweige. Unbeschadet der verschiedenen Organisationsformen erhielten alle Fachbereichsleitungen an Gesamtschulen die gleiche Anzahl an Anrechnungsstunden. Ebenso für die Fachkonferenzleitungen an Haupt-, Real- und Oberschulen seien Anrechnungsstunden vorgesehen. Hinsichtlich des Zuschnitts der Fachbereiche zeige sich in der Praxis ein sehr unterschiedliches Bild. Weshalb etwa die Fachbereichsleitung „Latein“ an einer Gesamtschule automatisch und grundsätzlich aufwendiger sein solle als die Fachkonferenzleitung „Latein“ an einem Gymnasium, erschließe sich nicht, zumal lediglich 28 von 95 Gesamtschulen in Niedersachsen über eine voll ausgebaute gymnasiale Oberstufe verfügten. An 43 Gesamtschulen gäbe es keine Oberstufe und somit auch keine Vorbereitung auf und Durchführung von Abiturprüfen, wodurch für die Fachbereichsleitung erheblicher Aufwand wegfalle. Insbesondere bei Fachbereichsleitungen „Ganztag“, für die an der Gesamtschule drei Anrechnungsstunden gewährt würden, und die sich in beiden Schulformen nach den gleichen Bestimmungen richteten, sei eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung offenkundig. Eine fehlende Vergleichbarkeit lasse sich auch nicht mit der Anzahl der Funktionsstellen begründen. Denn die vom Dienstherrn geforderte Mehrleistung von drei Zeitstunden hänge nicht von dieser Zahl ab. Zudem gebe es an Gesamtschulen eine Vielzahl von Funktions- bzw. Beförderungsstellen, die es an Gymnasien in dieser Form nicht gebe (z.B. didaktische Leitung, Jahrgangsleitung).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Der Kläger hat die mit der Berufung zunächst weiterverfolgte Verpflichtungsklage in der mündlichen Verhandlung vom 13. September 2022 mit Zustimmung des Beklagten geändert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Er beantragt nunmehr,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 31. Januar 2019 zu ändern und festzustellen, dass von ihm infolge der Wahrnehmung der mit seinem Amt als Oberstudienrat an einem Gymnasium verbundenen Funktionstätigkeiten vom Dienstherrn Zuvielarbeit - über § 60 Abs. 1 NBG hinausgehende Arbeitszeit - abverlangt wird, die zwei Anrechnungsstunden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nds. ArbZVO-Schule entspricht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">die Berufung zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Er erwidert: Die vom Kläger geltend gemachte Überschreitung der gesetzlich vorgegebenen Arbeitszeit sei bislang nicht hinreichend substantiiert. Er beschränke sich lediglich auf die Behauptung, dass eine Arbeitszeitüberschreitung durch zwei Arbeitszeituntersuchungen festgestellt worden sei. Die Arbeitszeituntersuchung der Universität I. könne schon deshalb nicht als hinreichende Grundlage für den Nachweis einer Arbeitszeitüberschreitung dienen, weil sie lediglich einen kurzen Zeitraum (12. Februar 2018 bis 11. März 2018) umfasst habe und die Arbeitszeitbelastung von Lehrkräften über das Schuljahr stark schwanke. In diesem Zusammenhang habe der Kläger nicht vorgetragen, in welchem Umfang seine wöchentliche Arbeitszeit überschritten werde, sondern er greife lediglich den Teilbereich der Funktionstätigkeiten heraus. Im Übrigen fehle es an näheren Informationen zu der Untersuchung und den dortigen Feststellungen. Dem Ergebnisbericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse sei zwar zu entnehmen, dass es zu Überschreitungen der Vorgaben zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit komme . Es zeige sich jedoch auch, dass bestimmte Gruppen wie etwa Teilzeitbeschäftigte und Schulleitungen besonders belastet seien. Die Gruppe der vollzeitbeschäftigten Lehrkräfte mit weniger als neun Anrechnungsstunden, zu der der Kläger gehöre, zähle zu den am wenigsten belasteten Lehrkräften. Insoweit seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Vergabe von Anrechnungsstunden im Falle des Klägers notwendig sei. Die für seine Gruppe festgestellte Überschreitung der Sollarbeitszeit von 32 Minuten rechtfertige nicht eine Entlastung im Umfang von zwei Anrechnungsstunden. Die Aufschlüsselung der Tätigkeitskategorien zeige, dass die besonders zeitintensiven Aufgaben der vollzeitbeschäftigten Lehrkräfte am Gymnasium im Bereich der Korrekturzeiten und Abschlussarbeiten lägen. Ferner treffe es nicht zu, dass das Expertengremium eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 43 Stunden und 5 Minuten bei Lehrkräften am Gymnasium festgestellt habe. Für einen den Klageantrag stützenden Vortrag sei zumindest zu fordern, dass der Kläger durch eine konkrete Arbeitszeitaufzeichnung darlege, wann er in welchem Umfang und mit welcher Tätigkeit beschäftigt gewesen sei. Dies sei bislang nicht geschehen, sodass es an jeglichen näheren qualitativen und quantitativen Ausführungen zur Arbeitszeitgestaltung fehle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Zu berücksichtigen sei, dass der Kläger für die Aufgabe als Sicherheitsbeauftragter eine Entlastung im Umfang von 0,5 Jahreswochenstunden erhalte. Zusätzlich werde er im Umfang von 0,5 Jahreswochenstunden zum Ausgleich besonderer Belastungen entlastet. Zudem sei ihm zu seiner Entlastung der Aufgabenbereich „Erste Hilfe“ abgenommen worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Er, der Beklagte, stelle nicht in Abrede, dass Oberstudienräte an Gymnasien aufgrund ihrer Funktionsaufgaben ein höheres Arbeitspensum zu bewältigen hätten als dort tätige Studienräte. Dieser Umstand allein sei jedoch nicht dazu geeignet, eine Überschreitung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit zu belegen. Aufgrund ihrer höheren Leistungsfähigkeit sei zu erwarten, dass Oberstudienräte trotz des höheren Pensums die wöchentliche Arbeitszeit nicht überschritten. Auch auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats zu den prozeduralen Anforderungen einer Normgebung (Urteil vom 9. Juni 2015) könne sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Im vorliegenden Fall stehe nicht ein Normerlass im Streit. Allein im Falle einer entsprechenden Änderung der Nds. ArbZVO-Schule müsse der Verordnungsgeber gesteigerten prozeduralen Anforderungen genügen. Um eine Neuregelung gehe es hier aber nicht, sondern der Kläger begehre eine mit der geltenden Verordnungslage nicht vereinbare Entlastung und damit letztlich eine Veränderung der bestehenden Verordnungslage. Hinsichtlich der bestehenden Verordnungslage könne lediglich eine gewisse Beobachtungspflicht des Normgebers greifen. Die Fürsorgepflicht gebiete es, bei sich ändernden Gegebenheiten - wie etwa bei einer deutlichen Steigerung der Arbeitsbelastung - die bestehende Verordnungslage zu überdenken. Eine Verletzung der insoweit bestehenden Beobachtungspflicht sei hier auszuschließen, denn der Dienstherr habe die Arbeitszeitbelastung untersucht und sowohl belastende als auch entlastende Veränderungen in der jüngeren Vergangenheit registriert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz sei nicht gegeben. Es fehle an der Vergleichbarkeit des Amtes eines Oberstudienrats mit anderen schulischen Funktionsämtern. Die Tätigkeit des Klägers weise auf mehreren Ebenen erhebliche Unterschiede zu den in Bezug genommenen Funktionsämtern auf. Zunächst sei auf die Unterschiede der verschiedenen Schulformen zu verweisen, welche bereits einen direkten Vergleich der Arbeitszeitgestaltung ausschlösse. Ferner lasse der Kläger die unterschiedliche Regelstundenzahl je nach Schulform außer Betracht. Dessen Annahme, die Vergabe von Anrechnungsstunden stehe nicht im Zusammenhang mit der Regelstundenzahl, treffe nicht zu, denn die Anrechnungsstunden würden zu einer Reduktion der grundsätzlich zu erbringenden Unterrichtsleistung führen. Der Kläger begehre insofern nicht eine Gleichbehandlung mit den Funktionsamtsinhabern an Gesamtschulen, sondern eine Besserstellung. Lehrkräfte an Gesamtschulen hätten einen höheren Anteil an Unterrichtsverpflichtungen. Selbst besonders leistungsstarke Inhaber von Beförderungsämtern könnten die Arbeitszeit im Rahmen der Unterrichtsverpflichtung nicht effizienter gestalten. Der Effizienzgewinn könne allein im Bereich der außerunterrichtlichen Tätigkeiten erzielt werden. Da dieser Arbeitsanteil bei Lehrkräften an Gesamtschulen aber geringer ausfalle, sei der Umfang des durch höhere Effizienz einsparbaren Zeitanteils geringer. Schon aus diesem Grund seien die beiden Gruppen nicht miteinander vergleichbar. Gleiches gelte für Leiter einer Fachkonferenz an Haupt-, Real- und Oberschulen. Diesen obliege eine noch deutlich höhere Regelstundenzahl. Folglich hätten diese Funktionsträger noch geringere Möglichkeiten, sich durch effizientes Arbeiten Zeiträume für ihre Funktionstätigkeit frei zu schaffen. Die Unterschiede in der zeitlichen Verteilung der einzelnen Tätigkeitsfelder würden durch die J. Arbeitszeitstudie und den Bericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse belegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Entgegen dem klägerischen Vorbringen seien bei den Gesamtschulen drei Schulformen zu koordinieren und curricular miteinander abzustimmen; äußere Differenzierungen würden bei den Gesamtschulen durch pädagogisch anspruchsvolle Modelle der Binnendifferenzierung und inneren Differenzierung ersetzt. Es werde auf die mittleren Bildungsabschlüsse hingearbeitet. Die Teilnahme aller Schülerinnen an den Prüfungen zum Sekundarabschluss I (Haupt- bzw. Realschulabschluss) müsse gewährleistet werden, was bei den Gymnasien entfalle. Der Verordnungsgeber habe eine unterschiedlich hohe Belastung von Funktionsamtsinhabern an den verschiedenen Schulformen ausgemacht. Bei der vorgenommenen Regelung sei eine generalisierende Betrachtung zulässig. Aus dem Umstand, dass die Bezeichnungen der Funktionsbereiche dem Wortlaut nach übereinstimmten, könne nicht abgeleitet werden, dass die Tätigkeiten auch inhaltlich identisch seien.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Beiakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>1. Die Umstellung der Klage auf eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO begegnet keinen rechtlichen Bedenken, zumal der Beklagte der Klageänderung zugestimmt hat. Die Klage ist als Feststellungsklage statthaft. Gemäß § 43 Abs. 1 VwGO kann im Wege der Feststellungsklage u. a. die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Ein feststellungsfähiges, konkretes Rechtsverhältnis liegt hier vor. Aus Sicht des Klägers ist die Frage zu klären, ob ihm Zuvielarbeit - d. h., über § 60 Abs. 1 des Niedersächsischen Beamtengesetzes (NBG) hinausgehende Arbeitszeit - im Umfang von zwei Anrechnungsstunden abverlangt wird. Im Hinblick auf sein letztlich damit verfolgtes Ziel, eine Entlastung von Zuvielarbeit für die ihm übertragenen Funktionsaufgaben zu erhalten, entweder durch Verringerung seiner Unterrichtsverpflichtung durch Anrechnungsstunden oder durch Verringerung der außerunterrichtlichen Aufgaben, etwa durch Reduzierung der ihm übertragenen Funktionsaufgaben, steht dem Kläger ein berechtigtes Interesse an einer solchen Feststellung zur Seite. Der Zulässigkeit der Feststellungsklage steht nicht deren Subsidiarität gegenüber einer Gestaltungs- oder Leistungsklage (§ 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO) entgegen, weil es bei beklagten öffentlich-rechtlichen Körperschaften der unmittelbaren Rechtsgestaltung oder des Vollstreckungsdrucks aufgrund eines Leistungs- und Gestaltungsurteils nicht bedarf, weil diese Körperschaften eine gerichtliche Feststellung beachten und die gebotenen Konsequenzen ziehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.7.1976 - BVerwG VII C 71.75 -, juris Rn. 21; Urt. v. 12.3.1982 - BVerwG 4 C 80.80 -, juris Rn. 8 f.; Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 43 Rn. 43) und - wie hier - Sonderregelungen über Fristen und Vorverfahren für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen nicht unterlaufen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2015 - BVerwG 2C 41.13 -, juris Rn. 11 m. w. N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>2. Der Feststellungsklage bleibt jedoch ein Erfolg in der Sache versagt. Es ist nicht feststellbar, dass dem Kläger infolge der Wahrnehmung der mit seinem Amt als Oberstudienrat (Bes.-Gr. A 14) an einem Gymnasium verbundenen Funktionsaufgaben Zuvielarbeit abverlangt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>a) Die wöchentliche Arbeitszeit für niedersächsische Beamte ist in § 60 Abs. 1 NBG geregelt. Danach darf die regelmäßige Arbeitszeit im Jahresdurchschnitt 40 Stunden in der Woche nicht überschreiten. Indem hinsichtlich der Berechnung auf den Jahresdurchschnitt abgestellt wird, bleibt Spielraum für eine flexible Gestaltung der Tages-, Wochen- und Monatsarbeitszeit; außerdem wird die ungleichmäßige Verteilung der Arbeitszeit ermöglicht (Kümmel, Beamtenrecht, Stand: Juli 2022, Band 3, § 60 NBG Rn. 12; Schmidt/Ritter, in: Plog/Wiedow, BBG, Stand: September 2022, Band 6, § 60 NBG Rn. 6). Die Bestimmung des § 60 Abs. 5 Satz 1 NBG ermächtigt die Landesregierung, das Nähere - insbesondere zur Dauer der Arbeitszeit und zu Möglichkeiten der flexiblen Ausgestaltung und Verteilung der Arbeitszeit sowie zu Pausen und Ruhezeiten - durch Verordnung zu regeln. Auf dieser Grundlage hat die Niedersächsische Landesregierung zur Regelung der Arbeitszeit der im Beamtenverhältnis stehenden Lehrkräfte an öffentlichen Schulen sowie der dortigen verbeamteten Schulleiterinnen und Schulleiter die Nds. ArbZVO-Schule vom 14. Mai 2012 (Nds. GVBl. S. 106) erlassen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Die Dienstleistungen, die verbeamtete Lehrkräfte an öffentlichen Schulen im Rahmen der für alle Beamten geltenden regelmäßigen Arbeitszeit zu erbringen haben, umfassen zwei Komponenten, nämlich den Bereich der Erteilung von Unterrichtsstunden sowie den Bereich der sogenannten außerunterrichtlichen Verpflichtungen, die sich etwa auf die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts sowie auf Korrekturtätigkeiten, Konferenzen, Elterngespräche, Klassenfahrten und anderes erstrecken. Sofern einer Lehrkraft - wie hier - Funktionsaufgaben übertragen worden sind, treten diese als weiteres Element außerunterrichtlicher Verpflichtungen hinzu.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>In § 3 Nds. ArbZVO-Schule ist mit der Regelstundenzahl lediglich die erste Komponente der Lehrerarbeitszeit festgeschrieben. Die Regelstundenfestsetzung trägt dem besonderen Umstand Rechnung, dass die Arbeitszeit von Lehrkräften nur hinsichtlich der eigentlichen Unterrichtsstunden exakt messbar ist, während ihre Arbeitszeit im Übrigen nur grob pauschalierend geschätzt werden kann (st. Rspr. BVerwG, Urteil vom 29.11.1979 - BVerwG 2 C 40.77 -, juris Rn. 24; Urteil vom 28.10.1982 - BVerwG 2 C 88.81 -, juris Rn. 15; Beschluss vom 14.12.1989 - BVerwG 2 NB 2.89 -, juris Rn. 3; Urteil vom 28.1.2004 - BVerwG 2 C 19.03 -, juris Rn. 12; Urteil vom 23.6.2005 - BVerwG 2 C 21.04 -, juris Rn. 15; Beschluss vom 11.12.2020 - BVerwG 2 B 10.20 -, Rn. 9; vgl. auch Nds. OVG, Urt. v. 12.2.2019 - 5 KN 79/16 -, juris Rn. 65; Urteil vom 18.9.2007 - 5 LC 264/06 -, juris Rn. 31). Dieser zweite, außerunterrichtliche Aufgabenbereich ist umso weniger exakt zeitlich messbar, als die hierfür aufzuwendende Arbeitszeit auch nach Schülerzahl, Schulform und Schulfächern, aber auch nach den individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen der einzelnen Lehrkraft unterschiedlich sein kann (BVerwG, Beschluss vom 14.12.1989 - BVerwG 2 NB 2.89 -, juris Rn. 3; Urteil vom 28.1.2004 - BVerwG 2 C 19.03 -, juris Rn. 12; Hess. VGH, Beschluss vom 22.8.2000 - 1 N 2320/96 -, juris Rn. 35). Gleichwohl wirkt sich die Regelstundenzahl - auch als Pflichtstundenzahl bezeichnet - zumindest indirekt auf die gesamte Arbeitszeit aus, welche die verbeamtete Lehrkraft ihrem Beruf zu widmen hat, und welche - wie dargelegt - in Niedersachsen im Jahresdurchschnitt 40 Stunden pro Woche beträgt. Durch die Regelstundenzahl bzw. Pflichtstundenregelung konkretisiert der Verordnungsgeber das Verhältnis der wöchentlichen Unterrichtsverpflichtung eines Lehrers zu seiner übrigen Arbeitszeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.9.2005 - BVerwG 2 B 25.05 -, juris Rn. 6), wobei die allgemein festgelegte Wochenarbeitszeit den Orientierungsrahmen bildet, den der Verordnungsgeber bei der Festlegung der Unterrichtsverpflichtung im Blick haben muss, um die Arbeitszeitregelung für Lehrkräfte nicht von der allgemein für Beamte geltenden Arbeitszeitregelung loszulösen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.8.2012 - BVerwG 2 C 23.10 -, juris Rn. 14; Hess. VGH, Urteil vom 8.8.2000 - 1 N 4694/96 -, juris Rn. 37). In diesem Sinne ist die Pflichtstundenregelung für Lehrer und einzelne Lehrergruppen in die allgemeine beamtenrechtliche Arbeitszeitregelung 'eingebettet' (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.11.1979 - BVerwG 2 C 40.77 -, juris Rn. 24; Urteil vom 28.10.1982 - BVerwG 2 C 88.81 -, juris Rn. 15; Beschluss vom 14.12.1989 - BVerwG 2 NB 2.89 -, juris Rn. 3; Beschluss vom 26.8.1992 - BVerwG 2 B 90.92 -, juris Rn. 4; Urteil vom 28.1.2004 - BVerwG 2 C 19.03 -, juris Rn. 12; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 9.7.1980 - 2 A 16/79 -, DÖV 1981, 465, 466; Hess. VGH, Beschluss vom 8.8.2000 - 1 N 4694/96 -, juris Rn. 37; OVG NRW, Beschluss vom 14.7.2003 - 6 A 2040/01 -, juris Rn. 5; OVG Berl.-Bbg., Urteil vom 25.10.2007 - OVG 4 B 10.07 -, juris Rn. 28).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>Für die Beantwortung der Frage, ob die von den Lehrkräften verlangte Arbeitsleistung über den Rahmen der allgemein für Beamte geltenden Arbeitszeitregelung hinausgeht, kommt es nicht auf die Ansicht einzelner Lehrkräfte darüber an, welcher Zeitaufwand zur Bewältigung ihrer Aufgaben notwendig und zweckmäßig ist, sondern auf die vom Dienstherrn geforderte Arbeitsleistung (BVerwG, Urteil vom 29.11.1979 - BVerwG 2 C 40.77 -, juris Rn. 32; Urteil vom 28.10.1982 - BVerwG 2 C 88.81 -, juris Rn. 18; Beschluss vom 14.12.1989 - BVerwG 2 NB 2.89 -, juris Rn. 3; VGH Ba.-Wü., Beschluss vom 11.8.1998 - 4 S 1411/97 -, juris Rn. 43; OVG NRW, Beschluss vom 14.7.2003 - 6 A 2040/01 -, juris Rn. 12; Beschluss vom 17.12.2014 - 6 A 1353712 -, juris Rn. 9; OVG Berl.-Bbg., Urteil vom 25.10.2007 - OVG 4 B 10.07 -, juris Rn. 29). Denn es entspricht dem Wesen des Beamtenverhältnisses als eines öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses, dass der Dienstherr bestimmt, welche qualitativen und quantitativen Anforderungen er an die einzelnen Aufgabenfelder im öffentlichen Dienst stellt. Mit der Festsetzung der Regelstundenzahl bringt der Dienstherr also seine Einschätzung zum Ausdruck, dass diese Zahl der Unterrichtsstunden einschließlich Vor- und Nachbereitung, Korrekturen sowie sonstiger außerunterrichtlicher Tätigkeit - generalisierend und pauschalierend betrachtet - einem Arbeitsaufwand entspricht, den jeder Beamte im Jahresdurchschnitt wöchentlich zu bewältigen hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>Was die gerichtliche Überprüfbarkeit dieser Einschätzung betrifft, so folgt aus der bestehenden Einschätzungsprärogative des Dienstherrn (OVG NRW, Urteil vom 20.10.2011 - 6 A 2173/09 -, juris Rn. 32) - auch als weiter Gestaltungs- oder Ermessensspielraum bezeichnet (BVerwG, Beschluss vom 26.8.1992 - BVerwG 2 B 90.92 -, juris Rn. 4; Hess. VGH, Beschluss vom 22.8.2000 - 1 N 2320/96 -, juris Rn. 35; OVG Saarl., Urteil vom 13.1.2003 - 1 N 2/02 -, juris Rn. 33; OVG NRW, Beschluss vom 14.7.2003 - 6 A 2040/01 -, juris Rn. 14) - eine nur in sehr engen Grenzen bestehende gerichtliche Kontrollmöglichkeit (Hess. VGH, Beschluss vom 8.8.2000 - 1 N 4694/96 -, juris Rn. 28; OVG Berl.-Bbg., Urteil vom 25.10.2007 - OVG 4 B 10.07 -, juris Rn. 29), nämlich dahingehend, dass diese Einschätzung nicht offensichtlich fehlsam, insbesondere nicht willkürlich sein darf (OVG NRW, Beschluss vom 14.7.2003 - 6 A 2040/01 -, juris Rn. 14; OVG Berl.-Bbg., Urteil vom 25.10.2007 - OVG 4 B 10.07 -, juris Rn. 29). Vor dem Hintergrund einer solchen Evidenzkontrolle kann eine Festlegung verschieden hoher Regelstundenzahlen für Gruppen von Lehrkräften, für die sämtlich die gleiche Gesamtarbeitszeit gilt, nur an solche Umstände anknüpfen, welche einen Bezug zur jeweils geforderten Arbeitsleistung, insbesondere zu deren zeitlichem Maß, aufweisen (BVerwG, Urteil vom 28.10.1982 - BVerwG 2 C 88.81 -, juris Rn. 16 f.; Nds. OVG, Urteil vom 23.3.1993 - 2 K 1/89 -, juris Rn. 17). So ist etwa die Verschiedenartigkeit der Ausbildungsziele der einzelnen Schularten in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich als ein sachgerechtes Differenzierungsmerkmal für die Festsetzung verschieden hoher Regelstundenzahlen für verschiedene Lehrkräftegruppen anerkannt worden, sofern bei generalisierender Betrachtung die Verschiedenartigkeit der Ausbildungsziele noch wirklichkeitskonform die Annahme einer nach Zeit und/oder Art unterschiedlichen Arbeitsbelastung und damit die Festsetzung einer unterschiedlichen Regelstundenzahl für diese Lehrkräftegruppen stützen kann (BVerwG, Urteil vom 15.12.1971 - BVerwG VI C 40.68 -, Buchholz 237.4 § 74 BG Hamburg Nr. 1, S. 2; Urteil vom 13.7.1977 - BVerwG VI C 85.75 -, juris Rn. 35; Urteil vom 28.10.1982 - BVerwG 2 C 88.81 -, juris Rn. 16). Auch ist es nicht willkürlich, wenn der Dienstherr Veränderungen berücksichtigt, die sich im Laufe der Zeit ergeben und die sich zulasten oder zugunsten der Lehrkräfte auswirken, wie etwa die Verminderung von Klassenstärken, eine veränderte Regelung oder Praxis hinsichtlich der Gewährung von Anrechnungs-, Ermäßigungs- oder Entlastungsstunden, ohne dass deshalb der Dienstherr die Zahl der Pflichtstunden ändert (BVerwG, Beschluss vom 26.8.1992 - BVerwG 2 B 90.92 -, juris Rn. 4; Beschluss vom 21.9.2005 - BVerwG 2 B 25.05 -, juris Rn. 6), oder den Rückgang von Schülerzahlen (Nds. OVG, Urteil vom 23.3.1993 - 2 K 1/89 -, juris Rn. 10). Ob sich die vom Dienstherrn jeweils gewählte Art der Konkretisierung im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens hält, hängt daher von einer nicht nur rechtlichen, sondern insbesondere auch tatsächlichen Würdigung und Abwägung der für die Entscheidung maßgebenden Umstände ab (BVerwG, Beschluss vom 26.8.1992 - BVerwG 2 B 90.92 -, juris Rn. 4; Beschluss vom 21.9.2005 - BVerwG 2 B 25.05 -, juris Rn. 6).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>b) Ausgehend von diesen Grundsätzen, die der erkennende Senat in seinem Urteil vom 9. Juni 2015 im Normenkontrollverfahren zur Frage der Rechtmäßigkeit der Anhebung der Regelstundenzahl niedersächsischer Gymnasiallehrkräfte (- 5 KN 148/14 -, juris Rn. 38 ff.) aufgestellt und in einem Beschluss vom 4. Juni 2022 jüngst wiederholt und bestätigt hat (- 5 LA 84/21 -, juris Rn. 26 ff.), hat der Kläger eine durch die ihm übertragenen Funktionsaufgaben bedingte, strukturelle (dazu unter aa)) oder aber individuelle (bb)) Zuvielarbeit nicht dargelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>aa) Die aus seiner Sicht für eine strukturelle Zuvielarbeit sprechenden Argumente überzeugen nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>aaa) Die vom Kläger aus einer Annahme des Niedersächsischen Kultusministeriums, wonach bei Oberstudienräten an Gymnasien von einem durch die Funktionsaufgaben bedingten zeitlichen Mehraufwand von zwei Anrechnungsstunden bzw. drei Zeitstunden auszugehen sei, abgeleitete Schlussfolgerung, dass er in jenem Umfang Zuvielarbeit leiste bzw. von ihm abverlangt werde, teilt der Senat nicht. Er hat die Einschätzung des Verordnungsgebers, dass das reguläre Arbeitspensum eines Gymnasiallehrers, d. h. eines Studienrates (A 13) ohne Funktionsaufgaben, grundsätzlich innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Arbeitszeit von 40 Stunden bewältigt werden kann, in seiner Klage- und Berufungsbegründung nicht grundlegend in Frage gestellt, sondern vertritt die Auffassung und begehrt die entsprechende Feststellung, dass er insbesondere aufgrund der mit seinen Funktionsaufgaben einhergehenden Mehrbelastung über die vorgegebenen 40 Stunden in der Woche hinaus in Anspruch genommen werde. Dabei stützt er sich auf zwei Erlasse des Niedersächsischen Kultusministeriums aus dem Jahr 2017 (Anlagen K2 und K3 zur Klagebegründung [Bl. 77 ff./GA]), aus denen dessen vorstehend genannte Annahme hervorgeht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>Entgegen der Auffassung des Klägers kann nicht bereits aus dem bloßen Umstand, dass ihm infolge seiner Beförderung zum Oberstudienrat (A 14) im Jahr 2015 Funktionsaufgaben übertragen worden sind, strukturell von einer Überschreitung der gesetzlich vorgegebenen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden im Jahresdurchschnitt ausgegangen werden. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf der Dienstherr grundsätzlich unterstellen und erwarten, dass das gegenüber Studienräten (Bes.-Gr. A 13) höhere Arbeitspensum, welches durch die Übertragung von Funktionstätigkeiten entsteht, von Oberstudienräten (Bes.-Gr. A 14) durch eine planvollere und effizientere Arbeitsorganisation aufgefangen wird und diese das zusätzliche Pensum bewältigen, ohne dass es bei ihnen zu einer Überschreitung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit kommt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass Beförderungsämter an besonders leistungsstarke Beamte vergeben werden (BVerwG, Urteil vom 16.7.2015 - BVerwG 2 C 16.14 -, juris Rn. 15).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>Soweit der Kläger dieser Rechtsprechung unter Bezugnahme auf eine frühere Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Bay. VGH, Beschluss vom 27. Februar 2012 - 3 CE 11.2579 -, juris) entgegenhält, dass die höhere Leistungsfähigkeit lediglich ein Kriterium bei der Auswahl eines Beamten für eine Beförderungsstelle sein könne und das Amt eines Oberstudienrates gegenüber dem eines Studienrates zwar durch die Übernahme höherwertiger Tätigkeiten, nicht jedoch auch durch ein höheres Arbeitspensum geprägt sei, dringt er hiermit nicht durch. Dieser Entscheidung lag der Fall eines Studiendirektors zugrunde, dem in Anschluss an die Beförderung in jenes Amt nicht länger eine Anrechnungsstunde für seine Funktion eines 1. Fachbetreuers im Fach Mathematik gewährt wurde. Die weitere, 2. Fachbetreuerin des Faches Mathematik, eine Oberstudienrätin, erhielt hingegen wegen der Funktion zwei Anrechnungsstunden. Gegenstand der gerichtlichen Prüfung war die Frage, ob die Schulleitung über die Verteilung der im Rahmen eines Kontingents insgesamt zur Verfügung stehenden Anrechnungsstunden ermessensfehlerfrei entschieden hatte. In diesem Zusammenhang hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner o.g. Entscheidung ausgeführt (juris, Rn. 34):</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt"><em>„Der nunmehr eingeführte Gesichtspunkt, dass der eine der beiden Betroffenen in Besoldungsgruppe A 15 eingestuft ist, die andere hingegen in Besoldungsgruppe A 14, ist kein Begründungselement, das ermessensfehlerfrei in die Auswahlerwägungen eingestellt werden kann. Der Schulleiter hätte sich darüber im Klaren sein müssen, dass Maßstab für die Zuteilung von Verfügungsstunden der Zeitaufwand ist, der sich nicht nach der besoldungsrechtlichen Einstufung des betroffenen Lehrers richtet, und nicht die Frage der fachlichen Anforderung. Diese war zwar bei der Übertragung des Funktionsamtes 1. Fachberater Mathematik maßgeblich zu berücksichtigen, nicht aber im Sinn der Rechtfertigung einer Abgeltung des für die Wahrnehmung der Aufgaben eines Funktionsamtes erforderlichen zusätzlichen Zeitaufwands.“</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat sich in dieser Entscheidung mit dem Gesichtspunkt einer gesteigerten Effizienz des Oberstudienrates gegenüber der Studienrätin, die - soweit ersichtlich - vom Bundesverwaltungsgericht erstmalig in seinem Urteil vom 16. Juli 2015 angeführt worden ist, nicht befasst. Für den Fall, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit der zitierten Passage eine solche gesteigerte Leistungsfähigkeit bzw. Effizienz dennoch hat in Abrede stellen wollen, vermag der Senat dem nicht beizutreten. Es erschließt sich nicht, weshalb die Leistungsfähigkeit und Effizienz eines Beamten, bei denen es sich um zulässige Kriterien bei der Auswahl für eine Beförderungsstelle handelt, nicht auch bei der seitens des Dienstherrn vorzunehmenden Einschätzung, ob er zu seiner Entlastung Anrechnungsstunden benötigt, eine Rolle spielen dürfen soll. Mit einem höheren Statusamt gehen regelmäßig gesteigerte Anforderungen und Erwartungen nebst einem größeren Maß an Verantwortung (und im Gegenzug eine höhere Besoldung) einher (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 20.3.2007 - 2 BvR 2470/06 -, juris Rn. 16 m. w. N.), die nicht nur in anspruchsvolleren Inhalten, sondern eben auch in einem höheren Arbeitspensum zum Ausdruck kommen können. Hierin liegt zugleich die Rechtfertigung für den in beamtenrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren geltenden Grundsatz, dass bei formal gleichlautenden Gesamturteilen konkurrierender Bewerber unterschiedlicher Statusämter die Beurteilung des Beamten im höheren Statusamt grundsätzlich besser ist als diejenige des Beamten im niedrigeren Statusamt (Nds. OVG, Beschluss vom 15.11.2010 - 5 ME 244/10 -, juris Rn. 21).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p>bbb) Der Umstand, dass Lehrkräfte anderer Schulformen nach der Anlage 1 zu § 12 Abs. 1 Nds. ArbZVO-Schule für die ihnen übertragenen Funktionsaufgaben Anrechnungsstunden erhalten, lässt ebenfalls nicht den Rückschluss auf eine bei Oberstudienräten an Gymnasien zu verzeichnende strukturelle Zuvielarbeit zu. Der Kläger sieht in diesem Zusammenhang insbesondere eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber Fachbereichsleitern an einer Gesamtschule, denen - abhängig von der Zahl der stimmberechtigten Lehrkräfte in der Fachbereichskonferenz - als Ausgleich für diese Funktionsaufgabe zwischen einer und drei Anrechnungsstunden gewährt werden. Der Sache nach begehrt er letztlich eine verfassungskonforme Erweiterung des von der Anlage 1 zu § 12 Abs. 1 Nds. ArbZVO-Schule erfassten Personenkreises im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG). Eine solche kommt indes mangels Gleichheitsverstoßes nicht in Betracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>(1) Bei der Prüfung, ob die derzeitige Regelung den allgemeinen Gleichheitssatz verletzt, ist Maßstab das Willkürverbot, weil die Gewährung von Anrechnungsstunden für Funktionstätigkeiten nicht an unverfügbare persönliche Merkmale anknüpft oder sich Art. 3 Abs. 3 GG annähert; damit sind Gründe für eine strengere Bindung nicht gegeben (Nds. OVG, Urteil vom 9.6.2015 - 5 KN 148/14 -, juris Rn. 79 m. w. N.; Beschluss vom 8.10.2020 - 5 LA 147/19 -, n. v.). Als Willkürverbot verbietet Art. 3 Abs. 1 GG, wesentliches Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln. Für vom Gesetz- und Verordnungsgeber geschaffene Regelungssysteme ergibt sich hieraus das Gebot, nur solche Differenzierungen vorzusehen, für die ein sachlicher, d. h. vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund besteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.12.2014 - BVerwG 2 B 110.13 -, juris Rn. 15; Urteil vom 22.1.2015 - BVerwG 10 C 12.14 -, juris Rn. 41; zur Festsetzung verschieden hoher Regelstundenzahlen für verschiedene Lehrergruppen: BVerwG, Urteil vom 13.7.1977 - BVerwG 6 C 85.75 -, juris Rn. 34; Urteil vom 28.10.1982 - BVerwG 2 C 88.81 -, juris Rn. 16; Nds. OVG, Urteil vom 9.6.2015 - 5 KN 148/14 -, juris Rn. 79; Beschluss vom 8.10.2020 - 5 LA 147/19 -, n. v.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p>(2) Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Alimentierung sowie diejenige des erkennenden Senats zur Anhebung der Regelstundenzahl bei Gymnasiallehrern einen Gleichheitsverstoß bereits deshalb als gegeben sieht, weil der Beklagte bestimmten prozeduralen Obliegenheiten bei der Normgebung nicht nachgekommen sei, folgt der Senat dem nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>Nach den vom Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zur Höhe der „Hartz IV“-Regelsätze (Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. -, juris) sowie zur (W 2-)Besoldung von Professoren in Hessen (Urteil vom 14.12.2012 - 2 BvL 4/10 -, juris) und von Richtern (Urteil vom 5.5.2015 - 2 BvL 17/09 - u.a., juris) aufgestellten Grundsätzen, welche der erkennende Senat in seinem Urteil vom 9. Juni 2015 im Normenkontrollverfahren betreffend die Erhöhung der Regelstundenzahl für die Gruppe der Gymnasiallehrer ebenfalls zur Anwendung gebracht hat, bedarf es immer dann, wenn sich aus einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht Leistungsansprüche ableiten, das Grundgesetz aber keine exakte Bezifferung der Leistungen erlaubt und dem Gesetzgeber dementsprechend ein weiter - gerichtlicherseits nur eingeschränkt überprüfbarer - Gestaltungsspielraum zukommt, in besonderem Maße einer Kontrolle der tatsächlichen Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung, um den Betroffenen effektiven Rechtsschutz zu gewähren (Nds. OVG, Urteil vom 9.6.2015 - 5 KN 148/14 -, juris Rn. 54). Auch aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn als einem Aspekt der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinne des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 33 Abs. 5 GG lässt sich nach Auffassung des Senats in vorgenannter Entscheidung auch in Bezug auf die Lehrerarbeitszeit eine exakt zu beziffernde Regelstundenzahl nicht ableiten; vielmehr kommt dem Verordnungsgeber insoweit eine weite, gerichtlicherseits nur eingeschränkt überprüfbare Einschätzungsprärogative in dem Sinne zu, dass seine Einschätzung nicht offensichtlich fehlsam, insbesondere nicht willkürlich sein darf. Damit angesichts der besonderen - da verfassungsrechtlich fundierten - Bedeutung der Fürsorgepflicht gleichwohl eine angemessene gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist, muss sich der Schutz des Art. 33 Abs. 5 GG deshalb auch auf das Verfahren zur Gewinnung der Einschätzung erstrecken. Insbesondere besteht für den Verordnungsgeber die Obliegenheit, bereits im Verfahren zum Erlass der Rechtsverordnung die seine Einschätzung tragenden Erwägungen vollständig offenzulegen (Nds. OVG, Urteil vom 9.6.2015 - 5 KN 148/14 -, juris Rn. 56; a. A. BVerwG, Beschluss vom 11.12.2020 - BVerwG 2 B 10.20 -, juris Rn. 12). Im Bereich des Besoldungsrechts gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts derartige prozedurale Anforderungen in Form von Begründungs-, Überprüfungs- und Beobachtungspflichten sowohl bei der kontinuierlichen Fortschreibung eines (Besoldungs-)Systems als auch bei strukturellen Neuausrichtungen in Gestalt von Systemwechseln (BVerfG, Urteil vom 14.2.2012 - 2 BvL 4/10 -, juris Rn. 165). Lässt sich infolge der Missachtung prozeduraler Anforderungen ein sachlicher, nachvollziehbarer Grund für die Ungleichbehandlung zweier Vergleichsgruppen nicht feststellen, so führt diese zugleich zu einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 9.6.2015 - 5 KN 148/14 -, juris Rn. 78 ff. [Erhöhung der Regelstundenzahl für verbeamtete Gymnasiallehrer]).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p>Auf diese Grundsätze kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen, denn der Dienstherr hat vorliegend keine prozeduralen Pflichten bei der Normsetzung - hier der Nds. ArbZVO-Schule - verletzt. Die Situation des Klägers ist mit derjenigen, die den vorstehend genannten Entscheidungen zugrunde lag, nicht vergleichbar. In seinem Urteil vom 9. Juni 2015 hat der erkennende Senat als Ausgleich für die auch in jenem Fall durchzuführende eingeschränkte gerichtliche Überprüfung in Form der Willkürprüfung prozedurale Anforderungen an die Änderung eines bereits existierenden Regelungssystems zulasten einer einzelnen Gruppe - nämlich der Anhebung der Regelstundenzahl für die Gruppe (nur) der Gymnasiallehrer von 23,5 auf 24,5 Stunden - formuliert. Auch die in Bezug genommenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hatten jeweils die Einführung eines neuen Systems bzw. einen Systemwechsel oder aber die Fortschreibung eines bereits bestehenden (Besoldungs-)Systems zum Gegenstand. Im Unterschied hierzu wendet sich der Kläger nicht gegen ein normgeberisches Handeln, sondern er beanstandet ein normgeberisches Unterlassen, denn er ist der Auffassung, dass die Nds. ArbZVO-Schule auch für seinen Fall eines Oberstudienrates mit Funktionsaufgaben an einem Gymnasium Anrechnungsstunden vorsehen müsste, was derzeit aber nicht der Fall ist. Der Argumentation des Klägers, dass die von der Rechtsprechung u. a. des Senats formulierten, strengen prozeduralen Anforderungen in einer solchen Situation erst recht gelten müssten, folgt der Senat nicht. Es ist vorliegend lediglich von einer Beobachtungs- und ggf. Nachbesserungspflicht des Verordnungsgebers auszugehen. Dass der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber in einer Situation, in der er - wie hier - bislang keinen Anlass für eine Regelung gesehen hat, nicht denselben Sachverhaltsermittlungs- und Begründungspflichten unterworfen sein kann wie in einer Situation, in der er sich dazu entschließt, einen Sachverhalt erstmalig zu regeln bzw. eine bestehende Regelung zu ändern, ergibt sich schon aus der Natur der Sache. Schließlich fehlt es insoweit bereits an einem Normgebungsverfahren, im Rahmen dessen die genannten prozeduralen Anforderungen zum Tragen kommen könnten. Eine Obliegenheit, einen (derzeit) nicht gesehenen Regelungsbedarf anlässlich eines einen anderen Sachverhalt betreffenden Normgebungsverfahrens in gleicher Weise bereits mit zu ermitteln und zu begründen, gibt es nicht. Eine solche Forderung erschiene schon deshalb abwegig und überzogen, weil der Bereich der nichtgeregelten Sachverhalte, in denen potentiell einmal ein Regelungsbedarf entstehen könnte, vom Normgeber regelmäßig gar nicht von Vorneherein zu überblicken ist. Ebenso wenig bestünde im Übrigen eine Verpflichtung, im Falle der Einführung oder Änderung einer Einzelvorschrift ohne entsprechenden Anlass sogleich ein gesamtes Regelungssystem infrage zu stellen und schriftlich niederzulegen, weshalb von einer weitergehenden Änderung abgesehen wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p>(3) Anders als vom Kläger vertreten kann sich die nach alledem durchzuführende Vergleichsbetrachtung nicht darauf beschränken, die jeweiligen Funktionsaufgaben (z.B. die Fachkonferenzleitung „Latein“ an einem Gymnasium und die Fachbereichsleitung „Latein“ an einer Gesamtschule) gegenüber zu stellen. Vielmehr hat sie grundsätzlich die jeweilige Schulform - also das jeweilige System als Ganzes - in den Blick zu nehmen und nicht einzelne (Aufgaben-)Bereiche isoliert zu betrachten (Nds. OVG, Beschluss vom 4.7.2022 - 5 LA 84/21 -, juris Rn. 36 [in Bezug auf die Festsetzung der Regelstundenzahl]). Dies folgt aus dem Umstand, dass es sich bei den Regelungen der Nds. ArbZVO-Schule um ein Gesamtregelungssystem handelt, welches als Ausdruck der allgemeinen beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht sicherstellen soll, dass bei sämtlichen verbeamteten Lehrkräften die vorgegebene Wochenarbeitszeit von 40 Stunden nicht überschritten wird. Der Verordnungsgeber hat im Zuge dessen unter Berücksichtigung der insoweit auch vom Kläger anerkannten Unterschiede in § 3 Abs. 2 Nds. ArbZVO-Schule verschiedene Regelstundenzahlen für die Lehrkräfte der einzelnen Schulformen vorgesehen, wobei den Lehrern an Gymnasien, Abendgymnasien und Kollegs mit 23,5 Stunden die im Vergleich geringste Unterrichtsverpflichtung zukommt. Des Weiteren ist der Verordnungsgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative nach dem Vorbringen des Beklagten zu dem Schluss gelangt, dass bestimmten - nach seiner Einschätzung besonders belasteten - Gruppen von Lehrkräften in Bezug auf bestimmte Funktionsaufgaben Anrechnungsstunden gewährt werden müssen, damit das hierdurch verursachte Arbeitspensum einschließlich der Unterrichtsverpflichtung und der sonstigen außerunterrichtlichen Tätigkeiten von ihnen noch innerhalb der vorgegebenen Wochenarbeitszeit zu bewältigen ist. Mit anderen Worten geht der Verordnungsgeber typisierend davon aus, dass bei den in Anlage 1 zu § 12 Abs. 1 Nds. ArbZVO-Schule genannten Gruppen von Lehrkräften ohne die dort gewährten Anrechnungsstunden eine regelmäßige Überschreitung der wöchentlichen Arbeitszeit in Höhe dieser Anrechnungsstunden zu verzeichnen wäre, während er bei den dort nicht aufgeführten Gruppen - hierzu zählen die Oberstudienräte an Gymnasien - im Rahmen seines Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums pauschalierend die Einhaltung der Wochenarbeitszeit (ggf. trotz Funktionsaufgaben) annimmt. Die Regelungen zu den Anrechnungsstunden sind mit denjenigen zu den Regelstundenzahlen wiederum eng verknüpft. Dies kommt insbesondere in § 4 Abs. 1 Satz 1 Nds. ArbZVO-Schule zum Ausdruck, wonach die jeweilige Unterrichtsverpflichtung einer vollzeitbeschäftigten Lehrkraft sich aus der Regelstundenzahl abzüglich von Ermäßigungen und Anrechnungen ergibt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p>(4) Hiervon ausgehend lässt sich eine strukturelle, gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßende Ungleichbehandlung von Oberstudienräten an Gymnasien gegenüber Fachbereichsleitern an Gesamtschulen auf der Grundlage des klägerischen Vorbringens nicht feststellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p>Der Beklagte begründet die aus seiner Sicht fehlende Vergleichbarkeit des Funktionsamtes Oberstudienrat (Bes.-Gr. A 14) an einem Gymnasium mit einem Fachbereichsleiter an einer Gesamtschule wie folgt: Die Leitung eines Fachbereiches an einer Gesamtschule sei grundsätzlich umfangreicher als die Leitung einer Fachkonferenz an einem Gymnasium. In der Regel würden an den Gesamtschulen mehrere Unterrichtsfächer in einem Fachbereich zusammengefasst (z.B. „Moderne Fremdsprachen“). Soweit ein Fachbereich ausnahmsweise einmal nur ein Unterrichtsfach umfasse, kämen regelmäßig weitere Funktionsaufgaben hinzu (z.B. „Sport und Ganztag“). Zugleich würden an der Gesamtschule - anders als am Gymnasium, an dem durchgängig ein erhöhtes Niveau unterrichtet werde - mehrere Schulzweige gebündelt unterrichtet. Dies führe dazu, dass verschiedene Anforderungsniveaus koordiniert und Differenzierungen vorgenommen werden müssten. Alle Schüler müssten auf die Teilnahme an der Abschlussprüfung für den mittleren Schulabschluss vorbereitet werden. An Gymnasien stelle die Leitung einer Fachkonferenz eine Funktionsaufgabe im Sinne des „A 14-Erlasses“ dar, die mit der Beförderung einhergehe. Dagegen würden die Fachbereiche an den Gesamtschulen zu etwa einem Drittel von Studienräten (Bes.-Gr. A 13) geleitet. Selbst an großen Gesamtschulen gebe es maximal neun Fachbereichsleitungen, so dass maximal sechs Fachbereichsleitungen von Oberstudienräten (Bes.-Gr. A 14) wahrgenommen würden. Demgegenüber nähmen an großen Gymnasien bis zu 26 Lehrkräfte im Beförderungsamt des Oberstudienrates (Bes.-Gr. A 14) Funktionsaufgaben wahr. Schließlich sei auch zu berücksichtigen, dass die Regelstundenzahl der Gesamtschullehrer um eine Stunde höher liege als diejenige der Gymnasiallehrer, weshalb erstere weniger Möglichkeiten hätten, durch eine effizientere Gestaltung ihres geringeren außerunterrichtlichen Tätigkeitsanteils zeitliche Freiräume für die Ausübung von Funktionsaufgaben zu schaffen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p>Bei alledem handelt es sich um nachvollziehbare Gründe, die gegen eine wesentliche Vergleichbarkeit der beiden Gruppen sprechen. Insbesondere die an den Gesamtschulen regelmäßig anzutreffende Zusammenfassung mehrerer Unterrichtsfächer zu einem Fachbereich und der Umstand, dass es an den Gymnasien eine deutlich höhere Zahl nach der Besoldungsgruppe A 14 besoldeter Beförderungsamtsinhaber gibt, auf die sich die schulischen Funktionsaufgaben verteilen, führen aus Sicht des Senats in der Kombination zu einer fehlenden Vergleichbarkeit der Gruppen. Es ist insofern nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber den ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraum mit Blick auf die dargestellten Unterschiede überschritten hat. Die Ungleichbehandlung der verschiedenen Lehrergruppen begegnet dementsprechend keinen Bedenken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_70">70</a></dt>
<dd><p>Die vom Kläger hiergegen vorgebrachten Einwände führen zu keinem anderen Ergebnis.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_71">71</a></dt>
<dd><p>Zwar trifft sein Hinweis zu, dass an den Gesamtschulen nicht stets mehrere Unterrichtsfächer in einem Fachbereich zusammengefasst werden. Die Hauptfächer Mathematik und Deutsch - dies ergibt der Eindruck nach einer Internetrecherche - bilden in der Regel einen eigenen Fachbereich, während in Fachbereichen wie z.B. „Naturwissenschaften“, „Fremdsprachen“ und „musisch-kulturelle Bildung“ häufig mehrere Unterrichtsfächer gebündelt werden. Je nach Schwerpunktsetzung gibt es vereinzelt auch Gesamtschulen, an denen Fächer wie „Kunst“, „Musik“ und/oder „Informatik“ über einen eigenen Fachbereich verfügen (z. B. IGS K., IGS L., KGS M., an der Gesamtschule N. jeweils für die Fächer „Religion“ und „Gesellschaftslehre“). Weiter verfügen einige Gesamtschulen (z.B. IGS L., KGS O.) über einen eigenständigen Fachbereich „Ganztag“. Außerdem ist festzustellen, dass einige Gesamtschulen mehr als neun Fachbereiche eingerichtet haben (etwa die KGS M., die IGS K. und die IGS L., die laut ihren Internetauftritten jeweils über zehn Fachbereiche verfügen).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_72">72</a></dt>
<dd><p>Diese Unterschiede spiegeln jedoch letztlich das in Bezug auf den Zuschnitt der Fachbereiche bestehende Organisationsermessen der einzelnen Gesamtschulen wider, die dabei je nach Ausrichtung Schwerpunkte setzen können. Rechtliche Bedenken ergeben sich hieraus im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz nicht. Denn der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber darf grundsätzlich vom typischen Regelfall ausgehen und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten durch entsprechende Regelungen Rechnung zu tragen (BVerfG, Beschluss vom 10.4.1997 - 2 BvL 77/92 -, juris Rn. 24). Die Berücksichtigung sämtlicher denkbarer Einzelfälle ist im Rahmen einer abstrakt-generellen Regelung weder möglich noch erforderlich, zumal einer besonderen Belastung einzelner Lehrkräfte auch auf anderem Wege (z.B. durch schulinterne Maßnahmen) begegnet werden kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_73">73</a></dt>
<dd><p>Soweit der Kläger als Beleg für eine Vergleichbarkeit die jeweiligen Kerncurricula für das Fach „Latein“ an Gymnasien und Gesamtschulen (Anlagen K 5 und K 10 zur Klagebegründung [Bl. 83 f. und 10/GA]) anführt, die inhaltlich nahezu identisch seien, ist ihm entgegenzuhalten, dass ein solcher Vergleich zu kurz greift. Wie bereits ausgeführt, muss bei der Vergleichsbetrachtung das jeweilige Gesamtsystem in den Blick genommen werden. Darüber hinaus weist der Beklagte zu Recht darauf hin, dass sich allein aus einer der Formulierung nach ähnlichen Aufgabenbeschreibung noch nicht ableiten lässt, dass hiermit auch tatsächlich ein vergleichbarer (Zeit-)Aufwand einhergeht. Ein deutlich gesteigerter zeitlicher Aufwand liegt bei den Gesamtschulen in den meisten unterrichteten Fächern und damit auch bei den Fachbereichsleitungen bereits aufgrund der verschiedenen dort unterrichteten Anforderungsniveaus nahe. Auch wenn bei der ganz überwiegenden Anzahl der Gesamtschulen keine förmlich-organisatorische Untergliederung nach Haupt-, Real- und Gymnasialzweig existiert, sondern die Schüler integrativ unterrichtet werden, ändert dies nichts daran, dass das Leistungsspektrum deutlich breiter und die Schülerschaft wesentlich heterogener ist als an einem Gymnasium. Dies führt dazu, dass an den Gesamtschulen ein viel stärkeres Maß an (Binnen-)Differenzierungen erforderlich ist (vgl. hierzu Ziffer 6. des Runderlasses des Nds. Kultusministeriums „Die Arbeit in den Schuljahrgängen 5 bis 10 der Integrierten Gesamtschule (IGS)“ vom 1.9.2021, SVBl. 2021, 443). Im Übrigen findet - wie sich jenem Erlass (dort unter Ziffer 6.3.1.) ebenfalls entnehmen lässt - auch eine äußere Fachleistungsdifferenzierung nach wie vor statt. So wird die Schülerschaft an den Integrierten Gesamtschulen in den Fächern „Mathematik“ und „Englisch“ ab dem 7. Schuljahrgang, in dem Fach „Deutsch“ ab dem 8. Schuljahrgang und in den naturwissenschaftlichen Fächern spätestens ab dem 9. Schuljahrgang in Fachleistungskursen auf verschiedenen Anspruchsebenen unterrichtet. Zwar entfällt an vielen Gesamtschulen - jedenfalls denjenigen ohne gymnasiale Oberstufe - der durch die Abiturprüfungen bedingte Arbeitsaufwand. Allerdings muss die dortige (heterogene) Schülerschaft auf die Abschlussprüfungen der Sekundarstufe I vorbereitet werden, die es wiederum an den Gymnasien nicht gibt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_74">74</a></dt>
<dd><p>Dass an den Gymnasien einige der an den Gesamtschulen vorhandenen Funktionsämter (z.B. didaktische Leitung, Jahrgangsleitung) gar nicht vorgesehen sind, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass es einen Bedarf nach entsprechenden eigenständigen Ämtern an den Gymnasien nicht gibt. Insofern spricht auch dies gegen eine Vergleichbarkeit.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_75">75</a></dt>
<dd><p>(5) Dass den Fachkonferenzleitern an einer Realschule nach der Anlage 1 zu § 12 Abs. 1 Nds. ArbZVO-Schule zusammengefasst sechs Anrechnungsstunden gewährt werden, obwohl es sich dabei - ebenso wie an Gymnasien - nach dem Runderlass des Nds. Kultusministeriums „Schulfachliche und organisatorische Aufgaben für Realschullehrerinnen und Realschullehrer an Realschulen, Realschulzweige und Oberschulen“ vom 5. Mai 2017 (Anlage K 1 zur Klagebegründung [Bl. 76/GA]) um eine mit einer Beförderung (dort nach Bes.-Gr. A 13) verbundene Funktionsaufgabe handelt, führt ebenfalls nicht zu einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Zwar darf der Verordnungsgeber auch von jenen Beförderungsamtsinhabern eine erhöhte Arbeitseffizienz bzw. Leistungsfähigkeit gegenüber den Inhabern niedrigerer Statusämter erwarten. Abgesehen davon, dass aber - ebenso wie bei dem nach der Besoldungsgruppe A 14 besoldeten Kläger - auch bei den betreffenden Beförderungsamtsinhabern (Bes.-Gr. A 13) an der Realschule zu der Fachkonferenz-/Fachbereichsleitung noch weitere Funktionsaufgaben hinzutreten können, ist an dieser Stelle indes ferner zu berücksichtigen, dass die Unterrichtsverpflichtung bei Realschullehrern gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 3 Nds. ArbZVO-Schule mit 26,5 Regelstunden um drei Stunden höher liegt als bei Gymnasiallehrern, so dass ihre Möglichkeiten, durch effizientere Gestaltung ihrer außerunterrichtlichen Tätigkeiten Zeit „einzusparen“, noch deutlich geringer ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_76">76</a></dt>
<dd><p>bb) Auch eine individuelle Zuvielarbeit hat der Kläger nicht substantiiert dargelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_77">77</a></dt>
<dd><p>aaa) Die - wie bereits ausgeführt - keinen Bedenken begegnende Annahme, dass von Inhabern von Beförderungsämtern seitens des Dienstherrn grundsätzlich eine gesteigerte Leistungsfähigkeit erwartet werden kann, mit der Folge, dass diese trotz der übernommenen Funktionstätigkeit insgesamt nicht mehr Arbeitszeit aufwenden müssen, darf nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwar nicht überspannt werden. Sie gilt aber jedenfalls, solange sich die durch die Funktionstätigkeit bedingten Mehrbelastungen in einem überschaubaren Rahmen bewegen (BVerwG, Urteil vom 16.7.2015 - BVerwG 2 C 16.14 -, juris Rn. 15). Bei den „überschaubaren“ Mehrbelastungen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung zugänglich ist. Allerdings ist auch hinsichtlich der Frage, wieweit diese reichen bzw. ab wann der Rahmen dessen, was überschaubar ist, überschritten ist, von einer Einschätzungsprärogative des Dienstherrn auszugehen, mithin sich die gerichtliche Kontrolle auf eine Evidenzkontrolle beschränkt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_78">78</a></dt>
<dd><p>bbb) Die Annahme des Niedersächsischen Kultusministeriums, dass die noch zu vertretende Mehrbelastung, die durch die gesteigerte Leistungsfähigkeit eines Oberstudienrates ausgeglichen werden kann, mit zwei Anrechnungsstunden bzw. drei Zeitstunden pro Woche anzusetzen ist, bewegt sich zur Überzeugung des Senats noch innerhalb der Grenzen des Überschaubaren. Zwei Anrechnungsstunden bzw. drei Zeitstunden entsprechen 7,5 % der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. Die Einschätzung, dass Oberstudienräten ein in diesem Umfang höheres Arbeitspensum zugemutet werden kann, erscheint nicht offensichtlich unrealistisch oder überzogen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_79">79</a></dt>
<dd><p>ccc) Dass die ihm übertragenen Funktionsaufgaben entweder einzeln oder zusammengenommen diesen zeitlichen Rahmen überschreiten, vermag der Senat auf der Grundlage des Vorbringens des insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Klägers nicht festzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_80">80</a></dt>
<dd><p>Der Kläger trägt unter Bezugnahme auf die „Niedersächsische Arbeitszeitstudie Lehrkräfte an öffentlichen Schulen 2015/2016“ der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität J. (Ergebnisbericht abrufbar unter https://kooperationsstelle.uni-goettingen.de/projekte/arbeitszeitstudie/) sowie die weitere Studie „Lehrerarbeitszeit im Wandel (LaiW)“ des Instituts für Präventivmedizin der Universität I., an denen er nach eigener Darstellung jeweils teilgenommen habe, vor, nicht zuletzt aufgrund seiner umfangreichen Funktionsaufgaben wesentlich mehr als 40 Stunden pro Woche zu arbeiten. Welche wöchentliche Arbeitszeit bei ihm im Rahmen dieser beiden Studien konkret ermittelt worden ist, hat er allerdings nicht mitgeteilt. Hinsichtlich der J. Arbeitszeitstudie beruft er sich lediglich auf den von ihm zutreffend dargestellten Befund, wonach die wöchentliche Soll-Arbeitszeit aller Lehrkräfte an Gymnasien im Durchschnitt um 3:05 Stunden überschritten werde (Ergebnisbericht Nds. Arbeitszeitstudie 2015/2016, S. 86) und die Analyse, dass Inhaber von Funktionsstellen besonders belastet seien (Nds. Kultusministerium, Empfehlungen zur Entwicklung arbeitszeitrechtlicher Normen für Lehrerinnen und Lehrer sowie Schulleitungen an niedersächsischen Schulen, Bericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse vom 22.10.2018 [abrufbar unter https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/expertengremium-arbeitszeitanalyse-legt-abschlussbericht-vor-170499.html], S. 3). Zudem lässt sich dem Bericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse entnehmen, dass auch die Gewährung von Anrechnungsstunden nicht ausreiche, um eine Überschreitung der Soll-Arbeitszeit bei einer Mehrheit der Lehrkräfte zu verhindern (Bericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse, S. 42). Bezüglich der Arbeitszeitstudie des Instituts für Präventivmedizin der Universität I., die dem Senat nicht vorliegt und die sich lediglich über einen Untersuchungszeitraum von vier Wochen erstreckte, gibt der Kläger an, dass diese in seinem Fall eine zeitliche Inanspruchnahme durch Funktionsaufgaben im Umfang von insgesamt 5,8 Stunden pro Woche (unter Berücksichtigung der Ferienzeiten) gezeigt habe, ohne darzulegen, welche Gesamtwochenarbeitszeit im Rahmen der Studie bei ihm ermittelt worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_81">81</a></dt>
<dd><p>Auch wenn diese Studien zu dem Ergebnis kommen, dass Gymnasiallehrer im Allgemeinen mehr als die wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden Dienst leisten, kann der Senat auf dieser Basis aber nicht ohne Weiteren feststellen, dass auch die individuelle Arbeitszeit des Klägers die gesetzliche Vorgabe einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden überschreitet. Denn der Kläger hat weder schriftliche Nachweise zu den Ergebnissen der den Studien zugrunde liegenden Arbeitszeiterhebungen in seinem konkreten Fall vorgelegt, noch - was zu erwarten und zumutbar gewesen wäre - auf die vom Beklagten übernommene Einschätzung des Schulleiters des Gymnasiums G. bezüglich des Umfangs seiner zeitlichen Belastung durch Funktionsaufgaben mit einer eigenen Protokollierung seiner auf diese Funktionstätigkeiten entfallenden Arbeitszeiten reagiert. Gleiches gilt im Hinblick auf den Einwand des Beklagten, dass es an dem erforderlichen Nachweis einer individuellen Arbeitszeitüberschreitung bislang gänzlich fehle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_82">82</a></dt>
<dd><p>Auf eine konkrete Erfassung des insgesamt bestehenden und auf die einzelnen Tätigkeitsfelder des Klägers (Unterrichtszeit, Funktionstätigkeit, sonstige außerunterrichtliche Tätigkeiten) entfallenden Zeitaufwands konnte für die begehrte Feststellung, dass ihm Zuvielarbeit abverlangt wird, hier auch nicht verzichtet werden. Denn zum einen hat die J. Arbeitszeitstudie eine große Streuung bei der individuellen Wochenarbeitszeit aufgewiesen, d. h. ein gewisser Anteil der Lehrkräfte arbeitete auch weniger als die vorgegebenen 40 Stunden (Ergebnisbericht Nds. Arbeitszeitstudie 2015/2016, S. 161 f.; Bericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse, S. 21). In einem derartigen Fall kommt die Feststellung von Zuvielarbeit - unabhängig davon, ob die betreffende Lehrkraft auch Funktionsaufgaben ausübt - von Vorneherein nicht in Betracht. Und zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass die zeitliche Beanspruchung durch die auf den ersten Blick durchaus umfangreich erscheinenden Funktionsaufgaben des Klägers mit zunehmender Erfahrung geringer ausfällt als zu Beginn der Tätigkeit. So ist etwa davon auszugehen, dass insbesondere die erstmalige Erstellung eines Ganztagskonzepts und dessen Umsetzung (einschließlich des erstmaligen Aufsetzens von Verträgen mit zuvor kontaktierten externen Partnern usw.) einen ganz erheblichen Zeitaufwand bedeutet haben dürfte, der sich in diesem Umfang allerdings nicht wiederholt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_83">83</a></dt>
<dd><p>ddd) Dieses Ergebnis steht auch nicht im Widerspruch zu den Regelungen der Richtlinie 2003/88/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (sog. Arbeitszeitrichtlinie) - namentlich die Einhaltung der vorgeschriebenen Mindestruhezeiten und der Obergrenze der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden -, wonach die Mitgliedstaaten, um die volle Wirksamkeit der Regelungen zu gewährleisten, die Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer gemessen werden kann (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019 - Rs. C-55/18, juris). Zwar fallen auch Beamte unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie (BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 - 2 C 10.12 -, juris Rn. 11 m. w. N.). Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG lässt jedoch Abweichungen zu, wenn die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann. Die Voraussetzungen jenes Ausnahmetatbestands sind in Bezug auf Lehrkräfte gegeben (VG Osnabrück, Urteil vom 24.11.2020 - 3 A 45/18 -, juris Rn. 97 f.). Wie bereits ausgeführt, ist die Arbeitszeit von Lehrern nur hinsichtlich der eigentlichen Unterrichtsstunden exakt messbar. Die Zeit, die auf die übrigen Tätigkeiten (Korrekturarbeiten, Konferenzen, Elterngespräche, Unterrichtsvorbereitung usw.) entfällt, hängt demgegenüber von vielen verschiedenen Faktoren ab, kann von den Lehrern frei eingeteilt werden und ist deshalb lediglich grob pauschalierend schätzbar.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_84">84</a></dt>
<dd><p>3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_85">85</a></dt>
<dd><p>Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_86">86</a></dt>
<dd><p>Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO, § 63 Abs. 3 BeamtStG, § 127 BRRG liegen nicht vor.</p></dd>
</dl>
</div></div>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007287&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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346,840 | vg-dusseldorf-2022-09-13-14-k-712521 | {
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} | 14 K 7125/21 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-10-06T10:01:31 | 2022-10-17T11:10:51 | Urteil | ECLI:DE:VGD:2022:0913.14K7125.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Die Klage wird abgewiesen.</strong></p>
<p><strong>Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.</strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand:</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten über die Kosten einer Ersatzvornahme. Der Kläger ist Halter eines PKW der Marke C. , Modell N. , mit dem amtlichen Kennzeichen X-XX 0000. Am Freitag, dem 2. Juli 2021 war das vorbezeichnete Fahrzeug an der O. Straße 00 in E. abgestellt.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Eine unbekannte Person informierte an diesem Tag um 14:07 Uhr das Ordnungsamt der Beklagten darüber, dass das Fahrzeug seit etwa 2 Stunden mit laufendem Motor abgestellt sei. Die Außendienstmitarbeiter der Beklagten begaben sich daraufhin zum Einsatzort. Sie stellten fest, dass das vorbenannte Fahrzeug mit laufendem Motor am Straßenrand abgestellt und verschlossen war. Eine Halterfeststellung ergab den Kläger als Halter, der laut Auskunft in der C1. Straße 000, 00000 X. wohnhaft sei. Ausweislich der Tagesmeldung der Leitstelle und des Streifenberichts sei der Kläger telefonisch nicht zu erreichen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Außendienstmitarbeiter versuchten ausweislich des Streifenberichts über eine Nahbereichsfahndung und Befragung in der Umgebung einen Verantwortlichen zu ermitteln. Wörtlich heißt es in einem Telefonvermerk über ein Gespräch mit dem Außendienstmitarbeiter Herrn C2. :</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks"><em>„Er gibt an, die Hausnummern 00, 00-00, 00, 00 und 00 kontrolliert zu haben. Dort sei kein Hinweis auf Herrn U. gewesen. Es wurden des Weiteren mehrere Personen befragt, die fußläufig dort unterwegs waren. Die Personen, die angaben dort zu wohnen, wurden zu dem betroffenen Fahrzeug befragt, niemand kannte dieses Fahrzeug. Es wurde weiter konkret eine Person befragt, die in die Garageneinfahrt der Nr. 00 gehen wollte und auf dieser Anschrift wohnt. Die Person gab ebenfalls an, das betroffene Fahrzeug noch nie gesehen zu haben. Herr C2. kann sich nicht mehr an den LST-Disponenten erinnern, mit dem er telefoniert hat. Der Wortlaut „telefonisch ist dieser nicht zu erreichen“ aus dem Streifenbericht wurde von dem Disponenten übernommen. Der genaue Ablauf der Recherche in der LST wurde zum Zeitpunkt des Einsatzes nicht weiter hinterfragt. Jedenfalls kamen zu keinem Zeitpunkt am 2. Juli 2021 Hinweise auf das Architekturbüro. Weder durch Werbung/Zettel im oder am betroffenen Fahrzeug, noch über die LST. …“</em></p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen 14:30 Uhr forderten die Außendienstmitarbeiter einen Abschleppwagen der Firma E1. B. an. Das Fahrzeug wurde durch den Mitarbeiter des Abschleppunternehmens geöffnet und ausgeschaltet. Im Anschluss wurden alle Türen des Kfz wieder verschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Unter dem 6. Juli 2021 stellte die Firma E1. B. S. GmbH dem Ordnungsamt der Beklagten einen Betrag für das Öffnen des Fahrzeugs in Höhe von 150,00 EUR in Rechnung.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 20. Juli 2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie beabsichtige, ihm gegenüber die Kosten für die Öffnung des Fahrzeuges mit dem amtlichen Kennzeichen X-XX 0000 am 2. Juli 2021 in Höhe von 150,00 Euro geltend zu machen und gab die Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Woche. Zur Begründung führte sie aus, dass der Ordnungsdienst der Beklagten aufgrund einer Anwohner-Beschwerde tätig geworden sei, derzufolge der Motor des Fahrzeuges bereits seit mehreren Stunden laufe. Da eine Kontaktaufnahme zu dem Halter nicht möglich gewesen sei, habe ein Abschleppunternehmen angefordert werden müssen, das im Rahmen der Ersatzvornahme das Fahrzeug geöffnet und den Motor abgestellt habe, um die Störung zu beseitigen. Aufgrund der von dem Fahrzeug ausgehenden Immissionen (§ 11a LImSchG, §§ 55 Abs. 2 und 59 Abs. 1 Verwaltungsvollstreckungsgesetz NRW) sei das Fahrzeug im Rahmen der Ersatzvornahme durch ein Abschleppunternehmen geöffnet worden. Der Kläger habe als Halter des Fahrzeuges die Beträge, die bei der Ersatzvornahme an Beauftragte zu zahlen sind, zu erstatten.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Kläger teilte daraufhin mit E-Mail vom 28. Juli 2021 mit, dass er den Sachverhalt nicht nachvollziehen könne, nicht verstehe, weshalb man ihn nicht kontaktiert habe und die Sache daher einer Kanzlei zur weiteren Bearbeitung übergeben habe. Mit Schreiben vom 2. August 2021 bestellten sich die Prozessbevollmächtigten für den Kläger und nahmen nach Akteneinsicht dahingehend Stellung, dass die Ehefrau des Klägers an dem Einsatztag beim Abstellen des Fahrzeuges versäumt habe, den Motor auszustellen. Sie habe erst kürzlich ihr Fahrzeug von einem W. H. auf den N. gewechselt, der mit einer Start-Stop-Funktion ausgestattet sei. Beim Verlassen und Abschließen des Fahrzeuges sei ihr nicht aufgefallen, dass der Motor noch an war. Die Ersatzvornahme sei nicht erforderlich gewesen, da der Kläger zum einen über sein Büro hätte ausfindig gemacht werden können. Der Kläger habe unter der Halteranschrift ein Architekturbüro, unter dem er zu dem fraglichen Zeitpunkt erreichbar gewesen wäre. Zudem habe sich während der Maßnahme die Ehefrau des Klägers an der Wohnanschrift O. Straße 00 befunden, die nur wenige Meter von dem abgestellten Fahrzeug entfernt sei.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Mit Leistungsbescheid vom 14. September 2021 setzte die Beklagte gegenüber dem Kläger die Kosten der Ersatzvornahme in Höhe von insgesamt 150,00 EUR fest und forderte ihn auf, diese innerhalb von vier Wochen ab Zugang des Bescheides zu zahlen. Zur Begründung wiederholte die Beklagte zum einen ihre Ausführungen aus der Anhörung und führte ergänzend aus, dass die Öffnung des Fahrzeuges im Zuge der Gefahrenabwehr wegen eines Verstoßes gegen § 30 StVO unumgänglich gewesen sei. Auch führe die durch den Prozessbevollmächtigten eingereichte Stellungnahme nicht dazu, von den geforderten Kosten abzusehen. Der Verstoß werde eingeräumt. Vor der Ersatzvornahme habe der Kläger als Halter nicht ermittelt werden können. Die Mitarbeiter der Leitstelle hätten mitgeteilt, dass telefonisch kein Kontakt möglich sei. Dabei sei ein Hinweis auf das Architekturbüro nicht vorhanden gewesen. Auch seien die Mitarbeiter des Außendienstes in der Nahbereichsfahndung und Befragung in der Umgebung des Fahrzeuges nicht erfolgreich gewesen. Die Wohnanschrift des Klägers habe erst im Nachgang bei der innendienstlichen Bearbeitung des Falles ausfindig gemacht werden können. Die Beklagte wies den Kläger überdies auf die Unmeldepflicht gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Fahrzeugzulassungsverordnung hin, da er bereits seit 2018 unter der Anschrift in Düsseldorf gemeldet sei.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 19. Oktober 2021 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt er sein Vorbringen aus dem Anhörungsverfahren und führt ergänzend aus, dass das Fahrzeug „X-XX 0000“ ein Geschäftsfahrzeug des Klägers sei. Der Kläger selbst habe zum Zeitpunkt der Ersatzvornahme bereits unter der angegebenen Anschrift in E. gewohnt. Das Architekturbüro sei zur Zeit der Ersatzvornahme durchgehend besetzt gewesen, so dass die Einsatzkräfte es versäumt hätten, den Kläger unter dieser Telefonnummer zu kontaktieren. Der Kläger sei zu dem Zeitpunkt im Büro erreichbar gewesen und hätte seine Ehefrau umgehend über den Vorfall informieren können. Es werde bestritten, dass eine Nahbereichsfahndung stattgefunden habe.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"><strong>den Leistungsbescheid der Beklagten vom 14. September 2021 aufzuheben.</strong></p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong>die Klage abzuweisen.</strong></p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides und führt ergänzend aus, dass ein Zusammenhang zwischen dem Architekturbüro und dem Kläger als Halter für die Einsatzkräfte nicht möglich gewesen sei. Weder am Fahrzeug habe ein Hinweis darauf vorgefunden werden können noch sei das Büro als Halter eingetragen gewesen. Der Hinweis auf die Meldeadresse sei ebenfalls irrelevant gewesen, da das Fahrzeug eine Adresse in X. aufgewiesen habe. Auch sei das Fahrzeug weiterhin auf den Kläger als Privatperson zugelassen. Zum jetzigen Zeitpunkt könne nicht mehr rekonstruiert werden, ob gänzlich keine Rufnummer zu ermitteln gewesen sei oder ob an einer ermittelten Rufnummer niemand erreichbar gewesen sei. Dass die Nahbereichsfahndung stattgefunden habe, könne durch eine Auskunft der eingesetzten Außendienstmitarbeiter belegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss der Kammer vom 2. Juni 2022 ist das Verfahren der Vorsitzenden zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen worden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten ergänzend Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid vom 14. September 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die an den Kläger gerichtete Aufforderung, die entstandenen Kosten für die Ersatzvornahme in Höhe von 150,00 Euro zu zahlen, findet ihre Ermächtigungsgrundlage in § 55 Abs. 2, § 57 Abs. 1 Nr. 1, § 59 Abs. 1 Satz 5, 64 Satz 2 Verwaltungsvollstreckungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW) und § 20 Abs. 2 Nr. 7 der Verordnung zur Ausführung des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes (VO VwVG NRW).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die tatbestandlichen Voraussetzungen der vorgenannten Ermächtigungsgrundlagen auf der Grundlage des in § 55 Abs. 2 VwVG geregelten sogenannten Sofortvollzuges lagen vor. Danach kann Verwaltungszwang (auch) ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist und die Vollzugsbehörde hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt. Dabei hat der für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit verantwortliche Störer die durch eine rechtmäßige Ersatzvornahme entstandenen Kosten zu tragen.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die in den vorgenannten Vorschriften vorausgesetzte gegenwärtige bzw. konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestand vorliegend. Eine derartige Gefahr liegt bei einem Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung, mithin bei einer Zuwiderhandlung gegen formelle und materielle Gesetze vor. Hier lag ein Verstoß gegen § 30 Abs. 1 Satz 2 StVO vor, da der Motor des Fahrzeuges „X-XX 0000“ seit etwa 2 Stunden lief, während der PKW zum Parken verschlossen abgestellt war, so dass von einem „unnötigen“ Laufen des Motors auszugehen ist.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Ersatzvornahme war sowohl ermessensfehlerfrei als auch verhältnismäßig. Die Höhe des von dem Kläger zu zahlenden Betrages steht nicht außer Verhältnis zum Nutzen der Maßnahme. Die Maßnahme der Türöffnung und des Abstellens des Motors war geeignet, den rechtswidrigen Zustand zu beseitigen. Die Maßnahme war auch erforderlich, da kein milderes und gleich effektives Mittel zur Beseitigung des Rechtsverstoßes in Betracht kam. Insbesondere waren die Mitarbeiter der Beklagten nicht gehalten, den Kläger, bzw. dessen Ehefrau vor der Beauftragung des Abschleppunternehmers zwecks Öffnung des PKW ausfindig zu machen. Sofern sich der Fahrer von dem Fahrzeug entfernt und deshalb nicht unmittelbar wie jemand zur Verfügung steht, der sich in Ruf- oder Sichtweite seines Fahrzeugs aufhält, sind grundsätzlich keine Ermittlungen nach dem Verbleib des Verantwortlichen veranlasst, weil deren Erfolg zweifelhaft ist und zu nicht abzusehenden Verzögerungen führt.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Vgl; BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2002 – 3 B 149.01 –, Rn. 6 ff., juris; OVG Hamburg, Urteil vom 22. Mai 2005 – 3 Bf 25/02 –, Rn. 36, juris; VGH Bayern, Urteil vom 16. Januar 2001 – 24 B 99.1571 –, Rn. 36, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 26. November 2013 – 14 K 3550/13 – Rn. 35 – juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 14. Februar 2014 – 14 K 4595/13 –, Rn. 55, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 8. November 2016 – 14 K 8007/15 – Rn. 49 – juris.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Entgegen der Auffassung des Klägers war vorliegend der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch nicht dadurch verletzt worden, dass der handelnde Außendienstmitarbeiter nicht länger gewartet hat, ob der Kläger selbst an seinem Fahrzeug erscheint. Insbesondere ist die Behörde grundsätzlich nicht verpflichtet, vor Beauftragung eines Abschleppunternehmers Ermittlungen über den Aufenthaltsort des Halters oder Fahrers des verbotswidrigen Fahrzeugs anzustellen, um diesen aufzufordern, den verbotswidrigen Zustand selbst zu beseitigen. Hat sich der Fahrer von dem Fahrzeug entfernt und steht er nicht unmittelbar wie jemand, der sich in Ruf- oder Sichtweite seines Fahrzeugs aufhält, zur Verfügung, sind grundsätzlich keine Ermittlungen nach dem Verbleib des Verantwortlichen veranlasst, weil deren Erfolg zweifelhaft ist und zu nicht abzusehenden weiteren Verzögerungen führt,</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Mai 2002 – 3 B 67/02 –, juris; OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2009 – 5 A 813/09 –; gilt auch bei hinterlegter Mobilfunknummer: BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2002– 3 B 149/01 –, NJW 2002, 2122. VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2009 – 14 K 1421/09 –; VG Köln, Urteil vom 11. Oktober 2007– 20 K 2162/06 –, Rn. 22, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 26. Februar 2013 – 14 K 5137/12 – juris.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dies gilt selbst dann, wenn der Behörde der Wohnort des Ordnungspflichtigen im Zeitpunkt der Einleitung der Maßnahme bekannt ist und die Wohnungsanschrift in unmittelbarer Nähe zu dem Fahrzeug liegt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2009 – 14 K 1421/09 –; VG Köln, Urteil vom 11. Oktober 2007 – 20 K 2162/06 –, Rn. 22, juris.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Es gilt dabei ebenso die Leitlinie, dass bei einer zeitnah nach Entdeckung des Verkehrsverstoßes erfolgenden Ersatzvornahme nur dann eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Betracht zu ziehen ist, wenn der Fahrzeugführer ohne Schwierigkeiten und ohne Verzögerung festgestellt und zur Beendigung des Verkehrsverstoßes selbst veranlasst werden kann,</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Mai 2002 – 3 B 67/02 –; OVG NRW, Beschluss vom 27. August 2009 – 5 A 1430/09 – juris.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Nach der Halterabfrage bestand daher keine weitere Pflicht der Beklagten, den Aufenthaltsort des Klägers oder eines vor Ort Verantwortlichen ausfindig zu machen. Insbesondere war mangels seiner Anwohnereigenschaft nicht ersichtlich, wo sich der Kläger aufhalten könnte. Selbst wenn bei der Datenabfrage bei der Polizei eine Telefonnummer hinterlegt gewesen wäre, wäre es nicht erforderlich gewesen, diese vor Beauftragung des Abschleppunternehmers zu kontaktieren, da nicht ersichtlich war, ob ein Verantwortlicher auf diese Weise hätte ausfindig gemacht werden können, der zeitnah bereit und in der Lage gewesen wäre, den verbotswidrigen Zustand zu beseitigen. Eine Internetrecherche zu der ermittelten Halteradresse war angesichts dieser Umstände ebenfalls nicht erforderlich, da nicht ohne weiteres ersichtlich war, dass sich unter der angegebenen Anschrift eine Geschäftsadresse befinden könnte.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Entscheidend ist, dass keine erkennbaren Umstände vorlagen, die darauf hindeuteten, dass sich der Kläger oder ein anderer Verantwortlicher in unmittelbarer Nähe des Fahrzeugs befand und innerhalb einer absehbaren Zeit erscheinen würde. Denn es war keinem Hinweis im Fahrzeug der konkrete Aufenthaltsort des Klägers oder seiner Ehefrau zum Zeitpunkt des festgestellten Verstoßes zu entnehmen. Ebenso wenig war aufgrund des auswärtigen Kennzeichens erkennbar, ob der Verantwortliche in der Nähe des abgestellten PKW wohnt oder sich möglicherweise besuchsweise in der näheren Umgebung aufhält.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">vgl. VG Köln, Urteil vom 11. Oktober 2007 – 20 K 2162/06 –, juris.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Die Berufung ist nur zuzulassen,</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst 3-fach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss:</strong></p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks"><strong>Der Streitwert wird auf 150,00 Euro festgesetzt.</strong></p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe:</strong></p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 3 GKG erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung:</strong></p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird. § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,– Euro nicht übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift soll möglichst 3-fach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.</p>
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346,835 | lsgnihb-2022-09-13-l-16-kr-42121 | {
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} | L 16 KR 421/21 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-10-06T10:01:15 | 2022-10-17T11:10:50 | Urteil | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 12. Juli 2021 und der Bescheid der Beklagten vom 15. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 werden aufgehoben.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einem Rollstuhlzuggerät „Husk-E“ zu versorgen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Die Revision wird nicht zugelassen.</strong></p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Tatbestand</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Streitig ist die Übernahme der Kosten für das Rollstuhlzuggerät „Husk- E“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Der am J. 1964 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Bei ihm bestehen eine Querschnittslähmung ab Höhe TH8, eine Epicondylitis humeri ulnaris, ein Impingementsyndrom der Schulter und Supraspinatussyndrom rechts, ein lumbales Facettensyndrom mit neuroforamer Enge L4/L5, im November 2018 trat eine Pneumonie mit kardialer Dekompensation mit beidseitigen Pleuraergüssen auf, es wurde eine Linksherzdekompensation diagnostiziert. Ferner bestehen eine Blasenentleerungsstörung, Neigung zu Opstipation und ein Zustand nach Nierenkarzinom links Oktober 2021. Der Kläger ist auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen und ua mit einem Aktivrollstuhl und einem Handybike versorgt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die behandelnden Orthopäden Dres K. / L. ua verordneten dem Kläger am 31. Juli 2019 ein Rollstuhlzuggerät Husk-E mit E-Unterstützung nach Maß und Erprobung (Produktgruppe 18.99.04.0) wegen Supraspinatussyndrom rechts (M75.1), Impingementsyndrom der Schulter (M75.4). Am 8. August 2019 beantragte er bei der Beklagten unter Vorlage der Verordnung, eines Kostenvoranschlags der Firma M. GmbH Sanitätshaus und Rehatechnik, N., vom 8. August 2019 und eines Erprobungsberichtes die Übernahme der Kosten für ein Rollstuhlzuggerät „Husk- E“ über insgesamt 8.630,80 Euro.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Mit Bescheid vom 15. August 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Mit Schreiben vom 3. September 2019 erhob der Kläger Widerspruch und legte Stellungnahmen seiner Physiotherapeutin O. vom 7. Mai 2019 sowie seines Hausarztes, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr P., vom 26. September 2019 vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachen (MDK) ein, der in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 2. Januar 2020 zu dem Ergebnis kam, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Er führte zusammenfassend aus, dass die Verwendung eines Rollstuhlbikes bzw eines elektronisch unterstützten Rollstuhlbikes wünschenswert, hilfreich und sinnvoll wäre, die Kriterien für eine zwingende medizinische Indikation, die eine Leistungspflicht der Solidargemeinschaft durch die Gesetzliche Krankenversicherung bedingten, jedoch nicht erfüllt seien. Die Basismobilität wäre stattdessen mit einem elektronischen Rollstuhlantrieb (zB E-Fix) oder einem Elektrorollstuhl grundsätzlich sichergestellt. Da der Kläger bereits mit einem mechanischen Handbike versorgt gewesen sei, sei es völlig nachvollziehbar, dass ein Umstieg auf eine nur noch passive Mobilitätsermöglichung für den Patienten eine massive persönliche Zumutung bedeute, auch wenn die objektiven Kriterien für eine Leistungspflicht eben nicht bestünden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2020 als unbegründet zurück.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Hiergegen hat der Kläger am 22. Oktober 2020 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben und vorgetragen, er sei mit einem Aktivrollstuhl versorgt. Mit zunehmendem Lebensalter und wegen zunehmender Schmerzhaftigkeit der Schultergelenke sowie internistischer Begleiterkrankungen sei er nunmehr auf das streitgegenständliche Rollstuhlzuggerät „Husk- E“ angewiesen. Das Hilfsmittel sei mit einer Handkurbel sowie einer optionalen elektronischen Motorunterstützung ausgestattet. Das Gerät biete gegenüber anderen elektrischen Hilfsmitteln große Vorteile. Es seien die Wertungen des Art 3 Abs 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) iVm dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art 3, 20 UN-Behindertenrechtskonvention unter Berücksichtigung der Teilhabeziele des SGB IX, insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, zu berücksichtigen. Der Kläger hat erneut auf das Schreiben seines behandelnden Arztes sowie die Ausführungen seiner Physiotherapeutin verwiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte hat ausgeführt, die begehrte Versorgung stelle eine Überversorgung dar. Zur Sicherstellung der Fortbewegung und Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums habe sie dem Kläger die Versorgung mit einem rein elektrischen Zuggerät oder einem Elektrorollstuhl angeboten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Das SG hat einen Bericht von Dr P. vom 22. Februar 2021 nebst Anlagen eingeholt und die Klage mit Urteil vom 12. Juli 2021 abgewiesen. Die zulässige Klage sei nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 15. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 sei rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Rollstuhlzuggerät „Husk- E“. Das SG hat gemäß § 136 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid Bezug genommen. Insbesondere gehe die Beklagte zutreffend davon aus, dass die begehrte Versorgung das Maß des Notwendigen überschreite, sodass eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gegeben sei. Das betreffende Rollstuhlzuggerät werde nach Maßgabe der vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Grundsätze im mittelbaren Behinderungsausgleich eingesetzt. Hierbei gehe es über die Ziele des Behinderungsausgleichs hinaus, weil es seiner Zweckbestimmung nach darauf angelegt sei, größere Reichweiten zu erzielen als im Nahbereich üblich. Daher handele es sich nicht um ein von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasstes Hilfsmittel.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Gegen das ihm am 30. Juli 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26. August 2021 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen erhoben. Er verweist auf die Ausführungen in der Klagebegründung. Dass nach zwei Jahrzehnten im Rollstuhl und bei zunehmender Beeinträchtigung der oberen Extremitäten eine elektrische Unterstützung notwendig sei, werde auch von der Beklagten zugestanden. Es werde auf das Urteil des LSG Hessen vom 5. August 2021 – L 1 KR 65/20 verwiesen. Schließlich stelle das beantragte Hilfsmittel auch keine Überversorgung dar, da eine ausschließlich passive Fortbewegungsmöglichkeit wie durch ein ausschließlich elektrisches Zuggerät keine adäquate Alternative darstelle. Der MDK habe bereits ausgeführt, dass eine nur noch passive Mobilitätsermöglichung für den Patienten eine massive Zumutung bedeute. Bei seiner rechtlichen Einschätzung habe er die Reichweite der Rechtsprechung des BSG zu § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zu eng beurteilt. Die Beklagte ziele darauf ab, den Sachverhalt so zu konstruieren, dass statt der vermeintlichen Wahlmöglichkeit allein das von ihr ins Auge gefasste Hilfsmittel Elektrorollstuhl (ERS) übrigbleibe. Die Ausführungen der Beklagte stünden auch im Widerspruch zum Hinweis des MDK, wonach eine rein passive Mobilitätsermöglichung für den Kläger nahezu eine persönliche Zumutung darstelle. Bei dem Kläger handele es sich auch nicht um einen demenziellen hochbetagten Menschen, sondern um einen technisch und im Verkehr erfahrenen aktiven Mann Jahrgang 1964. Aspekte der Fürsorge und Sicherheit seien nur vorgeschoben. Die Geschwindigkeit habe für den Kläger nie im Vordergrund gestanden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Der Kläger beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 12. Juli 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 15. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät „Husk- E“ zu übernehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die Beklagte beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>die Berufung zurückzuweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Anspruch des Klägers bestehe nicht. Als geeignete Hilfsmittel seien auch die von der Beklagten angebotenen Hilfsmittel (rein elektrisches Zuggerät oder ERS) anzusehen. Allein mit dem ERS werde eine vollständige Selbstständigkeit des Klägers hinsichtlich des Nahbereiches erreicht. Der Kläger könne damit selbstständig das Haus verlassen und sich den Nahbereich erschließen. Die angebotenen Hilfsmittel seien zur Ermöglichung einer selbstbestimmten und selbstständigen Lebensführung ausreichend. Das begehrte Hilfsmittel sei zur Sicherstellung der Erschließung des Nahbereichs nicht erforderlich. Mit dem Rollstuhlzuggerät Husk-e würden Geschwindigkeiten erreicht, die die eines Fußgängers deutlich überschritten. Dies sei von der Beklagten nicht geschuldet. Weiterhin stellten Sicherheitsaspekte die Erforderlichkeit des Rollstuhlzuggerätes sowohl des Husk-e als auch des von der Beklagten angebotenen rein elektrischen Zuggerätes in Frage. Der Kläger leide unter Spastiken. Auslöser könnten Erschütterungen im Rahmen der Bewegung im Verkehr sein, die durch einen Aktivrollstuhl mit Zuggerät nicht so gut aufgefangen werden könnten. Das Verletzungsrisiko mit einem Aktivrollstuhl mit Zuggerät sei größer als bei einem ERS. Unter Beachtung der Wirtschaftlichkeit erscheine eine Versorgung mit den von der Beklagten angebotenen Hilfsmittel angemessen. Die streitgegenständliche Versorgung überschreite das Maß des Notwendigen. Die Kosten für einen ERS betrügen ca 3.300,00 Euro, die für ein elektrisches Zuggerät lägen bei ca 1.500,00 Euro zuzüglich Wartungs- und Reparaturkosten. Für das begehrte Rollstuhlzuggerät kämen ungewisse Folgekosten für Wartung und Reparatur und ggf eine Polsterung des Aktivrollstuhls zu besseren Abfederung hinzu. Auch nach der Rechtsprechung des BSG B 3 KR 7/19 stelle die Versorgung mit einem ERS eine angemessene Versorgung dar. Die angebotenen Hilfsmittel stellten keine Minimalversorgung dar; sie gingen auf die konkreten Fähigkeiten des Klägers ein und würden somit dem Ziel einer Versorgung für eine selbstbestimmte und selbstständige Lebensführung gerecht. Dem Kläger werde eine Wahlmöglichkeit eingeräumt, wobei mit Blick auf die Frage der Sicherheit der ERS vorzugswürdig sei. Der Kläger könne damit ein Höchstmaß an Selbstständigkeit erreichen. So überwinde der ERS auch Schwellen, deren Überwindung dem Kläger in der Vergangenheit mit einem Aktivrollstuhl Probleme bereitet hätten. Die grundrechtsorientierte Auslegung entbinde nicht von einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall. Das Hilfsmittel müsse im Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen sein. Ein ERS könne nicht als Minimalversorgung betrachtet werden, wenn er das einzige Hilfsmittel sei, mit dem ein Höchstmaß an Selbstständigkeit erreicht werde. Entsprechend dem Wunsch- und Wahlrecht sei dem Kläger der ERS angeboten worden, mit dem ein Optimum an Selbstständigkeit erreicht werden könne. Da der Kläger begrenzt mit dem Aktivrollstuhl auch alleine zurechtkomme, erachte die Beklagte dies im vorliegenden Einzelfall für vertretbar. Die Versorgung mit dem begehrten Rollstuhlzuggerät übersteige das Maß des Notwendigen. Nach der Rechtsprechung des BSG habe eine Ermittlung des erforderlichen Hilfsmittels unter Einbeziehung der Funktionsbeeinträchtigungen sowie einer Betrachtung der Gebrauchsvorteile zu erfolgen. Danach sei hier der ERS das Hilfsmittel der Wahl.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Senat hat einen aktuellen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr P. vom 19. Juli 2022 beigezogen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung geworden.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Entscheidungsgründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die gemäß §§ 143 f SGG form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig. Sie ist auch begründet. Der Senat vermag sich unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung des BSG der Entscheidung des SG nicht anzuschließen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Klage ist gemäß § 54 SGG als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig. Sie ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel nach §§ 27 Abs 1, 33 Abs 1 Satz 1 SGB V.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V auch die Versorgung mit Hilfsmitteln. Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 ausgeschlossen sind. Darüber hinaus ist auch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs 1 SGB V zu beachten. Danach müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.Nicht entscheidend für den Versorgungsanspruch ist, ob das begehrte Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) gelistet ist, denn es handelt sich bei diesem Verzeichnis nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste (<em>BSG, Urteil vom 18. Juni 2014 – B 3 KR 8/13 R –, BSGE 116, 120-130, SozR 4-2500 § 33 Nr 42 Rn 9</em>).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Die Voraussetzungen des § 33 Abs 1 Satz 1 SGBV liegen hier vor. In Betracht kommt vorliegend nur die dritte Variante der Vorschrift, der Ausgleich einer Behinderung, denn es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass das begehrte Hilfsmittel erforderlich für den Erfolg der Krankenbehandlung des Klägers ist oder eine drohende Behinderung verhindern könnte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Das BSG hat bereits entschieden, dass bewegliche sächliche Mittel zur Förderung oder Ermöglichung der Mobilisation nur in besonders gelagerten Fällen Hilfsmittel "zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung" iSv § 33 Abs 1 Satz 1 1. Var SGB V sein können. Der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient ein bewegliches sächliches Mittel nur dann, wenn es spezifisch im Rahmen einer ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu deren Erfolg beizutragen. Hierbei ist nicht jedwede gesundheitsfördernde Betätigung als spezifischer Einsatz im Rahmen einer ärztlich verordneten Krankenbehandlung anzusehen (<em>BSG, Urteil vom 8. August 2019 – B 3 KR 21/18 R Rn. 22; BSG, Urteil vom 15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R Rn 43; BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010 – B 3 KR 5/10 R Rn 21</em>). Ein ärztlicher Therapieplan, der den Einsatz des begehrten Hilfsmittels für den Kläger vorsieht, liegt hier nicht vor, das Husk-e ist kein Bestandteil eines Therapiekonzepts, auch wenn es unbestritten für den Erhalt der körperlichen Fitness und die allgemeine Gesundheit sinnvoll und hilfreich ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Eben so wenig sind die Voraussetzungen nach § 33 Abs 1 Satz 1 2. Var SGB V erfüllt, denn es geht nicht um die Vorbeugung einer drohenden Behinderung. Die Querschnittslähmung des Klägers besteht seit vielen Jahren.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Der Anspruch ergibt sich jedoch aus § 33 Abs 1 Satz 1 3. Var SGB V, das begehrte Hilfsmittel ist geeignet und erforderlich, um die Behinderung des Klägers auszugleichen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Ein Hilfsmittel dient dem Ausgleich der Behinderung, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines Grundbedürfnisses und einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben dient. Nach der Rechtsprechung des BSG gehört zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens ua das Gehen und Stehen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Nach der Rechtsprechung des BSG ist als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens in Bezug auf die Mobilität nur die Erschließung des Nahbereichs um die Wohnung eines Versicherten anerkannt, nicht aber das darüberhinausgehende Interesse an sportlicher Fortbewegung oder an der Erweiterung des Aktionsrahmens. Maßgebend für den von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu gewährleistenden Basisausgleich ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dazu haben die Krankenkassen die Versicherten so auszustatten, dass sie sich nach Möglichkeit in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen können, um bei einem kurzen Spaziergang „an die frische Luft zu kommen“ oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. In den Nahbereich einbezogen ist zumindest der Raum, in dem üblicherweise Alltagsgeschäfte in erforderlichem Umfang erledigt werden. Hierzu gehören die allgemeinen Versorgungswege (Einkauf, Post, Bank) ebenso wie gesundheitserhaltende Wege (Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten und Apotheken) und auch elementare Freizeitwege <em>(BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R Rn 28</em>). Dagegen können die Versicherten – von besonderen zusätzlichen qualitativen Momenten abgesehen – grundsätzlich nicht beanspruchen, den Radius der selbstständigen Fortbewegung erheblich zu erweitern, auch wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich liegen, dafür also längere Strecken zurückzulegen sind. Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, können im Einzelfall ausnahmsweise von der Krankenkasse gewährt werden, wenn besondere qualitative Momente dieses „Mehr“ an Mobilität erfordern. Solche qualitativen Momente liegen zB vor, wenn bereits der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. Das BSG hat entschieden, dass die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar ist, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können (<em>BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 27 Rn 24 – Elektrorollstuhl</em>) oder wenn die hierfür benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt (<em>BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 – B 3 KR 12/10 R Rn 22</em>). An diesen Grundsätzen hat das BSG in seiner Entscheidung zur Ablehnung der Aufnahme eines Handbikes in den Hilfsmittelkatalog festgehalten; auch daran, dass in Bezug auf den Nahbereich nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen maßgebend sein sollen (<em>BSG, Urteil vom 30. November 2017 – B 3 KR 3/16 R</em>).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs der Wohnung mit Hilfsmitteln darf dabei allerdings nach der jüngsten Rechtsprechung des BSG <em>nicht zu eng gefasst</em> werden in Bezug auf die <em>Art und Weise</em>, wie sich der Versicherte den Nahbereich zumutbar und in angemessener Weise erschließt <em>(BSG, Urteil </em><em>vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R Rn 29)</em>. Dies folgt aus den Teilhabezielen des SGB IX, aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 Satz 2 GG iVm dem Recht auf persönliche Mobilität nach der UN-Behindertenrechtskonvention. Das BSG sieht sich bei dieser auf das zu befriedigende Bedürfnis nach Mobilität gerichteten grundrechtsorientierten Auslegung des § 33 Abs 3 Satz 1 Var 3 SGB V im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Paradigmenwechsel, den Art 3 Abs 3 GG Satz 2 mit sich gebracht hat, und der Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich, ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen (<em>BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2020 – 2 BvR 1005/18; BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R Rn 30</em>). Leistungen zum Zwecke des Behinderungsausgleichs sind aber nicht unbegrenzt von der GKV zu erbringen, ein Anspruch auf eine Optimalversorgung besteht nicht. Es besteht Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung (BSG, Urteil vom <em>15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R Rn 46; BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 </em><em>R Rn 27</em>).Deshalb besteht kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (<em>stRspr; vgl zum Ganzen BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 26; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 44 - C-Leg; BSGE 116, 120 = SozR 4-2500 § 33 Nr 42, RdNr 16 ff - Rauchwarnmelder; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 44 RdNr 19 ff - Autoschwenksitz; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 18 - Fingerendgliedprothese, jeweils mwN);</em> anderenfalls sind die Mehrkosten gemäß § 33 Abs 1 S 5 SGB V von dem Versicherten selbst zu tragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist somit nicht von vornherein auf die Minimalversorgung beschränkt, sondern ein Anspruch kommt bereits in Betracht, wenn das Hilfsmittel wesentlich dazu beitragen oder zumindest maßgebliche Erleichterungen bringen würde, Versicherten den Nahbereich der Wohnung (zB bei Einkäufen oder Arzt- und Apothekenbesuchen) und elementare Freizeitwege in zumutbarer Weise zu erschließen. Es kommt entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis an, ohne dass hierfür maßgeblich die Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich heranzuziehen wäre (<em>BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R Rn 27, 31; BSGE 125, 189 = SozR 4-2500 § 13 Nr 41 Rn 31 ff).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Darüber hinaus hat das BSG auch ausgeführt, dass das Maß des Notwendigen nicht von vornherein überschritten wird, wenn das Hilfsmittel neben der Erschließung des Nahbereichs auch Freizeitinteressen dienen kann oder das Rad über einen Hilfsmotor verfügt <em>(BSG, Urteil vom </em><em>7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R Rn 34</em>).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Im Rahmen des Behinderungsausgleichs ist mithin zu prüfen, ob der Nahbereich ohne ein bestimmtes Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden kann und insbesondere durch welche Art der Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann <em>(BSG, aaO, Rn 30). </em>Dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen ist volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeutet, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert<em> (BSG, aaO, Rn 30).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Nach diesen Maßgaben ist der Kläger mit dem begehrten Hilfsmittel zu versorgen, die von der Beklagten vorgeschlagenen Hilfsmittel sind funktionell nicht in gleicher Weise geeignet. Sie würden dem Ziel des Behinderungsausgleichs unter Berücksichtigung des og Paradigmenwechsels, ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, nicht gleichwertig entsprechen <em>(vgl dazu BSG, aaO, Rn 32).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Bei dem Kläger bestehen ausweislich der vorliegenden medizinischen Unterlagen eine Querschnittslähmung ab Höhe TH8, eine Epicondylitis humeri ulnaris, ein Impingementsyndrom der Schulter und Supraspinatussyndrom rechts, ein lumbales Facettensyndrom mit neuroforamer Enge L4/L5, im November 2018 trat eine Pneumonie mit kardialer Dekompensation mit beidseitigen Pleuraergüssen auf, es wurde eine Linksherzdekompensation diagnostiziert. Ferner bestehen eine Blasenentleerungsstörung, Neigung zu Opstipation und ein Zustand nach Nierenkarzinom links Oktober 2021.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Dass der Kläger aufgrund seiner Querschnittslähmung auf einen Rollstuhl angewiesen ist, ist unstreitig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl und dem Handybike ist der Kläger aufgrund der Schulterbeschwerden zur Erschließung des Nahbereichs nach übereinstimmender Beurteilung der behandelnden Ärzte und des MDK nicht mehr ausreichend versorgt. Der MDK hat dazu ausgeführt, dass eine elektronische <em>Unterstützung</em> wünschenswert, hilfreich und sinnvoll ist. Dass eine ausreichende Versorgung ausschließlich mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl im Nahbereich nicht mehr sichergestellt ist, hat auch die Beklagte anerkannt, indem sie den Kläger mit einem elektrischen Rollstuhl oder einem elektrischen Rollstuhlzuggerät zu versorgen bereit ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Damit ist jedoch die Basismobilität im konkreten Einzelfall des Klägers nicht in für ihn geeigneter zumutbarer und angemessener Weise sichergestellt. Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist - wie bereits ausgeführt - unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX, insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen und der objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers iVm dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art 20 UN-Behindertenrechtskonvention (<em>BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 </em><em>R Rn 29) </em>zu berücksichtigen, dass das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden darf in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dem ist unter Anderem dadurch Rechnung zu tragen, dass dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen (vgl § 9 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX aF iVm § 33 SGB I) volle Wirkung zu verschaffen ist. Dies bedeutet auch, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert (vgl § 9 Abs 3 SGB IX aF) <em>(BSG, aaO, Rn 30).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Der Kläger muss sich unter Berücksichtigung dieser Grundsätze nicht auf einen <em>Elektro</em>rollstuhl oder ein <em>elektrisches</em> Zuggerät verweisen lassen. Der Senat stellt nicht in Abrede, dass ein ERS grundsätzlich zum Behinderungsausgleich geeignet ist und auch keine Minimalversorgung darstellt. Aber es kommt für den Versorgungsumfang, insbesondere Qualität, Quantität und Diversität, entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis im konkreten Einzelfall an. Die von der Beklagten angebotene Versorgung mit einem <em>rein elektrischen</em> Zuggerät oder einem <em>Elektro</em>rollstuhl zur Erschließung des Nahbereichs stellt jedoch im konkreten Falle des Klägers keine gleich geeignete, zumutbare und angemessene Versorgung dar, wie das von ihm begehrte Hilfsmittel. Der durchgehende Elektroantrieb wird seinem Grundbedürfnis an körperlicher Restaktivität und selbstständiger Mobilität unter Ausnutzung und Aktivierung der Restkraft von Armen und Rumpf nicht gerecht. Der behandelnde Arzt Dr P. hat in seinem Bericht vom 26. September 2019 beschrieben und in seinem aktuellen Befundbericht vom 19. Juli 2022 bestätigt, dass die Verwendung eines rein elektrischen Gerätes auch aus medizinischer Sicht nicht zu empfehlen ist. 2018 trat bei dem Kläger eine Pneumonie mit kardialer Dekompensation mit beidseitigen Pleuraergüssen auf, es wurde eine Linksherzdekompensation diagnostiziert. Durch ein rein elektrisches Gerät und die dadurch entstehende Passivität wäre eine Verschlechterung der kardiopulmonalen Situation zu befürchten. Die regelmäßige körperliche Tätigkeit im Rollstuhlbike trägt auch zur Vermeidung der Obstipation sowie des psychischen Wohlbefindens bei. Auch nach dem Bericht der Physiotherapeutin O. fördert das Ausdauertraining die corpulmonale Stabilität und gibt dem Kläger Kraft und Motivation. Es ist nachvollziehbar, dass der Kläger seine vorhandenen körperlichen Fähigkeiten erhalten und möglichst weitgehend trainieren möchte, er ist dann nicht gegen seinen Willen auf eine rein passive Versorgung zu verweisen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Selbst der MDK hatte im Übrigen bereits ausgeführt, dass ein Umstieg auf eine nur <em>noch passive</em> Mobilitätsermöglichung eine „massive persönliche Zumutung“ für den Kläger bedeute. Bei seiner <em>rechtlichen </em>Bewertung des Anspruchs hat der MDK die jüngste Rechtsprechung des BSG noch nicht einbeziehen können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Dem Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und der Führung eines selbstbestimmten Lebens dient es ohne Frage, einen behinderten Menschen so lange wie möglich seinen Wünschen entsprechend nicht mit einem Elektrorollstuhl zu versorgen, der ihn zur absoluten Passivität zwingt. Auch die Unabhängigkeit von weiterer Technik, wie sie einem Elektrorollstuhl immanent ist, bedeutet die Verwirklichung größtmöglicher Selbstständigkeit<em> (vgl Urteil des erkennenden Senates vom 16. Juni 2022 – L 16/4 KR 535/19; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. April 2022 - L 28 KR 8/22 B ER; SG Lüneburg, Urteil vom 30. März 2022 – S 41 KR 129/19).</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>Dr P. hatte bereits 2019 ausgeführt, dass der Kläger sich unter Nutzung des Rollstuhlbikes im häuslichen Umfeld weitestgehend ohne fremde Unterstützung versorgen konnte. Der Kläger selbst hat vorgebracht, dass ihm eine Ankopplung des Handybikes eigenständig möglich sei. Der Kläger hat das begehrte Gerät auch erfolgreich erprobt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>Soweit die Beklagte einwendet, dass mit dem begehrten Hilfsmittel die Geschwindigkeit eines Fußgängers deutlich überschritten wird, und sie eine darüberhinausgehende Geschwindigkeit nicht schulde, ist darauf hinzuweisen, dass das BSG auch ausgeführt, dass das Maß des Notwendigen nicht von vornherein überschritten wird, wenn das Hilfsmittel neben der Erschließung des Nahbereichs auch Freizeitinteressen dienen kann oder das Rad über einen Hilfsmotor verfügt <em>(BSG, Urteil vom </em><em>7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R Rn 34</em>).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Soweit sie vorträgt, dass der Kläger unter Spastiken leide, Auslöser könnten Erschütterungen im Rahmen der Bewegung im Verkehr sein, die durch einen Aktivrollstuhl mit Zuggerät nicht so gut aufgefangen werden könnten, das Verletzungsrisiko mit einem Aktivrollstuhl mit Zuggerät sei größer als bei einem ERS, ist dies rein spekulativ, zumal Spastiken von der Beklagten nicht belegt wurden und sich weder aus den vorliegenden Berichten der behandelnden Ärzte noch dem Gutachten des MDK ergeben. Dieser hat vielmehr ausgeführt, dass die Verwendung eines elektronisch unterstützten Rollstuhlbikes wünschenswert, hilfreich und sinnvoll wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Dafür, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers seit der Antragstellung so verschlechtert hat, dass er das begehrte Husk-E aufgrund der Erkrankungen im Schulterbereich jetzt ohnehin gar nicht mehr nutzen könnte und nunmehr aus gesundheitlichen Gründen auf die Benutzung eines ERS angewiesen sei – wie die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat-, ergeben sich aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen keine Anhaltspunkte. Ausweislich der Berichte von Dr P. vom 26. September 2019 und 22. Februar 2021 kam es zu wiederholten Schmerzen im Bereich der Schulter. Nach dem Bericht der Physiotherapeutin bestand eine Überbelastung der Schulter durch längeres manuelles Handbike Fahren. Die gleichmäßige, elektrisch unterstützte Kurbelbewegung wirke dem Schulter-/Armsyndrom entgegen. Auch der MDK hat insoweit ausgeführt, dass die Verwendung eines elektronisch<em> unterstützten</em> Rollstuhlbikes hilfreich und sinnvoll sei. Auch nach dem Erprobungsbericht der Q. R. GmbH ging es (nur) um eine <em>Entlastung</em> der Schultergelenke. Für den erkennenden Senat ist uneingeschränkt nachvollziehbar, dass nach über zwei Jahrzehnten im (Aktiv-) Rollstuhl und bei zunehmender Beeinträchtigung der oberen Extremitäten eine elektronische <em>Unterstützung</em> erforderlich ist. Dass eine elektronische <em>Unterstützung</em> jetzt allerdings nicht mehr ausreichen würde, ist aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen jedoch nicht ersichtlich. Da es bei einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (<em>vgl Keller, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl, 2020, § 54 Rn 34 mwN), </em>hat der Senat zudem einen <em>aktuellen</em> Befundbericht des behandelnden Arztes Dr P. vom 19. Juli 2022 angefordert, nachdem sich die diesbezüglichen Befunde weder erheblich verbessert noch verschlechtert haben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Es hat kein gesetzlicher Grund vorgelegen, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG).</p></dd>
</dl>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
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346,779 | vghbw-2022-09-13-a-11-s-142722 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | A 11 S 1427/22 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-09-30T10:02:04 | 2022-10-17T11:10:43 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<p>Nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache wird das Verfahren eingestellt.</p><p>Das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 14. November 2019 - A 5 K 7605/17 - ist unwirksam, soweit es noch nicht rechtskräftig ist.</p><p>Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in allen Rechtszügen werden gegeneinander aufgehoben.</p><p/>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Nachdem die Beteiligten übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im ersten Rechtszug für unwirksam zu erklären, soweit sie noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist. Einer Unwirksamkeitserklärung des Senatsurteils vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - in dieser Sache bedarf es nicht, da dieses Urteil vom Bundesverwaltungsgericht aufgehoben worden ist. Ebenso scheidet eine Unwirksamkeitserklärung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - aus, da das Bundesverwaltungsgericht keine Sachentscheidung getroffen hat. Ferner ist gemäß § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Die dargestellte Entscheidung fällt im vorliegenden Fall nicht in die Entschei-dungszuständigkeit des Senats in der Besetzung nach § 9 Abs. 3 Satz 1, 1. HS VwGO, sie obliegt vielmehr der Berichterstatterin (§ 87a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar hatte in der vorliegenden Streitsache bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden, und es war auch ein Urteil des Senats ergangen. Dabei handelte es sich jedoch nicht um die abschließende Entscheidung, da das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Senats im Rechtsmittelzug aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen hat. Nach Zurückverweisung durch das Bundesverwaltungsgericht begann erneut eine Vorbereitungsphase, in der wieder die Zuständigkeit des „vorbereitenden Richters“ nach § 87a Abs. 1 VwGO eingreift. Durch die Zurückverweisung wird zwar kein neues Berufungsverfahren eingeleitet, sondern das alte fortgesetzt. Die vom Verwaltungsgerichtshof zu treffende Entscheidung bedarf jedoch wiederum der Vorbereitung, in deren Rahmen wieder alle Maßnahmen nach §§ 87, 87b VwGO möglich sind. Deshalb ist auch die Phase nach Zurückverweisung einer Sache bis zum Beginn der (nächsten) mündlichen Verhandlung als (neues) vorbereitendes Verfahren im Sinne des § 87a VwGO zu verstehen (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 17.12.2018 - 12 S 1536/18 - juris Rn. 2 f. m.w.N. und vom 25.05.1999 - 1 S 1593/97 - juris Rn. 2; Riese, in: Schoch/Schneider, VerwR, § 87a VwGO Rn. 12a <Stand: Januar 2020>; Stuhlfaut, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 87a Rn. 12). Danach fällt auf Grundlage von § 87a Abs. 1 Nr. 3 VwGO die Entscheidung über die Kostenverteilung nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache bei der hier zu beurteilenden Konstellation in die Entscheidungszuständigkeit der Berichterstatterin, da die Beteiligten nach Zurückverweisung der Sache im Rahmen der Vorbereitung einer zukünftigen erneuten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben (und zwar noch vor Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Im vorliegenden Fall entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen gegeneinander aufzuheben (§ 155 Abs. 1 VwGO). Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass das Begehren des Klägers im erstinstanzlichen Klageverfahren (ursprünglich) auf die Verpflichtung der Beklagten gerichtet war, ihm die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, sowie höchst hilfsweise festzustellen, dass zu seinen Gunsten ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt. Nach Rücknahme seiner Klage hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Abweisung der Klage im Übrigen durch Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14.11.2019 - A 5 K 7605/17 - ließ der Senat auf Antrag des Klägers mit Beschluss vom 09.07.2020 - A 11 S 1196/20 - die Berufung gegen das Urteil zu in Bezug auf die begehrte Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots und die Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 05.09.2017. Im Berufungsverfahren hatte der Kläger zwar zunächst obsiegt. Das Urteil des Senats vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings auf die Revision der Beklagten mit Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - aufgehoben. Nach Zurückverweisung der Sache an den Verwaltungsgerichtshof hat das Bundesamt nunmehr der Klage in Bezug auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans abgeholfen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Unter Berücksichtigung des gegenseitigen Obsiegens und Unterliegens im Verlaufe des Rechtsstreits hält der Senat eine Aufhebung der Kosten in allen Rechtszügen für sachgerecht, was im Übrigen seiner ständigen Übung in vergleichbaren Fallkonstellationen entspricht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Beklagte nicht etwa freiwillig bei unveränderter Sachlage in die Rolle der Unterlegenen begeben hat, sondern die Abhilfe auf dem Ergebnis einer aktuellen Bewertung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Abhilfe beruht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
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346,778 | vghbw-2022-09-13-6-s-365221 | {
"id": 161,
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"slug": "vghbw",
"city": null,
"state": 3,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 S 3652/21 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-09-30T10:02:03 | 2022-10-17T11:10:43 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 20. Oktober 2021 - 6 K 5768/19 - wird abgelehnt.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>Der Streitwert für das Berufungszulassungsverfahren wird auf 60.000,-- EUR festgesetzt.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>I. Der auf die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Antrag hat keinen Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Ernstliche Zweifel sind nur dann gegeben, wenn neben den für die Richtigkeit der Entscheidung sprechenden Umständen gewichtige, dagegensprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheiten in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatsachenfragen bewirken und mithin der Erfolg des angestrebten Rechtsmittels zumindest offen ist. Dies ist bereits dann ausreichend dargelegt, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.06.2019 - 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173 <juris Rn. 32> m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.04.2020 - 6 S 1637/19 -, juris Rn. 3), wobei alle tragenden Begründungsteile angegriffen werden müssen, wenn die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf mehrere jeweils selbstständig tragende Erwägungen gestützt ist (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.08.2010 - 8 S 2322/09 -, juris Rn. 3). Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erfordert dabei eine substantiierte Auseinandersetzung mit der erstinstanzlichen Entscheidung, durch die der Streitstoff entsprechend durchdrungen oder aufbereitet wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.06.2017 - 4 S 249/17 -, juris Rn. 2; Beschluss vom 03.04.2020 - 6 S 1637/19 -, juris Rn. 3).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>In Anwendung dieser Grundsätze vermag die von der Klägerin erhobene Rüge keine ernstlichen Zweifel an der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu begründen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>a) Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erteilung der für den Betrieb der Spielhallen „...“, „...“, „...“ und „...“, ..., ..., erforderlichen glücksspielrechtlichen Erlaubnisse, da der Betrieb dieser Spielhallen nicht erlaubnisfähig sei. Denn der Erteilung der Erlaubnisse über den 30.06.2017 hinaus stehe das Verbundverbot nach § 42 Abs. 2 LGlüG entgegen, da der Spielhalle „...“ der Klägerin im selben Gebäude eine Erlaubnis erteilt worden sei. Gegen das Verbundverbot bestünden keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken und es sei auch mit Unionsrecht, insbesondere der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV vereinbar. Der Klägerin stehe schließlich kein Anspruch auf Erteilung von Erlaubnissen in Anwendung des § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG zu, da keine unbillige Härte vorliege.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>b) Die Klägerin bringt hiergegen lediglich vor, das Verbundverbot nach § 42 Abs. 2 LGlüG verstoße gegen höherrangiges Unionsrecht, da es mit ihrer Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV nicht vereinbar und daher im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Damit dringt sie nicht durch. Denn entgegen der Ansicht der Klägerin verstößt das Verbundverbot des § 42 Abs. 2 LGlüG nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV (vgl. so bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.04.2018 - 6 S 2250/17 -, ZfWG 2018, 319 <juris Rn. 6>; Beschluss vom 25.11.2021 - 6 S 2239/21 -, ZfWG 2022, 85 <juris Rn. 36>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Ein Unternehmen kann sich gegenüber dem Staat, in dem es niedergelassen ist, auf den freien Dienstleistungsverkehr berufen, sofern die Leistungen an Leistungsempfänger erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind (sachlicher Schutzbereich, vgl. EuGH, Urteil vom 03.12.2020 - C-311/19 -, ZfWG 2021, 51 <juris Rn. 22>). Der Gewährleistungsgehalt dieser Grundfreiheiten ist aber nur dann eröffnet, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt (räumlicher Schutzbereich, vgl. BVerwG, Urteil vom 16.12.2016 - 8 C 6.15 -, BVerwGE 157, 126 <juris Rn. 83>), von dem das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall ausgegangen ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="9"/>Ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit durch das Verbundverbot ist jedoch aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="10"/>aa) Eine nationale Regelung, die eine Grundfreiheit beschränkt, bedarf zur Rechtfertigung dieser Beschränkung eines legitimen Ziels und muss einerseits geeignet sein, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten, andererseits darf sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; schließlich muss sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, das Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. EuGH, Urteil vom 11.03.2010 - C-384/08 -, Slg 2010, I-2055 <juris Rn. 51>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="11"/>bb) Der Einwand der Klägerin, die Behörde trage die Rechtfertigungslast für jede Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, geht fehl. Die Klägerin beruft sich diesbezüglich auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, wonach die nationalen Gerichte nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein könnten, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage von Beweisen für die Rechtfertigung der Beschränkung einer Grundfreiheit zu fördern, jedoch nicht verpflichtet sein könnten, anstelle der nationalen Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen. Würden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssten die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergäben (vgl. EuGH, Urteil vom 14.06.2017 - C-685/15 -, ZfWG 2017, 382 <juris Rn. 66>; so auch EuGH, Urteil vom 30.04.2014 - C-390/12 - [Pfleger], ZfWG 2014, 292 <juris Rn. 50>). Diese von der Klägerin angeführten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof betrafen jedoch im Ausgangssachverhalt (Verwaltungs-)Strafverfahren, mithin Verfahren zum Zweck der Verhängung einer Sanktion (vgl. EuGH, Urteil vom 14.06.2017 - C-685/15 -, ZfWG 2017, 382 <juris Rn. 2>: „Verwaltungsstrafen […] wegen des Betriebs von Geldspielautomaten ohne Erlaubnis“; EuGH, Urteil vom 30.04.2014 - C-390/12 - [Pfleger], ZfWG 2014, 292 <juris Rn. 2>: „wegen verwaltungsbehördlicher Sanktionen […] aufgrund des Betriebs von Glücksspielautomaten ohne eine Erlaubnis hierfür“). Es ist aber weder von Klägerseite dargetan noch anderweitig ersichtlich, dass diese Rechtsprechung auf den hier verfahrensgegenständlichen Sachverhalt – die Erteilung von die Klägerseite begünstigenden glücksspielrechtlichen Erlaubnissen für den Betrieb ihrer Spielhallen – außerhalb von Strafsanktionsmaßnahmen übertragbar sein soll (vgl. BayVGH, Beschluss vom 29.06.2021 - 23 ZB 21.1482, 23 ZB 21.1484 -, juris Rn. 42; vgl. zum Ganzen auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.02.2022 - 6 S 1922/20 -, ZfWG 2022, 274 <juris Rn. 108>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>cc) Das Verbundverbot soll den spielenden Personen die Möglichkeit eröffnen, einen inneren Abstand vom gerade beendeten Spiel an einem Geldspielgerät oder der Teilnahme an einem anderen Spiel zu finden. Sie sollen die Chance erhalten, ihr Verhalten zu reflektieren und zu einer möglichst unbeeinflussten Eigenentscheidung zu kommen, ob sie das Spiel fortsetzen möchten. Die Regelung soll durch eine Verringerung der Zahl sowie durch Auflockerung der Dichte der Spielhallen zur Verwirklichung der Ziele der Verhinderung der Entstehung von Glücksspielsucht und der wirksamen Suchtbekämpfung beitragen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.04.2017 - 6 S 1765/15 -, ZfWG 2017, 305 <juris Rn. 30>, Beschluss vom 16.04.2018 - 6 S 2250/17 -, ZfWG 2018, 319 <juris Rn. 6>, Urteil vom 09.12.2021 - 6 S 472/20 -, ZfWG 2022, 176 <juris Rn. 37>; jeweils mit Verweis auf LT-Drucks. 15/2431 S. 105 und Staatsgerichtshof [jetzt: Verfassungsgerichtshof] für das Land Baden-Württemberg, Urteil vom 17.06.2014 - 1 VB 15/13 -, ESVGH 65, 58 <juris Rn. 362> m.w.N.). Das Verbundverbot verfolgt damit mit dem Ziel der Vermeidung und Abwehr der vom Glücksspiel in Spielhallen ausgehenden Suchtgefahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.03.2017 - 1 BvR 1314/12 u.a. -, BVerfGE 145, 20 <juris Rn. 133>) die auch unionsrechtlich als legitim anerkannten Ziele des Verbraucherschutzes, der Betrugsvorbeugung und der Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu überhöhten Ausgaben für das Spielen (EuGH, Urteil vom 22.06.2017 - C-49/16 -, ZfWG 2017, 388 <juris Rn. 39>; Urteil vom 12.06.2014 - C-156/13 -, ZfWG 2014, 193 <juris Rn. 23>; Urteil vom 19.07.2012 - C-470/11 -, ZfWG 2012, 342 <juris Rn. 39>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="13"/>dd) Das Verbundverbot erweist sich – entgegen der Ansicht der Klägerin – als geeignet zur Erreichung dieser Ziele.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="14"/>Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels gewährleistet (vgl. EuGH, Urteile vom 05.10.2004 - C-442/02 -, Slg 2004, I-8961 <juris Rn. 17>, und vom 15.01.2002 - C-439/99 -, Slg 2002, I-305 <juris Rn. 23>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="15"/>Nach Ansicht der Klägerin existieren keine objektiven Belege dafür, dass das Verbundverbot der Suchtprävention zu dienen vermöge. Es lägen keine wissenschaftlichen Belege vor, die die gesetzgeberische Grundthese unterstützten, dass Mindestabstand und Verbundverbot zwischen Spielhallen überhaupt zu dem behaupteten „cooling down“-Effekt führten und dieser in irgendeiner Weise objektiv zur Bekämpfung problematischen Spielverhaltens beitrage. Laut einer Stellungnahme des Beratungs- und Behandlungszentrums für Suchterkrankungen der evangelischen Gesellschaft Stuttgart sollte den Ländern eine quantitative Begrenzung der Anzahl der Spielhallen möglich sein, ohne die sehr umstrittenen und vermutlich hinsichtlich des Spielerschutzes wenig wirksamen Abstandsregelungen und das damit einhergehende Verbot von Mehrfachkonzessionen für die Angebotssteuerung zu nutzen. Laut einer Stellungnahme des Instituts für klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden leiste der Mindestabstand bei Spielhallen keinen Beitrag zum Schutz der Spieler, aber Gemeinden sollten diese in begründeten Zonen selbst einschränken oder verbieten können. Laut einer Stellungnahme der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim seien die Mindestabstandsregel und das Verbot der Mehrfachkonzessionen Maßnahmen mit geringem gesellschaftlichen Nutzen und erheblichen gesellschaftlichen Kosten. Prof. Dr. Tilman Becker vermöge im Besonderen keinen Beleg für den fortwährend zitierten sogenannten Las-Vegas-Effekt zu finden und komme sogar zu dem Schluss, dass eine Konzentration von Geldspielgeräten an einem Ort (z.B. in einem Gebäude) im Gegensatz zur Verteilung dieser Geräte in der Fläche sogar von Vorteil im Hinblick auf problematisches Spielverhalten sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="16"/>Damit dringt die Klägerin nicht durch. Das Bundesverfassungsgericht hat – zwar im Rahmen der Vereinbarkeit des Verbundverbots mit Verfassungsrecht, was jedoch auf die Frage der Geeignetheit im Rahmen des Unionsrechts übertragbar ist – entschieden, dass die Einschätzung der Geeignetheit des Verbundverbots durch die Gesetzgeber der Länder nicht zu beanstanden ist. Denn es ist plausibel, dass gerade Mehrfachspielhallen durch die Vervielfachung des leicht verfügbaren Angebots zu einem verstärkten Spielanreiz führen. Einer Begrenzung sowie örtlichen Beschränkungen von Glücksspielstätten kommt dabei die höchste Wirksamkeit bei der Verhinderung und Bekämpfung der Spielsucht zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.03.2017 - 1 BvR 1314/12 u.a. -, BVerfGE 145, 20 <juris Rn. 150>, unter Verweis auf Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung, International vergleichende Analyse des Glücksspielwesens, 2009, S. 49 f., und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland 2013, Ergebnisbericht, 2014, S. 22). Die von der Klägerin zitierten Stellungnahmen vermögen vor diesem Hintergrund keine ernstlichen Zweifel an der Geeignetheit des Verbundverbots zu wecken. Denn bei den zitierten Stellungnahmen der Beratungs- und Behandlungszentrums für Suchterkrankungen der evangelischen Gesellschaft Stuttgart, des Instituts für klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden und der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim handelt es sich lediglich um Behauptungen, die – auch wenn man sich den gesamten Text ihrer Stellungnahmen genauer ansieht (vgl. https://www.behoerden-spiegel.de/wp-content/uploads/2020/02/Gluecks spielwesen_1_2020.pdf, zuletzt abgerufen am 09.09.2022) – nicht begründet werden. Zugleich ist zu sehen, dass von der Bremer Fachstelle Glücksspielsucht der Universität Bremen in derselben Zusammenstellung von Beiträgen zum Glücksspielwesen durch den „Behörden Spiegel“ – allerdings auch hier ohne weitere Begründung – die Abkehr von dem im Suchtbereich effektiven Mittel der Verfügbarkeitsreduktion, wie u.a. die Zulassung von Mehrfachkonzessionen für Spielhallen nach § 29 GlüStV verdeutliche, kritisch gesehen wird. Auch die von der Klägerin angeführte These von Prof. Dr. Becker, eine Konzentration von Geldspielgeräten an einem Ort sei sogar von Vorteil im Hinblick auf problematisches Spielverhalten, wird nicht begründet und ist daher für den Senat nicht nachvollziehbar.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="17"/>Im Übrigen hat der Europäische Gerichtshof auf den besonderen Charakter des Bereichs der Glücksspiele hingewiesen, wo im Gegensatz zur Einführung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs auf einem traditionellen Markt die Betreibung eines derartigen Wettbewerbs auf dem sehr spezifischen Markt für Glücksspiele, d.h. zwischen mehreren Veranstaltern, die die gleichen Glücksspiele betreiben dürfen, insofern nachteilige Folgen haben könnte, als diese Veranstalter versucht wären, einander an Einfallsreichtum zu übertreffen, um ihr Angebot attraktiver als das ihrer Wettbewerber zu machen, so dass für die Verbraucher die mit dem Spiel verbundenen Ausgaben und die Gefahr der Spielsucht erhöht würden. Aus diesem Grund verfügen die staatlichen Stellen in dem besonderen Bereich der Veranstaltung von Glücksspielen über ein weites Ermessen bei der Festlegung der Anforderungen, die sich aus dem Schutz der Verbraucher und der Sozialordnung ergeben, und – sofern die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Anforderungen im Übrigen erfüllt sind – ist es Sache jedes Mitgliedstaats, zu beurteilen, ob es im Zusammenhang mit den von ihm verfolgten legitimen Zielen erforderlich ist, Spiel- und Wetttätigkeiten vollständig oder teilweise zu verbieten, oder ob es genügt, sie zu beschränken und zu diesem Zweck mehr oder weniger strenge Kontrollformen vorzusehen (vgl. EuGH, Urteil vom 12.06.2014 - C-156/13 -, ZfWG 2014, 193 <juris Rn. 31 f.>). Es ist für den Senat nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit dem Verbundverbot die Grenzen dieses Ermessens überschritten hat.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="18"/>ee) Auch die Anforderungen des Kohärenzgebots sind gewahrt. Der Europäische Gerichtshof hat die unionsrechtlichen Anforderungen aus dem Kohärenzgebot für den Bereich des Glücksspiels dahin konkretisiert, dass Regelungen im Monopolbereich zur Sicherung ihrer Binnenkohärenz an einer tatsächlichen Verfolgung unionsrechtlich legitimer Ziele ausgerichtet sein müssen. Über den Monopolsektor hinausgreifend fordert das Kohärenzgebot, dass Monopolregelungen nicht durch eine gegenläufige mitgliedstaatliche Politik in anderen Glücksspielbereichen mit gleich hohem oder höherem Suchtpotenzial in einer Weise konterkariert werden dürfen, die ihre Eignung zur Zielerreichung aufhebt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.12.2016 - 8 C 6.15 -, BVerwGE 157, 126 <juris Rn. 84>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="19"/>(1) Das unionsrechtliche Kohärenzgebot ist trotz der Legalisierung des Online-Glücksspiels durch den Glücksspielstaatsvertrag 2021 gewahrt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.02.2022 - 6 S 1922/20 -, ZfWG 2022, 274 <juris Rn. 72 ff.>, und Beschluss vom 15.11.2021 - 6 S 2339/21 -, ZfWG 2022, 79 <juris Rn. 24>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="20"/>Ein Verstoß gegen das Kohärenzgebot kann nicht aus einem etwaigen Vollzugsdefizit im Bereich des Online-Glücksspiels hergeleitet werden. Mit dem Glücksspielstaatsvertrag 2021 soll der Schwarzmarkt, der sich trotz des bis zum 30.06.2021 bestehenden weitgehenden Internetverbots gebildet hat und auf dem verschiedene Arten von Online-Spielen angeboten und nachgefragt wurden, massiv zurückgedrängt werden. Nach den Motiven des Gesetzgebers soll die Zulassung von legalen Online-Glücksspielangeboten durch den Glücksspielstaatsvertrag 2021 dem Spielerschutz und der Suchtprävention dienen. Sie soll den legitimen Zweck verfolgen, eine geeignete Alternative zum illegalen Online-Glücksspiel anzubieten und dadurch den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken sowie der Entwicklung und Ausbreitung von unerlaubten Glücksspielen in Schwarzmärkten entgegenzuwirken (vgl. LT-Drs. 16/9487, S. 65 ff.). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Kohärenzgebot weder eine Uniformität der Regelungen noch eine Optimierung der Zielverwirklichung verlangt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.06.2013 - 8 C 17.12 -, ZfWG 2014, 73 <juris Rn. 42> m.w.N.). Es ist daher zulässig, dass die Regelungen für das Online-Glücksspiel anders ausgestaltet sind als für den Bereich der Spielhallen, solange sie ebenfalls dem Spielerschutz dienen. Dies ist hier der Fall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="21"/>Die Zulassung für das Online-Glücksspiel geht einher mit bereichsspezifischen strengen gesetzlichen Vorgaben zum Spielerschutz (vgl. §§ 6a ff. GlüStV 2021). So wird etwa dadurch, dass ein anbieterübergreifendes Einzahlungslimit von höchstens 1.000,-- EUR pro Monat gilt, dessen Einhaltung mit der Limitdatei überwacht wird (vgl. § 6c GlüStV 2021), trotz Ausweitung des legalen Angebots im Internet die Spielmöglichkeit für den einzelnen Spieler stark eingeschränkt. Abstandsvorgaben, wie sie in § 42 LGlüG normiert sind, sind bei Angeboten im Internet, die nicht ortsgebunden sind, kein geeignetes Mittel zur Begrenzung des Glücksspiels. Hier müssen andere Maßnahmen herangezogen werden, wie sie nunmehr durch die Verhinderung des parallelen Spiels bei mehreren Anbietern im Internet sowie eine Wartezeit vor dem Anbieterwechsel (§ 6h GlüStV 2021) vorgesehen sind.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="22"/>Es ist auch nicht erkennbar, dass diese Vorschriften aufgrund eines zu befürchtenden Vollzugsdefizits leerlaufen könnten. Die gemäß § 27a GlüStV 2021 eingerichtete Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder mit Sitz in Sachsen-Anhalt ist zwar derzeit noch nicht uneingeschränkt arbeitsfähig, jedoch soll diese im Aufbau befindliche Behörde die ihr zugewiesenen Aufgaben überwiegend ohnehin erst zum 01.01.2023 wahrnehmen. Die hierzu in § 27p GlüStV 2021 getroffenen Übergangsregelungen berücksichtigen, dass die neu errichtete Behörde nicht ab dem Tag ihrer Errichtung sämtliche ihr nach dem Staatsvertrag zukommenden Aufgaben bereits ausfüllen können wird. Um ein Vollzugsdefizit zu vermeiden, sind daher die der Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder zukommenden Aufgaben für eine Übergangszeit einzelnen Trägerländern zugewiesen worden. Die Zuständigkeitsregelungen orientieren sich am Glücksspielstaatsvertrag 2012/2020. Soweit danach eine zentrale Zuständigkeit bestand, bleibt diese für die Übergangszeit bestehen. Mit dem Glücksspielstaatsvertrag 2021 neu geschaffene zentrale Zuständigkeiten werden dem Sitzland übertragen, um einen Übergang der Aufgabenwahrnehmung auf die Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder zu erleichtern (vgl. LT-Drs. 16/9487, S. 186; vgl. zum Ganzen VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.02.2022 - 6 S 1922/20 -, ZfWG 2022, 274 <juris Rn. 72 ff.>, sowie Beschlüsse vom 15.11.2021 - 6 S 2339/21 -, ZfWG 2022, 79 <juris Rn. 24>, und vom 21.10.2021 - 6 S 2663/21 -, n.v.; VG Karlsruhe, Beschluss vom 01.10.2021 - 1 K 2308/21 -, juris Rn. 23 ff.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="23"/>(2) Entgegen der Meinung der Klägerin verstößt das Verbundverbot trotz Unterschieden zwischen den Bundesländern in der Anwendung der Übergangsregelung des § 29 Abs. 4 GlüStV 2021 hinsichtlich Verbundspielhallen auch nicht gegen das Kohärenzgebot.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="24"/>Denn der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Regelung der Glücksspiele zu den Bereichen gehört, in denen beträchtliche sittliche, religiöse und kulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. In Ermangelung einer Harmonisierung des betreffenden Gebiets durch die Union ist es Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, in diesen Bereichen im Einklang mit ihrer eigenen Wertordnung zu beurteilen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der betroffenen Interessen ergeben. Es ist nach dem Europäischen Gerichtshof auf den besonderen Charakter des Bereichs der Glücksspiele hinzuweisen, wo im Gegensatz zur Einführung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs auf einem traditionellen Markt die Betreibung eines derartigen Wettbewerbs auf dem sehr spezifischen Markt für Glücksspiele, d.h. zwischen mehreren Veranstaltern, die die gleichen Glücksspiele betreiben dürfen, insofern nachteilige Folgen haben könnte, als diese Veranstalter versucht wären, einander an Einfallsreichtum zu übertreffen, um ihr Angebot attraktiver als das ihrer Wettbewerber zu machen, so dass für die Verbraucher die mit dem Spiel verbundenen Ausgaben und die Gefahr der Spielsucht erhöht würden. Aus diesen Gründen verfügen die staatlichen Stellen in dem besonderen Bereich der Veranstaltung von Glücksspielen über ein weites Ermessen bei der Festlegung der Anforderungen, die sich aus dem Schutz der Verbraucher und der Sozialordnung ergeben, und – sofern die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestehenden Anforderungen im Übrigen erfüllt sind – ist es Sache jedes Mitgliedstaats, zu beurteilen, ob es im Zusammenhang mit den von ihm verfolgten legitimen Zielen erforderlich ist, Spiel- und Wetttätigkeiten vollständig oder teilweise zu verbieten, oder ob es genügt, sie zu beschränken und zu diesem Zweck mehr oder weniger strenge Kontrollformen vorzusehen. Wenn Vertrags- oder Verordnungsbestimmungen den Mitgliedstaaten zum Zweck der Anwendung des Unionsrechts Befugnisse verleihen oder Pflichten auferlegen, bestimmt sich die Antwort auf die Frage, in welcher Weise die Ausübung dieser Befugnisse und die Erfüllung dieser Pflichten bestimmten innerstaatlichen Organen übertragen werden kann, allein nach dem Verfassungssystem der einzelnen Mitgliedstaaten. In einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland darf der Gesetzgeber die Auffassung vertreten, dass es im Interesse aller Betroffenen Sache der Länder und nicht des Bundes ist, bestimmte Vorschriften zu erlassen. Die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Ländern im Glücksspielrecht kann nicht in Frage gestellt werden, da sie unter dem Schutz von Art. 4 Abs. 2 EUV steht, nach dem die Union verpflichtet ist, die jeweilige nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der lokalen und regionalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Zudem unterscheiden sich die Umstände der vorliegenden Rechtssache von denen der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.09.2010 (<Carmen Media Group>, ZfWG 2010, 344) zugrunde liegenden Rechtssache, da es vorliegend nicht um das Verhältnis und die etwaige Pflicht zur vertikalen Koordinierung zwischen den Behörden des betroffenen Bundeslands und den Bundesbehörden geht, sondern um das horizontale Verhältnis zwischen den Bundesländern mit eigenen Gesetzgebungsbefugnissen im Rahmen eines föderal strukturierten Mitgliedstaats. Die abweichende Rechtslage in einem Bundesland kann zwar die Eignung der in den anderen Bundesländern geltenden Beschränkungen des Glücksspiels zur Erreichung der mit ihnen verfolgten legitimen Ziele des Allgemeinwohls beeinträchtigen. Jedoch kann die Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs durch eine glücksspielrechtliche Regelung auch den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgestellten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügen, was im Einzelfall zu prüfen ist (vgl. zum Ganzen VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.11.2021 - 6 S 2339/21 -, ZfWG 2022, 79 <juris Rn. 26>; EuGH, Urteil vom 12.06.2014 - C-156/13 -, ZfWG 2014, 193 <juris Rn. 24 ff.>; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 07.03.2017 - 1 BvR 1314/12 -, BVerfGE 145, 20 <juris Rn. 123>; SaarlOVG, Beschluss vom 04.02.2020 - 1 B 318/19 -, NVwZ-RR 2020, 1057 <juris Rn. 27 ff.>; VG Karlsruhe, Beschluss vom 01.10.2021 - 1 K 2308/21 -, juris Rn. 26 ff.; VG Saarlouis, Urteil vom 06.08.2020 - 1 K 1118/19 -, juris Rn. 90 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Ernstliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Verbundverbots vermochte die Klägerin – insbesondere unter Berücksichtigung des besonders wichtigen Gemeinwohlziels der Vermeidung und Abwehr der vom Glücksspiel in Spielhallen ausgehenden Suchtgefahren, da Spielsucht zu schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen, ihre Familien und die Gemeinschaft führen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.03.2017 - 1 BvR 1314/12 u.a. -, BVerfGE 145, 20 <juris Rn. 133>; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.02.2022 - 6 S 1922/20 -, ZfWG 2022, 274 <juris Rn. 30>) – nicht aufzuzeigen (vgl. zur Geeignetheit und Kohärenz die Ausführungen oben; vgl. zu weiteren Aspekten der Kohärenz VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.02.2022 - 6 S 1922/20 -, ZfWG 2022, 274 <juris Rn. 76 ff.>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Die Verhältnismäßigkeit und Kohärenz der Regelung des Verbundverbots nach § 42 Abs. 2 LGlüG wird auch nicht durch eine unterschiedliche Anwendung der Öffnungsklausel des § 29 Abs. 4 GlüStV 2021 durch die Länder in Frage gestellt. Nach § 29 Abs. 4 GlüStV 2021 können die Länder in ihren Ausführungsbestimmungen vorsehen, dass für am 01.01.2020 bestehende Spielhallen, die in einem baulichen Verbund mit weiteren Spielhallen stehen, für bis zu drei Spielhallen je Gebäude oder Gebäudekomplex auf gemeinsamen Antrag der Betreiber abweichend von § 25 Abs. 2 GlüStV 2021 [Verbundverbot] eine befristete Erlaubnis erteilt werden kann, wenn mindestens alle Spielhallen von einer akkreditierten Prüforganisation zertifiziert worden sind und die Zertifizierung in regelmäßigen Abständen, mindestens alle zwei Jahre, wiederholt wird, die Betreiber über einen aufgrund einer Unterrichtung mit Prüfung erworbenen Sachkundenachweis verfügen und das Personal der Spielhallen besonders geschult wird. Die Übergangsfrist ist landesgesetzlich festzulegen. Das Nähere regeln die Ausführungsbestimmungen der Länder.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Die Klägerin ist hierbei der Ansicht, das Unionsrecht toleriere zwar gewisse Abweichungen zwischen den Ländern, der Europäische Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 12.06.2014 - C-156/13 - (ZfWG 2014, 193 <juris Rn. 36>) jedoch als Grenze die „Erheblichkeit“ der Unterschiede zwischen den jeweiligen Regelungen formuliert. Vorliegend seien die Unterschiede bei der Anwendung des § 29 Abs. 4 GlüStV 2021 erheblich, da sie keine wie in dem Fall des Europäischen Gerichtshofs zeitlich und räumlich begrenzte Wirkung hätten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Dem kann der Senat nicht folgen. Denn die Übergangsvorschrift des § 29 Abs. 4 GlüStV 2021 ermöglicht den Ländern lediglich ein vorübergehendes Absehen von der vollständigen Umsetzung des Verbundverbots. Die Vorschrift verfolgt jedoch ebenfalls das Ziel der Vermeidung und Abwehr der vom Glücksspiel in Spielhallen ausgehenden Suchtgefahren (vgl. – allerdings noch zur vorherigen Fassung des § 29 Abs. 4 GlüStV – HambOVG, Beschluss vom 20.10.2020 - 4 Bs 226/18 -, ZfWG 2021, 81 <juris Rn. 34>; SächsOVG, Beschluss vom 07.02.2019 - 3 B 398/18 -, juris Rn. 40). Denn durch die Öffnungsklausel sollen Verbundspielhallen nach wie vor reduziert werden. Deshalb kann eine solche Ausnahme nur befristet und nur für bis zu drei Spielhallen im selben Gebäude oder Gebäudekomplex erteilt werden (vgl. LT-Drs. 16/9487, S. 192). Die Ausnahmeregelung steht den Zielen dieses Staatsvertrages darüber hinaus auch nicht entgegen. Trotz dieser erneuten Übergangsregelung wird insbesondere im Vergleich zum Zeitraum vor 2012 eine wesentlich verringerte Verfügbarkeit von Geldspielgeräten in Spielhallen erreicht (vgl. LT-Drs. 16/9487, S. 192). Den Ländern wird es ermöglicht, Regelungen zu schaffen, die einen sanfteren Übergang vom derzeitigen Zustand in den von § 25 GlüStV 2021 vorgesehenen Zustand schaffen (vgl. LT-Drs. 16/9487, S. 193). Damit wird auch die Öffnungsklausel des § 29 Abs. 4 GlüStV 2021 und die darauf beruhenden Ausnahmeregelungen in den unterschiedlichen Bundesländern dem Anliegen gerecht, das Ziel des Schutzes vor den von Spielsucht ausgehenden Gefahren in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen, da diese ebenfalls konsequent auf die Erreichung des Ziels ausgerichtet sind. Entgegen der Ansicht der Klägerin wird daher die Kohärenz des Verbundverbots gemäß § 42 Abs. 2 LGlüG nicht durch unterschiedliche Übergangsregelungen zum Verbundverbot in anderen Bundesländern beeinträchtigt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>2. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Die Annahme besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO setzt voraus, dass der Rechtssache nicht nur allgemeine oder durchschnittliche Schwierigkeit zukommt. Ob eine Sache in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht schwierig ist, kann sich schon aus dem Begründungsaufwand des erstinstanzlichen Urteils ergeben. Ein Kläger genügt seiner Darlegungslast dann regelmäßig mit erläuternden Hinweisen auf die einschlägigen Passagen des Urteils. Soweit er die Schwierigkeit des Falls darin entdeckt, dass das Gericht auf bestimmte tatsächliche Aspekte nicht eingegangen ist oder notwendige Rechtsfragen nicht oder unzutreffend beantwortet hat, hat er diese Gesichtspunkte in nachvollziehbarer Weise darzustellen und ihren Schwierigkeitsgrad plausibel zu machen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.06.2000 - 1 BvR 830/00 -, VBlBW 2000, 392; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.11.2019 - 6 S 2384/19 -, juris Rn. 12). Da dieser Zulassungsgrund ebenso wie der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Richtigkeit der Entscheidung im Einzelfall gewährleisten soll, muss zugleich deutlich gemacht werden, dass wegen der in Anspruch genommenen besonderen Schwierigkeiten der Ausgang des (künftigen) Berufungsverfahrens jedenfalls ergebnisoffen ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.11.2019 - 6 S 2384/19 -, juris Rn. 12).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Gemessen an diesem Prüfungsmaßstab bleibt der Antrag auf Zulassung der Berufung auch unter diesem Aspekt ohne Erfolg. Die Klägerin hat besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache nicht dargetan.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="32"/>Allein der Umstand, dass sich im vorliegenden Fall Fragen zur Auslegung und Anwendung des Geeignetheits- und Kohärenzkriteriums des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Dienstleistungsfreiheit stellen, hebt die Streitigkeit im Schwierigkeitsgrad nicht von anderen (glücksspielrechtlichen) Verfahren ab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="33"/>3. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="34"/>Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine fallübergreifende, bisher noch nicht rechtsgrundsätzlich geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, die auch für die Entscheidung in einem Berufungsverfahren erheblich wäre und deren Klärung im Interesse der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung geboten erscheint (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.06.2019 - 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173 <juris Rn. 33> m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 46.18, 1 PKH 34.18 -, juris Rn. 4 f.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.04.2020 - 6 S 1637/19 -, juris Rn. 9). Unter dem Gesichtspunkt einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist dem Darlegungsgebot nur genügt, wenn in Bezug auf die Rechtslage oder die Tatsachenfeststellungen eine konkrete Frage aufgeworfen und erläutert wird, warum sie bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärte Probleme aufwirft, die über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam sind und im Interesse der Einheitlichkeit und Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlich geklärt werden müssen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.04.2020 - 6 S 1637/19 -, juris Rn. 9).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="35"/>Diese Anforderungen erfüllt der Zulassungsantrag der Klägerin nicht. Denn die Klägerin hat keine konkrete Frage grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen und soweit sie sich auf eine Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof beruft, auch keine dem Europäischen Gerichtshof vorzulegende Frage formuliert. Sie beschränkt sich stattdessen darauf vorzutragen, dass es bisher weder Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Frage der Erheblichkeit der Inkohärenz bzw. zur Bestimmung der zulässigen Unterschiede zwischen den landesrechtlichen Regelungen im Spielhallensektor gebe noch zur Frage, inwieweit die derzeitige Politik der massiven Angebotsausweitung und die Zulassung von Werbemöglichkeiten im Bereich des Onlineglücksspiels und insbesondere des Online-Automatenspiels den zeitgleich stattfindenden Abbau terrestrischer Spielhallen, welcher mit dem Ziel der Suchtprävention gerechtfertigt werden solle, konterkariere.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="36"/>II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>III. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, 39 Abs. 1, 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 54.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table></td></tr></table> |
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346,776 | vghbw-2022-09-13-14-s-356621 | {
"id": 161,
"name": "Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg",
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<p>Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 24. November 2021 gegen den Bescheid des Landratsamts Hohenlohekreis vom 21. Oktober 2021 wird wiederhergestellt, soweit darin die Zurückstellung auch für die Zeit nach dem 30. September 2022 angeordnet worden ist. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.</p><p>Die Antragstellerin trägt 9/10, der Antragsgegner 1/10 der Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.</p><p>Der Streitwert wird auf 82.000 Euro festgesetzt.</p>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>I.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofort vollziehbare Zurückstellung ihrer immissionsschutzrechtlichen Vorbescheidsanträge betreffend die bauplanungsrechtliche Außenbereichsvereinbarkeit von vier Windenergieanlagen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Der Beigeladene wurde am 01.07.1975 von den im Hohenlohekreis gelegenen Gemeinden Krautheim, Dörzbach und Mulfingen gegründet und erfüllt deren vorbereitende Bauleitplanung (vgl. § 2 Abs. 2 lit. a der Verbandssatzung). Auf Antrag der Antragstellerin erklärte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die – zur Steuerung der Windenergie durch die Darstellung von Konzentrationszonen vorgenommene – 8. Änderung des Flächennutzungsplans des Beigeladenen mit Urteil vom 13.10.2020 - 3 S 526/20 -, ausweislich der Urteilsbegründung insbesondere wegen überschießender Einordnung von Teilen des Außenbereichs als sog. „harte“ Tabuzone, insoweit für unwirksam, als dadurch die Ausschlusswirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB herbeigeführt werden sollte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Unter dem 08.04.2021 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner zwei immissionsschutzrechtliche Vorbescheide, jeweils für zwei Windenergieanlagen vom Typ … mit einer Leistung von jeweils 5,6 MW und einer Nabenhöhe von 166 Metern in Dörzbach… und in Dörzbach-… . In ihrer Sitzung vom 21.04.2021 beschloss die Verbandsversammlung des Beigeladenen die 11. Fortschreibung des Flächennutzungsplans (Teilflächennutzungsplan Windkraft); der Beschluss wurde in der Folge in den Mitteilungsblättern der Mitgliedsgemeinden öffentlich bekannt gemacht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Auf die Bitte des Antragsgegners vom 20./21.04.2021 um Prüfung der immissionsschutzrechtlichen Antragsunterlagen auf Vollständigkeit binnen zwei Wochen, ferner um Stellungnahme und Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen bis spätestens 31.05.2021, nahm die Gemeinde Dörzbach mit Schreiben vom 12.05.2021 dahingehend Stellung, dass um zeitlichen Aufschub gebeten werde, bis über den Zurückstellungsantrag des Beigeladenen entschieden worden sei. Nachdem die Vorbescheidsanträge zunächst jeweils auch eine Frage zum Schallschutz aufgeworfen hatten, hinsichtlich derer die vorgelegten Unterlagen nach Auffassung des Antragsgegners aber unvollständig waren, erklärte die Antragstellerin mit E-Mail vom 30.06.2021, zur Vermeidung unnötiger Verzögerungen nur noch Vorbescheide betreffend die Außenbereichsverträglichkeit anzustreben. Der Antragsgegner vertrat hierauf in einer E-Mail vom selben Tage zunächst die Auffassung, ein alleiniges Zurückstellen des Schallschutzthemas sei nicht möglich. Nach Eingang eines weiteren Schreibens der Antragstellerin vom 20.07.2021 am 21.07.2021 ging schließlich auch er von einer entsprechenden Modifikation der Vorbescheidsanträge aus. Mit Schreiben vom 21.07.2021 setzte der Antragsgegner die Gemeinde Dörzbach von der Modifikation der Anträge sowie davon in Kenntnis, dass ein Zurückstellungsantrag des Beigeladenen noch nicht eingegangen sei. Deshalb werde nunmehr um Stellungnahme bis spätestens 04.08.2021 sowie darum gebeten, auch eine Stellungnahme für den Beigeladenen abzugeben und über das gemeindliche Einvernehmen gemäß § 36 BauGB zu entscheiden. Hierauf teilte die Gemeinde Dörzbach mit, der Zurückstellungsantrag des Beigeladenen werde spätestens Anfang nächster Woche vorliegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>Am 29.07.2021 beantragte der Beigeladene beim Antragsgegner die Zurückstellung der Anträge auf immissionsschutzrechtliche Vorbescheide.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>Nach Anhörung der Antragstellerin erließ der Antragsgegner am 21.10.2021, der Antragstellerin zugestellt am 26.10.2021, einen Bescheid, mit dem er die Entscheidungen über die Anträge auf immissionsschutzrechtliche Vorbescheide für die Dauer von jeweils einem Jahr „ab Zustellung dieser Entscheidung“ zurückstellte (Ziffern 1 und 2). Ferner ordnete er die sofortige Vollziehung der Entscheidungen unter Ziffern 1 und 2 an (Ziffer 3). Zur Begründung führte er u. a. aus, es sei zu befürchten, dass durch die beantragten Vorhaben Fakten geschaffen würden, die nicht mit der Flächennutzungsplanung vereinbar seien. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass die frühere Flächennutzungsplanung zur Steuerung der Windkraft aufgehoben worden sei und nun neu geplant werden müsse. Konkrete Aussagen zu Flächen könnten noch nicht gemacht werden, weil es zunächst der Durchführung von Untersuchungen, der Erstellung von Gutachten sowie Abklärungen mit Behörden bedürfe. Das beauftragte Planungsbüro habe insoweit ein Konzept über das weitere Vorgehen vorgelegt, das plausibel erscheine. Anhaltspunkte für eine bloße Negativ- bzw. Verhinderungsplanung seien ebenso wenig ersichtlich wie gravierende Mängel im planerischen Konzept. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei deshalb angezeigt, weil andernfalls der Sicherungsfunktion für die gemeindliche Planungshoheit nicht hinreichend Geltung verschafft werden könne. Ansonsten müsste über die Vorbescheidsanträge entschieden werden, ohne dass hierbei die Planungsabsichten des Beigeladenen berücksichtigt werden könnten. Dem Interesse des Beigeladenen sei deshalb der Vorrang gegenüber dem Interesse der Antragstellerin einzuräumen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="7"/>Unter dem 24.11.2021 erhob die Antragstellerin Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Am selben Tage hat sie den vorliegenden Antrag gestellt, zu dessen Begründung sie geltend macht, es fehle bereits an einer hinreichenden Begründung des Sofortvollzugs gemäß § 80 Abs. 3 VwGO. Ferner sei der Zurückstellungsbescheid rechtswidrig. Formell seien die Beschlüsse des Beigeladenen betreffend die Aufstellung des Flächennutzungsplans und betreffend die Beantragung der Zurückstellung nicht korrekt gefasst worden. Es seien mehrere Eigentümer von allen Beratungen über den Aufstellungsbeschluss wegen Befangenheit ausgeschlossen worden. Gleichzeitig habe ein Gegner der Windenergieanlagen, der in deren Wirkungsbereich wohne, an den Sitzungen teilnehmen dürfen. Materiell habe es zum maßgeblichen Erlasszeitpunkt an einer hinreichenden Konkretisierung der Planungsabsichten gefehlt. Denn jedenfalls wenn – wie hier – der Planungsprozess schon seit längerem andauere, seien erhöhte Anforderungen an die Konkretisierung der Planungsabsichten zu stellen. Hinzu komme Art. 20a GG, dem ebenfalls ein Beschleunigungsgebot zu entnehmen sei. Dem trage der Beigeladene nicht ausreichend Rechnung, weil zwischen dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs am 13.10.2020 und dem Planaufstellungsbeschluss am 21.04.2021 sowie zwischen dem Planaufstellungsbeschluss am 21.04.2021 und der Beauftragung des Planungsbüros am 27.07.2021 jeweils zu viel Zeit vergangen sei. Konkrete Planvorstellungen lägen nicht vor. Anlass der Planung seien im Übrigen erkennbar nicht der vom Verwaltungsgerichtshof verdeutlichte Planungsbedarf gewesen, sondern die von der Antragstellerin gestellten Vorbescheidsanträge. Auch das Protokoll der Verbandsversammlungssitzung vom 27.07.2021 belege, soweit darin ausgeführt werde, dass die Privilegierung von Windenergieanlagen im gesamten Verbandsgebiet nicht im Sinne der Verbandsmitglieder sein könne, dass es im Kern um eine Verhinderung von Windenergieanlagen gegangen sei. Auch am erforderlichen Sicherungsbedürfnis fehle es. Die Beigeladene sei nicht dazu in der Lage, das mit der Zurückstellung verbundene Ziel innerhalb der Zurückstellungsfrist zu Ende zu führen; dies gelte auch für die nach § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB verlängerte Rückstellungsfrist, die ohnehin mangels besonderer Umstände nicht in Anspruch genommen werden dürfe. Bereits die erforderliche Neubewertung der Ergebnisflächen des Artenschutzes erfordere einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren, wie ein Mitarbeiter des Planungsbüros in der Sitzung der Verbandsversammlung vom 27.07.2021 mitgeteilt habe – die Zeiten für die Vorbereitung und Beschlussfassung durch die zuständigen politischen Gremien des Beigeladenen, die zusätzliche Zeit in Anspruch nähmen, seien in dieser Prognose noch nicht enthalten. Ob mit diesen Arbeiten begonnen worden sei, sei nicht zu erkennen. Weiterhin sei auch nicht ersichtlich, dass die Planungsabsichten der Beigeladenen durch das Vorhaben der Antragstellerin vereitelt oder erheblich beeinträchtigt werden könnten. Dies werde lediglich pauschal begründet, ohne dass zwischen den Vorhaben differenziert werde. Insoweit sei auch zu beachten, dass die geplanten Windenergieanlagen in Bereichen lägen, die zukünftig mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Konzentrationszone ausgewiesen werden müssten. Rechtswidrig sei die Zurückstellungsentscheidung auch deshalb, weil die immissionsschutzrechtlichen Vorbescheidsverfahren für ein Jahr ab Zustellung zurückgestellt worden seien. Denn der Antrag des Beigeladenen sei bereits mehr als drei Monate zuvor gestellt worden; diese Zeit hätte bei der Zurückstellungsfrist aber berücksichtigt werden müssen, weil die Vorbescheidsverfahren entscheidungsreif gewesen seien und weil nach dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts in allen Verfahren betreffend erneuerbare Energien ein Beschleunigungsgebot gelte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="8"/>Hilfsweise müsse ihr Antrag auch bei offenen Erfolgsaussichten der Hauptsache Erfolg haben. Ihr Interesse an der Fortführung der Vorbescheidsverfahren überwiege das Interesse am Sofortvollzug des Zurückstellungsbescheids. Zugunsten der Antragstellerin seien ihre teils bereits kreditfinanzierten hohen Investitionskosten zu berücksichtigen, die Bescheidungsreife ihrer Anträge, ferner auch das öffentliche Interesse an einer ausreichenden und sicheren Versorgung mit erneuerbaren Energien. Letzteres habe auch im Erneuerbare-Energien-Gesetz, dort insbesondere in § 2 EEG in der Fassung des Gesetzes „zu Sofortmaßnahmen für einen beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien und weiteren Maßnahmen im Stromsektor“ vom 20.07.2022 (BGBl. vom 28.07.2022, S. 1237 ff.) und in § 1 Abs. 3 Nr. 4 BNatSchG seinen Niederschlag gefunden und eine erhebliche Aufwertung durch den sog. Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts erfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.03.2021 - 1 BvR 2656/18 - ZNER 2021, 262, juris). Denn danach enthalte das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG nicht nur einen Handlungsauftrag an den Gesetzgeber, sondern erfordere schon jetzt eine verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts derart, dass die Klimaschutzziele erreicht werden könnten und im Rahmen von Abwägungsprozessen Berücksichtigung fänden. Eine Ursache habe der – gemessen an den verfassungsrechtlich begründeten und einfachgesetzlich konkretisierten Zielen – zu geringe Ausbau von Windenergie in Deutschland auch in der Dauer der Genehmigungsverfahren. Diese würden durch Zurückstellungsanträge zusätzlich verzögert; um die gesetzgeberische Zielsetzung nicht zu unterlaufen, sei die Zurückstellung deshalb nur dann gerechtfertigt, wenn dem überragenden öffentlichen Interesse an der zügigen Durchführung des Genehmigungsverfahrens ein überwiegendes Sicherungsinteresse entgegenstehe. Das sei hier insbesondere deshalb nicht der Fall, weil der Beigeladene seine Planung in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit (einschließlich einer Verlängerung der Zurückstellung) ohnehin nicht abschließen könne.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="9"/>Sie beantragt (sachdienlich gefasst),</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="10"/>die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 24.11.2021 gegen den Zurückstellungsbescheid des Landratsamts Hohenlohekreis vom 21.10.2021 wiederherzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="11"/>Der Antragsgegner beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="12"/>den Antrag abzulehnen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>Er wendet unter Bezugnahme auf den angegriffenen Bescheid ein, der Antrag sei unzulässig und unbegründet. Inwiefern die Begründung der sofortigen Vollziehung defizitär sein solle, sei nicht zu erkennen. In der Sache sei es so, dass ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung ein wirksamer Schutz der Planung nicht erreicht werden könne, die durch die verbindliche Wirkung der Vorbescheide vereitelt zu werden drohe. Die Rechtmäßigkeit der Zurückstellungsentscheidung sei seiner Ansicht nach nicht Gegenstand des vorliegenden Antrags, sondern des anhängigen Widerspruchsverfahrens.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Der Beigeladene hat, ohne selbst einen Antrag zu stellen, vortragen lassen, der zulässige Antrag sei unbegründet. Die Zurückstellungsentscheidung sei formell und materiell rechtmäßig. Die Konzentrationsflächenplanung des Beigeladenen werde durch die Vorhaben der Antragstellerin gefährdet. Die schriftliche Begründung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung sei ausreichend und auch in der Sache nicht zu beanstanden. Soweit die Antragstellerin auf den Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts verweise und vor dessen Hintergrund aus Art. 20a GG eine verfassungskonforme Auslegung einfachen Rechts gewinne, übersehe sie, dass auch die Planungshoheit verfassungsrechtlichen Rang genieße. Auch sei das öffentliche Vollziehungsinteresse nicht nach Ergehen des Zurückstellungsbescheids entfallen. Weder lägen die Vorhabenstandorte nach dem aktuellen Planungsstand hinreichend verlässlich innerhalb einer Konzentrationszone, noch verfolge der Beigeladene die begonnene Planung erkennbar nicht weiter. Es sei rein spekulativ, dass die erforderlichen naturschutzfachlichen Untersuchungen bis zum Abschluss der Zurückstellungsfrist nicht vorgenommen werden könnten. Soweit auf Aussagen des zuständigen Sachbearbeiters des Planungsbüros Bezug genommen werde, wonach die Ergebnisflächen des Artenschutzes neu bewertet werden müssten und für diese Arbeiten und die Erstellung der entsprechenden Gutachten mindestens einen Zeitraum von zwei Jahren notwendig sei, rechtfertige dies nicht die apodiktische Annahme, eine verlässliche Aussage zur Vereinbarkeit der Vorhaben und der Planung sei bis zum Fristende der Zurückstellung nicht möglich.</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>II.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="15"/>1. Der Verwaltungsgerichtshof ist zur Entscheidung über die Streitigkeit berufen. Insbesondere ist er sachlich für sie zuständig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="16"/>Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a VwGO in der Fassung des am 10.12.2020 in Kraft getretenen Gesetzes zur Beschleunigung von Investitionen vom 03.12.2020 (BGBl. I S. 2694) entscheidet das Oberverwaltungsgericht im ersten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die die Errichtung, den Betrieb und die Änderung von Anlagen zur Nutzung von Windenergie an Land mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 Metern betreffen. Dies gilt nach Satz 2 auch für Streitigkeiten über sämtliche für das Vorhaben erforderliche Genehmigungen und Erlaubnisse, auch soweit sie Nebeneinrichtungen betreffen, die mit ihm in einem räumlichen oder betrieblichen Zusammenhang stehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="17"/>Von dieser Zuständigkeit umfasst ist auch ein – wie hier – nach dem maßgeblichen Stichtag am 10.12.2020 (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 28.01.2021 - 12 MS 6/21 - NVwZ 2021, 423, juris Rn. 7 f.; VG Karlsruhe, Urteil vom 12.04.2021 - 9 K 3203/19 - juris Rn. 193 m. w. N.) anhängig gemachter Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gegen eine Zurückstellungsentscheidung nach § 15 Abs. 3 BauGB betreffend Anträge auf immissionsschutzrechtliche Vorbescheide (vgl. § 9 BImSchG) für die genannten Vorhaben (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.07.2021 - 8 B 1088/21.AK - ZUR 2022, 39, juris; Bestermann in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 62. Edition, § 48 Rn. 11a; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl., § 48 Rn. 6a). Ein solches Verständnis legt die sich auch auf Streitigkeiten im Vorfeld des Vorhabens (vgl. Panzer in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL, § 48 Rn. 12a) und um Nebeneinrichtungen, also überwiegend den Zwecken eines Vorhabens gemäß Absatz 1 Satz 1 dienenden Anlagen (vgl. Panzer in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL, § 48 Rn. 13) erstreckende Norm angesichts der ihr hiernach innenwohnenden Weite bereits ausdrücklich nahe. Auch dass es um immissionsschutzrechtliche Vorbescheide - und nicht um die Genehmigung selbst – geht, steht nicht entgegen, weil mit diesen mit verbindlicher Wirkung ein Ausschnitt aus dem feststellenden Teil einer etwaigen späteren Anlagengenehmigung vorweggenommen werden soll (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.06.2004 - 4 C 9.03 - BVerwGE 121, 182, juris Rn. 36). Für ein solches Verständnis der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofs sprechen ferner auch teleologische und historische Gesichtspunkte der auf Beschleunigung von gerichtlichen Verfahren im Zusammenhang mit den näher bezeichneten Windenergieanlagen gerichteten Bestimmung (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.07.2021 - 8 B 1088/21.AK - juris m. w. N.; ferner Saurer, NuR 2021, 649, 651).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>2. Der Antrag ist gemäß § 80a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO statthaft und auch sonst zulässig. Insbesondere bedarf es hierzu keines zusätzlichen Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO, gerichtet auf die vorläufige Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Bauvorbescheide (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.06.2011 - 3 S 375/11 - NVwZ-RR 2011, 932, juris Rn. 15; Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnWZ 2018, 469, juris). Auch andere Gründe für die vom Antragsgegner eingewendete, aber nicht näher substantiierte Unzulässigkeit sind nicht ersichtlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="19"/>3. In der Sache hat der Antrag (nur) in dem aus dem Tenor ersichtlichen zeitlichen Umfang Erfolg.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>Das Gericht kann gemäß § 80a Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs auf Antrag wiederherstellen, wenn das Interesse des Antragstellers am vorläufigen Aufschub der Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts gegenüber dem Interesse des Begünstigten an seiner sofortigen Vollziehung überwiegt. Die danach gebotene Interessenabwägung geht hier weit überwiegend zu Lasten der Antragstellerin aus. Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung ordnungsgemäß angeordnet (a)). Bei summarischer Prüfung ist der Zurückstellungsbescheid grundsätzlich nicht zu beanstanden (b)). Die allerdings defizitär festgesetzte Jahresfrist rechtfertigt die tenorierte Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (c)). Im Übrigen kann in der Sache derzeit vom Forstbestand eines besonderen Vollziehungsinteresses ausgegangen werden (d)).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>a) Entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin genügt die schriftliche Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung im Zurückstellungsbescheid vom 21.10.2021 den – allein formellen – Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="22"/>Der sich aus der genannten Vorschrift ergebende Begründungszwang dient dem Zweck, die Behörde zu veranlassen, sich des Ausnahmecharakters der Vollzugsanordnung bewusst zu werden und die Frage, ob das besondere öffentliche Interesse bzw. das überwiegende Interesse eines Beteiligten die sofortige Vollziehung erfordert, sorgfältig zu prüfen, und dem Betroffenen sowie ggf. dem Gericht die für die Vollzugsanordnung maßgeblichen Gründe zur Kenntnis zu bringen (vgl. Gersdorf in Posser/Wolff, VwGO, 62. Edition, § 80 Rn. 86 m. w. N.). Dementsprechend muss aus der Begründung hinreichend nachvollziehbar hervorgehen, welche besonderen Gründe die Behörde im konkreten Fall dazu bewogen haben, den grundsätzlich bestehenden Suspensiveffekt eines Widerspruchs auszuschließen und dem besonderen öffentlichen bzw. dem überwiegenden Interesse eines Beteiligten an der sofortigen Vollziehung den Vorrang vor dem Aufschubinteresse des Betroffenen einzuräumen. Allerdings kann sich die Behörde auf die den Verwaltungsakt selbst tragenden Erwägungen stützen, wenn die den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigenden Gründe zugleich die Dringlichkeit der Vollziehung belegen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 21.01.2010 - 10 S 2391/09 - NJW 2010, 2821, juris Rn. 4).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="23"/>Dem hat der Antragsgegner hier unter Bezugnahme auf auf den konkreten Einzelfall bezogene Gründe Genüge getan, indem er unter Abwägung der widerstreitenden Interessen hervorgehoben hat, dass über die Vorbescheidsanträge andernfalls zu entscheiden wäre, ohne dass den Planungsabsichten des Beigeladenen Rechnung getragen werden könnte. Ob die insoweit genannten Erwägungen der Behörde inhaltlich zutreffen, ist insoweit unerheblich, denn das Gericht nimmt im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene (materielle) Interessenabwägung vor und ist dabei nicht auf eine bloße Überprüfung der von der Behörde getroffenen Entscheidung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO beschränkt (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 25.09.2012 - 10 S 731/12 - DVBl 2012, 1506, juris Rn. 6).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>b) Der Zurückstellungsbescheid hält rechtlicher Prüfung im von der Antragstellerin in zulässiger Weise angestrengten Widerspruchsverfahren voraussichtlich grundsätzlich Stand.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="25"/>Er beruht auf § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB. Danach hat die Baugenehmigungsbehörde auf Antrag der Gemeinde die Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB für einen Zeitraum bis zu längstens einem Jahr nach Zustellung der Zurückstellung des Baugesuchs auszusetzen, wenn die Gemeinde beschlossen hat, einen Flächennutzungsplan aufzustellen, zu ändern oder zu ergänzen, mit dem die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB erreicht werden sollen, und zu befürchten ist, dass die Durchführung der Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="26"/>Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung (so die überwiegende Rechtsprechung, vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnWZ 2018, 469, juris Rn. 37 m. w. N., a. A. Sennekamp in Brügelmann, BauGB, § 15 Rn. 99). Dies ergibt sich daraus, dass die festzusetzende Zurückstellungsfrist mit der Zustellung der Zurückstellungsentscheidung beginnt und damit die Zurückstellungsentscheidung zeitgebunden ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnWZ 2018, 469, juris Rn. 37 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="27"/>Vom Vorliegen der sich hieraus ergebenden Voraussetzungen ist der Antragsgegner aller Voraussicht nach zu Recht ausgegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="28"/>aa) Der gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB erforderliche Zurückstellungsantrag war fristgerecht gestellt worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="29"/>Den Zurückstellungsantrag dürfte zu Recht der Beigeladene (im eigenen Namen) in seinem Schreiben vom 29.07.2021 gestellt haben (so tendenziell auch VG Freiburg, Urteil vom 05.07.2015 - 3 K 517/15 - juris Rn. 17, und für eine vergleichbare Fragestellung im Zusammenhang mit § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB NdsOVG, Urteil vom 12.09.2003 - 1 ME 212/03 - NVwZ-RR 2004, 91, juris Rn. 15; a. A. Rieger, ZfBR 2012, 430; ders. in Schrödter, Baugesetzbuch, 9. Aufl., § 15 Rn. 24). Soweit in § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB von einem Antrag „der Gemeinde“ die Rede ist, steht dies einer Erstreckung der Antragsbefugnis auf einen die kommunale Aufgabe der Flächennutzungsplanung erfüllenden Gemeindeverwaltungsverband – wie den Beigeladenen – nicht zwingend entgegen. Denn die § 203 ff. BauGB öffnen das Bauplanungsrecht gerade für eine vom Regelfall der gemeindlichen Flächennutzungsplanung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB) solchermaßen abweichende Zuständigkeit. So sieht insbesondere § 205 Abs. 1 Satz 1 BauGB vor, dass sich Gemeinden und sonstige öffentliche Planungsträger zu einem Planungsverband zusammenschließen können, um durch gemeinsam zusammengefasste Bauleitplanung den Ausgleich der verschiedenen Belange zu erreichen. Der Planungsverband tritt gemäß Satz 2 der Regelung nach Maßgabe seiner Satzung für die Bauleitplanung und ihre Durchführung an die Stelle der Gemeinden. Den §§ 203 Abs. 2 i. V. m. 205 Abs. 2, 6 BauGB ist insoweit zu entnehmen, dass der Zusammenschluss und die Übertragung der Zuständigkeit auch durch oder auf Grund besonderer Landesgesetze erfolgen können (vgl. Quaas/Heyl, VBlBW 2005, 128, 130). Auf dieser Grundlage ist in § 61 Abs. 4 Nr. 1 GemO für (baden-württembergische) Gemeindeverwaltungsverbände – wie den Beigeladenen – vorgesehen, dass diese an Stelle ihrer Mitgliedsgemeinden in eigener Zuständigkeit die Aufgabe der vorbereitenden Bauleitplanung, also der Flächennutzungsplanung (vgl. Behrendt in Dietlein/Pautsch, BeckOK Kommunalrecht Baden-Württemberg, 18. Edition, § 61 Rn. 17; Aker in ders./Hafner/Notheis, Gemeindeordnung, 2. Aufl., § 61 Rn. 9) erfüllen. Im Umfang dieser Übertragung von Selbstverwaltungsangelegenheiten steht in der Folge des angeordneten Zuständigkeitsübergangs dem Gemeindeverwaltungsverband selbst die Selbstverwaltungsgarantie gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 71 LV zu (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 02.12.19999 - A 1 S 16/99 - juris Rn. 43; Engel/Heilshorn, Kommunalrecht, 11. Aufl., § 23 Rn. 60). Auch wenn sich § 61 Abs. 4 Nr. 1 GemO ausdrücklich nur ein Übergang der eigentlichen Flächennutzungsplanung und nicht auch etwaiger Zuständigkeiten für deren Sicherung entnehmen lässt, so sprechen doch Sinn und Zweck der genannten bauplanungs- und kommunalrechtlichen Regelungen im Allgemeinen und des in § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB begründeten Sicherungsmittels im Besonderen dafür, das Antragsrecht (jedenfalls auch) dem (jeweiligen) Träger der Flächennutzungsplanung – hier also dem Beigeladenen – zuzugestehen. Andernfalls drohte die Sicherung der Flächennutzungsplanung im Übrigen auch teilweise leerzulaufen. Insbesondere stünde es den Belegenheitsgemeinden dann jenseits der Grenzen der ihnen kommunal(verfassungs-)rechtlich im Gemeindeverband zustehenden Mitwirkungsmöglichkeiten (vgl. dazu StGH, Urteil vom 04.06.1976 - 3/75 - ESVGH 26, 1, 7, 8) zu, eine ihnen missliebige Flächennutzungsplanung dadurch zu hintertreiben, dass sie auf die Stellung eines entsprechenden Antrags verzichten. Eine solche Schwächung der Flächennutzungsplanung ließe sich vor dem Hintergrund des geschilderten Regelungszusammenhangs kaum rechtfertigen. Dieser Auffassung steht nicht entgegen, dass das Bundesverwaltungsgericht das Beteiligungsrecht der (Orts-) Gemeinde aus § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB in der Vergangenheit für nicht von der Übertragung von Aufgaben der Gemeinde nach diesem Gesetz u. a. auf Verbandsgemeinden, denen nach Landesrecht örtliche Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinde obliegen, beeinträchtigt gehalten hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.08.1988 - 4 C 20.84 - BauR 1988, 694, juris Rn. 30). Denn diese Rechtsprechung betrifft nicht § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB und auch nicht die Frage, ob eine Antragsberechtigung jedenfalls auch des Verbands besteht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="30"/>Andernfalls müsste von einem (früheren) Antrag der (dann allein) antragsbefugten Belegenheitsgemeinde Dörzbach ausgegangen werden, so dass die vorstehend erörterte Frage hier letztlich offenbleiben kann. Denn die Gemeinde hatte mit ihren Schreiben an den Antragsgegner vom 12.05.2021 und vom 28.07.2021, mit denen sie unter Bezugnahme auf den (bevorstehenden) Zurückstellungsantrag des Beigeladenen einen zeitlichen Aufschub ihrer Stellungnahme zu den immissionsschutzrechtlichen Vorbescheidsanträgen erwirken wollte, hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, die Zurückstellung auch selbst zu wollen. Dass sie in diesem Fall – gemeinsam mit Antragsgegner und Beigeladenen – irrig von einer (alleinigen) Antragsbefugnis des Beigeladenen ausgegangen wäre, steht der Auslegung der abgegebenen Erklärung als eigener Zurückstellungsantrag angesichts des mit den genannten Schreiben erkennbar tatsächlich verfolgten Zwecks (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.04.1992 - 4 C 43.89 - juris Rn. 15, ferner Schmitz in Stelkens u.a., VwVfG, 9. Aufl., § 22 Rn. 46) nicht entgegen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="31"/>Soweit die Antragstellerin unter Bezugnahme auf kommunalrechtliche Befangenheitsvorschriften Defizite bei der Beschlussfassung der Verbandsversammlung und des Gemeinderats über die Stellung eines Zurückstellungsantrags geltend gemacht hat, ist schon fraglich, ob diese durchgreifen können, wenn wie hier das zur Außenvertretung jeweils zuständigen Gemeindeorgan – namentlich der Verbandsvorsitzende (vgl. § 7 Abs. 1 der Verbandssatzung i. V. m. § 42 Abs. 1 Satz 2 GemO) bzw. der Bürgermeister (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 2 GemO) – tätig geworden ist (vgl. Rieger in Schrödter, BauGB, 9. Aufl., § 15 Rn. 9 m. w. N.). Unabhängig davon hat die Antragstellerin ihre entsprechende Behauptung nicht ansatzweise substantiiert. Dem Protokoll der Sitzung der Verbandsversammlung des Beigeladenen vom 27.07.2021 lassen sich Hinweise auf Verstöße jedenfalls nicht entnehmen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="32"/>Die Zurückstellung wurde auch innerhalb der Frist des § 15 Abs. 3 Satz 3 BauGB beantragt. Danach ist der Antrag nur innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Gemeinde in einem Verwaltungsverfahren von dem Bauvorhaben förmlich Kenntnis erhalten hat, zulässig. Die förmliche Kenntniserlangung ist von einer Kenntniserlangung „bei Gelegenheit“ zu unterscheiden. In der Regel stellt die förmliche Kenntniserlangung in einem Verwaltungsverfahren die erstmalige Beteiligung der Gemeinde in dem einschlägigen Verfahren auf Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung dar (vgl. Sennekamp in Brügelmann, BauGB, § 15 Rn. 80; Hornmann in Spannkowsky/Uechtritz, BeckOK BauGB, 55. Edition, § 15 Rn. 47). Die hiernach maßgebliche Frist ist unabhängig von der streitigen Frage gewahrt, auf wessen Kenntnis es bei Übertragung der Flächennutzungsplanung auf einen Gemeindeverband, der in der Regel nicht förmlich im Genehmigungsverfahren beteiligt sein wird (vgl. Sennekamp in Brügelmann, BauGB, § 15 Rn. 80), ankommt (für Gemeinde: Sennekamp in Brügelmann, BauGB, § 15 Rn. 80; Rieger, ZfBR 2012, 430, 434; für Gemeindeverband: Stock in Ernst u.a., BauGB, § 15 Rn. 90). Denn die spätestens am 29.07.2021 erfolgte Antragstellung ist in jedem Fall binnen sechs Monaten nach Kenntniserlangung von den überhaupt erst am 08.04.2021 beantragten Vorhaben erfolgt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="33"/>bb) Ferner hat der Beigeladene auch in der erforderlichen Weise gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB beschlossen, einen Flächennutzungsplan aufzustellen, mit dem die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB erreicht werden sollen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="34"/>Die Fassung des ortsüblich durch Veröffentlichung in den Amtsblättern der Mitgliedsgemeinden bekannt gemachten Beschlusses ergibt sich aus dem Protokoll über die Sitzung der Verbandsversammlung des Beigeladenen am 21.04.2021. Dass der Beigeladene bei dieser Beschlussfassung einen Flächennutzungsplan in den Blick genommen hat, mit dem die Wirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB erzielt werden sollen, ergibt sich ebenfalls aus dem Protokoll sowie auch aus der Sitzungsvorlage. Namentlich ist darin von der Aufstellung eines sachlichen Teilflächennutzungsplans und von der Ausschlusswirkung für Windkraftanlagen an zu definierenden Stellen ebenso die Rede wie von der Beachtung der Vorgabe, dass der Windkraft ausreichend Raum gegeben werden muss. Von einer Unwirksamkeit der Beschlussfassung wegen Verstößen gegen Befangenheitsvorschriften, wie von der Antragstellerin geltend gemacht, kann schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil diese ihre pauschale Behauptung nicht ansatzweise konkretisiert hat. Das dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegte Sitzungsprotokoll lässt entsprechende Rückschlüsse jedenfalls nicht ansatzweise zu.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="35"/>cc) Weiterhin ist der Antragsgegner voraussichtlich zu Recht vom Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses ausgegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="36"/>Die Befürchtung, dass die Flächennutzungsplanung mit dem Ziel der Ausweisung von Konzentrationszonen für Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB mit der Wirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB durch einen auf § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB bezogenen immissionsschutzrechtlichen Vorbescheid (vgl. zur Anwendbarkeit VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnWZ 2018, 469, juris; OVG NRW, Beschluss vom 17.12.2020 - 8 B 1317.20 - BauR 2021, 675, juris; OVG B.-Bbg., Beschluss vom 01.02.2017 - OVG 11 S 31.16 - juris Rn. 15; Rieger, ZfBR 2012, 430, 432) unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde, besteht, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das zur Genehmigung gestellte Vorhaben der hier durch Aufstellungsbeschluss vom 21.04.2021 eingeleiteten gemeindlichen Flächennutzungsplanung – nach dem jeweiligen Stand des Planungsverfahrens und gemessen an der Planungskonzeption und den Planzielen – widerspricht oder dass ein solcher Widerspruch zumindest möglich ist (OVG NRW, Beschluss vom 17.12.2020 - 8 B 1317.20 - BauR 2021, 675, juris). Insoweit kommt es auf den konkreten Planungsstand im Einzelfall an (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnWZ 2018, 469, juris Rn. 38 m. w. N.), wobei die Besonderheiten, die Windenergiekonzentrationsflächenplanung gegenüber Bebauungsplänen in der Regel aufweisen, zu berücksichtigen sind (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.12.2020 - 8 B 1317/20 - BauR 2021, 675, juris Rn. 8).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="37"/>Die Ausarbeitung des Planungskonzepts vollzieht sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abschnittsweise. In einem ersten Arbeitsschritt sind diejenigen Bereiche als „Tabuzonen" zu ermitteln, die für die Nutzung der Windenergie nicht zur Verfügung stehen. Die Tabuzonen lassen sich in „harte" und „weiche" untergliedern. Der Begriff der „harten Tabuzonen“ dient der Kennzeichnung von Gemeindegebietsteilen, die für eine Windenergienutzung, aus welchen Gründen immer, nicht in Betracht kommen, mithin für eine Windenergienutzung „schlechthin" ungeeignet sind. Mit dem Begriff der „weichen Tabuzonen“ werden Bereiche des Gemeindegebiets erfasst, in denen nach dem Willen der Gemeinde aus unterschiedlichen Gründen die Errichtung von Windenergieanlagen „von vornherein" ausgeschlossen werden „soll". Die Potenzialflächen, die nach Abzug der „harten“ und „weichen Tabuzonen“ übrig bleiben, sind in einem weiteren Arbeitsschritt zu den auf ihnen konkurrierenden Nutzungen in Beziehung zu setzen, das heißt die öffentlichen Belange, die gegen die Ausweisung eines Landschaftsraums als Konzentrationszone sprechen, sind mit dem Anliegen abzuwägen, der Windenergienutzung an geeigneten Standorten eine Chance zu geben, die ihrer Privilegierung nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB gerecht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2012 - 4 CN 1.11 - BVerwGE 145, 231, juris Rn. 10). Das Abwägungsergebnis ist schließlich darauf zu prüfen, ob mit der Planung der Windenergie substanziell Raum gegeben wird (stRspr seit BVerwG, Urteil vom 17.12.2002 - 4 C 15.01 - BauR 2003, 828, juris Rn. 29).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="38"/>In einem frühen Abschnitt der Planung, der in der Regel durch den Planaufstellungsbeschluss und insoweit von dem Anliegen gekennzeichnet ist, überhaupt Konzentrationsflächen auszuweisen und die Errichtung von Windenergieanlagen an anderen Stellen auszuschließen, können wegen der in der Regel umfangreichen Ermittlungserfordernisse und besonderen Offenheit der Planung (vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 17.12.2020 - 8 B 1317/20 - BauR 2021, 675, juris Rn. 8, 22; vgl. zu den Anforderungen an die Planung von Konzentrationszonen für die Windenergienutzung VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.10.2020 - 3 S 526/20 - ZNER 2020, 570, juris Rn. 32 f.) kaum verlässliche Aussagen dazu getroffen werden, ob ein Standort einer geplanten Anlage inner- oder außerhalb einer solchen künftigen Konzentrationsfläche liegt. Die gerade als solche durch § 15 Abs. 3 BauGB und Art. 28 GG, Art. 71 LV geschützte Planung steht einem Verständnis der Norm (so aber BayVGH, Beschlüsse vom 22.03.2012 - 22 CS 12.349 u. a. - BauR 2012, 1217, juris Rn. 10, und vom 20.03.2015 - 22 CS 15.58 - juris Rn. 36 f.; OVG B.-Bbg., Beschluss vom 01.02.2017 - OVG 11 S 31.16 - juris Rn. 15 f., und im Anschluss daran Stock in Ernst u.a., BauGB, § 15 Rn. 85 m. w. N.) entgegen, wonach von vornherein eine räumliche Konkretisierung der beabsichtigten Festlegung von Konzentrationszonen zu verlangen sei (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.12.2020 - 8 B 1317/20 - BauR 2021, 675, juris Rn. 14 f.). In diesem Stadium sind an den Nachweis des Sicherungserfordernisses deshalb keine besonders hohen Anforderungen zu stellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="39"/>Erst in späteren Planungsstadien verdichtet sich die gemeindliche Planung typischerweise. Im Einzelfall können dann, ohne dass dies angesichts eines bis zuletzt grundsätzlich offenen Abwägungsprozesses (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.10.2020 - 3 S 526/20 - ZNER 2020, 570, juris Rn. 39 f.) stets und in jeder Hinsicht der Fall sein müsste, auch konkretere Aussagen dazu möglich sein, ob der Standort einer geplanten Anlage inner- oder außerhalb einer künftigen Konzentrationsfläche liegt. Erst bei hinreichender Verlässlichkeit einer solchen alternativen Zuordnung muss sich auch ein im Rahmen von § 15 Abs. 3 BauGB geltend gemachtes Sicherungsbedürfnis an ihr messen lassen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="40"/>Gemessen an Vorstehendem ist der Antragsgegner zu Recht von einem Sicherungsbedürfnis ausgegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="41"/>Die Planung des Beigeladenen hat sich auch zum hier maßgeblichen Zeitpunkt noch in einem Stadium befunden, das mit Blick auf die grundsätzliche Offenheit des Abwägungsprozesses verlässliche Rückschlüsse in Bezug auf die Vorhabengrundstücke nicht zugelassen hat. Dies gilt, obwohl die Planung des Beigeladenen erstmals bereits mit Aufstellungsbeschluss vom 11.06.2012 in die Wege geleitet und als solche mit der 8. Änderung des Flächennutzungsplans vom 25.07.2018 umgesetzt wurde. Denn die Gründe für die Aufhebung der 8. Änderung des Flächennutzungsplans vom 25.07.2018 durch den Verwaltungsgerichtshof, wie sie sich aus dem Urteil vom 13.10.2020 - 3 S 526/20 - ergeben, betreffen insbesondere unter den Gesichtspunkten der mangelhaften Abgrenzung von harten und weichen Tabuzonen die Planung insgesamt und grundsätzlich und damit in einer Weise, die eine vollständige, jedenfalls weitgehende Neuplanung erfordert hat. Zum maßgeblichen Zeitpunkt befand sich die Planung deshalb nicht in einem fortgesetzten und damit weitgediehenen Stadium, in dem sie letztlich nur noch abschließender Feinjustierung bedurfte, sondern in einem – trotz der vergangenen Zeit – eher frühen Stadium, in dem zunächst grundlegende Weichen gestellt werden mussten. Hinzu kommt, dass auch die der Planung ursprünglich zu Grunde gelegten Erkenntnisse angesichts des zwischenzeitlich vergangenen Zeitraums nicht ohne Weiteres fortverwendet werden konnten (vgl. Lau in Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 3. Aufl., § 44 Rn. 13, 18). Auf sich hieraus ergebenden Aufwand deutet auch die im Protokoll der Sitzung der Verbandsversammlung vom 27.07.2021 wiedergegebene Stellungnahme eines Mitarbeiters des beauftragten Planungsbüros hin, ausweislich derer die Ergebnisflächen des Artenschutzes neu bewertet werden müssten, u. a. weil Biologen die Situation des Rotmilans neu überprüfen müssten. Auch der Zurückstellungsantrag wurde unter Bezugnahme darauf begründet, dass noch verschiedene Gutachten beauftragt worden seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="42"/>Der Antragsgegner konnte hier deshalb ohne Weiteres davon ausgehen, dass die Flächennutzungsplanung bei Erteilung der Vorbescheide jedenfalls erschwert würde, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die Vorhabengrundstücke außerhalb der künftigen Konzentrationsfläche liegen. Vor diesem Hintergrund bedurfte es entgegen der Auffassung der Antragstellerin keiner differenzierten Darlegung der jeweiligen Konfliktlagen in Bezug auf beide Vorhaben. Dass diese in Bereichen lagen, die unvermeidlich als Konzentrationszone auszuweisen waren, ließ sich zum maßgeblichen Zeitpunkt angesichts der Offenheit des planerischen Prozesses entgegen dem umfangreichen Vorbringen der Antragstellerin gerade noch nicht verlässlich prognostizieren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="43"/>dd) Darüber hinaus ist der Antragsgegner voraussichtlich auch zu Recht nicht von einer sog. „Verhinderungsplanung“ ausgegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="44"/>Einer Gemeinde ist es nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB verwehrt, den Flächennutzungsplan als Mittel zu benutzen, um die Errichtung von Windkraftanlagen unter dem Deckmantel der Steuerung in Wahrheit zu verhindern. Mit einer bloßen „Feigenblatt"-Planung darf sie es nicht bewenden lassen. Sie muss deshalb der Privilegierungsentscheidung des Gesetzgebers Rechnung tragen und für die Windenergienutzung in substanzieller Weise Raum schaffen (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.12.2002 - 4 C 15.01 - BVerwGE 117, 287, juris Rn. 29, vom 21.10.2004 - 4 C 2.04 - BVerwGE 122, 109, juris Rn. 13, und vom 13.12.2012 - 4 CN 1.11 - BVerwGE 145, 231, juris Rn. 18). Der in der Aufstellung befindliche Flächennutzungsplan ist im Rahmen einer Zurückstellungsentscheidung nach § 15 Abs. 3 BauGB aber nicht im Wege einer „antizipierten Normenkontrolle“ voll an diesem Maßstab zu messen. Die Rechtmäßigkeit einer Zurückstellungsentscheidung hängt nicht davon ab, ob bereits die Voraussetzungen erfüllt sind, die für eine wirksame Ausweisung einer Konzentrationszone im noch aufzustellenden Flächennutzungsplan vorliegen müssen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnZW 2018, 469, juris Rn. 42; OVG NRW, Beschlüsse vom 11.03.2014 - 8 B 1339/13 - juris Rn. 21 - 25, vom 26.04.2018 - 8 B 362/18 - juris Rn. 18 und 24; Sennekamp in Brügelmann, BauGB, § 15 Rn. 77; Rieger, ZfBR 2012, 430, 433; ders. in Schrödter, BauGB, § 15 Rn. 23). Denn erst wenn das Planungsverfahren abgeschlossen ist, kann beurteilt werden, ob das Ergebnis – der Flächennutzungsplan – wirksam ist. Daher geht es zu weit, wenn für das Vorliegen einer nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB sicherungsfähigen Planung verlangt wird, es müsse absehbar sein, dass der Windenergienutzung in substanzieller Weise Raum gegeben werde, wobei die kritische Prüfung der Rechtfertigung „weicher“ Ausschlusskriterien immer strenger werde, je mehr im Laufe der Planung die Potentialflächen aufgrund „harter“ Ausschlussfaktoren reduzierten (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnZW 2018, 469, juris Rn. 42; so aber BayVGH, Beschlüsse vom 24.10.2013 - 22 CS 13.1775 - juris Rn. 19 und 21 und vom 20.4.2012 - 22 CS 12.310 - juris Rn. 16 und 22).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="45"/>Das Sicherungsbedürfnis nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB fehlt vor diesem Hintergrund nur dann, wenn bereits im Planaufstellungsverfahren offensichtlich ist, dass es sich um eine Verhinderungsplanung oder „Feigenblatt“-Planung handelt oder vorhandene Mängel im Rahmen des noch nicht abgeschlossenen Abwägungsprozesses schlechterdings nicht behebbar sind. Anzunehmen ist das etwa für eine Planung, die sich von Anfang an offensichtlich darauf beschränkt, ungeeignete – da nicht hinreichend windhöffige oder sonst tatsächlich nicht nutzbare – Flächen für die Nutzung der Windenergie in den Blick zu nehmen, oder die offensichtlich nicht vollzugsfähig sein wird. Dies entspricht der Rechtslage bei der Veränderungssperre, die als Sicherungsmittel nur dann ungeeignet ist, wenn sich das aus dem Aufstellungsbeschluss ersichtliche Planungsziel im Wege planerischer Festsetzung nicht erreichen lässt, wenn der beabsichtigte Bauleitplan einer positiven Planungskonzeption entbehrt und der Förderung von zielen dient, für deren Verwirklichung die Planungsinstrumente des Baugesetzbuchs nicht bestimmt sind, oder wenn rechtliche Mängel schlechterdings nicht behebbar sind (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnWZ 2018, 469, juris Rn. 43 m. w. N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="46"/>Gemessen daran kann von einer Verhinderungsplanung nicht ausgegangen werden. Der Beigeladene hat sich erkennbar von der Zwecksetzung einer wirksamen Außenbereichssteuerung der Windenergie leiten lassen. Hierzu hat er entsprechend den bauplanungsrechtlichen Vorgaben und der Maßgaben des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 13.10.2020 - 3 S 526/20 - die teilweise Ermöglichung von Windenergie in den Blick genommen, um ihren gleichzeitigen Ausschluss in anderen Bereichen zu bewirken. So heißt es in der Vorlage zur Sitzung der Verbandsversammlung vom 21.04.2021, dass eine Ausschlusswirkung für Windenergieanlagen an zu definierenden Stellen und Bereichen im Gebiet des Beigeladenen unter Beachtung des Grundsatzes erreicht werden solle, der Windkraft ausreichend Raum zu verschaffen. Dabei müssten die Prüfschritte, wie sie im genannten Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vorgegeben seien, beachtet werden. Auch im Protokoll der Verbandsgemeindesitzung vom 21.04.2021 wird – die erläuternde Stellungnahme des Verbandsvorsitzenden wiedergebend, das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs sinngemäß aufgreifend – ausgeführt, der Windkraft müsse ausreichend Raum verschafft werden, daran müsse sich die Planung letztlich messen lassen. Auch die E-Mail eines Mitarbeiters des beauftragten Planungsbüros vom 02.09.2021, in der die dort abzuarbeitenden Schritte unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs näher beschrieben werden, zeugt von der Bereitschaft zu einer rechtskonformen Planung. Entsprechende Rückschlüsse lässt auch das Protokoll von der Sitzung des Gemeindeverwaltungsverbands vom 27.07.2021 zu, in der der genannte Mitarbeiter hinsichtlich der maßgeblichen Kriterien der Flächennutzungsplanung erneut auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Bezug genommen und hervorgehoben hat, dass der gesetzliche Auftrag, der Windkraft substantiell Raum zu verschaffen, zu erfüllen sei. Dass, worauf die Antragstellerin hinweist, in den Vorlagen zu den Sitzungen der Verbandsversammlung vom 21.04.2021 und vom 27.07.2021 jeweils ausdrücklich ausgeführt wird, dass die durch das Urteil vom 13.10.2020 bewirkte Privilegierung von Windenergieanlagen im gesamten Verbandsgebiet nicht im Sinne der Verbandsmitglieder sein könne, führt zu keiner anderen Bewertung. Vor der hinreichend erkennbaren Bereitschaft zu rechtskonformer Planung bringt die zitierte Passage nur das – zulässige – Anliegen des Beigeladenen zum Ausdruck, die Entwicklung der Windkraft auf seinem Gebiet im Wege der Flächennutzungsplanung steuern zu wollen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="47"/>Auch die zeitlichen Abläufe lassen den Schluss auf eine bloß vorgeschobene, nicht ernsthaft verfolgte Flächennutzungsplanung nicht zu. Insbesondere lässt sich die Behauptung der Antragstellerin, dass der Beigeladene seine Planung erst nach Kenntnis von deren Vorhaben in die Wege geleitet habe, nicht erhärten. Vielmehr hat der Beigeladene seine Planung bereits seit dem Jahr 2012 betrieben, als er die Aufstellung der später vom Verwaltungsgerichtshof (teilweise) aufgehobenen 8. Änderung des Flächennutzungsplans beschloss. Auch nachdem das Urteil vom 13.10.2020 rechtkräftig geworden war, hat der Beigeladene seinen Überlegungen nicht erkennbar erst aus Anlass der Vorbescheidsanträge der Antragstellerin einen Fortgang gegeben, sondern sich ausweislich der Akte den Antragsgegner bereits vor dem 21.04.2021 mit der Frage befasst, ob eine Steuerung der Windenergie auch auf anderem Wege möglich sei („isolierte Positivplanung nach § 249 Abs. 1 BauGB“). Auch die Beschlussvorlage für die Sitzung der Verbandsversammlung am 21.04.2021 wurde ausweislich der Akten bereits am 12.04.2021 und damit zu einem Zeitpunkt vorbereitet, zu dem es in den immissionsschutzrechtlichen Verfahren noch zu keiner förmlichen Beteiligung der Gemeinde Dörzbach gekommen war. Unabhängig davon wäre es dem Beigeladenen aber auch nicht verwehrt gewesen, aus Anlass von Vorbescheidsanträgen Planungsvorstellungen erst zu entwickeln oder – wie hier – seine in der Vergangenheit bereits erfolglos konkretisierten Vorstellungen durch Fassung eines Aufstellungsbeschlusses aufzugreifen und fortzuführen (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnZW 2018, 469, juris Rn. 33; davon ebenfalls ausgehend NdsOVG, Beschluss vom 14.02.2022 -12 MS 172/21 – BauR 2022, 1034, juris Rn. 25).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="48"/>Der weitere Einwand der Antragstellerin, zum hier maßgeblichen Zeitpunkt sei bereits offensichtlich gewesen, dass die Flächennutzungsplanung nicht binnen zwei Jahren – der durch Zurückstellungsentscheidungen höchstens zu gewinnenden Zeit – würde zu Ende gebracht werden können, begründet ebenfalls keine Verhinderungsplanung. Der Senat teilt diesen Einwand schon in tatsächlicher Hinsicht nicht. Gerade die Planung einer Windkraftkonzentrationszone erfordert häufig eine Vielzahl aufwändiger und vielschichtiger Planungs- und Verfahrensschritte, die die Zeitspanne von einem Jahr auch nach der Einschätzung des Gesetzgebers als knapp bemessen und in der Regel für eine ausgewogene Planung zu kurz erscheinen lässt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnWZ 2018, 469, juris Rn. 31). Ausgehend von einer solchermaßen komplexen Planung fehlt es hier an hinreichend deutlichen Anhaltspunkten dafür, dass ihr Abschluss binnen zwei Jahren offensichtlich, also von vornherein unter jedem erdenklichen Gesichtspunkt, ausgeschlossen war. Soweit ein Mitarbeiter des beauftragten Planungsbüros in der Sitzung der Verbandsversammlung des Beigeladenen am 27.07.2021 vorgetragen hatte, dass „für dieses Abarbeiten der Planungen, bzw. die Erstellung dieser Gutachten und dieser Beobachtungen mindestens ein Zeitraum von zwei Jahren notwendig sei“, lassen diese Angaben den von der Antragstellerin gezogenen Schluss nicht zu. Insbesondere bleiben die Grundlagen und Bedingungen dieser Einschätzung vollständig im Vagen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="49"/>ee) Die Rechtmäßigkeit der Zurückstellungsentscheidung wird hier, jenseits der Antragsfrist von sechs Monaten (siehe dazu II. 3. b) aa)) und einem dem Verbot der Verhinderungsplanung ggf. auch innewohnenden zeitlichen Moment (siehe dazu II. 3. b) dd)), nicht durchgreifend durch das Vorbringen der Antragstellerin dazu in Frage gestellt, der Beigeladene unterliege bei seiner Flächennutzungsplanung jedenfalls im Anwendungsbereich des § 15 Abs. 3 BauGB einer besonderen Beschleunigungsverpflichtung. Mit der Antragsfrist von sechs Monaten ab Kenntnis, der Höchstdauer der Zurückstellung von einem Jahr sowie einer durch das Erfordernis der besonderen Umstände eingeschränkten Verlängerungsmöglichkeit von ebenfalls einem Jahr (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnZW 2018, 469, juris Rn. 30 f.) trägt die genannte Norm bereits erkennbar selbst dem Bedürfnis nach zeitlicher Straffung der Abläufe Rechnung. Innerhalb der sich daraus ergebenden zeitlichen Grenzen räumt sie dem gemeindlichen Planungswillen allerdings den Vorrang gegenüber den betroffenen Vorhaben ein. Dies steht der von der Antragstellerin insoweit geltend gemachten zusätzlichen Beschleunigungsverpflichtung – etwa aus Art. 20a GG – entgegen. Auch wenn die grundsätzliche Justiziabilität der zuletzt genannten Norm nicht (mehr) in Frage steht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.03.2021 - 1 BvR 2656/18 u.a. - BVerfGE 157, 30, juris Rn. 112, 205) und ihr eine unmittelbare Verpflichtung der Verwaltung gerade in Bereichen zu entnehmen sein kann, in denen diese – wie etwa auch bei der Verfahrensführung – ein Raum frei von normativer Programmierung belassen ist (vgl. Gärditz in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 97. EL, Art. 20a GG, Rn. 50), so kann sie ihre Wirkungen von vorneherein nur dort entfalten, wo das Fachrecht – anders als hier – keine entgegenstehende Regelung trifft. Vor diesem Hintergrund kommt es hier insbesondere nicht darauf an, ob der Planungsstand zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits hätte konkreter sein können, weil die jeweils nächsten Planungsschritte (Planaufstellungsbeschluss, Beauftragung des Planungsbüros) hypothetisch jeweils schneller hätten eingeleitet werden können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="50"/>ff) Dem Antragsgegner war eine (positive) Entscheidung über den Zurückstellungsantrag auch nicht etwa deshalb verwehrt, weil die Anträge der Antragstellerin auf immissionsschutzrechtliche Vorbescheide, wie diese geltend macht, bescheidungsreif gewesen seien. Ein – wie hier – zulässiger und begründeter und damit subjektiv-rechtlich unterlegter Zurückstellungsantrag dürfte der Erteilung eines immissionsschutzrechtlichen Vorbescheids vielmehr sogar entgegenstehen (vgl. zur Rechtswidrigkeit eines fingierten Bauvorbescheids, der trotz Zurückstellungsantrags ergangen war, HessVGH, Beschluss vom 10.07.2009 - 4 B 426/090 - NVwZ-RR 2009, 790, 791; ferner Hornmann in Spannkowsky/Uechtritz, BauGB, 55. Edition, § 15 Rn. 53a), und zwar auch dann, wenn das immissionsschutzrechtliche Verfahren zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags bereits entscheidungsreif ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="51"/>c) Die allerdings defizitär festgesetzte Jahresfrist rechtfertigt die Wiederher-stellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Zurückstellungsbescheid insoweit, als darin eine über den 30.09.2022 hinausweisende Zurückstellungsdauer von einem Jahr ab Zustellung verfügt worden ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="52"/>Die Behörde hat die Verfahren über die Anträge auf immissionsschutzrechtliche Vorbescheide gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB „für einen Zeitraum bis zu längstens einem Jahr nach Zustellung der Zurückstellung des Baugesuchs auszusetzen“. Auf diesen Zeitraum ist gemäß § 15 Abs. 3 Satz 2 BauGB die Zeit zwischen dem Eingang des Baugesuchs bei der zuständigen Behörde bis zur Zustellung der Zurückstellung des Baugesuchs nicht anzurechnen, soweit der Zeitraum für die Bearbeitung des – hier immissionsschutzrechtlichen – Gesuchs erforderlich ist. Daraus folgt, dass eine angemessene Bearbeitungszeit für den konkreten Antrag nicht zu einer Verkürzung der Zurückstellungsdauer führt, eine über diesen Zeitraum hinausgehende Verzögerungen hingegen schon (vgl. Rieger in Schrödter, BauGB, 9. Aufl., § 15 Rn. 15). Welche Bearbeitungsdauer des „Baugesuchs“ im Einzelfall gerechtfertigt ist und welche Zeiten entsprechend anzurechnen sind, entzieht sich, sofern gesetzliche Regelungen fehlen, einer verallgemeinerungsfähigen Festlegung (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11.03.2014 - 8 B 1339/13 - juris Rn. 32; Rieger in Schrödter, BauGB, 9. Aufl., § 15 Rn. 15).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="53"/>Dem hier maßgeblichen Fachrecht lassen sich allerdings normative Vorgaben für eine Bearbeitungsdauer entnehmen, die für die Konkretisierung der Erforderlichkeit eines Zeitraums für die Bearbeitung herangezogen werden können (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 14.02.2022 - 12 MS 172/21 - BauR 2022, 1034, juris Rn. 45 ff.). So enthält das Immissionsschutzrecht in den § 7 Abs. 1 Satz 1 bis 3 und § 20 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 der hier (gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 der 9. BImSchV und § 1 Abs. 1 Satz 1 der 4. BImSchV i. V. m. Nr. 1.6.2 des Anhangs 1) einschlägigen Verordnung über das Genehmigungsverfahren (9. BImSchV) sowie in dem § 10 Abs. 6a Satz 1 2. Alt. und Satz 2 BImSchG (angesichts der Anordnung des vereinfachten Verfahrens in § 2 Abs. 1 Nr. 2 der 4. BImSchV i. V. m. Nr. 1.6.2 des Anhangs 1) zeitliche Vorgaben für das Verwaltungsverfahren. Diese Vorgaben knüpfen an unterschiedliche „Reifegrade“ des (Vorbescheids-)Antrags an. Während sich § 20 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 der 9. BImSchV (erst) auf den inhaltlich und § 20 Abs. 1 Satz 2 der 9. BImSchV auf den verfahrensrechtlich bescheidungsreifen Antrag beziehen, betrifft § 10 Abs. 6a Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 BImSchG den mit – im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 1 BImSchG – vollständigen Unterlagen versehenen (vollständigen) Antrag. § 7 Abs. 1 Satz 1 bis 3 der 9. BImSchV verpflichtet die Behörde hingegen, ohne dass es auf eine irgendwie geartete Vollständigkeit des Antrags ankäme (so auch NdsOVG, Beschluss vom 14.02.2022 - 12 MS 172/21 - BauR 2022, 1034, juris Rn. 46).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="54"/>Die vorstehend genannten zeitlichen Vorgaben für das immissionsschutzrechtliche Verfahren dürften hier zwar überwiegend nicht in einer im Sinne von § 15 Abs. 3 Satz 2 BauGB nicht erforderliche Bearbeitungszeiten begründenden Weise verletzt sein. Soweit etwa eine unverzügliche Entscheidung durch den Antragsgegner (§ 20 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 der 9. BImSchV) verlangt wird, ist insbesondere der von der Gemeinde Dörzbach frühzeitig bereits mit Schreiben vom 12.05.2021 angekündigte und noch hinnehmbar bis zum 29.07.2021 verzögerte Zurückstellungsantrag des Beigeladenen zu berücksichtigen, den der Antragsgegner mit Schreiben vom 21.07.2021 an die um Stellungnahme gebetene Gemeinde Dörzbach auch ausdrücklich angemahnt hatte. Auch fehlt es an Anhaltspunkten für eine Verletzung von § 7 Abs. 1 Satz 1 bis Satz 3 der 9. BImSchV, so dass insoweit die Frage dahinstehen kann, ob eine solche überhaupt im Sinne von § 15 Abs. 3 Satz 2 BauGB nicht erforderliche Bearbeitungszeiten begründen kann (tendenziell ablehnend vgl. NdsOVG, Beschluss vom 14.02.2022 - 12 MS 172/21 - BauR 2022, 1034, juris Rn. 47).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="55"/>Aus Sicht des Senats spricht derzeit aber Überwiegendes für eine Verletzung von § 10 Abs. 6a Satz 1 2. Alt, Satz 2 BImSchG für der Zeit nach dem 30.09.2021 bis zum 26.10.2021. Danach ist über den Genehmigungsantrag nach Eingang des Antrags und der nach Absatz 1 Satz 2 einzureichenden Unterlagen in vereinfachten Verfahren innerhalb einer Frist von drei Monaten zu entscheiden. Die zuständige Behörde kann die Frist um jeweils drei Monate verlängern, wenn dies wegen der Schwierigkeit der Prüfung oder aus Gründen, die dem Antragsteller zuzurechnen sind, erforderlich ist. Die daraus folgende Verpflichtung dürfte der Antragsgegner hier in der Zeit nach dem 30.09.2021 verletzt haben, indem er bis dahin weder eine Entscheidung getroffen noch eine (ausdrückliche) Verlängerung verfügt hatte. Denn die Unterlagen dürften bereits ab dem 30.06.2021 – und nicht erst, wie offenbar vom Antragsgegner angenommen, ab dem 21.07.2021 – im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 1 BImSchG vollständig gewesen sein. Die am 08.04.2021 gestellten Vorbescheidsanträge waren zunächst im genannten Sinne unvollständig. Den vom Antragsgegner (in Bezug auf den Schallschutz) gerügten Defiziten der Antragsunterlagen hat auch die Antragstellerin nichts entgegengesetzt. Eine Vollständigkeit der Antragsunterlagen vor dem 30.06.2021 folgt auch nicht etwa daraus, dass deren Unvollständigkeit nur den Schallschutz und nicht die Frage der Außenbereichsverträglichkeit betraf. Von einer auf die Außenbereichsvereinbarkeit bezogenen, die Pflicht nach § 10 Abs. 6a Satz 1 2. Alt. BImSchG gesondert auslösenden Teilvollständigkeit des Vorbescheidsantrags kann in Anbetracht der Stellung von jeweils nur einem gemeinsamen Vorbescheidsantrag nicht ausgegangen werden. Die hiernach zunächst bestehende Unvollständigkeit der Antragsunterlagen dürfte die Antragstellerin aber, wovon auch die Beteiligten auszugehen scheinen, durch Rücknahme des jeweils unvollständigen Teils behoben haben. Eine – formlos zulässige (vgl. Frenz in Kotulla, BImSchG, § 10 Rn. 43; Czajka in Feldhaus, BImSchG, § 10 Rn. 26; Dietlein in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 97. EL, BImSchG § 10 Rn. 40; Roßnagel/Hentschel in Führ, GK-BImSchG, 2. Aufl., § 10 Rn. 141) – Erklärung hierüber ging entgegen der Auffassung des Antragsgegners aber bereits mit E-Mail vom 30.06.2021 bei ihm ein – und nicht erst mit Schreiben vom 20.07.2021, eingegangen am Folgetag. Bereits in der genannten E-Mail teilte die Antragstellerin nämlich mit, die Frage zum Schallschutz zur Vermeidung weiterer Verzögerungen erst zurückstellen zu wollen und zu einem späteren Zeitpunkt fortzuführen, so dass „aktuell nur“ noch insoweit Vorbescheide begehrt würden, als es um die Außenbereichsvereinbarkeit der Vorhaben gehe. Weshalb der Antragsgegner auf diese unbedingte und unmissverständliche Erklärung ausweislich einer E-Mail vom selben Tage zunächst davon ausging, ein alleiniges Zurückstellen bezüglich des Themas Schallschutz sei nicht möglich, erschließt sich dem Senat auch in Anbetracht der hier immissionsschutzrechtlich verankerten Dispositionsmaxime (vgl. § 22 Nr. 2 2. Alt. LVwVfG i. V. m. § 10 Abs. 1 Satz 1 BImSchG) nicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="56"/>Dieser Verstoß dürfte auch im Rahmen von § 15 Abs. 3 Satz 2 BauGB beachtlich sein. Denn ein Handeln der Behörde entgegen dem auf eine Beschleunigung des Verfahrens zielenden und damit dem Interesse des Antragstellers an einer zeitnahen Bescheidung dienenden (vgl. Dietlein in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 97. EL, BImSchG § 10 Rn. 241) § 10 Abs. 6a BImSchG ist rechtswidrig (vgl. Jarass, BImSchG, 13. Aufl., § 10 Rn. 124). Anerkanntermaßen findet der Verstoß gerade auch im Rahmen von strukturell dem § 15 Abs. 3 Satz 2 BauGB ähnlichen Regelungen – insbesondere § 75 VwGO – Beachtung (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 05.12.2018 - 2 L 47/16 - juris Rn. 85; NdsOVG, Beschluss vom 02.06.2004 - 7 OB 97/04 - NVwZ-RR 2004, 825, juris Rn. 2 f.; vgl. ferner Dietlein in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 97. EL, BImSchG § 10 Rn. 244). Auch kann jedenfalls in der vorliegenden Konstellation, in der es erst nach der Stellung des Zurückstellungsantrags zu einer Verzögerung gekommen ist, von keiner Verlagerung der „Sanktion“ auf einen unbeteiligten Dritten die Rede sein (vgl. dazu NdsOVG, Beschluss vom 14.02.2022 - 12 MS 172/21 - BauR 2022, 1034, juris Rn. 47).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="57"/>Das hiernach zu Grunde zu legende Defizit führt allerdings nicht dazu, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nicht nur zeitlich geteilt, sondern insgesamt wiederherzustellen wäre. Dies gilt selbst dann, wenn man insoweit von einem Ermessensfehler in Gestalt einer Ermessensüberschreitung ausginge, weil ein – durch die Norm wohl grundsätzlich gewährter (so auch NdsOVG, Beschluss vom 14.02.2022 - 12 MS 172/21 - BauR 2022, 1034, juris Rn. 68, a. A. Stock in Ernst u.a., BauGB, 145. EL, § 15 Rn. 98) – Ermessensspielraum hinsichtlich der Bemessung der Zurückstellungsfrist verletzt worden wäre. Gegen einen solchen Ermessenspielraum ließe sich hier freilich nicht nur grundsätzlich anführen, dass die in § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB vorgesehene Höchstfrist erkennbar vor allem dem Ausschluss längerer Zurückstellungen dienen soll; im konkreten Fall müsste zudem auch berücksichtigt werden, dass der die Zurückstellung beantragende Planungsträger ein subjektives Recht geltend macht und seine Planung erkennbar nicht, auch nach dem Vorbringen der Antragstellerin, binnen Jahresfrist abgeschlossen werden konnte. Unabhängig davon stünde aber auch der Ermessenscharakter der Entscheidung einer zeitlichen Teilbarkeit nicht entgegen. Denn es kann ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass der Antragsgegner in Kenntnis des genannten Defizits die stattdessen zulässige Höchstfrist verfügt hätte (vgl. Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 113 Rn. 162) und die Heilung des Fehlers im Widerspruchsverfahren erfolgen würde (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl., § 80 Rn. 109).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="58"/>d) Soweit sich der Zurückstellungsbescheid vom 21.10.2021 bei summarischer Prüfung als rechtmäßig erwiesen hat, kann auch in der Sache vom Fortbestand eines besonderen Vollziehungsinteresses ausgegangen werden. Insoweit überwiegt das Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung des Zurückstellungsbescheids das Interesse der Antragstellerin, von dieser verschont zu bleiben. Damit kommt dem Umstand, dass § 15 Abs. 3 BauGB den Vorrang der Planungshoheit vor der Verwirklichung einzelner Windenergievorhaben anordnet, eine besondere Bedeutung zu (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 01.12.2021 - 8 B 1541/21.AK - ZNER 2022, 94, juris Rn.49). Dieser regelhafte Vorrang gilt gerade auch in Anbetracht des erheblichen öffentlichen Interesses an der zeitnahen Verwirklichung von Windenergievorhaben und jüngerer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.03.2021 - 1 BvR 2656/18 - ZNER 2021, 262 juris). So hat der Gesetzgeber auch im Angesicht der genannten Entwicklungen an § 15 Abs. 3 BauGB über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes zur Erhöhung und Beschleunigung des Ausbaus der Windenergieanlagen an Land vom 20.07.2022 (BGBl I S. 1353) grundsätzlich (vgl. dazu Kment, NVwZ 2022, 1153, 1158 mit Einzelheiten) festgehalten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="59"/>Im Übrigen sind auch keine Gründe ersichtlich, die das Vollziehungsinteresse ausnahmsweise nachträglich hätten entfallen lassen können. Dies gilt insbesondere insoweit, als die Verwirklichung der Planung in der höchstens (vgl. § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB) noch zur Verfügung stehenden Zeit nicht offensichtlich ausgeschlossen ist (dahingehend OVG NRW, Beschluss vom 18.07.2020 - 8 B 293/20 - ZNER 2020, 345, juris Rn. 12). Soweit die Antragstellerin dies unter Bezugnahme insbesondere auf die Angaben eines Mitarbeiters des Planungsbüros geltend macht sowie auf mangelnde eigenen Erkenntnisse zu der Frage verweist, ob die Planung zwischenzeitlich weiter vorangetrieben worden ist, hat der Beigeladene mit Schriftsatz vom 07.09.2022 entgegen der von der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 12.09.2022 geäußerten Auffassung ausreichend substantiiert und differenziert unter Erläuterung des aktuellen Stands und der zeitnah und im Laufe der kommenden Monate zu ergreifenden Planungsschritte dargelegt, dass auch unter Berücksichtigung eventuellen Änderungsbedarfs spätestens im Herbst 2023 mit einem Inkrafttreten des Flächennutzungsplans zu rechnen sei. Auch soweit die Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 12.09.2022 einwendet, es sei hinsichtlich des Rotmilans von einer Erfassungszeit bis Mitte Juli 2023 auszugehen, verblieben noch mehrere Monate bis zum genannten Zeitpunkt. In Anbetracht dessen kann von offensichtlich binnen der zur Verfügung stehenden Zeit nicht abzuschließender Planung keine Rede sein. Auch an Anhaltspunkten dafür, dass eine Verlängerung der Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 Satz 4 BauGB deshalb nicht in Betracht kommen könnte, weil die Verantwortung für die verzögerte Verfahrensführung beim Beigeladenen liegt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - EnZW 2018, 469, juris Rn. 27 f.; OVG NRW, Beschluss vom 18.07.2020 - 8 B 293/20 - ZNER 2020, 345, juris Rn. 13), fehlt es. Gleiches gilt, soweit die streitgegenständlichen Vorhabenstandorte nach aktuellem Planungsstand jeweils innerhalb der geplanten Konzentrationsfläche liegen (OVG NRW, Beschluss vom 01.12.2021 - 8 B 1541/21.AK - ZNER 2022, 94, juris Rn. 51 f. m. w. N.). Denn dieser Planungsstand harrt derzeit der Befassung der maßgeblichen Gremien. Ggf. müssen auch noch weitere Erkenntnisse in die Planung eingespeist werden. Aus diesem Grund kann eine hinreichend verlässliche Prognose derzeit noch nicht getroffen werden kann.</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><blockquote><table style="margin-left:14pt"><tr><td>III.</td></tr></table></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="60"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Ihr liegt zu Grunde, dass die Antragstellerin in zeitlicher Hinsichtlich lediglich im Umfang von ungefähr 1/10 obsiegt. Es entsprach zudem auch nicht der Billigkeit, den anderen Beteiligten die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen gemäß § 162 Abs. 3 VwGO aufzuerlegen. Denn der Beigeladene, der keinen Antrag gestellt hatte, war kein Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO eingegangen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="61"/>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG in Verbindung mit Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Dabei geht der Senat davon aus, dass der Streitwert eines Hauptsacheverfahrens gegen die Zurückstellung eines Antrags auf immissionsschutzrechtlichen Vorbescheid – ebenso wie bei der Zurückstellung eines Genehmigungsantrags – 1 % der Investitionssumme beträgt (ebenso: OVG NRW, Beschlüsse vom 11.03.2014 - 8 B 1339/13 - juris Rn. 35, vom 18.12.2014 - 8 B 646/14 - juris Rn. 31, vom 02.06.2015 - 8 B 178/15 - juris Rn. 46, vom 26.04.2018 - 8 B 362/18 - juris Rn. 35 und vom 11.10.2018 - 5 S 1398/18 - juris Rn. 57; VG Freiburg, Beschluss vom 05.07.2015 - 3 K 517/15 - juris Rn. 28; a. A. BayVGH, Beschluss vom 20.03.2015 - 22 CS 15.58 - juris Rn. 47, der von 5 % der Investitionssumme ausgeht). Der für das Hauptsacheverfahren anzusetzende Betrag ist zu halbieren, weil es sich hier um ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes handelt. Der Antragsteller hat angegeben, die Herstellungskosten der Windenergieanlagen betrügen 16,4 Millionen Euro. Damit ist als Hauptsachestreitwert von einem Betrag von 164.000 Euro auszugehen, welcher für das Eilverfahren zu halbieren ist.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="62"/>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</td></tr></table><table style="margin-left:3pt"><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
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<div>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p>
</div>
<h2>Tatbestand</h2>
<div>
<p><rd nr="1"/>Der Kläger, moldauischer Staatsangehöriger, nach eigenen Angaben dem Volk der Roma zugehörig und christlich-orthodoxen Glaubens, reiste nach eigenen Angaben am 30. Juli 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. September 2021 einen Asylantrag.</p>
<p><rd nr="2"/>Im Rahmen der persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 21. Oktober 2021 trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er in der Ukraine und in Usbekistan als Erntehelfer gearbeitet habe. Vor der Ausreise aus Moldau habe er in … im Haus seiner Großmutter zusammen mit seinen Eltern, seinem Bruder und dessen Frau, seinen Großeltern und seinem Onkel väterlicherseits mit dessen Familie gelebt. Fünf Tage vor der Ausreise habe der Onkel sie aus dem Haus der Großmutter geworfen und den Platz für sich beansprucht. In Moldau lebten noch die Großeltern, der Onkel mit seiner Familie und die Großmutter mütterlicherseits. Die Schwester des Klägers sei in der Ukraine. Eine Schule habe der Kläger nicht besucht. Es gebe zwar eine Schulpflicht in Moldau, die Roma würden aber diskriminiert. Warum er im Gegensatz zu seinem Bruder nicht zur Schule gegangen sei, wisse er nicht. Er wisse nur, dass Roma in der Schule nicht gerne angenommen würden. Er habe sich selbst etwas Lesen auf Russisch beigebracht, schreiben könne er nur seinen Namen. Romani könne er lesen, aber nicht schreiben. In Moldau habe er bei der Apfel- und Kartoffelernte geholfen und dafür am Tag 250 MDL (ca. 10 EUR) erhalten.</p>
<p><rd nr="3"/>Nach seinen Asylgründen befragt führte der Kläger aus, dass er in Moldau nach dem Rauswurf durch den Onkel keine Unterkunft gehabt habe. In Moldau sei es sehr schwierig als Roma eine Arbeit zu finden. Roma würden in Moldau diskriminiert. Auf weitere Nachfragen ergänzte der Kläger, dass Roma in Moldau beleidigt und beschimpft würden und ihnen z.B. von Passanten auf der Straße oder in Läden nicht erlaubt werde, Russisch zu sprechen. Der Kläger spreche aber kein Moldauisch. Ihm selbst sei nichts passiert. Früher sei die Diskriminierung nicht so extrem gewesen. Seit Präsidentin Maia Sandu an der Macht sei, sei es schlimmer geworden. Die Bevölkerung von Moldau gehe extremer mit Roma um. Die Anfeindungen gegenüber Roma hätten zugenommen. Der Kläger habe Angst vor den Leuten, die gegenüber Roma feindlich eingestellt seien. Sie könnten sie schlagen. Er könne sich zwar an die Polizei wenden, aber es würde dennoch weiterlaufen. Bisher habe er sich noch nie an die Polizei gewendet. Die Moldauer würden einfach weitermachen, weil sie die Roma nicht akzeptierten. Der Kläger könne sich mit seinen Eltern und seinem Bruder keine eigene Unterkunft suchen, da sie keine finanziellen Mittel hätten.</p>
<p><rd nr="4"/>Mit Bescheid vom 27. Oktober 2021, dem Kläger zugestellt am 3. November 2021, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab (Ziffer 1 bis 3), stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest (Ziffer 4), drohte unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung des Klägers - in erster Linie - in die Republik Moldau an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Auf den weiteren Inhalt des Bescheides wird ergänzend Bezug genommen.</p>
<p><rd nr="5"/>Der Kläger hat am 9. November 2021 Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 27. Oktober 2021 erhoben und beantragt,</p>
<ul>
<li>
<p><span class="aufz">1.</span>Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Oktober 2021 wird aufgehoben.</p>
</li>
<li>
<p><span class="aufz">2.</span>Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihn als Asylberechtigten anzuerkennen,</p>
</li>
<li>
<p><span class="aufz">3.</span>Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.</p>
</li>
<li>
<p><span class="aufz">4.</span>Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.</p>
</li>
</ul>
<p><rd nr="6"/>Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2021,</p>
<p>die Klage wird abgewiesen.</p>
<p><rd nr="7"/>Zur Begründung bezog sie sich auf den angefochtenen Bescheid.</p>
<p><rd nr="8"/>In der mündlichen Verhandlung am 12. September 2022 führte der Kläger ergänzend aus, dass sie in Moldau als Zigeuner diskriminiert würden. Sie würden immer von den anderen beleidigt und beschimpft werden. Wenn sie unterwegs seien, würde man Steine auf sie werfen und sie verfolgen.</p>
<p><rd nr="9"/>Mit Beschluss der Kammer vom 27. Juli 2022 ist der Rechtsstreit der Berichterstatterin zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen worden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte sowie die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 12. September 2022 Bezug genommen.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p><rd nr="10"/>Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten verhandelt und entschieden werden, da sie hierauf bei der Ladung hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).</p>
<p><rd nr="11"/>Die zulässige Klage ist unbegründet.</p>
<p><rd nr="12"/>Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.), die Anerkennung als Asylberechtigter (2.) oder auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes (3.). Soweit die hierauf gerichteten Anträge des Klägers vom Bundesamt als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, bestehen keine rechtlichen Bedenken (4.). Weiter hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (5. und 6.). Auch im Übrigen ist der angefochtene Bescheid rechtmäßig (7.).</p>
<p><rd nr="13"/>1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.</p>
<p><rd nr="14"/>a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten die in § 3a Abs. 1 AsylG genannten Handlungen. Die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe werden in § 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert. Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann ausgehen (Nr. 1) von dem Staat, (Nr. 2) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (Nr. 3) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c AsylG). Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).</p>
<p><rd nr="15"/>Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zu den Rechten, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, gehört Art. 3 EMRK, der Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafen und Behandlungen verbietet. Eine Behandlung ist unmenschlich, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wird und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht; sie ist erniedrigend, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, geeignet, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien u. Griechenland - NVwZ 2011, 413 Rn. 220). Um unter Art. 3 EMRK zu fallen, muss die Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen, das unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles zu beurteilen ist, wie der Dauer der Behandlung, ihrer physischen und psychischen Auswirkungen sowie, in manchen Fällen, des Geschlechts, des Alters und des Gesundheitszustands der Person (EuGH, U.v. 15.10.2019 - C-128/18 - juris Rn. 59).</p>
<p><rd nr="16"/>Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 15; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 - juris Rn. 32). Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 15; B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37).</p>
<p><rd nr="17"/>Dieser Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 privilegiert (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 17). Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigen Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sind (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 - juris Rn. 20).</p>
<p><rd nr="18"/>Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen Überzeugung. Auch in Asylstreitsachen muss das Gericht sich die für seine Entscheidung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt verschafft haben, dass es die volle Überzeugung von der Wahrheit und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Das Gericht darf keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung kommt gesteigerte Bedeutung zu. Zur Asylanerkennung kann schon allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - juris Rn. 16; VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 38 f.).</p>
<p><rd nr="19"/>Der Asylsuchende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass er bei verständiger Würdigung die Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u. a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Asylsuchenden berücksichtigt werden. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Schutzsuchenden aber nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, B.v. 19.10.2001 - 1 B 24.01 - juris Rn. 5; U.v. 24.3.1987 - 9 C 321.85 - juris Rn. 9; OVG NW, U.v. 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A - juris Rn. 36; BayVGH, B.v. 11.1.2019 - 13a ZB 17.31521 - juris Rn. 4; VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 43 f.).</p>
<p><rd nr="20"/>b) Ausgehend von diesen Grundsätzen droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Moldau nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.</p>
<p><rd nr="21"/>aa) Dem Vortrag des Klägers sind keine Anhaltspunkte für eine drohende Einzelverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zu entnehmen. Soweit der Kläger beim Bundesamt erklärte, dass die Roma in Moldau diskriminiert würden, waren seine Ausführungen hierzu sehr allgemein gehalten. Roma hätten es sehr schwer Arbeit zu finden, sie würden beleidigt und beschimpft, dürften in der Öffentlichkeit kein Russisch sprechen und würden in der Schule nicht gerne angenommen. Die Frage, ob ihm in Moldau einmal etwas konkretes Gravierendes passiert sei, verneinte der Kläger. Mithin hat der Kläger Moldau unverfolgt verlassen. Er trug auch keine Umstände vor, die es beachtlich wahrscheinlich erscheinen lassen, dass er nach seiner Rückkehr nach Moldau erstmals aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Roma einer Verfolgung ausgesetzt sein könnte. Soweit er geltend machte, dass Romafeindliche Leute ihn schlagen könnten, handelt es sich zum einen um eine reine Spekulation, zum anderen ist der Kläger insoweit auf die Inanspruchnahme des Schutzes durch die moldauische Polizei zu verweisen (§ 3c Nr. 3 AsylG). Es liegen keine Erkenntnisse dazu vor, dass die moldauische Polizei nicht fähig oder willens wäre, dem Kläger Schutz vor gewalttätigen Übergriffen zu gewähren. Bisher hat sich der Kläger noch nicht mit einem Schutzersuchen an die moldauische Polizei gewandt, sodass er aus eigener Erfahrung nichts Gegenteiliges berichten kann. bb)</p>
<p><rd nr="22"/>Dem Kläger droht in der Republik Moldau aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Roma keine Gruppenverfolgung (so im Ergebnis auch VG Oldenburg, B.v. 28.1.2019 - 2 B 226/19 - juris UA. S. 5; VG Berlin, GB.v. 1.7.2019 - VG 16 K 58.19 A - juris UA. S. 9 f.; U.v. 24.1.2017 - 21 K 402.16 A - juris Rn. 17; U.v. 5.12.2016 -23 K 402.16 A - juris Rn. 24 ff.).</p>
<p><rd nr="23"/>Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung; BVerwG, U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 13). Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt - abgesehen vom Fall eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, B.v. 5.4.2011 - 10 B 11.11 - juris Rn. 3; U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 13). Die Übergriffe müssen so zahlreich sein, dass jedes Gruppenmitglied begründet befürchten muss, selbst Opfer von Übergriffen zu werden (BayVGH, U.v. 19.4.2021 - 11 B 19.30575 - juris Rn. 41). Die ursprünglich für die staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätzen sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar (BVerwG, U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 14).</p>
<p><rd nr="24"/>Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden (BVerwG, U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 15; B.v. 5.4.2011 - 10 B 11.11 - juris Rn. 3; BayVGH, U.v. 19.4.2021 - 11 B 19.30575 - juris Rn. 50). Dabei ist es häufig nicht möglich, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber auch nicht erforderlich, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden (BVerwG, U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; BayVGH, U.v. 19.4.2021 - 11 B 19.30575 - juris Rn. 50).</p>
<p><rd nr="25"/>(1) Es besteht keine Gefahr einer staatlichen Gruppenverfolgung der Roma in Moldau.</p>
<p><rd nr="26"/>Eine solche wird insbesondere dann angenommen, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht. Das kann etwa der Fall sein, wenn festgestellt werden kann, dass der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten physisch vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will (BVerwG, U.v. 5.7.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 - juris Rn. 20). In der Republik Moldau gibt es keine systematischen oder anderweitigen Verfolgungs- oder Ausrottungsmaßnahmen durch staatliche oder andere amtliche Stellen, die sich gegen die Volksgruppe der Roma richten (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 4). Auch gibt es keine belastbaren Erkenntnisse darüber, dass Roma in der Republik Moldau physischer Gewalt durch staatliche Stellen ausgesetzt sind (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 10). In den aktuellen Erkenntnismitteln werden keine konkreten Fälle von Polizeigewalt gegen Roma erwähnt.</p>
<p><rd nr="27"/>Aus den Erkenntnismitteln ergibt sich auch keine unmittelbare staatliche Diskriminierung von Roma. Laut einer Volkszählung von 2014 bezeichnen sich ca. 9.323 (= 0,3%) der Einwohner Moldaus als Roma (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Moldau, Stand Juni 2021, 31.1.2022 [im Folgenden: AA 2021], S. 8; Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Republik Moldau, Gesamtaktualisierung am 5.3.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 17.11.2020 [im Folgenden: BFA 2020], S. 32). Nach Schätzung von Roma-Vertretern leben bis zu 250.000 Roma in Moldau (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Republik Moldau, Länderreport 37, Juni 2021, S. 9). Die nationalen Minderheiten sind durch die Verfassung geschützt und haben das Recht der Aufrechterhaltung und Pflege ihrer Sprache und Kultur. Eine nach Hautfarbe, Herkunft, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe unterscheidende diskriminierende Gesetzgebung gibt es in der Republik Moldau nicht (BFA 2020, S. 32). Es gibt keine Gesetze oder anderen staatlichen Maßnahmen, die über Einzelfälle hinausgehen, die ausdrücklich oder tatsächlich ausschließlich oder überwiegend Roma betreffen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 8). Vielmehr haben die Behörden in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen, um die Integration der Roma in die Gesellschaft durch die Annahme und Umsetzung von nationalen Aktionsplänen zu verbessern. Das Hauptziel des Aktionsplans 2011 - 2015 war die Einführung von „Gemeindemediatoren“ (Community Mediators), deren Hauptaufgabe darin besteht, die Interessen ihrer Gemeinschaften gegenüber den lokalen Behörden zu vertreten und den Roma-Gemeinschaften die Regierungspolitik zu vermitteln. Im März 2020 gab es 34 Mediatoren der Roma-Gemeinden und es bestand der Plan, diese Zahl auf 54 zu erhöhen. Nach Angaben von Organisationen der Zivilgesellschaft zögern die lokalen Behörden jedoch häufig, Gemeindemediatoren einzustellen und mit der erforderlichen Unterstützung zu versehen, da sie nicht ausreichend über die Rolle der Mediatoren informiert oder sich der Notwendigkeit nicht bewusst sind, die nationale Politik zur Integration der Roma auf lokaler Eben wirksam umzusetzen. Außerdem sind die Mediatoren der Roma-Gemeinden häufig mit finanziellen, logistischen und anderen Zwängen konfrontiert, die sie daran hindern, ihre Funktion effektiv zu erfüllen. Der Aktionsplan für 2016 - 2020 umfasste Bereiche wie Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, sozialer Schutz, Kultur, Gemeindeentwicklung und Beteiligung in der Entscheidungsfindung. Er war jedoch wie der vorherige Aktionsplan erheblich unterfinanziert und viele der darin vorgesehenen Maßnahmen wurden nicht umgesetzt (Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Dunja Mijatovic, report following her visit to the Republic of Moldova from 9 to 13 march 2020, 25.6.2020 [im Folgenden: CHR 2020], S. 20). Sofern es aufgrund der Korruptionsanfälligkeit von Polizei, Strafverfolgungswesen und Justiz zu unfairen oder nicht für alle gleichen Verfahren kommt, betrifft dies gleichermaßen alle Bevölkerungsgruppen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 12, 24). Soweit davon berichtet wird, dass zwei Beschäftigte des Innenministeriums der Rassendiskriminierung gegen Personen mit Roma-Herkunft, genauer gesagt des „Racial Profiling“ für schuldig befunden wurden und in einem NGO-Bericht von 2016 fünf andere Fälle polizeilicher Diskriminierung von Roma-Angehörigen erwähnt werden (European Center for Minority Issues, ECMI-Report Nr. 69, The Roma in Moldova, März 2017 [im Folgenden: ECMI 2017], S. 5), handelt es sich um mehrere Jahre zurückliegende Einzelfälle, die nicht auf eine systematische unmittelbare staatliche Diskriminierung schließen lassen.</p>
<p><rd nr="28"/>(2) Weiter erfolgt in der Republik Moldau auch keine Gruppenverfolgung der Roma durch nichtstaatliche Akteure.</p>
<p><rd nr="29"/>(a) Konkrete ethnisch motivierte körperliche Übergriffe auf Roma seitens anderer gesellschaftlicher Gruppen, die sich in den letzten Jahren ereignet hätten, lassen sich den Erkenntnismitteln nicht entnehmen. In Moldau gibt es ein relativ niedriges Maß an rassistischer Gewalt. Berichte weisen darauf hin, dass es immer noch zu gewalttätigen Übergriffen insbesondere gegen Roma kommt. 2016 wurde ein junger Mann mit Roma-Herkunft schwer geschlagen und aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit beschimpft (European Commission against Racism and Intolerance, Report on the Republic of Moldova, 2.10.2018 [im Folgenden: ECRI 2018], S. 22). Hierbei handelt es sich jedoch um einen schon mehrere Jahre zurückliegenden Einzelfall. Erkenntnisse zu Maßnahmen zur Herabsetzung, Vertreibung oder sogar Ausrottung der Volksgruppe der Roma durch andere gesellschaftliche Gruppen liegen nicht vor. Diskriminierung oder gar Repressionsmaßnahmen gegen einzelne Gruppen werden weder von Parteien noch von besonderen gesellschaftlichen Gruppierungen propagiert. Aufgrund seines multiethnischen Charakters leben in Moldau alle Volks- und sozialen Gruppen im Alltag friedlich zusammen (BFA 2020, S. 32; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 6). Allein aus dem Umstand, dass Rassenhass in der Republik Moldau nicht als Straftat angesehen wird und Hassverbrechen von den moldauischen Behörden zu wenig gemeldet und untersucht werden (ECMI 2017, S. 6), kann nicht darauf geschlossen werden, dass Roma physischer Gewalt durch andere gesellschaftliche Gruppen ausgesetzt sind (vgl. VG Berlin, U.v. 5.12.2016 - 23 K 402.16 A - juris Rn. 33).</p>
<p><rd nr="30"/>(b) Soweit aus den Erkenntnismitteln ersichtlich wird, dass die Angehörigen des Volkes der Roma in Moldau in vielen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere bei Bildung (aa), Arbeit (bb), Wohnen (cc) und Gesundheitsversorgung (dd), schlechter stehen als die Allgemeinbevölkerung, erreichen diese Nachteile, soweit sie überhaupt auf die Volkszugehörigkeit der Roma zurückzuführen sind, weder einzeln noch in der Gesamtschau eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsintensität.</p>
<p><rd nr="31"/>Teile der moldauischen Gruppe der Roma zählen zu der am meisten marginalisierten gesellschaftlichen Gruppe (AA 2021, S. 8). Roma sehen sich einem erhöhten Risiko von Marginalisierung, Unterrepräsentation bei politischen Entscheidungen, Analphabetismus und sozialen Vorurteilen ausgesetzt. Sie weisen ein niedrigeres Bildungsniveau, einen eingeschränkteren Zugang zur Gesundheitsversorgung und eine höhere Arbeitslosenquote als die allgemeine Bevölkerung auf (United States Department of State, Moldova 2021 Human Rights Report, 12.4.2022 [im Folgenden: USDOS 2021], S. 44). Im Einzelnen:</p>
<p><rd nr="32"/>(aa) Der Zugang von Roma-Kindern zur Bildung, insbesondere in der Grundschule, hat sich vor allem dank der Arbeit der Roma-Gemeindemediatoren und der Zivilgesellschaft verbessert. Die Einschulungsraten von Roma-Kindern sind jedoch in allen Bildungsstufen immer noch niedriger als die von Nicht-Roma-Kindern. So besuchten nur 21% der Roma-Kinder eine Vorschule (im Vergleich zu 79% in der Gesamtbevölkerung), die Grundschule sowie die Klassen fünf bis acht der weiterführenden Schule 54% (gegenüber 90%) und die Klassen neun bis zwölf der weiterführenden Schule 16% (gegenüber 78%) (CHR 2020, S. 20; ECRI 2018, S. 26; ECMI 2017, S. 9 ff.). Als Gründe für die niedrige Anwesenheitsrate der Roma-Kinder in der Grundschule und den Klasse fünf bis acht der weiterführenden Schule geben Roma-Vertreter selbst folgendes an: die hohen Kosten (46%), eine bereits ausreichende Bildung (13%), die Notwendigkeit zu arbeiten (8%), Heirat (7%), Krankheit (6%), Schwangerschaft (3%) und Diskriminierung in der Schule (1%) (ECMI 2017, S. 12). Als (weitere) Hindernisse werden Probleme im Zusammenhang mit dem Transport aus abgelegenen ländlichen Siedlungen, Wohnortwechsel, eine indifferente Einstellung gegenüber Bildung seitens bestimmter Subgruppen der Volksgruppe der Roma sowie das unter bestimmten Subgruppen der Roma geltende frühe Heiratsalter identifiziert (CHR 2020, S. 20; ECRI 2018, S. 26 f.; ECMI 2017, S. 10 ff.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 18). Den Behörden fehlt ein wirksamer Mechanismus, um schutzbedürftige Familien anzusprechen, deren Kinder keine Schule besuchen (USDOS 2021, S. 44). Laut Gesetz haben alle Bürger der Republik Moldau das Recht auf gleichen Zugang zu Bildung. Der Unterricht von der ersten bis zur zwölften Klasse ist kostenlos. Lediglich bei Schulen mit Verpflegung (meistens Vorschulen) müssen die Eltern einen Teil der Verpflegungskosten tragen (ECMI 2017, S. 10). Angehörige der Volksgruppe der Roma können Schulen und Kindergärten genauso nutzen wie Angehörige anderer ethnischer Gruppen in Moldau (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 16, 17).</p>
<p><rd nr="33"/>Aus diesen Umständen ergibt sich keine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte. Nach Art. 2 Satz 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK darf niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden. Diese Vorschrift gewährleistet in erster Linie ein Recht auf Zugang zu den Schulen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden sind (EGMR, U.v. 23.7.1968 - Belgischer Sprachenfall, Nr. 1474/62 - juris 1. Orientierungssatz; Bitter in Karpenstein/Mayer, EMRK, 3. Aufl. 2022, ZP I Art. 2 Rn. 11). Dieses Recht wird Kindern aus der Volksgruppe der Roma nicht aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit verwehrt. Roma-Kinder können die bestehenden Schulen bis zur zwölften Klasse kostenlos besuchen. Zudem ist die mangelnde Schulbeteiligung von Roma-Kindern ganz überwiegend nicht auf die Volkszugehörigkeit bzw. die Angst vor Diskriminierung aufgrund der Volkszugehörigkeit zurückzuführen, sondern primär auf die finanziellen Verhältnisse, das Leben in abgeschiedenen ländlichen Regionen und die Verkennung der Bedeutung von Bildung für das künftige Leben. Weiter würde es angesichts des Umstandes, dass 54% der Roma-Kinder die Schule von der ersten bis zur achten Klasse besuchen, an der erforderlichen Verfolgungsdichte fehlen (vgl. zu allem VG Berlin, U.v. 5.12.2016 - 23 K 402.16 A - juris Rn. 36).</p>
<p><rd nr="34"/>(bb) Im Jahr 2020 betrug die Beschäftigungsquote der Roma nur 6,4%, während die Arbeitslosenquote der Roma bei 45% lag (USDOS 2021, S. 44). Im Vergleich dazu betrug die Beschäftigungsquote der Gesamtbevölkerung im Jahr 2020 45% und die Arbeitslosenquote 8% (International Labour Organization, About the ILO in the Republic of Moldova, Mai 2021, https://www.ilo.org/budapest/countries-covered/moldova/WCMS_433690/lang-en/index.htm). In den Vorjahren betrug die Beschäftigungsquote der Roma noch 21% (United States, Department of State, Moldova 2019 Human Rights Report, 11.3.2020, S. 28; Moldova 2018 Human Rights Report, 13.3.2019, S. 39). Die Zahl der Roma, die in Beschäftigungsprogrammen der Nationalen Agentur für Arbeit registriert sind, ist allmählich gestiegen, was die Möglichkeit zur Teilnahme an beruflicher und anderer Berufsbildung und einen besseren Zugang zur Krankenversicherung eröffnet (CHR 2020, S. 21; ECRI 2018, S. 27). Roma sind eher in der informellen Wirtschaft tätig und verrichten Saisonarbeit (CHR 2020, S. 21; ECRI 2018, S. 27). Gründe für die erheblichen Unterschiede im Arbeitsbereich zwischen der Roma-Bevölkerung und der Gesamtbevölkerung sind das niedrige Bildungsniveau, der damit verbundene Mangel an beruflichen Qualifikationen und Fähigkeiten, Erfahrungen mit direkter Diskriminierung bei der Arbeitssuche und ein fehlendes Bewusstsein für die Existenz von Programmen zur Wiedereingliederung von Arbeitslosen, von Berufsbildungskursen usw. (ECMI 2017, S. 14). Untersuchungen legen nahe, dass aufgrund der negativen Wahrnehmung von Roma und der tief in der Gesellschaft verwurzelten Vorurteile die Zurückhaltung bei der Beschäftigung von Roma fortbesteht, was sogar zu Fällen führte, in denen qualifizierte Roma bei Einstellungsverfahren angeblich diskriminiert wurden (ECRI 2018, S. 27). Manche Personen berichteten dem Equal Rights Trust, dass Arbeitgeber ihnen ins Gesicht gesagt hätten, sie würden keine Jobs an Roma vergeben oder dass ihnen gesagt worden sei, es gebe keine freien Stellen in dem Unternehmen, obwohl zur gleichen Zeit freie Stelle ausgeschrieben waren (ECMI 2017, S. 14).</p>
<p><rd nr="35"/>Auch daraus ergibt sich keine Verfolgungshandlung, die einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleichkäme. Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle enthalten jedenfalls ausdrücklich keine Rechte im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt. Aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergibt sich kein allgemeines Recht auf Arbeit, auch wenn die Vorschrift auf Beschäftigungsverhältnisse in dem Sinne Anwendung finden kann, dass auch das Berufsleben Teil des von Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens sein kann (EGMR, U.v. 4.10.2016 - Travas/Kroatien, Nr. 75581/13 - NJOZ 2018, 515 Rn. 52 f.). Eine berufliche Tätigkeit wird nicht garantiert (Meyer-Ladewig/Nettesheim in dies./von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 8 Rn. 49). Zudem ist die hohe Arbeitslosen- bzw. niedrige Beschäftigungsquote der Roma in Moldau nicht nur auf ihre Volkszugehörigkeit zurückzuführen, sondern auf den geringen Bildungsgrad und die dadurch bedingte schlechte berufliche Qualifizierung sowie ein fehlendes Bewusstsein für Hilfsprogramme. Soweit eine Diskriminierung von Roma durch private Arbeitgeber bei der Besetzung von Arbeitsplätzen stattfindet, lässt sich nicht genau bestimmen, wie viel Einfluss dieser Faktor auf die Schlechterstellung der Roma auf dem Arbeitsmarkt hat. Sie führt jedenfalls nicht dazu, dass Roma überhaupt keine Arbeit finden. Im Übrigen steht solchen Bewerbern, die tatsächlich aufgrund ihrer ethnischen Herkunft abgelehnt werden, der Rechtsweg offen, wie der Fall Zapescu zeigt, bei dem ein Roma-Bewerber nach einem Bewerbungsgespräch, das vom Arbeitgeber mit reservierter Haltung geführt wurde, nicht genommen wurde (ECRI 2018, S. 27 Fn. 112). Dass die Republik Moldau insofern im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG nicht willens oder in der Lage wäre, effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegen derartiges diskriminierendes Verhalten zu gewähren, ist nicht ersichtlich (vgl. zu allem VG Berlin, U.v. 5.12.2016 - 23 K 402.16 A - juris Rn. 39).</p>
<p><rd nr="36"/>(cc) Es gibt keine umfassenden Daten zur Anzahl obdachloser Personen in der Republik Moldau, folglich auch nicht zur Anzahl obdachloser Roma (ECMI 2017, S. 13). Ungefähr 60% der Roma-Familien leben in ländlichen Gebieten. In einigen Roma-Gemeinden besteht kein oder nur eingeschränkter Zugang zu Trinkwasser, Kanalisation, regelmäßiger Stromversorgung und Heizung (USDOS 2021, S. 44; United States, Department of State, Moldova 2020 Human Rights Report, 30.3.2021, S. 43; ECRI 2018, S. 27 f.; ECMI 2017, S. 13). Diese teils schlechten Wohnverhältnisse kommen keiner schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleich. Art. 8 Abs. 1 GG garantiert das Recht auf Achtung der Wohnung, vermittelt aber keinen Anspruch auf Wohnraum im Allgemeinen (EGMR [GK], U.v. 18. 1. 2001 - Chapman/Vereinigtes Königreich, Nr. 27238/95 - Rn. 99; Pätzold in Karpenstein/Mayer, EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 8 Rn. 58) und damit erst recht nicht auf Wohnraum, der bestimmten Mindeststandards genügt (vgl. VG Berlin, U.v. 5.12.2016 - 23 K 402.16 A - juris Rn. 43). Im Übrigen ist nicht erkennbar, dass die teilweise schlechte Wohnsituation der Roma auf ihre Volkszugehörigkeit zurückzuführen ist. Vielmehr dürfte die Ursache hierfür vielfach in mangelnden finanziellen Mitteln liegen.</p>
<p><rd nr="37"/>(dd) Im Bereich Gesundheitsversorgung sind Roma in der Republik Moldau konfrontiert mit einem Mangel an medizinischer Notfallversorgung in abgelegenen Siedlungen, unfairer oder willkürlicher Behandlung durch Ärzte und geringerem Krankenversicherungsschutz (USODS 2021, S. 44). Einer Umfrage zufolge besitzen über 58% der Roma keine Krankenversicherung, während es unter den Nicht-Roma nur 24% sind (ECMI 2017, S. 8). Als Gründe hierfür wird genannt, dass die meisten der beschäftigten Roma nicht in einem offiziellen Beschäftigungsverhältnis stehen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 14), dass viele Roma nicht über die für den Zugang zur Krankenversicherung nötigen Identitätsdokumente verfügen oder in entlegenen Gegenden leben (BFA 2020, S. 43). Roma aus dem Ort Hincesti berichteten dem Equal Rights Trust, dass sich Ärzte geweigert hätten, Hausbesuche in Roma-Haushalten zu machen, dass Krankenwagen sich geweigert hätten, zu Roma-Haushalten zu fahren und dass Ärzte Roma-Patienten bis zuletzt warten ließen, angeblich, weil ihr schlechter Geruch Nicht-Roma-Patienten abstoßen würde (ECMI 2017, S. 9).</p>
<p><rd nr="38"/>In der Republik Moldau gibt es eine staatliche beitragsfinanzierte Pflichtkrankenversicherung, die gegen Zahlung einer jährlichen Versicherungsgebühr auch die Behandlung nicht erwerbstätiger Personen übernimmt (AA 2021, S. 19). Die Pflichtversicherung deckt Angestellte und Selbstständige auf der Grundlage von Beiträgen ab, bestimmte andere Personengruppen sind automatisch abgedeckt (Kinder, Studenten, Schwangere, Wöchnerinnen und Mütter von vier oder mehr Kindern, Menschen mit Behinderungen, Rentner, formal arbeitslos gemeldete Personen, pflegende Angehörige, Sozialhilfeempfänger; BFA 2020, S. 43). 2011 waren 20,3% der Einwohner der Republik Moldau nicht versichert (Internationale Organisation für Migration, Republik Moldau, Länderinformationsblatt 2021 [im Folgenden: IOM 2021], Gesundheitsversorgung). Der Zugang zu Notfall- und Erstversorgung ist unabhängig vom Versicherungsstatus gewährleistet. Das im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung verfügbare Leistungspaket deckt spezialisierte ambulante und stationäre Behandlungen und eine sehr begrenzte Auswahl an Medikamenten ab. Für Menschen ohne Versicherungsschutz werden diese Leistungen in voller Höhe durch informelle Zahlungen und Direktzahlungen finanziert (IOM 2021, Gesundheitsversorgung). In der Praxis sind (auch bei Versicherten) Extrazahlungen die Regel (AA 2021, S. 19). Informelle Zahlungen werden auf fast allen Leistungsebenen erbracht, sind aber bei der stationären Versorgung viel weiter verbreitet (IOM 2021, Gesundheitsversorgung).</p>
<p><rd nr="39"/>Soweit der Anteil der nicht krankenversicherten Roma (58%) höher ist als derjenige der Gesamtbevölkerung (20%), ist dieser Umstand nicht bedingt durch die Volkszugehörigkeit. Die Krankenversicherung steht allen Einwohnern Moldaus unabhängig von ihrer Ethnie offen. Die niedrigere Krankenversicherungsquote unter den Roma ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass diese seltener offiziell beschäftigt sind, aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nicht die jährliche Versicherungsgebühr (für Nicht-Erwerbstätige) aufbringen können, ihnen notwendige Identitätsdokumente fehlen oder sie in entlegenen Gebieten leben. Das Fehlen von Identitätspapieren ist ebenfalls nicht auf eine Diskriminierung von Roma gegenüber der übrigen Bevölkerung zurückzuführen, denn bei der Ausstellung von Identitätspapieren werden alle Bevölkerungsgruppen gleich behandelt (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin, Gz. 508-9-516.80, 1.9.2016, Ziff. 3). Im Übrigen würde es insoweit an der hinreichenden Verfolgungsdichte für eine Gruppenverfolgung fehlen, da immerhin 42% der Roma krankenversichert sind. Auch was die Einschränkung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung durch die Notwendigkeit informeller Zahlungen anbelangt, trifft dieser Umstand nicht allein oder in besonderer Weise die Volksgruppe der Roma, sondern alle Einwohner der Republik Moldau. Für die Roma wirkt sich dies jedoch insofern stärker aus, als sie häufiger von Armut bedroht und damit weniger leistungsfähig sind (ECMI 2017, S. 7). Die mangelnde medizinische Notfallversorgung in abgelegenen Siedlungen ist ebenfalls kein spezielles Problem der Roma. Generell existiert in ländlichen Gebieten bestenfalls eine eingeschränkte Grundversorgung (AA 2021, S. 19).</p>
<p><rd nr="40"/>Soweit darüber hinaus von einzelnen Diskriminierungen von Roma aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit durch Ärzte, Krankenhauspersonal und Rettungssanitäter berichtet wird, fehlt es insoweit jedenfalls an der für eine Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte.</p>
<p><rd nr="41"/>(ee) Die in den oben genannten Bereichen tatsächlich stattfindenden Diskriminierungen von Roma aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit erreichen auch in ihrer Kumulierung nicht die für die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung erforderliche Intensität.</p>
<p><rd nr="42"/>2. Auf das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG kann sich der Kläger offensichtlich deshalb nicht berufen, weil er eigenen Angaben zufolge auf dem Landweg, also über einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder die Schweizerische Eidgenossenschaft, und mithin über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG).</p>
<p><rd nr="43"/>3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.</p>
<p><rd nr="44"/>Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt (Nr. 1) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, (Nr. 2) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder (Nr. 3) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG). § 3c bis § 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG).</p>
<p><rd nr="45"/>Dem Kläger droht in der Republik Moldau kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Insoweit wird auf die Begründung des Bescheides (§ 77 Abs. 2 AsylG), der das Gericht folgt, und hinsichtlich § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG auf die obigen Ausführungen verwiesen.</p>
<p><rd nr="46"/>4. Keine rechtlichen Bedenken bestehen, soweit das Bundesamt die Anträge des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Anerkennung als Asylberechtigter und auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat.</p>
<p><rd nr="47"/>Ein Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes - d.h. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) - offensichtlich nicht vorliegen. Ein Asylantrag kann nur dann als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, wenn der Ausländer offensichtlich keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, offensichtlich keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG und offensichtlich keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG hat. Kann das negative Offensichtlichkeitsurteil auch nur hinsichtlich eines Status nicht getroffen werden, ist der Asylantrag insgesamt nicht offensichtlich unbegründet (Heusch in BeckOK, Ausländerrecht, 34. Ed., Stand: 01.07.2022, § 30 AsylG Rn. 9; Blechinger in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, 12. Ed., Stand: 15.07.2022, § 30 AsylG Rn. 9). Als offensichtlich unbegründet kann ein Asylantrag nur angesehen werden, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung geradezu aufdrängt (BVerfG, B.v. 27.2.1990 - 2 BvR 186/89 - NVwZ 1990, 854 - juris Rn. 14 zur Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet; Bergmann in ders./Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 30 AsylG Rn. 3). Nach § 30 Abs. 2 AsylG ist ein Asylantrag insbesondere offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält.</p>
<p><rd nr="48"/>Aus dem Vorbringen des Klägers beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung ergibt sich nicht ansatzweise eine dem Kläger in der Republik Moldau drohende asyl- oder flüchtlings-rechtlich relevante Verfolgung bzw. ein dem Kläger in der Republik Moldau drohender ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Der Kläger hat nichts geschildert, was eine in Moldau bereits erlittene Verfolgung bzw. einen in Moldau bereits erlittenen ernsthaften Schaden darstellen würde. Seinem Vortrag sind auch keine Anhaltspunkte für eine erstmals drohende Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG bzw. ernsthafte Schädigung im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zu entnehmen. Der Kläger hatte ausreichend Gelegenheit, mögliche Befürchtungen in Bezug auf Moldau zu äußern. Übrig bleiben ausschließlich wirtschaftliche Motive für die Ausreise des Klägers aus Moldau und seinen Aufenthalt in Deutschland, indem er ausführte, dass er nach dem Rauswurf durch seinen Onkel keine Unterkunft gehabt habe und es sehr schwer sei, in Moldau eine Arbeit zu finden.</p>
<p><rd nr="49"/>5. Der Abschiebung des Klägers steht kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen.</p>
<p><rd nr="50"/>Nach § 60 Abs. 5 AsylG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.</p>
<p><rd nr="51"/>Aufenthaltsbeendende Maßnahmen sind unter anderem dann verboten, wenn dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht. Wie bereits im angefochtenen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG) und oben ausgeführt, droht dem Kläger in Moldau weder Folter noch eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung.</p>
<p><rd nr="52"/>Eine Verletzung des Art. 3 EMRK und ein daraus resultierendes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt sich auch nicht aus den derzeitigen humanitären Bedingungen in Moldau. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können nur im Ausnahmefall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris 9; BayVGH, B.v. 26.3.2019 - 8 ZB 18.33221 - juris 11). Dies setzt voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. Das kann der Fall sein, wenn ein Ausländer im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 26.3.2019 - 8 ZB 18.33221 - juris 11). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.</p>
<p><rd nr="53"/>Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes (NBS) entwickelte sich die Republik Moldau zwischen 2016 und 2019 stetig und erreichte ein durchschnittliches BIP-Wachstum von 4% pro Jahr. Der Aufwärtstrend wurde jedoch durch die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen der Wirtschaftstätigkeit unterbrochen. Im zweiten und dritten Quartal 2020 ging die Wirtschaftstätigkeit um 14% bzw. 10% zurück (Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report, Moldova [im Folgenden: BTI 2022], S. 25). Das reale Wirtschaftswachstum sank 2020 um 7%, die Inflationsrate betrug 0,4% und die öffentliche Verschuldung stieg auf 32,9% des BIP (Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Moldau, 16.2.2022 [im Folgenden: BFA Februar 2022], S. 39). Das Entwicklungsgefälle zwischen der Republik Moldau und dem übrigen Europa hat sich verringert. Während 2000 das Pro-Kopf-Einkommen bei 14% des durchschnittlichen EU-Einkommens lag, betrug dieser Wert im Jahr 2020 29% (International Labour Organization, About the ILO in the Republic of Moldova, Januar 2022). Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung Moldaus sind die Anfälligkeit für Korruption, die politische Unsicherheit, der ungelöste Separatismus in der moldauischen Region Transnistrien, der politische und wirtschaftliche Druck Russlands, schwache Verwaltungskapazitäten, bürokratische Eigeninteressen, die Abhängigkeit von Energieimporten und Agrarexporten, der begrenzte Strukturwandel (ein Viertel der Arbeitnehmer ist in der Landwirtschaft beschäftigt), die Überalterung der Bevölkerung und die anhaltende Abwanderung (CIA, The World Factbook, Moldova, 6.7.2022 [im Folgenden: CIA 2022], Economy, Economic overview; International Labour Organization, About the ILO in the Republic of Moldova, Januar 2022).</p>
<p><rd nr="54"/>Die moldauische Wirtschaft stützt sich stark auf den Agrarsektor, in dem Obst, Gemüse, Wein, Weizen und Tabak angebaut werden (CIA 2022, Economy, Economic overview). Der Anteil der Schattenwirtschaft ist hoch; 30,9% der Beschäftigten sind Schwarzarbeiter, in der Landwirtschaft beträgt der Anteil sogar 63% (BFA Februar 2022, S. 39). Moldau ist auf jährliche Überweisungen von etwa 1,2 Mrd. USD (ca. 15% des BIP) von den rund eine Millionen Moldauern angewiesen, die in Europa, Israel, Russland und anderswo arbeiten (CIA 2022, Economy, Economic overview). Die Überweisungen aus dem Ausland bilden einen wichtigen und in vielen Fällen entscheidenden Beitrag zum Haushaltseinkommen (BFA Februar 2022, S. 39). Aktuell arbeiten ca. 25% der Moldauer im Ausland. Die Abwanderung hat zu einer deutlichen Minderung der Erwerbstätigen- und Beschäftigungsquote geführt. Die Republik Moldau hat eine Erwerbsquote von ca. 41% bei Frauen und 28% bei Männern (2018). Ein Großteil der Arbeitskräfte ist in der Landwirtschaft und der Industrie beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag 2019 bei 5,1% (Internationale Organisation für Migration, Republik Moldau, Länderinformationsblatt 2021 [im Folgenden: IOM 2021], Arbeitsmarkt), 2020 bei 3,8% (International Labour Organization, About the ILO in the Republic of Moldova, Januar 2022).</p>
<p><rd nr="55"/>Die Republik Moldau ist trotz jüngster Fortschritte eines der ärmsten Länder Europas (CIA 2022, Economy, Economic overview). Unterhalb der nationalen Armutsgrenze lebten 2019 25% der Moldauer, wobei die Situation auf dem Land (30%) schlimmer ist als in den Städten (10%, in Chisniau 4,5%). Am schlimmsten ist die Situation in den südlichen Regionen (40%) (BTI 2022, S. 17). Die Zahl der Personen, die von weniger als 3,20 USD pro Tag leben (2011 PPP) ist von 35,1% im Jahr 2000 über 0,5% im Jahr 2010 auf 0% im Jahr 2019 gesunken (https://data.worldbank.org/country/moldova, abgerufen am 13.9.2022). Der Rückgang der Armut ist auf die Rückkehr des Wirtschaftswachstums um die Jahrhundertwende, eine allmähliche Erhöhung der Rentenzahlungen und rasch steigende Überweisungen zurückzuführen. Besonders von Armut betroffen sind Arbeiter in der Landwirtschaft, Rentner und Menschen mit Behinderung (BTI 2022, S. 17 f.). Haushalte mit Kindern sind stärker von Armut bedroht, insbesondere solche mit drei oder mehr Kindern (IOM 2021, Kinder). Geringe Bildung und Armut hängen stark zusammen. 78% der Erwachsenen, die keinen Sekundarschulabschluss haben, gaben an, ein extrem niedriges Einkommen zu haben (BTI 2022, S. 17). Der gesetzlich vorgesehene Mindestlohn von 2.935 MDL (152 EUR) (Januar 2021) liegt unterhalb der Armutsgrenze. Das durchschnittliche Einkommen der arbeitenden Bevölkerung lag Ende Juni 2021 bei 9.045 MDL (469 EUR) (BFA Februar 2022, S. 40).</p>
<p><rd nr="56"/>Beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Sozialleistungen sowie sozialer Absicherung besteht große Ungleichheit. Die von der Regierung angebotene soziale Absicherung und Sozialprogramme sind meist auf weniger privilegierte Gruppen wie Menschen mit Behinderung ausgerichtet. Das Sozialhilfesystem basiert hauptsächlich auf Geld- und Sachleistungen, die in der Regel durch allgemeine Steuern oder externe Hilfe finanziert werden. Der Anspruch auf Sozialhilfe wird in der Regel durch eine Kategorisierung der Gefährdung bestimmt (IOM 2021, Sozialwesen). Alleinerziehende, zumeist Mütter, können sehr geringe Zuschüsse zum Kindesunterhalt beantragen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Moldau, Stand Juni 2021, 31.1.2022 [im Folgenden: AA 2021], S. 18).</p>
<p><rd nr="57"/>Das moldauische Rentensystem ist unterfinanziert und überlastet, was hauptsächlich auf die demografische Situation und die Massenmigration zurückzuführen ist. Das Rentenalter für Frauen liegt bei 58 und für Männer bei 63 Jahren. Zwischen 2015 und 2021 hat sich die Durchschnittsrente fast verdoppelt (von 70 USD auf 122 USD pro Monat). Dennoch ist die Rentenhöhe im Allgemeinen nicht ausreichend und die Rente von Rentnern aus ländlichen Gebieten, die in der Landwirtschaft beschäftigt waren, deckt meist nicht das Existenzminimum ab. Die durchschnittliche Altersrente beträgt 1.087,60 MDL (56 EUR). Ein Viertel der Rentner ist gezwungen, sich eine zusätzliche Arbeit zu suchen (BTI 2022, S. 24; IOM 2021, Sozialwesen).</p>
<p><rd nr="58"/>Arbeitslose können sich bei Arbeitsbörsen anmelden und erhalten für die Dauer von bis zu maximal neun Monaten geringe Unterstützung (AA 2021, S. 18). Die Höhe des Arbeitslosengeldes hängt von dem Gehalt ab, das eine Person bis zur Arbeitslosigkeit bezogen hat. Diejenigen, die ihren Arbeitsplatz aufgrund der erzwungenen Einschränkungen im Zusammenhang mit der Pandemie verloren haben, erhalten eine monatliche Beihilfe von 130 EUR (BTI 2022, S. 24). In den größeren Städten gibt es überall verschiedene Arbeitsvermittlungsagenturen, die die Einstellung geeigneter Kandidaten in verschiedenen Bereichen erleichtern (IOM 2021, Arbeitsmarkt).</p>
<p><rd nr="59"/>Menschen mit Behinderung erhalten eine Sozialversicherung, die Behindertengeld und Invaliditätsrente vorsieht. Schutzbedürftige Gruppen (z.B. Menschen mit Behinderung, Roma, Opfer von Menschenhandel, Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben) haben je nach Art ihrer Gefährdung Anspruch auf staatliche Leistungen, auch wenn die Unterstützungsmöglichkeiten nicht selten unzureichend sind. Dazu gehören zum Beispiel Unterstützung bei der Jobsuche, Bildung und subventionierte Gesundheitsversorgung (IOM 2021, Sozialwesen).</p>
<p><rd nr="60"/>Die Gesundheitsversorgung ist extrem unterfinanziert (BTI 2022, S. 24), hat sich in den letzten Jahren jedoch stark zum Besseren gewandt. Das moldauische Gesundheitssystem ist eine Kombination aus öffentlichen und privaten medizinischen Einrichtungen. Das Gesundheitsministerium bietet bestimmte Leistungen der Primär- und Sekundärversorgung (z.B. medizinische Notfallversorgung, zahnärztliche Behandlung) kostenlos an. Allerdings wird nur eine sehr begrenzte Auswahl an Medikamenten abgedeckt. 20,3% der Bevölkerung sind nicht versichert, meist Landarbeiter oder informell Beschäftigte in städtischen Gebieten. Die meisten Versicherten sind gesetzlich krankenversichert, wenige privat. Seit 2010 erhalten Haushalte, die unter der Armutsgrenze liegen, automatisch eine gesetzliche Krankenversicherung. Unabhängig vom Versicherungsstatus sind gewährleistet der Zugang zu Notfall- und Erstversorgung, Leistungen im Zusammenhang mit grundlegenden gesundheitlichen Problemen wie HIV, AIDS und Tuberkulose sowie Impfungen. Die gesetzliche Krankenversicherung deckt spezialisierte ambulante und stationäre Behandlungen und eine sehr begrenzte Auswahl an Medikamenten ab. Für Menschen ohne Versicherungsschutz werden diese Leistungen in voller Höhe als OOP-Zahlungen übernommen, die sich aus informellen Zahlungen und Direktzahlungen zusammensetzen. Für Leistungen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt werden, gibt es keine offiziellen Gebühren oder Zuzahlungen; lediglich für abgedeckte Medikamente gibt es eine gestaffelte Skala von Zuzahlungen. Jedoch werden auf fast allen Leistungsebenen informelle Zahlungen erbracht (IOM 2021, Gesundheitsversorgung).</p>
<p><rd nr="61"/>Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist unter normalen Umständen auch ohne humanitäre Hilfe aus dem Ausland auch in ländlichen Gebieten sichergestellt (AA 2021, S. 18). Die Mietpreise sind in den Städten höher als auf dem Land. Eine durchschnittliche Ein-Zimmer-Wohnung in der Hauptstadt Chisinau kostet etwa 150 bis 300 EUR, eine Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnung je nach Lage des Hauses und Ausstattung zwischen 220 und 400 EUR (IOM 2021, Wohnsituation). Im Rahmen der staatlichen Unterstützung bei der Wohnungssuche können sich Berechtigte, z.B. alleinerziehende Mütter oder Familien mit drei und mehr Kindern, in Wartelisten einschreiben, warten aber meist vergeblich auf die Wohnungsvermittlung. Bedürftige können sehr geringe Zuschüsse zu den Heizkosten beantragen (AA 2021, S. 18).</p>
<p><rd nr="62"/>Das Gericht geht davon aus, dass der 19-jährige Kläger in der Lage sein wird, in Moldau durch Gelegenheitsarbeit seinen Lebensunterhalt zu sichern. Der Kläger hat keine Schule besucht, kein Berufsausbildung und kann Russisch und Romani nur lesen, aber nicht schreiben. In Moldau hat er bereits bei der Apfel- und Kartoffelernte geholfen und dafür am Tag 250 MDL erhalten. Der Kläger ist jung, gesund und arbeitsfähig. Ihm ist es zuzumuten, nach einer Rückkehr nach Moldau seinen Lebensunterhalt durch Aushilfs- und Gelegenheitsarbeit zu finanzieren.</p>
<p><rd nr="63"/>6. Der Abschiebung des Klägers steht auch kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.</p>
<p><rd nr="64"/>Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für das Vorliegen einer in Moldau für den Kläger bestehenden Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte. Umstände, aus denen sich ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot ergeben könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.</p>
<p><rd nr="65"/>7. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen sind auch die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung in die Republik Moldau rechtmäßig. Gegen die Befristung des gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG zu erlassenden gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung bestehen keine Bedenken. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich (§ 114 Satz 1 VwGO).</p>
<p><rd nr="66"/>Nach alledem war die Klage abzuweisen.</p>
<p><rd nr="67"/>Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.</p>
</div>
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346,663 | vg-munchen-2022-09-13-m-18-k-186070 | {
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} | M 18 K 18.6070 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-09-22T10:02:04 | 2022-10-17T11:10:26 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<div>
<p>I. Die Klage wird abgewiesen. </p>
<p>II. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens. </p>
<p>III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet. </p>
</div>
<h2>Tatbestand</h2>
<div>
<p><rd nr="1"/>Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen eine Rechtswahrungsanzeige nach § 7 Abs. 2 UVG.</p>
<p><rd nr="2"/>Der Kläger ist Vater eines am ... Februar 2017 geborenen Kindes, welches bei seiner Mutter lebt.</p>
<p><rd nr="3"/>Auf Antrag der Kindsmutter bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Juni 2018 für das Kind des Klägers Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz ab 1. März 2018.</p>
<p><rd nr="4"/>Mit streitgegenständlichem Schreiben vom 5. Juli 2018, zugestellt an den Kläger am 9. Juli 2018, wurde der Kläger über den Bewilligungsbescheid vom 25. Juni 2018 informiert und darauf hingewiesen, dass gemäß § 7 UVG die bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsansprüche des Kindes gegen den Kläger bis zur Höhe der bewilligten Leistung auf den Freistaat Bayern übergegangen seien. Der Kläger könne daher künftig seine Unterhaltspflicht gegenüber seinem Kind für den Zeitraum ab 1. März 2018 schuldbefreiend nur mehr durch Zahlungen an die Staatsoberkasse Bayern erfüllen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Zahlungen aufzunehmen und die für die Zeit bis 31. Juli 2018 bestimmten Unterhaltsbeträge in Höhe von 770 EUR bis spätestens 31. Juli 2018 sowie die ab dem kommenden Monat fälligen monatlichen Unterhaltsbeträge von derzeit 154 EUR spätestens am ersten des gleichen Monats im Voraus zu überweisen. Davon unabhängig würden die bisher geltend gemachten Zeiträume aus früherer UVG-Gewährung unberührt bleiben. Zusätzlich wurde darauf hingewiesen, dass Widersprüche gegen diese Mitteilung unzulässig sein, da Ansprüche des privaten Rechts geltend gemacht werden würden.</p>
<p><rd nr="5"/>Mit Schreiben vom 6. August 2018, eingegangen bei der Beklagten am 17. August 2018, legte der Kläger Einspruch gegen das Schreiben vom 5. Juli 2018 und den Bescheid vom 25. Juni 2018 ein und beantragte Akteneinsicht. Mit Schreiben vom 22. Oktober 2018 legt die Beklagte den Widerspruch der Regierung von Oberbayern zur Entscheidung vor.</p>
<p><rd nr="6"/>Die Regierung von Oberbayern wies den Widerspruch mit Bescheid vom 12. November 2018 als unzulässig zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Widerspruch nicht statthaft sei, weil er sich nicht gegen einen Verwaltungsakt richte. Das Schreiben vom 5. Juli 2018 sei kein Verwaltungsakt, sondern eine sogenannte Rechtswahrungsanzeige, mit der Folge, dass der unterhaltspflichtige Elternteil nicht mehr mit befreiender Wirkung an das Kind leisten könne. Mit dieser Information über den gegebenenfalls kraft Gesetzes eintretenden Anspruchsübergang habe die Beklagte keine eigenständige Entscheidung getroffen, sondern lediglich die geltende Rechtslage erläutert. Der nach § 7 UVG auf das Land übergehende Unterhaltsanspruch bleibe weiterhin ein Anspruch des privaten Rechts und müsse gegebenenfalls vor den Zivilgerichten eingeklagt werden. Der Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 25. Juni 2018 sei ebenfalls nicht statthaft, da der Kläger nicht Adressat des Bescheides sei.</p>
<p><rd nr="7"/>Mit Schriftsatz vom 11. November 2018, eingegangen am 12. Dezember 2018, erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage</p>
<p><rd nr="8"/>gegen das Schreiben der Beklagten vom 5. Juli 2018.</p>
<p><rd nr="9"/>Er führte aus, dass die Klage nach erfolgter Zustellung des Widerspruchsbescheids vom 12. November 2018 eingelegt werde. Die Klagebegründung erfolge mit gesonderten Schriftsatz innerhalb eines Monats.</p>
<p><rd nr="10"/>Mit Schriftsatz vom 4. Juli 2019, eingegangen am 12. Juli 2019 bestellte sich die Bevollmächtigte und beantragte, dem Kläger Prozesskostenhilfe zu bewilligen und sie als Bevollmächtigte beizuordnen.</p>
<p><rd nr="11"/>Mit Schriftsatz vom 13. September 2019 führte die Bevollmächtigte des Klägers aus, dass der Kläger seit dem 31. August 2017 ununterbrochen inhaftiert sei und dort keiner entlohnten Arbeit nachgehe; ebenso wenig verfüge er über sonstige Einkünfte. Dies habe zur Folge, dass dem Kläger als Schuldner bei Zahlung des Unterhalts weniger als der Bedarf nach Sozialhilferecht verbleiben würde, wobei im Rahmen der sozialhilferechtlichen Vergleichsberechnung nicht auf fiktives, sondern auf effektives Einkommen des Schuldners abzustellen sei. In einem solchen Fall finde ein Übergang des Unterhaltsanspruchs nach § 7 UVG nicht statt. Somit stehe der Beklagten kein Zahlungsanspruch gegen den Kläger zu.</p>
<p><rd nr="12"/>Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2019,</p>
<p><rd nr="13"/>die Klage abzuweisen.</p>
<p><rd nr="14"/>Sie führte aus, dass das Mitteilungsschreiben vom 5. Juli 2018 kein Verwaltungsakt sei, so dass die Klage unbegründet sei. Die Aufrechterhaltung der Klage durch eine Rechtsanwältin erscheine als mutwillig. Gerade für einen Rechtskundigen sei es offensichtlich, dass das Informationsschreiben gemäß § 7 UVG kein Verwaltungsakt sei; dies sei in diesem Schreiben ausdrücklich erwähnt.</p>
<p><rd nr="15"/>Die Bevollmächtigte des Klägers erwiderte hierauf mit Schriftsatz vom 11. November 2019, dass die Beklagte verkenne, dass es sich bei der Rechtswahrungsanzeige um einen Realakt handle und ein solcher Akt ebenfalls anfechtbar sei, und zwar entweder mit einer allgemeinen Leistungsklage oder mit einer Feststellungsklage nach § 43 VwGO. Hinsichtlich der Begründetheit der Klage sei anzumerken, dass eine Rechtswahrungsanzeige voraussetze, dass das Kind einen Unterhaltsanspruch gegenüber deren Adressaten habe. Dies setze aufgrund des § 1603 Abs. 1 BGB wiederum voraus, dass dieser finanziell leistungsfähig sei. Letzteres sei vorliegend offensichtlich nicht der Fall.</p>
<p><rd nr="16"/>Mit Beschluss vom 16. Juni 2020 wurde der Rechtsstreit nach Anhörung der Parteien gemäß § 6 Abs. 1 VwGO auf den Einzelrichter übertragen.</p>
<p><rd nr="17"/>Die Beklagte verzichtete mit Schriftsatz vom 16. Juni 2020 auf mündliche Verhandlung.</p>
<p><rd nr="18"/>Mit Beschluss vom 16. Juni 2020 wurde der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Bevollmächtigten aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten abgelehnt, da die Klage bereits mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig sei. Die Beschwerde hiergegen wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 9. Juli 2020 zurückgewiesen (Az.: 12 C 20.1546). Die Anträge der Bevollmächtigten des Klägers auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurden mit Beschlüssen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 10. August 2020 (Az.: 12 C 20.167) sowie 28. August 2020 (Az.: 12 C 20.1899) abgelehnt bzw. verworfen.</p>
<p><rd nr="19"/>Mit Schriftsatz vom 29. Mai 2022 erklärte die Bevollmächtigte des Klägers Verzicht auf mündliche Verhandlung und beantragte, das Verfahren an das AG München zu verweisen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es sich nach Auskunft der Landeshauptstadt München um eine Familiensache handle.</p>
<p><rd nr="20"/>Mit rechtskräftigen Beschluss vom 27. Juli 2022 erklärte das Gericht den Verwaltungsrechtsweg für zulässig.</p>
<p><rd nr="21"/>Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.</p>
</div>
<h2>Gründe</h2>
<div>
<p><rd nr="22"/>Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.</p>
<p><rd nr="23"/>Die Klage ist unzulässig und war daher abzuweisen. Dem Kläger fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis für die Klage.</p>
<p><rd nr="24"/>Unabhängig davon, ob sich die Klage gegen einen Verwaltungsakt oder einen Realakt richtet, ist ungeschriebene Voraussetzung für die Zulässigkeit einer jeden Inanspruchnahme des Gerichts das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis. Für eine unnötige oder gar missbräuchliche Ausübung von Klagemöglichkeiten brauchen die Gerichte nicht zur Verfügung zu stehen. Damit ist diese Prozessvoraussetzung Ausfluss des allgemeinen Verbots eines Rechtsmissbrauchs und von Amts wegen in jeder Lage des Prozesses zu prüfen. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis ist insbesondere dann nicht gegeben, wenn der Kläger sein Ziel auf anderem Wege schneller und einfacher erreichen könnte, wenn ein Erfolg seine Rechtsstellung nicht verbessern würde oder wenn es ihm auf den Klageerfolg gar nicht ankommt (Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, vor § 40 Rn. 11 ff.). Vorliegend kann der Kläger mit dem Klageverfahren seine Rechtsstellung nicht verbessern, sodass ihm das Rechtsschutzbedürfnis für das Klageverfahren fehlt.</p>
<p><rd nr="25"/>Dem streitgegenständlichen Schreiben der Beklagten vom 5. Juli 2018 (in Form des Widerspruchsbescheids vom 12. November 2018) kommt kein eigener Regelungsinhalt zu, so dass es den Kläger nicht belastet. Vielmehr handelt es sich ausschließlich um eine - den Kläger nicht belastende - Rechtswahrungsanzeige nach § 7 Abs. 2 Satz Nr. 2 UVG.</p>
<p><rd nr="26"/>Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 UVG geht ein Unterhaltsanspruch eines nach § 1 UVG berechtigten Kindes gegen den Elternteil, bei dem es nicht lebt, für die Zeit, für die ihm Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zustehen, in Höhe der Unterhaltsvorschussleistung auf das Land über.</p>
<p><rd nr="27"/>Für eine Inanspruchnahme dieses Elternteils auch für die Vergangenheit ist gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 UVG zudem erforderlich, dass dieser von dem Antrag auf Unterhaltsleistung Kenntnis erhalten hat und er darüber belehrt worden ist, dass er für den geleisteten Unterhalt nach diesem Gesetz in Anspruch genommen werden kann (Rechtswahrungsanzeige).</p>
<p><rd nr="28"/>Die Rechtswahrungsanzeige nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 UVG stellt folglich keinen Unterhaltsanspruch fest, sondern hat lediglich den Sinn, den Schuldner unverzüglich von der Bewilligung der Unterhaltsleistungen nach dem UVG zu unterrichten, damit er nicht mehr mit schuldbefreiender Wirkung an das unterhaltsberechtigte Kind zahlen kann (vgl. auch Punkt 7.4.2 der Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Unterhaltsvorschussgesetzes (VwUVG) unter Verweis auf BGH, U.v. 28.3.1979 - IV ZR 58/78 - juris). Unter dem Gesichtspunkt des Schuldnerschutzes hat sie eine der Mahnung vergleichbare Warnfunktion, indem sie den Unterhaltsschuldner darauf vorbereitet, dass er für Unterhaltsleistungen in Anspruch genommen wird. Sie zerstört das Vertrauen des Pflichtigen, dass die Dispositionen über seine Lebensführung durch Unterhaltspflichten nicht berührt werden, und wirkt insoweit gleich einer Mahnung.</p>
<p><rd nr="29"/>Ihre Auswirkungen sind nicht nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen, sondern nach den Maßstäben des bürgerlichen Rechts. Der Umfang des übergeleiteten Unterhaltsanspruchs bestimmt sich nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts (OLG Hamburg, U.v. 22.10.2010 - 12 UF 236/09 - juris Rn. 23 m.w.N.). In Bezug auf die Rechtswahrungsanzeige ist daher auch irrelevant, ob der Kläger zu diesem Zeitpunkt leistungsfähig ist (vgl. OLG Hamm, B.v. 17.3.2015 - II-2 UF 226/14 - juris Rn. 28 ff.).</p>
<p><rd nr="30"/>Die Rechtswahrungsanzeige hat somit ausschließlich die Folge, dass der unterhaltspflichtige Elternteil nicht mehr mit befreiender Wirkung an das Kind leisten kann und beinhaltet weder eine Aussage darüber, ob ein Unterhaltsanspruch besteht noch, ob ein Anspruchsübergang nach § 7 UVG stattgefunden hat. Vielmehr ist dies ausschließlich im Rahmen eines (möglichen) Zivilverfahrens zu klären (vgl. BayVGH, B.v. 16.11.2009 - 12 C 09.2738 - juris Rn. 4).</p>
<p><rd nr="31"/>Soweit die Beklagte im streitgegenständlichen Schreiben vom 5. Juli 2018 den Kläger darüber hinaus aufgefordert hat, die Zahlungen aufzunehmen und - im Einzelnen bestimmte - Unterhaltsbeträge zu überweisen, handelt es sich um eine zusätzliche (lediglich) zivilrechtliche Zahlungsaufforderung (vgl. Punkt 7.0.5 Buchst. a) der Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Unterhaltsvorschussgesetzes (VwUVG)). Hingegen handelt es sich insoweit nicht um eine Festsetzung der von dem Kläger zu leistenden Zahlungen durch Verwaltungsakt. Dies ergibt sich eindeutig aufgrund der Formulierungen im Schreiben vom 5. Juli 2018 sowie dem Hinweis, dass Widersprüche gegen diese Mitteilung nicht zulässig seien, da Ansprüche des privaten Rechts geltend gemacht würden (vgl. VG Köln, U.v. 23.3.2022 - 26 K 6527/21 - juris).</p>
<p><rd nr="32"/>Sofern der Kläger diese Zahlungsaufforderung nicht nachkommt, ist es folglich an der Beklagten, ihren behaupteten und geltend gemachten Anspruch vor den Zivilgerichten fest- bzw. durchzusetzen (Conradis, Unterhaltsvorschussgesetz, UVG, 2. Auflage 2013, § 7 Rn. 3, beck-online; vgl. Punkt 7.0.5 Buchst. b), 7.3.3., 7.6. VwUVG). Der Kläger ist hingegen alleine durch diese zivilrechtliche Zahlungsaufforderung nicht in seinen Rechtspositionen belastet.</p>
<p><rd nr="33"/>Der Kläger kann mit der vorliegenden Klage folglich seine Rechtsposition nicht verbessern, sodass ihm kein Rechtsschutzbedürfnis zukommt und die Klage als unzulässig abzuweisen ist.</p>
<p><rd nr="34"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.</p>
<p><rd nr="35"/>Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.</p>
</div>
|
|
346,636 | olgd-2022-09-13-2-ws-181-18322 | {
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} | 2 Ws 181-183/22 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-09-21T10:01:40 | 2022-10-17T11:10:21 | Beschluss | ECLI:DE:OLGD:2022:0913.2WS181.183.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Besetzungseinwände werden auf Kosten des jeweiligen Angeklagten als unzulässig verworfen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td></td>
<td></td>
<td></td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks"><strong>I.</strong></p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Seit dem 1. August 2022 findet vor der 15. großen Strafkammer des Landgerichts Duisburg, die mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt ist, die Hauptverhandlung gegen sechs Angeklagte statt, denen u. a. unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt wird. Das Verfahren gegen zwei Angeklagte war am 21. Juli 2022 hinzuverbunden worden.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am ersten Hauptverhandlungstag hat der Angeklagte H. durch seinen Verteidiger die auf zwei statt drei Berufsrichter reduzierte Besetzung mit der Begründung beanstandet, dass, insbesondere nach Verbindung der beiden Verfahren, mit mehr als zehn Verhandlungstagen zu rechnen sei. Diesem Besetzungseinwand haben sich die Angeklagten D. und M. jeweils durch ihren Verteidiger angeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Ferner hat der Angeklagte M. durch seinen Verteidiger die Besetzung mit den beiden anwesenden Schöffinnen beanstandet, weil diese nicht die tatsächlich zuständigen Schöffinnen seien. Diesem Besetzungseinwand haben sich die Angeklagten H. und D. jeweils durch ihren Verteidiger angeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Verteidiger des Angeklagten M. hat der Strafkammer mit Telefax vom 8. August 2022, 23:14 Uhr, eine schriftsätzliche Begründung der Besetzungseinwände übermittelt. Ferner hat er noch am 8. August 2022 per Telefax jeweils einen Schriftsatz der Verteidiger der Angeklagten H. und D. an die Strafkammer weitergeleitet. Diese Schriftsätze beschränken sich jeweils auf die Erklärung, dass sich der Unterzeichner den Ausführungen des Kollegen aus dem Schriftsatz vom 8. August 2022 anschließt.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Strafkammer hat die Besetzungseinwände mit Beschluss vom 12. August 2022 als unzulässig verworfen. Die Akten sind dem Senat am 26. August 2022 zur Entscheidung über die Besetzungseinwände vorgelegt worden. Die Verfahrensbeteiligten hatten bis zum 9. September 2022 Gelegenheit zur Stellungnahme.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks"><strong>II.</strong></p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Besetzungseinwände haben keinen Erfolg. Sie sind bereits nicht in zulässiger Weise erhoben worden.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">1.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Bei einem Besetzungseinwand sind die Tatsachen, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll, anzugeben (§ 222b Abs. 1 Satz 2 StPO). Die an diesen Vortrag zu stellenden Anforderungen entsprechen den Rügeanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO (vgl. OLG Celle StraFo 2020, 159; OLG Brandenburg StV 2021, 815; OLG Hamm BeckRS 2022, 12225). Die Verfahrenstatsachen sind mithin so vollständig und genau anzugeben, dass dem Senat allein auf Grundlage dieses Vortrags eine Entscheidung möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ferner sind alle Beanstandungen gleichzeitig vorzubringen (§ 222b Abs. 1 Satz 3 StPO). Das Nachschieben von Tatsachen ist auch dann unzulässig, wenn die Beanstandungsfrist noch nicht abgelaufen ist (vgl. BGH NStZ 1999, 367, 369; Gmel in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 222b Rdn. 9). Die Regelung, dass alle Beanstandungen gleichzeitig vorzubringen sind, kann sich notwendigerweise nur auf die laufende Beanstandungsfrist beziehen. Denn nach deren Ablauf ist Vorbringen zu einer vorschriftswidrigen Besetzung ohnehin präkludiert.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Hiernach erweist sich das Vorbringen zu den Besetzungseinwänden als völlig unzureichend.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Am ersten Hauptverhandlungstag ist bei dem Einwand gegen die Besetzungsreduktion (§ 76 Abs. 2 GVG) lediglich vorgebracht worden, dass, insbesondere nach Verbindung der beiden Verfahren, mit mehr als zehn Verhandlungstagen zu rechnen sei. Die Besetzung mit den beiden anwesenden Schöffinnen wurde nur mit der allgemein gehaltenen Begründung beanstandet, dass diese nicht die tatsächlich zuständigen Schöffinnen seien.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Mangels Darlegung konkreter Verfahrenstatsachen ermöglicht dieses unsubstantiierte Vorbringen dem Senat eine Überprüfung der Besetzungseinwände in keiner Weise.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das Vorbringen in dem Schriftsatz des Verteidigers des Angeklagten M. vom 8. August 2022 ist unbeachtlich, da es entgegen § 222b Abs. 1 Satz 3 StPO in unzulässiger Weise nachgeschoben worden ist. Dass die einwöchige Beanstandungsfrist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war, ändert daran - wie dargelegt - nichts.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Es wäre angezeigt gewesen, sich innerhalb der Beanstandungsfrist zunächst vollständige Kenntnis von den maßgeblichen Verfahrenstatsachen zu verschaffen und die Besetzungseinwände sodann gleichzeitig mit konkreten Darlegungen zu erheben. Die Beanstandungsfrist soll den Verfahrensbeteiligten gerade die Überprüfung der Besetzung ermöglichen (vgl. BT-Drucks. 19/14747 S. 31). Vorliegend ist der Besetzungseinwand gegen die beiden Schöffinnen am ersten Hauptverhandlungstag gleichsam ins Blaue hinein erhoben worden. Erst danach erfolgte seitens der Verteidigung die Einsichtnahme in die Unterlagen zur Heranziehung der beiden Schöffinnen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Soweit sich die Verteidiger der Angeklagten H. und D. jeweils mit schriftlicher Erklärung vom 8. August 2022 den schriftsätzlichen Ausführungen ihres Kollegen angeschlossen haben, fehlt es entgegen §§ 222b Abs. 1 Satz 4 Halbs. 2, 345 Abs. 2 StPO ohnehin bereits an einer eigenverantwortlichen Begründungsschrift. Eine Revisionsbegründung muss den für die Beurteilung der Beanstandung erforderlichen Sachverhalt eigenständig und vollständig vortragen. Eine Bezugnahme auf die Schriftsätze anderer Verfahrensbeteiligter reicht nicht (vgl. BGH NStZ 2007, 166; NStZ-RR 2018, 153; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 345 Rdn. 14). Nichts anderes gilt in entsprechender Anwendung von § 345 Abs. 2 StPO für Besetzungseinwände, die schriftsätzlich außerhalb der Hauptverhandlung vorgebracht werden.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">2.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Der Senat kann offen lassen. ob die Schriftsätze vom 8. August 2022 auch deshalb unbeachtlich sind, weil sie abweichend von § 32d Satz 2 StPO nicht als elektronisches Dokument, sondern per Telefax an die Strafkammer übermittelt worden sind.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Für Formunwirksamkeit spricht, dass § 345 Abs. 2 StPO für außerhalb der Hauptverhandlung vorgebrachte Besetzungseinwände entsprechend gilt (§ 222b Abs. 1 Satz 4 Halbs. 2 StPO). Dieser Verweis auf die für die Revisionsbegründung normierten Formvorschriften kann dahin als dynamisch und umfassend verstanden werden, dass der Verteidiger bei einem Besetzungseinwand außerhalb der Hauptverhandlung auch die seit dem 1. Januar 2022 für die Revisionsbegründung geltende Pflicht zur elektronischen Übermittlung zu beachten hat (§ 32d Satz 2 StPO). Für eine unterschiedliche Handhabung besteht jedenfalls kein plausibler Anlass, zumal ein Besetzungseinwand vormals gerade mit der Revision geltend zu machen war.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">3.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Entgegen § 222b Abs. 3 Satz 1 StPO sind die Besetzungseinwände dem Senat nach der Entscheidung der Strafkammer vom 12. August 2022 nicht spätestens vor Ablauf von drei Tagen, sondern deutlich verspätet erst am 26. August 2022 vorgelegt worden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Drei-Tage-Frist dient der Beschleunigung des Vorabentscheidungsverfahrens. Aus einer Fristüberschreitung ergeben sich indes keine rechtlichen Folgen. Im Falle der Begründetheit eines Besetzungseinwands kann eine verspätete Aktenvorlage dazu führen, dass in der laufenden Hauptverhandlung zwischenzeitlich zusätzliche Ressourcen ohne Nutzen verbraucht werden. Wenn ein Besetzungseinwand keinen Erfolg hat, fehlt selbst eine solche faktische Auswirkung.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"><strong>III.</strong></p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Die Prüfung, ob tatsächlich Kosten entstanden oder Auslagen angefallen sind, bleibt dem Kostenfestsetzungsverfahren vorbehalten (vgl. BGH BeckRS 2021, 18244).</p>
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346,586 | ovgni-2022-09-13-13-me-15022 | {
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} | 13 ME 150/22 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-09-16T10:01:23 | 2022-10-17T11:10:13 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt"><strong>I.</strong> Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig<br>- Einzelrichter der 5. Kammer - vom 28. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt"><strong>II.</strong> Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig<br>- Einzelrichter der 5. Kammer - vom 28. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:72pt">Der Antragsteller trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p><strong>I. 13 ME 150/22</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p><strong>1.</strong> Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig<br>- Einzelrichter der 5. Kammer - vom 28. April 2022 bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den mit der Beschwerde unverändert weiter verfolgten Antrag, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller umgehend nach A-Stadt zu verteilen (vgl. den Beschwerdebegründungsschriftsatz v. 31.5.2022, S. 3 = Blatt 64 der Gerichtsakte), im Ergebnis zutreffend abgelehnt. Der Antragsteller hat weder einen Anordnungsgrund (a.) noch einen Anordnungsanspruch (b.) in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p><strong>a.</strong> Ein <span style="text-decoration:underline">Anordnungsgrund</span> ist gleichzusetzen mit einem spezifischen Interesse gerade an der begehrten vorläufigen Regelung. Dieses Interesse ergibt sich regelmäßig aus einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 19.10.2010 - 8 ME 221/10 -, juris Rn. 4; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123 Rn. 81 (Stand: März 2014)). Dabei ist einem die Hauptsache vorwegnehmenden Antrag im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 27.5.2004 - BVerwG 1 WDS-VR 2.04 -, juris Rn. 3; OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.7.1962 - I B 57/62 -, OVGE MüLü 18, 387, 388 f.) dann stattzugeben, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2008 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, BVerfGE 79, 69, 74 - juris Rn. 27; BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011 - BVerwG 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6; Beschl. v. 29.4.2010 - BVerwG 1 WDS VR 2.10 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 28 - juris Rn. 18 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.5.2010 - 8 ME 109/10 -, juris Rn. 14; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 193 ff. jeweils m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Hier erstrebt der Antragsteller eine solche Vorwegnahme der Hauptsache. Denn das Ziel der von ihm begehrten Regelungsanordnung ist mit dem Ziel des Klageverfahrens (VG Braunschweig, 5 A 81/22) identisch. Dem steht nicht entgegen, dass die im einstweiligen Anordnungsverfahren erstrebte Rechtsstellung unter der auflösenden Bedingung des Ergebnisses des Klageverfahrens stünde. Denn auch die bloße vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache vermittelt dem Antragsteller die mit dem Klageverfahren erstrebte Rechtsposition und stellt ihn - ohne dass diese Rechtsstellung rückwirkend wieder beseitigt werden könnte - vorweg so, als wenn er im Klageverfahren bereits obsiegt hätte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989 - BVerwG 2 ER 301.89 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15 - juris Rn. 3; Senatsbeschl. v. 8.10.2003<br> - 13 ME 342/03 -, NVwZ-RR 2004, 258 f. - juris Rn. 29; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 21.10.1987 - 12 B 109/87 -, NVwZ-RR 1988, 19; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 180 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Der nach dem dargestellten Maßstab nur ausnahmsweise mögliche Erlass einer solchen, die Hauptsache vorwegnehmenden Regelungsanordnung kommt hier nicht in Betracht. Denn der Antragsteller hat nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Sein Hinweis auf die durch die Antragsgegnerin beabsichtigte Abschiebung (vgl. Schriftsatz des Antragstellers v. 11.3.2022, S. 3 = Blatt 3 der Gerichtsakte) ist in diesem Verfahren nicht zielführend, da der Antragsteller nicht die Aussetzung seiner Abschiebung, sondern die Umverteilung begehrt. Sein weitergehender Hinweis, die Stadtgemeinde A-Stadt könne vor der Umverteilung dorthin nicht über seinen Antrag auf Erteilung von Aufenthalts- und Beschäftigungserlaubnis entscheiden und er könne seinen Arbeitsvertrag als Facharbeiter im Baugewerbe nicht erfüllen (vgl. Schriftsatz des Antragstellers v. 11.3.2022, S. 3 = Blatt 3 der Gerichtsakte), zeigt keine unzumutbaren Nachteile auf. Zum einen hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass er in der Sache überhaupt die Erteilung einer auch zur Beschäftigung berechtigenden Aufenthaltserlaubnis beanspruchen kann. Zum anderen ist es dem Antragsteller unbenommen, den Antrag auf Erteilung von Aufenthalts- und Beschäftigungserlaubnis bei der derzeit für ihn zuständigen Ausländerbehörde zu stellen und sich bei dem behaupteten Fachkräftemangel im Baugewerbe ggf. um eine andere Stelle als Facharbeiter im Baugewerbe zu bemühen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p><strong>b.</strong> Im Übrigen hat der Antragsteller auch das Bestehen eines <span style="text-decoration:underline">Anordnungsanspruchs</span> nicht glaubhaft gemacht. Eine hohe, mithin weit überwiegende Erfolgswahrscheinlichkeit in einem Hauptsacheverfahren (vgl. zu diesem strengen Maßstab bei einer vorläufigen Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Anordnungsverfahren: BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989 - BVerwG 2 ER 301.89 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15 - juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.3.2008 - 13 S 418/08 -, juris Rn. 7; Senatsbeschl. v. 2.2.2007 - 13 ME 362/06 -, juris Rn. 9; Hessischer VGH, Beschl. v. 29.8.2000 - 5 TG 2641/00 -, NVwZ-RR 2001, 366 - juris Rn. 6; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 191) besteht auch nach seinem Beschwerdevorbringen nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p><strong>(1)</strong> Entgegen der Auffassung des erstinstanzlich entscheidenden Verwaltungsgerichts (Beschl. v. 28.4.2022, Umdruck S. 2) erachtet der Senat aber eine <span style="text-decoration:underline">Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die begehrte Umverteilungsentscheidung nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG</span> als gegeben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Für eine länderübergreifende Umverteilung (Weiter- oder Rückverteilung) nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist grundsätzlich eine Behörde des Landes zuständig, in das der betroffene Ausländer zuvor nach § 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG verteilt wurde (so auch OVG Bremen, Beschl. v. 7.7.2022 - 2 B 104/22 -, juris Rn. 20; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 15a Rn. 39 f.; a.A. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 7.10.2014 - 2 L 152/13 -, juris Rn. 8 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 9.4.2014 - OVG 3 B 33.11 -, juris Rn. 21 ff.; Broschen, in: GK-AufenthG, § 15a Rn. 47 (Stand: Januar 2022)). Zur Begründung verweist der Senat auf die Ausführungen des OVG Bremen (Beschl. v. 7.7.2022 - 2 B 104/22 -, juris Rn. 21 ff.), denen er sich nach eigener Prüfung und aus eigener Überzeugung anschließt:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">"Der Gesetzgeber hat mit dem Hinweis auf "die zuständigen Behörden" keine Aussage darüber getroffen, welche Behörden für die Entscheidung zuständig sind. Soweit die Gegenansicht etwas Anderes der Begründung eines Gesetzesentwurfs des Bundesrats über die Einführung eines § 56a AuslG (BT-Drucks. 14/5266 v. 08.02.2001) entnehmen will, überzeugt dies im Ergebnis nicht. Mit § 56a AuslG-E wurde erstmals die Regelung eines Verteilungsverfahrens für unerlaubt eingereiste Ausländer, die keinen Asylantrag stellen, vorgeschlagen. Ziel der beabsichtigten Neuregelung war es, die bis dahin bestehende Regelungslücke zu schließen und eine gerechte Lastenverteilung zwischen den Ländern sicherzustellen. Der Entwurf orientierte sich an den für die Verteilung von Asylbewerbern geltenden Vorschriften (BT-Drucks. 14/5266, S. 6). § 56a Abs. 5 AuslG-E sah vor, dass auch diejenigen Ausländer auf die Verteilquoten angerechnet werden, die nach der Verteilungsentscheidung "mit Erlaubnis der zuständigen Behörden" ihren Wohnsitz in einem anderen Land nehmen. Zwar legt die Begründung nahe, dass der Bundesrat ursprünglich eine Regelung schaffen wollte, wonach die Verbandskompetenz bei dem Bundesland liegt, in das der Zuzug begehrt wird. In dem Gesetzesentwurf heißt es dazu: "Absatz 5 trägt dem Umstand Rechnung, dass sich nach der Verteilung die Notwendigkeit einer "Umverteilung" ergeben kann. Die möglichen Gründe für die von der zuständigen Behörde des aufnehmenden Landes im Einvernehmen mit der zuständigen Behörde des abgebenden Landes zu treffende Entscheidung [Hervorhebung durch den Senat] sind in § 51 Abs. 1 AsylVfG benannt. Wenn der Wohnsitz danach in ein anderes Land verlegt werden darf, wird der Ausländer dem aufnehmenden Land auf seine Quote angerechnet." (BT-Drs. 14/5266, S. 7). In seiner Stellungnahme zum Entwurf der Bundesregierung für das Aufenthaltsgesetz forderte der Bundesrat dann, die Regelung dort als § 15a einzufügen; die Begründung geht aber auf die Details der Vorschrift nicht mehr ein (vgl. BT-Drs. 14/7987, S. 8 f.). Der Vorschlag wurde zunächst nicht in das Aufenthaltsgesetz übernommen (vgl. BGBl. 2002 I 1946). Erst nachdem das Bundesverfassungsgericht das "erste" Aufenthaltsgesetz wegen der fehlerhaften Zustimmung des Bundesrats für nichtig erklärt hatte, wurde § 15a im Vermittlungsausschuss in Anlehnung an eine Beschlussempfehlung des Innenausschusses (vgl. BT-Drs. 15/955, S. 10 ff.) eingefügt; eine Begründung gibt es hierfür nicht (vgl. BT-Drs. 15/3479). Bereits daraus folgt, dass die Begründung zu dem ursprünglichen, nicht umgesetzten § 56a Abs. 5 AuslG-E des Bundesrats, lediglich ein schwaches Indiz für den Willen des Gesetzgebers bei der späteren Umsetzung einer vergleichbaren Regelung ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Ein gesetzgeberischer Wille, eine Verbandszuständigkeit des aufnehmenden Landes für Umverteilungen zu schaffen, hat in § 15a Abs. 5 AufenthG jedenfalls objektiv keinen Niederschlag gefunden. In der bloßen Bezugnahme auf die für eine Entscheidung "zuständigen" Behörden, ist nach allgemeinen Auslegungsregeln regelmäßig keine Vollregelung der Zuständigkeit zu sehen (vgl. zu § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG BVerwG, Beschl. v. 02.12.2021 – 1 B 38/21, juris Rn. 5). Vielmehr wird damit auf die entsprechenden Regelungen der Länder zur – hier – örtlichen Zuständigkeit in den gleichlautenden Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder verwiesen (BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 – 1 C 5/11, BVerwGE 142, 195-205, Rn. 17; vgl. zur Zuständigkeit zur Änderung einer Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG zudem OVG S-H, Beschl. v. 30.07.2020 – 4 MB 23/20, juris Rn. 24). Etwas Anderes folgt auch nicht daraus, dass sich die Regelung des Verteilungsverfahrens für unerlaubt eingereiste Ausländer nach der Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 56a AuslG-E an den für die Verteilung von Asylbewerbern geltenden Vorschriften orientieren sollte. § 51 AsylG, der die länderübergreifende Verteilung im Asylverfahren regelt, enthält und enthielt auch zum Zeitpunkt der Bundesratsinitiative in seinem Abs. 2 Satz 2 gerade eine Regelung über die Verbandskompetenz des Landes, in das der Ausländer ziehen möchte, wie sie in § 15a Abs. 5 AufenthG fehlt. Ohne eine solche Regelung kann jedoch nicht sicher auf den Willen des Gesetzgebers zur Regelung einer bestimmten Verbandszuständigkeit geschlossen werden. Das zeigt auch ein Vergleich mit der Regelung des § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG, wonach "die Ausländerbehörde" über die nachträgliche Abänderung einer Wohnsitzauflage für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, deren Lebensunterhalt nicht gesichert ist, entscheidet. Die Gesetzesbegründung enthält zur Frage der Zuständigkeit auch in Bezug auf diese Regelung keine Aussage (BT-Drs. 18/3144, S. 13). Ein Vorschlag des Bundesrats über eine ergänzende Regelung, wonach über eine Änderung der Wohnsitzauflage zur Ermöglichung eines den Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde überschreitenden Wohnortwechsels die für den Zuzugsort zuständige Ausländerbehörde entscheidet (BR-Drs. 506/14 (B)), konnte sich nicht durchsetzen, da die Bundesregierung im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der Regelung noch Prüfbedarf sah (BT-Drs. 18/3160 S. 12). Mangels ausdrücklicher Kompetenzregelung steht die Abänderungsbefugnis daher nach allgemeiner Ansicht der Ausländerbehörde des bisherigen Wohnorts zu (OVG Bremen, Beschl. v. 17.09.2020 – 2 B 148/20, juris Rn. 16; OVG SLH, Beschl. v. 30.07.2020 – 4 MB 23/20, juris Rn. 24; BayVGH, Beschl. v. 15.09.2020 - 10 ZB 20.1593, juris Rn. 4; OVG LSA, Beschl. v. 22.01.2015 - 2 O 1/15, juris Rn. 8; OVG Bln.-BBg., Beschl v. 27.01.2021 – OVG 3 S 106/20, juris Rn. 7). Dann kann in Bezug auf Umverteilungsentscheidungen aus § 15a Abs. 5 AufenthG nichts Anderes gelten, zumal es allein vom Zeitpunkt der Antragsstellung abhängt (vor bzw. nach Duldungserteilung; vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 01.06.2022 – 2 B 440/21, zur Veröffentlichung vorgesehen), ob der Ausländer seinen länderübergreifenden Wohnsitzwechsel nach dieser Vorschrift oder nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG erreichen kann…</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Mangels anderslautender Kompetenzregelungen in § 15a Abs. 5 AufenthG folgt die Verbandskompetenz der Bundesländer daher aus einer entsprechenden Anwendung der zur örtlichen Zuständigkeit getroffenen Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 – 1 C 5/11, juris Rn. 17 f.; OVG Bremen, Beschl. v. 17.09.2020 – 2 B 148/20, juris Rn. 11). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3a BremVwVfG und den gleichlautenden niedersächsischen Regelungen (§ 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG) richtet sich die örtliche Zuständigkeit – und entsprechend dazu die Verbandskompetenz– in Angelegenheiten, die eine natürliche Person betreffen, nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Bei der Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts sind auch ausländerrechtliche Regelungen zu berücksichtigen, die den Verbleib des Betroffenen an einem bestimmten Ort beeinflussen (OVG Bremen, Beschl. v. 17.09.2020 – 2 B 148/20, juris Rn. 12). Bei Ausländern, die der Verteilung nach § 15a AufenthG unterliegen, werden der gewöhnliche Aufenthalt und ihm folgend die örtlich zuständige Ausländerbehörde zunächst durch die Verteilungsentscheidung bestimmt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 07.06.2018 – 1 B 92/18, juris Rn. 13; Beschl. v. 02.03.2017 – 1 B 331/16, juris Rn 16). Daraus folgt, dass ein unerlaubt eingereister Ausländer auch dann, wenn er einer sofort vollziehbaren oder bestandskräftigen Verteilungsentscheidung nicht nachkommt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt bis zu einer etwaigen landesinternen Weiterverteilung am Ort der durch die Verteilung festgelegten Aufnahmeeinrichtung hat (§ 15a Abs. 4 Sätze 1 und 4 AufenthG). Für einen Umverteilungsantrag nach § 15a Abs. 5 AufenthG, der nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ohnehin nur bis zur erstmaligen Aussetzung der Abschiebung gestellt werden kann (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 01.06.2022 – 2 B 440/21, zur Veröffentlichung vorgesehen), liegt die Verbandskompetenz daher im Regelfall bei dem Bundesland, in dem die durch die Erstverteilung festgelegte Aufnahmeeinrichtung liegt."</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Der für die örtliche Zuständigkeit danach maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt (vgl. zu dessen Bestimmung auch: Senatsbeschl. v. 5.12.2017 - 13 ME 181/17 -, juris Rn. 24 ff.) des Antragstellers wird nicht durch seine Wohnung im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen bestimmt, sondern durch die vollziehbare Verteilungsentscheidung nach § 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG vom 20. Juli 2021 (Blatt 22 f. der Gerichtsakte). Nach dieser kraft Gesetzes sofort vollziehbaren (Erst-)Verteilungsentscheidung hat sich der Antragsteller in die Aufnahmeeinrichtung des Landes Niedersachsen in Oerbke zu begeben und dort zu wohnen, bis er innerhalb des Landes Niedersachsen weiterverteilt wird. Anhaltspunkte dafür, dass eine Vollstreckung dieser Verteilungsentscheidung von den zuständigen Behörden nicht mehr beabsichtigt oder nicht mehr möglich ist (vgl. zur Auswirkung solcher Umstände auf die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts: OVG Bremen, Beschl. v. 7.7.2022 - 2 B 104/22 -, juris Rn. 25 f.), sind vom Antragsteller nicht aufgezeigt worden und für den Senat auch nicht offensichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die sachliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin ist im Runderlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport, Organisation der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI), vom 13. August 2019 (Nds. MBl. S. 1207), dort Nr. 2.4 (<em>"Die LAB NI ist insbesondere … gemäß § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG zuständig für die Erteilung von Erlaubnissen, die es Ausländerinnen und Ausländern erlauben, ihre Wohnung in einem anderen Land zu nehmen"</em>), in Verbindung mit § 2 Nr. 1 Buchst. b) bb) AllgZustVO-KOM bestimmt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p><strong>(2)</strong> Der Antragsteller hat aber einen materiellen <span style="text-decoration:underline">Anspruch auf Umverteilung nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG</span> in den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen nicht glaubhaft gemacht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG können die zuständigen Behörden dem Ausländer nach der (Erst-)Verteilung erlauben, seine Wohnung in einem anderen Land zu nehmen. Der Kreis von Gründen, die eine solche Umverteilung rechtfertigen können, ist in dieser Bestimmung nicht eingegrenzt. Es muss sich daher nicht um zwingende Gründe im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG handeln. In Betracht kommt vielmehr jeder sachliche Grund, der gegen den weiteren Verbleib an dem durch die vorausgegangene (Erst-)Verteilungsentscheidung bestimmten Aufenthaltsort spricht, gleich wann dieser Grund entstanden ist (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 7.7.2022 - 2 B 104/22 -, juris Rn. 34; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 10.3.2016 - 4 Bs 3/16 -, juris Rn. 28; Dollinger, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.7.2020, § 15a AufenthG Rn. 35; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15a AufenthG Rn. 43). Ist ein solcher sachlicher Grund gegeben, steht die Entscheidung über die Umverteilung im Ermessen der zuständigen Behörde (vgl. Dollinger, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.7.2020, § 15a AufenthG Rn. 35; Westphal/Huber, in: Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3. Aufl. 2021, § 15a AufenthG Rn. 16).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Hieran gemessen mag das Ansinnen des Antragstellers, im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen eine Erwerbstätigkeit als Facharbeiter im Baugewerbe aufnehmen zu wollen, zwar einen sachlichen Grund für eine Umverteilung darstellen. Es ist aber nicht ersichtlich, dass sich dieser zwingend gegen die mit der Erstverteilung verbundenen öffentlichen Interessen durchsetzt und deshalb das Ermessen der Antragsgegnerin dahin reduziert ist, dass nur die länderübergreifende Umverteilung des Antragstellers in den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen eine von nach § 114 Satz 1 VwGO relevanten Fehlern freie Ermessensbetätigung sein kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p><strong>2.</strong> Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Der Beschwerde kommt auch nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 - juris Rn. 11) unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfebewilligung die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.). Denn auch ungeachtet der vor der Beschwerdeentscheidung durch den Senat noch nicht geklärten Rechtsfrage, welche Behörde für die Umverteilungsentscheidung nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG zuständig ist, hat der Antragsteller den Anordnungsgrund und auch die Voraussetzungen für den materiellen (Anordnungs-)Anspruch auf Umverteilung in den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen nicht glaubhaft gemacht. Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf seine Ausführungen in diesem Beschluss zu I.1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p><strong>3.</strong> Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens ergibt sich aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p><strong>4.</strong> Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p><strong>II. 13 PA 151/22</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p><strong>1. </strong>Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 28. April 2022 bleibt ohne Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt. Denn dem erstinstanzlichen Rechtsschutzbegehren kommt auch nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfebewilligung die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu. Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf die Ausführungen in diesem Beschluss zu I.1. und I.2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p><strong>2.</strong> Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO. Ein Streitwert ist nicht festzusetzen. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Kostentatbestand in Nr. 5502 der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) zum Gerichtskostengesetz (vgl. zur Entstehung von Gerichtskosten bei Zurückweisung einer PKH-Beschwerde: Senatsbeschl. v. 28.3.2019 - 13 PA 65/19 -, juris Rn. 3).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007060&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
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346,582 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-13-6-b-2822 | {
"id": 1071,
"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
"slug": "vg-schleswig-holsteinisches",
"city": 647,
"state": 17,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 6 B 28/22 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-09-16T10:00:41 | 2022-10-17T11:10:12 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0913.6B28.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Anträge werden abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird auf 6.250,00 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Anträge des Antragstellers, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„1. Die Vereidigung und Amtseinführung des am 16. Juni 2022 neu gewählten Landrats vor der Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache durchzuführen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung wird ein Ordnungsgeld i.H.v. 100.000,00 € verhängt.“ bleiben ohne Erfolg. Sie sind unzulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>So begehrt der Antragsteller vorliegend, die für den 1. Oktober 2022 beabsichtigte Vereidigung des am 16. Juni 2022 neu gewählten Landrates zu untersagen, weil ein durch ihn geführtes Verfahren auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abwahl des zuvor bestellten Landrates noch anhängig sei. Der Antragsteller hat am 17. Juli 2021 Klage beim beschließenden Gericht erhoben (Az.: 6 A 159/21) und beantragt, die Rechtswidrigkeit der Abwahl des zuvor bestellten Landrates des Antragsgegners festzustellen. Unter dem 28. Mai 2022 hatte sich der Antragsteller bereits an das Gericht gewandt und um einstweiligen Rechtsschutz gegen die Neuwahl des Landrates nachgesucht (Az.: 6 B 20/22). Diesen Antrag hat das Gericht mit Beschluss vom 13. Juni 2022 abgelehnt. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wurde durch das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 15. Juli 2022 verworfen (Az.: 3 MB 11/22). Mit Urteil vom 31. August 2022 hat das nunmehr beschließende Gericht schließlich die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abberufung des ehemaligen Landrates abgewiesen. Die Rechtskraft des Urteils ist noch nicht eingetreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Dies berechtigt den Antragsteller jedoch nicht, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Vereidigung eines bereits neu gewählten Landrates zu untersagen. Hierzu fehlt ihm die notwendige Antragsbefugnis. Auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird vorausgesetzt, dass in analoger Anwendung des § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) eine Verletzung der subjektiven Rechte des Antragstellers nach seinem Vorbringen zumindest möglich erscheint (vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 123, Rn. 107 ff.). Dies gilt auch in einem - wie hier vorliegenden - Kommunalverfassungsstreit (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 12. August 2019 – Au 7 K 18.1674 –, juris Rn. 25). Dieser - hier in Form eines Organstreits - ist oftmals dadurch gekennzeichnet, dass Organe oder Organteile über Bestand und Reichweite zwischen- oder innerorganschaftlicher Rechte streiten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch im Falle eines solchen Begehrens - wie vorliegend bei dem Antrag zu 1. - eine subjektiv-rechtliche Anbindung an die Rechtssphäre des Klägers notwendig ist. Allein dann, wenn dieser zumindest die Möglichkeit darlegen kann, selbst vom Gegenstand seines Antrages betroffen zu sein, ist er befugt, um Rechtsschutz nachzusuchen (vgl. Pietzecker, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 43, Rn. 28 ff. m.w.N.). Ist ein Rechtsschutzgesuch jedoch allein auf die Feststellung einer allein objektivrechtlichen Verletzung von Rechtsnormen gerichtet, ohne dass der Antragsteller für sich darlegen kann, durch rechtswidriges Organhandeln in einer ihm gesetzlich eingeräumten (Innen-)Rechtsposition als Teil jenes Organs verletzt zu sein, liegt auch bei Vorlage eines kommunalverfassungsrechtlichen Organstreits ein unzulässiges Rechtsschutzgesuch vor (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 1992 – 1 S 2242/91 – juris Rn. 13).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>So liegt es hier. Eine Verletzung der Rechte des Antragstellers in seiner Stellung als Kreistagsabgeordneter kann nicht angenommen werden. Es ist nicht ersichtlich, dass seine Rechte durch die beabsichtigte Vereidigung des bereits neu gewählten Landrates am 1. Oktober 2022 beeinträchtigt werden könnten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Die Vereidigung eines Landrates richtet sich nach § 49 Kreisordnung für Schleswig-Holstein (KrO). Die Landrätin oder der Landrat und ihre oder seine Stellvertretenden werden nach dieser Vorschrift vor ihrem Amtsantritt von der Kreispräsidentin oder dem Kreispräsidenten in öffentlicher Sitzung vereidigt (Satz 1). Sie leisten den Beamteneid (Satz 2). Bei dieser Vorschrift handelt es sich im Wesentlichen um eine Vorgabe, wann der Eid zu leisten ist. Die Notwendigkeit der Vereidigung ergibt sich hingegen aus § 46 KrO (vgl. Brickner/Wolf, in: Kreisordnung für Schleswig-Holstein Kommentar, § 49 Rn. 3). Nach dessen Abs. 1 wird die gewählte Landrätin oder der gewählte Landrat im Falle des § 45 Abs. 3 Satz 1 nach Bestätigung zur Beamtin oder zum Beamten auf Zeit ernannt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Dass die Durchführung der Vereidigung des neu gewählten Landrates als Beamten auf Zeit den Antragsteller in seiner kommunalverfassungsrechtlichen Stellung als Kreistagsabgeordneter verletzen könnte, weil durch die Wahl irreversible Fakten geschaffen werden, ist vorliegend nicht im Ansatz dargetan. Zwar erscheint es demnach theoretisch denkbar, dass durch eine nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abberufung des ehemals bestellten Landrates die Vereidigung am 1. Oktober 2022 ebenfalls rechtswidrig werden könnte. Auf die vorgetragenen irreparablen Schäden in Form von zu viel gezahlten Gehältern und Pensionsansprüchen, die zulasten des Antragsgegners anfallen würden, kann sich der Antragsteller jedoch nicht berufen, weil es sich bei diesen Interessen nicht um subjektive Rechte handelt, die ihm in seiner Funktion als Kreistagsabgeordneter zustehen. Es handelt sich hierbei gerade nicht um eine wehrhafte (Innen-)Rechtsposition. Eine objektive</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Abwendungsbefugnis, um Schaden durch eine fehlerhafte Vereidigung von der Körperschaft, der er angehört, abzuwenden, steht dem Antragsteller nicht zu.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 52 Abs. 1 und 3, § 53 Abs. 2 Ziff. 1 GKG. Das Gericht folgt dabei hinsichtlich des Antrags zu 1. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Anh § 164, Rn. 14 ff.) und hat nach dessen Ziffer 22.7 für einen Kommunalverfassungsstreit den Wert von 10.000,00 € angenommen, der nach Ziff. 1.5 im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren ist. Nach Ziff. 1.7.1 des Streitwertkatalogs beträgt der Streitwert hinsichtlich der begehrten Androhung eines Zwangsgeldes die Hälfte von ¼ des Streitwertes der Hauptsache.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,780 | vghbw-2022-09-12-db-16-s-53021 | {
"id": 161,
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} | DB 16 S 530/21 | 2022-09-12T00:00:00 | 2022-09-30T10:02:04 | 2022-10-17T11:10:43 | Urteil | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 18. Dezember 2020 – DB 11 K 3857/19 – wird zurückgewiesen.</p><p>Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p><p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p>
<h2>Tatbestand</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="1"/>Die Beteiligten streiten über die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="2"/>Der am xxxxxxxxxx geborene Beklagte trat am 03.04.1987 – unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf – als Polizeihauptwachtmeisteranwärter im BGS in den Dienst der Klägerin ein. Am 05.11.1996 wurde ihm die Eigenschaft eines Beamten auf Lebenszeit verliehen. Ab dem 01.01.2003 war er als Bearbeiter im Gemeinsamen Zentrum der deutsch-französischen Polizei- und Zollbehörden in Kehl (im Folgenden: GZ) eingesetzt. Am 24.11.2010 beendete er das Aufstiegsverfahren in den gehobenen Dienst und wurde zum Polizeikommissar ernannt. Nach mehreren Auslandsverwendungen u.a. im Kosovo und in Afghanistan wurde dem Beklagten am 03.02.2013 mit Wirkung vom 01.08.2011 ein Sachbearbeiterposten am GZ übertragen. Zuletzt wurde er am 29.05.2013 zum Polizeioberkommissar (Bes.-Gr. A 10) befördert. In seiner letzten dienstlichen Beurteilung vom 04.02.2014 wurden seine Leistungen für den Zeitraum vom 01.10.2012 bis zum 30.09.2013 mit der Gesamtnote „6“ (entspricht den Anforderungen in jeder Hinsicht, wobei gelegentlich herausragende Leistungen erbracht werden) bewertet. Zuvor war er für den Zeitraum vom 01.10.2010 bis zum 30.09.2012 mit der Gesamtnote „7“ (übertrifft die Anforderungen durch häufig herausragende Leistungen) beurteilt worden. Aufgrund herausragender Leistungen als Teil einer Teamleistung wurde dem Beklagten in den Jahren 2008, 2009 und 2013 jeweils eine Leistungsprämie zuerkannt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="3"/>Der Beklagte ist ledig und hat zwei volljährige Kinder. Nach seinen Angaben in der Berufungsverhandlung betragen seine monatlichen Dienstbezüge netto etwa 2.200,-- EUR monatlich. Im Rahmen einer genehmigten gewerblichen Nebentätigkeit erzielt er zusätzlich jährliche Einkünfte von ca. 20.000,-- EUR nach Steuern. Seinem xxxx geborenen Sohn, der sich noch in Ausbildung befindet, leistet er monatlich 365,-- EUR Unterhalt. Disziplinarrechtlich ist der Beklagte bislang nicht in Erscheinung getreten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="4"/>Im Zuge von Ermittlungen gegen Personen aus der „Rockerszene“ ergab sich im Jahr 2013 der Verdacht, dass der Beklagte interne Informationen weitergegeben haben könnte. Die Staatsanwaltschaft xxxxxxxxx leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verletzung des Dienstgeheimnisses nach § 353b Abs. 1 StGB gegen ihn ein. Mit Schreiben vom 05.06.2013 informierte sie das Bundesministerium des Inneren hierüber und ersuchte um Prüfung, ob die nach § 353b Abs. 4 Nr. 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt werde. Diese wurde daraufhin erteilt. Eine Information des Beklagten erfolgte zunächst nicht, um die Ermittlungen nicht zu gefährden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="5"/>Nachdem am 21.02.2014 sowohl der Arbeitsplatz des Beklagten im GZ als auch dessen Privatwohnung im Rahmen des Strafverfahrens durchsucht worden waren, wurde diesem mit Verfügung vom 24.02.2014 die Führung der Dienstgeschäfte sowie das Tragen der Dienstkleidung und -ausrüstung sowie das Führen des Dienstausweises und der Dienstwaffe untersagt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="6"/>Mit Verfügung vom 27.02.2014 leitete das Bundespolizeipräsidium gegen den Beklagten ein Disziplinarverfahren ein und setzte dieses im Hinblick auf das laufende strafrechtliche Ermittlungsverfahren nach § 22 Abs. 3 BDG aus.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="7"/>Mit Verfügung vom 30.03.2015 wurde der Beklagte nach vorheriger Anhörung gemäß § 38 Abs. 1 BDG vorläufig des Dienstes enthoben und seine Bezüge wurden um 35 % gekürzt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="8"/>Auf Antrag der Staatsanwaltschaft xxxxxxxxx erließ das Amtsgericht xxxx am 17.07.2015 einen Strafbefehl gegen den Beklagten (- 3 Cs 200 Js 7567/13 -). Gegenstand des Strafbefehls waren die folgenden Taten:</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="9"/>1. POLAS-Recherche zu „xxxxx xxxxx“ (xxxx xxxx), abfotografieren des INPOL-Lichtbildes und Übermittlung des Bildes sowie der Tatsache, dass xxxx xxxx wegen Betrugs vorbestraft ist, an xxxx xxxxxxxx.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="10"/>2. POLAS-Recherche zu xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx am 08.05.2013 und Unterrichtung des xxxx xxxxxxx über die aus einem Rechtshilfevorgang gewonnen Erkenntnisse.</td></tr></table><blockquote><blockquote><blockquote/></blockquote></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="11"/>3. POLAS-Recherche zu xxxxxxx xxxxxxx, Ausdruck eines Fotos, Weitergabe der Information an xxxx xxxxxxx und Ermöglichung Bild zu kopieren.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="12"/>Hinsichtlich weiterer im Raum stehender unberechtigter Abfragen in polizeilichen Informationssystemen durch den Beklagten wurde das Strafverfahren teilweise nach § 170 Abs. 2 StPO, teilweise nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt. Nach Einspruch des Beklagten gegen den Strafbefehl wurde dieser vom Amtsgericht xxxx mit Urteil vom 21.10.2015 - 3 Cs 200 Js 7567/13 - wegen Verletzung des Privatgeheimnisses in zwei Fällen und Verletzung des Dienstgeheimnisses zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die Berufung des Beklagten wurde mit Urteil des Landgerichts xxxxxxxxx vom 19.12.2017<br/>- 4 Ns 200 Js 7567/13 - das Urteil des Amtsgerichts (nur) im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und der Beklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dabei wurden die Taten 1 und 3 als Verletzung des Privatgeheimnisses (§ 203 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB) und die Tat 2 als vorsätzliche Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) gewertet. Die tatsächlichen Feststellungen des Urteils lauten:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="13"/>„Im Jahr 2013 versah der Angeklagte seinen Dienst als Beamter der Bundespolizei mit dem Dienstgrad eines Polizeioberkommissars beim Gemeinsamen Zentrum der deutsch-französischen Polizei- und Zollzusammenarbeit in Kehl. Hierbei hatte er Zugriff auf die polizeilichen Computer-Datenbanken der Bundespolizei und der Polizei des Landes Baden-Württemberg, u.a. auch auf das Polizeiauskunftssystem POLAS, in dem Daten über Personen gespeichert werden, gegen die polizeilich ermittelt wird oder ermittelt wurde. Gespeichert werden neben den eigentlichen Personendaten auch personengebundene Hinweise, wie Zugehörigkeit zu einer Rockergruppe, Personenbeschreibungen und Lichtbilder, die im Rahmen einer erkennungsdienstlichen Behandlung gewonnen wurden, sowie eine Auflistung der Straftaten, wegen der ermittelt wurde bzw. wird. Über ein ihm allein zugewiesenes achtstelliges Benutzerkennwort, das im Jahr 2013 xxxxxxxxx lautete, konnte der Angeklagte auf die Datenbank POLAS zugreifen und dort nach Personen recherchieren. Das war ihm aufgrund der ihm bekannten dienstrechtlichen Vorschriften jedoch nur dann gestattet, wenn hierzu ein dienstlicher Anlass bestand.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="14"/>Im Gemeinsamen Zentrum der deutsch-französischen Polizei- und Zollzusammenarbeit in Kehl wurden und werden die Polizei- und Zollbehörden rund um die Uhr in Angelegenheiten des gemeinsamen Grenzgebietes unterstützt. Bereits im Jahr 2013 wurden sämtliche dort eingehenden Anfragen elektronisch erfasst und bearbeitet. Papierakten werden nicht geführt. Der Angeklagte als Mitarbeiter dieses Zentrums hatte 2013 Zugriff auch auf dieses Datensystem. Zu seinen Dienstpflichten gehörte es, sich bei Schichtbeginn über die dort gespeicherten aktuell bearbeiteten Vorgänge zu informieren.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="15"/>Im Jahr 2013 unterhielt der Angeklagte eine – zwischenzeitlich – beendete, schon zu Jugendzeiten angelegte freundschaftliche Beziehung zu dem einige Jahre jüngeren xxxx xxxxxxx. Die Werkstatt des schon damals von dem Angeklagten betriebenen Kleingewerbes xxxxxxxxxx befindet sich in xxxxxxxxx, in derselben Straße, in der xxxx xxxxxxx wohnte.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="16"/>In den nachfolgend aufgeführten Fällen nahm der Angeklagte in den polizeilichen Datenbanken Recherchen zu bestimmten Personen vor und gab die hierbei erlangten Erkenntnisse an seinen Jugendfreund xxxx xxxxxxx weiter. Dabei wusste der Angeklagte, dass seine Recherchen jeweils keinen dienstlichen Bezug, sondern ausschließlich privaten Charakter hatten, er zu diesen daher nicht befugt war und sämtliche Daten seiner dienstlichen Verschwiegenheitspflicht unterlagen.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="17"/>1. Zu einem nicht genauer feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2013, vermutlich am 07.03.2013 leitete xxxx xxxxxxx dem Angeklagten die Ausweiskopie einer Person mit dem angeblichen Namen „xxxxx xxxxx“ zu, die xxxx xxxxxxx von seiner Bekannten xxxxxx xxxxx erhalten hatte. Xxxxxx xxxxx hatte die Person über eine Internetkontaktbörse kennengelernt und von ihr die Ausweiskopie erhalten. Xxxx xxxxxxx gegenüber äußerte sie Zweifel an der Echtheit des kopierten Ausweises und an der Identität der Person. xxxx xxxxxxx bat daher privat den Angeklagten darum, zu prüfen, ob es sich um die Kopie eines gefälschten Ausweises handeln könne. Der Angeklagte führte daraufhin im Jahr 2013 von dem im Gemeinsamen Zentrum in Kehl zur Verfügung stehenden dienstlichen Computern aus im polizeilichen Auskunftssystem POLAS Recherchen zu den auf dem Ausweis vermerkten Personalien durch. Dabei stellte er fest, dass die auf dem ihm von xxxx xxxxxxx überlassenen Ausweislichtbild abgebildete Person identisch war mit dem xxxx xxxx, von dem bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung ein Lichtbild angefertigt und im polizeilichen Informationssystem abgespeichert worden war. Das Lichtbild der erkennungsdienstlichen Behandlung übermittelte er zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt, vermutlich am 07.03.2013 per MMS-Nachricht an xxxx xxxx-xxx. Gleichfalls schickte er ihm die ebenfalls aus der polizeilichen Datenbank gewonnenen Informationen über die Einwohnermeldedaten des xxxx xxxx sowie über die Tatsache, dass dieser wegen Betrugs vorbestraft ist, per SMS-Nachricht.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="18"/>xxxx xxxx erhielt bei seiner polizeilichen Zeugenvernehmung am 30.10.2014 erstmals Kenntnis von diesem Sachverhalt und stellte noch am selben Tag Strafantrag gegen den Angeklagten wegen der Verletzung von Privatgeheimnissen.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="19"/>2. Im Frühjahr 2013 führte die Staatsanwaltschaft xxxxxxxxx unter dem Aktenzeichen 301 Js 2894/13 u. a. gegen xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx verdeckt ein umfangreiches Ermittlungsverfahren wegen Vermögensstraftaten, u. a. wegen Geldwäsche. Bei xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx handelte es sich, wie der Angeklagte wusste, um führende Mitglieder der in xxxx ansässigen Rockergruppierung „Hells Angels xxxxx xxxxxx“. Xxxx xxxxxxx arbeitete, wie der Angeklagte wusste, seinerzeit in einer von xxxx xxxxxxxx betriebenen Kfz-Werkstatt „Imperial-Automobile“. Das Werkstattgebäude hatte xxxx xxxxxxxx von xxxxx xxxxx xxxxxx gemietet, der ebenfalls im Betrieb von xxxx xxxxxxxx mitarbeitete.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="20"/>Im Rahmen der gegen xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx verdeckt geführten Ermittlungen wurden u. a. deren Telefone überwacht und die von xxxxx xxxxxxxx betriebene Werkstatt observiert. Darüber hinaus waren grenzüberschreitende Informationen einzuholen, weshalb sich KHK xxxxx von der Kriminalpolizei xxxxxxxxx an das Gemeinsame Zentrum in Kehl wandte. Um die verdeckt geführten Ermittlungen nicht zu gefährden, waren in die verdeckten Ermittlungen nur bestimmte ausgewählte Polizeibeamte einbezogen. Da die Datenerfassungsblätter im GZ in Kehl allen dort beschäftigten Polizeibeamten zugänglich waren und man befürchtete, dass hier jemand aus Versehen etwas von den Ermittlungen wegen Geldwäsche ausplaudern könnte, einigten sich xxxxxxxxx und der beim GZ tätige Zeuge xxxxxxxxxx darauf, im Rahmen der elektronisch erteilten Anfragen und Auskünfte als Verfahrensgegenstand nur Betrug anzugeben, was in der Folge auch so durchgeführt wurde.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="21"/>Anfang Mai 2013 fiel xxxx xxxxxxx auf, dass vermehrt zivile Fahrzeuge der Polizei in der Nähe der abseits gelegenen Werkstatt von xxxxx xxxxxxxx in xxx-xxxxxxx unterwegs waren und hieraus mit Kameras fotografiert wurde. Außerdem bemerkte er beim Telefonieren ein Knacken in der Leitung. Xxxx xxxxxxx hatte deshalb die Vermutung, dass es sich dabei um polizeiliche Obervationen und Abhörung handeln könnte. Diese Vermutung teilte er zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt, jedoch noch vor dem 08.05.2013 dem Angeklagten mit und bat ihn nachzuforschen, ob in Bezug auf xxxxx xxxxx xxxxxxx und xxxxx xxxxxxxx „etwas im Busch“ sei. Der Angeklagte kam dieser Bitte nach und führte am 08.05.2013 um 07:04 Uhr zu xxxxx xxxxx xxxxxx und um 10:21 Uhr zu xxxxx xxxxxxxx von seinem Dienstrechner im Gemeinsamen Zentrum in Kehl aus in der polizeilichen Datenbank POLAS Abfragen zu gespeicherten Daten durch. Bereits zuvor, möglicherweise schon im März 2013, hatte der Angeklagte im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit beim Gemeinsamen Zentrum in Kehl durch Einsicht in das am 07.03.2013 erstellte Datenblatt mit der TgbNr.: 3425/13 Kenntnis darüber erlangt, dass seitens der Kriminalpolizei xxxxxxxxx in einem gegen xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx geführten Ermittlungsverfahren wegen Betrugs über das Gemeinsame Zentrum in Kehl ein Rechtshilfevorgang nach Frankreich gerichtet worden war. Über die aus dem Rechtshilfevorgang gewonnenen Erkenntnisse unterrichtete der Angeklagte xxxx xxxxxxx zu einem nicht mehr genau ermittelbaren Zeitpunkt zwischen dem 08. und 11.05.2013. Der Angeklagte stellte dabei nicht sicher, dass diese Informationen von xxxx xxxxxxx nicht an xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx weitergeleitet werden. Insbesondere bat er seinen Jugendfreund nicht darum, die Erkenntnisse für sich zu behalten. Er musste damit rechnen und es musste sich ihm als erfahrenen Polizeibeamten auch aufdrängen, dass xxxx xxxxxxx die Informationen an die beiden Hells Angels-Mitglieder weiterleiten würde. Gerade ihm als erfahrenem Polizeibeamten musste es aufgrund der von xxxx xxxxxxx geschilderten Umstände (Zivilfahrzeuge mit Kamera, Knacken im Telefon) und die ihm aus der Datenbank des GZ bekannten Betrugsermittlungen der Kripo gegen xxxxxx und xxxxxxxxx ferner aufdrängen, dass verdeckte Ermittlungen gegen xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx liefen. Gleichwohl gab er die Informationen auf das laufende Ermittlungsverfahren preis und nahm dabei mindestens billigend in Kauf, dass hierdurch der Erfolg der seinerzeit verdeckt geführten Ermittlungen gefährdet würde. Tatsächlich gab xxxx xxxxxxx die Informationen an xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx weiter. Ob die Preisgabe des Dienstgeheimnisses die Ermittlungen tatsächlich beeinträchtigte, lässt sich nicht mehr sicher feststellen. Eine Eignung hierzu bestand jedoch.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="22"/>Das Innenministerium Baden-Württemberg und das Bundesministerium des Innern erhielten von dem Sachverhalt durch ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Offenburg vom 05.06.2013 Kenntnis. Das Bundesministerium des Innern erteilte am 15.06.2013 die Ermächtigung zur Strafverfolgung, das Innenministerium Baden-Württemberg am 08.07.2013.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="23"/>3. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2013, vermutlich Ende 2013, bat xxxx xxxxxxx den Angeklagten privat um Recherchen zu einer Person namens xxxxxxx xxxxxxx, mit dem xxxx xxxxxxx über die Internetplattform ebay ein Verkaufsgeschäft getätigt hatte, bei dessen Abwicklung es zu Schwierigkeiten gekommen war. Der Angeklagte führte daraufhin an seiner Dienststelle im Gemeinsamen Zentrum in Kehl über den ihm dienstlich zugänglichen Rechner zu der Person des xxxxxxx xxxxxxx eine Abfrage im polizeilichen Auskunftssystem POLAS durch, nachdem ihm xxxx xxxxxxx am 16.12.2013 um 08:53 Uhr per SMS folgende Nachricht geschickt hatte: „Moin, …xxxxxxx xxxxxxx, xxxxxxx, Gruß“. xxxxxxx xxxxxxx lag in den polizeilichen Datenbeständen ein; insbesondere war aufgrund einer früheren erkennungsdienstlichen Behandlung ein Lichtbild von ihm gespeichert. Dieses Lichtbild druckte der Angeklagte aus, schnitt es auf Passbildgröße zu und versah diesen Ausdruck auf der Rückseite mit den Angaben „xxxxxxx xxxxxxx xxxxxx xxxxxxxxx xxxxx xxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxx xx x KV, Sb“, wobei die Abkürzungen KV und Sb für Körperverletzung und Sachbeschädigung stehen. Die aufgrund seiner Nachforschung erlangten Kenntnisse über xxxxxxx xxx-xxxx gab er ein bis zwei Tage nach der Anfrage von xxxx xxxxxxx bei einem persönlichen Treffen in xxxxxxxxx an diesen weiter. Dabei zeigte und überließ er ihm den von ihm gefertigten und handschriftlich ergänzten Ausdruck und gab xxxx xxxxxxx Gelegenheit, diesen mit seinem Handy zu fotografieren. Die Personalien des xxxxxxx xxxxxxx gab xxxx xxxxxxx an seinen Rechtsanwalt weiter, der an xxxxxxx xxxxxxx ein Forderungsschreiben richtete.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="24"/>xxxxxxx xxxxxxx wurde von dem Sachverhalt durch den ermittelnden Kriminalbeamten xxxx xxxx am 09.10.2014 unterrichtet. Er stellte am 11.10.2014 schriftlich Strafantrag gegen den Angeklagten wegen der Verletzung eines Privatgeheimnisses.“</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="25"/>Das Urteil des Landgerichts ist seit dem 28.02.2018 rechtskräftig.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="26"/>Mit Verfügung vom 10.04.2018 wurde das Disziplinarverfahren von der nunmehr zuständigen Bundespolizeidirektion Stuttgart fortgesetzt. Am 17.07.2018 wurde der Beklagte auf seinen Antrag hin persönlich angehört. Er räumte hierbei die Vorwürfe, die Gegenstand des landgerichtlichen Urteils waren, ein. Weitere Vorwürfe waren nicht Gegenstand der Anhörung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="27"/>Unter dem 31.07.2018 erstellte die Ermittlungsführerin einen Ermittlungsbericht, der sich lediglich mit den Taten befasste, die Gegenstand der strafgerichtlichen Verurteilung waren. Der Beklagte nahm hierzu Stellung und führte aus, dass er die Kürzung der Dienstbezüge als ausreichende disziplinarische Maßnahme ansehe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="28"/>Mit Schreiben vom 08.11.2018 teilte die Bundespolizeidirektion Stuttgart mit, dass aufgefallen sei, dass diverse Dienstvergehen, die dem Beklagten vorgeworfen würden, bislang keine Berücksichtigung gefunden hätten. Insoweit werde auf die Verfügung des Bundespolizeipräsidiums vom 07.01.2015 Bezug genommen. Die dort genannten Punkte 1.4 bis 1.10 seien noch disziplinar zu ermitteln. Insoweit lägen 15 Fälle unberechtigter POLAS-Abfragen und zwei Fälle unberechtigter ZEVIS-Halterabfragen vor.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="29"/>Mit Schreiben vom 15.11.2018 wies der Beklagte darauf hin, dass aus der Mitteilung, dass die Ermittlungen abgeschlossen seien, nicht ersichtlich sei, dass die nunmehr genannten Vorgänge Gegenstand des Disziplinarverfahrens gewesen sein sollten. Die Bundespolizeidirektion teilte daraufhin mit, dass sämtliche zu verfolgenden Dienstverfehlungen mit Verfügung vom 07.01.2015 benannt und damit zum Gegenstand des Verfahrens gemacht und zu keinem Zeitpunkt aus dem Verfahren ausgeschieden worden seien. Zugleich wurden die Vorwürfe nochmals wiederholt, wobei die Taten zeitlich näher eingegrenzt wurden. Der Beklage nahm zu den weiteren Vorwürfen schriftlich Stellung. Er führte im Wesentlichen aus, es müsse davon ausgegangen werden, dass jedenfalls nicht ausgeschlossen werden könne, dass doch ein dienstlicher Anlass für die Abfragen bestanden habe. In keinem Fall seien Informationen nach außen gegeben worden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="30"/>Mit Schreiben vom 20.02.2019 erweiterte die Bundespolizeidirektion das Disziplinarverfahren nach § 19 Abs. 1 BDG um den Vorwurf, der Beklagte habe diverse Nebentätigkeiten ausgeübt, obwohl keine Nebentätigkeitsgenehmigung vorgelegen habe. Auch zu diesen Vorwürfen nahm der Beklagte schriftlich Stellung. Er führte aus, dass die Vorwürfe unzutreffend seien, da alle Tätigkeiten von der Nebentätigkeitsgenehmigung umfasst gewesen seien.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="31"/>Unter dem 24.05.2019 wurde ein (neuer) Ermittlungsbericht erstellt und dem Beklagten übersandt. In diesem werden neben den Vorfällen, die bereits Gegenstand des strafgerichtlichen Urteils waren, folgende Sachverhalte als erwiesen angesehen:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="32"/>- POLAS-Abfrage xxxx xxxxxxx am 22.08.2013</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="33"/>- POLAS-Abfrage xxxxx xxxxxxx am 30.09.2012, am 03.07.2013 und am 19.11.2013</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="34"/>- POLAS-Abfrage xxxxx xxxxxx am 03.07.2013, am 06.09.2013 und am 18.12.2013</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="35"/>- POLAS-Abfrage xxxxx xxxxxxxx am 27.12.2013</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="36"/>- POLAS-Abfrage Beklagter selbst am 30.09.2012, am 08.04.2013 und am 03.07.2013</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="37"/>Dagegen wurden zwei Halterabfragen in ZEVIS sowie der Vorwurf der ungenehmigten Nebentätigkeit für nicht erweislich erachtet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="38"/>Der Beklagte beantragte die Mitwirkung des Personalrats und nahm ergänzend Stellung. Er führt nochmals aus, dass er davon ausgehe, dass der positive Nachweis einer privaten Nutzung hinsichtlich der POLAS-Abfragen nicht geführt sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="39"/>Der Entwurf der Disziplinarklage wurde dem örtlichen Personalrat bei der Bundespolizeidirektion Stuttgart mit Schreiben vom 05.08.2019 unter Hinweis auf § 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG mit der Bitte um Stellungnahme übermittelt. Unklar ist, ob dieses Schreiben dem örtlichen Personalrat unmittelbar zugeleitet wurde oder ob er es lediglich mittelbar über den Gesamtpersonalrat erhielt, der seinerseits – ebenfalls mit Schreiben vom 05.08.2019 – den örtlichen Personalrat um Abgabe einer Stellungnahme bis zum 19.08.2019 bat. Der örtliche Personalrat befasste sich in seiner 8. Sitzung 2019 am 14.08.2019 mit der Angelegenheit und nahm mit Schreiben vom 15.08.2019 gegenüber dem Gesamtpersonalrat und mit Schreiben vom 09.09.2019 gegenüber der Dienststelle Stellung. Wörtlich wurde insoweit jeweils ausgeführt:</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="40"/>„[…] Durch das Gremium des ÖPR wird vorgeschlagen, sich im Bezug auf die zu verhängende Disziplinarmaßnahme, aus sozialen Gründen am Urteil des LG Offenburg zu orientieren, welches im unteren Bereich der möglichen Strafzumessung blieb.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="41"/>POK xxxx xxxxxxxxxxxx zeigte bis zu den ihm vorgeworfenen Dienstpflichtverletzungen ein untadeliges dienstliches Verhalten.</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="42"/>Wir bitten aus diesem Grund, von einer Disziplinarmaßnahme abzusehen, welche zu einer Entlassung des POK xxxxxxxxxxxx führen würde. […]“</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="43"/>Unklar ist, ob das Schreiben vom 15.08.2019 auch der zuständigen Dienststelle innerhalb der Bundespolizeidirektion, dem Sachbereich 31, zur Kenntnis übermittelt wurde. Bei den Akten findet sich lediglich das inhaltsgleiche, unmittelbar an diese Dienststelle gerichtete Schreiben des örtlichen Personalrats vom 09.09.2019. Der Gesamtpersonalrat äußerte sich gegenüber der Dienststelle mit Schreiben vom 04.09.2019. Dieses Schreiben wurde nicht zu den Akten genommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="44"/>Die Klägerin hat am 20.09.2019 Disziplinarklage mit dem Ziel der Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis erhoben. Dem Beklagten wurden die dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts xxxxxxxxx zugrundeliegenden Taten vorgeworfen; darüber hinaus habe der Beklagte in diversen – näher bezeichneten – Fällen Personen in POLAS überprüft, ohne dass hierfür ein dienstlicher Anlass bestanden habe. Er habe damit die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit (Taten, die dem Urteil des Landgerichts xxxxxxxxx zugrunde liegen) sowie die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb des Dienstes sowie die Pflicht, sich mit vollem Einsatz seinem Beruf zu widmen und das übertragene Amt uneigennützig und nach bestem Gewissen wahrzunehmen, vorsätzlich verletzt. Das Fehlverhalten wiege derart schwer, dass er das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren habe.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>45 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="45"/>Der Beklagte ist der Disziplinarklage entgegengetreten. Er hat geltend gemacht, der Personalrat sei nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Bereits die erforderliche umfassende Unterrichtung des Personalrats unter Vorlage der hierfür erforderlichen Unterlagen sei nicht erfolgt. Dem Schreiben der Klägerin vom 05.08.2019 könne nur entnommen werden, dass kurz auf die Urteile des Amtsgerichts xxxx und des Landgerichts xxxxxxxxx hingewiesen und ein Entwurf der Klageschrift beigefügt worden sei. Weder der Ermittlungsbericht noch die Urteile selbst seien vorgelegt worden. Die Äußerungsfrist für den Personalrat nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG sei daher bis heute nicht in Lauf gesetzt worden. Darüber hinaus sei der Personalrat – unter Verweis auf soziale Gründe – einer Disziplinarmaßnahme, welche zur Entlassung führen würde, entgegengetreten. Die Dienststelle habe daher davon ausgehen müssen, dass Einwendungen nach § 78 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit § 77 Abs. 2 Nr. 1 BPersVG erhoben worden seien. Aus der Akte ergebe sich lediglich, dass die Sachbearbeiterin den Präsidenten mit Schreiben vom 11.09.2019 über die Stellungnahme des Personalrats unterrichtet und um Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage gebeten habe und dieses Einverständnis erteilt worden sei. Eine Erörterung mit dem Personalrat nach § 72 Abs. 1 BPersVG sei nicht erfolgt, obwohl nicht von einem Verzicht des Personalrats ausgegangen werden könne. Ergebnisoffene Erörterungen hätten durchaus zu einem Verzicht auf eine Disziplinarklage führen können. Insoweit sei von einem wesentlichen Fehler auszugehen. Das Verfahren sei daher einzustellen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>46 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="46"/>Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien – mit Ausnahme derjenigen, die Gegenstand des landgerichtlichen Urteils gewesen seien – unzutreffend. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass insoweit für die POLAS-Abfragen ein dienstlicher Grund bestanden habe. Die Klägerin habe außerdem Milderungsgründe hinsichtlich der bisherigen beruflichen und persönlichen Entwicklung des Beklagten, seiner Positionierung zu den Tatvorwürfen aus 2013 und seinem Verhalten danach völlig übergangen. Die Datenweitergabe sei in einem relativ kurzen Zeitraum 2013 erfolgt. Es habe sich um einen (falsch verstandenen) Freundschaftsdienst gehandelt. Er habe insbesondere keinen finanziellen Vorteil aus der Datenweitergabe gezogen. Im Fall „xxxxx xxxxx“ sei er davon ausgegangen, die Mutter der Freundin des Herrn xxxxxxx vor einem Betrug schützen zu können. Außerdem habe er sein Verhalten zutiefst bereut. Er habe sich auch immer wieder durch herausragende Leistungen hervorgetan und mehrfach freiwillig – unter Lebensgefahr – an Auslandseinsätzen teilgenommen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>47 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="47"/>Mit Urteil vom 18.12.2020 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>48 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="48"/>Es liege kein wesentlicher Verfahrensmangel vor. Insbesondere habe der Personalrat ordnungsgemäß mitgewirkt. Die Unterrichtung des Personalrats durch Übermittlung des Entwurfs der Disziplinarklage sei (noch) ausreichend gewesen. Darauf, dass vorliegend keine Erörterung mit dem Personalrat stattgefunden habe, komme es nicht an, so dass die Kammer keinen Anlass habe, dem insoweit schriftsätzlich gestellten Beweisantrag nachzugehen. Im Ergebnis habe der Personalrat der Maßnahme zugestimmt. Denn er habe keine Bedenken gegen die Erhebung einer Disziplinarklage erhoben, sondern lediglich ausgeführt, es werde darum gebeten, von einer Disziplinarmaßnahme abzusehen, welche zu einer Entlassung des Beklagten führe. Darin liege der Sache nach eine Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage und zugleich ein Verzicht auf eine Erörterung. Dass im Vorlageschreiben vom 11.09.2019 seitens der zuständigen Mitarbeiterin der Klägerin davon ausgegangen worden sei, die Personalvertretung stimme „der Erhebung der Disziplinarklage nicht zu“, sei unerheblich. Abgesehen davon, dass die Mitarbeiterin in der mündlichen Verhandlung erläutert habe, sie habe sich lediglich ungeschickt ausgedrückt, gemeint gewesen sei, dass der Personalrat nicht mit einer Entfernung des Beklagten aus dem Dienst einverstanden sei, handele es sich bei der Frage, ob eine Zustimmung des Personalrats vorliege, um eine Rechtsfrage, die die Kammer in eigener Verantwortung klären müsse. Unabhängig davon könne der Personalrat auch dann, wenn das Mitwirkungsverfahren nicht ordnungsgemäß eingeleitet werde, der Maßnahme gleichwohl wirksam zustimmen. Selbst bei einer – unterstellt – fehlerhaften Information des Personalrats läge daher vorliegend eine wirksame Zustimmung vor. Ungeachtet dessen wäre eine – unterstellte – fehlerhafte Beteiligung des Personalrats hier nicht wesentlich. Ein Mangel des behördlichen Disziplinarverfahrens sei wesentlich im Sinne des § 55 BDG, wenn sich nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen lasse, dass er sich auf das Ergebnis des gerichtlichen Disziplinarverfahrens ausgewirkt haben könne. Hingegen komme es für die Frage der Wesentlichkeit eines Mangels weder darauf an, ob er behebbar sei noch darauf, ob und ggf. wie intensiv schutzwürdige – insbesondere grundrechtsbewehrte – Rechtspositionen Betroffener durch den Mangel berührt worden seien. Maßgeblich sei wegen der Funktion des Disziplinarverfahrensrechts, bei der Prüfung und ggf. Ahndung von Dienstvergehen gesetzmäßige Ergebnisse zu erzielen, vielmehr die Ergebnisrelevanz. An dieser Ergebnisrelevanz fehle es hier, weil der Personalrat seine Einwendungen nach § 78 Abs. 2 Satz 3 BPersVG nur auf die in § 77 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BPersVG bezeichneten Gründe stützen könne. Die dort benannten Gründe seien entweder ein Rechtsverstoß (Nr. 1) oder die Besorgnis, es finde eine ungerechtfertigte Benachteiligung statt (Nr. 2). Der Personalrat habe vorliegend „vorgeschlagen“, sich in Bezug auf die zu verhängende Disziplinarmaßnahme aus „sozialen Gründen“ am Urteil des Landgerichts xxxxxxxxx zu orientieren, welches im unteren Bereich der möglichen Strafzumessung geblieben sei. Zwar behaupte der Beklagte, insoweit stehe ein „Gesetzesverstoß gegen §§ 9, 10, 13 BDG i.V.m. der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts“ in Rede. Dies sei aber unzutreffend, da der Einwand, man möge aus „sozialen Gründen“ von einer Maßnahme absehen, keinen Gesetzesverstoß anspreche. Insbesondere werde insoweit keine rechtswidrige Maßnahmenbemessung geltend gemacht. Auch für die Besorgnis, es finde eine Benachteiligung des Beklagten statt, gebe die Stellungnahme des Personalrats nichts her.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>49 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="49"/>Die Kammer beschränke das Disziplinarverfahren nach § 56 Satz 1 BDG und scheide die Vorwürfe 4. - 8. der Disziplinarklage aus. Denn die insoweit erhobenen Vorwürfe unberechtigter POLAS-Abfragen fielen neben den Vorwürfen, die Gegenstand des landgerichtlichen Urteils gewesen seien (Sachverhalte 1. - 3. der Disziplinarklage), für die Art und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme nicht ins Gewicht.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>50 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="50"/>Die Disziplinarklage sei begründet. Der Beklagte habe ein schweres Dienstvergehen begangen und hierdurch das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren und sei daher aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen (§ 13 Abs. 2 Satz 1 BDG). Die Disziplinarkammer gehe von den tatsächlichen Feststellungen aus, die das Landgericht xxxxxxxxx in seinem Urteil vom 19.12.2017 getroffen habe und die für die Disziplinarkammer bindend seien. Anhaltspunkte, die eine Loslösung von den Feststellungen gebieten würden (§ 57 Abs. 1 Satz 2 BDG), seien weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Vielmehr habe der Beklagte die Vorwürfe, die Gegenstand der landgerichtlichen Verurteilung gewesen seien, selbst eingeräumt. Der Beklagte habe durch das festgestellte Verhalten ein – einheitliches – Dienstvergehen im Sinne des § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG begangen. Er habe vorsätzlich seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit (§ 67 Abs. 1 Satz 1 BBG), zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb des Dienstes (§ 61 Abs. 1 Satz 3 BBG) sowie dazu, sich mit vollem persönlichem Einsatz seinem Beruf zu widmen und das übertragene Amt uneigennützig nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen (§ 61 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BBG), verstoßen. Die angemessene Disziplinarmaßnahme sei die Entfernung aus dem Dienst, weil das von dem Beklagten begangene Dienstvergehen als schwer zu beurteilen sei und zu einem endgültigen Vertrauensverlust des Dienstherrn und der Allgemeinheit führe (§ 13 Abs. 2 Satz 1 BDG). Setze sich das Dienstvergehen aus mehreren Dienstpflichtverletzungen zusammen, so bestimme sich die zu verhängende Disziplinarmaßnahme in erster Linie nach der schwersten Verfehlung. Dies sei vorliegend die Verletzung des Dienstgeheimnisses. Begehe ein Beamter innerdienstlich unter Ausnutzung seiner Dienststellung eine Straftat, für die das Strafgesetz eine Strafandrohung von Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren vorsehe, reiche der Orientierungsrahmen für die mögliche Disziplinarmaßnahme bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Dagegen komme dem konkret ausgeurteilten Strafmaß bei einem innerdienstlichen Dienstvergehen weder indizielle noch präjudizielle Bedeutung zu. Ausgehend hiervon sei aufgrund der Verletzung des Dienstgeheimnisses der Orientierungsrahmen bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis eröffnet. Die Ausschöpfung des Orientierungsrahmens sei vorliegend unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des gesamten – einheitlichen – Dienstvergehens auch geboten. Die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit nach § 67 Abs. 1 BBG gehöre zu den Hauptpflichten des Beamten. Die Verletzung des Amtsgeheimnisses sei ein erheblicher Treuepflichtverstoß, der geeignet sein könne, die Vertrauenswürdigkeit des Beamten in Frage zu stellen. Wegen der großen Spannbreite der Verhaltensweisen hinsichtlich einer derartigen Pflichtverletzung ließen sich allerdings feste Regeln für eine Disziplinarmaßnahme nicht aufstellen. Je nach der Bedeutung der vertraulich zu behandelnden amtlichen Vorgänge und dem Grad des Verschuldens könne ein Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht unterschiedliches disziplinarisches Gewicht haben. Auch ohne zusätzlichen Pflichtverstoß des Beamten könne die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis die angemessene Sanktion auf die Weitergabe polizeiinterner Informationen sein. Insoweit sei insbesondere von Bedeutung, ob es sich um besonders schützenswerte Informationen handele, ob durch die Offenbarung eine besondere Beeinträchtigung des öffentlichen Ansehens der Polizei eingetreten sei, ob Ermittlungen gefährdet worden seien oder ob es zu einer Gefährdung für Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit gekommen sei. Auch das Verhalten des Beamten selbst sei insoweit von Bedeutung, etwa die Motivation, die Anzahl der Verstöße und das Maß der Pflichtwidrigkeit. Erforderlich sei eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Danach sei hier die Entfernung aus dem Dienst geboten.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>51 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="51"/>Auch die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Beklagten führe nicht dazu, dass von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis abzusehen wäre. Ein anerkannter „traditioneller“ Milderungsgrund liege nicht vor. Insbesondere habe keine besondere „Versuchungssituation“ vorgelegen, möge eine Abfrage der Informationen durch den Beklagten auch leicht möglich gewesen sein. Allerdings seien diese anerkannten Milderungsgründe nicht abschließend. Sie bildeten jedoch einen Vergleichsmaßstab, wie außergewöhnlich eine Ausnahmesituation sein müsse, um davon ausgehen zu können, dass ein an normalen Maßstäben orientiertes pflichtgemäßes Verhalten von dem Beamten auch in Zukunft nicht erwartet werden könne. Für eine besondere Ausnahmesituation sei vorliegend nichts ersichtlich. Der Beklagte habe vielmehr in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts selbst ausgeführt, dass es damals keine Besonderheiten in seinen persönlichen oder dienstlichen Verhältnissen gegeben habe. Dabei verkenne die Kammer nicht, dass der Beklagte bis zu den streitgegenständlichen Vorfällen überdurchschnittliche Leistungen gezeigt habe. Insoweit habe die Kammer dem schriftsätzlich gestellten Beweisantrag zu dessen dienstlichem Verhalten nicht nachgehen müssen, da sich die untadelige und überdurchschnittliche Leistung des Beklagten aus den Akten ergebe und auch von der Klägerin nicht in Abrede gestellt werde. Indes seien selbst eine langjährige pflichtgemäße Dienstausübung und überdurchschnittliche Leistungen für sich genommen regelmäßig nicht geeignet, gravierende Pflichtenverstöße in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. Auch sehe die Kammer, dass der Beklagte sich nach Aufdeckung der Taten kooperativ gezeigt und die Vorwürfe eingeräumt habe. Dies vermöge aber an dem grundlegenden Vertrauensverlust ebenfalls nichts zu ändern. Schließlich stehe der lange zurückliegende Tatzeitraum der Entfernung aus dem Dienst nicht entgegen. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis werde vom Maßnahmeverbot des § 15 BDG nicht erfasst.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>52 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="52"/>Gegen das am 12.01.2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 11.02.2021 Berufung eingelegt und diese sogleich begründet.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>53 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="53"/>Er trägt zum einen vor, der Personalrat sei nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Dies stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der zur Einstellung des Verfahrens führen müsse. Die Unterrichtung des Personalrats gemäß § 68 Abs. 2 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG sei evident mangelhaft gewesen. Dem Personalrat sei ausschließlich der Entwurf der Disziplinarklage übermittelt worden. Es habe keine Erörterung stattgefunden und der Personalrat habe nicht – auch nicht implizit – der Erhebung der Disziplinarklage zugestimmt. Maßgeblich komme es insoweit nicht auf die Stellungnahme des örtlichen Personalrats, sondern auf die inhaltlich abweichende Stellungnahme des Gesamtpersonalrats vom 04.09.2019 an, da dieser vorliegend zur Mitwirkung berufen sei. Die Einlassung der zuständigen Sachbearbeiterin, sie habe sich, indem sie mitgeteilt habe, die Personalvertretung stimme der Erhebung der Disziplinarklage nicht zu, lediglich ungeschickt ausgedrückt, sei unglaubwürdig. Wären dem Personalrat zusätzliche Angaben und Unterlagen über den Entwurf der Disziplinarklage hinaus übermittelt worden, hätten sich für ihn daraus deutlich andere, für die sachgerechte Wahrnehmung des Mitwirkungsrechts entscheidende Informationen hinsichtlich des vorgeworfenen Dienstvergehens und des Persönlichkeitsbilds des Beklagten ergeben. Grundsätzlich sei bereits im Rahmen der Beteiligung des Personalrats vom Erfordernis der Vorlage der Disziplinar- und Personalakte an diesen auszugehen. Jedenfalls hätte der Personalrat schon bei Übermittlung weiterer Informationen und Unterlagen hinsichtlich der im Entwurf der Disziplinarklage als feststehend dargestellten Sachverhalte 4. - 8. erkennen können, dass die diesbezüglichen Vorwürfe nicht haltbar seien. Dies wäre für ihn bei Vorlage der Disziplinarakte mit den darin enthaltenen Aktenbestandteilen zu den kriminalpolizeilichen Ermittlungen leicht erkennbar gewesen. Ersichtlich habe mit der Darstellung von nicht nur drei, sondern insgesamt acht erwiesenen Verstößen gegen die Amtsverschwiegenheit ein besonders erhebliches Gewicht und eine erhebliche Dauer des Dienstvergehens vermittelt werden sollen, um allein damit das Vorgehen mit einer Disziplinarklage als zutreffend darstellen zu können. Das Verwaltungsgericht habe allerdings das Disziplinarverfahren beschränkt und die Vorwürfe 4. - 8. ausgeschieden. Damit habe es zum Ausdruck gebracht, dass eine Bedeutung dieser fünf weiteren Vorgänge für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme nach jeder Betrachtungsweise sicher ausgeschlossen werden könne. Den diesbezüglichen Beweisantrag habe es als unbeachtlich behandelt und dabei die Bedeutung der bewusst unzureichenden Unterrichtung des Personalrats zu diesen fünf Vorgängen durch die Darstellung als erwiesen für die Frage seiner umfassenden Unterrichtung und Vorlage der hierfür erforderlichen Unterlagen verkannt. Das Verwaltungsgericht habe darüber hinaus verkannt, dass durch die ausschließliche Übermittlung des Entwurfs der Disziplinarklage dem Personalrat wesentliche weitere Informationen insbesondere zur Tatmotivation hinsichtlich der Sachverhalte 1. - 3. und zum Nachtatverhalten sowie zum Persönlichkeitsbild des Beklagten vorenthalten worden seien. So sei dem Personalrat das Urteil des Landgerichts xxxxxxxxx nur auszugsweise – ohne die Strafzumessungserwägungen und die Begründung der Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung – mitgeteilt worden. Weiter sei dem Personalrat noch nicht einmal das Protokoll der Anhörung des Beklagten im Disziplinarverfahren überlassen worden, aus dem sich weitere wichtige Informationen zum Zustandekommen der Taten, zum Nachtatverhalten, zu den lebensbedrohlichen freiwilligen Auslandseinsätzen, zum ehrenamtlichen Engagement etc. ergäben. Bei Kenntnis des Ermittlungsberichts und der bezeichneten weiteren Dokumente hätte der Personalrat mit guten Gründen Einwendungen gegen die Erhebung der Disziplinarklage erheben können. Das Mitwirkungsrecht beziehe sich auf die disziplinarbehördliche Abschlussentscheidung, ob Disziplinarklage erhoben werden solle. Dabei könne der Personalrat Einwendungen nur auf die in § 77 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 BPersVG bezeichneten Gründe stützen. Entsprechende Einwendungsmöglichkeiten könne der Personalrat jedoch nur aufgrund umfassender Tatsachenkenntnisse, sowohl hinsichtlich der Stichhaltigkeit der Tatvorwürfe als auch Tatmotivation und sonstigen Umständen des vorgeworfenen Dienstvergehens, als auch des Persönlichkeitsbildes des Beamten einzelfallbezogen prüfen. Dafür müsse die Dienststelle ihm gerade auch Kenntnis von allen zugunsten des Beamten sprechenden Umstände verschaffen. Dies gelte umso mehr, wenn – wie vorliegend bei ausschließlicher Verletzung der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit – eine Regeleinstufung gerade nicht angenommen werden könne. Entgegen § 72 Abs. 1 BPersVG habe keine Erörterung mit dem Personalrat stattgefunden, obwohl dieser mit Schreiben vom 09.09.2019 Einwendungen vorgebracht habe. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, es komme auf die fehlende Erörterung nicht an, weil der Personalrat der Sache nach der Erhebung der Disziplinarklage zugestimmt und implizit auf die Erörterung verzichtet habe, sei rechtlich verfehlt. Eine Heilung komme angesichts der Nichterfüllung der Unterrichtungspflicht nicht in Betracht. Aufgrund der nicht ordnungsgemäßen Beteiligung des Personalrats leide das behördliche Disziplinarverfahren an einem wesentlichen Mangel, den der Beklagte mit Schriftsatz vom 19.11.2019 auch gerügt habe. Es werde davon ausgegangen, dass die Disziplinarklage an einem nicht mehr gemäß § 55 Abs. 3 Satz 1 BDG korrigierbaren Mangel leide, so dass das Disziplinarverfahren gemäß § 55 Abs. 3 Satz 2 BDG einzustellen sei.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>54 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="54"/>Zudem lägen die Voraussetzungen für die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis nicht vor. Das Verwaltungsgericht habe wesentliche Umstände der Tatmotivation, der Tatbegehung und des Nachtatverhaltens sowie wesentliche Elemente zum Persönlichkeitsbild des Beklagten nicht erwähnt, übergangen oder als irrrelevant bewertet. Der Anstoß für die drei Taten, die Bestandteile des Dienstvergehens seien, sei von dem Jugendfreund xxxx xxxxxxx gekommen. Es habe sich jeweils um einen reinen Freundschaftsdienst gehandelt, für den der Beklagte keine Gegenleistung gefordert oder erhalten habe. Die Hemmschwelle für die Einsichtnahme in die polizeilichen Auskunftssysteme sei mangels stringenter Kontrollen gesenkt gewesen. Auslösende Tatmotivation für den Beklagten sei gewesen, dass er aufgrund der ihm von xxxx xxxxxxx übergebenen Passkopie des angeblichen xxxxx xxxxx eine Fälschung erkannt und als Freundschaftsdienst seine Zugriffsmöglichkeiten auf POLAS genutzt habe, um einen Betrug zulasten der Mutter der Freundin des Herrn xxxxxxx zu verhindern. Auch im Fall xxxxxxx habe er im Sinne eines Freundschaftsdienstes Anhaltspunkte für einen Betrug des Herrn xxx-xxxx erhärten und Herrn xxxxxxx die zivilrechtliche Durchsetzung seines Anspruchs erleichtern wollen. Bei den Auskünften des Beklagten zu den Herren xxxxxx und xxxxxxxx sei diesen und Herrn xxxxxxx bereits aus deren eigenen Beobachtungen bekannt gewesen, dass sie offenbar polizeilicher Beobachtung ausgesetzt gewesen seien. Dies habe der Beklagte aufgrund seiner POLAS-Recherchen lediglich bestätigt, aber keine Angaben zu den vorgeworfenen Straftaten machen können. Denn hierzu – insbesondere zu Ermittlungen wegen Geldwäsche – habe er keinen Zugang gehabt. Eine tatsächliche Beeinträchtigung polizeilicher Ermittlungen habe nicht festgestellt werden können und wäre auch gänzlich unwahrscheinlich gewesen. Der Beklagte habe nach Begehung der drei Taten im Jahr 2013 jeglichen Kontakt zu den genannten Personen und deren Umfeld abgebrochen und bereue die Taten zutiefst. Ebenso seien wesentliche Tatsachen zum Persönlichkeitsbild des Beklagten übergangen worden: Der Beklagte habe bis zu den verfahrensgegenständlichen Taten ein straffreies Leben geführt und lebe in stabilen und geordneten familiären und wirtschaftlichen Verhältnissen. Er sei mit Leib und Seele Polizist und würde seinen Beruf gerne wieder ausüben. Er habe in 28 Dienstjahren ohne dienstliche Verfehlungen gearbeitet und sei wiederholt durch herausragende Leistungen hervorgetreten. Mehrfach habe er sich zu häufig monatelangen, mit der Trennung von der Familie und zum Teil mit Lebensgefahr verbundenen Auslandseinsätzen bereitgefunden. In seiner Freizeit sei er ehrenamtlich als Vereinsgemeinschaftsvorsitzender in xxxx tätig. Auch bei seiner handwerklichen Nebentätigkeit werde er von seinen Auftraggebern als sehr engagiert, zuverlässig und kompetent geschätzt. Einen Beweisantrag zum dienstlichen Verhalten des Beklagten habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht abgelehnt. In rechtlicher Hinsicht sei auszuführen, dass kein die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis rechtfertigendes Dienstvergehen vorliege. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg sei allein wegen pflichtwidriger Weitergabe interner Informationen durch Polizeibeamte, insbesondere über laufende Ermittlungsmaßnahmen, namentlich nach vorheriger Abfrage polizeilicher Informationssysteme, noch nicht auf die Höchstmaßnahme zu erkennen. Vielmehr komme dies nur bei Hinzutreten weiterer erheblicher Pflichtverstöße in Betracht, die das Verwaltungsgericht gerade nicht festgestellt habe. Das Dienstvergehen des Beklagten betreffe zwar eine Kernpflichtverletzung, zeichne sich jedoch nicht durch eine besondere Häufigkeit und Dauer und eine besonders schwere Schuld aus. Zudem sprächen sämtliche Persönlichkeitsmerkmale des Beklagten für ein sehr positives Persönlichkeitsbild, nach dem auch in Zukunft eine pflichtgemäße und sogar überdurchschnittliche Erfüllung der dienstlichen Pflichten zu erwarten sei. Als Milderungsgrund müsse zudem berücksichtigt werden, dass die Hemmschwelle für die Einsichtnahme in die polizeilichen Auskunftssysteme mangels stringenter Kontrollen gesenkt gewesen sei. Nach alldem könne nicht von einem für die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis erforderlichen endgültigen Vertrauensverlust ausgegangen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>55 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="55"/>Der Beklagte beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>56 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="56"/>das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 18. Dezember 2020 – DB 11 K 3857/19 – zu ändern und das Verfahren einzustellen, hilfsweise auf eine mildere Disziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erkennen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>57 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="57"/>Die Klägerin beantragt,</td></tr></table><blockquote><blockquote/></blockquote></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>58 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:6pt"><tr><td><rd nr="58"/>die Berufung zurückzuweisen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>59 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="59"/>Sie verteidigt das angegriffene Urteil und führt weiter aus: Der Personalrat sei (noch) ausreichend unterrichtet worden. Zuständig sei der örtliche Personalrat, der ordnungsgemäß beteiligt worden sei. Ihm sei der Entwurf der Disziplinarklage mit dem konkreten Antrag, den Beamten aus dem Dienst zu entfernen, übersandt worden. Der Entwurf habe eine detaillierte Schilderung der Vorwürfe, des persönlichen und beruflichen Werdegangs des Beklagten und die wörtliche Wiedergabe der Feststellungen des landgerichtlichen Urteils zur Sache sowie eine Würdigung des Sachverhalts durch die Klägerin enthalten. Damit seien für den Personalrat die für den Dienstherrn maßgeblichen Gründe erkennbar gewesen. In einem solchen Fall obliege es dem Personalrat, weitere Informationen zu fordern, wenn er dies für erforderlich halte. Die Mitwirkung beziehe sich nur auf die Entscheidung, ob Disziplinarklage erhoben werde, nicht auf den vorgesehenen Klagantrag. Gegen die Disziplinarklage selbst habe der Personalrat aber keinerlei Einwendungen erhoben. Daher sei die Entscheidung ohne weitere Erörterung mit dem Personalrat, aber mit Erörterung der Einwendungen des Personalrats innerhalb der Leitungsvorlage der Leitung zur Unterschrift vorgelegt und nach deren Entscheidung Klage eingereicht worden. Die Leitungsvorlage habe der Personalrat am 15.10.2019 zur Kenntnis erhalten. Dieser habe sich darauf nicht mit Erörterungsbedarf an die Dienststelle gewandt. In dem Entwurf der Disziplinarklage seien auch die dem Verfahren zugrunde liegenden Akten aufgeführt worden. Von diesen habe der Personalrat also Kenntnis gehabt und sich dennoch auf der Grundlage des Entwurfs der Disziplinarklage mit der Sache befasst und lediglich darum gebeten, von einer Disziplinarmaßnahme abzusehen, welche zur Entlassung des Beamten führt. Die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts seien keineswegs defizitär. Das Verwaltungsgericht habe ausgeführt, dass es von den tatsächlichen Feststellungen, die das Landgericht xxxxxxxxx getroffen habe und die für die Disziplinarkammer bindend seien, ausgehe. Diese Feststellungen enthielten die vom Beklagten bemängelten Punkte. Dass er den Kontakt zu den im Urteil des Landgerichts genannten Personen und deren Umfeld abgebrochen habe, sei allein der Einleitung des Strafverfahrens zu verdanken. Hinweise, dass dies vor Entdeckung der Tat und Beginn der Ermittlungen erfolgt sei, gebe es nicht. Dass er sich nach Aufdeckung der Taten kooperativ gezeigt und die Vorwürfe eingeräumt habe, sei vom Verwaltungsgericht gewürdigt worden. Zu Recht habe das Verwaltungsgericht auch dem Vorwurf der unberechtigten Datenweitergabe zu Lasten der Herren xxxxxxxxxx und xxxxxxx ein erhebliches Gewicht beigemessen. Der Beklagte habe nicht nur den echten Namen des Herrn xxxxx, sondern dazu ein Foto aus einer erkennungsdienstlichen Behandlung, die Einwohnermeldedaten sowie die Information geliefert, dass dieser wegen Betrugs vorbestraft sei. Bezüglich des Herrn xxxxxxx habe der Beklagte über die erbetene Anschrift hinaus ebenfalls weitere sensible Daten geliefert. Das Verwaltungsgericht habe auch anerkannt, dass es sich bei dem Beklagten um einen Beamten handle, der bis zu den streitgegenständlichen Vorgängen überdurchschnittliche Leistungen gezeigt habe. Dem Beweisantrag über das dienstliche Verhalten sei nicht nachgegangen worden, weil sich die überdurchschnittliche Leistung des Beklagten aus den Akten ergebe und auch von der Klägerin nicht in Abrede gestellt worden sei. Die Auslandseinsätze ergäben sich ebenfalls aus den Unterlagen. Insgesamt liege ein ganz erhebliches Dienstvergehen vor, welches dazu führe, dass der Beklagte aus dem Dienst zu entfernen sei. Der Beamte habe nicht nur einmalig interne Informationen aus polizeilichen Systemen pflichtwidrig auf Nachfrage abgefragt und weitergegeben, sondern mehrmalig und in einem Fall in einer Situation, in der für ihn erkennbar die Informationsweitergabe besonders geeignet gewesen sei, polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen zu konterkarieren. Er habe gewissermaßen die Seiten gewechselt und ein unwürdiges Verhalten gezeigt, welches in besonderem Maße geeignet sei, das Ansehen und das Vertrauen in die Polizei zu beeinträchtigen. Auch die wiederholte vorschriftswidrige Nutzung der polizeilichen Informationssysteme im privaten Interesse habe erhebliches Gewicht. Sie sei geeignet, das Vertrauen der Allgemeinheit, dass zu Ermittlungszwecken erfasste persönliche Daten ausschließlich für dienstliche Zwecke Verwendung finden, zu beeinträchtigen sowie Misstrauen gegen die staatliche Datenerhebung entstehen zu lassen und deren Akzeptanz zu gefährden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>60 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="60"/>In der Berufungsverhandlung hat der Senat den Beklagten zur Sache angehört. Dieser hat die streitgegenständlichen Pflichtverletzungen eingeräumt und erklärt, er habe einen Fehler gemacht. Die Initiative sei in allen drei Fällen von seinem Freund xxxx xxxxxxx ausgegangen. Sie seien keine Schulfreunde, vielmehr hätten sie sich erst als junge Erwachsene näher kennengelernt. Herr xxxxxxx sei nicht sein bester Freund, allerdings habe er auch keinen großen Freundeskreis. Aufgrund der vielen Auslandseinsätze sei es für ihn schwierig gewesen, Freundschaften zu pflegen. Den Kontakt zu Herrn xxxxxxx habe er im Februar 2014 unmittelbar nach der Durchsuchung am Arbeitsplatz und in seiner Privatwohnung abgebrochen. Er bereue die Taten und würde gerne wieder als Polizist arbeiten. Der Beklagte hat mehrere Beweisanträge gestellt, die vom Senat abgelehnt wurden. Hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>61 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="61"/>Dem Senat liegen die den Beklagten betreffenden Personal- und Disziplinarakten der Klägerin, die Akten des Strafverfahrens (Staatsanwaltschaft xxxxxxxxx, 200 Js 7567/13) und die Akte des Verwaltungsgerichts Freiburg (DB 11 K 3857/19) vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird hierauf sowie auf die gewechselten Schriftsätze im vorliegenden Verfahren verwiesen.</td></tr></table></td></tr></table>
<h2>Entscheidungsgründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts ist nach § 64 Abs. 1 Satz 1 BDG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Beklagte hat sie insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet (§ 64 Abs. 1 Satz 2 BDG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>II. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts hat den Beklagten auf die Disziplinarklage der Klägerin zu Recht aus dem Beamtenverhältnis entfernt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>1. Das behördliche Disziplinarverfahren leidet an keinem wesentlichen Mangel; insbesondere ist die vom Beklagten beantragte Beteiligung des Personalrats ordnungsgemäß erfolgt. Das Verwaltungsgericht brauchte der Klägerin daher keine Frist zur Beseitigung eines wesentlichen Mangels des behördlichen Disziplinarverfahrens zu setzen (vgl. § 55 Abs. 3 Satz 1 BDG). Auch der Senat sieht hierzu keine Veranlassung (vgl. § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 BPersVG in der Fassung vom 05.02.2009 – BPersVG a.F. – wirkt der Personalrat mit bei „Erhebung der Disziplinarklage gegen einen Beamten“. Nach § 72 Abs. 1 BPersVG a.F. ist die beabsichtigte Maßnahme vor der Durchführung mit dem Ziel einer Verständigung rechtzeitig und eingehend mit dem Personalrat zu erörtern. Äußert sich der Personalrat nicht innerhalb von zehn Arbeitstagen, so gilt die beabsichtigte Maßnahme nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F. als gebilligt. Die Disziplinarklage darf beim Verwaltungsgericht nicht erhoben werden, bevor das Mitwirkungsverfahren abgeschlossen ist (vgl. Benecke, in: Richardi/Dörner/Weber, 5. Aufl. 2020, § 78 BPersVG Rn. 28). Erhoben im Sinne des § 34 Abs. 2 BDG ist eine Disziplinarklage mit deren Eingang beim Gericht (vgl. § 90 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Vorliegend hat die Klägerin auf den nach ordnungsgemäßer Belehrung (a) gestellten Antrag des Beklagten mit dem an den örtlichen Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart gerichteten Schreiben vom 05.08.2019 das Mitwirkungsverfahren wirksam eingeleitet (b). Zur Mitwirkung berufen war allein der örtliche Personalrat (c), der durch Übersendung des Entwurfs der Disziplinarklage hinreichend unterrichtet wurde (d). Ob dessen Stellungnahme vom 09.09.2019 fristgerecht erfolgt ist, kann offen bleiben, nachdem die Klägerin ausdrücklich erklärt hat, sich auf eine etwaige Verfristung nicht zu berufen (e). Jedenfalls hat der Personalrat mit dieser Stellungnahme der Erhebung der Disziplinarklage konkludent zugestimmt und zugleich auf eine Erörterung verzichtet. Damit war das Mitwirkungsverfahren abgeschlossen und die Klägerin zur Erhebung der Disziplinarklage berechtigt (f).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>a) Der Beklagte wurde mit der Übermittlung des Ermittlungsberichts am 14.06.2019 darüber informiert, dass beabsichtigt sei, Disziplinarklage zu erheben. Er wurde gleichermaßen ordnungsgemäß auf sein Recht hingewiesen, die Mitwirkung des Personalrats beantragen zu können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>b) Auf den entsprechenden Antrag vom 02.07.2019 beteiligte die Klägerin mit Schreiben vom 05.08.2019 den örtlichen Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart und übersandte den Entwurf der Disziplinarklage mit der Gelegenheit zur Stellungnahme. Unerheblich ist dabei, ob das an den örtlichen Personalrat adressierte Schreiben vom 05.08.2019 diesem von der Dienststelle unmittelbar oder mittelbar über den Gesamtpersonalrat zugeleitet wurde, der unter dem selben Datum ebenfalls angeschrieben wurde. Auch im letzteren Fall wäre es dem örtlichen Personalrat auf Veranlassung der Dienststelle zugeleitet worden und der Gesamtpersonalrat hätte lediglich als Bote fungiert. Dem diesbezüglichen Beweisantrag des Beklagten brauchte der Senat deshalb nicht nachzugehen. Dass bei dem örtlichen Personalrat – unterstellt, ihm sei das Schreiben vom 05.08.2019 nur über den Gesamtpersonalrat zugeleitet worden – auch kein Irrtum über seine Mitwirkungsbefugnis hervorgerufen wurde, wird zudem dadurch belegt, dass dieser sich nicht nur gegenüber dem Gesamtpersonalrat äußerte, sondern unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 05.08.2019 am 09.09.2019 eine unmittelbar an die Dienststelle gerichtete Stellungnahme abgab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>c) Entgegen der Auffassung des Beklagten war der örtliche Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart und nicht der Gesamtpersonalrat zur Mitwirkung berufen. Nach § 82 Abs. 1 BPersVG a.F. ist in Angelegenheiten, in denen die Dienststelle nicht zur Entscheidung befugt ist, anstelle des Personalrats die bei der zuständigen Dienststelle gebildete Stufenvertretung zu beteiligen. Diese Vorschrift gilt nach § 82 Abs. 3 BPersVG a.F. entsprechend für die Verteilung der Zuständigkeit zwischen Personalrat und Gesamtpersonalrat. Personalrat im Sinne des § 82 Abs. 1 BPersVG a.F. ist der örtliche Personalrat. Dieser ist grundsätzlich zuständig in Angelegenheiten von Beschäftigten der Dienststelle, bei welcher der Personalrat gebildet ist, und zwar unter der weiteren Voraussetzung, dass die Dienststelle insoweit zur Entscheidung befugt ist (vgl. hierzu Baden, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 82 Rn. 5). Zuständiger örtlicher Personalrat für den Beklagten ist der örtliche Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart, da das Gemeinsame Zentrum in Kehl, bei dem der Beklagte seinen Dienst versah, keine selbstständige Behörde, sondern Teil der Bundespolizeidirektion ist und es sich auch nicht um eine nach § 6 Abs. 3 BPersVG a.F. personalvertretungsrechtlich verselbständigte Nebenstelle handelt. Nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten ist für das GZ – anders als für einige der Bundespolizeidirektion nachgeordnete Bundespolizeiinspektionen – kein eigener örtlicher Personalrat gebildet worden. Mangels Verselbständigung des GZ ist der Beklagte Beschäftigter der Bundespolizeidirektion als Hauptdienststelle und deren Leiter ist auch zur Entscheidung über die Erhebung der Disziplinarklage befugt. Daraus folgt, dass vorliegend der örtliche Personalrat der Bundespolizeidirektion nach § 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG a.F. zur Mitwirkung berufen ist, denn für die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen örtlichem Personalrat und Gesamtpersonalrat spielt es keine Rolle, ob dem Dienststellenleiter seine Entscheidungsbefugnis in seiner Eigenschaft als Leiter der Hauptdienststelle oder als Leiter der Gesamtdienststelle zusteht. Entscheidend für die Zuständigkeit des örtlichen Personalrats ist, dass es nicht um eine Angelegenheit geht, die die Gesamtdienststelle oder deren Beschäftigte insgesamt tangiert, sondern um eine personelle Einzelmaßnahme, die nur den Beklagten und nicht auch weitere Beschäftigte bei verselbständigten Teildienststellen betrifft (vgl. Baden, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 82 Rn. 32). Auf die Frage, ob der Gesamtpersonalrat (fälschlich) von einer eigenen Zuständigkeit ausgegangen ist, kommt es nicht an, weil die Zuständigkeiten gesetzlich geregelt sind und es sich bei der Frage, welcher Personalrat zuständig ist, um eine Rechtsfrage handelt, die vom Senat zu beantworten und dem Beweis nicht zugänglich ist. Dem darauf bezogenen Beweisantrag des Beklagten brauchte der Senat deshalb nicht nachzugehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>d) Die Unterrichtung des Personalrats gemäß § 68 Abs. 2 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG a.F. (nur) durch Übersendung des Entwurfs der Disziplinarklage genügt entgegen der Auffassung des Beklagten den gesetzlichen Anforderungen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Die Mitwirkung des Personalrats bei der Erhebung der Disziplinarklage bezieht sich allein auf die grundlegende Entscheidung, Disziplinarklage zu erheben, und nicht auf den im Falle der Klageerhebung vorgesehenen Klageantrag (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2005 - 2 C 12.04 -, BVerwGE 124, 252 <juris Rn. 14 ff.> und Beschluss vom 17.04.2020 - 2 B 3.20 -, PersV 2020, 387 <juris Rn. 9> [zu § 68 Abs. 2 Nr. 5 PersVG Meckl.-Vorp.]; Benecke, in: Richardi/Dörner/Weber, Personalvertretungsrecht, 5. Aufl. 2020, § 78 BPersVG, Rn. 23).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Wirkt der Personalrat an einer Entscheidung mit, dann ist die beabsichtigte Maßnahme mit diesem nach § 72 Abs. 1 BPersVG a.F. vor der Durchführung mit dem Ziel einer Verständigung rechtzeitig und eingehend zu erörtern. Dies setzt in einem ersten Schritt die Unterrichtung des Personalrats voraus (vgl. Weber, in: Richardi/Dörner/Weber, Personalvertretungsrecht, 5. Aufl. 2020, § 72 BPersVG Rn. 10). Ausreichend ist insoweit, wenn der Dienstherr die aus seiner Sicht tragenden Gründe unterbreitet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.2004 - 2 B 54.04 -, Buchholz 232 § 31 BBG Nr. 62 <juris Rn. 5> [für die Entlassung eines Beamten auf Probe]; OVG NRW, Urteil vom 11.09.2019 - 3d A 2395/17.O -, juris Rn. 71 [zum nordrhein-westfälischen Disziplinarrecht]; OVG LSA, Beschluss vom 07.05.2020 - 1 M 51/20 -, Blutalkohol 57, 377 <juris Rn. 3> [für die Entlassung eines Beamten auf Widerruf]). Diesen Anforderungen ist die Klägerin vorliegend mit der Vorlage des Entwurfs der Disziplinarklage gerecht geworden. Dieser Entwurf enthält eine detaillierte Schilderung der Vorwürfe, des persönlichen und beruflichen Werdegangs des Beklagten und die wörtliche Wiedergabe der Feststellungen des landgerichtlichen Urteils zur Sache sowie eine Würdigung des Sachverhalts durch die Klägerin. Er genügt damit den in § 52 Abs. 1 Satz 2 BDG normierten Anforderungen an den Inhalt der Klageschrift. Damit waren für den Personalrat die für den Dienstherrn maßgeblichen Gründe erkennbar. In einem derartigen Fall obliegt es dem Personalrat, weitere Informationen zu fordern, wenn er diese für erforderlich hält (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.2004 - 2 B 54.04 -, a.a.O.). Hierzu wäre der Personalrat auch ohne Weiteres in der Lage gewesen. Insbesondere hat die Klägerin den Personalrat nicht irregeführt oder gar getäuscht, indem etwa Wesentliches im Entwurf der Disziplinarklage verschwiegen worden oder Unzutreffendes behauptet worden wäre. Zwar hat der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass der Ermittlungsbericht vom 24.05.2019 einige Aspekte tendenziell anders gewichtet als die Disziplinarklage. So spricht der Ermittlungsbericht von einem „engen zeitlichen Zusammenhang“, während die Disziplinarklage von einem „langen Zeitraum“ spricht. Diese unterschiedlichen Wertungen sind jedoch von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, dass sich die Zeitpunkte der einzelnen Tathandlungen aus den vollständig wiedergegebenen tatsächlichen Feststellungen des landgerichtlichen Urteils ergaben. Soweit der Ermittlungsbericht zu Gunsten des Beklagten etwa dessen kooperatives Verhalten nach den Taten würdigt, was sich so in der Disziplinarklage nicht widerspiegelt, ist ein Unterdrücken von Tatsachen oder eine grob entstellende Darstellung derselben ebenfalls nicht erkennbar, vielmehr war der Personalrat auf der Grundlage der mitgeteilten Informationen ohne Weiteres in der Lage, sich mit der Frage des „Ob“ der Erhebung einer Disziplinarklage zu befassen. Bei dem Umstand, dass der Beklagte sich bei seiner Anhörung am 18.07.2018 wie auch im weiteren Disziplinarverfahren kooperativ gezeigt und die Pflichtverletzungen, die Gegenstand des landgerichtlichen Urteils waren, eingeräumt hat, handelt es sich nicht um ein im Rahmen der Maßnahmebemessung ins Gewicht fallendes Verhalten (siehe unten 4. c), über welches der Personalrat zwingend hätte unterrichtet werden müssen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Eine Irreführung oder Täuschung des Personalrats liegt auch nicht darin, dass in der Disziplinarklage – wie im Übrigen bereits im Ermittlungsbericht vom 24.05.2019 – auch die Sachverhalte 4. - 8. (unberechtigte POLAS-Abfragen) als erwiesen erachtet werden. Aus der Disziplinarklageschrift ergibt sich deutlich, dass insoweit keine bindenden strafgerichtlichen Feststellungen vorliegen. Es wird ausführlich dargelegt, weshalb diese Sachverhalte gleichwohl als erwiesen erachtet werden. Zum Sachverhalt 4 wird zudem ausdrücklich erwähnt, dass der Beklagte mit Schreiben vom 16.01.2019 vorgetragen habe, es sei nicht nachgewiesen, dass es keinen dienstlichen Grund für die Datenabfrage gegeben habe. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung wurde überdies zutreffend dargestellt, dass bezüglich dieser Sachverhalte keine Verletzung der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit im Raume steht. Damit war klar erkennbar, dass diese Vorwürfe lediglich von untergeordneter Bedeutung sind. Dementsprechend hat die Disziplinarkammer auch das Disziplinarverfahren nach § 56 Satz 1 BDG beschränkt und die Vorwürfe 4. - 8. der Disziplinarklage ausgeschieden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Ein Unterrichtungsdefizit ist weiter nicht darin zu erblicken, dass in der Disziplinarklageschrift nur die tatsächlichen Feststellungen aus dem landgerichtlichen Urteil und nicht auch die Strafzumessungserwägungen und die Begründung der Strafaussetzung zur Bewährung wiedergegeben worden sind. Denn die tatsächlichen Feststellungen sind aufgrund der Bindungswirkung, die sie nach § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG entfalten, für das Disziplinarverfahren von besonderer Relevanz. Dem tatsächlich ausgeurteilten Strafmaß und den dafür maßgeblichen Erwägungen kommt demgegenüber bei der Bestimmung der konkreten Disziplinarmaßnahme keine „indizielle“ oder „präjudizielle“ Bedeutung zu, weil Straf- und Disziplinarverfahren unterschiedliche Zwecke verfolgen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.07.2016 - 2 B 24.16 -, NVwZ-RR 2016, 876; Beschluss vom 28.08.2018 - 2 B 5.18 -, juris Rn. 18; Urteil vom 24.10.2019 - 2 C 3.18 -, BVerwGE 166, 389 <juris Rn. 34>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Dem Personalrat sind auch keine wesentlichen Informationen zur Tatmotivation und zum Persönlichkeitsbild des Beklagten vorenthalten worden. Aus der Darstellung der persönlichen und dienstlichen Verhältnisse in der Disziplinarklageschrift ging hervor, dass der Beklagte seit seiner Einstellung 1987 seinen Dienst unbeanstandet versehen hat, mehrfach Auslandseinsätze auch in gefährlichen Ländern wie Afghanistan (2009) absolviert hat und ihm wiederholt Leistungsprämien zuerkannt wurden. Dass der Beklagte aus falsch verstandener Freundschaft handelte und keine finanziellen Interessen verfolgte, wurde aus der Disziplinarklage ebenfalls hinreichend deutlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>Schließlich ist die Ansicht verfehlt, dem Personalrat müssten zur Wahrnehmung seiner Mitwirkungsbefugnis grundsätzlich die gesamten über den Beamten geführten Personal- und Disziplinarakten zur Verfügung gestellt werden. Dem steht bereits die Vorschrift des § 68 Abs. 2 Satz 3 BPersVG a.F. entgegen, nach der Personalakten nur mit Zustimmung des Beschäftigten – die mit dem Antrag auf Mitwirkung nicht unausgesprochen erteilt ist – und nur von den von ihm bestimmten Mitgliedern der Personalvertretung eingesehen werden dürfen. Diese Vorschrift gilt ungeachtet des Umstands, dass die Disziplinarakte regelmäßig formell gesondert geführt wird, auch für diese, weil die Disziplinarakte die Voraussetzungen des materiellen Personalaktenbegriffs erfüllt (vgl. Baden, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 78 Rn. 32a). Eine solche Zustimmung hat der Beklagte vorliegend nicht erteilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>e) Nachdem die Klägerin ausdrücklich erklärt hat, sich auf eine etwaige Verfristung nicht zu berufen und die Stellungnahme vom 09.09.2019 nicht als verfristet anzusehen, kann offenbleiben, ob der örtliche Personalrat sich innerhalb der zehn Arbeitstage umfassenden Äußerungsfrist nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F. geäußert hat. Es bedarf daher keiner Beweiserhebung zu der Frage, ob das an den Gesamtpersonalrat gerichtete Schreiben vom 15.08.2019 auch der Dienststelle zur Kenntnis übermittelt wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Mit der ordnungsgemäßen Unterrichtung des Personalrats durch Vorlage des Entwurfs der Disziplinarklage begann die zehn Arbeitstage umfassende Äußerungsfrist nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F., die – wenn man davon ausgeht, dass der örtliche Personalrat das Schreiben vom 05.08.2019 spätestens am 07.08.2019 erhalten hat – mit Ablauf des 21.08.2019 endete. Der Fristbeginn in § 72 Abs. 2 BPersVG a.F. setzt nicht auch eine (schriftliche oder mündliche) Erörterung voraus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.01.1995 - 6 P 22.92 -, BVerwGE 97, 349 <juris Rn. 16 ff.>; Berg, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 72 Rn. 10 m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Wenngleich die Äußerungsfrist überwiegend als Ausschlussfrist angesehen wird, die auch durch Vereinbarung zwischen Dienststellenleiter und Personalrat nicht verlängert werden kann (vgl. Berg, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 72 Rn. 10 m.w.N.), ist vorliegend die Fiktionswirkung nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F. selbst dann nicht eingetreten, wenn man davon ausgeht, dass der örtliche Personalrat erst unter dem 09.09.2019 Stellung genommen hat, weil die Klägerin im damaligen Zeitraum in ständiger Praxis dieser Frist keine Beachtung geschenkt und auch verspätet eingegangene Erklärungen als fristgemäß behandelt hat. Damit hat sie den Personalrat von einer fristwahrenden Erklärung abgehalten mit der Folge, dass sie sich auf die Folgen einer nach dieser Praxis rechtzeitigen, in Wahrheit aber verspäteten Erklärung nach Treu und Glauben sowie nach dem das Personalvertretungsrecht beherrschenden Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht berufen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.12.1992 - 6 P 16.91 -, BVerwGE 91, 276 <juris Rn. 43> [zu § 69 Abs. 2 Satz 3 BPersVG a.F.]).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>f) Mit der abschließenden Stellungnahme des örtlichen Personalrats vom 09.09.2019 war das Mitwirkungsverfahren abgeschlossen und die Klägerin zur Erhebung der Disziplinarklage berechtigt. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Personalrat mit seiner Äußerung vom 09.09.2019 der Erhebung der Disziplinarklage konkludent zugestimmt und auf eine Erörterung verzichtet hat. Denn er hat in seiner Stellungnahme keine Bedenken gegen die Erhebung einer Disziplinarklage erhoben, sondern lediglich ausgeführt, es werde darum gebeten, von einer Disziplinarmaßnahme abzusehen, welche zu einer Entlassung des Beklagten führt. Darin liegt der Sache nach bei der gebotenen objektiven Auslegung nach dem Empfängerhorizont eine Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage, die nach § 34 Abs. 1 BDG auch für den Fall einer beabsichtigten Zurückstufung zu erheben ist, und zugleich ein konkludenter Verzicht auf eine Erörterung. Ein etwaiger Erörterungsbedarf wird in dem Schreiben, welches sich nach dem objektiven Empfängerhorizont als abschließende Stellungnahme darstellt, nicht aufgezeigt. Der örtliche Personalrat hatte sich zuvor bereits in seiner Sitzung vom 14.08.2019 abschließend mit der Angelegenheit befasst, ohne bei der Klägerin weitere Informationen anzufordern oder einen Erörterungsbedarf geltend zu machen. Dass im Vorlageschreiben vom 11.09.2019 seitens der zuständigen Mitarbeiterin der Klägerin davon ausgegangen wurde, die Personalvertretung stimme „der Erhebung der Disziplinarklage nicht zu“, ist insoweit unerheblich. Abgesehen davon, dass die Mitarbeiterin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erläutert hat, sie habe sich lediglich ungeschickt ausgedrückt, gemeint gewesen sei, dass der Personalrat nicht mit einer Entfernung des Beklagten aus dem Dienst einverstanden sei, handelt es sich bei der Frage, ob eine Zustimmung des Personalrats vorliegt, um eine vom Senat zu beantwortende Rechtsfrage.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Ein starkes Indiz dafür, dass die Stellungnahme, die sich bei der gebotenen objektiven Auslegung nach dem Empfängerhorizont als konkludente Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage unter Verzicht auf eine Erörterung darstellt, auch aus Sicht des Personalrats in diesem Sinne verstanden werden sollte, ist der Umstand, dass dieser nach Übermittlung der Leitungsvorlage an ihn mit E-Mail vom 15.10.2019 nicht remonstrierte und keine Fortsetzung des Mitwirkungsverfahrens einforderte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>Auf die Stellungnahme des Gesamtpersonalrats vom 04.09.2019 kommt es insoweit nicht an, da dieser, wie oben unter c) ausgeführt wurde, nicht zur Mitwirkung berufen war. Dass er fälschlicherweise neben dem örtlichen Personalrat ebenfalls beteiligt wurde, führt nicht dazu, dass seine Stellungnahme beachtlich wäre. Abgesehen davon, dass auch die Stellungnahme vom 04.09.2019 nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen wäre und es nicht darauf ankommt, wie der Gesamtpersonalrat sie verstanden wissen wollte, war die diesbezüglich beantragte Beweiserhebung schon deshalb nicht veranlasst, weil diese Stellungnahme unbeachtlich war und von der Klägerin zu Recht nicht berücksichtigt wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Die mit dem Schreiben vom 09.09.2019 konkludent erteilte Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage ist im Übrigen selbst dann wirksam, wenn man unterstellt, die Information des Personalrats sei defizitär gewesen. Denn der Personalrat kann auch dann, wenn das Mitwirkungsverfahren nicht ordnungsgemäß eingeleitet wird, der Maßnahme gleichwohl wirksam zustimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.04.1989 - 2 C 26.88 -, DVBl 1989, 1155 <juris Rn. 20> [für die Mitwirkung bei der Entlassung eines Beamten auf Probe]; SächsOVG, Urteil vom 03.06.2016 - 6 A 64/15.D -, juris Rn. 60 [für das sächsische Disziplinarrecht]). Eine Verletzung des der Sphäre der Personalvertretung zuzuordnenden weitergehenden Informationsanspruchs führt zudem – ebensowenig wie der Verzicht auf die im Mitwirkungsverfahren vorgeschriebene, vom Beklagten vermisste Erörterung mit dem Dienststellenleiter – nicht zur Rechtswidrigkeit der getroffenen Maßnahme (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.10.1989<br/>- 2 C 22.87 -, BVerwGE 82, 356 <juris Rn. 24> [zu § 78 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG a.F.]; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.01.2021 - DL 16 S 1268/19 -, juris Rn. 96 [zum baden-württembergischen Disziplinarrecht]).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>2. In tatsächlicher Hinsicht legt der Senat seiner disziplinarrechtlichen Beurteilung die tatsächlichen Feststellungen in dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts xxxxxxxxx vom 19.12.2017 - 4 Ns 200 Js 7567/13 - zugrunde, die im Tatbestand vollständig wiedergegeben wurden und auf die an dieser Stelle verwiesen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="85"/>Hinsichtlich dieser Feststellungen besteht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 57 Abs. 1 BDG Bindungswirkung. Der Bindung unterliegen die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts, die den objektiven und subjektiven Tatbestand der verletzten Strafnorm, die Rechtswidrigkeit der Tat, das Unrechtsbewusstsein (§ 17 StGB) sowie die Frage der Schuldfähigkeit gemäß § 20 StGB betreffen. Hierzu gehören nicht nur die äußeren Aspekte des Tathergangs, sondern auch die Elemente des inneren Tatbestands wie etwa Vorsatz oder Fahrlässigkeit sowie Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht (OVG NRW, Urteil vom 07.02.2018 - 3d A 2284/14.BDG -, juris Rn. 44 m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="86"/>3. Der Beklagte hat, wie die Disziplinarkammer zutreffend angenommen hat, durch das vom Landgericht xxxxxxxxx festgestellte Verhalten ein – einheitliches – Dienstvergehen begangen. Er hat vorsätzlich seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit (§ 67 Abs. 1 Satz 1 BBG), zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb des Dienstes (§ 61 Abs. 1 Satz 3 BBG) sowie dazu, sich mit vollem persönlichem Einsatz seinem Beruf zu widmen und das übertragene Amt uneigennützig nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen (§ 61 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BBG), verstoßen. Durch die unbefugten Recherchen in den polizeilichen Datenbanken, die jeweils keinen dienstlichen Bezug hatten, hat er zudem gegen die Folgepflicht verstoßen (§ 62 Abs. 1 Satz 2 BBG). Denn derartige Recherchen waren dem Beklagten aufgrund der ihm bekannten dienstrechtlichen Vorschriften nur dann gestattet, wenn hierzu ein dienstlicher Anlass bestand. Die begangenen Straftaten stellen ein innerdienstliches Dienstvergehen dar, weil das Verhalten des Beklagten in sein Amt und die damit verbundene Tätigkeit eingebunden war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="87"/>4. Der Senat teilt die von der Disziplinarkammer getroffene Einschätzung, dass aufgrund des festgestellten – schwerwiegenden – Dienstvergehens die Entfernung der Beklagten aus dem Dienst gemäß § 10 BDG in Verbindung mit § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG unumgänglich ist. Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="88"/>a) Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG nach der Schwere des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung. Aufgrund dieser Vorgaben ist über die erforderliche Disziplinarmaßnahme im Wege einer prognostischen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller im Einzelfall belastenden und entlastenden Gesichtspunkte zu entscheiden. Bei schweren Dienstvergehen stellt sich vorrangig die Frage, ob der Beamte nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist. Gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist ein aktiver Beamter aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, wenn er das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Dies ist anzunehmen, wenn aufgrund der prognostischen Gesamtwürdigung auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen belastenden und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Verhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wiedergutzumachen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden. Als maßgebendes Bemessungskriterium ist die Schwere des Dienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG richtungsweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Davon ausgehend kommt es darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall nach § 13 Abs. 1 Satz 3 und 4 BDG derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Disziplinarmaßnahme geboten ist (zum Ganzen: BVerwG, Urteile vom 02.12.2021 - 2 A 7.21 -, ZBR 2022, 197 <juris Rn. 47 f.>, vom 29.05.2008 - 2 C 59.07 -, juris Rn. 16, 18 und vom 03.05.2007 - 2 C 9.06 -, NVwZ-RR 2007, 695 <juris Rn. 16 ff.>; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2019 - DB 13 S 1750/18 -, n.v. UA S. 11 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="89"/>Für die Schwere des Dienstvergehens können bestimmend sein die objektive Handlung (insbesondere Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung sowie besondere Umstände der Tatbegehung, wie etwa Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens), subjektive Handlungsmerkmale (insbesondere Form und Gewicht der Schuld des Beamten, Beweggründe für sein Verhalten) sowie unmittelbare Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und Dritte, z.B. der materielle Schaden (vgl. BVerwG, Urteile vom 20.10.2005 - 2 C 12.04 -, BVerwGE 124, 252 <juris Rn. 25> und vom 29.05.2008 - 2 C 59.07 -, juris Rn. 13). Die gegen einen Beamten ausgesprochene Disziplinarmaßnahme muss unter Berücksichtigung aller belastenden und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur Schwere des Dienstvergehens und zum Verschulden des Beamten stehen (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2004 - 2 BvR 52/02 -, BVerfGK 4, 243 <juris Rn. 44 f.>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="90"/>b) Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, ist hier die angemessene Disziplinarmaßnahme, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis. Sein Fehlverhalten wiegt in seiner Gesamtheit so schwer, dass er das Vertrauen der Dienstherrin und der Allgemeinheit endgültig verloren hat (§ 10 BDG i.V.m. § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="91"/>Setzt sich das Dienstvergehen aus mehreren Dienstpflichtverletzungen zusammen, so bestimmt sich die zu verhängende Disziplinarmaßnahme in erster Linie nach der schwersten Verfehlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.02.2005<br/>- 1 D 1.04 -, NVwZ-RR 2006, 47 <juris Rn. 113>; OVG NRW, Urteil vom 11.12.2019 - 3d A 3607/18.BDG -, juris Rn. 83; BayVGH, Urteil vom 22.11.2017 - 16b D 15.1182 -, juris Rn. 34). Dies ist vorliegend die Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b Abs. 1 StGB), die nach den Umständen des Einzelfalls einen besonders schweren Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit darstellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="92"/>Zur Bestimmung des Ausmaßes des Vertrauensschadens ist auch bei innerdienstlich begangenen Dienstvergehen auf den gesetzlichen Strafrahmen zurückzugreifen. Auch bei diesen Dienstvergehen gewährleistet die Orientierung des Umfangs des Vertrauensverlustes am gesetzlichen Strafrahmen eine nachvollziehbare und gleichmäßige disziplinarische Ahndung der Dienstvergehen. Begeht ein Beamter innerdienstlich unter Ausnutzung seiner Dienststellung eine Straftat, für die das Strafgesetz als Strafrahmen eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht, reicht der Orientierungsrahmen für die mögliche Disziplinarmaßnahme bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.2015 - 2 C 6.14 -, BVerwGE 154, 10 <juris Rn. 19 f.>). Dieser Rahmen ist hier eröffnet, da § 353b Abs. 1 Satz 1 StGB für die Verletzung des Dienstgeheimnisses eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren vorsieht. Dem tatsächlich ausgeurteilten Strafmaß kommt demgegenüber bei der Bestimmung der konkreten Disziplinarmaßnahme keine „indizielle“ oder „präjudizielle“ Bedeutung zu, weil Straf- und Disziplinarverfahren unterschiedliche Zwecke verfolgen (BVerwG, Beschluss vom 05.07.2016 - 2 B 24.16 -, NVwZ-RR 2016, 876; Beschluss vom 28.08.2018 - 2 B 5.18 -, juris Rn. 18; Urteil vom 24.10.2019 - 2 C 3.18 -, BVerwGE 166, 389 <juris Rn. 34>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="93"/>Die Ausschöpfung des maßgeblich in Anlehnung an die abstrakte Strafandrohung gebildeten Orientierungsrahmens kommt jedoch nur in Betracht, wenn dies auch dem Schweregehalt des vom Beamten konkret begangenen Dienstvergehens entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.06.2015 - 2 C 9.14 -, BVerwGE 152, 228 <juris Rn. 36>). Auch dies ist hier der Fall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit nach § 67 Abs. 1 BBG gehört zu den Hauptpflichten des Beamten (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.12.2005 - 2 A 4.04 -, NVwZ-RR 2006, 485 <juris Rn. 66>; Urteil vom 19.05.1998 - 1 D 37.97 -, juris Rn. 15 [jeweils zum insoweit identischen § 61 BBG 1999]; Leppek, in: BeckOK Beamtenrecht Bund, § 67 BBG [20. Edition 1. April 2020], Rn. 1). Bei Beamten, zu deren funktionalen Aufgaben gerade die Wahrung bestimmter Geheimnisse gehört, zählt sie darüber hinaus zu den Kernpflichten (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, juris Rn. 33 m.w.N.). Die Verletzung des Amtsgeheimnisses ist ein erheblicher Treuepflichtverstoß, der geeignet sein kann, die Vertrauenswürdigkeit des Beamten in Frage zu stellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 1 D 4.07 -, Buchholz 235 § 77 BDO Nr. 13 <juris Rn. 22>; Urteil vom 19.05.1998 - 1 D 37.97 -, juris Rn. 16). Wegen der großen Spannbreite der Verhaltensweisen hinsichtlich einer derartigen Pflichtverletzung lassen sich allerdings feste Regeln für eine Disziplinarmaßnahme nicht aufstellen. Je nach der Bedeutung der vertraulich zu behandelnden amtlichen Vorgänge und dem Grad des Verschuldens kann ein Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht unterschiedliches disziplinarisches Gewicht haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 1 D 4.07 -, a.a.O., <juris Rn. 22>; Urteil vom 28.10.1998 - 1 D 28.97 -, juris Rn. 17; Urteil vom 19.05.1998 - 1 D 37.97 -, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, a.a.O.). Die Schwere eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit – wie sie hier im Mittelpunkt steht – richtet sich, was die objektive Handlung anbelangt, zum einen nach dem Grad der jeweils bestehenden Geheimhaltungsbedürftigkeit. Dieser wird seinerseits durch die möglichen Folgen einer unbefugten Offenbarung beeinflusst, welche die Bedeutung der Geheimhaltung widerspiegeln. Die Bewertung der Pflichtverletzung wird zum anderen durch die dienstliche Stellung und den funktionalen Aufgabenbereich des Beamten beeinflusst. Ein Beamter, zu dessen funktionalen Aufgaben die Wahrung bestimmter Geheimnisse gehört, verstößt gegen den Kernbereich seiner Dienstpflichten, wenn er der Geheimhaltungspflicht nicht nachkommt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, juris Rn. 33 m.w.N.). Dies gilt insbesondere für einen Polizeibeamten wie den Beklagten, zu dessen Aufgaben in besonderem Maße die Verhütung, Unterbindung, Bekämpfung und Verfolgung strafbarer Handlungen gehört (vgl. BayVGH, Urteil vom 24.11.2004 - 16a D 03.2668 -, juris Rn. 53 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.09.2017 - DB 13 S 1074/16 -, n.v.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>95 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="95"/>In Anwendung dieser Grundsätze hat die Rechtsprechung der Disziplinargerichte allein wegen pflichtwidriger Weitergabe interner Informationen durch Polizeibeamte, insbesondere über laufende Ermittlungsmaßnahmen, namentlich nach vorheriger Abfrage polizeilicher Informationssysteme, noch nicht auf die Höchstmaßnahme erkannt, diese jedoch dann regelmäßig ausgesprochen, wenn weitere erhebliche Pflichtverstöße, insbesondere Straftaten im Amt (insbesondere Bestechlichkeit) oder sonstige erschwerende Umstände hinzutraten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, juris Rn. 34; s.a. SaarlOVG, Urteil vom 22.02.2018 - 6 A 375/17 -, juris; OVG NRW, Urteil vom 11.09.2019 - 3d A 2395/17.O -, juris). Dies darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass es neben der Weitergabe interner Informationen stets eines weiteren Pflichtenverstoßes bedürfte, um die Höchstmaßnahme zu rechtfertigen. Auch ohne zusätzlichen Pflichtverstoß des Beamten kann die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis die angemessene Sanktion auf die Weitergabe polizeiinterner Informationen sein. Insoweit ist insbesondere von Bedeutung, ob es sich um besonders schützenswerte Informationen handelt, ob durch die Offenbarung eine besondere Beeinträchtigung des öffentlichen Ansehens der Polizei eingetreten ist, ob Ermittlungen gefährdet wurden oder werden konnten oder ob es zu einer Gefährdung für Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit gekommen ist. Auch das Verhalten des Beamten selbst ist insoweit von Bedeutung, etwa die Motivation, die Anzahl der Verstöße und das Maß der Pflichtwidrigkeit. Erforderlich ist eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>96 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="96"/>Insoweit ist vorliegend Folgendes zu berücksichtigen:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>97 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="97"/>Hinsichtlich der Mitteilung an xxxx xxxxxxx, dass gegen xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx ein Ermittlungsverfahren geführt wird und dass insoweit ein Rechtshilfevorgang nach Frankreich gerichtet worden war (und welche Erkenntnisse insoweit erlangt wurden), ist zu berücksichtigen, dass diese geeignet war, die gegen xxxxxx und xxxxxxxx gerichteten Ermittlungen zu gefährden. Es handelte sich insoweit um umfangreiche Ermittlungen gegen führende Mitglieder der Rockergruppierung „Hells Angels xxxxx xxxxxx“; Gegenstand des Ermittlungsverfahrens war unter anderem der Vorwurf der Geldwäsche, der von erheblichem Gewicht ist. Der Beklagte wusste, dass es sich bei xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx um führende Mitglieder dieser Rockergruppierung handelt und dass sein Freund xxxx xxxxxxx in einer von xxxx xxxxxxxx betriebenen Kfz-Werkstatt arbeitete. Gleichwohl stellte er nicht sicher, dass xxxx xxxxxxxx die durch Abfragen von seinem Dienstrechner erlangten Erkenntnisse, bei denen es sich um besonders schützenswerte Informationen handelte, nicht an xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx weitergab. Als erfahrenem Polizeibeamten musste sich ihm aufdrängen, dass xxxx xxxxxxx die erbetenen Informationen an die beiden Hells Angels-Mitglieder weiterleiten würde. Ebenso musste sich ihm aufgrund der ihm seitens seines Freundes geschilderten Umstände aufdrängen, dass verdeckte Ermittlungen gegen die beiden Hells Angels-Mitglieder liefen. Gleichwohl gab er die Informationen auf das laufende Ermittlungsverfahren preis und nahm dabei mindestens billigend in Kauf, dass dadurch der Erfolg der Ermittlungen gefährdet würde. Er hat damit gewissermaßen „die Seiten gewechselt“ und ein unwürdiges Verhalten gezeigt, welches in besonderem Maße geeignet ist, das Ansehen und Vertrauen in die Polizei zu beeinträchtigen (vgl. BayVGH, Urteil vom 24.11.2004 - 16a D 03.2668 -, juris Rn. 51). Der Einwand des Beklagten, den Betroffenen sei die Observation bereits bekannt gewesen und er habe dies aufgrund seiner Recherche lediglich bestätigt, verfängt nicht. Nach den bindenden Feststellungen des landgerichtlichen Urteils hegte xxxx xxxxxxx lediglich die Vermutung, dass es sich um eine polizeiliche Observation handeln könnte. Zudem beschränkten sich die mitgeteilten Informationen nicht auf die Tatsache der Observation, vielmehr unterrichtete der Beklagte seinen Jugendfreund darüber, dass die Kriminalpolizei xxxxxxxxx wegen Betrugs gegen die beiden Hells Angels-Mitglieder ermittle, und über die aus einem nach Frankreich gerichteten Rechtshilfeersuchen gewonnenen Erkenntnisse. Zwar ließ sich nicht sicher feststellen, ob die Preisgabe des Dienstgeheimnisses die Ermittlungen tatsächlich beeinträchtigte, doch wird dadurch das Gewicht des Verstoßes nicht erheblich gemindert. Denn der Persönlichkeitsmangel des Beklagten zeigt sich bereits in der Tathandlung und weniger im Eintritt ihres Erfolgs. Auch das Ansehen der Bundespolizei ist insoweit erheblich beeinträchtigt worden. Zum einen liegt auf der Hand, dass der Verrat von Polizeiinterna an „Rockerkreise“ geeignet ist, das Vertrauen der Bevölkerung in die (Bundes-) Polizei erheblich zu schmälern. Zum anderen handelt es sich beim GZ um eine behördenübergreifende internationale Dienststelle, so dass durch das Verhalten des Beklagten der Dienstherr auch gegenüber den anderen Behörden und gegenüber ausländischen Behörden „bloßgestellt“ worden ist. Gerade im Hinblick auf die Bedeutung einer internationalen und behördenübergreifenden Kriminalitätsbekämpfung wiegt dies schwer.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>98 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="98"/>Hinsichtlich der Verletzung der Verschwiegenheitspflicht zu Lasten des xxxx xxxxx ist zu beachten, dass sich die Mitteilung des Beklagten nicht auf die Bestätigung des von xxxx xxxxxxx gehegten Verdachts, dass es sich bei dem von xxxx xxxx verwendete Dokument um die Kopie eines gefälschten Ausweises handelt, und auf die bloße Nennung des richtigen Namens beschränkt hat. Der Beklagte hat vielmehr xxxx xxxxxxx auch ein Foto des xxxx xxxx sowie dessen Einwohnermeldedaten und den Hinweis, dass dieser wegen Betrugs vorbestraft ist, übermittelt. Dies stellt nicht nur einen gravierenden Eingriff in dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, sondern war auch geeignet, eine potentielle Gefahr für dessen Rechtsgüter zu schaffen. Angesichts der Gesamtumstände war es nicht fernliegend, dass die getäuschte Bekannte des xxxx xxxxxxx den xxxx xxxx hätte konfrontieren können. Auch ist zu sehen, dass sich die Aufforderung des xxxx xxxxxxx primär darauf bezog, zu prüfen, ob es sich um einen gefälschten Ausweis handelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>99 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="99"/>Hinsichtlich der Verletzung der Verschwiegenheitspflicht zu Lasten des xxxxx-xx xxxxxxx ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte xxxx xxxxxxx neben der Adresse auch ein Foto sowie die Information, dass dieser wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung in POLAS einlag, zur Verfügung gestellt hat. Die Weitergabe dieser Informationen hatte ferner eine erhebliche Außenwirkung, da der Rechtsanwalt des xxxx xxxxxxx diese dazu nutzte, ein Forderungsschreiben an xxxxxxx xxxxxxx zu richten. Gerade die Nutzung polizeilicher Informationssysteme zur Durchsetzung privater Interessen ist geeignet, einen erheblichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zu bewirken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>100 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="100"/>In allen drei Fällen des Verstoßes gegen die Verschwiegenheitspflicht ist festzuhalten, dass zugleich ein Verstoß gegen strafrechtliche Bestimmungen gegeben war. Der Beklagte hat auch nicht „nur“ gegenüber engsten Familienangehörigen etwas „ausgeplaudert“, sondern gewissermaßen auf Zuruf seines Freundes xxxx xxxxxxx das interne Informationssystem „angezapft“ und hierbei keinerlei Vorkehrungen getroffen, um eine unkontrollierte Weiterverbreitung der Informationen zu verhindern. Der Beklagte hat dabei nicht aus einer besonderen Drucksituation heraus gehandelt. Zwar erfolgten die Verstöße alle innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem Jahr. Gleichwohl kann von einem „Einzelfall“ keine Rede sein. Dass der Beklagte lediglich einen „Freundschaftsdienst“ leisten wollte und keine finanziellen Interessen verfolgt hat, vermag diesen nicht zu entlasten. Hätte der Beklagte die Informationen „verkauft“, läge hierin ein weiteres – überdies nach § 332 Abs. 1 Satz 1 StGB strafrechtlich relevantes (vgl. BGH, Urteil vom 22.06.2000 - 5 StR 268/99 -, NStZ 2000, 596 <juris Rn. 21 ff.>) – pflichtwidriges Verhalten. Auch soweit der Beklagte im Hinblick auf die Informationsweitergabe zu xxxx xxxx geltend macht, er habe geglaubt, einen Betrug verhindern zu können, ist dies nicht geeignet, sein Verhalten insoweit in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. Der Beklagte hat nach eigenen Angaben erkannt, dass es sich bei der ihm von xxxx xxxxxxx übermittelten Ausweiskopie um eine Fälschung handelte. Um einen – eventuellen – Betrug zu verhindern, hätte es daher ausgereicht, diese Erkenntnis xxxx xxxxxxx mitzuteilen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>101 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="101"/>c) Von einem schweren Dienstvergehen geht grundsätzlich eine – widerlegliche – Indizwirkung für einen endgültigen Vertrauensverlust im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2005 - 2 C 12.04 -, BVerwGE 124, 252). Die von der Schwere des Dienstvergehens ausgehende Indizwirkung entfällt danach, wenn gewichtige und im Einzelfall durchgreifende Entlastungsgründe festgestellt werden, welche die Gesamtwürdigung rechtfertigen, der Beamte habe das Vertrauensverhältnis noch nicht endgültig zerstört. Dies ist der Fall, wenn auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden kann, der Beamte werde künftig nicht in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen und die durch sein Verhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei auch bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses wiedergutzumachen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.01.2021 - DL 16 S 1268/19 -, juris Rn. 125).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>102 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="102"/>Diese für den Ausschluss der Indizwirkung maßgeblichen Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Senat kann – ebenso wie das Verwaltungsgericht – unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 20.12.2013 - 2 B 35.13 -, NVwZ-RR 2014, 314 und Urteil vom 23.02.2012 - 2 C 38.10 -, NVwZ-RR 2012, 479) nicht erkennen, dass der durch die Begehung des schwerwiegenden Dienstvergehens eingetretene Vertrauensverlust durch durchgreifende Entlastungsgründe entfallen ist und der Beklagte gegenüber der Klägerin noch ein Restvertrauen für sich in Anspruch nehmen könnte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>103 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="103"/>Zu den klassischen Milderungsgründen zählen besondere Konfliktsituationen (Handeln in einer wirtschaftlichen Notlage, in einer psychischen Ausnahmesituation oder in einer besonderen Versuchungssituation) oder Verhaltensweisen mit noch günstiger Persönlichkeitsentwicklung (freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder Offenbarung des Fehlverhaltens vor Tatentdeckung, Zugriff auf geringwertige Gelder oder Güter). Keiner dieser Gründe ist hier einschlägig. Insbesondere lag keine besondere „Versuchungssituation“ vor, mag die unbefugte Abfrage der Informationen aus den polizeilichen Datenbanken durch den Beklagten mangels stringenter Kontrollen auch leicht möglich gewesen sein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>104 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="104"/>Auch aufgrund des Persönlichkeitsbildes des Beklagten ergeben sich keine Entlastungsgründe von solchem Gewicht, dass der Schluss gerechtfertigt wäre, das Vertrauensverhältnis sei noch nicht vollends zerstört.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>105 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="105"/>Die ansonsten pflichtgemäße Dienstausübung ist selbst bei überdurchschnittlichen Leistungen, wie sie der Beklagte über lange Jahre gezeigt hat, für sich genommen regelmäßig nicht geeignet, gravierende Pflichtenverstöße in einem milderen Licht erscheinen zu lassen (BVerwG, Beschluss vom 17.07.2013<br/>- 2 B 27.12 -, juris m.w.N.). Insoweit brauchte der Senat dem in der Berufungsverhandlung gestellten Beweisantrag zu dessen dienstlichem Verhalten nicht nachzugehen, da sich die unter Beweis gestellten Tatsachen aus den Akten ergeben und auch von der Klägerin nicht in Abrede gestellt werden (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 StPO analog).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>106 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="106"/>Dem Umstand, dass der Beklagte weder straf- noch disziplinarrechtlich vorbelastet ist, ist ebenfalls keine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. Eine straffreie außerdienstliche Lebensführung und ordnungsgemäße Erfüllung der Dienstpflichten darf ein Dienstherr von jedem Beamten erwarten (st. Rspr., vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 28.01.2013 - 2 C 3.12 -, BVerwGE 146, 98 <juris Rn. 43> und Urteil vom 16.06.2020 - 2 C 12.19 -, BVerwGE 168, 254 <juris Rn. 41>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>107 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="107"/>Auch sieht der Senat, dass der Beklagte unmittelbar nach Eröffnung des Tatverdachts im Zusammenhang mit der am 21.02.2014 durchgeführten Hausdurchsuchung den Kontakt zu xxxx xxxxxxx abgebrochen hat und im Disziplinarverfahren nach Aufdeckung der Taten und rechtskräftiger Verurteilung durch das Landgericht xxxxxxxxx Reue gezeigt, in jeder Hinsicht kooperiert und die Vorwürfe im Rahmen seiner Anhörung am 18.07.2018 eingeräumt hat. Dies vermag an dem eingetretenen, grundlegenden Vertrauensverlust jedoch ebenfalls nichts zu ändern, zumal die Vorwürfe erst nach der strafgerichtlichen Ahndung vollumfänglich eingeräumt wurden. Im Rahmen der Anhörung zur vorläufigen Dienstenthebung hatte der Beklagte mit Schreiben vom 05.02.2015 zunächst lediglich einen Fall des Geheimnisverrats eingestanden, den Zeugen xxxxxxx als unglaubwürdig bezeichnet und betont, er sei kein „Informant von Rockerkreisen“. Selbstverständlich war er nicht verpflichtet, sich selbst weiter zu belasten. Von einer bereitwilligen Mitwirkung an der Aufklärung und einer umfassenden Kooperation kann vor diesem Hintergrund jedoch nicht ausgegangen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>108 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="108"/>Damit fehlt es an durchgreifenden positiven Aspekten, die einzeln oder in einer Gesamtschau ein Absehen von der Höchstmaßnahme rechtfertigen könnten. Vielmehr hat der Beklagte mit seinem Verhalten eine Persönlichkeitsstruktur offenbart, die sich vom dienstlichen Pflichtenkreis und dem besonderen Vertrauensverhältnis zur Dienstherrin so weit entfernt hat, dass er für seine Dienstherrin nicht mehr tragbar ist und deshalb aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden muss.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>109 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="109"/>Dies gilt selbst dann, wenn man zugunsten des Beklagten davon ausgeht, dass keine Wiederholungsgefahr besteht. Denn das Beamtenverhältnis ist nicht nur dann disziplinarrechtlich zu beenden, wenn von dem Beamten auch zukünftig die Gefahr eines Verstoßes gegen Dienstpflichten in erheblicher Weise besteht, sondern auch, wenn – wie hier – bereits die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wieder gutzumachen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 29.05.2008 - 2 C 59.07 -, juris Rn. 18, und vom 03.05.2007 - 2 C 9.06 -, NVwZ-RR 2007, 695 <juris Rn. 18>; OVG NRW, Urteil vom 29.09.2021 - 3d A 148/20.O -, juris Rn. 148).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>110 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="110"/>Die Entfernung des Beklagten aus dem Dienst ist unter Abwägung des Gewichts des Dienstvergehens sowie des dadurch eingetretenen Vertrauensschadens und der mit der Verhängung der Höchstmaßnahme einhergehenden Belastung auch nicht unverhältnismäßig. Die Entfernung eines Beamten aus dem Dienst als disziplinare Höchstmaßnahme verfolgt neben der Wahrung des Vertrauens in die pflichtgemäße Aufgabenerfüllung durch die öffentliche Verwaltung den Zweck der Generalprävention, der Gleichbehandlung und der Wahrung des Ansehens des öffentlichen Dienstes. Ist durch das Gewicht des Dienstvergehens und mangels durchgreifender Milderungsgründe das Vertrauen endgültig zerstört, ist die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis die angemessene Reaktion auf das Dienstvergehen. Die Auflösung des Dienstverhältnisses beruht dann auf der schuldhaften, schwerwiegenden Pflichtverletzung durch den Beamten und ist diesem als für alle öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnisse vorhersehbare Rechtsfolge bei derartigen Pflichtverletzungen zuzurechnen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.10.2003 - 1 D 2.03 -, ZBR 2004, 256 <juris Rn. 49>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>111 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="111"/>Schließlich steht der lange zurückliegende Tatzeitraum der Entfernung aus dem Dienst nicht entgegen. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis wird vom Maßnahmeverbot wegen Zeitablaufs nach § 15 BDG nicht erfasst.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>112 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="112"/>III. Der Senat sieht keinen Grund, die Gewährung des Unterhaltsbeitrags nach § 10 Abs. 3 Satz 2 BDG auszuschließen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>113 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="113"/>IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 77 Abs. 1 BDG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>114 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="114"/>Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 69 BDG i.V.m. § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td valign="top"><table><tr><td>62 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="62"/>I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts ist nach § 64 Abs. 1 Satz 1 BDG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Beklagte hat sie insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet (§ 64 Abs. 1 Satz 2 BDG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>63 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="63"/>II. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts hat den Beklagten auf die Disziplinarklage der Klägerin zu Recht aus dem Beamtenverhältnis entfernt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>64 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="64"/>1. Das behördliche Disziplinarverfahren leidet an keinem wesentlichen Mangel; insbesondere ist die vom Beklagten beantragte Beteiligung des Personalrats ordnungsgemäß erfolgt. Das Verwaltungsgericht brauchte der Klägerin daher keine Frist zur Beseitigung eines wesentlichen Mangels des behördlichen Disziplinarverfahrens zu setzen (vgl. § 55 Abs. 3 Satz 1 BDG). Auch der Senat sieht hierzu keine Veranlassung (vgl. § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>65 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="65"/>Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 BPersVG in der Fassung vom 05.02.2009 – BPersVG a.F. – wirkt der Personalrat mit bei „Erhebung der Disziplinarklage gegen einen Beamten“. Nach § 72 Abs. 1 BPersVG a.F. ist die beabsichtigte Maßnahme vor der Durchführung mit dem Ziel einer Verständigung rechtzeitig und eingehend mit dem Personalrat zu erörtern. Äußert sich der Personalrat nicht innerhalb von zehn Arbeitstagen, so gilt die beabsichtigte Maßnahme nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F. als gebilligt. Die Disziplinarklage darf beim Verwaltungsgericht nicht erhoben werden, bevor das Mitwirkungsverfahren abgeschlossen ist (vgl. Benecke, in: Richardi/Dörner/Weber, 5. Aufl. 2020, § 78 BPersVG Rn. 28). Erhoben im Sinne des § 34 Abs. 2 BDG ist eine Disziplinarklage mit deren Eingang beim Gericht (vgl. § 90 VwGO).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>66 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="66"/>Vorliegend hat die Klägerin auf den nach ordnungsgemäßer Belehrung (a) gestellten Antrag des Beklagten mit dem an den örtlichen Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart gerichteten Schreiben vom 05.08.2019 das Mitwirkungsverfahren wirksam eingeleitet (b). Zur Mitwirkung berufen war allein der örtliche Personalrat (c), der durch Übersendung des Entwurfs der Disziplinarklage hinreichend unterrichtet wurde (d). Ob dessen Stellungnahme vom 09.09.2019 fristgerecht erfolgt ist, kann offen bleiben, nachdem die Klägerin ausdrücklich erklärt hat, sich auf eine etwaige Verfristung nicht zu berufen (e). Jedenfalls hat der Personalrat mit dieser Stellungnahme der Erhebung der Disziplinarklage konkludent zugestimmt und zugleich auf eine Erörterung verzichtet. Damit war das Mitwirkungsverfahren abgeschlossen und die Klägerin zur Erhebung der Disziplinarklage berechtigt (f).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>67 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="67"/>a) Der Beklagte wurde mit der Übermittlung des Ermittlungsberichts am 14.06.2019 darüber informiert, dass beabsichtigt sei, Disziplinarklage zu erheben. Er wurde gleichermaßen ordnungsgemäß auf sein Recht hingewiesen, die Mitwirkung des Personalrats beantragen zu können.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>68 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="68"/>b) Auf den entsprechenden Antrag vom 02.07.2019 beteiligte die Klägerin mit Schreiben vom 05.08.2019 den örtlichen Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart und übersandte den Entwurf der Disziplinarklage mit der Gelegenheit zur Stellungnahme. Unerheblich ist dabei, ob das an den örtlichen Personalrat adressierte Schreiben vom 05.08.2019 diesem von der Dienststelle unmittelbar oder mittelbar über den Gesamtpersonalrat zugeleitet wurde, der unter dem selben Datum ebenfalls angeschrieben wurde. Auch im letzteren Fall wäre es dem örtlichen Personalrat auf Veranlassung der Dienststelle zugeleitet worden und der Gesamtpersonalrat hätte lediglich als Bote fungiert. Dem diesbezüglichen Beweisantrag des Beklagten brauchte der Senat deshalb nicht nachzugehen. Dass bei dem örtlichen Personalrat – unterstellt, ihm sei das Schreiben vom 05.08.2019 nur über den Gesamtpersonalrat zugeleitet worden – auch kein Irrtum über seine Mitwirkungsbefugnis hervorgerufen wurde, wird zudem dadurch belegt, dass dieser sich nicht nur gegenüber dem Gesamtpersonalrat äußerte, sondern unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 05.08.2019 am 09.09.2019 eine unmittelbar an die Dienststelle gerichtete Stellungnahme abgab.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>69 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="69"/>c) Entgegen der Auffassung des Beklagten war der örtliche Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart und nicht der Gesamtpersonalrat zur Mitwirkung berufen. Nach § 82 Abs. 1 BPersVG a.F. ist in Angelegenheiten, in denen die Dienststelle nicht zur Entscheidung befugt ist, anstelle des Personalrats die bei der zuständigen Dienststelle gebildete Stufenvertretung zu beteiligen. Diese Vorschrift gilt nach § 82 Abs. 3 BPersVG a.F. entsprechend für die Verteilung der Zuständigkeit zwischen Personalrat und Gesamtpersonalrat. Personalrat im Sinne des § 82 Abs. 1 BPersVG a.F. ist der örtliche Personalrat. Dieser ist grundsätzlich zuständig in Angelegenheiten von Beschäftigten der Dienststelle, bei welcher der Personalrat gebildet ist, und zwar unter der weiteren Voraussetzung, dass die Dienststelle insoweit zur Entscheidung befugt ist (vgl. hierzu Baden, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 82 Rn. 5). Zuständiger örtlicher Personalrat für den Beklagten ist der örtliche Personalrat der Bundespolizeidirektion Stuttgart, da das Gemeinsame Zentrum in Kehl, bei dem der Beklagte seinen Dienst versah, keine selbstständige Behörde, sondern Teil der Bundespolizeidirektion ist und es sich auch nicht um eine nach § 6 Abs. 3 BPersVG a.F. personalvertretungsrechtlich verselbständigte Nebenstelle handelt. Nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten ist für das GZ – anders als für einige der Bundespolizeidirektion nachgeordnete Bundespolizeiinspektionen – kein eigener örtlicher Personalrat gebildet worden. Mangels Verselbständigung des GZ ist der Beklagte Beschäftigter der Bundespolizeidirektion als Hauptdienststelle und deren Leiter ist auch zur Entscheidung über die Erhebung der Disziplinarklage befugt. Daraus folgt, dass vorliegend der örtliche Personalrat der Bundespolizeidirektion nach § 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG a.F. zur Mitwirkung berufen ist, denn für die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen örtlichem Personalrat und Gesamtpersonalrat spielt es keine Rolle, ob dem Dienststellenleiter seine Entscheidungsbefugnis in seiner Eigenschaft als Leiter der Hauptdienststelle oder als Leiter der Gesamtdienststelle zusteht. Entscheidend für die Zuständigkeit des örtlichen Personalrats ist, dass es nicht um eine Angelegenheit geht, die die Gesamtdienststelle oder deren Beschäftigte insgesamt tangiert, sondern um eine personelle Einzelmaßnahme, die nur den Beklagten und nicht auch weitere Beschäftigte bei verselbständigten Teildienststellen betrifft (vgl. Baden, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 82 Rn. 32). Auf die Frage, ob der Gesamtpersonalrat (fälschlich) von einer eigenen Zuständigkeit ausgegangen ist, kommt es nicht an, weil die Zuständigkeiten gesetzlich geregelt sind und es sich bei der Frage, welcher Personalrat zuständig ist, um eine Rechtsfrage handelt, die vom Senat zu beantworten und dem Beweis nicht zugänglich ist. Dem darauf bezogenen Beweisantrag des Beklagten brauchte der Senat deshalb nicht nachzugehen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>70 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="70"/>d) Die Unterrichtung des Personalrats gemäß § 68 Abs. 2 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Nr. 3 BPersVG a.F. (nur) durch Übersendung des Entwurfs der Disziplinarklage genügt entgegen der Auffassung des Beklagten den gesetzlichen Anforderungen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>71 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="71"/>Die Mitwirkung des Personalrats bei der Erhebung der Disziplinarklage bezieht sich allein auf die grundlegende Entscheidung, Disziplinarklage zu erheben, und nicht auf den im Falle der Klageerhebung vorgesehenen Klageantrag (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2005 - 2 C 12.04 -, BVerwGE 124, 252 <juris Rn. 14 ff.> und Beschluss vom 17.04.2020 - 2 B 3.20 -, PersV 2020, 387 <juris Rn. 9> [zu § 68 Abs. 2 Nr. 5 PersVG Meckl.-Vorp.]; Benecke, in: Richardi/Dörner/Weber, Personalvertretungsrecht, 5. Aufl. 2020, § 78 BPersVG, Rn. 23).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>72 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="72"/>Wirkt der Personalrat an einer Entscheidung mit, dann ist die beabsichtigte Maßnahme mit diesem nach § 72 Abs. 1 BPersVG a.F. vor der Durchführung mit dem Ziel einer Verständigung rechtzeitig und eingehend zu erörtern. Dies setzt in einem ersten Schritt die Unterrichtung des Personalrats voraus (vgl. Weber, in: Richardi/Dörner/Weber, Personalvertretungsrecht, 5. Aufl. 2020, § 72 BPersVG Rn. 10). Ausreichend ist insoweit, wenn der Dienstherr die aus seiner Sicht tragenden Gründe unterbreitet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.2004 - 2 B 54.04 -, Buchholz 232 § 31 BBG Nr. 62 <juris Rn. 5> [für die Entlassung eines Beamten auf Probe]; OVG NRW, Urteil vom 11.09.2019 - 3d A 2395/17.O -, juris Rn. 71 [zum nordrhein-westfälischen Disziplinarrecht]; OVG LSA, Beschluss vom 07.05.2020 - 1 M 51/20 -, Blutalkohol 57, 377 <juris Rn. 3> [für die Entlassung eines Beamten auf Widerruf]). Diesen Anforderungen ist die Klägerin vorliegend mit der Vorlage des Entwurfs der Disziplinarklage gerecht geworden. Dieser Entwurf enthält eine detaillierte Schilderung der Vorwürfe, des persönlichen und beruflichen Werdegangs des Beklagten und die wörtliche Wiedergabe der Feststellungen des landgerichtlichen Urteils zur Sache sowie eine Würdigung des Sachverhalts durch die Klägerin. Er genügt damit den in § 52 Abs. 1 Satz 2 BDG normierten Anforderungen an den Inhalt der Klageschrift. Damit waren für den Personalrat die für den Dienstherrn maßgeblichen Gründe erkennbar. In einem derartigen Fall obliegt es dem Personalrat, weitere Informationen zu fordern, wenn er diese für erforderlich hält (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.2004 - 2 B 54.04 -, a.a.O.). Hierzu wäre der Personalrat auch ohne Weiteres in der Lage gewesen. Insbesondere hat die Klägerin den Personalrat nicht irregeführt oder gar getäuscht, indem etwa Wesentliches im Entwurf der Disziplinarklage verschwiegen worden oder Unzutreffendes behauptet worden wäre. Zwar hat der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass der Ermittlungsbericht vom 24.05.2019 einige Aspekte tendenziell anders gewichtet als die Disziplinarklage. So spricht der Ermittlungsbericht von einem „engen zeitlichen Zusammenhang“, während die Disziplinarklage von einem „langen Zeitraum“ spricht. Diese unterschiedlichen Wertungen sind jedoch von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, dass sich die Zeitpunkte der einzelnen Tathandlungen aus den vollständig wiedergegebenen tatsächlichen Feststellungen des landgerichtlichen Urteils ergaben. Soweit der Ermittlungsbericht zu Gunsten des Beklagten etwa dessen kooperatives Verhalten nach den Taten würdigt, was sich so in der Disziplinarklage nicht widerspiegelt, ist ein Unterdrücken von Tatsachen oder eine grob entstellende Darstellung derselben ebenfalls nicht erkennbar, vielmehr war der Personalrat auf der Grundlage der mitgeteilten Informationen ohne Weiteres in der Lage, sich mit der Frage des „Ob“ der Erhebung einer Disziplinarklage zu befassen. Bei dem Umstand, dass der Beklagte sich bei seiner Anhörung am 18.07.2018 wie auch im weiteren Disziplinarverfahren kooperativ gezeigt und die Pflichtverletzungen, die Gegenstand des landgerichtlichen Urteils waren, eingeräumt hat, handelt es sich nicht um ein im Rahmen der Maßnahmebemessung ins Gewicht fallendes Verhalten (siehe unten 4. c), über welches der Personalrat zwingend hätte unterrichtet werden müssen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>73 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="73"/>Eine Irreführung oder Täuschung des Personalrats liegt auch nicht darin, dass in der Disziplinarklage – wie im Übrigen bereits im Ermittlungsbericht vom 24.05.2019 – auch die Sachverhalte 4. - 8. (unberechtigte POLAS-Abfragen) als erwiesen erachtet werden. Aus der Disziplinarklageschrift ergibt sich deutlich, dass insoweit keine bindenden strafgerichtlichen Feststellungen vorliegen. Es wird ausführlich dargelegt, weshalb diese Sachverhalte gleichwohl als erwiesen erachtet werden. Zum Sachverhalt 4 wird zudem ausdrücklich erwähnt, dass der Beklagte mit Schreiben vom 16.01.2019 vorgetragen habe, es sei nicht nachgewiesen, dass es keinen dienstlichen Grund für die Datenabfrage gegeben habe. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung wurde überdies zutreffend dargestellt, dass bezüglich dieser Sachverhalte keine Verletzung der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit im Raume steht. Damit war klar erkennbar, dass diese Vorwürfe lediglich von untergeordneter Bedeutung sind. Dementsprechend hat die Disziplinarkammer auch das Disziplinarverfahren nach § 56 Satz 1 BDG beschränkt und die Vorwürfe 4. - 8. der Disziplinarklage ausgeschieden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>74 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="74"/>Ein Unterrichtungsdefizit ist weiter nicht darin zu erblicken, dass in der Disziplinarklageschrift nur die tatsächlichen Feststellungen aus dem landgerichtlichen Urteil und nicht auch die Strafzumessungserwägungen und die Begründung der Strafaussetzung zur Bewährung wiedergegeben worden sind. Denn die tatsächlichen Feststellungen sind aufgrund der Bindungswirkung, die sie nach § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG entfalten, für das Disziplinarverfahren von besonderer Relevanz. Dem tatsächlich ausgeurteilten Strafmaß und den dafür maßgeblichen Erwägungen kommt demgegenüber bei der Bestimmung der konkreten Disziplinarmaßnahme keine „indizielle“ oder „präjudizielle“ Bedeutung zu, weil Straf- und Disziplinarverfahren unterschiedliche Zwecke verfolgen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.07.2016 - 2 B 24.16 -, NVwZ-RR 2016, 876; Beschluss vom 28.08.2018 - 2 B 5.18 -, juris Rn. 18; Urteil vom 24.10.2019 - 2 C 3.18 -, BVerwGE 166, 389 <juris Rn. 34>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>75 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="75"/>Dem Personalrat sind auch keine wesentlichen Informationen zur Tatmotivation und zum Persönlichkeitsbild des Beklagten vorenthalten worden. Aus der Darstellung der persönlichen und dienstlichen Verhältnisse in der Disziplinarklageschrift ging hervor, dass der Beklagte seit seiner Einstellung 1987 seinen Dienst unbeanstandet versehen hat, mehrfach Auslandseinsätze auch in gefährlichen Ländern wie Afghanistan (2009) absolviert hat und ihm wiederholt Leistungsprämien zuerkannt wurden. Dass der Beklagte aus falsch verstandener Freundschaft handelte und keine finanziellen Interessen verfolgte, wurde aus der Disziplinarklage ebenfalls hinreichend deutlich.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>76 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="76"/>Schließlich ist die Ansicht verfehlt, dem Personalrat müssten zur Wahrnehmung seiner Mitwirkungsbefugnis grundsätzlich die gesamten über den Beamten geführten Personal- und Disziplinarakten zur Verfügung gestellt werden. Dem steht bereits die Vorschrift des § 68 Abs. 2 Satz 3 BPersVG a.F. entgegen, nach der Personalakten nur mit Zustimmung des Beschäftigten – die mit dem Antrag auf Mitwirkung nicht unausgesprochen erteilt ist – und nur von den von ihm bestimmten Mitgliedern der Personalvertretung eingesehen werden dürfen. Diese Vorschrift gilt ungeachtet des Umstands, dass die Disziplinarakte regelmäßig formell gesondert geführt wird, auch für diese, weil die Disziplinarakte die Voraussetzungen des materiellen Personalaktenbegriffs erfüllt (vgl. Baden, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 78 Rn. 32a). Eine solche Zustimmung hat der Beklagte vorliegend nicht erteilt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>77 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="77"/>e) Nachdem die Klägerin ausdrücklich erklärt hat, sich auf eine etwaige Verfristung nicht zu berufen und die Stellungnahme vom 09.09.2019 nicht als verfristet anzusehen, kann offenbleiben, ob der örtliche Personalrat sich innerhalb der zehn Arbeitstage umfassenden Äußerungsfrist nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F. geäußert hat. Es bedarf daher keiner Beweiserhebung zu der Frage, ob das an den Gesamtpersonalrat gerichtete Schreiben vom 15.08.2019 auch der Dienststelle zur Kenntnis übermittelt wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>78 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="78"/>Mit der ordnungsgemäßen Unterrichtung des Personalrats durch Vorlage des Entwurfs der Disziplinarklage begann die zehn Arbeitstage umfassende Äußerungsfrist nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F., die – wenn man davon ausgeht, dass der örtliche Personalrat das Schreiben vom 05.08.2019 spätestens am 07.08.2019 erhalten hat – mit Ablauf des 21.08.2019 endete. Der Fristbeginn in § 72 Abs. 2 BPersVG a.F. setzt nicht auch eine (schriftliche oder mündliche) Erörterung voraus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.01.1995 - 6 P 22.92 -, BVerwGE 97, 349 <juris Rn. 16 ff.>; Berg, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 72 Rn. 10 m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>79 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="79"/>Wenngleich die Äußerungsfrist überwiegend als Ausschlussfrist angesehen wird, die auch durch Vereinbarung zwischen Dienststellenleiter und Personalrat nicht verlängert werden kann (vgl. Berg, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 72 Rn. 10 m.w.N.), ist vorliegend die Fiktionswirkung nach § 72 Abs. 2 Satz 1 BPersVG a.F. selbst dann nicht eingetreten, wenn man davon ausgeht, dass der örtliche Personalrat erst unter dem 09.09.2019 Stellung genommen hat, weil die Klägerin im damaligen Zeitraum in ständiger Praxis dieser Frist keine Beachtung geschenkt und auch verspätet eingegangene Erklärungen als fristgemäß behandelt hat. Damit hat sie den Personalrat von einer fristwahrenden Erklärung abgehalten mit der Folge, dass sie sich auf die Folgen einer nach dieser Praxis rechtzeitigen, in Wahrheit aber verspäteten Erklärung nach Treu und Glauben sowie nach dem das Personalvertretungsrecht beherrschenden Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht berufen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.12.1992 - 6 P 16.91 -, BVerwGE 91, 276 <juris Rn. 43> [zu § 69 Abs. 2 Satz 3 BPersVG a.F.]).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>80 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="80"/>f) Mit der abschließenden Stellungnahme des örtlichen Personalrats vom 09.09.2019 war das Mitwirkungsverfahren abgeschlossen und die Klägerin zur Erhebung der Disziplinarklage berechtigt. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Personalrat mit seiner Äußerung vom 09.09.2019 der Erhebung der Disziplinarklage konkludent zugestimmt und auf eine Erörterung verzichtet hat. Denn er hat in seiner Stellungnahme keine Bedenken gegen die Erhebung einer Disziplinarklage erhoben, sondern lediglich ausgeführt, es werde darum gebeten, von einer Disziplinarmaßnahme abzusehen, welche zu einer Entlassung des Beklagten führt. Darin liegt der Sache nach bei der gebotenen objektiven Auslegung nach dem Empfängerhorizont eine Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage, die nach § 34 Abs. 1 BDG auch für den Fall einer beabsichtigten Zurückstufung zu erheben ist, und zugleich ein konkludenter Verzicht auf eine Erörterung. Ein etwaiger Erörterungsbedarf wird in dem Schreiben, welches sich nach dem objektiven Empfängerhorizont als abschließende Stellungnahme darstellt, nicht aufgezeigt. Der örtliche Personalrat hatte sich zuvor bereits in seiner Sitzung vom 14.08.2019 abschließend mit der Angelegenheit befasst, ohne bei der Klägerin weitere Informationen anzufordern oder einen Erörterungsbedarf geltend zu machen. Dass im Vorlageschreiben vom 11.09.2019 seitens der zuständigen Mitarbeiterin der Klägerin davon ausgegangen wurde, die Personalvertretung stimme „der Erhebung der Disziplinarklage nicht zu“, ist insoweit unerheblich. Abgesehen davon, dass die Mitarbeiterin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erläutert hat, sie habe sich lediglich ungeschickt ausgedrückt, gemeint gewesen sei, dass der Personalrat nicht mit einer Entfernung des Beklagten aus dem Dienst einverstanden sei, handelt es sich bei der Frage, ob eine Zustimmung des Personalrats vorliegt, um eine vom Senat zu beantwortende Rechtsfrage.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>81 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="81"/>Ein starkes Indiz dafür, dass die Stellungnahme, die sich bei der gebotenen objektiven Auslegung nach dem Empfängerhorizont als konkludente Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage unter Verzicht auf eine Erörterung darstellt, auch aus Sicht des Personalrats in diesem Sinne verstanden werden sollte, ist der Umstand, dass dieser nach Übermittlung der Leitungsvorlage an ihn mit E-Mail vom 15.10.2019 nicht remonstrierte und keine Fortsetzung des Mitwirkungsverfahrens einforderte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>82 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="82"/>Auf die Stellungnahme des Gesamtpersonalrats vom 04.09.2019 kommt es insoweit nicht an, da dieser, wie oben unter c) ausgeführt wurde, nicht zur Mitwirkung berufen war. Dass er fälschlicherweise neben dem örtlichen Personalrat ebenfalls beteiligt wurde, führt nicht dazu, dass seine Stellungnahme beachtlich wäre. Abgesehen davon, dass auch die Stellungnahme vom 04.09.2019 nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen wäre und es nicht darauf ankommt, wie der Gesamtpersonalrat sie verstanden wissen wollte, war die diesbezüglich beantragte Beweiserhebung schon deshalb nicht veranlasst, weil diese Stellungnahme unbeachtlich war und von der Klägerin zu Recht nicht berücksichtigt wurde.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>83 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="83"/>Die mit dem Schreiben vom 09.09.2019 konkludent erteilte Zustimmung zur Erhebung der Disziplinarklage ist im Übrigen selbst dann wirksam, wenn man unterstellt, die Information des Personalrats sei defizitär gewesen. Denn der Personalrat kann auch dann, wenn das Mitwirkungsverfahren nicht ordnungsgemäß eingeleitet wird, der Maßnahme gleichwohl wirksam zustimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.04.1989 - 2 C 26.88 -, DVBl 1989, 1155 <juris Rn. 20> [für die Mitwirkung bei der Entlassung eines Beamten auf Probe]; SächsOVG, Urteil vom 03.06.2016 - 6 A 64/15.D -, juris Rn. 60 [für das sächsische Disziplinarrecht]). Eine Verletzung des der Sphäre der Personalvertretung zuzuordnenden weitergehenden Informationsanspruchs führt zudem – ebensowenig wie der Verzicht auf die im Mitwirkungsverfahren vorgeschriebene, vom Beklagten vermisste Erörterung mit dem Dienststellenleiter – nicht zur Rechtswidrigkeit der getroffenen Maßnahme (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.10.1989<br/>- 2 C 22.87 -, BVerwGE 82, 356 <juris Rn. 24> [zu § 78 Abs. 1 Nr. 4 BPersVG a.F.]; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.01.2021 - DL 16 S 1268/19 -, juris Rn. 96 [zum baden-württembergischen Disziplinarrecht]).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>84 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="84"/>2. In tatsächlicher Hinsicht legt der Senat seiner disziplinarrechtlichen Beurteilung die tatsächlichen Feststellungen in dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts xxxxxxxxx vom 19.12.2017 - 4 Ns 200 Js 7567/13 - zugrunde, die im Tatbestand vollständig wiedergegeben wurden und auf die an dieser Stelle verwiesen wird.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>85 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="85"/>Hinsichtlich dieser Feststellungen besteht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 57 Abs. 1 BDG Bindungswirkung. Der Bindung unterliegen die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts, die den objektiven und subjektiven Tatbestand der verletzten Strafnorm, die Rechtswidrigkeit der Tat, das Unrechtsbewusstsein (§ 17 StGB) sowie die Frage der Schuldfähigkeit gemäß § 20 StGB betreffen. Hierzu gehören nicht nur die äußeren Aspekte des Tathergangs, sondern auch die Elemente des inneren Tatbestands wie etwa Vorsatz oder Fahrlässigkeit sowie Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht (OVG NRW, Urteil vom 07.02.2018 - 3d A 2284/14.BDG -, juris Rn. 44 m.w.N.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>86 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="86"/>3. Der Beklagte hat, wie die Disziplinarkammer zutreffend angenommen hat, durch das vom Landgericht xxxxxxxxx festgestellte Verhalten ein – einheitliches – Dienstvergehen begangen. Er hat vorsätzlich seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit (§ 67 Abs. 1 Satz 1 BBG), zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb des Dienstes (§ 61 Abs. 1 Satz 3 BBG) sowie dazu, sich mit vollem persönlichem Einsatz seinem Beruf zu widmen und das übertragene Amt uneigennützig nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen (§ 61 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BBG), verstoßen. Durch die unbefugten Recherchen in den polizeilichen Datenbanken, die jeweils keinen dienstlichen Bezug hatten, hat er zudem gegen die Folgepflicht verstoßen (§ 62 Abs. 1 Satz 2 BBG). Denn derartige Recherchen waren dem Beklagten aufgrund der ihm bekannten dienstrechtlichen Vorschriften nur dann gestattet, wenn hierzu ein dienstlicher Anlass bestand. Die begangenen Straftaten stellen ein innerdienstliches Dienstvergehen dar, weil das Verhalten des Beklagten in sein Amt und die damit verbundene Tätigkeit eingebunden war.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>87 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="87"/>4. Der Senat teilt die von der Disziplinarkammer getroffene Einschätzung, dass aufgrund des festgestellten – schwerwiegenden – Dienstvergehens die Entfernung der Beklagten aus dem Dienst gemäß § 10 BDG in Verbindung mit § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG unumgänglich ist. Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>88 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="88"/>a) Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG nach der Schwere des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung. Aufgrund dieser Vorgaben ist über die erforderliche Disziplinarmaßnahme im Wege einer prognostischen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller im Einzelfall belastenden und entlastenden Gesichtspunkte zu entscheiden. Bei schweren Dienstvergehen stellt sich vorrangig die Frage, ob der Beamte nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist. Gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist ein aktiver Beamter aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, wenn er das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Dies ist anzunehmen, wenn aufgrund der prognostischen Gesamtwürdigung auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen belastenden und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Verhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wiedergutzumachen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden. Als maßgebendes Bemessungskriterium ist die Schwere des Dienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG richtungsweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Davon ausgehend kommt es darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall nach § 13 Abs. 1 Satz 3 und 4 BDG derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Disziplinarmaßnahme geboten ist (zum Ganzen: BVerwG, Urteile vom 02.12.2021 - 2 A 7.21 -, ZBR 2022, 197 <juris Rn. 47 f.>, vom 29.05.2008 - 2 C 59.07 -, juris Rn. 16, 18 und vom 03.05.2007 - 2 C 9.06 -, NVwZ-RR 2007, 695 <juris Rn. 16 ff.>; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2019 - DB 13 S 1750/18 -, n.v. UA S. 11 f.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>89 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="89"/>Für die Schwere des Dienstvergehens können bestimmend sein die objektive Handlung (insbesondere Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung sowie besondere Umstände der Tatbegehung, wie etwa Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens), subjektive Handlungsmerkmale (insbesondere Form und Gewicht der Schuld des Beamten, Beweggründe für sein Verhalten) sowie unmittelbare Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und Dritte, z.B. der materielle Schaden (vgl. BVerwG, Urteile vom 20.10.2005 - 2 C 12.04 -, BVerwGE 124, 252 <juris Rn. 25> und vom 29.05.2008 - 2 C 59.07 -, juris Rn. 13). Die gegen einen Beamten ausgesprochene Disziplinarmaßnahme muss unter Berücksichtigung aller belastenden und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur Schwere des Dienstvergehens und zum Verschulden des Beamten stehen (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2004 - 2 BvR 52/02 -, BVerfGK 4, 243 <juris Rn. 44 f.>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>90 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="90"/>b) Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, ist hier die angemessene Disziplinarmaßnahme, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis. Sein Fehlverhalten wiegt in seiner Gesamtheit so schwer, dass er das Vertrauen der Dienstherrin und der Allgemeinheit endgültig verloren hat (§ 10 BDG i.V.m. § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>91 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="91"/>Setzt sich das Dienstvergehen aus mehreren Dienstpflichtverletzungen zusammen, so bestimmt sich die zu verhängende Disziplinarmaßnahme in erster Linie nach der schwersten Verfehlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.02.2005<br/>- 1 D 1.04 -, NVwZ-RR 2006, 47 <juris Rn. 113>; OVG NRW, Urteil vom 11.12.2019 - 3d A 3607/18.BDG -, juris Rn. 83; BayVGH, Urteil vom 22.11.2017 - 16b D 15.1182 -, juris Rn. 34). Dies ist vorliegend die Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b Abs. 1 StGB), die nach den Umständen des Einzelfalls einen besonders schweren Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit darstellt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>92 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="92"/>Zur Bestimmung des Ausmaßes des Vertrauensschadens ist auch bei innerdienstlich begangenen Dienstvergehen auf den gesetzlichen Strafrahmen zurückzugreifen. Auch bei diesen Dienstvergehen gewährleistet die Orientierung des Umfangs des Vertrauensverlustes am gesetzlichen Strafrahmen eine nachvollziehbare und gleichmäßige disziplinarische Ahndung der Dienstvergehen. Begeht ein Beamter innerdienstlich unter Ausnutzung seiner Dienststellung eine Straftat, für die das Strafgesetz als Strafrahmen eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht, reicht der Orientierungsrahmen für die mögliche Disziplinarmaßnahme bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.2015 - 2 C 6.14 -, BVerwGE 154, 10 <juris Rn. 19 f.>). Dieser Rahmen ist hier eröffnet, da § 353b Abs. 1 Satz 1 StGB für die Verletzung des Dienstgeheimnisses eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren vorsieht. Dem tatsächlich ausgeurteilten Strafmaß kommt demgegenüber bei der Bestimmung der konkreten Disziplinarmaßnahme keine „indizielle“ oder „präjudizielle“ Bedeutung zu, weil Straf- und Disziplinarverfahren unterschiedliche Zwecke verfolgen (BVerwG, Beschluss vom 05.07.2016 - 2 B 24.16 -, NVwZ-RR 2016, 876; Beschluss vom 28.08.2018 - 2 B 5.18 -, juris Rn. 18; Urteil vom 24.10.2019 - 2 C 3.18 -, BVerwGE 166, 389 <juris Rn. 34>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>93 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="93"/>Die Ausschöpfung des maßgeblich in Anlehnung an die abstrakte Strafandrohung gebildeten Orientierungsrahmens kommt jedoch nur in Betracht, wenn dies auch dem Schweregehalt des vom Beamten konkret begangenen Dienstvergehens entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.06.2015 - 2 C 9.14 -, BVerwGE 152, 228 <juris Rn. 36>). Auch dies ist hier der Fall.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>94 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="94"/>Die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit nach § 67 Abs. 1 BBG gehört zu den Hauptpflichten des Beamten (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.12.2005 - 2 A 4.04 -, NVwZ-RR 2006, 485 <juris Rn. 66>; Urteil vom 19.05.1998 - 1 D 37.97 -, juris Rn. 15 [jeweils zum insoweit identischen § 61 BBG 1999]; Leppek, in: BeckOK Beamtenrecht Bund, § 67 BBG [20. Edition 1. April 2020], Rn. 1). Bei Beamten, zu deren funktionalen Aufgaben gerade die Wahrung bestimmter Geheimnisse gehört, zählt sie darüber hinaus zu den Kernpflichten (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, juris Rn. 33 m.w.N.). Die Verletzung des Amtsgeheimnisses ist ein erheblicher Treuepflichtverstoß, der geeignet sein kann, die Vertrauenswürdigkeit des Beamten in Frage zu stellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 1 D 4.07 -, Buchholz 235 § 77 BDO Nr. 13 <juris Rn. 22>; Urteil vom 19.05.1998 - 1 D 37.97 -, juris Rn. 16). Wegen der großen Spannbreite der Verhaltensweisen hinsichtlich einer derartigen Pflichtverletzung lassen sich allerdings feste Regeln für eine Disziplinarmaßnahme nicht aufstellen. Je nach der Bedeutung der vertraulich zu behandelnden amtlichen Vorgänge und dem Grad des Verschuldens kann ein Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht unterschiedliches disziplinarisches Gewicht haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.02.2008 - 1 D 4.07 -, a.a.O., <juris Rn. 22>; Urteil vom 28.10.1998 - 1 D 28.97 -, juris Rn. 17; Urteil vom 19.05.1998 - 1 D 37.97 -, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, a.a.O.). Die Schwere eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit – wie sie hier im Mittelpunkt steht – richtet sich, was die objektive Handlung anbelangt, zum einen nach dem Grad der jeweils bestehenden Geheimhaltungsbedürftigkeit. Dieser wird seinerseits durch die möglichen Folgen einer unbefugten Offenbarung beeinflusst, welche die Bedeutung der Geheimhaltung widerspiegeln. Die Bewertung der Pflichtverletzung wird zum anderen durch die dienstliche Stellung und den funktionalen Aufgabenbereich des Beamten beeinflusst. Ein Beamter, zu dessen funktionalen Aufgaben die Wahrung bestimmter Geheimnisse gehört, verstößt gegen den Kernbereich seiner Dienstpflichten, wenn er der Geheimhaltungspflicht nicht nachkommt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, juris Rn. 33 m.w.N.). Dies gilt insbesondere für einen Polizeibeamten wie den Beklagten, zu dessen Aufgaben in besonderem Maße die Verhütung, Unterbindung, Bekämpfung und Verfolgung strafbarer Handlungen gehört (vgl. BayVGH, Urteil vom 24.11.2004 - 16a D 03.2668 -, juris Rn. 53 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.09.2017 - DB 13 S 1074/16 -, n.v.).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>95 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="95"/>In Anwendung dieser Grundsätze hat die Rechtsprechung der Disziplinargerichte allein wegen pflichtwidriger Weitergabe interner Informationen durch Polizeibeamte, insbesondere über laufende Ermittlungsmaßnahmen, namentlich nach vorheriger Abfrage polizeilicher Informationssysteme, noch nicht auf die Höchstmaßnahme erkannt, diese jedoch dann regelmäßig ausgesprochen, wenn weitere erhebliche Pflichtverstöße, insbesondere Straftaten im Amt (insbesondere Bestechlichkeit) oder sonstige erschwerende Umstände hinzutraten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.03.2008 - DL 16 S 5/07 -, juris Rn. 34; s.a. SaarlOVG, Urteil vom 22.02.2018 - 6 A 375/17 -, juris; OVG NRW, Urteil vom 11.09.2019 - 3d A 2395/17.O -, juris). Dies darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass es neben der Weitergabe interner Informationen stets eines weiteren Pflichtenverstoßes bedürfte, um die Höchstmaßnahme zu rechtfertigen. Auch ohne zusätzlichen Pflichtverstoß des Beamten kann die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis die angemessene Sanktion auf die Weitergabe polizeiinterner Informationen sein. Insoweit ist insbesondere von Bedeutung, ob es sich um besonders schützenswerte Informationen handelt, ob durch die Offenbarung eine besondere Beeinträchtigung des öffentlichen Ansehens der Polizei eingetreten ist, ob Ermittlungen gefährdet wurden oder werden konnten oder ob es zu einer Gefährdung für Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit gekommen ist. Auch das Verhalten des Beamten selbst ist insoweit von Bedeutung, etwa die Motivation, die Anzahl der Verstöße und das Maß der Pflichtwidrigkeit. Erforderlich ist eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>96 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="96"/>Insoweit ist vorliegend Folgendes zu berücksichtigen:</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>97 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="97"/>Hinsichtlich der Mitteilung an xxxx xxxxxxx, dass gegen xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx ein Ermittlungsverfahren geführt wird und dass insoweit ein Rechtshilfevorgang nach Frankreich gerichtet worden war (und welche Erkenntnisse insoweit erlangt wurden), ist zu berücksichtigen, dass diese geeignet war, die gegen xxxxxx und xxxxxxxx gerichteten Ermittlungen zu gefährden. Es handelte sich insoweit um umfangreiche Ermittlungen gegen führende Mitglieder der Rockergruppierung „Hells Angels xxxxx xxxxxx“; Gegenstand des Ermittlungsverfahrens war unter anderem der Vorwurf der Geldwäsche, der von erheblichem Gewicht ist. Der Beklagte wusste, dass es sich bei xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx um führende Mitglieder dieser Rockergruppierung handelt und dass sein Freund xxxx xxxxxxx in einer von xxxx xxxxxxxx betriebenen Kfz-Werkstatt arbeitete. Gleichwohl stellte er nicht sicher, dass xxxx xxxxxxxx die durch Abfragen von seinem Dienstrechner erlangten Erkenntnisse, bei denen es sich um besonders schützenswerte Informationen handelte, nicht an xxxxx xxxxx xxxxxx und xxxxx xxxxxxxx weitergab. Als erfahrenem Polizeibeamten musste sich ihm aufdrängen, dass xxxx xxxxxxx die erbetenen Informationen an die beiden Hells Angels-Mitglieder weiterleiten würde. Ebenso musste sich ihm aufgrund der ihm seitens seines Freundes geschilderten Umstände aufdrängen, dass verdeckte Ermittlungen gegen die beiden Hells Angels-Mitglieder liefen. Gleichwohl gab er die Informationen auf das laufende Ermittlungsverfahren preis und nahm dabei mindestens billigend in Kauf, dass dadurch der Erfolg der Ermittlungen gefährdet würde. Er hat damit gewissermaßen „die Seiten gewechselt“ und ein unwürdiges Verhalten gezeigt, welches in besonderem Maße geeignet ist, das Ansehen und Vertrauen in die Polizei zu beeinträchtigen (vgl. BayVGH, Urteil vom 24.11.2004 - 16a D 03.2668 -, juris Rn. 51). Der Einwand des Beklagten, den Betroffenen sei die Observation bereits bekannt gewesen und er habe dies aufgrund seiner Recherche lediglich bestätigt, verfängt nicht. Nach den bindenden Feststellungen des landgerichtlichen Urteils hegte xxxx xxxxxxx lediglich die Vermutung, dass es sich um eine polizeiliche Observation handeln könnte. Zudem beschränkten sich die mitgeteilten Informationen nicht auf die Tatsache der Observation, vielmehr unterrichtete der Beklagte seinen Jugendfreund darüber, dass die Kriminalpolizei xxxxxxxxx wegen Betrugs gegen die beiden Hells Angels-Mitglieder ermittle, und über die aus einem nach Frankreich gerichteten Rechtshilfeersuchen gewonnenen Erkenntnisse. Zwar ließ sich nicht sicher feststellen, ob die Preisgabe des Dienstgeheimnisses die Ermittlungen tatsächlich beeinträchtigte, doch wird dadurch das Gewicht des Verstoßes nicht erheblich gemindert. Denn der Persönlichkeitsmangel des Beklagten zeigt sich bereits in der Tathandlung und weniger im Eintritt ihres Erfolgs. Auch das Ansehen der Bundespolizei ist insoweit erheblich beeinträchtigt worden. Zum einen liegt auf der Hand, dass der Verrat von Polizeiinterna an „Rockerkreise“ geeignet ist, das Vertrauen der Bevölkerung in die (Bundes-) Polizei erheblich zu schmälern. Zum anderen handelt es sich beim GZ um eine behördenübergreifende internationale Dienststelle, so dass durch das Verhalten des Beklagten der Dienstherr auch gegenüber den anderen Behörden und gegenüber ausländischen Behörden „bloßgestellt“ worden ist. Gerade im Hinblick auf die Bedeutung einer internationalen und behördenübergreifenden Kriminalitätsbekämpfung wiegt dies schwer.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>98 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="98"/>Hinsichtlich der Verletzung der Verschwiegenheitspflicht zu Lasten des xxxx xxxxx ist zu beachten, dass sich die Mitteilung des Beklagten nicht auf die Bestätigung des von xxxx xxxxxxx gehegten Verdachts, dass es sich bei dem von xxxx xxxx verwendete Dokument um die Kopie eines gefälschten Ausweises handelt, und auf die bloße Nennung des richtigen Namens beschränkt hat. Der Beklagte hat vielmehr xxxx xxxxxxx auch ein Foto des xxxx xxxx sowie dessen Einwohnermeldedaten und den Hinweis, dass dieser wegen Betrugs vorbestraft ist, übermittelt. Dies stellt nicht nur einen gravierenden Eingriff in dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, sondern war auch geeignet, eine potentielle Gefahr für dessen Rechtsgüter zu schaffen. Angesichts der Gesamtumstände war es nicht fernliegend, dass die getäuschte Bekannte des xxxx xxxxxxx den xxxx xxxx hätte konfrontieren können. Auch ist zu sehen, dass sich die Aufforderung des xxxx xxxxxxx primär darauf bezog, zu prüfen, ob es sich um einen gefälschten Ausweis handelt.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>99 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="99"/>Hinsichtlich der Verletzung der Verschwiegenheitspflicht zu Lasten des xxxxx-xx xxxxxxx ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte xxxx xxxxxxx neben der Adresse auch ein Foto sowie die Information, dass dieser wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung in POLAS einlag, zur Verfügung gestellt hat. Die Weitergabe dieser Informationen hatte ferner eine erhebliche Außenwirkung, da der Rechtsanwalt des xxxx xxxxxxx diese dazu nutzte, ein Forderungsschreiben an xxxxxxx xxxxxxx zu richten. Gerade die Nutzung polizeilicher Informationssysteme zur Durchsetzung privater Interessen ist geeignet, einen erheblichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zu bewirken.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>100 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="100"/>In allen drei Fällen des Verstoßes gegen die Verschwiegenheitspflicht ist festzuhalten, dass zugleich ein Verstoß gegen strafrechtliche Bestimmungen gegeben war. Der Beklagte hat auch nicht „nur“ gegenüber engsten Familienangehörigen etwas „ausgeplaudert“, sondern gewissermaßen auf Zuruf seines Freundes xxxx xxxxxxx das interne Informationssystem „angezapft“ und hierbei keinerlei Vorkehrungen getroffen, um eine unkontrollierte Weiterverbreitung der Informationen zu verhindern. Der Beklagte hat dabei nicht aus einer besonderen Drucksituation heraus gehandelt. Zwar erfolgten die Verstöße alle innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem Jahr. Gleichwohl kann von einem „Einzelfall“ keine Rede sein. Dass der Beklagte lediglich einen „Freundschaftsdienst“ leisten wollte und keine finanziellen Interessen verfolgt hat, vermag diesen nicht zu entlasten. Hätte der Beklagte die Informationen „verkauft“, läge hierin ein weiteres – überdies nach § 332 Abs. 1 Satz 1 StGB strafrechtlich relevantes (vgl. BGH, Urteil vom 22.06.2000 - 5 StR 268/99 -, NStZ 2000, 596 <juris Rn. 21 ff.>) – pflichtwidriges Verhalten. Auch soweit der Beklagte im Hinblick auf die Informationsweitergabe zu xxxx xxxx geltend macht, er habe geglaubt, einen Betrug verhindern zu können, ist dies nicht geeignet, sein Verhalten insoweit in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. Der Beklagte hat nach eigenen Angaben erkannt, dass es sich bei der ihm von xxxx xxxxxxx übermittelten Ausweiskopie um eine Fälschung handelte. Um einen – eventuellen – Betrug zu verhindern, hätte es daher ausgereicht, diese Erkenntnis xxxx xxxxxxx mitzuteilen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>101 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="101"/>c) Von einem schweren Dienstvergehen geht grundsätzlich eine – widerlegliche – Indizwirkung für einen endgültigen Vertrauensverlust im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2005 - 2 C 12.04 -, BVerwGE 124, 252). Die von der Schwere des Dienstvergehens ausgehende Indizwirkung entfällt danach, wenn gewichtige und im Einzelfall durchgreifende Entlastungsgründe festgestellt werden, welche die Gesamtwürdigung rechtfertigen, der Beamte habe das Vertrauensverhältnis noch nicht endgültig zerstört. Dies ist der Fall, wenn auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden kann, der Beamte werde künftig nicht in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen und die durch sein Verhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei auch bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses wiedergutzumachen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.01.2021 - DL 16 S 1268/19 -, juris Rn. 125).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>102 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="102"/>Diese für den Ausschluss der Indizwirkung maßgeblichen Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Senat kann – ebenso wie das Verwaltungsgericht – unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 20.12.2013 - 2 B 35.13 -, NVwZ-RR 2014, 314 und Urteil vom 23.02.2012 - 2 C 38.10 -, NVwZ-RR 2012, 479) nicht erkennen, dass der durch die Begehung des schwerwiegenden Dienstvergehens eingetretene Vertrauensverlust durch durchgreifende Entlastungsgründe entfallen ist und der Beklagte gegenüber der Klägerin noch ein Restvertrauen für sich in Anspruch nehmen könnte.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>103 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="103"/>Zu den klassischen Milderungsgründen zählen besondere Konfliktsituationen (Handeln in einer wirtschaftlichen Notlage, in einer psychischen Ausnahmesituation oder in einer besonderen Versuchungssituation) oder Verhaltensweisen mit noch günstiger Persönlichkeitsentwicklung (freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder Offenbarung des Fehlverhaltens vor Tatentdeckung, Zugriff auf geringwertige Gelder oder Güter). Keiner dieser Gründe ist hier einschlägig. Insbesondere lag keine besondere „Versuchungssituation“ vor, mag die unbefugte Abfrage der Informationen aus den polizeilichen Datenbanken durch den Beklagten mangels stringenter Kontrollen auch leicht möglich gewesen sein.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>104 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="104"/>Auch aufgrund des Persönlichkeitsbildes des Beklagten ergeben sich keine Entlastungsgründe von solchem Gewicht, dass der Schluss gerechtfertigt wäre, das Vertrauensverhältnis sei noch nicht vollends zerstört.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>105 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="105"/>Die ansonsten pflichtgemäße Dienstausübung ist selbst bei überdurchschnittlichen Leistungen, wie sie der Beklagte über lange Jahre gezeigt hat, für sich genommen regelmäßig nicht geeignet, gravierende Pflichtenverstöße in einem milderen Licht erscheinen zu lassen (BVerwG, Beschluss vom 17.07.2013<br/>- 2 B 27.12 -, juris m.w.N.). Insoweit brauchte der Senat dem in der Berufungsverhandlung gestellten Beweisantrag zu dessen dienstlichem Verhalten nicht nachzugehen, da sich die unter Beweis gestellten Tatsachen aus den Akten ergeben und auch von der Klägerin nicht in Abrede gestellt werden (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 StPO analog).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>106 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="106"/>Dem Umstand, dass der Beklagte weder straf- noch disziplinarrechtlich vorbelastet ist, ist ebenfalls keine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. Eine straffreie außerdienstliche Lebensführung und ordnungsgemäße Erfüllung der Dienstpflichten darf ein Dienstherr von jedem Beamten erwarten (st. Rspr., vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 28.01.2013 - 2 C 3.12 -, BVerwGE 146, 98 <juris Rn. 43> und Urteil vom 16.06.2020 - 2 C 12.19 -, BVerwGE 168, 254 <juris Rn. 41>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>107 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="107"/>Auch sieht der Senat, dass der Beklagte unmittelbar nach Eröffnung des Tatverdachts im Zusammenhang mit der am 21.02.2014 durchgeführten Hausdurchsuchung den Kontakt zu xxxx xxxxxxx abgebrochen hat und im Disziplinarverfahren nach Aufdeckung der Taten und rechtskräftiger Verurteilung durch das Landgericht xxxxxxxxx Reue gezeigt, in jeder Hinsicht kooperiert und die Vorwürfe im Rahmen seiner Anhörung am 18.07.2018 eingeräumt hat. Dies vermag an dem eingetretenen, grundlegenden Vertrauensverlust jedoch ebenfalls nichts zu ändern, zumal die Vorwürfe erst nach der strafgerichtlichen Ahndung vollumfänglich eingeräumt wurden. Im Rahmen der Anhörung zur vorläufigen Dienstenthebung hatte der Beklagte mit Schreiben vom 05.02.2015 zunächst lediglich einen Fall des Geheimnisverrats eingestanden, den Zeugen xxxxxxx als unglaubwürdig bezeichnet und betont, er sei kein „Informant von Rockerkreisen“. Selbstverständlich war er nicht verpflichtet, sich selbst weiter zu belasten. Von einer bereitwilligen Mitwirkung an der Aufklärung und einer umfassenden Kooperation kann vor diesem Hintergrund jedoch nicht ausgegangen werden.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>108 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="108"/>Damit fehlt es an durchgreifenden positiven Aspekten, die einzeln oder in einer Gesamtschau ein Absehen von der Höchstmaßnahme rechtfertigen könnten. Vielmehr hat der Beklagte mit seinem Verhalten eine Persönlichkeitsstruktur offenbart, die sich vom dienstlichen Pflichtenkreis und dem besonderen Vertrauensverhältnis zur Dienstherrin so weit entfernt hat, dass er für seine Dienstherrin nicht mehr tragbar ist und deshalb aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden muss.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>109 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="109"/>Dies gilt selbst dann, wenn man zugunsten des Beklagten davon ausgeht, dass keine Wiederholungsgefahr besteht. Denn das Beamtenverhältnis ist nicht nur dann disziplinarrechtlich zu beenden, wenn von dem Beamten auch zukünftig die Gefahr eines Verstoßes gegen Dienstpflichten in erheblicher Weise besteht, sondern auch, wenn – wie hier – bereits die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wieder gutzumachen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 29.05.2008 - 2 C 59.07 -, juris Rn. 18, und vom 03.05.2007 - 2 C 9.06 -, NVwZ-RR 2007, 695 <juris Rn. 18>; OVG NRW, Urteil vom 29.09.2021 - 3d A 148/20.O -, juris Rn. 148).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>110 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="110"/>Die Entfernung des Beklagten aus dem Dienst ist unter Abwägung des Gewichts des Dienstvergehens sowie des dadurch eingetretenen Vertrauensschadens und der mit der Verhängung der Höchstmaßnahme einhergehenden Belastung auch nicht unverhältnismäßig. Die Entfernung eines Beamten aus dem Dienst als disziplinare Höchstmaßnahme verfolgt neben der Wahrung des Vertrauens in die pflichtgemäße Aufgabenerfüllung durch die öffentliche Verwaltung den Zweck der Generalprävention, der Gleichbehandlung und der Wahrung des Ansehens des öffentlichen Dienstes. Ist durch das Gewicht des Dienstvergehens und mangels durchgreifender Milderungsgründe das Vertrauen endgültig zerstört, ist die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis die angemessene Reaktion auf das Dienstvergehen. Die Auflösung des Dienstverhältnisses beruht dann auf der schuldhaften, schwerwiegenden Pflichtverletzung durch den Beamten und ist diesem als für alle öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnisse vorhersehbare Rechtsfolge bei derartigen Pflichtverletzungen zuzurechnen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.10.2003 - 1 D 2.03 -, ZBR 2004, 256 <juris Rn. 49>).</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>111 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="111"/>Schließlich steht der lange zurückliegende Tatzeitraum der Entfernung aus dem Dienst nicht entgegen. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis wird vom Maßnahmeverbot wegen Zeitablaufs nach § 15 BDG nicht erfasst.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>112 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="112"/>III. Der Senat sieht keinen Grund, die Gewährung des Unterhaltsbeitrags nach § 10 Abs. 3 Satz 2 BDG auszuschließen.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>113 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="113"/>IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 77 Abs. 1 BDG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.</td></tr></table></td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>114 </td></tr></table></td><td><table><tr><td><rd nr="114"/>Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 69 BDG i.V.m. § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.</td></tr></table><table><tr><td/></tr></table></td></tr></table> |
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<p>Die Berufung wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist nach ihren Angaben am 1. Oktober 1983 in I. , Syrien, geboren, islamischen Glaubens und syrische Staatsangehörige. Sie reiste am 3. Februar 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 25. Mai 2020 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Ausweislich einer vom Bundesamt eingeholten EURODAC-Anfrage hatte die Klägerin in Dänemark am 25. Dezember 2013 einen Asylantrag gestellt.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der Anhörungen beim Bundesamt am 24. Juni 2020 gab die Klägerin an, sie wolle bei ihrem Ehemann in Deutschland leben. Diesen habe sie im Jahr 2017 in Dänemark kennengelernt und nach zehn Tagen geheiratet. Er sei schwerbehindert und benötige ihre Unterstützung.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Auf ein Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts vom 4. Mai 2020 teilten die dänischen Behörden mit Schreiben vom 8. Mai 2020 mit, der Klägerin sei in Dänemark am 19. März 2014 der „subsidiary protection status“ nach Section 7 (2) des dänischen Ausländergesetzes gewährt worden (gültig bis 20. März 2021).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 20. August 2020 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.) und forderte die Klägerin zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung auf. Der Klägerin wurde für den Fall, dass sie der Ausreisefrist nicht nachkomme, die Abschiebung nach Dänemark oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Aufnahme verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 3. Sätze 1 bis 3). Die Klägerin dürfe nicht nach Syrien abgeschoben werden (Ziffer 3. Satz 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG werde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung setzte das Bundesamt aus (Ziffer 5.).</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Am 8. September 2020 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen: Dänemark nehme am gemeinsamen europäischen Asylsystem nicht teil. Die Erwägungen aus dem Urteil des EuGH vom 20. Mai 2021 - C-8/20 - zu einem Zweitantrag seien auf Fälle der Gewährung internationalen Schutzes durch Dänemark zu übertragen. Dänemark beteilige sich nach den Art. 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 nicht an den Richtlinien 2013/33/EU, 2013/32/EU und 2011/95/EU. Die Definition des Begriffs „internationaler Schutz" sei aber gerade der Richtlinie 2011/95/EU zu entnehmen. Da sie - die Klägerin - in Dänemark keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, könne ihr dort auch kein internationaler Schutz gewährt worden sein. Ob Dänemark über ein eventuell vergleichbares Schutzniveau verfüge, sei nach der Entscheidung des EuGH unbeachtlich. Widersprüchlich sei es, die Wertungen für § 71a AsylG und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unterschiedlich zu handhaben. Zudem werde bestritten, dass ihr Schutzstatus in Dänemark fortbestehe; insoweit werde auf die Widerrufspraxis Dänemarks verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. August 2020 aufzuheben,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">hilfsweise die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des vorgenannten Bescheids zu verpflichten, festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 6. Januar 2022 den Bescheid vom 20. August 2020 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Klägerin sei nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union der internationale Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt worden. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sei der „internationale Schutz" derjenige nach der Richtlinie 2011/95/EU. Der nach Maßgabe der Richtlinie 2004/83/EG gewährte internationale Schutz stehe dem internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU gleich. Der Klägerin sei gemäß Art. 7 Abs. 2 des dänischen Ausländergesetzes (Aliens Act) ein anderer Schutz zuerkannt worden, genannt „subsidiary protection". Dass dieser Schutzstatus dem subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/83/EG entspreche, könne nicht ohne nähere Prüfung festgestellt werden. Denn Dänemark sei an keine der beiden Richtlinien gebunden. Ob Art. 7 Abs. 2 des dänischen Ausländergesetzes ein Schutzniveau vorsehe, das demjenigen des subsidiären Schutzes im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU oder der Richtlinie 2004/83/EG entspreche und ein gleichwertiges Schutzniveau vorgesehen habe, bedürfe keiner Aufklärung. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 - wäre die Rechtssicherheit beeinträchtigt, wenn geprüft würde, ob eine Gleichwertigkeit des Schutzniveaus der Richtlinien mit dem Schutzniveau anderer nationaler Regelungen bestehe. Diese Feststellung, die der EuGH in einem Verfahren getroffen habe, in dem er die Vergleichbarkeit verschiedener nationaler Regelungen im Rahmen der Prüfung eines Folgeantrags (vgl. Art. 33 Abs. 2 lit. d) Richtlinie 2013/32/EU) zu überprüfen gehabt habe, könne auf die vorliegende Konstellation übertragen werden.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung führt die Beklagte im Wesentlichen aus: Art. 33 der Richtlinie 2013/32/EU sei im vorliegenden Fall anwendbar. Voraussetzung sei allein, dass es sich um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handele. Anders als im Bereich der Dublin III-VO, die als Adressatenkreis auch diejenigen Staaten umfasse, die die Dublin III-VO aufgrund völkerrechtlicher Verträge anwendeten, beziehe sich die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ihrem Wortlaut entsprechend allein auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das folge daraus, dass § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gerade keinen Bezug zu den sekundärrechtlichen Rechtsakten der Europäischen Union herstelle. Nur in deren Rahmen lasse sich diskutieren, ob auch die sonstigen Staaten, die an das entsprechende Sekundärrecht gebunden seien, von der Norm betroffen seien. Hinsichtlich des Flüchtlingsbegriffs werde in Dänemark unterschieden zwischen dem Status nach § 7 Abs. 1 und dem des § 7 Abs. 2 des Ausländergesetzes (de-facto-Flüchtling). Als de-facto-Flüchtling im Sinne des § 7 Abs. 2 würden diejenigen Flüchtlinge anerkannt, die nicht eindeutig in den Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention fielen, bei denen aber ähnliche Gründe vorlägen, die eine Schutzgewährung in Dänemark geböten oder denen aus anderen Gründen eine Rückkehr in ihre Heimat nicht zugemutet werden könne. In der Praxis erhielten einen de-facto-Flüchtlingsstatus Personen, die aus anderen als den in der Genfer Konvention genannten Gründen Verfolgung zu befürchten oder die nach dänischen Standards exzessive Bestrafung in ihren Heimatländern zu erwarten hätten. Als de-facto-Flüchtlinge würden ferner solche Personen angesehen, bei denen die Behörden Zweifel hätten, ob sie die Voraussetzungen der GFK in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht erfüllten. Typische Fälle seien z. B. die Bestrafung wegen Republikflucht, Kriegsdienstverweigerung, Homosexualität etc. Ferner würden von § 7 Abs. 2 des dänischen Ausländergesetzes auch Personen erfasst, deren Verfolgung nicht von staatlicher Seite, sondern von anderen Gruppen drohe. Die Verfolgung müsse sich individuell gerade gegen den Antragsteller richten. Allgemeine Bürgerkriegsgefahren und innere Unruhen würden nicht als hinreichend angesehen. Die Erlöschens- und Widerrufsgründe nach den §§ 17 und 17a des dänischen Ausländergesetzes entsprächen inhaltlich denen des Art. 16 der Richtlinie 2011/95/EU. Die vom EuGH mit Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 - entwickelten Rechtsgrundsätze seien auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der EuGH habe primär darauf abgestellt, dass der betroffene Drittstaat - Norwegen - nicht Teil der EU sei und lediglich festgestellt, dass die unionsrechtlich eröffneten Möglichkeiten zur Asylantragsablehnung als unzulässig in der Richtlinie 2013/32/EU abschließend vorgegeben seien. Eine Ablehnung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2013/32/EU könne allein bei einem in einem Mitgliedstaat zuvor erfolglos gebliebenen Asylantrag eingreifen, nicht aber in Bezug auf einen Nichtmitgliedstaat - beispielsweise die Schweiz oder Norwegen -, selbst wenn dieser Vertragsstaat des Dublin-Verfahrens sei. Es handele sich vorliegend nicht um eine vorangegangene Ablehnung internationalen Schutzes in einem Drittstaat, sondern um die Zuerkennung subsidiären Schutzes in einem Mitgliedstaat.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">das Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 6. Januar 2022 zu ändern und die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">A. Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">B. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid des Bundesamts vom 20. August 2020 ist - soweit er streitbefangen ist - rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 67 f.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">I. Als Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids kommt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Dessen Voraussetzungen liegen nicht vor. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 gewährt hat. Der internationale Schutz wird durch § 1 Abs. 1 Nr. 2 1. Halbsatz AsylG definiert als der internationale Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9). Der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU umfasst nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 2. Halbsatz AsylG den Schutz vor Verfolgung nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) und den subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG setzt Art. 33 Abs. 2 lit. a) RL 2013/32/EU in nationales Recht um. Die Mitgliedstaaten können demnach einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. „Internationaler Schutz“ ist nach Art. 2 lit. i) der Richtlinie 2013/32/EU die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus im Sinne der Buchstaben j) und k).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Flüchtlingseigenschaft ist in lit. j) definiert als die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat. „Flüchtling“ meint nach Art. 2 lit. g) RL 2013/32/EU einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der die Voraussetzungen des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU erfüllt, der wiederum Art. 1 A Nr. 2 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge wiedergibt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Als „subsidiärer Schutzstatus“ definiert Art. 2 lit. k) RL 2013/32/EU die Anerkennung durch einen Mitgliedstaat eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz, die wiederum nach Art. 2 lit. h) der Richtlinie 2013/32/EU ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ist, der die Voraussetzungen des Artikels 2 Buchstabe f der Richtlinie 2011/95/EU erfüllt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die Gewährung des „subsidiary protection status“ nach Section 7 (2) des dänischen Ausländergesetzes stellt keinen „internationalen Schutz“ im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bzw. Art. 33 Abs. 2 lit. a) i. V. m. Art. 2 lit. i) der Richtlinie 2013/32/EU dar.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Nach Art. 1 Unterabs. 1 Satz 1 des Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks zum Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die nach dem Dritten Teil Titel V des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - wozu auch das gemeinsame europäische Asylsystem gehört - vorgeschlagen werden. Art. 2 Satz 1 dieses Protokolls sieht vor, dass Vorschriften des Dritten Teils Titel V des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, nach jenem Titel beschlossene Maßnahmen, Vorschriften internationaler Übereinkünfte, die von der Union nach jenem Titel geschlossen werden, sowie Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union, in denen solche Vorschriften oder Maßnahmen oder nach jenem Titel geänderte oder änderbare Maßnahmen ausgelegt werden, für Dänemark nicht bindend oder anwendbar sind. Entsprechend hat sich Dänemark nicht an der Annahme der Richtlinien 2013/32/EU (s. Erwägungsgrund 59) sowie 2011/95/EU (s. Erwägungsgrund 51) beteiligt und ist weder durch diese Richtlinien gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Im Gegensatz zur Gewährung des Flüchtlingsschutzes, für den Section 7 (1) des dänischen Ausländergesetzes unmittelbar Bezug auf die GFK nimmt,</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">vgl. zur Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz nach Zuerkennung des dänischen „refugee status“ nach Section 7 (1) des dänischen Ausländergesetzes OVG NRW, Beschluss vom 3. Februar 2022- 11 A 219/22.A -, juris,</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">besteht hinsichtlich des subsidiären Schutzes trotz der sprachlichen Anlehnung keine Anknüpfung des „subsidiary protection status“ an die Richtlinien 2013/32/EU und 2011/95/EU.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. englischsprachige Übersetzung des dänischen Ausländergesetzes (Aliens Act), Stand 10. März 2019, abrufbar unter https:// nyidanmark.dk/de-DE/Legislation/Legislation.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Ob der durch Dänemark nach Section 7 (2) des dänischen Ausländergesetzes gewährte „subsidiary protection status“ dasselbe Schutzniveau wie der subsidiären Schutz enthält - was bereits nach den Darlegungen der Beklagten insbesondere im Hinblick auf das Erfordernis einer individuellen Verfolgung zu verneinen sein dürfte -, bedarf aus den vom EuGH im Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, juris, hervorgehobenen Gründen der Rechtssicherheit</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">- vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, InfAuslR 2021, 292 = juris, Rn. 47 -</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">keiner Überprüfung.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der EuGH hat entschieden, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit deren Art. 2 Buchst. q) dahin auszulegen sei, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehe, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. b) dieser Richtlinie als unzulässig abgelehnt werden könne, wenn er im betreffenden Mitgliedstaat von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellt worden sei, der zuvor in einem Drittstaat, der die Dublin-III-Verordnung gemäß dem Übereinkommen zwischen der Union, Island und Norwegen umsetze, einen erfolglosen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt habe. Denn der Wortlaut von Art. 2 lit. q) i. V. m. lit. b) sehe die Prüfung des ersten Asylantrags „durch einen Mitgliedstaat“ vor, wodurch ein an einen Drittstaat gerichteter Antrag kein „Antrag auf internationalen Schutz“ sein könne.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, InfAuslR 2021, 292 = juris, Rn. 36 f.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Der Begriff der „bestandskräftigen Entscheidung“ bezeichne zudem gemäß der Definition in Art. 2 lit. e) RL 2013/32 eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der Richtlinie 2011/95 die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen sei, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der Richtlinie 2013/32/EU mehr eingelegt werden könne. Eine von einem Drittstaat getroffene Entscheidung könne indessen nicht unter diese Definition fallen. Die Richtlinie 2011/95/EU, die an die Mitgliedstaaten gerichtet sei und keine Drittstaaten betreffe, beschränke sich nämlich nicht darauf, die Flüchtlingseigenschaft vorzusehen, wie sie im Völkerrecht, nämlich in der Genfer Flüchtlingskonvention, verankert sei, sondern sie regele auch den subsidiären Schutzstatus, der, wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergebe, die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft ergänze.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, InfAuslR 2021, 292 = juris, Rn. 38 f.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn man davon ausginge, dass das norwegische Asylsystem ein Schutzniveau für Asylbewerber vorsehe, das dem in der Richtlinie 2011/95/EU vorgesehenen Niveau gleichwertig sei, könne dies zu keinem anderen Ergebnis führen. Abgesehen davon, dass sich aus dem eindeutigen Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 ergebe, dass es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht zulässig sei, einen Drittstaat für die Zwecke der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) dieser Richtlinie einem Mitgliedstaat gleichzustellen, könne eine solche Gleichstellung, da andernfalls die Rechtssicherheit beeinträchtigt wäre, nicht von einer Bewertung des konkreten Schutzniveaus für Asylbewerber im betreffenden Drittstaat abhängen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 -, InfAuslR 2021, 292 = juris, Rn. 46 f.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Diese Rechtsgrundsätze sind auch auf den Fall einer Unzulässigkeitsentscheidung nach vorangegangener Gewährung des dänischen „subsidiary protection status“ übertragbar.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Zwar ist Dänemark im Gegensatz zu dem im Urteil des EuGH genannten Staat Norwegen ein Mitglied der Europäischen Union. Dänemark ist jedoch - wie der Drittstaat Norwegen - nicht an die Richtlinien 2013/32/EU und 2011/95/EU gebunden. Der EuGH hat insbesondere herausgestellt, dass die Behandlung als Folgeantrag die Prüfung nicht nur des Flüchtlingsschutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch des subsidiären Schutzes voraussetze, weil die Richtlinie 2011/95/EU sich nicht darauf beschränke, die Flüchtlingseigenschaft vorzusehen, wie sie im Völkerrecht, nämlich in der Genfer Flüchtlingskonvention, verankert sei, sondern sie regele auch den subsidiären Schutzstatus. Dieses Arguments hätte es nicht bedurft, wenn es für die Frage der Unzulässigkeitsentscheidung lediglich darauf ankäme, ob es sich bei dem ersuchten Staat um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt. Der EuGH betont vielmehr, dass aus Gründen der Rechtssicherheit von dem ersuchten Staat zu fordern ist, dass dieser zuvor eine Prüfung des Asylantrags im Hinblick auf den internationalen Schutz nach Maßgabe des entsprechenden Sekundärrechts durchgeführt hat. Dieser allgemeine Rechtsgedanke für die Ablehnung des Asylantrags kann gleichermaßen Geltung beanspruchen für die Zuerkennung eines- möglicherweise nicht dem Schutzniveau des durch das Sekundärrecht geregelten - Schutzstatus.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Mit Blick auf die zitierte Rechtsprechung des EuGH sieht der Senat keine Veranlassung, das Verfahren auszusetzen und ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV an den Europäischen Gerichtshof zu richten.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">II. Die unter Ziffer 2. des Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist verfrüht ergangen, weil das Bundesamt nach Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung verpflichtet ist, den Asylantrag der Klägerin materiell zu prüfen und sodann über Abschiebungsverbote zu entscheiden. Die auf § 35 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. Sätze 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag der Klägerin mit Blick auf die unter B. I. getroffenen Feststellungen nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte. Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des Bescheids.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">D. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Insbesondere hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die hier entscheidungserheblichen Rechtsfragen - insbesondere zur Anwendbarkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - sind geklärt.</p>
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} | 8 K 698/20 | 2022-09-12T00:00:00 | 2022-09-24T10:01:49 | 2022-10-17T11:10:32 | Urteil | ECLI:DE:VGMI:2022:0912.8K698.20.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Tatbestand:</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begehrt die Befriedung seiner Grundstücke. Er ist Eigentümer diverser Flurstücke in M. und N. . Diese liegen in den gemeinschaftlichen Jagdbezirken M. III, S. VI und S. VIII.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 27.03.2018 beantragte der Kläger durch seinen damaligen Prozessbevollmächtigten die Befriedung seiner Grundstücke im Jagdgebiet M. III.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 18.02.2020 lehnt der Beklagte die beantragte Befriedung ab. Der Kläger habe seine ethischen Motive nicht glaubhaft gemacht. Er habe zur Begründung seines Antrags pauschal auf § 6a BJagdG verwiesen. Zudem seien an den Kläger höhere Maßstäbe bei der Glaubhaftmachung zu stellen, da er selbst zur Jagd gegangen sei. Auch der Betrieb einer Hähnchenmast wecke Zweifel an den ethischen Gründen des Klägers.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat am 16.03.2020 die vorliegende Klage erhoben. Seitdem er nicht mehr im Besitz eines Jagdscheins ist, habe sich seine Einstellung zur Jagd grundlegend verändert. Er habe einen völlig neuen Blickwinkel zur Tierwelt, insbesondere zu Wildtieren bekommen. Heute erfreue er sich am Anblick der Rehe, Hasen und Fasane auf seinem Grundstück. Er führe Wildtierfütterungen durch, um die Tiere in freier Wildbahn beobachten zu können. Eine Wildtierfutterstelle befinde sich am E. in S. . Eine Winterfutterstelle für Vögel wie Tauben und Krähen habe er direkt auf seiner Hofstelle angelegt. Er habe auch zahlreiche Vogelkästen aufgehängt. Weiterhin verpachte er landwirtschaftliche Grundstücke mit der Auflage, dass keine Monokulturen, sondern eine Zwischenfrucht angepflanzt werden müsse. Hierbei handele es sich um Raps, Senf oder Ölrettich, der zur Wildfütterung von Wildtieren dient. Die Felder dürften erst im Frühjahr gemulcht werden und stünden dem Wild so im Winter zudem als Schutz zur Verfügung. Der Kläger beabsichtige die noch ausstehende Jagdpacht für das Jahr 2018 bis 2020 zur Anpflanzung von Hecken zum Schutz des Wildes zu nutzen. Eine neue Beantragung eines Jagdscheins schließe er kategorisch aus. Er habe auch sämtliche Jagdutensilien wie Gewehre, Nachtsichtgeräte, Schlafsäcke etc. veräußert und völlig aus seinem Wohnhaus entfernt.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.02.2020 zu verpflichten, die Grundstücke des Klägers jeweils zu jagdrechtlich befriedeten Bezirken zu erklären.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung macht er geltend, dass der Kläger seine behaupteten ethischen Gründe für die Befriedung nicht hinreichend objektiv dargelegt habe. Es liege der Verdacht nahe, dass der Kläger eine Befriedung anstrebt, weil er sich mit einem oder mehreren Jagdausübungsberechtigten zerstritten hat und nunmehr die Befriedung als Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen zielgerichtet einsetzten möchte.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat das Verfahren mit Beschluss vom 09. Dezember 2020 der Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Entscheidungsgründe:</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid des Beklagten vom 18.02.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Befriedung seiner Grundstücke in den gemeinschaftlichen Jagdbezirken M. III, S. VI und S. VIII.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 6a Abs. 1 Satz 1 BJagdG sind Grundflächen, die zu einem gemeinschaftlichen Jagdbezirk gehören und im Eigentum einer natürlichen Person stehen, auf Antrag des Grundstückseigentümers zu befriedeten Bezirken zu erklären, wenn der Grundstückseigentümer glaubhaft macht, dass er die Jagdausübung aus ethischen Gründen ablehnt.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Satz 1 BJagdG liegen nicht vor. Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, dass er die Jagdausübung aus ethischen Gründen ablehnt.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Ethische Gründe i. S. v. § 6a Abs. 1 Satz 1 BJagdG liegen vor, wenn der Grundstückseigentümer die feste Überzeugung gewonnen hat, dass es aus grundsätzlichen Erwägungen nicht richtig ist, die Jagd auszuüben, also wildlebende Tiere, die dem Jagdrecht unterliegen, zu erlegen oder zu fangen und diese Überzeugung eine gewisse Wichtigkeit hat.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 11.11.2021, 3 C 16/20 –, juris Rn. 31.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Erforderlich, aber auch ausreichend ist der Nachweis objektiver Umstände, die das Vorliegen ethischer Gründe nachvollziehbar und im Ergebnis überwiegend wahrscheinlich machen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">BVerwG, Urteil vom 11.11.2021, a.a.O., Rn. 35.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben hat der Kläger das Vorliegen ethischer Gründe nicht glaubhaft gemacht. Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger die Jagdausübung aus ethischen Gründen ablehnt und die Ablehnung der Jagdausübung ein gewisses Maß an Entschiedenheit, Kohärenz und Wichtigkeit aufweist.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Gegen das Vorliegen ethischer Gründe für den Befriedungsantrag des Klägers spricht zunächst, dass der Kläger selbst viele Jahre zur Jagd gegangen ist und er den Sinneswandel zur Ablehnung der Jagd nicht plausibel darlegen konnte. Welche Erkenntnis diesen Sinneswandel in dem Kläger ausgelöst haben soll, hat der Kläger bis heute nicht dargetan.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat mit der Antragstellung im März 2018 noch keinerlei Gründe für die Befriedung seiner Grundstücke vorgetragen. Auch auf Aufforderung durch den Beklagten begrenzte sich der Kläger darauf vorzutragen, dass er die Jagd aus grundsätzlichen Erwägungen ablehne, da er die Wildtiere als Lebewesen geschützt sehen wolle. Objektive Umstände, die das Vorliegen ethischer Gründe nachvollziehbar erscheinen lassen, hat er damit nicht dargelegt. Der Kläger hat in seinem Antrag vom 27.03.2018 auch ausdrücklich lediglich die Befriedung seiner Grundstücke im gemeinschaftlichen Jagdgebiet M. III beantragt, was gegen eine grundsätzliche Ablehnung der Jagd und für Motive im Zusammenhang mit diesen Grundstücken spricht. Lediglich der Beklagte hat von Anfang an alle Grundstücke des Klägers in das Befriedungsverfahren einbezogen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">In der mündlichen Verhandlung betont der Kläger immer wieder, dass ihn die Art der Jagdausübung bei der Jagd auf Niederwild störe („Fasane würden einfach auf den Anhänger geschmissen“). Eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Thematik der Jagd an sich und eine Ablehnung der Jagd generell ist im Rahmen seiner persönlichen Anhörung nicht deutlich geworden.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Im Wesentlichen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung gebetsmühlenartig betont, dass es viel schöner sei das Wild „zu begucken“. Daraus vermag das Gericht eine Ablehnung der Jagd aus ethischen Gründen nicht zu erkennen. Auch Jäger werden sich der Ansicht anschließen, dass es schöner sei Wild zu beobachten, insbesondere da sie mit dem Jagdrecht auch die Pflicht zur Hege erworben haben. Schließlich ist es das Ziel eines jeden Jägers ein den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten artenreichen und gesunden Wildbestand zu erhalten.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Gegen eine ethisch begründete Ablehnung der Jagd durch den Kläger spricht zudem, dass er den Verdacht, die Befriedung diene einem ganz anderen Zweck, auch in der mündlichen Verhandlung nicht hat ausräumen können. Dass es Auseinandersetzungen mit Jagdpächtern gegeben haben soll, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung schlicht abgestritten, obwohl es in dem Verwaltungsvorgang eindeutige Anhaltspunkte dafür gibt (insbesondere das Anwaltsschreiben an den Kläger, in dem der damalige Prozessbevollmächtige den Kläger darauf aufmerksam macht, dass ein „persönlicher Ärger“ mit den Jagdausübungsberechtigten nicht ausreichend ist, um eine Befriedung zu begründen).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10. 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 ZPO.</p>
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} | 11 A 1583/21 | 2022-09-12T00:00:00 | 2022-09-23T10:01:12 | 2022-10-17T11:10:28 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0912.11A1583.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Das angefochtene Urteil wird geändert.</p>
<p>Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 393,41 Euro nebst Zinsen von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.</p>
<p>Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.</p>
<p>Das Urteil ist gegen Sicherheitsleitung in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrags vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Revision wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Am 18. Februar 2019, einem Montag, hatte sich gegen 12:30 Uhr in T. auf der O. Straße, der Bundesstraße 229 (im Folgenden: B 229), in Höhe der Hausnummer 158 ein Verkehrsunfall ereignet. Ein Fahrzeug war von der Fahrbahn abgekommen und gegen eine Leitplanke geprallt. Dabei war das Fahrzeug so stark beschädigt worden, dass Betriebsstoffe ausgelaufen waren. Aufgrund eines Notrufs hatten sich Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei zum Unfallort begeben. Die Feuerwehr hatte die ausgelaufenen Betriebsstoffe mit einem Bindemittel abgestreut. Nachdem die Feuerwehr den Einsatzort verlassen hatte, trafen zwei Mitarbeiter der Technischen Betriebe T. (im Folgenden: TBS) ein, um das von der Feuerwehr und das von ihnen selbst eingesetzte Bindemittel aufzunehmen und zu entsorgen.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin forderte den Beklagten auf, ihr die durch den Einsatz der TBS entstandenen Kosten zu ersetzen. Diese Kosten bezifferte sie auf insgesamt 393,41 Euro (321,00 Euro Lohnkosten, 27,50 Euro Kosten für den Fahrzeugeinsatz und 44,91 Euro Materialkosten). Der Beklagte lehnte eine Kostenerstattung mit der Begründung ab, dass es an einer gesetzlichen Grundlage für den geltend gemachten Anspruch fehle.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Am 14. Januar 2020 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen: Der Beklagte sei als Träger der Straßenbaulast nach den Grundsätzen der öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag verpflichtet, die durch den Einsatz der TBS entstandenen Kosten zu ersetzen. Die gesetzlichen Vorschriften zur Kostentragung für Feuerwehreinsätze stünden dem nicht entgegen, weil die von den TBS getroffenen Maßnahmen nicht mehr dem eigentlichen Feuerwehreinsatz zuzurechnen seien. In diesem Zusammenhang sei auch das in der Landesverfassung normierte Konnexitätsprinzip zu berücksichtigten, nach dem einer Kommune nur dann weitere Aufgaben übertragen werden dürften, wenn gleichzeitig Regelungen über die Deckung der Kosten getroffen würden.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">den Beklagten zu verurteilen, an sie 393,41 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung hat der Beklagte geltend gemacht: Für eine Kostenerstattung sei kein Raum, weil die Klägerin als Trägerin der Feuerwehr innerhalb ihres eigenen gesetzlichen Geschäfts- und Pflichtenkreises tätig geworden sei.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 6. Mai 2021 abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten, die durch den Einsatz der TBS im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall am 18. Februar 2019 entstanden seien. Ein solcher Anspruch ergebe sich nicht aus § 52 Abs. 3 BHKG NRW. Denn er scheide unabhängig davon aus, ob die von den TBS getroffenen Maßnahmen im Rechtssinne Teil des Feuerwehreinsatzes gewesen seien. Verneine man dies, lägen schon keine nach § 52 Abs. 3 BHKG NRW erstattungsfähigen Einsatzkosten vor. Seien die Maßnahmen der TBS hingegen Teil des Feuerwehreinsatzes gewesen, stehe einem Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten aus § 52 Abs. 3 BHKG NRW entgegen, dass zugunsten der Klägerin ein Kostenersatzanspruch aus § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BHKG NRW gegen die Fahrzeughalterin bestehe. Entgegen der Ansicht der Klägerin habe diese auch keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Erstattung der durch die Tätigkeit der TBS entstandenen Kosten aus öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag. Denn es fehle an einer „planwidrigen Regelungslücke“, weil die §§ 50 ff. BHKG NRW eine abschließende Regelung über die Kostentragung für Aufgaben träfen, die der Gemeinde als Pflichtaufgaben nach dem BHKG NRW oblägen. Hier habe die Klägerin durch die Beseitigung der ausgelaufenen Betriebsstoffe Hilfe bei einem Unglücksfall geleistet und so eine ihr nach den §§ 1 Abs. 1 Nr. 2, 3 Abs. 1 Satz 1 BHKG NRW als Pflichtaufgabe obliegende Aufgabe wahrgenommen. Diese Pflichtaufgabe umfasse neben den Reinigungsmaßnahmen der Feuerwehr auch die durch die TBS ergriffenen Maßnahmen, da die Feuerwehr den Unglücksfall nicht beseitigt habe. Die Rutschgefahr habe fortgestanden, weil das Öl nicht vollständig abgestreut und das Bindemittel, das ebenfalls eine Rutschgefahr verursacht habe, nicht aufgenommen gewesen sei. Für die Qualifizierung als Pflichtaufgabe nach dem BHKG NRW sei unerheblich, dass die Klägerin zur Gefahrenbeseitigung nicht ausschließlich Kräfte der Feuerwehr eingesetzt habe, sondern wesentliche Arbeiten von Mitarbeitern der TBS habe ausführen lassen. Es sei fernliegend, dass der Gesetzgeber Raum dafür habe lassen wollen, dass die Gemeinde die im BHKG NRW angeordnete Kostentragungspflicht dadurch unterlaufe, dass sie als Trägerin der Feuerwehr Aufgaben durch eine andere Organisationseinheit habe wahrnehmen lassen. Von einer Regelungslücke, die durch die Grundsätze der öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag ausgefüllt werden könnte, sei auch nicht mit Blick auf Art. 78 Abs. 3 Satz 2 der Landesverfassung auszugehen, wonach zugunsten der Gemeinden ein finanzieller Ausgleich zu schaffen sei, wenn ihnen durch Gesetz neue Aufgaben übertragen würden. Diese Vorschrift sei erst zum 1. Juli 2004 in Kraft getreten. Die grundsätzliche Verpflichtung der Gemeinden, die Kosten zu tragen, die durch die Hilfeleistung der Feuerwehr bei Unglücksfällen entstanden, seien, habe schon vor dem 1. Juli 2004 bestanden. Seither seien die Vorschriften ausschließlich zugunsten der Gemeinden geändert worden, indem ihnen insbesondere unter bestimmten Umständen ein Kostenerstattungsanspruch gegen andere öffentlich-rechtliche Stellen eingeräumt worden sei (heute § 52 Abs. 3 BHKG NRW). Wenn die Beklagte in der Vergangenheit - entgegen der Rechtslage - in ähnlichen Fällen wie dem vorliegenden Kostenersatz geleistet haben sollte, stelle die Änderung der bisherigen Praxis keine neue Aufgabenübertragung durch Gesetz dar. Schließlich ergebe sich der geltend gemachte Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auch nicht aus dem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch, weil es an einer mit der Rechtslage nicht übereinstimmenden, durch Erstattung auszugleichenden Vermögenslage fehle.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung führt die Klägerin aus: Das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass sie Rückgriff nach § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BHKG NRW auf die Fahrzeughalterin habe nehmen können. Es stünden nicht die Kosten der Feuerwehr, sondern Kosten der TBS im Streit, die darauf beruhten, dass Mitarbeiter der TBS nach dem Feuerwehreinsatz hätten anrücken müssen. Insofern werde auf die Entscheidung des erkennenden Gerichts vom 16. Mai 2013 - 9 A 198/11 - hingewiesen. Unter Zugrundelegung des vom erkennenden Gericht darin umrissenen Maßstabs seien die Aufräumarbeiten der TBS dem eigentlichen Feuerwehreinsatz nicht mehr zurechenbar, da die Feuerwehr beim Einsatz der TBS bereits abgerückt gewesen sei und weder Kontrolle noch Aufsicht über diese ausgeübt habe. Mangels Feuerwehreinsatzes sei § 52 BHKG NRW nicht anwendbar, weshalb sie auch keinen Rückgriff nach § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BHKG NRW auf die Unfallverursacherin nehmen könne. Mit Blick darauf sei das Verwaltungsgericht auch zu Unrecht vom Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen. Auch eine Geltendmachung der Kosten gegenüber der Unfallverursacherin auf der Grundlage des § 17 StrWG NRW scheide aus, weil nicht sie - die Klägerin -, sondern der Beklagte Träger der Straßenbaulast sei. Der Verweis des Verwaltungsgerichts auf § 50 Abs. 1 BHKG NRW lasse im Übrigen § 9 Abs. 1 Satz 1 StrWG NRW unberücksichtigt, der festlege, dass die Straßenbaulast alle mit dem Bau und der Unterhaltung zusammenhängenden Aufgaben umfasse.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie 393,41 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt der Beklagte aus: Nach § 9 StrWG NRW gehöre es zu der Unterhaltungsaufgabe des Straßenbaulastträgers, durch Straßenverkehrsunfälle verursachte Verunreinigungen (ausgelaufene Betriebsstoffe) auf öffentlichen Straßen zu beseitigen. Nach der Rechtsprechung handele es sich in einem solchen Fall wie dem streitigen um einen Unglücksfall, der die originäre Zuständigkeit der Feuerwehr begründe. Es sei eine Pflichtaufgabe der Feuerwehr. Das Verhältnis der beiden Aufgabenträger zueinander sei im Gesetzesentwurf der Landesregierung zur Neuregelung des BHKG NRW vom 27. März 2015 zu Absatz 3 der Kostenregelung in § 52 umrissen. Danach sei die Zuständigkeit des Straßenbaulastträgers aufgrund der Spezialregelung als vorrangig zu betrachten. Der Feuerwehrpflichteinsatz umfasse nach dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 16. Juli 2007 - 9 A 4239/04 - das Abstreuen der Verunreinigung, das Aufnehmen des Bindemittels sowie dessen Entsorgung. Nur so sei eine dauerhafte Gefahrenbeseitigung gegeben und die öffentliche Sicherheit wieder hergestellt. Nach dem Klägervortrag hätten die Feuerwehrleute das ausgelaufene Öl grob und notdürftig abgestreut. Danach hätten sie sich vom Unfallort entfernt. Der Einsatz sei also nach den gesetzlichen Vorgaben noch nicht beendet gewesen. Abgesehen davon könne nur in außergewöhnlichen Dringlichkeitsfällen zwischen Hoheitsträgern überhaupt eine öffentlich-rechtliche Geschäftsführung ohne Auftrag in Betracht kommen, da insoweit die Zuständigkeiten gesetzlich normiert seien. Voraussetzung sei eine Notlage, in der die zuständige Behörde nicht oder nicht mit der sachlich gebotenen Dringlichkeit tätig werde. Diese Voraussetzungen hätten hier jedoch nicht vorgelegen, da die Meisterei T. im Dienst gewesen sei und bei entsprechender Kenntnis hätte tätig werden können.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 391,41 Euro (dazu A.) nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten seit Klageerhebung (dazu B.).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">A. Der Zahlungsanspruch der Klägerin ergibt sich aus dem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen des im öffentlichen Recht außerhalb der gesetzlichen Regelungen als eigenständiges Rechtsinstitut anerkannten öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs sind erfüllt. Die Anspruchsvoraussetzungen entsprechen denen des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs nach den Vorschriften der §§ 812 ff. BGB. Auf der Grundlage des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs sind Leistungen ohne Rechtsgrund und sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen auch dann rückgängig zu machen, wenn sich das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten nach öffentlichem Recht richtet. Der Rechtsgedanke einer Rückgewähr rechtsgrundloser Vermögensverschiebungen ergibt sich dabei unmittelbar aus der Forderung nach wiederherstellender Gerechtigkeit. Mit Blick darauf besteht eine Zahlungspflicht eines Hoheitsträgers, einem anderen Hoheitsträger die Kosten für die Beseitigung eines Schadens zu erstatten, wenn er nach materiellem Recht selbst zur Beseitigung des Schadens verpflichtet gewesen ist. Denn der Hoheitsträger ist in diesem Fall ohne Rechtsgrund „auf sonstige Weise“ um den Betrag bereichert, den er in Erfüllung seiner Pflicht hätte aufwenden müssen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen der Beseitigung von Ölschäden durch einen Landkreis für die damalige Deutsche Bundesbahn: BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 1989 - 4 B 239.88 -, Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 42 = juris, Rn. 3. f., unter Bezugnahme u. a. auf das Urteil vom 12. März 1985 ‑ 7 C 48.82 -, BVerwGE 71, 85 (87 f.) = juris, Rn. 12, m. w. N., s. auch Urteil vom 6. September 1988 - 4 C 5.86 -, BVerwGE 80, 170 (176 f.) = juris, Rn. 23 f.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Ausgehend hiervon ist der Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Kosten zu ersetzen, die im Zusammenhang mit der Beseitigung von Betriebsstoffen, die aus dem am 18. Februar 2019 auf der B 229 - ausweislich des Polizeiberichts „außerorts“ - verunfallten Fahrzeug ausgelaufen waren, für die Aufbringung von (weiteren) Bindemitteln und die Entfernung der von der Feuerwehr sowie den TBS aufgebrachten Bindemittel von der Straße (und deren Entsorgung) entstanden sind.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Denn nach materiellem Recht wäre der Beklagte zur (vollständigen) Beseitigung der auf der Straße ausgelaufenen Betriebsstoffe und aufgebrachten Bindemittel (nebst fachgerechter Entsorgung) verpflichtet gewesen (dazu I.); es besteht weder ein Ausgleichsanspruch auf gesetzlicher Grundlage (dazu II.) noch kann die Klägerin die Kosten nach den auch im öffentlichen Recht Anwendung findenden Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag von dem Beklagten erstattet verlangen (dazu III.); der Beklagte ist deshalb ohne Rechtsgrund „auf sonstige Weise“ um den Betrag bereichert, den er in Erfüllung seiner Pflicht selbst hätte aufwenden müssen (dazu IV.).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">I. Die Verpflichtung des Beklagten zur vollständigen Beseitigung der ausgelaufenen Betriebsstoffe und der aufgebrachten Bindemittel (und deren Entsorgung) resultiert aus der ihm als für die B 229 zuständigen Träger der Straßenbaulast obliegenden Verkehrssicherungspflicht.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">1. Der Bund ist Träger der Straßenbaulast für die Bundesfernstraßen, soweit nicht die Baulast anderen nach gesetzlichen Vorschriften oder öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen obliegt (§ 5 Abs. 1 Satz 1 FStrG). Der Beklagte verwaltet die Bundesfernstraßen im Wege der Auftragsverwaltung für den Bund (Art. 90 Abs. 3 GG), ihm obliegt danach auch die Straßenbaulast für die Bundesfernstraßen in Nordrhein-Westfalen, deren Aufgaben er durch den Landesbetrieb Straßenbau NRW (Landesbetrieb) wahrnehmen lässt (§ 1 Abs. 2 St-Ekr-ZVO)<em>.</em></p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">2. Die Straßenbaulast umfasst für Bundesfernstraßen gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 FStrG alle mit dem Bau und der Unterhaltung zusammenhängenden Aufgaben. Die Träger der Straßenbaulast haben namentlich dafür einzustehen, dass ihre Bauten allen Anforderungen der Sicherheit und Ordnung genügen (§ 4 Satz 1 FStrG). Entsprechendes gilt für die Straßenbaulastträger der dem nordrhein-westfälischen Landesrecht unterliegenden öffentlichen Straßen (vgl. §§ 2 Abs. 1, 9 Abs. 1 Satz 1, 9a Abs. 1 Satz 1 StrWG NRW). Im Rahmen der ihn damit treffenden Verkehrssicherungspflicht ist der Beklagte auch für die Sicherung und rückstandslose Beseitigung von Öl- und sonstigen Betriebsmittelspuren im Bereich der Bundesfernstraßen zuständig. Er war dementsprechend auch verpflichtet, für die Beseitigung der im Anschluss an den Unfall am 18. Februar 2019 auf der B 229 aufgetretenen Ölspuren zu sorgen, um die von diesen ausgehenden Gefahren für die Verkehrssicherheit dauerhaft zu beseitigen bzw. die Verkehrssicherheit vollständig wiederherzustellen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">3. Dem kann der Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, aus dem BHKG NRW ergebe sich, dass nicht er, sondern die Feuerwehr der Klägerin zur (vollständigen) Beseitigung des anlässlich des Unfalls ausgelaufenen Öls verpflichtet gewesen sei. Diese Auffassung ist durch das geltende Recht nicht gedeckt.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">a. Welcher Aufgabenträger in Fällen der vorliegenden Art für Maßnahmen der Gefahrenabwehr zuständig ist, ergibt sich aus der in § 1 Abs. 3 BHKG NRW getroffenen Regelung. Danach gilt dieses Gesetz nicht, soweit vorbeugende und abwehrende Maßnahmen nach § 1 Abs. 1 BHKG NRW - also insbesondere bei Unglücksfällen (Abs. 1 Nr. 2) - auf Grund anderer Rechtsvorschriften gewährleistet sind (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BHKG NRW). Entsprechende vorrangige Regelungen können insbesondere bestehen in den Bereichen der Bauaufsicht, des Forsts, der Wasserbehörden, dem Umwelt- und Arbeitsschutz oder - wie hier - der Straßenbauverwaltung (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 3 BHKG NRW LT‑Drs. 16/8293 Seite 79). Eine „doppelte“ Zuständigkeit von Feuerwehr einerseits und anderen Aufgabenträgern andererseits, wie sie auf Grund der Bestimmungen in den §§ 1 Abs. 1 und 42 Abs. 1 des zuvor geltenden FSHG NRW für möglich erachtet wurde,</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 16. Februar 2007 - 9 A 4239/04 -, NWVBl. 2007, 437 (438) = juris, Rn. 58,</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">kommt hiernach grundsätzlich nicht mehr in Betracht.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Bis zum Eingreifen der nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BHKG NRW zuständigen Stelle trifft indessen die Feuerwehr, die bei einem Unglückfall regelmäßig - so auch hier - als Erste am Unglücksort eintrifft, der Bestimmung des § 1 Abs. 3 Satz 2 BHKG NRW zufolge im Wege des ersten Zugriffs die erforderlichen Maßnahmen, um eine bestehende oder unmittelbar bevorstehende konkrete Gefährdung von Leben, Tieren, Gesundheit, natürlichen Lebensgrundlagen oder Sachen abzuwehren.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">b. Was die Beseitigung von Öl- oder Betriebsmittelspuren auf öffentlichen Straßen betrifft, verbleibt es hiernach zunächst bei der alleinigen Zuständigkeit des verkehrssicherungspflichtigen Straßenbaulastträgers. Dieser hat im Rahmen seiner Verkehrssicherungspflicht für deren umgehende Entfernung Sorge zu tragen. Geht von der entsprechenden Verunreinigung eine Gefährdung i. S. v. § 1 Abs. 3 Satz 2 BHKG NRW aus, so trifft die Feuerwehr - insoweit in ergänzender Zuständigkeit - bis zum Eingreifen des Trägers der Straßenbaulast die zum Schutz der dort genannten Rechtsgüter erforderlichen Maßnahmen. Dabei kann es nach sachgerechter Einschätzung der Gefahrenlage und mit Blick auf die Beschränkung der Feuerwehr auf den „ersten Zugriff“ sein Bewenden mit einem provisorischen Abstreuen der Verunreinigungen haben; es können darüber hinaus gegebenenfalls auch weitere Maßnahmen wie etwa das Einarbeiten des Streuguts und dessen Aufnahme erforderlich sein. In jedem Fall aber endet jegliche Zuständigkeit der Feuerwehr mit dem Eingreifen der zuständigen Straßenbaubehörde.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">c. Die Feuerwehr der Klägerin hatte die aus ihrer Sicht erforderlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr getroffen, indem sie die ausgelaufenen Betriebsstoffe abgestreut und damit deren weitere Verbreitung verhindert hatte. Damit endete ihr Einsatz ebenso wie ihre - ergänzende - Zuständigkeit für Abwehrmaßnahmen aus Anlass des betreffenden Unglücksfalls. Es ist nicht ersichtlich oder von dem Beklagten dargetan, dass darüber hinaus weitere Maßnahmen der Feuerwehr erforderlich gewesen wären, um bestehende oder unmittelbar bevorstehende konkrete Gefährdungen für die in § 1 Abs. 3 Satz 2 BHKG NRW genannten Rechtsgüter abzuwehren. Dies gilt umso mehr, als die auch nach dem Abrücken der Feuerwehr der Klägerin an der Unfallstelle verbliebene Polizei den Verkehr regelte und so dafür Sorge trug, dass bis zur vollständigen Beseitigung der aus dem verunfallten Fahrzeug ausgelaufenen Betriebsstoffe (durch die TBS) keine Gefahr für Verkehrsteilnehmerinnen oder Verkehrsteilnehmer von den auf der Straßen befindlichen Betriebsstoffen und darauf aufgebrachten Bindemitteln ausgehen konnte. Mit dem Abrücken der Feuerwehr lag die Zuständigkeit für die Beseitigung der infolge des Verkehrsunfalls auf der B 229 entstandenen Verunreinigungen wieder allein bei dem verkehrssicherungspflichtigen Beklagten.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">II. Ausgehend hiervon kommt ein gesetzlicher Erstattungsanspruch für die von den TBS verrichteten Arbeiten auf der Grundlage von § 52 Abs. 3 BHKG NRW ‑ wie ihn das Verwaltungsgericht erwogen, aber im Ergebnis verneint hat ‑ schon deshalb nicht in Betracht, weil die nach Beendigung des Feuerwehreinsatzes erforderlichen Maßnahmen auf Grund anderer Rechtsvorschriften - nämlich der Bestimmungen in den §§ 3 Abs. 1 Satz 1 und 4 Satz 1 FStrG - gewährleistet waren, so dass gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BHKG NRW dieses Gesetz - das BHKG NRW - insoweit nicht gilt und dementsprechend auch die Bestimmung in § 52 Abs. 3 BHKG keine Anwendung findet.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">III. Im Ergebnis zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass eine Kostenerstattung nach den Grundsätzen der auch im öffentlichen Recht anwendbaren Geschäftsführung ohne Auftrag gemäß den §§ 677 ff. BGB nicht in Betracht kommt. Die Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) schließt es grundsätzlich aus, dass ein unzuständiger Hoheitsträger in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Hoheitsträgers eingreift und die Kompetenz-ordnung durchbricht. Eine Geschäftsführung ohne Auftrag unter Hoheitsträgern ist daher nur im Ausnahmefall zulässig, etwa wenn ein Notfall vorliegt und ein Einschreiten des zuständigen Hoheitsträgers nicht in der gebotenen Eile möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 22. November 1985 - 4 A 1.83 -, NJW 1986, 2524 = juris, Rn. 18, m. w. N. für den Fall der Beseitigung einer Ölverschmutzung einer Bundeswasserstraße durch die Wasserschutzpolizei eines Bundeslandes; s. auch Gregor, in: Herberger/Martinek/Rüß-mann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Auflage, § 677 BGB (Stand: 1. Februar 2020), Rn. 59, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Bei der von den TBS der Klägerin durchgeführten Arbeiten handelte es sich nicht um unaufschiebbare Maßnahmen in diesem Sinne. Es ist weder ersichtlich noch vom Beklagten dargetan, dass eine weitere Ausbreitung der beim Unfall ausgelaufenen Betriebsstoffe drohte, nachdem die Feuerwehr diese - wenn auch nur „notdürftig“ - abgestreut hatte; die Unfallstelle war polizeilich gesichert, so dass weitere Verkehrsunfälle auf Grund der Ölverschmutzung nicht zu gewärtigen waren; es spricht schließlich nichts dagegen, dass die zuständige Straßenmeisterei des Landesbetriebs - die Straßenmeisterei T. - nach Benachrichtigung zeitnah hätte vor Ort sein oder einen einsatzbereiten privaten Unternehmer hätte beauftragen können, um die aus dem verunfallten Fahrzeug ausgelaufenen Betriebsstoffe auf der B 229 endgültig zu entfernen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">IV. Mit Blick darauf, dass der Beklagte selbst verpflichtet gewesen wäre, die ausgelaufenen Betriebsstoffe nebst aufgebrachten Bindemitteln von der Straße zu entfernen (und für deren Entsorgung zu sorgen), ist er - unabhängig von der Frage, ob die von den TBS durchgeführten Maßnahmen möglicherweise in der irrigen Annahme geleistet worden sind, die Klägerin sei verkehrssicherungspflichtige Straßenbaulastträgerin für den betreffenden Teil der B 229 - um den Betrag bereichert, den er selbst dafür hätte aufwenden müssen. Dies geschah auch ohne Rechtsgrund, denn diese Aufgabe fiel - wie oben ausgeführt - nicht (mehr) in den Aufgabenbereich der Klägerin. Es ist schließlich weder vom Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass er für die Beseitigung der ausgelaufenen Betriebsstoffe einen geringeren Kostenaufwand gehabt hätte.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">B. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Prozesszinsen. Der Erstattungsanspruch ist ab Eintritt der Rechtshängigkeit mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen. Nach den auch im Verwaltungsprozess anwendbaren Vorschriften der § 291 Satz 1 i. V. m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB sind Prozesszinsen immer dann zu zahlen, wenn das einschlägige Fachrecht keine abweichende Regelung trifft und die Geldforderung - wie hier - eindeutig bestimmt ist.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. <a href="https://www.juris.de/r3/document/WBRE410020242/format/xsl/part/K?oi=PcfBnwDdFU&${__hash__}38;sourceP=%7B%22source%22%3A%22Link%22%7D">BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2014 - 5 C 1.13 D</a> -, NVwZ 2014, 1523 (1528) = juris, Rn. 46, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.</p>
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346,644 | olgce-2022-09-12-9-w-7622 | {
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} | 9 W 76/22 | 2022-09-12T00:00:00 | 2022-09-22T10:01:14 | 2022-10-17T11:10:23 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong> 1. Die Beschwerde des Beteiligten zu 1 vom 1. September 2022 gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Registergerichts – Walsrode vom 17. August 2022 wird als unzulässig verworfen, soweit sie sich gegen die Ankündigung des Registergerichts richtet, die Gesellschafterliste vom 11. August 2022 nach Ablauf der zur Erwirkung einer einstweiligen Verfügung gesetzten Frist in den Registerordner aufzunehmen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>Im Übrigen wird die Beschwerde, soweit sie sich gegen die unterbliebene Aussetzung des Verfahrens zur Aufnahme der Gesellschafterliste vom 11. August 2022 richtet, zurückgewiesen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>2. Der Antrag zu 2 aus dem Beschwerdeschriftsatz vom 1. September 2022 betreffend die Gewährung einer weiteren Frist vor Aufnahme der Gesellschafterliste in den Registerordner wird zurückgewiesen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beteiligte zu 1 zu tragen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt"><strong>5. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf € 5.000,- festgesetzt.</strong></p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong> I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beteiligten sind – neben J. H. – in der derzeit in den Registerordner aufgenommenen Gesellschafterliste der betroffenen Gesellschaft als deren Gesellschafter verzeichnet. Der Beteiligte zu 1 ist zudem als Geschäftsführer der betroffenen Gesellschaft im Handelsregister eingetragen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Zwischen den Beteiligten herrscht Streit über die Wirksamkeit der Abberufung des Beteiligten zu 1 als und die Bestellung des Beteiligten zu 2 zum Geschäftsführer der betroffenen Gesellschaft sowie eine eventuelle Veränderung im Gesellschafterbestand aufgrund einer vermeintlich beschlossenen Einziehung der Geschäftsanteile des Beteiligten zu 1. Bezüglich der insoweit vermeintlich gefassten Beschlüsse ist eine Beschlussmängelklage anhängig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Mit der angefochtenen Entscheidung (Bl. 97 ff. d.A.), auf die Bezug genommen wird, hat das Registergericht das den Geschäftsführerwechsel betreffende Eintragungsverfahren ausgesetzt und dem Beteiligten zu 1 eine Frist gesetzt, um eine einstweilige Verfügung des Inhalts zu erwirken, eine zur Aufnahme in den Registerordner eingereichte, den vermeintlichen Einziehungsbeschluss widerspiegelnde Gesellschafterliste vom 11. August 2022 nicht in den Registerordner aufzunehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Dagegen wendet sich der Beteiligte zu 1 mit seiner Beschwerde vom 1. September 2022, mit der er in erster Linie erreichen will, „die Aufnahme der Gesellschafterliste vom 11.08.2022 in den Registerordner abzulehnen“ (Antrag zu 3); wegen der Anträge im Einzelnen wird auf Bl. 120 d.A. Bezug genommen. Das Registergericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg, weil es weitgehend unzulässig, im Übrigen unbegründet ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>1.) Die Beschwerde ist weitgehend schon nicht statthaft und daher unzulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>a) Nach § 58 Abs. 1 FamFG findet die Beschwerde gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Endentscheidungen statt. Der Beschwerdeführer will den Beschluss des Registergerichts vom 17. August 2022 ausdrücklich insoweit anfechten, als darin die Entscheidung enthalten sei, die Gesellschafterliste vom 11. August 2022 in den Registerordner aufzunehmen, wenn nicht der Beschwerdeführer bis zum 31. August 2022 eine dem entgegenstehende einstweilige Verfügung erwirkt hat (vgl. S. 2 oben des Beschwerdeschriftsatzes vom 1. September 2022, Bl. 120 d.A.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers handelt es sich indes bei der (angekündigten) Aufnahme der Gesellschafterliste in den Registerordner des Handelsregisters nicht um eine beschwerdefähige Entscheidung im Sinne des § 58 Abs. 1 FamFG.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Im Registerverfahren sind vielmehr grundsätzlich nur Beschlüsse, mit denen ein Eintragungsantrag abgelehnt wird (§ 382 Abs. 3 FamFG), und Zwischenverfügungen (§ 382 Abs. 4 FamFG) mit der Beschwerde anfechtbar. Beides ist im Streitfall nicht gegeben. Die Eintragung selbst hingegen ist nicht mit Rechtsbehelfen, insbesondere nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 383 Abs. 3 FamFG; vgl. auch Keidel/Heinemann, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 382 Rn. 15; BeckOK/Otto, FamFG, 43. Edition, Stand: 1. Juli 2022, § 382 Rn. 35; MünchKomm/Krafka, FamFG, 3. Aufl. 2019, § 382 Rn. 13). Das gilt nach Auffassung des Senats auch für die Aufnahme der Gesellschafterliste in den Registerordner und kann nicht dadurch umgangen werden, dass das Registergericht ex ante im Beschwerdewege zu einer Ablehnung der Aufnahme verpflichtet wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Der Beschwerdeführer ist dadurch nicht etwa rechtlos gestellt. Vielmehr steht es ihm, wie das Registergericht richtig ausgeführt hat, frei, einstweiligen Rechtsschutz (allerdings entgegen der Auffassung des Registergerichts nicht diesem gegenüber) zu suchen (vgl. zum Ganzen über die vom Registergericht bereits gegebenen Nachweise hinaus Könen/Dietlein/Schubert, Einstweiliger Rechtsschutz gegen den Ausschluss aus der GmbH und die registergerichtliche Prüfungsverantwortung für die Gesellschafterliste, NZG 2021, 771 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>c) Hinzu tritt, dass das Registergericht die Aufnahme der Gesellschafterliste lediglich angekündigt hat. Die bloße Ankündigung wäre selbst dann nicht gesondert anfechtbar, wenn es sich bei der Aufnahme der Gesellschafterliste in den Registerordner ihrerseits – quod non – um eine beschwerdefähige Entscheidung handeln würde (vgl. Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 58 Rn. 38 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>2.) Im Hinblick auf das weitere Begehren (Hilfsantrag innerhalb des Antrags zu 3 aus dem Beschwerdeschriftsatz vom 1. September 2022) erweist sich das Rechtsmittel als zwar zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>a) Will man in dem angefochtenen Beschluss die konkludente Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens zur Aufnahme der geänderten Gesellschafterliste erblicken, ist diese zwar grundsätzlich mit der Beschwerde anfechtbar (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2012 – XII ZB 444/11 –, juris), so dass die Beschwerde insoweit statthaft und auch im Übrigen zulässig ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>b) Sie ist jedoch unbegründet, weil anerkannt ist, dass das Verfahren betreffend die Aufnahme einer Gesellschafterliste nicht nach § 21 FamFG bloß wegen einer anhängigen Anfechtungsklage gegen einen Einziehungsbeschluss ausgesetzt werden darf (vgl. Könen/Dietlein/Schubert, NZG 2021, 771 (775)).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>3.) Die den eigentlichen Beschwerdegegenstand begleitenden Anträge zu 1 und 2 aus dem Beschwerdeschriftsatz vom 1. September 2022 schließlich bleiben ebenfalls ohne Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>a) Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Beschlusses (Antrag zu 1) ist mit der vorliegenden Entscheidung über das Rechtsmittel gegenstandslos geworden und war daher auch nicht mehr gesondert zu bescheiden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Er war zudem auch unbegründet. Konnte nämlich das im Antrag zu 3 verkörperte hauptsächliche Begehren des Beschwerdeführers schon mangels beschwerdefähiger Entscheidung keinen Erfolg haben, war auch kein Raum für die erstrebte Aussetzung der Vollziehung „des angefochtenen Beschlusses“. Denn handelt es sich dabei nicht um eine beschwerdefähige Entscheidung, fehlt es auch an einem tauglichen Aussetzungsgegenstand.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>b) Soweit schließlich mit dem Antrag zu 2 eine weitere Karenzfrist erstrebt wird, kann eine derartige Anordnung nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens nicht mehr auf § 64 Abs. 3 FamFG gestützt werden (vgl. Keidel/Sternal, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 64 Rn. 60).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Ungeachtet der Frage einer rechtlichen Grundlage für das Begehren ist aber jedenfalls auch nicht ersichtlich oder vorgetragen, warum eine weitere Frist erforderlich sein soll. Denn das Registergericht hat den Beschwerdeführer (mit der oben genannten Einschränkung) zutreffend über die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten unterrichtet. Diese bislang möglicherweise (Näheres dazu ist nicht vorgetragen) nicht wahrgenommen zu haben, fällt allein in den Verantwortungsbereich des Beschwerdeführers und rechtfertigt ein weiteres Zuwarten nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p><strong>III.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 84 FamFG. Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde, § 70 FamFG, sind nicht gegeben. Die Festsetzung des Gegenstandswertes hat ihre Rechtsgrundlage in § 36 Abs. 3 GNotKG.</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE269802022&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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</div>
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<p>Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Feststellung der Unzulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs und die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Recklinghausen durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 29.8.2022 wird verworfen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Von der Erhebung von Gerichtskosten wird abgesehen.</p>
<p>Die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<h1><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></h1>
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 29.8.2022 ist unzulässig. Die Antragstellerin ist entgegen § 147 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 67 Abs. 4 und Abs. 2 VwGO nicht durch einen hierfür zugelassenen Prozessbevollmächtigten vertreten. Das Vertretungserfordernis gilt bereits für die Einlegung der Beschwerde (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 2 VwGO). Darauf ist die Antragstellerin in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Beschlusses sowie in den von ihr geführten Verfahren 4 E 385/22, 4 E 480/22 und 4 E 541/22 kürzlich bereits mehrfach hingewiesen worden. Auch als (ehemalige) ehrenamtliche Richterin unterliegt sie dem Vertretungszwang nach § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO. Hierauf ist die Antragstellerin ebenfalls in den vorgenannten Verfahren bereits hingewiesen worden. Aus § 67 Abs. 5 VwGO ergibt sich nichts anderes.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Da die Antragstellerin dennoch erneut erklärt hat, sich in diesem Verfahren selbst vertreten zu können und zu wollen (Seite 5 des Beschwerdeschriftsatzes vom 5.9.2022), ist sowohl auf einen erneuten Hinweis auf das Vertretungserfordernis verzichtet als auch von einer Auslegung des Begehrens als Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine durch einen Prozessbevollmächtigten noch einzulegende Beschwerde abgesehen worden.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Da nach dem Akteninhalt eine Befassung der zuständigen Gerichtsbarkeit mit der Angelegenheit dringlich erscheint, ist der Ablauf der Beschwerdefrist nicht abgewartet worden.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die etwaige mangelnde Prozessfähigkeit der Antragstellerin hindert nicht daran, die Kostenfolge der vorgenannten Regelung auszusprechen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Beschluss vom 2.4.1998 – 3 B 70.97 –, juris, Rn. 2, und BGH, Beschluss vom 4.3.1993 – V ZB 5/93 –, BGHZ 121, 397 = juris, Rn. 10, jeweils m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Nichterhebung von Gerichtskosten beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 3 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 17a Abs. 4 Satz 5 GVG nicht vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG unanfechtbar.</p>
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346,584 | ovgsh-2022-09-12-4-o-1122 | {
"id": 1066,
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} | 4 O 11/22 | 2022-09-12T00:00:00 | 2022-09-16T10:00:45 | 2022-10-17T11:10:12 | Beschluss | ECLI:DE:OVGSH:2022:0912.4O11.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts – 10. Kammer – vom 28. April 2022 wird geändert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Vollstreckungsschuldnerin wird ein Zwangsgeld in Höhe von 2.000,– Euro angedroht, falls sie dem Vollstreckungsgläubiger nicht binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses entsprechend dem Teilurteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 21. September 2017 zum Az. 2 A 79/13 per Verwaltungsakt Zugang zu den neun bestehenden vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1 vom 21. April 2008 in dem Umfang gewährt, in dem der Beigeladene zu 2 diese nicht mit Schreiben vom 7. Februar 2014 und 21. August 2014 als geheimhaltungswürdig eingestuft hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Vollstreckungsgläubiger trägt die Gerichtskosten, die außergerichtlichen Kosten der Vollstreckungsschuldnerin und die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 aus dem Beschwerdeverfahren. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Beteiligten streiten um die Zwangsvollstreckung aus einem verwaltungsgerichtlichen Teilurteil (VG Schleswig, Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris [hier irrtümlich datiert auf den 29.09.2017])<em>.</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Mit diesem Teilurteil verpflichtete das Verwaltungsgericht Schleswig die Vollstreckungsschuldnerin <em>(im Erkenntnisverfahren die Beklagte)</em> unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27. November 2009 und des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2013 dazu, dem Vollstreckungsgläubiger <em>(Kläger)</em></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">„alle vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Beklagten und der Lübecker Hafengesellschaft mbH <em>(hier der Beigeladenen zu 1)</em> in dem Umfang zugänglich zu machen, in dem das Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein <em>(hier der Beigeladene zu 2)</em> diese nicht mit Schreiben vom 07.02.2014 und 21.08.2014 als geheimhaltungswürdig eingestuft hat“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>In den als Sperrerklärung i. S. d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu wertenden Schreiben vom 7. Februar und 21. August 2014 (so BVerwG, Beschl. v. 27.04.2016 – 20 F 13.15 – juris Rn. 8-13) hatte der Beigeladene zu 2 die aus seiner Sicht geheimhaltungswürdigen Inhalte von neun Vereinbarungen bezeichnet und damit mittelbar mehr Inhalte „freigegeben“ als die Vollstreckungsschuldnerin. Auf die Anträge der Vollstreckungsschuldnerin und Beigeladenen zu 1 nach § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO entschied das BVerwG in einem In-Camera-Verfahren letztinstanzlich, dass diese Anträge unzulässig seien, soweit die Feststellung begehrt wurde, dass die Verweigerung der Vorlage der Vertragsbestimmungen rechtmäßig sei, welche in dem Schreiben des beigeladenen Innenministeriums vom 21. August 2014 aufgeführt sind. Insoweit bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis. Soweit sie die Feststellung begehrten, dass über in der Sperrerklärung des beigeladenen Innenministeriums bezeichnete Vertragsbestimmungen hinaus hinsichtlich weiterer von ihnen benannter Vertragsbestimmungen die Verweigerung der Vorlage ungeschwärzter Verträge rechtmäßig ist, seien ihre Anträge zwar zulässig, in der Sache aber unbegründet (BVerwG, Beschl. v. 27.04.2016 – 20 F 13.15 – juris Rn. 8 ff.)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Da der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht seinerseits einen Antrag nach § 99 Abs. 2 VwGO gegen die Sperrerklärung stellte, sah das Verwaltungsgericht die Klage nur in Bezug auf den durch die Sperrerklärung mittelbar freigegebenen Teil als entscheidungsreif an und behielt die Entscheidung über den Zugang zu den durch die Sperrerklärung als geheimhaltungswürdig eingestuften vertraglichen Vereinbarungen für das Schlussurteil vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Nachdem der Senat den Antrag der Vollstreckungsschuldnerin auf Zulassung der Berufung gegen das o. g. Teilurteil abgelehnt hatte (Beschl. v. 02.05.2019 – 4 LA 128/17 – juris), forderte der Vollstreckungsgläubiger die Vollstreckungsschuldnerin mit Schreiben vom 1. Juli 2019 auf, ihm gemäß dem verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 21. September 2017 „die genannten vertraglichen Vereinbarungen im Original auf dem Postweg für drei Tage in die Räume dieser Sozietät“ zu übermitteln und setzte hierfür eine Frist bis zum 10. Juli 2019. Die Vollstreckungsschuldnerin übersandt ihm daraufhin mit Schreiben vom 4. Juli 2019 insgesamt neun Anlagen. Dabei handelte es sich um Kopien von folgenden geschwärzten Vertragsunterlagen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">1. Hafenbahnvertrag vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">2. Nutzungsvertrag vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">3. Mietvertrag Posener Straße – LDG vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">4. Vertrag über die Rückgabe der Hafenbahn vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">5. Vertrag über die Rückgabe der Hafennebenflächen vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">6. Mietvertrag Schlutupkai II Ost vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">7. Mietvertrag Schlutupkai I – Kühlhaus vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">8. Mietvertrag Skandinavienkai – Borndiek vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">9. Mietvertrag Skandinavienkai Nord vom 21. April 2008</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Nach neuerlichem Aufforderung, ihm die zwischen ihr und der Beigeladenen zu 1 bestehenden vertraglichen Vereinbarungen im tenorierten Umfang zugänglich zu machen, hat der Vollstreckungsgläubiger am 27. August 2019 beim Verwaltungsgericht Schleswig das Vollstreckungsverfahren eingeleitet mit der Begründung, dass die Vollstreckungsschuldnerin ihre aus dem Teilurteil erwachsene Verpflichtung nicht erfüllt habe. Die vertraglichen Vereinbarungen zwischen ihr und der Beigeladenen zu 1 hätten einen Umfang von 710 Seiten, übersandt worden seien jedoch nur neun Einzelvereinbarungen in Auszügen, die einen Umfang von lediglich 90 Seiten hätten. Auch enthielten die Kopien mehr Schwärzungen als dies nach der Sperrerklärung des Beigeladenen zulässig sei. Für den Umfang der Verpflichtung der Vollstreckungsschuldnerin komme es dabei alleine auf den objektiven Wortlaut des Tenors des rechtskräftigen Teilurteils vom 21. September 2017 an. Der titulierte Anspruch sei zudem auch nicht auf den Erlass eines Verwaltungsaktes, sondern auf die Vornahme einer nicht vertretbaren Handlung gerichtet, weshalb er nach § 167 VwGO i. V. m. § 888 ZPO zu vollstrecken sei. Auch könne ein Amtsträger – wie etwa der Bürgermeister der Vollstreckungsschuldnerin – in Zwangshaft genommen werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Vollstreckungsgläubiger hat beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">gegen die Schuldnerin wegen Nichterfüllung des Urteils des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 21. September 2017 (12 A 79/13) ein Zwangsgeld von bis zu 25.000 Euro oder Zwangshaft festzusetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die Vollstreckungsschuldnerin hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen und geltend gemacht, dass er schon unzulässig sei, weil er als Vollstreckungsschuldner den Rechtsträger und nicht die Behörde benenne. Zudem bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis, weil sie – die Vollstreckungsschuldnerin – den Anspruch des Vollstreckungsgläubigers bereits erfüllt habe, indem sie ihm alle zwischen ihr und der Beigeladenen zu 1 zum Zeitpunkt der Antragstellung am 29. September 2009 bestehenden Vertragsunterlagen übersandt habe. Hierauf habe sich auch die Prüfung durch den Beigeladenen zu 2 auf die Geheimhaltungswürdigkeit beschränkt. Der Antrag sei im Übrigen unbegründet, da sie – die Vollstreckungsschuldnerin – ihre aus dem Teilurteil folgende Verpflichtung erfüllt habe. Der Beigeladene zu 2 habe mit seiner Sperrerklärung den Umfang der Geheimhaltungswürdigkeit der betroffenen Vertragsunterlagen bestimmt; diesen Umfang habe die Kammer in ihrem Teilurteil vom 21. September 2017 ausdrücklich zitiert. Dieser sei von ihr – der Vollstreckungsschuldnerin – umgesetzt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt. Die Beigeladene zu 1 hat sich allerdings den Ausführungen der Vollstreckungsschuldnerin angeschlossen. In materieller Hinsicht sei allein entscheidend, welche Verträge zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und ihr – der Beigeladenen zu 1 – im Zeitpunkt der Antragstellung am 29. September 2009 bestanden hätten. Nur in Bezug auf diese Verträge habe sie ihre Rechte zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen wahrnehmen können. Durch die Bezugnahme auf die Sperrerklärung des Beigeladenen zu 2 sei auch die im Tenor des Teilurteils ausgesprochene Verpflichtung auf die bislang im Streit stehenden Verträge beschränkt. Sofern der Vollstreckungsgläubiger die Übermittlung weiterer Verträge begehre, müsse er einen neuen Antrag stellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Mit Beschluss vom 28. April 2022 hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Vollstreckungsgläubigers dahingehend ausgelegt, dass die Festsetzung eines Zwangsgeldes von bis zu 25.000 Euro gegen die Vollstreckungsschuldnerin, ersatzweise die Festsetzung von Zwangshaft gegen deren Bürgermeister und hilfsweise die Androhung eines Zwangsgeldes gegen die Vollstreckungsschuldnerin begehrt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Auf diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">der Vollstreckungsschuldnerin ein Zwangsgeld in Höhe von 7.500 Euro angedroht, falls sie dem Vollstreckungsgläubiger nicht binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses entsprechend dem Teilurteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 21. September 2017 zum Az. 12 A 79/13 Zugang zu allen vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1 in dem Umfang gewährt, in dem der Beigeladene zu 2 diese nicht mit Schreiben vom 7. Februar 2014 und 21. August 2014 als geheimhaltungswürdig eingestuft hat. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">und zur Begründung ausgeführt, dass sich die begehrte Vollstreckung des Teilurteils nach § 172 VwGO richte, weil aus einem (Teil-) Verpflichtungsurteil nach § 113 Abs. 5 VwGO vollstreckt werden solle. Soweit der Vollstreckungsgläubiger sogleich die Festsetzung eines Zwangsgeldes von über 10.000 Euro ohne vorherige Androhung oder hilfsweise von Zwangshaft nach den Regelungen des § 888 ZPO begehre, sei der Antrag unzulässig. Im Übrigen scheitere die Zulässigkeit des Antrags nicht daran, dass er den Rechtsträger als Vollstreckungsschuldnerin und nicht eine Behörde benenne. Der Antrag auf Androhung eines Zwangsgeldes sei in der tenorierten Höhe auch begründet. Die Androhung sei geboten, weil die Vollstreckungsschuldnerin der ihr auferlegten Verpflichtung aus dem Teilurteil durch die Übersendung der neun Vereinbarungen zwischen ihr und der Beigeladenen zu 1 grundlos und nicht vollständig nachgekommen sei. Vom Tenor des Teilurteils seien auch diejenigen Vereinbarungen erfasst, die zum Zeitpunkt der Antragstellung am 29. September 2009 noch nicht vorgelegen hätten. Nach dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 2. Mai 2019 – 4 LA 128/17 – seien laut Tenor auch die Vereinbarungen zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1 zugänglich zu machen, die nach Abgabe der Sperrerklärung geschlossen worden seien. Darüber hinaus seien bei den bisher übersandten Unterlagen unzulässige Schwärzungen vorgenommen worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Gegen diesen Beschluss haben sowohl der Vollstreckungsgläubiger als auch die Vollstreckungsschuldnerin und die Beigeladene zu 1 jeweils Beschwerde eingelegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Der Vollstreckungsgläubiger bleibt dabei, dass der titulierte Anspruch auf Verpflichtung zur Herausgabe bestimmter Informationen nicht nach § 172 VwGO, sondern nach § 167 VwGO i. V. m. § 888 ZPO zu vollstrecken sei. Das beantragte Zwangsgeld in Höhe von bis zu 25.000 Euro oder Zwangshaft sei auch erforderlich, weil die Schuldnerin dem rechtskräftigen Urteil vom 21. September 2017 nicht Folge leiste. Der zu vollstreckende Tenor sei im Übrigen rechtskräftig und hinreichend bestimmt. Dies habe der Senat bereits im Zulassungsverfahren festgestellt. Die Einlassungen der Schuldnerin machten hinreichend deutlich, dass sie nur durch Festsetzung von Zwangshaft oder eines wirtschaftlich spürbaren Zwangsgelds zu einem rechtskonformen Verhalten angehalten werden könne.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Er beantragt, unter Abänderung des Beschlusses der 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 28.04.2022 (10 D 2/22) gegen die Schuldnerin wegen Nichterfüllung des Urteils des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 21.09.2017 (12 A 79/13) ein Zwangsgeld von bis zu 25.000 Euro oder Zwangshaft festzusetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>Die Vollstreckungsschuldnerin macht geltend, dass der angegriffene Beschluss sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht über das Teilurteil hinausgehe. Der Tenor des zu vollstreckenden Teilurteils wäre nicht nur anhand der Begründung, sondern auch unter Berücksichtigung des konkreten Streitgegenstandes auszulegen gewesen, um dessen vollstreckungsfähigen Inhalt zu ermitteln. Inhalt und Umfang der Leistungspflicht würden vom Vollstreckungstitel zu ungenau bezeichnet. Würde ein Bescheid mit dem wortlautidentischen Inhalt des Tenors erlassen, hätte der Vollstreckungsgläubiger Anspruch auf Zugang zu allen jemals geschlossenen und auch zukünftig anfallenden Vereinbarungen. Inhaltlich ausgenommen wären lediglich die Passagen, die mit Schreiben des Beigeladenen zu 2 vom 7. Februar und 21. August 2014 als geheimhaltungswürdig eingestuft wurden. Dabei habe sich der Antrag des Vollstreckungsgläubigers vom 29. September 2009 nur auf die damals aktuell bestehenden (neun) Verträge bezogen, nicht aber auf nach Antragstellung geschlossene Verträge, über die die Vollstreckungsschuldnerin im Übrigen damals noch gar nicht „verfügt“ habe i. S. d. § 3 IZG-SH. Entsprechend sei der Antrag mit dem später erlassenen Bescheid vom 27. November 2009 / 14. Januar 2013 beschieden worden und nur darauf habe sich der Beschluss des erkennenden Gerichts vom 9. April 2013 zwecks Anforderung „der Verträge“ und damit in Konkretisierung des Streitgegenstandes bezogen. Streitgegenständlich geworden seien deshalb weder bereits abgewickelte Verträge (seit Gründung der Beigeladenen zu 1 im Jahre 1934) noch spätere Verträge, zumal diese wiederum Gegenstand eines späteren Antrages gewesen seien, über dessen Berechtigung noch vor dem Verwaltungsgericht gestritten werde (Az.: 8 A 5/14, jetzt: 10 A 57/22). Dieses Verfahren würde „überholt“ und obsolet; auch könnten die später geschlossenen Vereinbarungen dann nicht mehr auf schützenswerte Inhalte im Sinne der Ausschlussgründe nach dem IZG-SH oder im Rahmen eines In-Camera-Verfahrens geprüft werden. Insbesondere Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Beigeladenen zu 1 und der Vollstreckungsschuldnerin blieben ungeprüft und würden verletzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Die Vollstreckungsschuldnerin beantragt,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">a) den angegriffenen Beschluss so abzuändern, dass entsprechend dem rechtskräftigen Teilurteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 21.09.2017 (Az.: 12 A 79/13) durch Bescheidung der Vollstreckungsschuldnerin nur Zugang zu all den vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1) zu gewähren ist,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">– die bis zum 29.09.2009 zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1) geschlossen und zum 29.09.2009 wirksam waren</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">– und die im Bescheid der Vollstreckungsgläubigerin vom 27.11.2009 unter Nr. 1- 9 aufgezählt sind und deren schützenswerten Inhalte abschließend durch gerichtlich rechtskräftig beurteilte Sperrerklärungen festgestellt sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">b) hilfsweise, unter teilweiser Aufhebung des angegriffenen Beschlusses die Vollstreckung aus dem rechtskräftigen Teilurteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 21.09.2017 (Az.: 12 A 79/13) insoweit für unzulässig zu erklären, als dem Vollstreckungsgläubiger durch Bescheidung der Vollstreckungsgläubigerin Zugang auch zu allen Verträgen gewährt wird, soweit die zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1) nach dem 29.09.2009 geschlossen und bis zum 29.09.2009 nicht mehr wirksam sind</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">– und ohne die vorherige Durchführung eines behördlichen Verfahrens nach § 10 S.3 u. 4 IZG-SH sowie durch gerichtliche abschließend rechtskräftig beurteilte Sperrerklärung geschützte Inhalte festgestellt sind,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">c) weiter hilfsweise, den angegriffenen Beschluss so abzuändern, dass entsprechend dem rechtskräftigen Teilurteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 21.09.2017 (Az.: 12 A 79/13) durch Bescheidung der Vollstreckungsschuldnerin nur Zugang zu allen vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1) zu gewähren (ist),</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">– die bis zum 09.04.2013 zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1) geschlossen und zum 09.04.2013 wirksam waren und abschließend durch abschließend rechtskräftig beurteilte Sperrerklärung die geschützten Inhalte festgestellt sind.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">d) schließlich hilfsweise, den angegriffenen Beschluss so abzuändern, dass dem rechtskräftigen Teilurteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 21.09.2017 (Az.: 12 A 79/13) zur Vollstreckung ein eindeutiger Tenor hinsichtlich des konkreten Streitgegenstandes und dem zeitlichen Umfang der Vertragswerke entnommen werden kann, damit ein Verwaltungsakt der Vollstreckungsschuldnerin auf Informationszugang mit diesem konkreten Inhalt erlassen und umgesetzt werden kann.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene zu 1 sieht ihre Rechte auf Wahrung ihrer schutzwürdigen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nach Maßgabe von § 10 IZG-SH sowie auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Auch sie meint, dass der Tenor des Teilurteils sprachlich zu weit gefasst bzw. (bislang) zu weit verstanden worden sei. Das Erkenntnisverfahren habe sich allein auf die bis zum Antrag des Vollstreckungsgläubigers vom 29. September 2009 zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und ihr wirksam geschlossenen und zu diesem Zeitpunkt bestehenden Verträge bezogen. Ein Antrag nach dem IZG-SH ziele stets auf eine punktuelle Momentaufnahme ab und beinhalte keinen Anspruch auf eine dauerhaft fortlaufende Unterrichtung über sämtliche zukünftigen Verträge. Für zukünftige Verträge bedürfe es eines erneuten Antrages auf Zugänglichmachung der „dann bestehenden“ Verträge. Von weiteren Verträgen sei im gerichtlichen Verfahren auch nicht die Rede gewesen, weder von solchen, die zum Zeitpunkt der Antragstellung schon nicht mehr in Kraft waren, noch – und erst recht – von solchen, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geschlossen waren und deshalb noch gar nicht im Sinne des gestellten Antrages „bestehen“. Dem Beigeladenen zu 2 seien von der Vollstreckungsschuldnerin allein die aus deren Sicht relevanten und bis zum 29. September 2009 bestehenden Verträge zur Prüfung zugeleitet worden, nicht aber die bereits vorher außer Kraft getretenen oder die erst danach geschlossenen Verträge, weil es insoweit an einem dahingehenden Antrag des Vollstreckungsgläubigers gefehlt habe. Dennoch solle die Vollstreckungsschuldnerin diese Verträge ungeprüft zugänglich machen, um nicht die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 7.500 Euro zu riskieren. Zudem sei nicht ersichtlich, wie sie – die Beigeladene zu 1 – insoweit ihre Rechte auf Wahrung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse effektiv wahrnehmen können solle.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p>Die Beigeladene zu 1 beantragt, unter teilweiser Aufhebung des angegriffenen Beschlusses die Vollstreckung aus dem Teilurteil des Schl.-Holst. Verwaltungsgerichts vom 21.09.2017 (Az. 12 A 79/13) insoweit für unzulässig zu erklären, als dem Vollstreckungsgläubiger nach seinem Wortlaut ein Zugänglichmachen auch zu solchen Verträgen zugesprochen wird,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p>a) die bereits vor dem 29.09.2009 geendet haben oder außer Kraft getreten sind, sowie auch zu solchen Verträgen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p>b) die nach dem 29.09.2009 zwischen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1. geschlossen worden sind, ohne dass zuvor ein behördliches Verfahren gemäß § 10 IZG-SH bzw. § 99 Abs. 2 VwGO (in-camera-Verfahren) zur Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Beigeladenen zu 1. einschließlich der Einholung einer ministeriellen Sperrerklärung durchgeführt und bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossen worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Hilfsweise stellt sie den vorstehenden Antrag lit. b) mit dem Datum 09.04.2013 und höchst hilfsweise mit dem Datum 21.08.2014.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_43">43</a></dt>
<dd><p>Der Beigeladene zu 2 hat sich nicht geäußert.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_44">44</a></dt>
<dd><p>I. Die Beschwerden sind statthaft (§ 146 Abs. 1 VwGO) und auch sonst zulässig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_45">45</a></dt>
<dd><p>Alle drei Beschwerde führenden Beteiligte haben ihre Beschwerde innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO eingelegt. Eine Frist für die Begründung der Beschwerde ist im Gesetz nicht vorgesehen. Die Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO gilt vorliegend nicht, weil kein Fall des vorläufigen Rechtsschutzes vorliegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_46">46</a></dt>
<dd><p>II. Die Beschwerde des Vollstreckungsgläubigers ist unbegründet, die Beschwerden der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1 sind hingegen überwiegend begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_47">47</a></dt>
<dd><p>1. Die Beschwerde des Vollstreckungsgläubigers ist unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_48">48</a></dt>
<dd><p>a. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht zunächst ausgeführt, dass sein Antrag nicht deshalb unzulässig ist, weil er nicht eine Behörde, sondern deren Rechtsträger als Vollstreckungsschuldnerin benennt. Denn eine Behörde der Vollstreckungsschuldnerin wäre schon nicht beteiligtenfähig. § 61 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 69 Abs. 1 LJG sehen eine Fähigkeit, am Verfahren beteiligt zu sein, nur für Landesbehörden, nicht aber für Behörden der Kreise oder kreisfreien Städte vor. Im Übrigen gilt dies auch in Ansehung des hier zur Anwendung gebrachten § 172 VwGO. Mit dem Begriff der „Behörde“ bezeichnet die Norm jegliche Stelle der öffentlichen Verwaltung, die konkret zur Vornahme der titulierten Handlung verpflichtet ist, ohne dass damit die Behörde auch zum Vollstreckungsschuldner gemacht werden soll. Vollstreckungsschuldner kann vielmehr nur der Rechtsträger der Behörde sein, die gehandelt hat bzw. handeln soll (VGH Kassel, Beschl. v. 11.05.2016 – 9 E 448/16 –, juris Rn. 17; Heckmann in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 172 Rn. 17).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_49">49</a></dt>
<dd><p>b. Ohne Erfolg bleibt aber das übrige Vorbringen des Vollstreckungsgläubigers. Im vorliegenden Fall kommt lediglich die Androhung eines Zwangsgeldes von bis zu 10.000 Euro, aber keine Festsetzung von bis 25.000 Euro und auch keine ersatzweise Festsetzung von Zwangshaft gegen den Bürgermeister der Vollstreckungsschuldnerin in Frage, weil das Verwaltungsgericht auf den Vollstreckungsantrag des Vollstreckungsgläubigers zutreffend § 172 VwGO und nicht über § 167 Abs. 1 VwGO das Vollstreckungsrecht der Zivilprozessordnung angewandt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_50">50</a></dt>
<dd><p>Nach § 172 Satz 1 VwGO kann das Gericht des ersten Rechtszugs auf Antrag unter Fristsetzung gegen die Behörde ein Zwangsgeld bis 10.000 Euro durch Beschluss androhen, wenn diese in den Fällen des § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 5 und des § 123 VwGO der ihr im Urteil oder in der einstweiligen Anordnung auferlegten Verpflichtung nicht nachkommt. Der Anwendungsbereich des § 172 VwGO ist im Einzelnen zwar höchst umstritten, zweifelsohne findet er aber Anwendung auf Titel, die auf den Erlass eines Verwaltungsaktes und damit auf Vornahme einer unvertretbaren Handlung gerichtet sind (Heckmann in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 172 Rn. 2 f.) Ein solcher Fall liegt hier vor (vgl. schon Beschl. des Senats v. 31.03.2021 – 4 O 13/21 –, juris Rn. 2 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_51">51</a></dt>
<dd><p>Die Vollstreckungsschuldnerin wurde nicht zur schlichten Herausgabe bestimmter Informationen, sondern zum Erlass eines Verwaltungsaktes verpflichtet. Denn die behördliche Entscheidung über Anträge nach dem Informationszugangsgesetz für das Land Schleswig-Holstein ergeht durch Verwaltungsakt. Dies ergibt sich schon aus § 7 Abs. 2 IZG-SH, wonach gegen die Entscheidung durch eine informationspflichtige Stelle ein Widerspruchsverfahren nach den §§ 68 bis 73 VwGO durchzuführen ist. Entsprechend wird der allgemeine Informationszugangsanspruch – ebenso wie sonstige Begehren auf Einsicht in behördliche Unterlagen – mit einer Verpflichtungsklage durchgesetzt (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.01.2022 – 6 A 7.20 –, 6 A 8.20 –, juris Rn. 29). Auch der stattgebenden behördlichen Entscheidung liegt ein Verwaltungsakt zugrunde. Denn vor der faktischen Zugangsgewährung liegt die Entscheidung darüber, dass und in welchem Umfang der Zugang erfolgen soll, es ist mithin eine auf den Einzelfall bezogene Regelung zu treffen und ein begünstigender Verwaltungsakt zu erlassen. Entsprechend bedarf es auch nach Erlass eines zur Informationsgewährung verpflichtenden Urteils zunächst eines behördlichen Zwischenschrittes in Form eines Verwaltungsaktes, bevor es zum eigentlichen Informationszugang kommt. Eine unmittelbare Verurteilung zur Leistung käme auch nicht als Annex zum Verpflichtungsausspruch in Frage (Senat, Urt. v. 21.01.2021 – 4 LB 3/19 – juris Rn. 61-64 und Beschl. v. 31.03.2021 – 4 O 13/21 –, juris Rn. 4).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_52">52</a></dt>
<dd><p>2. Die Beschwerden der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen zu 1 sind schon mit ihren Hauptanträgen, mit denen sie sinngemäß die Vollstreckung auf diejenigen neun Vereinbarungen vom 21. April 2008 beschränkt sehen wollen, die ihrer zutreffenden Ansicht nach nur Gegenstand des Erkenntnisverfahrens waren, überwiegend begründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_53">53</a></dt>
<dd><p>a. Vollstreckungstitel gemäß § 168 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist das rechtskräftige Teilurteil des Verwaltungsgerichts vom 21. September 2017. Es hat einen vollstreckungsfähigen Inhalt, weil es die Vollstreckungsschuldnerin zu einer Leistung verpflichtet; hier zum Erlass eines bestimmten Verwaltungsaktes.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_54">54</a></dt>
<dd><p>Zutreffend führt das Verwaltungsgericht aus, dass die der Vollstreckungsschuldnerin mit dem Teilurteil auferlegte Verpflichtung hinreichend bestimmt bzw. bestimmbar ist. Inhaltlich hat es den Umfang der Verpflichtung jedoch als zu weitreichend definiert, wenn es meint, dass der Tenor des Teilurteils und damit die daraus vorzunehmende Vollstreckung auch diejenigen Vereinbarungen erfasst, die zum Zeitpunkt der Antragstellung am 29. September 2009 noch nicht vorlagen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_55">55</a></dt>
<dd><p>aa. Ein Urteil ist nur dann ein geeigneter Vollstreckungstitel, wenn eindeutig, auch für jeden Dritten, klar ist, was vollstreckt werden soll und welche Kriterien für den geschuldeten Anspruch festgelegt sind (OVG Magdeburg, Beschl. v. 19.04.2006 – 2 O 81/05 –, juris Rn. 7). Die für die Vollstreckbarkeit erforderliche hinreichende Bestimmtheit des Titels besteht, wenn sich aus ihm u. a. Art und Umfang der zu vollstreckenden Handlung ergeben. Maßgeblich ist der Tenor, dessen Inhalt und Grenzen eindeutig zu bezeichnen sind; ergänzend können aber die Entscheidungsgründe zur Auslegung herangezogen werden (OVG Hamburg, Beschl. v. 14.02.2017 – 1 So 63/16 –, juris Rn. 35; VGH München, Beschl. v. 12.07.2007 – 11 C 06.868 –, juris Rn. 28; Pietzner/Möller in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL 14 Februar 2022, VwGO § 172 Rn. 34; Heckmann in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 168 Rn. 14: Bestimmtheit i. S. v. Bestimmbarkeit). Dies gilt auch dann, wenn im Erkenntnisverfahren die eindeutige Bezeichnung versehentlich unterblieben oder im Hinblick auf künftige Entwicklungen – etwa das Auflaufen weiterer Zinsen – nicht in vollem Umfange durchführbar ist (Pietzner/Möller in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, VwGO § 168 Rn. 9). In jedem Fall aber ist die Auslegung des Titels grundsätzlich auf urkundeninhärente Umstände beschränkt; die nötige Bestimmung muss aus dem Titel einschließlich etwaiger Entscheidungsgründe selbst möglich sein; eine Bezugnahme auf eine nicht zum Urteilsbestandteil erhobene Urkunde oder auf die Inhalte der Gerichtsakte genügt nicht. Damit soll das Erfordernis eines erneuten Erkenntnisverfahrens tunlichst vermieden werden (OVG Magdeburg, Beschl. v. 12.07.2011 – 3 O 475/10 –, juris Rn. 6 ff.; OVG Weimar, Urt. v. 17.12.2008 – 1 KO 750/07 –, juris Rn. 48 ff.; VGH München, Beschl. v. 28.04.2008, 11 C 05.2592, juris Rn. 12; OVG Magdeburg, Beschl. v. 19.04.2006 – 2 O 81/05 –, juris Rn. 7; Pietzner/Möller in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, VwGO § 168 Rn. 9). Soweit die Urteilsgründe oder Urkunden, auf die verwiesen wird, aussagekräftig sind, darf bzw. muss das Vollstreckungsorgan sie berücksichtigen, um ein neues Erkenntnisverfahren zu vermeiden (Heckmann in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 168 Rn. 14 m. w. N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_56">56</a></dt>
<dd><p>Zu weit geht hingegen die Auffassung der Vollstreckungsschuldnerin, wonach es über die beschriebene Auslegung des Urteilstenors hinaus nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten sein könne, im Vollstreckungsverfahren auch die Überlegungen und Wertungen aus dem Erkenntnisverfahren näher zu präzisieren, um einen sich anbahnenden Konflikt zwischen den Beteiligten wirksam zu befrieden und eine ansonsten notwendige Klage auf Feststellung des Inhalts einer aus sich heraus nicht hinreichend eindeutigen gerichtlichen Entscheidung durch eine im Verfahren nach § 172 VwGO erfolgende Konkretisierung zu ersetzen. Denn diese Überlegungen betreffen speziell die Vollstreckung von Bescheidungsurteilen nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, welche dazu dienen, den Ermessensspielraum der vollziehenden Gewalt zu wahren. Sie tragen dem Umstand Rechnung, dass es sich in diesen Fällen regelmäßig nicht vermeiden lässt, das von der öffentlichen Verwaltung Geschuldete nur in allgemein gehaltener Weise zu umschreiben, so dass – über eine Auslegung hinaus – eine Präzisierung im Sinne eines „Weiterdenkens“ geboten und im Vollstreckungsverfahren nach § 172 VwGO ausnahmsweise zulässig erscheint (dazu VGH Kassel, Beschl. v. 11.05.2016 – 9 E 448/16 –, juris Rn. 26 und VGH München, Beschl. v. 12.07.2007 – 11 C 06.868 –, juris Rn. 31 f.). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Einer Präzisierung im Sinne eines „Weiterdenkens“ bedarf es allerdings auch nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_57">57</a></dt>
<dd><p>bb. Allerdings ergibt schon die Auslegung des Urteilstenors anhand von Tatbestand und Entscheidungsgründen hinreichend bestimmt, dass mit der Formulierung „alle“ vertraglichen Vereinbarungen lediglich diejenigen neun Vereinbarungen vom 21. April 2008 gemeint sind, die im Klageantrag namentlich bezeichnet sind – nicht aber solche Vereinbarungen, die zum Zeitpunkt der Antragstellung am 29. September 2009 oder der Sperrerklärung aus dem Jahre 2014 noch nicht vorlagen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_58">58</a></dt>
<dd><p>(1) Eine erste Eingrenzung ergibt sich schon aus dem Tenor des Teilurteils selbst, der die ausgesprochene Verpflichtung der Vollstreckungsschuldnerin inhaltlich mit den Schreiben der Beigeladene zu 2 vom 7. Februar und 21. August 2014 verknüpft. Die genannten Vereinbarungen werden auf den Umfang beschränkt, in welchem „diese“ mit den genannten Schreiben nicht als geheimhaltungswürdig eingestuft wurden. Verdeutlicht wird diese inhaltliche Verknüpfung durch die die Entscheidungsgründe einleitende Umschreibung des klägerischen Anspruches: „Der Kläger hat einen Anspruch auf Zugänglichmachung <span style="text-decoration:underline">der </span><em>(nicht: „alle“)</em> vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Beklagten und der beigeladenen H., soweit es die Zugänglichmachung <span style="text-decoration:underline">der angeforderten Unterlagen</span> in dem Umfang betrifft, den das Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein mit Schreiben vom 07.02.2014 und 21.08.2014 nicht als schützenswerte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse angesehen hat (Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 83).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_59">59</a></dt>
<dd><p>(2) Tatbestand und Entscheidungsgründe bestätigen diese Eingrenzung und ergeben, dass eine weitergehende eindeutige Bezeichnung im Tenor selbst nur versehentlich unterblieben sein kann und dass nach Antragstellung am 29. September 2009 oder gar nach der Sperrerklärung aus dem Jahre 2014 geschlossene Vereinbarungen nicht gemeint sind. Schon die Einleitung im Tatbestand verdeutlicht dies, indem sie das klägerische Begehren auf Verträge beschränkt, die die Vollstreckungsschuldnerin „aufgrund ihres Eigentums am Hafengelände mit der H. <span style="text-decoration:underline">geschlossen hat</span>“ (Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 1). Maßgeblich ergibt sich die gewollte Eingrenzung letztlich aus dem im Tatbestand aufgeführten Klageantrag. Hier sind die Verträge namentlich bezeichnet, in die der Vollstreckungsgläubiger Einsicht begehrte. Der Klageantrag muss nach Maßgabe des § 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO aus sich selbst heraus verständlich sein, indem er Art und Umfang des begehrten Rechtsschutzes benennt. Er legt den Streitgegenstand fest, steckt den Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis ab und muss zu einer vollstreckungsfähigen Entscheidung führen können (BVerwG, Urt. v. 05.09.2013 – 7 C 21.12 –, juris Rn. 54; Riese in: Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 82 Rn. 25). Vorliegend war der Klageantrag auf die Verpflichtung gerichtet, dass dem Vollstreckungsgläubiger „eine ungeschwärzte Ablichtung aller vertraglichen Vereinbarungen, die zwischen der Beklagten und der ...-gesellschaft mbH <span style="text-decoration:underline">bestehen</span>“, übermittelt werden, „insbesondere …“. Nach dem Wort „insbesondere“ folgt eine Aufzählung von insgesamt neun Vereinbarungen vom 21. April 2008, jeweils nebst Anlagen und späteren Änderungen (ein Nutzungsvertrag, fünf Mietverträge, ein Hafenbahnvertrag sowie ein Vertrag über die Rückgabe der Hafenbahn und über die Rückgabe der Hafennebenflächen; s. Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 11-20).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_60">60</a></dt>
<dd><p>Die Verwendung des Wortes „insbesondere“ könnte zwar die Vermutung nahelegen, dass das klägerische Begehren mit der namentlichen Aufzählung der neun Verträge noch nicht erschöpft sein sollte, doch fehlt es dem Klageantrag insoweit an der gebotenen Bestimmtheit, um den Streitgegenstand darüber hinaus hinreichend klar zu definieren und zu einer vollstreckungsfähigen Entscheidung zu führen. Entsprechend ergibt sich auch aus dem zu vollstreckenden Teilurteil nicht, dass sich das erkennende Gericht mit weiteren Verträgen, die sich hinter dem Wort „insbesondere“ hätten verbergen könnten, bei der Entscheidungsfindung befasst hätte. Vielmehr beschränkte es sich auf die neun im Antrag namentlich bezeichneten Vereinbarungen. Dies ergibt sich aus Folgendem:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_61">61</a></dt>
<dd><p>Auf Antrag des Vollstreckungsgläubigers vom 29. September 2009 lehnte die Vollstreckungsschuldnerin den Antrag „dem Grunde nach ab, übersandte dem Kläger aber … teilweise geschwärzte Auszüge aus den begehrten Unterlagen“ (Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 6). Dieselben Auszüge übermittelte sie an das erkennende Gericht und eben diese Auszüge aus den „begehrten Unterlagen“ waren Gegenstand der Prüfung durch das beigeladene Innenministerium (Teilurt. v.21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 27). Die im Tatbestand aufgeführten, vom beigeladenen Innenministerium als geheimhaltungsbedürftig eingestuften Passagen werden acht Vereinbarungen zugeordnet, die der Bezeichnung nach mit denen aus dem Klageantrag übereinstimmen (Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 28-76); dass allein der Vertrag über die Rückgabe der Hafenbahn fehlt, besagt an dieser Stelle lediglich, dass er keine geheimhaltungsbedürftigen Inhalte enthält. Diese Vereinbarungen waren sodann Gegenstand des In-Camera-Verfahrens (Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 77-79), bevor das Verwaltungsgericht über das klägerische Begehren entschied.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_62">62</a></dt>
<dd><p>Gegenstand der gerichtlichen Prüfung und Erörterungen in den Entscheidungsgründen sind lediglich diese neun Vereinbarungen („begehrten Unterlagen“) aus dem InCamera-Verfahren. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass das erkennende Gericht nach Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen des § 3 IZG-SH allein mit Blick auf diese Vereinbarungen das Vorliegen von Ausschlussgründen geprüft hat. Es führt aus, dass dem Anspruch „hinsichtlich der nicht im Sperrvermerk als geheimhaltungsbedürftig eingestuften Unterlagen“ keine Ausschlussgründe entgegenstünden. Zum anderen stützt das erkennende Gericht diese Feststellung „mangels eigener Kenntnis von den streitgegenständlichen Unterlagen … auf die Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 27. April 2016 – 20 F 13.15 –, juris)“ aus dem In-Camera-Verfahren (Teilurt. v. 21.09.2017 – 12 A 79/13 –, juris Rn. 90).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_63">63</a></dt>
<dd><p>b. Soweit das Verwaltungsgericht in seinem hier angegriffenen Beschluss auf den Beschluss des Senats vom 2. Mai 2019 zum Aktenzeichen 4 LA 128/17 und hier speziell auf den unter 1.b) enthaltenen zweiten Absatz (in juris Rn. 7) verweist, führt dies vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Mit ihrem dort behandelten Antrag auf Zulassung der Berufung hatte die Vollstreckungsschuldnerin unter anderem ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Teilurteils vom 21. September 2017 (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht und diese damit begründet, dass das erkennende Gericht nicht durch Teilurteil habe entscheiden dürfen, weil dieses „zu ungenau“ sei, eine Divergenz zum bisherigen Streitgegenstand vorliege und dem derzeitigen Antrag das fehlende Vorverfahren entgegenstehe. Dieses Vorbringen scheiterte aus rechtlichen Gründen an den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Der Senat vermochte sich dem schon deshalb nicht anzuschließen, weil nicht deutlich geworden war, warum unter diesen Aspekten zwischen den vom Verwaltungsgericht getrennten Teilen des Streitgegenstandes eine wechselseitige Abhängigkeit bestehen könnte, die Voraussetzungen des § 110 VwGO für den Erlass eines Teilurteils also nicht vorgelegen haben sollen. Inwieweit sich in diesem Zusammenhang die Probleme eines „ungenauen“ Tenors, einer Abweichung vom „bisherigen“ Streitgegenstand und einer fehlenden Durchführung des Vorverfahrens erneut stellen könnten, war nicht ersichtlich (Beschl. des Senats v. 02.05.2019 – 4 LA 128/17 – zu 1.a.), juris Rn. 3 und 5). Diese Probleme waren demnach nicht mehr entscheidungserheblich, weil sie zur Frage der Zulässigkeit eines Teilurteils nichts beitrugen. Soweit der Senat sie in den nachfolgenden Ausführungen unter 1.b) dennoch behandelte („Abgesehen davon“), erschienen sie „auch für sich genommen nicht nachvollziehbar“ (Beschl. des Senats v. 02.05.2019 – 4 LA 128/17 – juris Rn. 6 ff.). Insbesondere der Tenor wurde in diesem Zusammenhang nur noch isoliert betrachtet und nicht – wie hier – unter Heranziehung von Tatbestand und Entscheidungsgründen ausgelegt. Hierzu bestand kein Anlass. Soweit sich daraus die Aussage ergibt, dass dem Vollstreckungsgläubiger damit auch der Zugang zu „allen“ Verträgen zu gewähren sei, die nach Abgabe der Sperrerklärung geschlossen wurden, hält der Senat daran aus den unter 2. a. bb. genannten Gründen nicht mehr fest.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_64">64</a></dt>
<dd><p>c. Der ihr mit dem Teilurteil auferlegten Verpflichtung auf Zugänglichmachung der neun im Klageantrag aufgezählten Verträge, soweit diese vom beigeladenen Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein nicht mit Schreiben vom 7. Februar und 21. August 2014 als geheimhaltungswürdig eingestuft sind, ist die Vollstreckungsschuldnerin bislang schon deshalb nicht nachgekommen, weil sie noch keinen entsprechenden Verwaltungsakt erlassen hat. Das Schreiben vom 4. Juli 2019, mit welchem sie dem Vollstreckungsgläubiger Kopien der in Rede stehenden vertraglichen Vereinbarungen übersandte, erschöpft sich in einer bloßen Mitteilung, stellt nach Inhalt und Form aber keinen Verwaltungsakt i. S. d. § 106 Abs. 1 LVwG dar; insbesondere enthält es keine eigenständige Einzelfallregelung (vgl. zu einem ähnlichen „Offenbarungsschreiben“ Beschl. des Senats v. 31.03.2021 – 4 O 13/21 –, juris Rn. 5). Hinzu kommt, dass die übersandten Kopien Schwärzungen enthalten, die im Sperrvermerk des Innenministeriums vom 7. Februar / 21. August 2014 nicht vorgesehen sind. Die diesbezüglichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 28. April 2022 (Seite 9 unten) greifen die Vollstreckungsschuldnerin und die Beigeladene zu 2 auch nicht an. Aufgelistet werden</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_65">65</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">- hinsichtlich des Hafenbahnvertrages vom 21. April 2008: eine unzulässige Schwärzung unter Punkt 8.3 und hinsichtlich der Anlage 3.8,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_66">66</a></dt>
<dd><p style="margin-left:18pt">- hinsichtlich des Nutzungsvertrages vom 21. April 2008: eine unzulässige Schwärzung im Inhaltsverzeichnis zu den §§ 16 und 17 und hinsichtlich Anlage 14.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_67">67</a></dt>
<dd><p>3. Die Androhung eines Zwangsgeldes im oberen Rahmen des § 172 Satz 1 VwGO erscheint unter den gegebenen Umständen nicht geboten. Es kann nicht außer Betracht bleiben, dass der Vollstreckungsgläubiger aufgrund des Übersendungsschreibens vom 4. Juli 2019 bereits über teilgeschwärzte Kopien der neun Vereinbarungen verfügt, die Vollstreckungsschuldnerin also schon gezeigt hat, dass sie prinzipiell willens ist, dem gegen sie ergangenen Teilurteil Folge zu leisten. Lediglich der behördlich geschuldete, vor dem eigentlichen Informationszugang liegende Zwischenschritt in Form eines Verwaltungsaktes und die Entfernung weniger Schwärzungen fehlt noch. Der Zweck der Vollstreckung – die Erfüllung der Verpflichtung herbeizuführen – ist damit zwar noch nicht erreicht, doch wäre es unangemessen zu unterstellen, dass das Verhalten der Vollstreckungsschuldnerin noch einer – im Rahmen des § 172 VwGO bleibenden, aber – nachhaltigen Zwangs- und Beugemaßnahme bedarf, um das geschuldete Verhalten durchzusetzen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_68">68</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 162 Abs. 3 VwGO. Ausgehend von dem über beide Instanzen verfolgtem Begehren des Vollstreckungsgläubigers entspricht das Unterliegen der Vollstreckungsschuldnerin und der Beigeladenen nur einem geringen und deshalb vernachlässigungsfähigen Umfang. Von den Kosten der Beigeladenen trägt der Vollstreckungsgläubiger lediglich die im Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten der Beigeladenen zu 1, weil nur sie und dies auch nur im Beschwerdeverfahren einen eigenen Antrag gestellt hat und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_69">69</a></dt>
<dd><p>Eine Streitwertfestsetzung erübrigt sich, da nach Ziffer 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG (Kostenverzeichnis) für Verfahren über nicht besonders aufgeführte Beschwerden, die nicht nach anderen Vorschriften gebührenfrei sind, eine Festgebühr erhoben wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_70">70</a></dt>
<dd><p>Der Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
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<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 3. Kammer - vom 6. September 2022 wird insgesamt zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der vom Verwaltungsgericht im Beschluss vom 6. September 2022 festgesetzte Streitwert wird geändert und ebenfalls auf 5.000,- Euro festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>I.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Im Streit ist die Vollziehung eines Bescheides des Antragsgegners vom 30. August 2022, mit dem eine Versammlung in Form eines Protestcamps im Stadtpark der Gemeinde Sylt (OT Westerland) mit Ablauf des 31. August 2022 aufgelöst wurde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Den von den Antragstellern am 31. August 2022 gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 30. August 2022 hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 6. September 2022 als zulässig, aber unbegründet abgelehnt. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung sei ausschlaggebend, dass sich der Bescheid vom 30. August 2022 nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig darstelle. Zwar könne davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Protestcamp um eine geschützte Versammlung handele, doch lägen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Auflösung vor. Der Schutz von auf längere Zeit angelegten Protestcamps sei nicht grenzenlos. Vorliegend sei eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit für den Fall einer Fortsetzung des Protestcamps über den ursprünglich angezeigten Zeitpunkt hinaus in der Auflösungsverfügung des Antragsgegners vom 30. August 2022 überzeugend beschrieben worden. Die bereits bisher aufgetretenen Gefahren für die Gesundheit sowie das Eigentum Dritter und Natur und Umwelt seien nicht mehr zu verantworten. Die beschränkende Verfügung des Antragsgegners vom 3. August 2022 sei zu keinem Zeitpunkt erfüllt worden. Mit dem mitten in Westerland aufgebauten Protestcamp seien erhebliche Lärmbelästigungen für die Anwohnerinnen und Anwohner verbunden, die jedenfalls nach der aktuellen Entwicklung als eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu bewerten seien. Wie die polizeilich dokumentierten Vorfälle am 31. August 2022 zeigten, sei auch nicht mehr damit zu rechnen, dass nächtliche Ruhestörungen durch Hinweise abgestellt werden könnten; vielmehr sei mit einer zunehmenden Rücksichtslosigkeit zu rechnen. Mit den unzureichenden sanitären Verhältnissen im Camp und der unmittelbaren Gefahr einer rücksichtslosen Lärmbelastung sei inzwischen eine unmittelbare Gefahr eingetreten, die es als verhältnismäßig erscheinen lasse, eine Fortsetzung des Protestcamps über den 31. August 2022 hinaus zu unterbinden. Soweit mit der Antragsbegründung eine Besserung der Verhältnisse angekündigt worden sei, überzeuge dies nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Dagegen richtet sich die am 9. September 2022 beim Oberverwaltungsgericht eingelegte Beschwerde der Antragsteller. Der Antragsgegner ist dem entgegengetreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>II.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>I. Der Senat geht davon aus, dass die Beschwerde von beiden Antragstellern des erstinstanzlichen Verfahrens eingelegt worden ist. Die Beschwerdeschrift führt einleitend zwar nur den Antragsteller zu 1 auf, beantragt die Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses jedoch „namens der Antragsteller und kraft beiliegenden Nachweises der Bevollmächtigung – die Bevollmächtigung des Beschwerdeführers zu 2) wird anwaltlich versichert“.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ist abzulehnen, da es für die Beschwerde an den erforderlichen Erfolgsaussichten fehlt (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Aus den gleichen Gründen hat auch die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe durch das Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Im Übrigen liegen auch die nach § 117 Abs. 2 und 4 ZPO erforderlichen Unterlagen nicht vor. Die fehlenden Erfolgsaussichten ergeben sich aus den nachfolgenden Gründen:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>III. 1. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 6. September 2022 ist zulässig. Eine Einlegung unmittelbar beim Beschwerdegericht ist möglich, sie wahrt ebenfalls die zweiwöchige Beschwerdefrist, § 147 Abs. 2 VwGO. Dies gilt auch für Beschwerden nach § 146 Abs. 4 VwGO in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 147 Rn. 6).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>2. Die Beschwerde ist allerdings unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>a. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft und zulässig ist. Ob die Antragsteller ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. August 2022 beim Antragsgegner erhoben haben, wie sie nunmehr behaupten, kann aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen dahinstehen, da die Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO noch läuft. Dieser hätte im Übrigen gemäß § 13 Abs. 6 Satz 2 VersFG SH keine aufschiebende Wirkung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>b. In der Sache bleibt der Antrag aber ohne Erfolg. Denn die zur Begründung der Beschwerde dargelegten Gründe, die allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), stellen das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage. Nur hierauf kommt es gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO an. Die Beschwerdebegründung muss sich gegen konkrete Argumente und Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts wenden und im Einzelnen begründen, warum die Entscheidung änderungsbedürftig bzw. unrichtig sein soll (Beschl. des Senats v. 20.05.2022 - 4 MB 16/22 -, juris Rn. 19; Beschl. v. 12.10.2021 - 4 MB 39/21 -, juris Rn. 2).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Aus den vorgenannten Gründen führt allein die Rüge, dass das Verwaltungsgericht bei der Rechtmäßigkeitsprüfung zwischen Güterabwägung und Gefahrenprognose nicht vollständig zu trennen scheine, noch nicht dazu, dass der angegriffene Beschluss zu ändern ist. Dass die vor Auflösung einer Versammlung anzustellende Gefahrenprognose oder die anschließend gebotene Güterabwägung unrichtig beurteilt worden wären, ergibt sich daraus noch nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Aus dem übrigen Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass der Bescheid vom 30. August 2022 entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts offensichtlich rechtswidrig ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Nach § 13 Abs. 1 VersFG SH kann die zuständige Behörde die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel beschränken oder verbieten, die Versammlung nach deren Beginn auch auflösen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahme erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG, § 2 VersFG SH ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Geschützt sind auch solche Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmenden ihre Meinungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Weise als in verbaler Form zum Ausdruck bringen (so schon Urt. des Senats v. 14.02.2006 - 4 LB 10/05 -, juris Rn. 39 m.w.N.). Dass es sich vorliegend um eine solche Versammlung handelt, wird zugunsten der an dem Camp teilnehmenden Personen sowohl vom Antragsgegner als auch vom Verwaltungsgericht unter Verweis auf die jüngste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Besonderheiten einer Versammlung in Form eines Protestcamps (BVerwG, Urt. v. 24.05.2022 - 6 C 9.20 - juris) angenommen. Diese rechtliche Einordnung soll auch im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht in Frage gestellt werden. Denn anzuerkennen ist, dass auf längere Dauer angelegte „gemischte Veranstaltungen“, die jedenfalls auch Elemente einer Versammlung i.S.d. Art. 8 GG enthalten, einschließlich ihrer logistisch erforderlichen infrastrukturellen Einrichtung im Zweifel als Versammlung anzuerkennen sind (BVerwG a.a.O. Rn. 21 f., 27 m.w.N.) und sich zudem auch spontan entwickeln können.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die für ein Verbot, eine Auflösung oder eine Beschränkung erforderliche unmittelbare Gefahr entnimmt das Verwaltungsgericht den bis zum Erlass der Maßnahme aufgetretenen Gefahren für die Gesundheit sowie das Eigentum Dritter einerseits und für Natur und Umwelt andererseits. Diese ergäben sich aus den unzureichenden sanitären Einrichtungen im Camp und den sich daran anschließenden Verschmutzungen und Geruchsbeeinträchtigungen in der Umgebung des Camps. Außerdem führt das Gericht erhebliche Lärmbelästigungen für die Anwohnerinnen und Anwohner an. Für die Zeit vom 23. Juli bis zum 31. August 2022 seien zehn Ruhestörungen polizeilich dokumentiert. Die diesen Ausführungen zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen stellt die Beschwerde nicht in Frage. Dass betroffene Dritte, deren Rechtsgüter beeinträchtigt sein könnten, im Beschluss abstrakt blieben und nicht „konkret dargelegt“ würden, ändert nichts an der Richtigkeit dieser Feststellungen. Diese sind im Verwaltungsvorgang näher dokumentiert. Es finden sich dort zahlreiche Beschwerden von Anwohnenden, Marktbeschickern und Mitarbeitenden im benachbarten Rathaus sowie polizeiliche Berichte, die belegen, dass die an der Versammlung teilnehmenden Personen ihre Notdurft auf öffentlichen und privaten Flächen verrichteten und dass es mehrfach zu nächtlichen Ruhestörungen kam.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Gegen die anhand dieser Feststellungen angenommene unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aufgrund einer positiven Gefahrenprognose ist nichts zu erinnern. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung lagen entsprechend erkennbare Umstände vor. Mit Blick auf die Vorerfahrungen mit dem Campleben in der Zeit bis zum Erlass der streitigen Maßnahme am 30. August 2022 durfte der Antragsgegner annehmen, dass die gegebene Sachlage bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen führt. Dabei wird nicht verkannt, dass die Behörde unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit bei dem Erlass von vorbeugenden Verfügungen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen darf und dass als Grundlage der Gefahrenprognose konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich sind, während bloße Verdachtsmomente und Vermutungen nicht ausreichen (BVerfG, Beschl. v. 06.06.2007 - 1 BvR 1423/07 -, juris Rn. 17; Beschl. v. 26.01.2001 - 1 BvQ 8/01 -, juris Rn. 11; Beschl. des Senats v. 29.03.2012 - 4 MB 22/12 -, juris Rn. 5 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Zur öffentlichen Sicherheit zählen neben der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung vor allem auch die subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen. Geschützt werden demnach sowohl Individual- wie auch Gemeinschaftsrechtsgüter (BVerwG, Urt. v. 28.03.2012 - 6 C 12.11 -, NJW 2012, 2676 Rn. 23). Dies gilt auch mit Rücksicht auf die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit. Denn deren Ausübung gibt keine Rechtfertigung für strafbares oder ordnungswidriges Verhalten. Ein allgemein verbotenes Verhalten wird nicht dadurch rechtmäßig, dass es gemeinsam mit anderen in Form einer Versammlung erfolgt. Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 - juris, Rn. 53 f.; Urt. des Senats v. 14.02.2006 - 4 LB 10/05 -, juris Rn. 44; VG Meiningen, Beschl. v. 01.06.2018 - 2 E 835/18 Me -, juris Rn. 25).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für die Gefahrenprognose ergaben sich daraus, dass die Schwelle zu einem Verstoß gegen die Rechtsordnung seit Bestehen des Camps und bis zum Erlass der Maßnahme bereits mehrfach überschritten worden war. Zunächst wurde die wirksame und vollziehbare Verfügung des Antragsgegners vom 3. August 2022, nach der u.a. sanitäre Anlagen vorzuhalten gewesen wären, durchgehend nicht erfüllt. Folge dessen war, dass es durch Verrichten der Notdurft im öffentlichen und privaten Raum zu einem Verstoß gegen § 118 OWiG kam. Hinzu tritt der ruhestörende Lärm als Verstoß gegen § 117 OWiG. Diese Verstöße führten zugleich zu Beeinträchtigungen weiterer Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit, nämlich der Unversehrtheit der Gesundheit Einzelner (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 30.11.2012 - 11 KN 187/12 -, NordÖR 2013, 113, juris Rn. 68) und des Eigentums Dritter als auch von Natur und Umwelt (vgl. etwa VG Magdeburg, Beschl. v. 23.11.2021 - 3 B 321/21 -, juris: Abwasserbeseitigung zwecks Grundwasserschutz in einem Protestcamp).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Antragsteller führen demgegenüber an, dass die „Toilettenauflage“ rechtswidrig gewesen sei, wenn – wie hier – ausreichend öffentliche Toiletten in erreichbarer Nähe zur Verfügung stünden. Zudem habe der Antragsgegner auf Antrag zu den bereits vorhandenen, durch die Gemeinde aufgestellten Toiletten zwei zusätzliche Chemietoiletten aufgestellt. Weitere öffentliche Toiletten befänden sich in der näheren (bis zu 500 m reichenden) Umgebung. Im Übrigen sei der Antragsteller zu 1 auf Transferleistungen angewiesen und könne dergleichen nicht aus eigenen Mitteln finanzieren. Dies werfe die Frage auf, ob durch eine derartige Auflage nicht der Zugang zur Wahrnehmung des Versammlungsgrundrechts für Einkommensschwache unangemessen eingeschränkt werde. Dieser Frage muss vorliegend ebenso wenig nachgegangen werden wie die der Rechtswidrigkeit aufgrund des Vorhandenseins ausreichender öffentlicher Toiletten. Denn es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass sich einer der Adressaten des Auflagenbescheides vom 3. August 2022 gegen diesen im Allgemeinen oder auch nur gegen dessen Ziffer 11 gewandt hätte, die bestimmt, dass sanitäre Anlagen vorzuhalten sind und je 15 Personen eine Chemietoilette bereitzustellen ist. Die Auflage ist verbindlich. Sie wurde wirksam erlassen und ist vollziehbar, ohne dass es auf eine etwaige Rechtswidrigkeit ankommt. Im Übrigen ist dem Verwaltungsvorgang zu entnehmen, dass den Antragstellern vonseiten der Gemeinde Sylt geraten worden ist, bei ihr einen Antrag auf Kostenübernahme für die Toiletten zu stellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Dass die „Toilettenauflage“ für die Zukunft eingehalten werden wird, war bis zum maßgeblichen Zeitpunkt bei Erlass des Bescheides weder erkennbar noch geltend gemacht worden. Die Antragsteller konkretisieren zwar nunmehr, dass zurzeit 4 „Dixie“-Toiletten und damit bei der aktuellen Teilnehmerzahl doppelt so viele, wie im Auflagenbescheid vorgesehen, vorhanden seien, doch stellt dies, auch wenn es zutreffen sollte, die ex ante zu beurteilende Prognoseentscheidung nicht in Frage. Im Übrigen führen die Antragsteller auch nicht aus, ob dies von ihnen selbst in Erfüllung der Auflage oder vonseiten der Gemeinde veranlasst worden ist. Ebenso wenig war nachvollziehbar dargelegt, dass sich die hygienischen Verhältnisse trotz Rückgangs der Teilnehmerzahl bessern sollten. Beides war zum Zeitpunkt der Prognosestellung noch relevant. Denn anders als die Antragsteller behaupten, hatte der Hauptausschuss der Gemeinde Sylt (und nicht der Antragsgegner) erst nach Nichterfüllung der Auflage und Auftreten des hygienischen Notstandes beschlossen, zwei zusätzliche Toiletten aufzustellen. Die Antragsteller erläutern auch nicht, warum es in der Vergangenheit überhaupt zu den beschriebenen Verschmutzungen gekommen ist, wenn es denn nach ihrer Meinung ausreichende öffentliche Toiletten gegeben hat. Ebenso bleibt der Vortrag, dass es wegen der Verringerung der Teilnehmerzahl zum Zeitpunkt der Auflösungsverfügung nicht mehr zu unzumutbaren Lärmbelästigungen gekommen sei, eine nicht weiter unterlegte Behauptung. Ohne dass es wegen des maßgeblichen Zeitpunktes bei Erlass der Maßnahme noch darauf ankäme, bleibt im Übrigen anzumerken, dass auch die nunmehr vorgetragene Erstellung eines Nachtruhe- und Lärmschutzkonzeptes, das Bemühen um die Einhaltung der Nachtruhe von 22:00 Uhr bis 10:00 Uhr noch kein Garant für das künftige Unterbleiben von Lärmbelästigungen ist. Der vom Antragsgegner übersandte Polizeibericht über das vergangene Wochenende vom 9. bis 11. September 2022 bestätigt dies auch nicht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>In Bezug auf die ausgesprochene Rechtsfolge einer Auflösung i.S.d. § 13 Abs. 1 VersFG werfen die Antragsteller die Frage auf, ob dem „für eine demokratische Gesellschaftsordnung konstituierenden“ Versammlungsgrundrecht bei der Güterabwägung hinreichend Rechnung getragen worden sei. Die „aufgeworfenen“ Gefahren für die öffentliche Sicherheit verblieben allesamt im Ordnungswidrigkeitsbereich. Sie meinen, dass sich die Auflösung als der schwerwiegendste mögliche Eingriff in die Versammlungsfreiheit voraussichtlich als rechtswidrig erweisen werde. Es sei nicht dargelegt, warum es zu einer sofortigen Auflösung kommen müsse und nicht ersichtlich, dass über weitere Auflagen als mildere Mittel nachgedacht worden sei. Auch dies führt nicht zum Erfolg der Beschwerde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Grundsätzlich gilt, dass Eingriffe in die Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig sind (BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 - 1 BvQ 94/20 -, juris Rn. 16). Zu den prinzipiell gleichwertigen anderen Rechtsgütern gehört insbesondere das Grundrecht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, seien dies die Versammlungsteilnehmer*innen selbst oder außenstehende Personen. Insoweit trifft den Staat zudem eine grundrechtliche Schutzpflicht (BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 - 1 BvQ 94/20 -, juris Rn. 16). Ebenso finden Natur und Umwelt als Bestandteile der natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20a GG ihren verfassungsrechtlichen Schutz. Für den Fall, dass die Durchführung einer Versammlung derartige Rechtsgüter gefährdet, ist es mithin Aufgabe der Behörde, die wechselseitigen Interessen zum Ausgleich zu bringen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Gleichwertige Rechtsgüter lagen damit vor. Unerheblich für die gebotene Abwägung bleibt, dass die Situation in der Nacht vom 30. auf den 31. August 2022 – damit nach Erlass des streitgegenständlichen Auflösungsbescheides – anlässlich wiederholter Beschwerden über Lärmbelästigungen im Rahmen der Polizeieinsätze eskalierte und es zu Gewahrsamsnahmen und diversen Strafanzeigen kam. Zutreffend führen die Antragsteller aus, dass diese Vorfälle nicht Gegenstand der Ermessenserwägungen des Antragsgegners waren und auch nicht im Nachhinein sein können, weil § 13 Abs. 1 VersFG SH ausdrücklich auf die zur Zeit des Erlasses der Maßnahme erkennbaren Umständen abstellt. Gleiches gilt für die Sachverhalte vom vergangenen Wochenende, die der Antragsgegner mit seiner Beschwerdeerwiderung noch vorträgt. Allerdings hat das Verwaltungsgericht dies auch nicht verkannt. Die Erwähnung des Vorfalles vom 31. August 2022 diente dem Gericht ersichtlich nur als nachträgliche Bestätigung der getroffenen Gefahrenprognose, ohne dass es darauf entscheidungserheblich angekommen wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Richtig ist, dass das Verbot einer Versammlung oder deren Auflösung grundsätzlich nur als ultima ratio und erst in Frage kommen, wenn unmittelbar bevorstehende Gefahren nicht durch Auflagen oder durch sonstige, den Behörden obliegende Schutzmaßnahmen zugunsten der Versammlung abgewehrt werden können (BVerwG, Beschl. v. 05.03.2020 - 6 B 1.20 - NVwZ-RR 2020, 687 Rn. 8; Urt. des Senats v. 14.02.2006 - 4 LB 10/05 -, juris Rn. 44, 50 zu § 15 Abs. 1-3 VersG). Dabei rechtfertigen alle Gesichtspunkte der öffentlichen Sicherheit, die eine Auflage rechtfertigen, als ultima ratio auch ein Verbot (oder eine Auflösung), wenn die Auflage als Schutz nicht ausreicht oder der Veranstalter sich nicht an die Auflage halten wird (Kniesel/Poscher in: Lisken/Denninger PolR-HdB, 7. Aufl. 2021, J. Versammlungsrecht Rn. 383).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Soweit es gilt, Beeinträchtigungen geschützter Rechtsgüter zu verhindern, die durch die Dauer eines Protestcamps hervorgerufen werden, stellt der Erlass einer die Dauer eines Protestcamps beschränkenden Verfügung darüber hinaus ein probates Mittel dar, um unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine praktische Konkordanz zwischen dem durch eine solche Veranstaltung ausgeübten Grundrecht der Versammlungsfreiheit und den Rechten Dritter sowie den betroffenen öffentlichen Belangen herzustellen. Dabei erlangen die letztgenannten Rechte und Belange im Rahmen der Abwägung ein umso höheres Gewicht, je länger ein Protestcamp absehbar dauern wird (BVerwG, Urt. v. 24.05.2022 - 6 C 9.20 - juris Rn. 24). So liegt es hier.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Dahinstehen kann, ob es sich um ein im Vorfeld der Versammlung erlassenes „Verbot“ oder eine nach Beginn der Versammlung ausgesprochene „Auflösung“, die prinzipiell als Beendigung einer bereits durchgeführten Versammlung verstanden wird und die zum Ziel hat, die Personenansammlung zu zerstreuen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.04.2007 - 1 BvR 1090/06 -, BVerfGK 11, 102-118, juris Rn. 45), handelt. Die gesetzlichen Voraussetzungen in § 13 Abs. 1 und 2 VersFG SH sind gleich. Auf jeden Fall diente die angegriffene Maßnahme ersichtlich der zeitlichen Beschränkung des ursprünglich nur bis zum 31. August 2022 als Versammlung angemeldeten Protestcamps. Bezugnehmend auf die Verlängerungsanzeige vom 26. August 2022 heißt es in dem Bescheid einleitend, dass die Versammlung über den 31. August 2022 (hinaus) nicht bis zum 1. Oktober 2022 verlängert werden könne. In der Begründung berief sich der Antragsgegner ausdrücklich auf die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und führte in Bezug auf die vom Camp ausgehenden Lärmbelästigungen aus, dass eine dauerhafte Beeinträchtigung von Grundrechten Dritter vorliege. Nach einer fast sechswöchigen Dauer der Versammlung und wegen der örtlichen Nähe zu Wohnungen und Betrieben könne eine weitere Beeinträchtigung der Anwohner nicht mehr hingenommen werden, zumal eine dauerhafte Kontrolle der Lärmbelästigung auch während der nächtlichen Ruhezeit nicht immer möglich sei.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Unzutreffend ist deshalb die Behauptung der Antragsteller, dass über weitere Auflagen als mildere Mittel nicht nachgedacht worden sei. Der Antragsgegner verweist darauf, dass es nicht möglich sei, den aufgeführten Störungen durch mildere Beschränkungen zu begegnen. Die bisher angeordneten Auflagen hätten nicht ausgereicht. Insbesondere hinsichtlich der Toiletten seien sie nicht befolgt worden. Eine Beschränkung der Versammlungszeit ohne Übernachtung im Stadtpark hätten die Antragsteller in einem Kooperations- und Anhörungsgespräch am 30. August 2022 abgelehnt. Das Verwaltungsgericht hat dies als verhältnismäßig bestätigt, ohne dass sich der Antragsteller damit noch näher auseinandersetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>V. Die Streitwertfestsetzung und -änderung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2, 63 Abs. 3 Nr. 2 GKG. Eine wegen gemeinschaftlichen Auftretens zweier Antragsteller gebotene Addition des Auffangstreitwertes entsprechend § 39 Abs. 1 GKG, Ziffer 1.1.3 des Streitwertkataloges der Verwaltungsgerichtsbarkeit (2013) kommt nicht in Betracht, da es sich um ein einheitliches Versammlungsgeschehen handelt und die Antragsteller als Veranstalter und in Ausübung eines kollektiven Grundrechts als Rechtsgemeinschaft auftreten und nicht nur als einfache Streitgenossen (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 17.08.2016 - 3 A 64/14 -, juris Rn. 56, Beschl. v. 20.12.2016 - 3 E 128/16 -, juris Rn. 4 ff.). Im Übrigen kommt eine Halbierung des Auffangwertes nach § 52 Abs. 2 GKG nach ständiger Rechtsprechung des Senats schon mangels gesetzlicher Anordnung und unabhängig von der Frage einer Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Frage. Dem nur vorläufigen Charakter einer Entscheidung nach § 80 bzw. § 123 VwGO trägt bereits das Gebührenrecht mit seinen im Verhältnis zum Hauptsacheverfahren geringeren Ansätzen Rechnung (vgl. Beschl. v. 24.08.2021 - 4 O 17/21 -, juris Rn. 6 und v. 14.10.2021 - 4 MB 49/21 -, juris Rn. 34).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
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<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Soweit die Antragstellerin zu 2. ihre Beschwerde zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Beschwerde der Antragstellerin zu 1. gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 7. April 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15.000 EUR festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>I.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin zu 1. wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses; sie befürchtet Beschränkungen ihres landwirtschaftlichen Betriebs aufgrund der von diesem ausgehenden Geruchsimmissionen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Die Antragstellerin zu 1. ist Eigentümerin der Hofstelle H. in der Stadt A-Stadt; der landwirtschaftliche Betrieb umfasst Futtermittelanbau und Schweinehaltung. Auf der Hofstelle befinden sich unter anderem Stallanlagen mit rund 1.080 Tierplätzen sowie eine Lagerhalle für Getreide. Der Betrieb verfügt zudem über einen etwa 400 m nördlich der Hofstelle gelegenen Außenstandort mit weiteren rund 1.650 Tierplätzen. Für alle Betriebsteile liegen bestandskräftige Genehmigungen vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Der Beigeladene ist Eigentümer des zwischen der Hofstelle und dem Außenstandort südlich der Ortsdurchfahrt gelegenen Grundstücks F-Straße. Das Grundstück, das ebenso wie die Hofstelle der Antragstellerin zu 1. im Geltungsbereich einer Innenbereichssatzung liegt, ist unter anderem mit einer Gastwirtschaft mit Nebengebäuden bebaut. Der Beigeladene plant die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit 11 Wohneinheiten im Südwesten seines Grundstücks in einem Abstand von etwa 100 m zum nächstgelegenen Gebäude auf der Hofstelle der Antragstellerin. Der Standort des Vorhabens ist ausweislich eines im Baugenehmigungsverfahren vorgelegten Geruchsgutachtens vom 17. Juni 2021 mit Gerüchen aus der Tierhaltung im Umfang von 15 % der Jahresstunden belastet. Auf dieser Grundlage erteilte der Antragsgegner unter dem 1. Oktober 2021 die Baugenehmigung, gegen die die Antragstellerin zu 1. einen bislang unbeschiedenen Widerspruch einlegte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Den nach Baubeginn gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 7. April 2022 abgelehnt. Soweit die Antragstellerin zu 1. einen Verstoß gegen die Vorgaben der Innenbereichssatzung zum zulässigen Maß der baulichen Nutzung bzw. der Anzahl der Wohneinheiten geltend mache, entfalte diese keinen Drittschutz. Seiner Art nach sei das Vorhaben im faktischen Dorfgebiet zulässig; dass es sich um ein Mehrfamilienhaus handele, laufe der Zweckbestimmung eines Dorfgebiets nicht zuwider. Ein „Umschlagen der Quantität in Qualität“ liege nicht vor. Auch das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Schädlichen Umwelteinwirkungen in Gestalt von Gerüchen aus der Landwirtschaft setze sich das Vorhaben nicht aus. Der für ein Dorfgebiet maßgebliche Immissionsrichtwert der Geruchsimmissionsrichtlinie von 15 % der Jahresstunden sei ausweislich des eingeholten Geruchsgutachtens eingehalten. Unzumutbaren Staubimmissionen und einer unzumutbaren Lärmbelastung setze sich das Vorhaben des Beigeladenen nicht aus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Gegen diesen Beschluss richtet sich - nach Rücknahme der Beschwerde im Übrigen - die Beschwerde der Antragstellerin zu 1., der der Antragsgegner und der Beigeladene entgegentreten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:90pt"><strong>II.</strong></p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragstellerin zu 2. ihre Beschwerde zurückgenommen hat, wird das Beschwerdeverfahren eingestellt (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO analog).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin zu 1. ist unbegründet. Die dargelegten Gründe rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>1.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Zu Unrecht beruft sich die Antragstellerin zu 1. auf eine Verletzung ihres Gebietserhaltungsanspruchs gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO. Das Vorhaben des Beigeladenen ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - in dem hier vorliegenden faktischen Dorfgebiet gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO zulässig. Auch ein Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO liegt nicht vor. Die in den §§ 2 bis 14 BauNVO aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen sind danach im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Die allein für die Art, nicht aber das Maß der baulichen Nutzung geltende Bestimmung geht davon aus, dass - ausnahmsweise - Quantität in Qualität umschlagen, mithin die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.3.1995 - 4 C 3.94 -, juris Rn. 17 = NVwZ 1995, 899 = BRS 57 Nr. 175). Auch diese Vorschrift ist nachbarschützend; sie vermittelt einen Anspruch auf Aufrechterhaltung der typischen Prägung eines Baugebiets (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.5.2002 - 4 B 86.01 -, juris Rn. 4 ff. = NVwZ 2002, 1384 = BRS 65 Nr. 66; Senatsbeschl. v. 28.5.2014 - 1 ME 47/14 -, BRS 82 Nr. 79 = juris Rn. 13).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Eine solche typische Prägung sieht die Antragstellerin zu 1. darin, dass in einem Dorfgebiet auf die Belange land- und forstwirtschaftlicher Betriebe einschließlich ihrer Entwicklungsmöglichkeiten vorrangig Rücksicht zu nehmen ist (§ 5 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Damit vertrage sich eine Zulassung besonders großer Mehrfamilienhäuser in der Nähe land- und forstwirtschaftlicher Betriebe nicht. Konfliktpotenzial resultiere daraus, dass ein Unterschied zwischen dem bestehe, was Menschen tatsächlich als störend empfänden und was rechtlich als unzumutbare und somit abwehrbare Störung gelte. Mittelfristig drohe durch die Zulassung derartiger Vorhaben daher der Charakter des Dorfgebietes verloren zu gehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Mit dieser Argumentation berücksichtigt die Antragstellerin zu 1. indes nicht ausreichend, dass das Dorfgebiet gemäß § 5 BauNVO ausdrücklich auch dem Wohnen dient. Eine Beschränkung auf bestimmte Wohnformen, etwa auf Ein- und Zweifamilienhäuser, ist damit nicht verbunden; zulässig ist vielmehr auch stärker verdichtetes Wohnen. Die von der Antragstellerin zu 1. sinngemäß vertretene Auffassung, in einem Dorfgebiet dürfe es jedenfalls in der Nachbarschaft land- und forstwirtschaftlicher Betriebe keine Mehrfamilienhäuser geben, ist dem geltenden Baurecht fremd. Vor diesem Hintergrund vermag das genehmigte Mehrfamilienhaus mit 11 Wohneinheiten und 17 Einstellplätzen die Prägung des Gebiets nicht in einer gemessen an § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO relevanten Weise zu beeinträchtigen. Der Ortsteil A. weist ausweislich der im Internet verfügbaren Luftbilder hinsichtlich der vorhandenen Gebäude eine dorfgebietstypisch heterogene Struktur auf. Das Vorhaben des Beigeladenen sticht insofern nicht besonders hervor. 11 Wohneinheiten stellen auch bei weitem keine Anzahl dar, die die Annahme, hier schlage „Quantität in Qualität“ um, rechtfertigen könnte. Richtig ist zwar die tatsächliche Betrachtung der Antragstellerin zu 1., dass weitere Nachbarn auch weitere potenzielle Beschwerdeführer bedeuten. Für die baurechtliche Betrachtung ist dies mit Blick auf die Wertung des § 5 BauNVO, der ausdrücklich Wohnen und Landwirtschaft innerhalb eines Gebietes gestattet, indes nicht maßgeblich, solange Beschwerden nicht rechtlich begründet sind. Etwaige Befindlichkeiten zukünftiger neuer Nachbarn können kein Anlass sein, einem Grundstückseigentümer die in § 5 BauNVO grundsätzlich zugesicherte Nutzungsmöglichkeit zu versagen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>2.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Ein Gebietserhaltungsanspruch lässt sich auch nicht unter Berufung auf die für den Ortsteil I. geltende Innenbereichssatzung der Stadt A-Stadt begründen. Wie die Antragstellerin zu 1. selbst ausführt, soll das Vorhaben des Beigeladenen gerade nicht in dem in der Satzung schraffierten Bereich entstehen, in dem gemäß § 3 eine Grundflächenzahl von 0,2, eine Mindestgröße von 1.000 qm pro Baugrundstück und eine Höchstzahl von einer Wohnung je Wohngebäude und je 1.000 qm Baugrundstück vorgegeben sind. Widerspricht das Vorhaben des Beigeladenen mithin den Vorgaben der Innenbereichssatzung nicht, liegt die Argumentation der Antragstellerin zu 1., aus der Innenbereichssatzung folge eine ihr günstige Begrenzung der baulichen Entwicklung auch mit Wirkung für den Bereich, in dem das Vorhaben des Beigeladenen realisiert werden soll, fern.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>3.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Ein Verstoß gegen das hier vermittelt über § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO wirksame Gebot der Rücksichtnahme liegt ebenfalls nicht vor. Danach sind Vorhaben unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden. Heranrückende Wohnbebauung verletzt nach diesen Maßgaben einem bestehenden emittierenden Betrieb gegenüber das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist dann der Fall, wenn der Betrieb durch die hinzutretende Bebauung mit nachträglichen Auflagen rechnen muss (vgl. Senatsurt. v. 12.6.2018 - 1 LB 141/16 -, RdL 2018, 318 = juris Rn. 23). Maßgeblich ist mit anderen Worten, ob die neuen Nachbarn mit Erfolg Nachbarrechte für sich reklamieren könnten. Die bloße Besorgnis, die Nachbarn könnten sich ohne rechtlichen Grund gegen die bestehende landwirtschaftliche Nutzung wenden und die Lage des landwirtschaftlichen Betriebs faktisch erschweren, ist rechtlich unbeachtlich. Gemessen daran liegt ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>a)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Unzumutbaren Störungen und Belästigungen in Gestalt schädlicher Umwelteinwirkungen (§ 3 Abs. 1 BImSchG) durch Geruchsbelästigungen setzt sich das Vorhaben des Beigeladenen bereits unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht aus. Zur Beurteilung der Zumutbarkeit von Geruchsbelästigungen orientiert sich der Senat in Fällen, die - wie dieser - noch nicht nach der zum 1. Dezember 2021 in Kraft getretenen Neufassung der TA Luft zu beurteilen sind, zwar grundsätzlich an den Immissionsrichtwerten der GIRL (Geruchsimmissionsrichtlinie v. 29.2.2008/10.9.2008, Gem. RdErl. v. 23.7.2009, Nds. MBl. 2009, 794; vgl. nur Senatsurt. v. 11.2.2020 - 1 LC 63/18 -, BauR 2020, 1764= juris Rn. 34; v. 30.6.2021 - 1 LC 120/17 -, BauR 2022, 56 = juris Rn. 42; v. 10.2.2022 - 1 LB 20/19 -, BauR 2022, 1027 = juris Rn. 29). Bei der Bestimmung der Zumutbarkeit von Belästigungen sind nach der vom Senat geteilten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts indes Vorbelastungen schutzmindernd zu berücksichtigen, die eine schutzbedürftige Nutzung an einem Standort vorfindet, der durch eine schon vorhandene emittierende Nutzung vorgeprägt ist. Im Umfang der Vorbelastung sind Immissionen zumutbar, auch wenn sie nach Maßgabe der Immissionsrichtwerte der GIRL in einem vergleichbaren Gebiet sonst nicht hinnehmbar wären (vgl. dazu bereits BVerwG, Urt. v. 18.5.1995 - 4 C 20.94 -, BVerwGE 98, 235 = BRS 57 Nr. 67 = juris Rn. 23). Soll in einem erheblich vorbelasteten Gebiet ein weiteres emittierendes Vorhaben zugelassen werden, ist das jedenfalls dann möglich, wenn hierdurch die vorhandene Immissionssituation verbessert oder aber zumindest nicht verschlechtert wird, sofern die Vorbelastung die Grenze zur Gesundheitsgefahr noch nicht überschritten hat (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und das - immissionsschutzrechtlich nicht genehmigungsbedürftige - Vorhaben den Anforderungen des § 22 Abs. 1 BImSchG genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.6.2017 - 4 C 3.16 -, BVerwGE 159, 187 = juris Rn. 13 m.w.N.; Senatsurt. v. 11.2.2020 - 1 LC 63/18 -, BauR 2020, 1764= juris Rn. 35; v. 30.6.2021 - 1 LC 120/17 -, BauR 2022, 56 = juris Rn. 42).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Diese Rechtsprechung, die unmittelbar die Genehmigung von landwirtschaftlichen Vorhaben bei nach Maßgabe der GIRL zu hoher Geruchsbelastung betrifft, hat Auswirkungen auch für den Nachbarschutz. Sie legt die für den Nachbarn geltende Zumutbarkeitsschwelle dann, wenn die vorgenannten Anforderungen erfüllt sind, höher. Ein neu hinzutretendes Vorhaben muss demzufolge die vorgefundene Geruchsbelastung, die sich aus einer im Rahmen der bestehenden Genehmigungen liegenden Wirtschaftsweise ergibt, als schutzmindernd und damit als zumutbar im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, § 3 Abs. 1 BImSchG hinnehmen. Mit Abwehransprüchen aufgrund von über den Immissionsrichtwerten der GIRL liegenden Jahresgeruchsstunden kann es die genehmigten landwirtschaftlichen Betriebe in seinem Umfeld nicht konfrontieren (vgl. ebenso OVG SH, Urt. v. 6.5.2021 - 1 LB 12/15 -, juris Rn. 57 ff.; offen gelassen noch im Senatsurt. v. 16.8.2018 - 1 LC 180/16 -, BauR 2019, 483 = BRS 86 Nr. 130 = juris Rn. 25).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Bestimmt daher in vorbelasteten Lagen bei Erfüllung der vom Bundesverwaltungsgericht definierten Vorgaben nicht der jeweilige Immissionsrichtwert der GIRL, sondern das Maß der genehmigten Vorbelastung die Schwelle der Zumutbarkeit von Gerüchen, folgt daraus, dass der genehmigte landwirtschaftliche Betrieb der Antragstellerin zu 1. auch bei Zulassung des Vorhabens des Beigeladenen Abwehransprüche nicht fürchten muss. Gesunde Wohnverhältnisse auf dem Grundstück des Beigeladenen sind unabhängig davon gewährleistet, ob die Geruchsbelastung dort 15, 20 oder gar 25 Prozent der Jahresstunden beträgt (vgl. Senatsurt. v. 16.8.2018 - 1 LC 180/16 -, BauR 2019, 483 = BRS 86 Nr. 130 = juris Rn. 26). Im Rahmen der genehmigten Vorbelastung kann die Antragstellerin zu 1. deshalb wirtschaften und ungeachtet der heranrückenden Wohnbebauung auch Veränderungen vornehmen. Lediglich Erweiterungsabsichten, die mit einer Immissionsmehrbelastung verbunden sind, können durch heranrückende Wohnbebauung Grenzen gesetzt werden. Solche Absichten macht die Antragstellerin zu 1. indes auch mit ihrer Beschwerde nicht geltend.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Nachträgliche Auflagen können der Antragstellerin zu 1. allenfalls dann drohen, wenn ihr Betrieb die Vorgaben des § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG nicht erfüllt. Danach sind (immissionsschutzrechtlich) nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind (Nr. 1), und dass nach dem Stand der Technik unvermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden (Nr. 2). Diese Grundpflichten gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG sind nicht nur im Zeitpunkt der Errichtung der Anlage, sondern in der gesamten Betriebsphase zu erfüllen. Sie wirken unmittelbar. Der Betreiber kann sich nicht darauf berufen, dass die Genehmigungsbescheide - wie hier die bestandskräftigen Baugenehmigungen - keine konkreten Anforderungen an den Schutz der Nachbarschaft stellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.5.1995 - 4 C 20.94 -, BVerwGE 98, 235 = BRS 57 Nr. 67 = juris Rn. 26 m.w.N.; Senatsurt. v. 12.5.2021 - 1 KN 90/19 -, juris Rn. 26).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Heranrückende Wohnbebauung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die zuständige Behörde die Einhaltung der Grundpflichten des § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG anmahnt und gegebenenfalls auch rechtlich durchsetzt (§ 24 Satz 1 BImSchG). Dem Vorhaben des Beigeladenen kann die Antragstellerin zu 1. diesen Umstand indes nicht entgegensetzen. Denn die Baugenehmigungsbehörde hat bei der Entscheidung über die Genehmigung eines - wie hier - baurechtlich allgemein zulässigen Wohnbauvorhabens in der Nachbarschaft einer emittierenden Anlage davon auszugehen, dass deren Betreiber die ihm nach § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG obliegenden Pflichten erfüllt. Zwar ist die Durchsetzung dieser Pflicht nicht ohne weiteres gewährleistet, weil § 24 BImSchG ein Einschreiten gegen den die Grundpflichten nicht erfüllenden Betreiber in das Ermessen der zuständigen Behörde stellt. Jedoch wäre es nicht gerechtfertigt, demjenigen, der sein Grundstück in der baurechtlich allgemein zulässigen Weise bebauen will, dieses Recht nur deshalb vorzuenthalten, weil der Betreiber der emittierenden Anlage die ihm gesetzlich obliegenden Pflichten nicht erfüllt und die Behörde nichts tut, um ihn dazu anzuhalten (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.5.1995 - 4 C 20.94 -, BVerwGE 98, 235 = BRS 57 Nr. 67 = juris Rn. 27; v. 27.6.2017 - 4 C 3.16 -, BVerwGE 159, 187 = juris Rn. 15). Diesen zutreffenden Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts schließt sich der Senat an.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>b)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen merkt der Senat nur ergänzend an, dass sich das Vorhaben des Beigeladenen nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand Geruchsbelastungen oberhalb der Immissionsrichtwerte der GIRL bereits tatsächlich nicht aussetzt. Die Antragstellerin zu 1. hat das im Baugenehmigungsverfahren vorgelegte Geruchsgutachten vom 17. Juni 2021, das eine Geruchsbelastung von bis zu 15 % der Jahresstunden prognostiziert und das sich der Antragsgegner mit der Erteilung der Baugenehmigung zu eigen gemacht hat, zwar mit sachverständig untermauerten Einwendungen angegriffen. Behördliche Prognoseentscheidungen sind indes gerichtlich lediglich daraufhin zu überprüfen, ob die Prognose nach einer geeigneten Methode durchgeführt wurde, ob der zugrunde gelegte Sachverhalt zutreffend ermittelt wurde und ob das Ergebnis einleuchtend begründet ist (BVerwG, Urt. v. 13.10.2011 - 4 A 4001.10 -, BVerwGE 141, 1 = juris Rn. 59 m.w.N.). Ihre Verwertbarkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass es möglich ist, mit einer anderen, ebenfalls geeigneten Methodik zu abweichenden Ergebnissen zu gelangen. Gemessen daran begegnet die auf der Grundlage des Gutachtens vom 17. Juni 2021 erteilte Baugenehmigung auch im Tatsächlichen keinen rechtlichen Bedenken.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Ein Fehler des Gutachtens vom 17. Juni 2021 resultiert nicht daraus, dass die Abluftkamine der Stallanlagen der Antragstellerin zu 1. als vertikale Linienquellen von halber Schornsteinhöhe bis Schornsteinhöhe und nicht vom Boden bis Schornsteinhöhe modelliert worden sind. Die Gutachterin hat ihre zugrundeliegenden Annahmen in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 20. Juni 2022 offengelegt und nachvollziehbar begründet. Dass diese fehlerhaft sein könnten, legt der Gutachter der Antragstellerin zu 1. in seiner Entgegnung vom 24. August 2022 nicht substantiiert dar. Wenn die Abluftkamine die rund 8 m hohen Gebäude um 1,5 m überragen, entspricht deren Höhe in etwa der 1,2fachen Gebäudehöhe; davon ist die Gutachterin des Beigeladenen ausgegangen. Dass zusätzlich der Bewuchs in der Umgebung einbezogen werden müsse, ist eine nicht weiter begründete Behauptung der Antragstellerin zu 1., die gegebenenfalls auf einen ebenfalls vertretbaren methodischen Ansatz, aber nicht auf einen Fehler des Geruchsgutachtens hinweist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Hinsichtlich der Geländerauigkeit stimmen beide Gutachter darin überein, dass aufgrund der unterschiedlichen Rauigkeiten eine arithmetische Mittelung mit Wichtung der entsprechenden Flächenanteile vorzunehmen ist. Unterschiede ergeben sich daraus, dass die Gutachterin des Beigeladenen die im J. und K. beider Stallstandorte der Antragstellerin zu 1. liegenden Flächen gleichermaßen berücksichtigt, während sich der Gutachter der Antragstellerin zu 1. auf die Hofstelle konzentriert. Beide Ansätze erscheinen mit Blick darauf, dass beide Stallstandorte die Immissionssituation am Vorhabenstandort prägen, methodisch vertretbar. Der daran anschließende Einwand, das Gutachten vom 17. Juni 2021 mit Ergänzung vom 20. Juli 2022 gelange rechnerisch zu einer Geländerauigkeit von 0,31 m, die nach Maßgabe von Nr. 5 der Anlage 3 zur TA Luft 2002 auf den nächstgelegenen Tabellenwert von 0,5 m - und nicht auf 0,2 m - zu runden sei, geht implizit davon aus, dass nach der vorgenannten Bestimmung immer aufgerundet werden müsse. Warum das der Fall sein soll, legt die Beschwerde indes nicht dar. „Runden“ auf den nächstgelegenen Tabellenwert bedeutet im Allgemeinen, dass auf- und abgerundet werden kann; insofern liegt der in das Geruchsgutachten vom 17. Juni 2021 eingeflossene Tabellenwert von 0,2 m tatsächlich näher. Warum in diesem Fall anderes gelten soll, ist weder dargetan noch ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Nicht zu beanstanden ist schließlich, dass die Gutachterin des Beigeladenen die Wetterdaten der Wetterstation Bremen zugrunde gelegt hat; die dafür gegebene ausführliche Begründung in der ergänzenden Stellungnahme vom 20. Juni 2022 ist plausibel. Dass es gute Gründe geben mag, die Daten einer anderen Wetterstation zu wählen, belegt nicht, dass ihr Ansatz methodisch angreifbar oder gar fehlerbehaftet wäre.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>c)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Soweit die Antragstellerin zu 1. erneut auf die mit Ernte- und Verladearbeiten auf ihrer Hofstelle verbundenen Staubbelastungen abstellt, ist ihr Vorbringen - wie bereits die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat - unsubstantiiert. Auf die entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf Seite 14 des Beschlussabdrucks nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO) und merkt nur ergänzend an, dass nicht ansatzweise dargetan ist, dass die Staubbelastung über das in einem Dorfgebiet mit seinem Nebeneinander von landwirtschaftlichen Betrieben und Wohngebäuden typische und demzufolge hinzunehmende Maß hinausgehen könnte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p>d)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Die Frage, ob sich das Vorhaben des Beigeladenen unzumutbaren Lärmbelästigungen aussetzt, thematisiert die Beschwerde erst nach Ablauf der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO; die entsprechenden Ausführungen, die im Übrigen auch in der Sache nicht überzeugen, müssen daher unberücksichtigt bleiben.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 2, §§ 159, 162 Abs. 3 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG; der Senat schließt sich den Erwägungen des Verwaltungsgerichts an.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1, § 92 Abs. 3 Satz 2 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007032&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
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346,864 | ovgnrw-2022-09-09-19-a-151322a | {
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<p>Der Klägerin wird für das zweitinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin H. in N. beigeordnet.</p>
<p>Die Berufung wird zugelassen.</p>
<p>Die Entscheidung über die Kosten des Antragsverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Senat entscheidet über die Prozesskostenhilfebewilligung und die Berufungszulassung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Senat bewilligt der Klägerin Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Klägerin kann die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen. Auf die Erfolgsaussichten ihrer Rechtsverteidigung kommt es nicht an, weil die Beklagte den Berufungszulassungsantrag gestellt hat (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Die Beiordnung der Prozessbevollmächtigten beruht auf § 121 Abs. 1 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Berufungszulassungsantrag der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Berufung ist wegen der dargelegten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen. Grundsätzlich klärungsbedürftig ist die von der Beklagten sinngemäß bezeichnete fallübergreifende Frage, ob die Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz an den Ehegatten eines international Schutzberechtigten nach § 26 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 AsylG voraussetzt, dass die Ehegatten ihre eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortführen oder wiederaufnehmen. Diese Frage ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ungeklärt. Die erstinstanzliche Rechtsprechung sowie die Literatur beantworten sie unterschiedlich.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Bejahend: VG Kassel, Urteil vom 24. Januar 2018 ‑ 7 K 877/17.KS.A ‑, juris, Rn. 47; VG München, Urteil vom 22. Mai 2017 ‑ M 4 K 16.35780 ‑, juris, Rn. 21; Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 26 AsylG, Rn. 9 f. (Stand: 1. Oktober 2021); Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 26 AsylG, Rn. 73 ff. (Stand: 1. Juni 2022); verneinend außer der Vorinstanz: VG Minden, Urteil vom 29. März 2022 ‑ 1 K 774/19.A ‑, InfAuslR 2022, 306, juris, Rn. 29 m. w. N.; VG Hamburg, Urteil vom 23. September 2021 ‑ 16 A 7138/17 ‑, juris, Rn. 36 ff.; Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG, Rn. 43, 52 (Stand: Juli 2022); offen gelassen: Hamb. OVG, Beschluss vom 14. Dezember 2020 ‑ 6 Bf 240/20.AZ ‑, AuAS 2021, 32, juris, Rn. 16; VG Berlin, Beschluss vom 18. Dezember 2020 ‑ 3 L 630/20 A ‑, juris, Rn. 10; zum Begriff „Ehegatte“: OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Mai 2020 ‑ 11 A 1252/20.A ‑, juris, Rn. 10, und vom 21. Dezember 2006 ‑ 5 A 4866/05.A ‑, n. v., S. 2 des Beschlusses; Bay. VGH, Urteil vom 17. August 1993 ‑ 11 BZ 89.30545 ‑, juris, Rn. 15.</p>
|
346,765 | vg-munster-2022-09-09-1-l-51922 | {
"id": 846,
"name": "Verwaltungsgericht Münster",
"slug": "vg-munster",
"city": 471,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 1 L 519/22 | 2022-09-09T00:00:00 | 2022-09-30T10:01:46 | 2022-10-17T11:10:41 | Beschluss | ECLI:DE:VGMS:2022:0909.1L519.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Der Antrag wird abgelehnt.</p>
<p>Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.</p>
<p>Der Streitwert wird auf 7.500 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">I. Der nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässige Antrag der Antragsteller,</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Zulässigkeit des von ihnen vertretenen Bürgerbegehrens „Antrag auf unveränderte Fortführung der Stelle des Ersten Beigeordneten und Verzicht auf eine Ausschreibung der Stelle“ unverzüglich festzustellen,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO). Das grundsätzliche Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsache steht einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) geboten ist und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 -, BVerwGE 146, 189 = juris, Rn. 22; BVerfG, Beschluss vom 15. August 2002 - 1 BvR 1790/00 -, NJW 2002, 3691 = juris, Rn. 18.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Danach ist im Wege einer einstweiligen Anordnung die Verpflichtung zur Feststellung der Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens nur zu bejahen, wenn die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens überwiegend wahrscheinlich und eine gegenteilige Entscheidung im Hauptsacheverfahren praktisch ausgeschlossen ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 19. November 2019 - 15 B 1338/19 -, juris, Rn. 6 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Hieran gemessen haben die Antragsteller keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es ist nicht im vorstehenden Sinne wahrscheinlich, dass ihnen der in materieller Hinsicht geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zusteht, das von ihnen vertretene Bürgerbegehren „Antrag auf unveränderte Fortführung der Stelle des Ersten Beigeordneten und Verzicht auf eine Ausschreibung der Stelle“ gemäß § 26 Abs. 6 Satz 1 GO NRW für zulässig zu erklären. Nach der hier allein gebotenen summarischen Prüfung erweisen sich der Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Juni 2022 und der zugrunde liegende Beschluss des Rates vom 21. Juni 2022 als rechtmäßig und verletzen die Antragsteller nicht in ihren Rechten.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Das Bürgerbegehren mit der Fragestellung</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">„Soll die Stelle des Ersten Beigeordneten nach Ablauf der derzeitigen Wahlzeit unverändert fortgeführt und von einer Stellenausschreibung abgesehen werden?“</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">ist aller Voraussicht nach unzulässig, weil die Fragestellung den Bestimmtheitsanforderungen nicht genügt – 1. – und die Begründung defizitär ist – 2. –. Zudem stimmen unter Umständen Fragestellung und Begründung nicht überein – 3. –. Schließlich ist das Bürgerbegehren in jedem Fall auf einen unzulässigen Gegenstand gerichtet – 4. –.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">1. Die vorgenannte Fragestellung des Bürgerbegehrens genügt nicht den Bestimmtheitsanforderungen aus § 26 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. § 26 Abs. 2 Satz 1 GO NRW.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 26 Abs. 2 Satz 1 GO NRW muss das Bürgerbegehren u.a. die zur Entscheidung zu bringende Frage enthalten. Nach § 26 Abs. 7 Satz 1 GO NRW kann bei einem Bürgerbegehren über die gestellte Frage nur mit „Ja“ oder „Nein“ abgestimmt werden. Insoweit setzt die letztgenannte Vorschrift voraus, dass die Frage eindeutig formuliert, also hinreichend bestimmt ist. Die hinreichende Bestimmtheit der Fragestellung eines Bürgerbegehrens ist von überragender Bedeutung. Die Bürger müssen schon aus der Fragestellung erkennen können, für oder gegen was sie ihre Stimme abgeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ihre Mitwirkung sich nicht auf eine mehr oder weniger unverbindliche Meinungsäußerung oder die Kundgabe der Unterstützung bestimmter Anliegen beschränkt, sondern eine konkrete Sachentscheidung betrifft. Deshalb muss es ausgeschlossen sein, dass ein Bürgerbegehren nur wegen seiner inhaltlichen Vieldeutigkeit und nicht wegen der eigentlich verfolgten Zielsetzung die erforderliche Unterstützung gefunden hat. Daher muss die Fragestellung in sich widerspruchsfrei, in allen Teilen inhaltlich nachvollziehbar und aus sich heraus verständlich sein. Mit anderen Worten: Bei mehrdeutigen, unpräzisen und zu Missverständnissen Anlass bietenden Formulierungen ist eine hinreichende Bestimmtheit der Fragestellung zu verneinen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Mai 2014 - 15 B 499/14 -, DÖV 2014, 761 = juris, Rn. 8 ff. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die hier in Rede stehende Fragestellung wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Zumindest der erste Frageteil ist aus Sicht des objektiven, mit dem Inhalt des Bürgerbegehrens nicht weiter vertrauten billig und gerecht denkenden Empfängers mehrdeutig, was jedenfalls aufgrund der unauflöslichen inneren Verknüpfung mit dem zweiten Frageteil zur Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens insgesamt führt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Verbindung mehrerer Einzelfragen in einem Bürgerbegehren Dietlein/Peters, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, § 26 GO NRW, Rn. 20 ff. (20. Edition, Stand: 1. Juni 2022); Paal, in: Rehn/Cronauge/von Lennep/Knirsch, Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen, § 26 Rn. 18 (52./54. Ergänzungslieferung, Stand: Januar 2021/2022); jeweils m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Frage kann ausgehend von ihrem Wortlaut zum einen dahin verstanden werden, dass sie in ihrem ersten Teil darauf zielt, die entsprechende Planstelle auch in Zukunft im Stellenplan auszuweisen und die bisherige Zahl der Beigeordneten beizubehalten, sowie in ihrem zweiten Teil den Verzicht auf eine Ausschreibung dieser Stelle vor einer (Neu-)Besetzung in den Blick nimmt. In Betracht kommt aber auch, den ersten Frageteil (erst recht in einer Zusammenschau mit dem zweiten Teil) zum anderen so zu verstehen, dass er (alternativ oder kumulativ) die Fortführung des Dienstverhältnisses mit der natürlichen Person thematisiert, die aktuell die vorgenannte Planstelle besetzt. Für dieses Verständnis spricht, dass es keine „Stelle des Ersten Beigeordneten“ gibt, die „unverändert fortgeführt“ werden könnte, sondern der Rat – sofern vorhanden – einen Beigeordneten zum allgemeinen Vertreter des Bürgermeisters bestellt (vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 GO NRW), der dann üblicherweise als „Erster Beigeordneter“ bezeichnet wird.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Vgl. nur Heinisch, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, § 68 GO NRW, Rn. 9 (20. Edition, Stand: 1. Juni 2022); siehe auch § 13 Abs. 2 der Hauptsatzung der Antragsgegnerin.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Hiernach sowie mit Blick auf die im allgemeinen Sprachgebrauch gängige Gleichsetzung von Person und Amt liegt es vom objektiven Empfängerhorizont nicht fern, dass mit dem Bürgerbegehren die Meinung zur Wiederwahl des derzeitigen „Ersten Beigeordneten“ Herrn I. -H. B. abgefragt werden soll, zumal der Verzicht auf eine Stellenausschreibung gesetzlich lediglich bei einer Wiederwahl des bisherigen Beigeordneten vorgesehen ist (vgl. § 71 Abs. 2 Satz 2 GO NRW).</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Diese sprachliche Mehrdeutigkeit ist unter dem Gesichtspunkt der hinreichenden Bestimmtheit der Fragestellung auch nicht etwa deshalb unschädlich, weil zwischen beiden Verständnismöglichkeiten im Ergebnis inhaltlich keine Diskrepanz bestünde. Denn – losgelöst von sonstigen Erwägungen – führt die Ausweisung der Planstelle im Stellenplan auch nach Ablauf der Wahlzeit des derzeitigen „Ersten Beigeordneten“ unter gleichzeitigem Verzicht auf eine Stellenausschreibung schon nicht zwangsläufig zur Wiederwahl des derzeitigen Amtsinhabers, weil es dem Rat auch in diesem Fall (selbstverständlich) freisteht, von einer Wiederwahl abzusehen. Die zur Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens führende Mehrdeutigkeit der Fragestellung kann schließlich nicht – unabhängig davon, ob diese hier etwas dafür hergibt – durch Rückgriff auf die Begründung des Bürgerbegehrens beseitigt werden, weil die Frage selbst hinreichend bestimmt zu formulieren ist.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Mai 2014 - 15 B 499/14 -, DÖV 2014, 761 = juris, Rn. 14 ff. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">2. Unabhängig davon ist das Bürgerbegehren unzulässig, weil seine Begründung in wesentlicher Hinsicht unrichtig ist.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 26 Abs. 2 Satz 1 GO NRW zählt eine Begründung zum zwingenden Inhalt eines Bürgerbegehrens. Die Begründung dient dazu, die Unterzeichnenden über den Sachverhalt und die Argumente der Initiatoren und Initiatorinnen aufzuklären. Diese Funktion erfüllt die Begründung nur, wenn die dargestellten Tatsachen, soweit sie für die Entscheidung wesentlich sind, zutreffen. Zwar dient die Begründung auch dazu, für das Bürgerbegehren zu werben; sie kann damit auch Wertungen, Schlussfolgerungen oder Erwartungen zum Ausdruck bringen, die einer Wahrheitskontrolle nicht ohne Weiteres zugänglich sind. Auch mag die Begründung eines Bürgerbegehrens im Einzelfall Überzeichnungen und Unrichtigkeiten in Details enthalten dürfen, die zu bewerten und zu gewichten Sache des Unterzeichners des Bürgerbegehrens bleibt. Diese aus dem Zweck des Bürgerbegehrens folgenden Grenzen der Überprüfbarkeit sind jedoch überschritten, wenn Tatsachen unrichtig wiedergegeben werden, die für die Begründung tragend sind. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob dem eine Täuschungsabsicht der Initiatoren des Bürgerbegehrens zugrunde lag. Maßgebend für eine inhaltliche Kontrolle der Begründung ist allein das Ziel, Verfälschungen des Bürgerwillens vorzubeugen. Auf den Grund der unrichtigen Sachdarstellung kommt es deshalb nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. September 2020 - 15 A 4306/19 -, juris, Rn. 80; siehe auch OVG NRW, Urteil vom 7. Oktober 2020 - 15 A 2927/18 -, Städte- und Gemeinderat 2021, Nr 5, 38 = juris, Rn. 107 ff.; jeweils m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Hieran gemessen ist die Begründung des Bürgerbegehrens in wesentlichen Elementen unrichtig. Auf der von den Antragstellern für das Bürgerbegehren erstellten Unterschriftenliste heißt es zu dessen Begründung:</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">„Am -------- hat der Rat der Stadt B1. beschlossen, die Stelle des Ersten Beigeordneten neu auszuschreiben. Hierauf könnte der Rat verzichten, wenn die Amtszeit des bisherigen Ersten Beigeordneten I. -H. B. verlängert wird. Herr B. hat sein Angebot, nach Ablauf seiner Wahlzeit im Januar ---- noch 3 ½ Jahre bis zum Eintritt in den gesetzlichen Ruhestand weiterhin zur Verfügung zu stehen, nach der überwältigenden positiven öffentlichen Resonanz wiederholt.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Eine Neuausschreibung verursacht nicht nur erhebliche Mehrkosten, da die Ruhestandsbezüge B2. sofort fällig werden, sondern schwächt den Verwaltungsvorstand der Stadt B1. erheblich, da hiermit auf Leistungen eines kompetenten Volljuristen verzichtet würde, welcher auf eine ---jährige Erfahrung verweisen kann, der über ein großes Netzwerk verfügt und damit Garant für Stabilität in der Verwaltung der Stadt B1. ist.“</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Mit den Ausführungen im zweiten Absatz wird die – die Begründung allein tragende – Tatsachenbehauptung aufgestellt, dass eine Ausschreibung der Stelle zwangsläufig und unmittelbar zum dauerhaften Ausscheiden von Herrn B. aus dem Amt des Beigeordneten führt bzw. sie dessen erneuter Wahl zwingend entgegensteht. Dies trifft jedoch nicht zu. Zunächst einmal lässt die Ausschreibung die aktuelle und noch bis zum ------------- laufende Wahlzeit von Herrn B. völlig unberührt. Im Übrigen stellt sie lediglich eine – gesetzlich in der Regel zwingend vorgesehene (vgl. § 71 Abs. 2 Satz 2 GO NRW) – die spätere Wahl vorbereitende Verfahrenshandlung dar, um im öffentlichen Interesse die bestmögliche Besetzung des Amtes nach den Kriterien von § 71 Abs. 3 GO NRW, Art. 33 Abs. 2 GG und § 9 BeamtStG zu sichern.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu lediglich Kallerhoff, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, § 71 GO NRW, Rn. 27 (20. Edition, Stand: 1. Juni 2022).</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Weder ist Herr B. hierdurch gehindert, die Ausschreibung zum Anlass einer Bewerbung zu nehmen, noch der Rat, ihn in dem dafür nach § 50 Abs. 2 GO NRW vorgesehenen Verfahren (erneut) zu wählen. Indem die Begründung des Bürgerbegehrens gleichwohl eine Fortführung des Amtes durch Herrn B. im Falle der Ausschreibung der Stelle als unmittelbar zwingend ausgeschlossen – und nicht etwa lediglich für den Zeitraum ab dem -------- als politisch unwahrscheinlich – darstellt, verlässt sie in dem für potentielle Unterzeichner ausschlaggebenden Punkt den Bereich der zulässigen (zuspitzenden) Wertungen, Schlussfolgerungen oder Erwartungen.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">3. Das Bürgerbegehren ist darüber hinaus und unabhängig vom Vorstehenden auch dann unzulässig, wenn man seinen Gegenstand als hinreichend bestimmt im Sinne seines Wortlauts, d.h. gerichtet auf die Ausweisung einer Planstelle sowie den Verzicht auf deren Ausschreibung, ansehen wollte. Denn dann fehlte es an der Kongruenz zwischen Fragestellung und Begründung.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Diese nach § 26 Abs. 2 Satz 1 GO NRW erforderlichen Elemente eines Bürgerbegehrens stehen in einem inneren Zusammenhang: Die Begründung soll der Sache nach über die zu entscheidende Frage aufklären. Daraus ergibt sich, dass die zur Entscheidung zu bringende Frage und die Begründung thematisch deckungsgleich sein, sich also auf denselben Gegenstand beziehen müssen. Bezieht sich die Begründung hingegen nicht nur auf den Gegenstand der zur Entscheidung zu bringenden Frage, wird für den Bürger unklar, worüber er abstimmen soll sowie ggf. worauf sich die von der Verwaltung abgegebene Kostenschätzung bezieht.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. Oktober 2020 - 15 A 2927/18 -, Städte- und Gemeinderat 2021, Nr 5, 38 = juris, Rn. 112 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">So liegt es hier. Die oben wiedergegebene Begründung wendet sich in ihrem Kern gegen die Ausschreibung der Stelle eines Beigeordneten und begründet dies mit den Vorzügen einer Wiederwahl des bisherigen Amtsinhabers Herrn B. . Damit deckt sie sich nicht mit dem Gegenstand der Fragestellung des Bürgerbegehrens in dem an dieser Stelle angenommenen Sinne, weil sie die fortlaufende Ausweisung einer Planstelle nicht, aber dafür zusätzlich die Wiederwahl von Herrn B. in den Blick nimmt.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">4. Losgelöst vom Vorstehenden ist das Bürgerbegehren auch deshalb unzulässig, weil es in jedem Fall auf einen unzulässigen Gegenstand gerichtet ist.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Aus § 26 Abs. 1 Satz 1 GO NRW ergibt sich, dass ein Bürgerbegehren auf eine konkrete Sachentscheidung gerichtet sein muss. Unzulässig sind resolutionsartige Meinungskundgaben. Zudem muss der angestrebte Bürgerentscheid die abschließende Entscheidung über eine Angelegenheit der Gemeinde anstelle des Rats selbst treffen. Das Bürgerbegehren darf sich nicht lediglich darauf beschränken, dem Rat generelle Vorgaben für eine von ihm noch zu treffende Entscheidung zu machen, oder bloß auf das Verfahren zielen, in dem die spätere Entscheidung getroffen werden soll. Damit soll verhindert werden, dass ein Bürgerbegehren aus einem Problembereich lediglich unselbständige Einzelfragen zur Entscheidung stellt und damit eine sachgerechte Lösung des Gesamtproblems nicht in den Blick nimmt.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Urteile vom 13. Juni 2017 - 15 A 1561/15 -, NVwZ-RR 2017, 1027 = juris, Rn. 85, und vom 19. Februar 2008 - 15 A 2961/07 -, NVwZ-RR 2008, 636 = juris, Rn. 37 ff.; Dietlein/Peters, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, § 26 GO NRW, Rn. 44 ff. (20. Edition, Stand: 1. Juni 2022); jeweils m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Hiernach fehlt es in jedem Fall an einem zulässigen Gegenstand des Bürgerbegehrens. Nimmt man an, dass es nur oder zumindest auch auf die Wiederwahl von Herrn B. gerichtet ist, so zielt es nicht auf eine Sach-, sondern eine Personalentscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Unzulässigkeit der Wahl eines Beigeordneten durch einen Bürgerentscheid unter Hinweis auf insoweit abschließende Sondervorschriften auch Paal, in: Rehn/Cronauge/von Lennep/Knirsch, Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen, § 26 Rn. 56, 58 (49./54. Ergänzungslieferung, Stand: Juli 2019/Januar 2022); Brunner, in: Kleerbaum/Palmen, Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen, 2. Auflage 2013, § 26 VI.2. (S. 308 f.); offen gelassen im Hinblick auf die Ausschlussgründe nach § 26 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 3 GO NRW durch VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - 1 L 1675/10 -, juris, Rn. 17 ff.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Sieht man den Gegenstand dagegen in dem (mit deren Ausweisung im Stellenplan untrennbar verknüpften) Verzicht auf die Ausschreibung einer Planstelle, ist das Bürgerbegehren nicht auf eine im vorstehenden Sinne abschließende Entscheidung gerichtet, sondern macht dem Rat lediglich bindende Verfahrensvorgaben im Vorfeld der von diesem später zu treffenden (Wahl-)Entscheidung. Dass es sich bei dem Verzicht auf die Ausschreibung der Stelle nicht um eine im obigen Sinne selbständige, abschließende Entscheidung handelt, zeigt sich auch daran, dass es dem Rat aufgrund der Bindungswirkung eines die Frage bejahenden Bürgerentscheids (vgl. § 26 Abs. 8 Satz 2 GO NRW) vor Ablauf von zwei Jahren eigenverantwortlich nicht möglich wäre, die Stelle des Beigeordneten rechtskonform zu besetzen, wenn sich keine politische Mehrheit für die Wiederwahl des bisherigen Amtsinhabers finden sollte. Hiernach bedarf es keiner Entscheidung mehr, ob das – unterstellt – so verstandene Bürgerbegehren auch deshalb unzulässig ist, weil nach den gesetzlichen Vorgaben des § 71 Abs. 2 Satz 2 GO NRW von einer Ausschreibung nur „bei Wiederwahl“ abgesehen werden kann, d.h. die Entscheidung von einer allein dem Rat vorbehaltenen und nicht übertragbaren (beabsichtigten) Personalentscheidung abhängt, zumal insoweit zugleich die Gewährleistungen des Art. 33 Abs. 2 GG im Raum stehen.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 16. November 2021 - 6 B 1176/21 -, DVBl 2022, 856 = juris, Rn. 21 ff.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Ebenso kann schließlich offen bleiben, ob die Ausschlussgründe nach § 26 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 3 GO NRW einschlägig sind.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG, wobei das Gericht im Einklang mit der ständigen Streitwertpraxis des zuständigen Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen,</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2020 - 15 B 760/20 -, juris,</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">in Anlehnung an Nr. 1.5 Satz 1 und Nr. 22.6 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit wegen des vorläufigen Charakters dieses Verfahrens die Hälfte des im Hauptsacheverfahren anzunehmenden Betrages von 15.000 Euro ansetzt.</p>
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346,764 | fg-dusseldorf-2022-09-09-3-k-248320-e | {
"id": 790,
"name": "Finanzgericht Düsseldorf",
"slug": "fg-dusseldorf",
"city": 413,
"state": 12,
"jurisdiction": "Finanzgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 3 K 2483/20 E | 2022-09-09T00:00:00 | 2022-09-30T10:01:46 | 2022-10-17T11:10:41 | Urteil | ECLI:DE:FGD:2022:0909.3K2483.20E.00 | <h2>Tenor</h2>
<p><strong>Der Einkommensteuerbescheid 2018 vom 28.07.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.09.2020 wird dahingehend geändert, dass bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer i.H.v. 2.661 € als Werbungskosten berücksichtigt werden. Die Berechnung der festzusetzenden Steuer wird dem Beklagten übertragen.</strong></p>
<p><strong>Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.</strong></p>
<p><strong>Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.</strong></p>
<p><strong>Die Revision wird zugelassen.</strong></p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong>:</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Streitig ist, in welcher Höhe Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer zu berücksichtigen sind.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der nicht verheiratete Kläger war im Streitjahr 2018 als Vertriebsleiter nichtselbständig tätig. Zum 01.01.2018 mietete er zusammen mit <em>B</em> das Einfamilienhaus <em>Straße 01</em> in <em>Z-Stadt</em> zu eigenen Wohnzwecken an. Das Objekt hat nach Angaben des Klägers eine Wohnfläche von 150 qm. Darin befinden sich u.a. zwei 15 qm große Zimmer, von denen das eine der Kläger und das andere seine Lebensgefährtin als Arbeitszimmer genutzt haben.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">In seiner Einkommensteuer-Erklärung 2018 machte der Kläger Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer i.H.v. 2.661 € als Werbungskosten geltend. Es handelt sich hierbei um 10 % (15 qm von 150 qm) der auf das Haus entfallenden Kosten i.H.v. 26.607,23 € (Miete 24.000 €, Nebenkosten 1.800 €, Strom 624,83 €, Hausratversicherung 182,40 €).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte kürzte die erklärten Aufwendungen im Einkommensteuerbescheid 2018 vom 27.03.2020 auf 1.250 €. Im nachfolgenden Einspruchsverfahren legte der Kläger Bescheinigungen seines Arbeitsgebers vor. Der Beklagte schloss sich der Auffassung des Klägers, dass das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit des Klägers bilde, daraufhin an und brachte mit Teilabhilfebescheid vom 28.07.2020 Werbungskosten für das Arbeitszimmer i.H.v. 1.330 € (50% von 2.661 €) zum Abzug. Im Übrigen wies er den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 11.09.2020 als unbegründet zurück.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat sodann Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Er trägt vor, dass er mit der auf ihn entfallenden Hälfte der Mietzahlungen die Alleinnutzung seines Arbeitszimmers finanziert habe und nicht die Aufwendungen für zwei Arbeitszimmer jeweils zur Hälfte. Dass er und <em>B</em> nicht verheiratet gewesen seien, sei unerheblich. Die Abzugsfähigkeit von Werbungskosten richte sich nach dem objektiven Nettoprinzip und nicht nach dem Trauschein. Da er – der Kläger – die auf das von ihm genutzte Arbeitszimmer entfallenden Kosten allein getragen habe, seien diese bei ihm auch in voller Höhe abzugsfähig.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">den Einkommensteuerbescheid 2018 vom 28.07.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.09.2020 dahingehend zu ändern, dass bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer i.H.v. 2.661 € als Werbungskosten berücksichtigt werden.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">sowie für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Er ist der Auffassung, dass die Kosten nur insoweit abziehbar seien, als sie tatsächlich vom Kläger getragen worden seien. Befinde sich ein Arbeitszimmer in einer von Lebensgefährten gemeinsam angemieteten Wohnung, seien die anteilige Miete und die anteiligen Energiekosten beiden Mietern jeweils zur Hälfte zuzurechnen. Im Streitfall würden auf das Arbeitszimmer Kosten i.H.v. 2.661 € entfallen, welche der Kläger jedoch nur zur Hälfte bezahlt habe und welche deshalb bei ihm auch nur zur Hälfte als Werbungskosten abzugsfähig seien. Die Rechtsprechung zu Drittaufwand bei Ehegatten sei bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften nicht anwendbar.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die vorgelegten Steuerakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong>:</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">I. Die Klage ist zulässig und begründet.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Der Einkommensteuerbescheid vom 28.07.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die auf das von dem Kläger genutzte Arbeitszimmer entfallenden Kosten bei diesem nur zur Hälfte als Werbungskosten abzugsfähig sind.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">1. Nach § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG sind Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abzugsfähig. Dies gilt gem. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 2 EStG nicht, wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. In diesem Fall wird die Höhe der abziehbaren Aufwendungen auf 1.250 € begrenzt. Die Beschränkung der Höhe nach gilt nicht, wenn das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung bildet (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 EStG).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 2 und 3 EStG für einen der Höhe nach unbegrenzten Werbungskostenabzug liegen im Streitfall vor. Der Kläger, dem kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung stand, nutzte im Streitzeitraum in der von ihm angemieteten 150 qm großen Wohnung einen 15 qm großen Raum nahezu ausschließlich für berufliche Zwecke und in diesem Arbeitszimmer befand sich der Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung des Klägers. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten – wie in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt wurde – kein Streit. Streitig ist vielmehr allein die Höhe des Werbungskostenabzugs.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">2. Für die Beurteilung, in welchem Umfang Mietaufwendungen als Werbungskosten abzugsfähig sind, geltend die für die Abzugsfähigkeit von Anschaffungs- oder Herstellungskosten bzw. Finanzierungsaufwendungen entwickelten Grundsätze entsprechend (BFH, Urteil vom 23.09.2009 – IV R 21/08, BStBl II 2010, 337). Diese stellen sich – jedenfalls bezogen auf Ehegatten – zusammengefasst wie folgt dar:</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">a) Ein Werbungskostenabzug kommt maximal in der Höhe in Betracht, in der der Steuerpflichtige Aufwendungen getragen hat. Dies gilt auch bei Ehegatten. Denn die anteilig auf einen Ehegatten entfallenden und von diesem getragenen Aufwendungen mindern nicht die Leistungsfähigkeit des anderen (BFH, Urteil vom 06.12.2017 – VI R 41/15, BStBl II 2018, 355).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">b) Erwerben oder errichten Eheleute eine Eigentumswohnung zu Miteigentum, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass jeder von ihnen die Anschaffungs- oder Herstellungskosten entsprechend seinem Miteigentumsanteil getragen hat, und zwar unabhängig davon, wie viel er tatsächlich aus eigenen Mitteln dazu beigetragen hat. Sind die finanziellen Beiträge der Eheleute unterschiedlich hoch, dann hat sowohl zivilrechtlich als auch steuerrechtlich der Ehegatte, der aus eigenen Mitteln mehr als der andere beigesteuert hat, das Mehr seinem Ehegatten mit der Folge zugewandt, dass jeder von ihnen so anzusehen ist, als habe er die seinem Anteil entsprechenden Anschaffungs- oder Herstellungskosten selbst getragen. Infolgedessen kann jeder Ehegatte Absetzung für Abnutzung (AfA) grundsätzlich nur entsprechend seinem Miteigentumsanteil als Werbungskosten abziehen (vgl. BFH, Urteil vom 06.12.2017 – VI R 41/15, BStBl II 2018, 355 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">c) Die Verteilung der Anschaffungs- oder Herstellungskosten auf die Ehegatten nach Miteigentumsanteilen hat nicht zur Folge, dass die Kosten für ein Arbeitszimmer nur anteilig abzugsfähig sind. Denn ausschlaggebend für den Werbungskostenabzug ist nicht der Umfang des (Mit)Eigentums an einem Wirtschaftsgut, sondern ob der Steuerpflichtige Aufwendungen im beruflichen Interesse trägt. Im Hinblick auf das Nettoprinzip darf die Berücksichtigung beruflich veranlasster Aufwendungen nicht daran scheitern, dass sie im Zusammenhang mit der Anschaffung oder Herstellung eines Wirtschaftsguts stehen, das dem Steuerpflichtigen nicht gehört (BFH, Beschluss vom 23.08.1999 – GrS 1/97, BStBl II 1999, 778).</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">d) Nutzt ein Miteigentümer im Rahmen seines Miteigentumsanteils einen Teil des Wirtschaftsguts (Arbeitszimmer) zur Einkünfteerzielung alleine, sind die von ihm getragenen Anschaffungs- oder Herstellungskosten vorrangig diesem Raum zuzuordnen. Es ist davon auszugehen, dass er Anschaffungs- oder Herstellungskosten aufgewendet hat, um diesen Raum <span style="text-decoration:underline">insgesamt</span> zu nutzen. Zivilrechtlich nutzt der Miteigentümer den Raum nicht teils aus eigenem Recht und teils durch Überlassung zur Nutzung durch den oder die Miteigentümer, sondern er nutzt ihn insgesamt in Ausübung seines Rechts als Miteigentümer (§ 743 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB--). Das gilt auch einkommensteuerrechtlich. Anders als sein Miteigentumsrecht bezieht sich sein Nutzungsrecht auf den ganzen Raum. Nutzt der Steuerpflichtige aber ein Arbeitszimmer in vollem Umfang aus eigenem Recht, dann sind auch die eigenen anteiligen Anschaffungs- oder Herstellungskosten als im Interesse dieser Nutzung aufgewendet anzusehen und damit als beruflicher Aufwand zu berücksichtigen (BFH, Beschluss vom 23.08.1999 – GrS 5/97, BStBl II 1999, 774 m.w.N.).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">3. Übertragen auf Mietaufwendungen des nicht verheirateten Klägers ergibt sich aus den o.g. Grundsätzen Folgendes: Wird eine Wohnung von mehreren Personen angemietet und nutzt ein Mieter einen Raum zur Einkünfteerzielung alleine, dann sind die auf diesen Raum entfallenden Aufwendungen – in den von § 9 Abs. 5, § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG gezogenen Grenzen – bei ihm in voller Höhe als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abzugsfähig, sofern der Nutzende Aufwendungen in mindestens dieser Höhe getragen hat. Eine nur hälftige Abzugsfähigkeit der tatsächlich vom Kläger getragen vollen Aufwendungen wäre mit dem Grundgedanken des objektiven Nettoprinzips unvereinbar (so im Ergebnis auch FG München, Gerichtsbescheid vom 02.03.2021 – 10 K 1251/18, EFG 2021, 1458).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">4. Im Streitfall sind – was unstreitig ist – für die angemietete Wohnung Aufwendungen i.H.v. 26.607,23 € entstanden, wovon auf das Arbeitszimmer des Klägers 2.661 € (10%) entfallen. Diese Aufwendungen kann der Kläger in voller Höhe als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend machen, da er sich zu mehr als 2.661 € an den Kosten der gemeinsamen Wohnung beteiligt hat. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung nachgewiesen, dass er und seine Lebensgefährtin die Miete und die anderen Wohnungskosten zu gleichen Teilen getragen haben.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">5. Die Berechnung der festzusetzenden Steuer wird gem. § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO dem Beklagten übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Die Revision wurde nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Die Frage der Höhe des Werbungskostenabzugs von Aufwendungen für das ausschließlich von einem Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft genutzte Arbeitszimmer in einer gemeinsam angemieteten Wohnung ist bislang höchstrichterlich nicht entschieden.</p>
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} | 1 O 73/21 | 2022-09-09T00:00:00 | 2022-09-22T10:01:39 | 2022-10-17T11:10:25 | Urteil | ECLI:DE:LGDU:2022:0909.1O73.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.</p>
<p>Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des jeweils beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.</p>
<p>Die Berufung gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger verlangt Erstattung der Kosten der Beseitigung eines angeblichen Mangels an dem angeblich seinerseits vom Beklagten gekauften Fahrzeug, ferner die Befreiung von Sachverständigen- und Anwaltskosten.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte bot am 10. Dezember 2020 den streitigen Mercedes im Internet an (Seite 3 der Klageschrift, Bl. 8 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben seiner Prozeßbevollmächtigten vom 11. Januar 2021 (in Abschrift als Anlage K5, Bl. 54 ff., bei der Akte) ließ der Kläger bei dem Beklagten mit der Behauptung, der Beklagte habe ihm das Fahrzeug am 11. Dezember 2020 veräußert, einen Mangel an dem Getriebe des Fahrzeugs rügen dahin, daß insbesondere bei Erreichen der Betriebstemperatur und bei häufigen Gangwechseln im innerstädtischen Bereich das automatische Getriebe massive Auffälligkeiten zeige, der Gangwechsel vollziehe sich nicht kraftschlüssig, vielmehr werde beim Schalten kurz der Kraftschluß unterbrochen, erkennbar daran, daß der Motor hochdrehe, erst dann erfolge ruckartig der Schaltvorgang, behaupten, der Beklagte habe hievon gewußt, und den Beklagten zur Mangelbeseitigung bis zum 21. Januar 2021 sowie Vorschußzahlung für die Wegekosten ebenfalls bis zum 21. Januar 2021 auffordern.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte reagierte mit Schreiben seines Prozeßbevollmächtigten vom 19. Januar 2021 (in Abschrift als Anlage K6, Bl. 62 ff., bei der Akte) ablehnend, wobei er die Ablehnung auf verschiedene Gründe stützte.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger trägt vor:</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Er habe am Freitag, dem 11. Dezember 2020, als er sich auf dem Weg zur Arbeit befunden habe, mit dem Kläger über elektronische Post Kontakt aufgenommen (Seite 3 der Klageschrift Bl. 8 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte habe geantwortet und mitgeteilt, das Fahrzeug befinde sich einem sehr guten Zustand (Seite 3 der Klageschrift, Bl. 8 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Weil er sich auf seine Arbeitsstelle befunden habe und diese nicht vor dem späten Nachmittag habe verlassen können, habe er seinen Bruder mittels elektronischer Post kontaktiert. Er habe sodann den Beklagten telefonisch unterrichtet, daß er das Fahrzeug kaufen wolle und seinen Bruder und eine weitere Person entsenden werde, der Bruder sei bevollmächtigt, in seinem – des Klägers – Namen das Fahrzeug zu erwerben und auch mit entsprechendem Bargeld ausgestattet. Der Beklagte habe diese Verfahrensweise bestätigt (Seite 4 der Klageschrift, Bl. 9 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Anschließend habe er seinen Bruder unterrichtet und ihm die Telefonnummer gegeben mit dem Bemerken, daß er diese vorher anrufen solle, worauf sein Bruder geantwortet habe, er werde den anrufen und um die Adresse bitten, dann fahre er direkt los. Außerdem habe sein Bruder gefragt, ob der Beklagte wisse, daß er – – das Fahrzeug für ihn – den Kläger – kaufe, was er – der Kläger – ihm bestätigt habe (Seite 4 der Klageschrift, Bl. 9 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt insoweit als Teil der Anlage K1 (Bl. 21 ff. d.A.) einen Ausdruck elektronischer Post vor.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Seine Brüder und seien sodann zu dem Beklagten gefahren. Dort habe </p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks"> sich dem Beklagten vorgestellt, auf die fernmündlichen Besprechungen Bezug genommen und nochmals erklärt, das Fahrzeug im Auftrag seines Bruders erwerben zu wollen (Seite 5 der Klageschrift, Bl. 10 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte habe dann zunächst eine optische Überprüfung des Fahrzeugs zugelassen. Als dann allerdings um eine Probefahrt gebeten habe, habe der Beklagte sofort abgeblockt und diese verweigert. Darauf habe erklärt, er müsse dann erst mit dem Bruder Rücksprache nehmen, ob dieser bereit sei, das Fahrzeug auch ohne Probefahrt zu erwerben. Das entsprechende Telefonat sei sodann im Beisein des Beklagten geführt worden, und er habe erklärt, er sei an dem Fahrzeug interessiert, er – – solle das Fahrzeug auch ohne Probefahrt erwerben. (Seite 5 der Klageschrift, Bl. 10 d.A., Seiten 2 f. der Replik, Bl. 148 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Daraufhin habe mit dem Beklagten über den Kaufpreis verhandelt, und man habe sich auf <strong>7.800,- €</strong> geeinigt (Seite 5 der Klageschrift, Bl. 10 d.A., Seite 3 der Replik, Bl. 149 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Überraschenderweise habe dann der Beklagte einen auf einen Käufer namens lautenden und den 2. Dezember 2020 datierenden Kaufvertrag vorgelegt. Auf Nachfrage von habe der Beklagte sinngemäß erklärt, das Fahrzeug sei bereits verkauft gewesen, der Käufer habe es aber dann nicht abgenommen. Er habe den ursprünglichen Kaufvertrag noch einmal ausgedruckt, dieser könne handschriftlich abgeändert werden (Seite 5 der Klageschrift, Bl. 10 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Das Datum des Kaufvertrages sei dann auf den 11. Dezember 2020 abgeändert worden, und der exakt abgelesene Kilometerstand von 226.690 sei eingefügt worden (Seite 5 der Klageschrift, Bl. 10 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Hinter der bereits vorgefertigten Erklärung, daß mit dem Fahrzeug eine Probefahrt durchgeführt worden sei, sei vor Unterschriftsleistung handschriftlich vermerkt worden, daß keine Probefahrt durchgeführt worden sei, weil der Verkäufer eine Probefahrt verweigert habe. Hinter dem bereits eingefügten Zusatz, daß keine Mängel festgestellt worden seien, seien auf ausdrückliche Aufforderung des Beklagten handschriftlich die festgestellten Mängel, namentlich Sommerreifen verschlissen, Bremsen vorne verschlissen, sowie optische Mängel an der Tür hinten links und am Seitenschweller handschriftlich ergänzt worden (Seite 6 der Klageschrift, Bl. 11 d.A., Seite 3 der Replik, Bl. 149 d.A.). Insoweit heißt es <strong><span style="text-decoration:underline">nunmehr</span></strong>, ihm sei seitens der Zeugen und mitgeteilt worden, daß auf seinem – dem Kaufvertragsexemplar für den Käufer – vor der Unterschriftsleistung ausdrücklich notiert worden sei, daß eine Probefahrt nicht stattgefunden habe (Seite 1 des Schriftsatzes vom 18. Februar 2022, Bl. 315 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Außerdem sei der Kaufpreis handschriftlich auf <strong>7.800,- €</strong> korrigiert worden (Seite 6 der Klageschrift, Bl. 11 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Schließlich habe, so der Kläger <strong><span style="text-decoration:underline">zunächst</span></strong>, der Beklagte auf der Käuferseite unterschrieben (Seite 6 der Klageschrift, Bl. 11 d.A.). <strong><span style="text-decoration:underline">Nunmehr</span></strong> heißt es, das ihm vorliegende Vertragsexemplar sei nicht durch den Beklagten unterschrieben. Vielmehr habe dieser den ursprünglich mit Herrn abgeschlossenen Vertrag an den Zeugen übergeben. Auf diesem Exemplar seien dann, so <strong><span style="text-decoration:underline">nunmehr</span></strong> der Kläger weiter, die abweichenden Daten und sonstigen Vereinbarungen handschriftlich, allerdings durch den Zeugen, nachgetragen worden. Bei der Unterschrift Käufer handele es sich vermutlich um die Unterschrift des ursprünglichen Käufers . Daß kein ordnungsgemäß unterschriebenes Exemplar vorgelegt worden sei, sei dem Zeugen gar nicht aufgefallen (Seite 1 des Schriftsatzes vom 27. Juli 2022, Bl. 377 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Das vom Zeugen unterschriebene Exemplar, das auch vom Verkäufer unterschrieben worden sei, befinde sich im Original beim Beklagten (Seite 2 des Schriftsatzes vom 27. Juli 2022, Bl. 377 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">In dem seitens des Klägers als Teil der Anlage K1 (Bl. 24 d.A.) in Kopie vorgelegten Vertrag findet sich außerdem Klausel</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Umtausch ausgeschlossen</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">und keine Gewährleistung.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte habe – das ist unstreitig – den von ihm – dem Beklagten – selbst vorgelegten ursprünglich mit einem Herrn abgeschlossen und sodann modifizierten Kaufvertrag unterschrieben (Seite 2 der Replik, Bl. 148 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Daß auf diesem Kaufvertragsexemplar die handschriftlichen Ergänzungen fehlten, die im Beisein des Herrn vor Unterschriftsleistung jedenfalls auf seinem – des Klägers – Kaufvertragsexemplar aufgebracht worden seien, sei nicht auszuschließen. Der Kilometerstand sei abgelesen und datumsgenau übernommenen eingetragen worden, bevor die Unterschrift unter die Urkunde erfolgt sei (Seite 2 der Replik, Bl. 148 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Daß der Beklagte über die Stellvertretung unterrichtet worden sei, ergebe sich auch aus seinem eigenen Vortrag. Er lasse nämlich ausführen, es sei ihm gleichgültig gewesen, wer das Fahrzeug konkret kaufen werde, ihm seien die konkreten Umstände und Verflechtungen zwischen den Beteiligten auf Klägerseite gleichgültig gewesen. Eine solche Erklärung sei aber nur dann nachvollziehbar, wenn entsprechendes Vertreterhandeln bzw. Handeln im Auftrag einer anderen Person offen gelegt und kommuniziert worden seien. Andernfalls bestehe kein Anlaß für die Erklärung des Beklagten, ihm sei letztlich gleichgültig, wer Verkäufer sei (Seite 2 der Replik, Bl. 148 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Unabhängig von seiner Aktivlegitimation habe Herr ihm mögliche Ansprüche aus dem Kaufvertragsverhältnis abgetreten, und er habe die Abtretung angenommen (Seiten 1 f. der Replik vom 24. Juni 2021, Bl. 147 f. d.A.). Der Kläger legt insoweit mit Schriftsatz vom 6. Juli 2021 in Kopie (Bl. 179 d.A.) eine Abtretungserklärung vom 29. Juni 2021 vor.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Sein Bruder habe dann das Fahrzeug zu ihm gebracht und an seiner Adresse abgestellt, während sein Bruder mit seinem eigenen Fahrzeug zurückgereist sei (Seite 6 der Klageschrift, Bl. 11 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Er habe sodann am nächsten Tag das Fahrzeug absprachegemäß abgemeldet. Gleichzeitig habe er einen Termin zur Wiederzulassung vereinbart. Zuvor habe das Fahrzeug an seiner – des Klägers – Adresse abgestellt gehabt. Er selbst habe das Fahrzeug bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewegt gehabt. Am 21. Dezember 2020 sei sodann das Fahrzeug auf seine Ehefrau angemeldet worden. Als er sodann erstmals selbst das Fahrzeug bewegt habe, habe er Unregelmäßigkeiten im Schaltablauf des automatischen Getriebes bemerkt. Bei Gangwechseln, insbesondere vom niedrigen in den nächsthöheren Gang, habe der Motor zunächst kurz hoch gedreht, und sodann sei es schlagartig zum Gangwechsel gekommen. Dies sei insbesondere nach Erreichen der Betriebstemperatur des Fahrzeugs zu beobachten gewesen (Seite 6 der Klageschrift, Bl. 11 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Der Gangwechsel vollziehe sich nicht hinreichend kraftschlüssig. Vielmehr werde beim Schalten kurz der Kraftschluß unterbrochen, erkennbar daran, daß der Motor hochdrehe. Sodann erfolge ruckartig der Schaltvorgang (Seiten 6 f. der Klageschrift, Bl. 11 f. d.A., Seite 6 der Replik, Bl. 152 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Im Termin vom 2. September 2022 hat der Kläger persönlich das Schalten als unsauber bezeichnet. Er hat zunächst dieses Phänomen nicht näher beschreiben können oder wollen, das Fahrzeug schalte halt unsauber und komisch, und schließlich mit einer Geste mitgeteilt, man merke so einen Ruck. Im Stadtverkehr merke man den, wenn das Fahrzeug schalte, und zwar sowohl, wenn es rauf schalte, als auch, wenn es runter schalte. Diese Unregelmäßigkeiten träten ab und zu auf, in kaltem Zustand sehr stark, wenn es dann warm sei, nicht mehr so oft. Ein Kraftfahrzeugmechaniker habe ihm mal erklärt, das hänge damit zusammen, daß, wenn das Fahrzeug warm sei, das Öl besser verteilt sei. Wenn das Fahrzeug warm sei, sei es aber immer noch auf jeder Fahrt so, daß das Fahrzeug unregelmäßig schalte, wie er das beschrieben habe. So habe das Fahrzeug dies, als er Mittwoch bei seinem Bruder gewesen sei – das seien so 5 bis 6 km –, auf der Hinfahrt, glaube er, zweimal und auf der Rückfahrt einmal gemacht. Da sei das Fahrzeug kalt gewesen. Auf der Autobahn sei das auch mal passiert, da habe er so 80 bis 90 km/h drauf gehabt, und dann habe er gewollt, daß das Fahrzeug schalte, aber das habe nicht geschaltet, und da habe er erst vom Gas gehen müssen, und dann sei die Geschwindigkeit kleiner geworden, und dann habe das Fahrzeug geschaltet, und dann habe er wieder Gas geben können. Das sei auf einer Fahrt nach Holland am 21. August 2022 gewesen. Das sei eine Fahrt kurz hinter die holländische Grenze in gewesen, so etwa 20 km. Das sei aber kein einmaliger Vorfall gewesen, daß er das auf der Autobahn gemacht habe, daß habe der immer auch auf der Autobahn gemacht. Wenn er auf der Autobahn fahre, sei das, wenn der Richter frage, wie oft normalerweise, so, daß das einmal passiere mit so einer Unregelmäßigkeit. Das trete immer dann auf, wenn er Gas gebe, um auf die Autobahn aufzufahren (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Auf konkreten Vorhalt seines Prozeßbevollmächtigten hat der Kläger persönlich im Termin weiter beschrieben, es sei richtig, daß das Fahrzeug beim Schalten, und zwar im Stadtverkehr, bei den Unregelmäßigkeiten erst einmal die Drehzahl hochfahre, und dann gebe es diesen Ruck, und erst auf weiteren konkreten Vorhalt seines Prozeßbevollmächtigten hieß, es sei richtig, daß das Fahrzeug dann zeitversetzt schalte. Man habe so das Gefühl, das müßte jetzt schalten, das tue es dann aber nicht, und dann gebe es irgendwann später diesen Ruck (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022).</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Bei der Probefahrt mit dem Sachverständigen – erst so 1 bis 2 km zu Mercedes, und dann noch im Stadtverkehr und auch auf der Autobahn – sei er dabei gewesen, da sei es zu diesen Auffälligkeiten nicht gekommen (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Diesen Sachverhalt habe er seinem Bruder mitgeteilt, der geprüfter Kfz-Techniker sei und Inhaber des Sachverständigenbüros in . Dieser habe dann auch sofort die beschriebenen Probleme festgestellt (Seite 7 der Klageschrift, Bl. 12 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Der Sachmangel habe auch schon zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen und sei dem Beklagten bekannt gewesen (Seiten 8 und 9 der Klageschrift, Bl. 13 und 14 d.A., Seiten 6 f. der Replik, Bl. 152 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte habe den Mangel arglistig verschwiegen (Seite 9 der Klageschrift, Bl. 14 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Dem Beklagten, der das Fahrzeug selbst über viele Jahre genutzt habe, sei das übliche fehlerfreie Schaltverhalten des Fahrzeugs bekannt gewesen, und der Unterschied zwischen einem fehlerfreien Schaltverhalten des Getriebes und den beschriebenen Fehlern bei dem Schaltvorgang sei für eine Person, die mit dem Fahrzeug vertraut sei, sofort erkennbar. Der Fehler sei auch nicht plötzlich, sondern sukzessive aufgetreten. Es handele sich um eine schleichende Perpetuierung der fehlerhaften Schaltvorgänge (Seiten 9 der Klageschrift, Bl. 14 d.A.). Es handele sich um einen sukzessive auftretenden Mangel, der nicht unerwartet entstehe, sondern sich ausweite. Wenn ein solcher Mangel einmal eingetreten sei, weite er sich relativ schnell und sukzessive aus und führe zu erheblichen Problemen beim Gangwechsel des automatischen Getriebes (Seite 4 der Replik, Bl. 150 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">In diesen Kontext füge sich die ausdrückliche Weigerung ein, das Fahrzeug vor seinem Erwerb sachgerecht probefahren zu dürfen (Seite 9 der Klageschrift, Bl. 14 d.A., Seite 8 der Replik, Bl. 154 d.A.). Bei einer Probefahrt durch Herrn wäre, wie der Beklagte zu Recht befürchtet habe, der Fehler aufgefallen (Seite 9 der Klageschrift, Bl. 14 d.A., Seite 8 der Replik, Bl. 154 d.A.). Aufgrund dieser seiner – zutreffenden – Befürchtung habe der Beklagte die Probefahrt verweigert (Seite 3 des Schriftsatzes vom 6. Juli 2021, Bl. 178 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Offensichtlich aufgrund des zweifelsfrei vorliegenden Getriebeproblems habe der Beklagte die Probefahrt verweigert. Die Verweigerung der Probefahrt habe offenbar ihren Grund darin, daß andernfalls dem sachkundigen Herrn der Mangel des Getriebes aufgefallen wäre (Seite 7 der Klageschrift, Bl. 12 d.A., Seite 4 der Replik, Bl. 150 d.A.). Herr habe am 23. Dezember 2020 um 13.15 Uhr den Fehlerspeicher ausgelesen. Neben einem vorliegend nicht interessierenden Fehler im Saugrohr sei der Fehler</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">- Fehlercode DTC 2783 / (Original-Fehlercode 2783)</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks"> Wandlerkupplung</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">- Funktion fehlerhaft</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">hinterlegt gewesen. Dieser Fehlerausweis habe sich mit der Einschätzung des Herrn</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks"> gedeckt, das mutmaßlich entweder die Bremsbänder der Planetenradsätze defekt seien oder es im Rahmen der Kraftübertragung durch die Wandlerkupplung zu Fehlern in der Kraftübertragung komme (Seite 7 der Klageschrift, Bl. 12 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt insoweit als Anlage K2 (Bl. 29 ff. d.A.) ein Dokument über das Ergebnis der seinerseits vorgetragenen Auslesung vor.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Er hat hierzu persönlich im Termin mitgeteilt, er selbst habe zunächst erst einmal bei der Firma , bei der er arbeite, den Fehlerspeicher mit einem Gerät von Gutmann ausgelesen, und die Anlage K2 (Bl. 29 ff.) sei der Ausdruck von dieser Fehlerspeicherauslesung. Auch sein Bruder habe außerdem den Fehlerspeicher des Fahrzeugs ausgelesen (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022).</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Eine weitere Fehlerauslesung sei am 28. Juni 2021 erfolgt, und die Fehlercodierungen hätten nach wie vor Bestand (Seite 1 des Schriftsatzes vom 6. Juli 2021, Bl. 176 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Der Kläger legt als Bl. 180 ff. d.A. ein Dokument über das Ergebnis der seinerseits vorgetragenen Fehlerspeicherauslesung vor.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Er, so der Kläger <strong><span style="text-decoration:underline">persönlich</span></strong> weiter im Termin vom 2. September 2022, habe den Fehlerspeicher am 23. Dezember 2020 und auch später nach der weiteren Auslesung im Jahr 2021 ein weiteres Mal gelöscht (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022).</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Der seitens des Beklagten vorgelegte Bericht über die Hauptuntersuchung sei unbehelflich, weil bei einer Hauptuntersuchung gar kein Gangwechsel stattfinde und im übrigen das Schaltverhalten des Getriebes auch nicht Prüfungsgegenstand bei einer Hauptuntersuchung sei (Seite 5 der Klageerwiderung, Bl. 151 d.A.). Allerdings gehe auch er davon aus, daß am 18. März 2020 der Getriebeschaden noch nicht vorgelegen habe, weil naheliegenderweise der Beklagte das Fahrzeug sonst kurz nach der Hauptuntersuchung veräußert hätte (Seite 6 der Replik, Bl. 152 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Das Wandlerkupplungssystem (Beschreibung im einzelnen Seiten 7 f. der Klageschrift, Bl. 12 f. d.A.) sei grundsätzlich wartungs- und verschleißfrei. Drehmomentwandler hielten normalerweise das ganze Autoleben lang, wobei Dieselfahrzeuge von Mercedes auf Gesamtlaufleistungen von mindestens 300.000 km ausgelegt und konstruiert seien. Demnach liege in den hier aufgetretenen Problemen ein Sachmangel (Seite 8 der Klageschrift, Bl. 13 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Es möge zwar sein, daß bei einer Laufleistung von 200.000 km mit einem Schaden an Automatikgetrieben zu rechnen sei. Wenn dieser Mangel vorliege, müsse man ihn allerdings auch offenlegen (Seite 8 der Replik, Bl. 154 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Zur Instandsetzung des Fahrzeugs seien Gesamtkosten von <strong>3.884,04 € netto</strong> erforderlich, deren Erstattung er mit dem Klageantrag zu 1. begehre (im einzelnen Seiten 9 f. der Klageschrift, Bl. 14 f. d.A., Seiten 7 f. der Replik, Bl. 153 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Außerdem könne er, wie es mit dem Klageantrag zu 2. geschehe, die Feststellung verlangen, daß etwaige weitere Kosten seitens des Beklagten zu tragen seien, insbesondere etwa im Zuge der Instandsetzung anfallende Umsatzsteuern. Auch komme es in Betracht, daß gegenüber den angesetzten von einer problemlosen Durchführung der Reparatur ausgehenden Arbeitszeiten aufgrund von Problemen bei der Reparatur, etwa Schwergängigkeit von Verschraubungen, aber auch etwa von erforderlichen Reinigungs- und Fettungsarbeiten, größere Arbeitszeiten anfielen (Seiten 10 f. der Klageschrift, Bl. 15 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Ferner könne er die Freistellung von den Sachverständigenkosten gegenüber dem Sachverständigenbüro in Höhe von <strong>614,57 €</strong> verlangen. Diese Kosten seien üblich und angemessen (Seite 11 der Klageschrift, Bl. 16 d.A., Seite 8 der Replik, Bl. 154 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Der Sachverständige sei fachlich qualifiziert (im einzelnen Seite 2 des Schriftsatzes vom 6. Juli 2021, Bl. 177 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Außerdem könne er die Erstattung der Kosten für die im Dezember 2020 erfolgte Einschaltung seiner Prozeßbevollmächtigten zur außergerichtlichen Verfolgung seiner Ansprüche in Höhe von <strong>627,23 €</strong> verlangen (im einzelnen Seiten 11 f. der Klageschrift, Bl. 16 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat <strong><span style="text-decoration:underline">zunächst</span></strong> die Anträge angekündigt (Seite 2 der Klageschrift, Bl. 7 d.A.),</p>
<span class="absatzRechts">60</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>1. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 3.884,04 € nebst Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,</strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">61</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>2. festzustellen daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren Aufwendungen zu ersetzen, welche diesem im Rahmen der Instandsetzung des automatischen Getriebes am Pkw Mercedes C-Klasse, T-Modell, Baumuster 204, Fahrgestell-Nr. WDD2042021F665979, auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens des Sachverständigen vom 24. Dezember 2020 entstehen werden,</strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">62</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>3. den Beklagten weiters zu verurteilen, den Kläger von Sachverständigenkosten gegenüber dem Sachverständigen , Inhaber , gemäß dem Gutachten vom 24. Dezember 2020 und der Rechnung vom 25. Dezember 2020 in Höhe von 614,57 € freizustellen,</strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">63</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>4. den Beklagten zu verurteilen, den Kläger von außergerichtlich angefallenen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 614,57 € gegenüber der Rechtsanwaltskanzlei , , freizustellen.</strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt <strong><span style="text-decoration:underline">nunmehr</span></strong> (Seite 2 der Klageschrift, Bl. 7 d.A., Seiten 1 f. des Schriftsatzes vom 20. Mai 2021, Bl. 95 f. d.A.),</p>
<span class="absatzRechts">65</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>1. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 3.884,04 € nebst Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,</strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">66</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>2. festzustellen daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren Aufwendungen zu ersetzen, welche diesem im Rahmen der Instandsetzung des automatischen Getriebes am Pkw Mercedes C-Klasse, T-Modell, Baumuster 204, Fahrgestell-Nr. WDD2042021F665979, auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens des Sachverständigen vom 24. Dezember 2020 entstehen werden,</strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">67</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>3. den Beklagten weiters zu verurteilen, den Kläger von Sachverständigenkosten gegenüber dem Sachverständigen , Inhaber , gemäß dem Gutachten vom 24. Dezember 2020 und der Rechnung vom 25. Dezember 2020 in Höhe von 614,57 € freizustellen,</strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">68</span><ul class="absatzLinks"><li><strong>4. den Beklagten zu verurteilen, den Kläger von außergerichtlich angefallenen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 627,23 € gegenüber den Rechtsanwälten </strong></li>
</ul>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks"> , , freizustellen.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt (Seite 1 des Schriftsatzes vom 11. Juni 2021, Bl. 105 d.A.),</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks"> die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte trägt vor:</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Der Kläger sei nicht aktivlegitimiert. Er sei nämlich nicht Käufer oder Eigentümer des Fahrzeugs. Käufer sei vielmehr ausweislich des als Anlage B1 (Bl. 118) in Kopie überreichten Kaufvertrages Herr (Seite 1 der Klageerwiderung, Bl. 105 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Im übrigen sei die Klage aber auch aus verschiedenen anderen Gründen unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Der Kläger lege einen Kaufvertrag vor, der seinerseits – seitens des Beklagten – nicht unterzeichnet worden sei. Dies überrasche auch nicht, weil es sich nicht um denjenigen Kaufvertrag handele, der im Rahmen der Verhandlungen des Herrn mit ihm – dem Beklagten – unterzeichnet worden sei (Seite 2 der Klageerwiderung, Bl. 106 d.A., Seiten 1 f. der Duplik, Bl. 186 f. d.A.). Das Vorbringen des Klägers, daß er – der Beklagte – den Kaufvertrag auf der linken Seite unterzeichnet haben solle, sei falsch. Diese Unterschrift stamme nicht von ihm. Wer sie geleistet habe, wisse er nicht (Seite 2 der Klageerwiderung, Bl. 106 d.A., Seiten 1 f. der Duplik, Bl. 186 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Herr sei es jedenfalls entgegen dem abwegigen Vorbringen des Klägers nicht gewesen. Der Kläger lasse selber vortragen, er – der Beklagte – habe den ursprünglichen Kaufvertrag nochmals ausgedruckt. Es bleibe der Fantasie des Klägers überlassen, wie auf einen neuen Ausdruck die Unterschrift des früheren Kaufinteressenten kommen solle. Herr</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks"> habe auch tatsächlich nie den Kaufvertrag unterschrieben. Zwischen ihm und Herrn sei ein entsprechender Vertrag nie zustandegekommen (Seite 2 des Schriftsatzes vom 5. August 2020, Bl. 493 d.A.). Der Kläger habe hingegen ungeachtet des Hinweises der Kammer in dem Beweisbeschluß vom 3. November 2021, in dem um Mitteilung gebeten worden sei, falls der Kläger nicht behaupten wolle, daß der Beklagte das seitens des Klägers vorgelegten Exemplar des Kaufvertrags unterschrieben habe, an seinem Vorbringen, er – der Beklagte – habe dieses Kaufvertragsexemplar unterschrieben, offensichtlich festgehalten. Denn er habe auf diesen Hinweis nicht reagiert (Seite 2 des Schriftsatzes vom 5. August 2022, Bl. 493 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Das Original des Kaufvertrages über das Fahrzeug, welches für den Vertragsschluß einzig maßgeblich sei, liege ihm vor (Seite 1 der Duplik, Bl. 186 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Die einzigen vertragsgegenständlichen Änderungen, welche vorliegend beide Verträge beträfen und im Beisein des Käufers und seiner Person vorgenommen worden seien, seien das Datum des Kaufvertrages und der endgültige Kaufpreis (Seite 3 der Duplik, Bl. 188 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die [scil.: übrigen] im Nachgang vorgenommenen handschriftlichen Ergänzungen [scil.: auf dem Kaufvertrag, den der Kläger vorlege] seien nicht durch ihn vorgenommen bzw. bestätigt worden (Seite 1 der Duplik, Bl. 186 d.A.). Sie seien nicht vertragsgegenständlich geworden. Sie seien im Nachgang – von wem auch immer – auf der seitens des Klägers vorgelegten Version des Vertrages ergänzt worden. Dies gelte sowohl für die handschriftlich ergänzte Laufleistung in dem vorgelegten Vertrag als auch die offensichtlich aus anderer Handschrift stammenden Ergänzungen (Seiten 3 f. der Klageerwiderung, Bl. 107 f. d.A., Seite 2 der Duplik, Bl. 187 d.A.). Einzig an dem Vertrag des Klägers seien nachträglich Abänderungen vorgenommen worden, die unter anderem auch die angebliche Unterschrift seiner – des Beklagten – Person beinhalteten (Seite 3 in der Duplik, Bl. 188 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Richtig sei allerdings, daß über die entsprechenden Mängel gesprochen worden sei. Sie seien jedoch auf dem ihm – dem Beklagten – vorliegenden Exemplar nicht eingetragen. Der Käufer habe sie auf seinem Exemplar ohne sein – des Beklagten – Beisein ergänzt (Seite 2 der Duplik, Bl. 187 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Daß in den geschlossenen Kaufvertrag ursprünglich Herr als Käufer eingesetzt sei, habe seinen Grund darin, daß Herr sich für das Fahrzeug interessiert habe. Er – der Beklagte – habe deshalb einen entsprechenden Kaufvertrag entworfen. Zu dem Abschluß dieses Kaufvertrages sei es aber nicht gekommen, weil Herr nicht in der Lage gewesen sei, das Fahrzeug zu bezahlen, und ihm dies auch vor Abschluß des Kaufvertrages mitgeteilt habe (Seite 2 der Klageerwiderung, Bl. 106 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Da zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses sein Drucker defekt gewesen sei, sei der vorherige Entwurf genutzt und entsprechend angepaßt worden. In diesem Zusammenhang habe er Herrn gebeten, die Daten des Käufers in den Kaufvertrag nebst entsprechender Anschrift einzutragen, was dieser auch getan habe (Seite 2 der Klageerwiderung, Bl. 106 d.A.). Herr habe seine persönlichen Daten in den Kaufvertrag eingetragen und auch seine Visitenkarte (in Kopie als Anlage B2, Bl. 119, bei der Akte) vorgelegt (Seite 3 der Klageerwiderung, Bl. 107 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Der Sachvortrag des Klägers sei auch insoweit nicht richtig, als dieser vortrage, ihm – dem Beklagten – sei gleichgültig gewesen, wer das Fahrzeug kaufen werde. Ihm seien die konkreten Umstände und Verflechtungen zwischen den Beteiligten tatsächlich gleich gewesen, solange zwischen dem Abholer, der ihm gegenüber als Käufer aufgetreten sei, und ihm ein Kaufvertrag geschlossen werden würde. Dies habe er auch in dem Gespräch mit dem Kläger zum Ausdruck gebracht. Die Verflechtungen seien ihm auch deshalb unbekannt gewesen, weil er bei den Telefonaten und bei der Abholung stets mit einem Herrn gesprochen habe, ohne daß eine Differenzierung in Bezug auf die Vornamen erfolgt sei (Seite 3 der Klageerwiderung, Bl. 107 d.A., Seite 1 der Duplik, Bl. 186 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Der Kaufvertrag sei demnach mit Herrn zustande gekommen, nicht mit dem Kläger (Seiten 1 und 3 der Klageerwiderung, Bl. 105 und 107 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Er gehe übrigens davon aus, daß der seitens des Klägers als Zeuge benannte Herr nicht bei dem Abschluß des Kaufvertrages zugegen gewesen sei. Es sei zwar eine zweite Person bei der Übergabe an Ort und Stelle gewesen. Diese Person habe jedoch keinerlei Ähnlichkeit zu dem Käufer des Fahrzeugs aufgewiesen (Seite 3 der Klageerwiderung, Bl. 107 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Es treffe auch nicht zu, daß eine Probefahrt verwehrt worden sei. Herrn sei ausreichend Gelegenheit gegeben worden, das Fahrzeug zu erproben und eine Probefahrt durchzuführen. Der Käufer habe aber auf die Durchführung einer Probefahrt unter Hinweis darauf, daß er als „Fachmann etwaige Fehler sofort erkennen würde“ verzichtet, nachdem er das Fahrzeug eingehend untersucht gehabt habe. Zu diesem Zweck habe er sich in das Fahrzeug gesetzt, den Motor gestartet und das Getriebe geprüft, ob dieses greifen würde. Zu diesem Zweck habe er die Fahrtstufe D des Automatikgetriebes und auch den Rückwärtsgang eingelegt und einige Tests bei laufendem Motor durchgeführt, ferner das Fahrzeug mit einem Lackschichtenmeßgerät überprüft. Er sei zu dem Ergebnis gekommen, das alles in Ordnung sei, und habe deshalb auch ohne Vorbehalte auf dem Kaufvertrag bestätigt, daß er eine Probefahrt durchgeführt habe (Seite 4 der Klageerwiderung, Bl. 108 d.A., Seiten 2 und 3 der Duplik, Bl. 187 und 188 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Hierzu hat der Beklagte <strong><span style="text-decoration:underline">persönlich</span></strong> im Termin mitgeteilt, er – der Beklagte – habe eigentlich auf eine Probefahrt bestanden, aber die Probefahrt sei dann von dem, der ad gewesen sei, von Herrn , abgelehnt worden (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022).</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Herr habe den Motor gestartet und sei ein Stück gefahren und habe dann stark Gas gegeben und gleichzeitig gebremst. Das sei seinem – des Beklagten – Eindruck nach ein Test gewesen, ob das Getriebe ordentlich arbeite. Das gleiche habe Herr dann auch nochmal im Rückwärtsgang gemacht, und außerdem habe Herr auch noch den Gang N eingelegt und den Motor laufen lassen und die Motorhaube aufgemacht und da reingeguckt. Das sei es dann angewesen (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022).</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Der angebliche Mangel liege auch nicht vor (Seiten 5 und 6 der Klageerwiderung, Bl. 109 und 110 d.A., Seite 3 der Duplik, Bl. 188 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Jedenfalls seien ihm, der technischer Laie sei, etwaige Mängel nicht bekannt gewesen (Seiten 5 und 11 der Klageerwiderung, Bl. 109 und 115 d.A.). Wären tatsächlich Fehler vorhanden und offenkundig gewesen, wären sie auch Herrn aufgefallen. Daß dies nicht der Fall sei, belege, daß er – der Beklagte – nicht habe wissen können, daß das Fahrzeug möglicherweise Fehler aufweise (Seite 12 der Klageerwiderung, Bl. 116 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Das Fahrzeug habe sich zum Zeitpunkt der Übergabe in einem altersgemäßen guten Zustand befunden (Seite 5 der Klageerwiderung, Bl. 109 d.A.). Das Getriebe sei ein dem Verschleiß unterliegendes Bauteil. Bei einer Laufleistung von 226.000 km sei ein Verschleiß nicht unüblich. Schon bei einer Laufleistung von 200.000 km sei auch bei einem Mercedes mit einem Schaden am Automatikgetriebe zu rechnen (Seite 12 der Klageerwiderung, Bl. 116 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Die nunmehr seitens des Klägers vorgetragenen Mängel seien ihm nicht bekannt gewesen (Seiten 5 und 11 der Klageerwiderung, Bl. 109 und 115 d.A.). Entsprechende Schäden könnten durchaus plötzlich erst in Erscheinung treten, insbesondere auch, ohne daß zuvor Auffälligkeiten erkennbar gewesen seien. Daß es sich um einen sukzessive auftretenden Fehler handele, sei unzutreffend (Seite 13 der Klageerwiderung, Bl. 117 d.A., vgl. auch Seite 4 der Duplik, Bl. 189 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Er habe das Fahrzeug bis wenige Tage vor dem Verkauf genutzt, da er erst zu diesem Zeitpunkt seinen Neuwagen erhalten habe. Etwaige Auffälligkeiten habe er nicht feststellen können (Seite 6 der Klageerwiderung, Bl. 110 d.A.). Auch seiner Ehefrau und seiner Tochter, die mit dem Fahrzeug (mit)gefahren seien, seien etwaige Mängel nicht aufgefallen, ebenso wenig seinem Bruder, der ebenfalls einen Mercedes C-Klasse fahre und ihn auf längeren Fahrten in die Niederlande (etwa 250 km einfache Strecke) und zuletzt noch auf einer Fahrt am 19. November 2020 begleitet habe (Seiten 5 und 6 der Klageerwiderung, Bl. 109 und 110 d.A., Seite 4 der Duplik, Bl. 189 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Ihm liege auch ein Bericht der DEKRA vom 18. März 2020 (in Kopie als Anlage B3, Bl. 120 ff., bei der Akte) vor, in dem der angebliche Mangel nicht ausgewiesen sei, was aber bei einem Getriebemangel je nach Art des Defekts der Fall gewesen wäre (Seite 5 der Klageerwiderung, Bl. 109 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Selbst wenn ein Fehler bei der behaupteten Auslesung des Steuergerätes durch die Firma</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks"> , die übrigens die Kilometerlaufleistung im Rahmen der Auslesung des Fehlerspeichers nicht ordnungsgemäß, sondern mit 0 angegeben habe, angezeigt worden sein sollte, beweise dies seine tatsächliche Existenz nicht. Es komme durchaus vor, daß softwarebedingt nicht existente Fehler im Auslesegerät angezeigt würden. Es sei nicht einmal ersichtlich, bei welcher Laufleistung die Fehlerspeicherauslesung durchgeführt worden sei (Seiten 10 f. der Klageerwiderung, Bl. 114 f. d.A., Seite 6 der Duplik, Bl. 191 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Es sei ferner darauf hinzuweisen, daß auch das Vorbringen des Klägers in Bezug auf den Zeitablauf unglaubhaft sei. Nach der seitens des Klägers vorgelegten Rechnung des Gutachters solle der Gutachtenauftrag angeblich bereits am 12. Dezember 2020 erteilt worden sein, während der Kläger vortrage, das Fahrzeug erst am 21. Dezember 2020 auf seine Ehefrau zugelassen und erst danach erstmalig selbst bewegt zu haben, wobei ihm angeblich erst dann die entsprechenden Mängel aufgefallen sein sollten (Seite 8 der Klageerwiderung, Bl. 112 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Nach der Fahrzeugübergabe sei ihm auch zu keinem Zeitpunkt kommuniziert worden, daß etwaige Mängel an dem Fahrzeug vorlägen, welche den entsprechenden Gebrauch tatsächlich einschränkten und nicht alters- und laufleistungstypisch seien. Sollten etwaige Mängel an dem Fahrzeug tatsächlich vorliegen, sei davon auszugehen, daß sie erst nach Übergabe des Fahrzeugs entstanden und vom vereinbarten Gewährleistungsausschluß umfaßt seien. Die Schäden könnten durch die Überführungsfahrt durch den Fahrer des Fahrzeugs verursacht worden sein, welcher vermutlich nicht sachgemäß mit dem streitigen Fahrzeug umgegangen sei (Seite 8 der Klageerwiderung, Bl. 112 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Auch die Differenz zwischen der in dem durch Herrn unterschriebenen Kaufvertrag ausgewiesenen Laufleistung einerseits und derjenigen in dem angeblichen Gutachten andererseits bestätigten, daß das Fahrzeug zwischendurch 823 km bewegt worden sei, womit sich die Annahme bestätige, daß der Kläger das Fahrzeug nach dem Kaufvertragsschluß nicht unerheblich genutzt habe (Seite 10 der Klageerwiderung, Bl. 114 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Noch am 15. Dezember 2020 habe er den Käufer angerufen, um zu fragen, ob das Fahrzeug entsprechend der vertraglichen Vereinbarung inzwischen abgemeldet worden sei, und sich dabei auch erkundigt, ob alles in Ordnung sei oder irgendwelche Probleme vorliegen würden. Der Käufer habe daraufhin bestätigt, daß das Fahrzeug abgemeldet worden sei, und mitgeteilt, es sei alles in Ordnung (Seite 8 der Klageerwiderung, Bl. 112 d.A., Seiten 3 f. der Duplik, Bl. 188 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Am 29. Dezember 2020 habe sich sodann der Kläger bei ihm gemeldet, was ihn gewundert habe, weil er nach dem Kaufvertrag das Fahrzeug nicht an diesen verkauft habe. Ungeachtet dessen sei er bereit gewesen, mit dem Kläger die Angelegenheit zu besprechen. In diesem Gespräch habe er sich bereit erklärt, das Fahrzeug gegen Erstattung des Kaufpreises zurückzunehmen. Dies sei jedoch für den Kläger zu seiner Verwunderung nicht in Betracht gekommen. Der Kläger habe vielmehr die hälftige Erstattung der durch seinen Bruder ermittelten Reparaturkosten verlangt, was er – der Beklagte – jedoch abgelehnt habe. Er – der Beklagte – habe sodann die Vermutung gehegt, daß durch dieses Vorhaben und den unbedingten Wunsch, den Vertrag nicht rückabzuwickeln, der Versuch unternommen werde, unrechtmäßig den Kaufpreis nachträglich zu reduzieren (Seite 9 der Klageerwiderung, Bl. 113 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Als sich die Stimmung sodann beruhigt gehabt habe, seien die Parteien auf private Dinge zu sprechen gekommen, und der Kläger habe ihm mitgeteilt, er sei dem Grunde nach mit dem Fahrzeug überaus zufrieden und habe auch bereits kürzere Reisen mit der Familie in die Eifel unternommen (Seite 9 der Klageerwiderung, Bl. 113 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Unterstellt, die angeblichen Fehler lägen im Fehlerspeicher noch vor, handele es sich vorliegend einzig um eine Suche nach Gründen, den Kaufpreis im Nachhinein zu mindern. Andernfalls hätte der Kläger sein – des Beklagten – Angebot angenommen und das Fahrzeug zurückgegeben (Seite 5 der Duplik, Bl. 190 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Die seitens des angeblichen Sachverständigen , der jedenfalls nicht „DAT Expert Partner“ sei und dessen Gutachtereigenschaft bestritten werde, ermittelten Reparaturkosten hielten auch einer Überprüfung nicht stand (Seiten 5 und 6 f. der Klageerwiderung, Bl. 109 und 110 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Insoweit sei darauf hinzuweisen, daß der angebliche Gutachter sich wahrheitswidrig in der vorgerichtlichen Korrespondenz als „DAT Expert Partner“ vorgestellt habe. Insoweit werde als Anlage B5 (Bl. 125) das Schreiben des Herrn vom 25. Dezember 2020 zur Akte gereicht (Seite 7 der Klageerwiderung, Bl. 111 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der vorgerichtlichen Korrespondenz habe der Kläger ein Schreiben des angeblichen Sachverständigen vom 25. Dezember 2020 übermittelt, aus welchen hervorgehe, daß der Sachverständige selbst nicht in der Lage sei, ohne professionelles Auslesegerät die Mängel festzustellen. Wie er dann aber zu dem Ergebnis komme, im Rahmen seiner Begutachtung einen Schaden von angeblich <strong>3.884,04 € brutto</strong> zu ermitteln, sei nicht nachvollziehbar, zumal er gleichzeitig angebe, den Schaden mangels technischer Möglichkeiten nicht ermitteln zu können (Seiten 8 f. der Klageerwiderung, Bl. 112 f. d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Die seitens des angeblichen Gutachters ermittelten Kosten seien völlig überzogen (Seiten 10 und 11 der Klageerwiderung, Bl. 114 und 115 d.A.). Abgesehen davon werde dem Kläger kein Anspruch auf Erstattung eines Neuteils ohne Abzug zustehen. Der Kläger müsse sich vielmehr gegebenenfalls einen Abzug unter dem Gesichtspunkt neu für alt gefallen lassen (Seite 11 der Klageerwiderung, Bl. 115 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Eine Erstattung der Gutachterkosten könne der Kläger auch nicht verlangen (Seite 7 der Klageerwiderung, Bl. 111 d.A.). Die angeblichen Kosten des Sachverständigen seien nicht angefallen (Seite 13 der Klageerwiderung, Bl. 117 d.A.). Die insoweit vorgelegte Rechnung weise nicht einmal eine Rechnungsnummer auf, so daß davon auszugehen sei, daß zu keinem Zeitpunkt geplant gewesen sei, eine kostenpflichtige Beurteilung des Fahrzeugzustands vorzunehmen (Seite 7 der Klageerwiderung, Bl. 111 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Es sei nicht erkennbar, daß der angebliche Gutachter das Fahrzeug ordnungsgemäß begutachtet habe. Schon die Begutachtung werde bestritten. Der angebliche Gutachter verweise in seinem angeblichen Gutachten neben der Feststellung, daß er mangels Auslesegerätes nicht in der Lage sei, den Fehler zu erkennen, lediglich auf die Fehlercodes der Firma . Worin seine Leistung zu sehen sei, die angeblich ein Honorar von <strong>614,57 €</strong> rechtfertige, sei nicht ersichtlich (Seiten 10 und 13 der Klageerwiderung, Bl. 114 und 117 d.A.). Welche Untersuchungen der angebliche Sachverständige durchgeführt haben wolle, ergebe sich aus dem Gutachten nicht (Seite 5 der Duplik, Bl. 190 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Weil die Rechnung mangels Rechnungsnummer nicht ordnungsgemäß sei, sei der entsprechende Betrag nicht fällig, und dem Kläger stehe auch kein Freistellungsanspruch zu (Seiten 7 und 13 der Klageerwiderung, Bl. 111 und 117 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Ein Anspruch des Klägers auf Erstattung von Rechtsanwaltskosten komme nicht in Betracht, selbst wenn sich der Prozeßbevollmächtigte des Klägers vorgerichtlich für diesen bestellt habe. Denn der Kläger sei nicht Käufer des Fahrzeugs und auch nicht gegenwärtig dessen Eigentümer (Seite 13 der Klageerwiderung, Bl. 117 d.A.).</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Mit Schriftsatz vom 5. August 2022 (Bl. 492 ff. d.A.) nimmt der Beklagte im übrigen noch zum Ergebnis der schriftlichen Begutachtung Stellung. Hierauf wird verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze und der dazu überreichten Anlagen verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 3. November 2021 (Bl. 208 ff. d.A.) Beweis erhoben durch Anhörung der Zeugen , , und sowie des Sachverständigen Dipl.-Ing. (TH) , ferner Einholung schriftlicher Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Ing. (TH) und Dipl. Verw. Dipl. Graph.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks"> vor dem Termin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des als Bl. 398 ff. bei der Akte befindlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. (TH) vom 12. Juli 2022, den Inhalt des als Bl. 436 ff. bei der Akte befindlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl. Verw. Dipl. Graph. vom ebenfalls 12. Juli 2022 und die Niederschrift der Sitzung vom 2. September 2022 verwiesen.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Den Zeugen , der zum Termin nicht erschienen war, hat die Kammer nicht angehört, weil es auf die in sein Wissen gestellten Behauptungen für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht mehr ankommt.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist nicht begründet.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks"><strong>1.</strong></p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger stehen der mit den Klageanträgen zu 1. und 2. geltendgemachte Schadensersatzanspruch auf Erstattung der Reparaturkosten und dementsprechend auch der hierauf geltendgemachte Zinsanspruch nicht zu.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte ist gegenüber dem Kläger nicht aufgrund eines Mangels des Fahrzeugs gewährleistungspflichtig.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Wie unter den Parteien unstreitig ist, ist die Gewährleistung ausgeschlossen. Dies bedeutet, der Beklagte ist von jeglicher Gewährleistung für etwa an dem Fahrzeug vorhandene Mängel frei, es sei denn, er hätte – was von vornherein nicht in Rede steht – für das Nichtvorhandensein eines bestehenden Mangels eine Garantie übernommen oder er hätte das Vorhandensein eines bestehenden Mangels arglistig verschwiegen, § 444 BGB.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks"><strong>a)</strong></p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Daß die seitens des Klägers geschilderten Phänomene bei den Schaltvorgängen an dem streitigen Fahrzeug vorhanden sind, ist nicht bewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">Der nach dem Ergebnis der durch den Sachverständigen Dipl.-Ing. (TH) durchgeführten Fehlerspeicherauslesung am 7. Juli 2022 im Fehlerspeicher niedergelegte Fehler führt nach den Ausführungen des genannten Sachverständigen nicht zu den seitens des Klägers beschriebenen Phänomenen beim Schalten und ist übrigens nach den Ausführungen des genannten Sachverständigen ausweislich der Anzeige des Häufigkeitszählers auch nur einmal seit der letzten der Auslesung vom 7. Juli 2022 vorangegangenen Fehlerspeicherlöschung aufgetreten. Der insoweit niedergelegte Fehler könnte also mit den seitens des Klägers beschriebenen Phänomenen, wenn sie vorlägen, nichts zu tun haben.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Nach den Ausführungen des Sachverständigen hätten jedoch die seitens des Klägers beschriebenen Phänomene, wenn sie denn vorhanden wären, dazu geführt, daß ein entsprechender Fehler im Fehlerspeicher niedergelegt wäre. Da die behaupteten Phänomene nach wie vor vorhanden sein sollen, der Fehlerspeicher jedoch in letzter Zeit, wie sich aus den Mitteilungen des Klägers ergibt, nicht mehr gelöscht worden ist, hätte dementsprechend ein weiterer Fehler, der als Erklärung für die infragestehende Phänomene in Betracht käme, am 7. Juli 2022 im Fehlerspeicher niedergelegt sein müssen, etwa mit der Fehlerbezeichnung</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Druckaufbau Kupplung K1 zu niedrig</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">oder auch</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Druckaufbau Bremsband zu langsam,</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">wobei es verschiedene Bremsbänder gibt, die in einer Fehlerbeschreibung der letzteren Art bezeichnet werden könnten. Dies ist jedoch nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Hinzu kommt, daß bei der Probefahrt mit dem Sachverständigen, obwohl sie nach den Mitteilungen des Klägers im Termin bei jeder Fahrt aufzutreten pflegen, wie der Kläger einräumt, die seinerseits geschilderten Phänomene nicht aufgetreten sind.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Wenn außerdem der Kläger zu den Vorgängen am 11. Dezember 2020 vorträgt,</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">sein Bruder habe dann das Fahrzeug zu ihm gebracht und an seiner Adresse abgestellt, während sein Bruder mit seinem eigenen Fahrzeug zurückgereist sei (Seite 6 der Klageschrift, Bl. 11 d.A.),</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">fällt auch in diesem Zusammenhang ein Umstand auf, der dagegen spricht, daß die seitens des Klägers geschilderten Phänomene bei dem Fahrzeug wirklich aufgetreten sind. Denn wenn diese Phänomene bei jeder Fahrt auftreten würden, hätte auch Herr sie bei der seinerseits durchgeführten nicht ganz kurzen Überführungsfahrt bemerkt, und dies wäre dann seitens des Klägers mit Sicherheit auch vorgetragen worden, und der Kläger hätte mit gleicher Sicherheit hierfür Herrn auch als Zeugen benannt. Dies ist jedoch nicht geschehen. Dieses Detail paßt gut zu der zumindest sehr ernstlich in Betracht kommenden Möglichkeit, daß in Wahrheit eben die Phänomene, die der Kläger schildert, nicht auftreten, sondern nunmehr aufgrund des Ergebnisses der Fehlerspeicherauslesung erfunden werden, um den Kaufpreis auf der Grundlage des Ergebnisses der Fehlerspeicherauslesung nachträglich zu drücken, was angesichts des Gewährleistungsausschlusses nur möglich ist, wenn man Phänomene schildert, die dem Beklagten nicht verborgen geblieben sein können und deshalb von ihm arglistig verschwiegen worden sein müssen.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">Auffällig ist auch, daß der Kläger im Termin vom 2. September 2022 die Phänomene, die er angeblich bei zumindest nahezu jeder Fahrt mit dem Fahrzeug erlebt, spontan nicht wirklich konkret schildern konnte. Erst auf konkreten Vorhalt seines Prozeßbevollmächtigten, und das heißt nichts anderes als nach konkretem Vorsagen, hat der Kläger persönlich im Termin beschrieben, es sei richtig, daß das Fahrzeug beim Schalten, und zwar im Stadtverkehr, bei den Unregelmäßigkeiten erst einmal die Drehzahl hochfahre (Sitzungsniederschrift vom 2. September 2022). Wer die beschriebenen Dinge nicht nur einmal, sondern auf zumindest nahezu jeder Fahrt erlebt, kann sie auch ohne derartiges Vorsagen konkret beschreiben. Dies ist alles andere als schwer, und der Kläger kann gut Deutsch und war auch zu jeder Zeit in der mündlichen Verhandlung mühelos in der Lage, sich ohne weiteres und uneingeschränkt verständlich zu machen. Außerdem ist er bei der Firma tätig, so daß er jedenfalls bis zu einem gewissen Grade Ahnung von Fahrzeugen hat, was ihm die Beschreibung wirklich erlebter Phänomene beim Schalten zusätzlich erleichtern mußte.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Überdies schildert der Kläger die Symptomatik nicht widerspruchsfrei. So schildert er in der Klageschrift,</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">bei Gangwechseln, insbesondere vom niedrigen in den nächsthöheren Gang, drehe der Motor zunächst kurz hoch, und sodann komme es schlagartig zum Gangwechsel, <strong><span style="text-decoration:underline">dies sei insbesondere nach Erreichen der Betriebstemperatur des Fahrzeugs zu beobachten</span></strong> (Seite 6 der Klageschrift, Bl. 11 d.A.) [Hervorhebung durch die Kammer].</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">So hat er es auch bereits in dem außergerichtlichen Schreiben vom 11. Januar 2021 (in Abschrift als Anlage K5, Bl. 54 ff., bei der Akte), dort Seite 2 Mitte, geschildert.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Hingegen hieß es seinerseits persönlich im Termin vom 2. September 2022,</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">diese Unregelmäßigkeiten träten ab und zu auf, <strong><span style="text-decoration:underline">in kaltem Zustand sehr stark, wenn es dann warm sei, nicht mehr so oft, ein Kraftfahrzeugmechaniker habe ihm mal erklärt, das hänge damit zusammen, daß, wenn das Fahrzeug warm sei, das Öl besser verteilt sei</span></strong> [Hervorhebung durch die Kammer].</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Dinge, die man wirklich bei zumindest nahezu jeder Fahrt erlebt, sollte man eigentlich nicht so widersprüchlich schildern. Die Kammer kann sich auch angesichts dessen, wie gut der Prozeßbevollmächtigte des Klägers im Termin vorbereitet und im Bilde war – es war eine Freude, „ihm bei der Arbeit zuzusehen“ –, und dessen, daß der Kläger im Termin von Anfang an ganz geradlinig und durchgehend beschrieben hat, daß verstärkt im kalten Zustand des Fahrzeugs die Phänomene aufträten, ohne sich dabei irgendwie zu verheddern oder zu verhaspeln und / oder seine Äußerungen einmal oder gar mehrfach modifizieren oder richtig stellen zu müssen und ohne selbst auf den Vorhalt des bereits erwähnten Schreibens vom 11. Januar 2021 unsicher oder gar unklar zu werden, beim besten Willen nicht vorstellen, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers bei den sein Schreiben vom 11. Januar 2021 (in Abschrift als Anlage K5, Bl. 54 ff., bei der Akte) und seine Klageschrift vorbereitenden Gesprächen einem Mißverständnis von den Angaben des Klägers aufgesessen ist und deshalb die Dinge gewissermaßen „falsch rum“ geschildert hat.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Auch ist zu konstatieren, daß der Zeuge ein weiteres Phänomen geschildert hat, von dem der Kläger mit keinem Wort berichtet, nämlich dasjenige, daß das Fahrzeug, insbesondere, wenn man den Schaltmodus Eco wähle, teilweise dergestalt falsch schalte, daß es in die falschen Gänge schalte. Ein derartiger durchaus störender Fehler wäre aber seitens des Klägers, wenn er vorläge, sicherlich vorgetragen worden. Der vorstehende Befund spricht dafür, daß vorliegend in Wahrheit nicht vorhandene Phänomene im Schaltverhalten des Fahrzeugs erfunden werden, das hier in Rede stehende wohl in der Annahme, der im Fehlerspeicher niedergelegte Fehler führe auch zu derartigen Erscheinungen.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Schließlich haben auch die seitens des Beklagten benannten Zeugen bei ihren Vernehmungen bekundet, die seitens des Klägers behaupteten Phänomene nicht wahrgenommen zu haben.</p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks">Daß die Rechnung des seitens des Klägers als Privatgutachter bezeichneten Herrn , die der Kläger angeblich zu bezahlen haben soll, entgegen § 14 Abs. 4 Nr. 4 UStG keine Rechnungsnummer aufweist ist auch kein Umstand, der geeignet ist, das Vertrauen in die Wahrheit des Vorbringens des Klägers – zunächst betreffend seine Verpflichtung, an seinen als Privatgutachter auftretenden Bruder den Rechnungsbetrag zu zahlen, davon ausgehend aber auch allgemein für den vorliegenden Fall – zu stärken. Hierauf kommt es aber nicht mehr an.</p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks">Was das Vorbringen der Parteien über die Probefahrt angeht, ist es zwar wenig glaubhaft, wenn der Beklagte persönlich im Termin mitgeteilt hat, er habe auf eine solche eigentlich bestanden, diese sei aber abgelehnt worden – der Beklagte sprach nach Erinnerung des Richters sogar wörtlich von verweigert, auch wenn das nicht so protokolliert worden ist –, weil eine Probefahrt dem Kaufinteressenten, ohne daß ihn das etwas kostet, gegebenenfalls weitere Erkenntnisse darüber vermittelt, ob mit dem Fahrzeug alles in Ordnung ist und wie er mit dem Fahrzeug zurechtkommt.</p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks">Andererseits kann dieser Umstand aber nicht dazu führen, daß die von dem Kläger gerügten Phänomene als bewiesen anzusehen sind. Denn dem stehen die technischen Ausführungen des Sachverständigen und die vorstehend ausgeführten Überlegungen entgegen. Überdies hat der Zeuge auch eine Begründung des Beklagten für die Ablehnung der Probefahrt bekundet, die nicht ohne weiteres den Schluß darauf zuläßt, daß der Beklagte etwas zu verbergen hatte, nämlich diejenige, daß der Beklagte keine Lust auf „Probefahrttouristen“ hatte. Dies hat aber gegebenenfalls nichts damit zu tun, daß der Beklagte über den Zustand des Fahrzeugs etwas zu verbergen hatte.</p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks"><strong>b)</strong></p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks">Daß der Beklagte den am 7. Juli 2022 im Fehlerspeicher betreffend das Getriebe niedergelegten Fehler bemerkt hätte, ist nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks">Nach den Ausführungen des Sachverständigen wird ein Fehler der am 7. Juli 2022 im Fehlerspeicher niedergelegten Art durch den normalen Autofahrer üblicherweise wegen der Geringfügigkeit seiner Symptomatik nicht bemerkt, und dies hat um so mehr zu geltend, wenn er nur selten auftritt – nach den Ausführungen des Sachverständigen war er nach den Aufzeichnungen im Fehlerspeicher nach dessen letzter vorangegangener Löschung per 7. Juli 2022 nur einmal bei 235.412 km aufgetreten, und wenn bereits im Jahr 2021 der Fehlerspeicher gelöscht wurde (vgl. etwa Seite 6 des Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. (TH) , Bl. 403 d.A.), heißt das, er ist in einer Zeit von über einem halben Jahr nur einmal aufgetreten. Wie gesagt hat er mit den seitens des Klägers geschilderten – nicht festzustellenden – Phänomenen nichts zu tun.</p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks">Daß der am 7. Juli 2022 im Fehlerspeicher niedergelegte Fehler sich während der Besitzzeit des Beklagten durch das Aufleuchten einer Kontrollampe bemerkbar gemacht hätte, ist nicht ersichtlich. Zum Zeitpunkt der Übergabe des Fahrzeugs an Herrn war dies jedenfalls nicht der Fall, andernfalls das Aufleuchten dieser Kontrollampe Herrn</p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks"> aufgefallen wäre, was jedoch niemand auch nur vorträgt.</p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks"><strong>2.</strong></p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks">Da eine Gewährleistungspflicht des Beklagten nicht ersichtlich ist, sind auch die seitens des Klägers mit den Klageanträgen zu 3. und 4. verfolgten Schadensersatzansprüche nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung beruht auf § 511 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks">Da § 511 Abs. 4 ZPO in bestimmten Fällen die Zulassung der Berufung vorschreibt und</p>
<span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks">§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hierzu vorsieht, daß die Zulassung der Berufung ggf. im Urteil zu erfolgen hat, ist mit dem Erlaß des vorliegenden Urteils auch eine Entscheidung darüber zu treffen, ob die Berufung zugelassen wird. Die Berufung ist jedoch vorliegend nicht zuzulassen.</p>
<span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks">Da die Beschwer des Klägers mehr als 600,- € beträgt, kommt die Zulassung einer</p>
<span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Es ist klarzustellen, daß die Berufung trotz Nichtzulassung kraft Gesetzes zulässig ist, wenn der Beschwerdegegenstand der Berufung einen Wert von 600,- € übersteigt. Die Entscheidungsformel spricht lediglich aus, daß eine Berufung nicht zugelassen wird, was bedeutet, daß eine Berufung, die nur im Falle ihrer Zulassung zulässig wäre, mangels Zulassung unzulässig ist. Sie verbietet aber nicht eine auch ohne ihre Zulassung kraft Gesetzes statthafte Berufung. Dies könnte sie auch nicht.</p>
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346,654 | ovgnrw-2022-09-09-19-e-60222 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 19 E 602/22 | 2022-09-09T00:00:00 | 2022-09-22T10:01:31 | 2022-10-17T11:10:25 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0909.19E602.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Gründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Das Oberverwaltungsgericht entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter als Einzelrichter, weil auch der angefochtene Streitwertbeschluss eine Einzelrichterentscheidung ist (§ 66 Abs. 6 Satz 1, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG). Diese Vorschriften finden nach ihrem Sinn und Zweck nicht nur auf eine erstinstanzliche Einzelrichterentscheidung nach § 6 VwGO Anwendung, sondern auch auf eine erstinstanzliche Berichterstatterentscheidung gemäß § 87a Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">OVG NRW, Beschlüsse vom 18. August 2022 ‑ 19 E 899/21 -, juris, Rn. 2, vom 28. Mai 2021 ‑ 19 E 311/21 -, juris, Rn. 1, vom 6. Juli 2020 ‑ 4 E 845/19 -, juris, Rn. 1, und vom 23. Oktober 2018 ‑ 13 E 737/18 ‑, juris, Rn. 1; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. April 2014 ‑ 1 S 400/14 ‑, juris, Rn. 2 ff.; vgl. zum Streitstand Jacob, in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 87a Rn. 19; a. A. OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 18. März 2019 ‑ OVG 3 L 36.19 , juris, Rn. 4, alle m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Eine Übertragung des Beschwerdeverfahrens an den Senat nach § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG kommt nicht in Betracht, da es weder besondere Schwierigkeiten aufweist noch die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Streitgegenstand des durch Klagerücknahme vom 11. Juli 2022 beendeten erstinstanzlichen Klageverfahrens war die mit Ordnungsverfügung des staatlichen Schulamts für die Stadt C. vom 24. Mai 2022 ergangene Schulbesuchsaufforderung betreffend den Sohn M. mit Zwangsgeldandrohung im Sinn des § 41 Abs. 5 SchulG NRW.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">In gerichtlichen Verfahren gegen behördliche Ordnungsverfügungen zur Durchsetzung der Schulpflicht bemisst sich der Streitwert mangels gegenteiliger Anhaltspunkte anhand des Auffangstreitwerts im Sinn des § 52 Abs. 2 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Zur Streitwertfestsetzung anhand des Auffangstreitwerts, der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allerdings halbiert wird, vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Februar 2022 ‑ 19 B 1973/21 -, juris, Rn. 25, und vom 29. November 2021 ‑ 19 B 1492/21 -, juris, Rn. 12 ff.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Da es sich bei der zwischenzeitlich zurückgenommenen Klage um ein gerichtliches Hauptsacheverfahren handelt, hat das Verwaltungsgericht den Streitwert zutreffend mit 5.000,00 Euro bemessen. Andere Anhaltspunkte für die Bemessung des Streitwerts sind nicht ersichtlich und werden auch im Rahmen der Beschwerdebegründung nicht dargelegt.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Einwand der Kläger, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Festsetzung des Streitwerts den „tatsächliche[n] Streitwert“ berücksichtigen können, weil sie die Ordnungsverfügung zum Zeitpunkt des Einstellungsbeschlusses vom 18. Juli 2022 bereits mit Schreiben vom 11. Juli 2022 nachgereicht hätten, ist nach Aktenlage nachvollziehbar, bleibt aber ohne Auswirkung auf die Streitwertfestsetzung. Zu Unrecht legen die Kläger dabei offenbar zugrunde, ihre beiden Schreiben an das Verwaltungsgericht vom 11. Juli 2022 (Rücknahmeschreiben und Übersendungsschreiben mit der beigefügten ersten Seite der Ordnungsverfügung) seien auch zeitgleich beim Verwaltungsgericht eingegangen. Ausweislich der beiden Eingangsstempel ging aber am 18. Juli 2022, dem Tag der Signatur des Einstellungsbeschlusses mit der Streitwertfestsetzung, nur das Rücknahmeschreiben beim Verwaltungsgericht ein, das andere Schreiben erst am darauffolgenden 19. Juli 2022. So lag dem Verwaltungsgericht die erste Seite der angefochtenen Ordnungsverfügung noch nicht vor, als es am Nachmittag des 18. Juli 2022 den angefochtenen Streitwertbeschluss signierte. Dieser spätere Eingang war aber auch ohnehin unerheblich, weil das Verwaltungsgericht ausdrücklich unterstellt hat, der Klage liege eine solche Ordnungsverfügung zugrunde.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der weitergehende – wenngleich in der Sache zutreffende – Hinweis der Kläger, dass ihre Klage nicht fristgerecht bei Gericht eingegangen sei, hat keine Relevanz für den Streitwert der gleichwohl wirksam erhobenen und lediglich unzulässigen Klage. Dies gilt auch, wenn die Klage – wie vorliegend – später zurückgenommen wird. Folge dessen ist lediglich, dass sich die (auf Basis des unveränderten Streitwerts bemessenen) Gerichtskosten reduzieren, vgl. Nr. 5111 des Kostenverzeichnisses in Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Kostenhinweis ergibt sich aus § 68 Abs. 3 GKG.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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"name": "Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht",
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"city": 647,
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} | 2 B 42/22 | 2022-09-09T00:00:00 | 2022-09-20T10:00:56 | 2022-10-17T11:10:18 | Beschluss | ECLI:DE:VGSH:2022:0909.2B42.22.00 | <div class="docLayoutText">
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der Antrag des Antragtellers,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 16..2022 gegen die Nutzungsuntersagung der Antragsgegnerin vom 23.05.2022 wiederherzustellen,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>hat keinen Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Bei der nach § 88 VwGO gebotenen verständigen Würdigung bezieht sich der Antrag auf die von der Antragsgegnerin am 29.04.2022 mündlich ausgesprochene Untersagung der Nutzung einer als Stellfläche für zwei PKW genehmigten Fläche als zusätzliche Außenterrassenfläche für das vom Antragsteller unter der Anschrift S-Straße X in A-Stadt betriebene Restaurant, die unter dem 23.05.2022 nur schriftlich bestätigt (vgl. § 108 Abs. 2 Satz 2 LVwG ) und für sofort vollziehbar erklärt worden ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Dieses nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO zu beurteilende vorläufige Rechtsschutzgesuch ist zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das private Aufschubinteresse des Antragstellers einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Hat die Behörde - wie vorliegend hinsichtlich der Nutzungsuntersagung - die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeordnet, kommt es im Besonderen darauf an, ob sie zu Recht das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung höher gewichtet hat als das private Interesse, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens den Verwaltungsakt nicht befolgen zu müssen. Diese Abwägung geht vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus, weil keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagung bestehen, ein Zuwarten bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren mit nicht hinnehmbaren Nachteilen für öffentliche Schutzgüter verbunden wäre und der Antragsteller durch die Verfügung nur geringfügig in schützenswerten Interessen berührt wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>1. Zunächst ist festzustellen, dass die der mit Schreiben vom 23.05.2022 ausgesprochenen Sofortvollzugsanordnung beigegebene Begründung den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO entgegen der Auffassung des Antragstellers genügt. Das mit dieser Vorschrift normierte Erfordernis einer schriftlichen Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts soll neben der Information des Betroffenen und des mit einem eventuellen Aussetzungsantrag befassten Gerichts vor allem die Behörde selbst mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG zwingen, sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst zu werden und die Frage des Sofortvollzuges besonders sorgfältig zu prüfen. Die Anforderungen an den erforderlichen Inhalt einer solchen Begründung dürfen hierbei jedoch nicht überspannt werden. Sie muss allein einen bestimmten Mindestinhalt aufweisen. Dazu gehört es insbesondere, dass sie sich – in aller Regel – nicht lediglich auf eine Wiederholung der den Verwaltungsakt tragenden Gründe, auf eine bloße Wiedergabe des Textes des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO oder auf lediglich formelhafte, abstrakte und letztlich inhaltsleere Wendungen, namentlich solche ohne erkennbaren Bezug zu dem konkreten Fall, beschränken darf. Dabei liegt es jedoch auch in der Natur der Sache, dass bei Ordnungsverfügungen zum Zwecke der Gefahrenabwehr auch Gesichtspunkte angeführt werden, die schon bei der Prüfung der Verfügung selbst Berücksichtigung finden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Diese Anforderungen sind hier erfüllt. Die Antragsgegnerin hat die Anordnung damit begründet, sie liege im öffentlichen Interesse, da der Antragsteller derzeit einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Restaurantbetreibern genieße, die sich erst einem ordentlichen Genehmigungsverfahren unterzögen. Insbesondere in Anbetracht der anstehenden Sommersaison und der von ihm selbst angeführten Umsatzsteigerung durch den Außenbereich habe er einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber gesetzestreuen Bürgern. Dies laufe dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG zuwider. Mithin sei bereits das Vorliegen der formellen Rechtswidrigkeit der Nutzungserweiterung ausreichend, um die sofortige Vollziehung anzuordnen. Diese Begründung lässt erkennen, dass sich die Antragsgegnerin mit dem konkreten Einzelfall auseinandergesetzt und entgegen der Auffassung des Antragstellers gerade keine bloß formel- oder floskelhaften Ausführungen gemacht hat, und ihre Erwägungen zudem auch über die die Ermessensentscheidung tragenden Erwägungen hinausgehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>2. Bei Anwendung des Eingangs dargestellten Maßstabes geht auch die vorzunehmende Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Nutzungsuntersagung ist höher zu bewerten als sein Interesse an einer Fortsetzung der ihm untersagten Nutzung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Denn nach allen gegenwärtig erkennbaren Umständen erweist sich die von der Antragsgegnerin am 29.04.2022 mit Frist von einer Woche mündlich ausgesprochene und unter dem 23.05.2022 schriftlich bestätigte Untersagung der Nutzung eines im Südosten an das Hauptgebäude angrenzenden und in der Anlage zum Bescheid näher dargestellten Teilbereichs der gepflasterten Grundstücksfläche als Erweiterung seiner Restaurantterrasse bei der gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Rechtsgrundlage für den Erlass der streitgegenständlichen Nutzungsuntersagung ist § 59 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 LBO 2016. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde die Nutzung einer baulichen Anlage untersagen, wenn diese im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften erfolgt. Insoweit rechtfertigt in aller Regel bereits die sich aus dem Fehlen einer im Einzelfall notwendigen Baugenehmigung für die konkrete Nutzung einer baulichen Anlage ergebende formelle Illegalität den Erlass einer Nutzungsuntersagung. Da die Nutzungsuntersagung in erster Linie die Funktion hat, den Bauherrn auf das Genehmigungsverfahren zu verweisen, muss grundsätzlich nicht geprüft werden, ob das Vorhaben auch gegen materielles Recht verstößt (std. Rspr. des OVG Schleswig, vgl. Beschluss vom 16.01.2018 – 1 MB 22/17 –; Beschluss vom 08.05.2020 – 1 LA 52/17 –). Eine formell rechtwidrige Nutzung darf allerdings aus Gründen der Verhältnismäßigkeit regelmäßig dann nicht untersagt werden, wenn sie offensichtlich genehmigungsfähig ist (std. Rspr. des OVG Schleswig, vgl. Beschluss vom Beschluss vom 04.12.2020 – 2 B 51/20 –, juris, m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Daran gemessen liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Nutzungsuntersagung vor, denn die Nutzung der Stellplatzflächen zu Bewirtungszwecken ist rechtswidrig und jedenfalls nicht offensichtlich genehmigungsfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Die ausgeübte Nutzung ist sowohl formell als auch materiell illegal, da die vom Antragsteller vorgenommene, nicht nach § 63 LBO 2016 genehmigungsfreie Umnutzung der streitgegenständlichen Terrassenfläche nicht nur von den in der Vergangenheit erteilten Baugenehmigungen nicht gestattet wurde und damit formell illegal ist, sondern entgegen der Auffassung des Antragstellers sogar gegen die nach der Genehmigungslage fortbestehende Stellplatzregelung verstößt und damit auch materiell rechtswidrig ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Es handelt sich bei der Aufnahme der Nutzung zu gastronomischen Zwecken um eine nach § 62 Abs. 1 LBO 2016 genehmigungsbedürftige Nutzungsänderung. Nach § 62 Abs. 1 LBO 2016 bedarf die Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und Beseitigung von Anlagen der Baugenehmigung, soweit in den §§ 63, 68, 76 und 77 LBO 2016 nichts anderes bestimmt ist. Nach § 63 Abs. 2 LBO 2016 ist die Änderung der Nutzung einer Anlage nur dann verfahrensfrei, wenn für die neue Nutzung keine anderen öffentlich-rechtlichen Anforderungen als für die bisherige Nutzung in Betracht kommen, die im bauaufsichtlichen Verfahren zu prüfen sind, oder die Errichtung oder Änderung der Anlagen nach § 63 Abs. 1 LBO verfahrensfrei wäre. Hier stellen sich aber bei der Erweiterung der Kapazitäten des Restaurants sowohl Fragen im Hinblick auf die Stellplatzsituation, als auch immissionsrechtliche Fragen und auch die Errichtung einer Terrasse zu gastronomischen Zwecken wäre nicht nach § 63 Abs. 1 LBO 2016 genehmigungsfrei. Insbesondere betrifft § 63 Abs. 1 Nr. 1 g LBO 2016 nur die Überdachung von Terrassen, nicht aber die Terrasse selbst. Zutreffend hat die Antragsgegnerin auch darauf verwiesen, dass sie über den vom Antragsteller unter dem 30.04.2022 gestellten Antrag auf Nutzung der Fläche als Restaurantterrasse nicht entscheiden konnte, da dieser trotz Aufforderung die nach § 64 Abs. 2 LBO 2016 i.V.m. der BauVorlVO notwendigen Unterlagen nicht eingereicht hat und insoweit die Rücknahmefiktion des § 67 Abs. 2 S. 2 LBO 2016 eingetreten ist. Auch insoweit ist die Umnutzung nicht legalisiert worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Die dem Antragsteller untersagte Nutzung der streitgegenständlichen Fläche für die Außengastronomie steht zudem im Widerspruch zu den in der unter dem 01.11.2007 erteilten Baugenehmigung getroffenen Festsetzungen, wonach sich in diesem Bereich zwei von den drei nach der Baugenehmigung zu schaffenden PKW-Stellplätzen befinden. Die im Kern eine Erweiterung des Gastraums und eine Errichtung einer Dachterrasse betreffende Genehmigung enthält in der Baubeschreibung (BA Bl. 133) nämlich eine Stellplatzberechnung, wonach für die durch den Umbau geschaffenen 28 zusätzlichen Sitzplätze drei Stellplätze auf dem Grundstück nachgewiesen werden (1 Stellplatz je 8-12 Sitzplätze). Diese drei Stellplätze grenzen nach dem Lageplan, der ebenfalls Teil der Baugenehmigung ist, im südöstlichen Grundstücksteil an das Gebäude an und umfassen auch die Fläche, die Gegenstand der streitgegenständlichen Nutzungsuntersagung ist. Entgegen der vom Antragsteller zwischenzeitlich geäußerten Auffassung hat die Antragsgegnerin auch nicht auf die Errichtung aller drei Stellplätze „verzichtet“, indem sie unter dem 27.10.2017 eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Wintergartens auf einer Fläche erteilt hat, die im Wesentlichen den an das Gebäude angrenzenden der drei Stellplätze betrifft. Zwar durfte der Antragsteller aufgrund dieser Genehmigung den dritten Stellplatz zugunsten des Wintergartens beseitigen; mangels Anordnung in der Baugenehmigung auch ohne die Pflicht einen Ersatzstellplatz zu errichten. Dafür, dass mit der Baugenehmigung alle drei Stellplätze beseitigt werden sollten, bestehen dagegen keine Anhaltspunkte. Vielmehr sind in einem der Lagepläne, die Bestandteil dieser Baugenehmigung sind (BA Bl. 113), die anderen beiden Stellplätze in ihren Umrissen weiterhin erkennbar und nicht etwa als Restaurantterrasse dargestellt, sodass sich die Nutzung als solche wegen des Verstoßes gegen die Festsetzung in der Baugenehmigung als materiell rechtswidrig erweist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Die streitgegenständliche Anlage ist auch nicht offensichtlich genehmigungsfähig. Insbesondere die Erfüllung des Stellplatzbedarfs ist, wie bereits ausgeführt, nicht anderweitig nachgewiesen. Ggf. stellen sich durch die Erweiterung der Terrassenfläche auch immissionsrechtliche Fragen neu.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Weiter hat die Antragsgegnerin ihr nach § 59 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 LBO 2016 bestehendes Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Sie hat die beteiligten Belange in nicht zu beanstandender Weise gegeneinander abgewogen und den öffentlichen Interessen den Vorrang eingeräumt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Behörde in der Regel ermessensgerecht handelt, wenn sie eine im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften stehende, nicht offensichtlich genehmigungsfähige Nutzung untersagt. Entsprechend hat die Antragsgegnerin hier ihr Ermessen ausgeübt, indem sie sich bei dem Erlass der Nutzungsuntersagung am Gleichheitsgrundsatz orientiert hat und darauf verwiesen hat, dass der Antragsteller einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber gesetzestreuen Bürgern erlangt, die sich erst einem ordentlichen Genehmigungsverfahren unterziehen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ist die mündlich angeordnete Frist von einer Woche ebenfalls angemessen gewesen. Dafür, dass dem Antragsteller eine Einstellung der Nutzung hier nicht umgehend möglich gewesen wäre, ist nichts ersichtlich.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Die Anträge sind mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzulehnen gewesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2, 63 Abs. 2 GKG.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
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346,614 | vg-schleswig-holsteinisches-2022-09-09-12-b-3322 | {
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<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Tenor<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 17.222,22 € festgesetzt.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<div class="docLayoutMarginTopMore"><h4 class="doc">
<!--hlIgnoreOn-->Gründe<!--hlIgnoreOff-->
</h4></div>
<div class="docLayoutText"><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p>Der am 25.05.2022 gestellte und am 29.08.2022 geänderte Antrag des Antragstellers,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">dem Antragsgegner aufzugeben, die bisher haushalterisch freigehaltene Stelle im ..., belegt mit einer Amtszulage A 13 Z, weiter freizuhalten, bis über seinen Widerspruch bestandskräftig entschieden ist,</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>bleibt ohne Erfolg.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Nach der Bestimmung des § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint (Satz 2). Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO hat der Antragsteller sowohl die Eilbedürftigkeit der gewährten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Dem Antragsteller steht ein Anordnungsgrund zur Seite. Unabhängig davon, dass die ausgewählten Konkurrenten des Antragstellers bereits befördert wurden, besteht die besondere Eilbedürftigkeit für den Antragsteller darin, dass der Antragsgegner die Freihaltung einer A 13 Z-Stelle nur bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens zugesichert hat. Der Antragsgegner könnte die begehrte Stelle daher nach Erlass eines etwaigen zurückweisenden Widerspruchsbescheides mit einem anderen Beamten besetzen. Diese Ernennung könnte mit Blick auf den Grundsatz der Ämterstabilität (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 09.07.2007 – 2 BvR 206/07 –, juris Rn 13; OVG Schleswig, Beschluss vom 02.09.2016 – 2 MB 21/16 –, juris Rn. 9) nicht mehr rückgängig gemacht werden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat jedoch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsanspruch ist in beamtenrechtlichen Konkurrentenverfahren glaubhaft gemacht, wenn der unterlegene Bewerber darlegt, dass die Auswahlentscheidung fehlerhaft war und seine Aussichten, bei erneuter Auswahlentscheidung ausgewählt zu werden, zumindest offen sind, seine Auswahl mithin möglich erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.09.2002 – BvR 857/02 –, juris Rn. 83; BVerwG, Beschluss vom 20.01.2004 – 2 VR 3.03 –, juris Rn.8; OVG Schleswig, Beschluss vom 28.04.2017 – 2 MB 5/17 –, n.v.). Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) gewährt ein grundrechtsgleiches Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Dementsprechend hat jeder Bewerber Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über sein Beförderungsbegehren (sog. Bewerbungsverfahrensanspruch). Dem Grundsatz der Bestenauslese entspricht es dabei, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerber in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen und als vorrangiges Auswahlkriterium auf die aktuellen dienstlichen Beurteilungen abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.02.2003 – 2 C 16.02 –, juris Rn. 12; BVerfG, Beschluss vom 04.10.2012 – 2 BvR 1120/12 –, juris Rn. 12). Maßgeblich ist in erster Linie das abschließende Gesamturteil, welches anhand einer Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte gebildet wurde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2015 – 2 BvR 1958/13 –, juris Rn. 58, Kammerbeschlüsse vom 14.10.2012 – 2 BvR 1120/12 –, juris Rn. 12 und vom 09.08.2016 – 2 BvR 1287/16 –, juris Rn. 79).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p>Die durch den Antragsgegner durchgeführte Stellenanhebung mehrerer Stellen stellt eine Beförderung dar (1.). Die Auswahlentscheidung des Antragsgegners was indessen nicht fehlerhaft (2.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>1. Die vom Antragsgegner durchgeführte Stellenanhebung mehrerer Stellen führt zur Beförderung des betreffenden Stelleninhabers und zu einem höherwertigen Statusamt, denn die Verleihung eines anderen Amtes mit anderem Grundgehalt (§ 8 Abs. 1 Nr. 3 BeamtStG) bedarf der Ernennung. Folglich sind die für die Konkurrenz um eine Beförderungsstelle geltenden Grundsätze anzuwenden. Die Auswahl ist deshalb entsprechend dem Verfassungsgrundsatz des Art. 33 Abs. 2 GG insbesondere nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen. Kommen mehrere Bewerber in Betracht, muss der am besten Geeignete ausfindig gemacht werden (VGH München, Beschluss vom 09.01.2012 – 3 CE 11.1690 –, juris Rn. 27 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Diese Grundsätze gelten auch für die Ämter mit einer Amtszulage, da es sich dabei um statusrechtlich verschiedene Ämter handelt (BVerwG, Beschluss vom 16.04.2007 – 2 B 25.07 –, juris Rn. 4). Wenn der Antragsgegner also bestehende Stellen der Besoldungsgruppe A 13 mit einer Amtszulage nach Anlage 1 Fußnote 13 SHBesG ausstattet, muss er sich dabei an die verfassungsgemäßen Grundsätze des Art. 33 Abs. 2 GG halten und seine Auswahlentscheidung nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vornehmen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>2. Der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers ist nicht verletzt worden.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Der Antragsgegner durfte seiner Auswahlentscheidung zweierlei Voraussetzungen zugrunde legen: Der auszuwählende Beamte muss auf einen Dienstposten innehaben, der mit A 13 Z bewertet wird und er muss außerdem selbst der Besoldungsgruppe A 13 angehören.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Die Dienstpostenbewertung des Antragsgegners kam zum Ergebnis, dass elf Dienstposten mit A 13 Z bewertet werden können. Der Dienstherr handelt bei der Erstellung von Aufgabenbeschreibungen und Dienstpostenbewertungen im Rahmen seiner Organisationsgewalt. Die Zuordnung der Dienstposten zu einem statusrechtlichen Amt einer bestimmten Besoldungsgruppe unterliegt im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des Besoldungs- und des Haushaltsrechts dabei seiner organisatorischen Gestaltungsfreiheit (vgl. nur: BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2016 – 2 A 2.14 –, juris Rn. 19 m.w.N.). Infolgedessen schloss der Antragsgegner diejenigen Stelleninhaber aus der Auswahlentscheidung aus, die sich noch in der Besoldungsgruppe A 12 befanden oder die bereits eine Zulage nach A 13 erhielten.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Erst im zweiten Schritt nahm der Antragsgegner einen Vergleich der restlichen Stelleninhaber nach dem Prinzip der Bestenauslese vor.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Da der Antragsteller schon nicht die erste Voraussetzung für die Stellenanhebung erfüllt, konnte er in der engeren Auswahl keine Berücksichtigung finden. Er ist seit dem 01.09.2019 zu 100% freigestellt und im Personalrat tätig. Zuvor war er vom 05.05.2015 bis zum 31.08.2019 zu 50% freigestellt. Als 100% freigestellter Beamter hat der Antragsteller derzeit keinen Dienstposten inne. Vor seiner Freistellung war er Inhaber des Dienstpostens VII .... Dieser Dienstposten ist aktuell mit einem Tarifbeschäftigten besetzt und daher nicht bewertet. Aus Sicht des Antragsgegners ist der Dienstposten zum aktuellen Zeitpunkt mit A 9/A 11 bzw. A 12/A 13 zu bewerten. Die Bewertung mit A 13 Z ist hingegen ausgeschlossen, weil auf dem Dienstposten keine besonders herausgehobenen Aufgaben wahrgenommen werden. Eine Bewertung mit A 13 Z ist auf anderen Dienstposten erfolgt, wenn sich dort folgende Anforderungen ergaben: Auswirkungen/Bedeutung der auf dem Dienstposten getroffenen Entscheidungen für das Ressort/Land; politisch brisantes Thema und/oder landespolitisch besonderes wichtige Aufgabe; besonders hervorgehobenes Expertenwissen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Dem Antragsteller hat auch keinen subjektiven Anspruch darauf, dass sein ehemalig wahrgenommener Dienstposten eine höhere Bewertung durch den Antragsgegner erfährt. Die Dienstpostenbewertung betrifft nämlich keine Rechte des Beamten (BVerwG, Urteil vom 28.11.1991 – 2 C 7.89 –, juris Rn. 19 m.w.N.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz käme nur dann in Betracht, wenn sich die Bewertung des Dienstpostens als Missbrauch der organisatorischen Gestaltungsfreiheit des Antragsgegners darstellen würde (BVerwG, Urteil vom 28.11.1991 – 2 C 7.89 –, juris Rn. 20 m.w.N.). Dafür sind vorliegend jedoch keine Anhaltspunkte gegeben, da der Antragsgegner die von ihm gestellten Anforderungen an einen Dienstposten mit der Bewertung von A 13 Z nachvollziehbar dargelegt hat.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller ist auch nicht aufgrund des einfachgesetzlichen Benachteiligungsverbotes aus § 36 Abs. 6 Satz 1 MBG so zu behandeln, als hätte er einen mit A 13 Z bewerteten Dienstposten inne. Danach dürfen Freistellungen nicht zu einer Beeinträchtigung des beruflichen Werdeganges führen. Um den hypothetischen beruflichen Werdegang in der Zeit der Freistellung möglichst realitätsnah darzustellen, wurde dieser durch den Antragsgegner fiktiv fortgeschrieben. Die fiktive Fortschreibung fingiert dabei eine im Beurteilungszeitraum tatsächlich nicht erbrachte Dienstleistung und unterstellt zugleich eine Fortentwicklung der Leistungen des Beamten entsprechend dem durchschnittlichen beruflichen Werdegang einer Gruppe vergleichbarer Beamter (BVerwG, Urteil vom 16.12.2010 – 2 C 11.09 –, juris Rn. 9).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Es bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der fiktiven Nachzeichnung des Antragsgegners. Entscheidet sich der Dienstherr für die fiktive Nachzeichnung durch Bildung einer Vergleichsgruppe, muss er sicherstellen, dass sowohl die generellen Kriterien für die Gruppenbildung als auch deren personelle Zusammensetzung im Einzelfall dem gesetzlichen Benachteiligungsverbot Rechnung tragen. Von der Zusammensetzung der konkreten Vergleichsgruppe hängt entscheidend ab, wie groß die Chancen des freigestellten Personalratsmitglieds sind, aufgrund der Vergleichsbetrachtung mit den anderen Gruppenmitgliedern befördert zu werden. Daher darf der Dienstherr die Vergleichsgruppe nicht so zusammenstellen, dass eine Beförderung des freigestellten Personalratsmitglieds unabhängig von dem durchschnittlichen beruflichen Werdegang der anderen Gruppenmitglieder ausgeschlossen ist (BVerwG, Beschluss vom 30.06.2014 – 2 B 11.14 –, juris Rn. 15). Diesen Maßstäben wird der Antragsgegner gerecht. Er hat eine Vergleichsgruppe aus sämtlichen Beschäftigten in seinem Bereich gebildet, die – genau wie der Antragsteller – im Jahr 2018 eine Regelbeurteilung erhalten haben, die mit der Gesamtnote 4 bewertet wurde und die zum Zeitpunkt der Beurteilung der Besoldungsgruppe A 13 angehörten. Die Vergleichsgruppe erfasst fünf Beschäftigte und stellt damit eine hinreichende Größe dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.12.2014 – 1 WB 6.13 –, juris Rn. 40). Aus der Referenzgruppe wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer von fünf Personen eine Amtszulage gewährt. Es erscheint vor diesem Hintergrund nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller ebenfalls (als Ausnahme vom Regelfall) bei hypothetischem Verlauf seines Werdeganges ein höheres Statusamt nach A 13 Z bekleiden würde. Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung der Fußnote 13 der Anlage 1 Besoldungsgruppe A 13 SHBesG, wonach für Beamtinnen und Beamte mit dem ersten Einstiegsamt der Laufbahngruppe 2 für Funktionen, die sich von denen der Besoldungsgruppe A 13 abheben, nach Maßgabe sachgerechter Bewertung bis zu 20% der ausgebrachten Stellen der Besoldungsgruppe A 13 mit einer Amtszulage ausgestattet werden können. Daraus folgt, dass eine Amtszulage auf Ausnahmefälle begrenzt sein soll. Es kann anhand der Entwicklung der Beamten der Vergleichsgruppe also nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der Auswahlentscheidung einen mit A 13 Z bewerteten Dienstposten bekleidet hätte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Es liegen auch keine besonderen Umstände vor, die ausnahmeweise dazu führen, dass der Antragsteller besser als seine Vergleichsgruppe behandelt werden müsste. Solche Umstände hat der Antragsteller schon nicht geltend gemacht. Soweit er darauf verweist, dass er bei mindestens zwei in der Vergangenheit ausgeschriebenen Stellen mit der Bewertung A 13 Z obsiegt hätte, kann er damit nicht durchdringen. Dem Antragsteller stand es frei, sich auf die ausgeschriebenen Stellen zu bewerben, was er jedoch unterlassen hat. Er hat auch nicht vorgetragen, dass ihm die ausgeschriebenen Stellen aufgrund seiner Stellung im Personalrat nicht übertragen worden seien. Nur so ließe sich eine Benachteiligung des Antragstellers herleiten (vgl. BAG, Urteil vom 27.06.2001 – 7 AZR 496/99 –, juris Rn. 31). Hat er sich jedoch nur nicht beworben, weil er kein Interesse an der Ausübung der jeweiligen Stelle hatte, kann nicht im Rahmen der fiktiven Nachzeichnung angenommen werden, dass er die Auswahlverfahren für sich entschieden hätte. Dies würde zu einer rechtswidrigen Besserstellung des Antragstellers im Vergleich zu nicht freigestellten Beschäftigten führen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>Der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers wurde auch nicht dadurch verletzt, dass die Auswahlentscheidung getroffen wurde, bevor seine fiktive Nachzeichnung erfolgt ist. Die Auswahlentscheidung ist am 04.05.2022 getroffen und daraufhin in das Mitbestimmungsverfahren übergeleitet worden. Die fiktive Laufbahnfortschreibung des Antragstellers datiert auf den 23.05.2022. Der Antragsgegner versicherte dem Antragsteller aber bereits im Laufe des Auswahlverfahrens, dass er ihm eine A 13 Z-Stelle freihalten werde, damit die Verletzung seines Bewerbungsverfahrensanspruchs notfalls gerichtlich überprüft werden könne. Es bestand daher keine Notwendigkeit dafür, das laufende Auswahlverfahren zu verzögern. Dem Anspruch des Antragstellers auf Zugang zu öffentlichen Ämtern aus Art. 33 Abs. 2 GG drohte keine Verletzung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Der Wert des Streitgegenstandes beträgt gemäß §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2, Abs. 6 Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 GKG ein Viertel der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge des angestrebten Amtes mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen (vgl.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>OVG Schleswig, Beschluss vom 21.10.2019 – 2 MB 3/19 –, juris Rn. 90 m.w.N.).</p></dd>
</dl>
</div></div>
<br>
</div>
|
346,532 | ovgni-2022-09-09-13-pa-22622 | {
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"state": 11,
"jurisdiction": null,
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} | 13 PA 226/22 | 2022-09-09T00:00:00 | 2022-09-14T10:01:08 | 2022-10-17T11:10:04 | Beschluss | <div id="dokument" class="documentscroll">
<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 16. August 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:54pt">Der Kläger trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.</p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p><strong> I.</strong> Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 16. August 2022 bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren zu Recht abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p><strong>1.</strong> Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Hier fehlt der Rechtsverfolgung des Klägers die erforderliche Erfolgsaussicht. Denn nach der im Prozesskostenhilfeverfahren unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfe (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.) nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 - juris Rn. 11) ist seine Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 30. Juni 2020 (Blatt 5 ff. der Gerichtsakte) über die Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt und die Abschiebungsandrohung sowie auf Verpflichtung der Beklagten zur Ausstellung einer Aufenthalts- oder Daueraufenthaltskarte voraussichtlich unbegründet. Der Senat macht sich die zutreffenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses vom 16. August 2022 und des Nichtabhilfebeschlusses vom 29. August 2022 zu eigen und verweist deshalb auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Die Verteilung der Beweislast durch das Verwaltungsgericht ist nicht zu beanstanden. Zwar gilt für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen die Freizügigkeitsvermutung. Im Streitfall obliegt den Unionsbürgern und ihren Angehörigen allerdings die Nachweispflicht der die Freizügigkeit begründenden Voraussetzungen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU Rn. 192, Stand: Januar 2021; Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Rn. 4). Denn es handelt sich um Tatbestandsvoraussetzungen, die eine dem Ausländer günstige Rechtsfolge nach sich ziehen. Dies gilt auch dann, wenn sie - wie hier im Rahmen des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU - negative Voraussetzung einer Eingriffsnorm sind (a.A. Geyer, in Hofmann, a.a.O., § 5 FreizügG/EU Rn. 16, allerdings unter verfehltem Hinweis auf die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften, BT-Drs. 17/10746, S. 9, die die spezielle Missbrauchsregelung des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU zum Gegenstand hat). Es kommt hinzu, dass es sich bei den entscheidungserheblichen Umständen um solche aus dem persönlichen Lebensbereich des Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen handelt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, kommt es bei der Frage des behaupteten Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU darauf an, ob sich der Kläger mit seiner polnischen Ehefrau fünf Jahre lang ständig rechtmäßig im Sinne des Freizügigkeitsrechts (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften, BT-Drs. 18/2581, S. 16; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.7.2013 - 8 LA 148/12 -, juris Rn. 12 ff., insb. Rn. 17) im Bundesgebiet aufgehalten hat. Dies hat der Kläger hinsichtlich seiner Ehefrau bislang nicht nachvollziehbar dargelegt. Für eine schutzwürdige Vertrauensbetätigung des Klägers in den fünfjährigen Besitz der ohnehin nur deklaratorischen Aufenthaltskarte ist schon deshalb kein Raum, weil es sich bei dem Aufenthalt seiner Ehefrau - wie bereits ausgeführt - um einen Umstand aus dem persönlich-familiären Bereich des Klägers handelt, der seiner unmittelbaren Kenntnis unterliegt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Die Ausführungen der Beschwerdebegründung zur internationalen Zuständigkeit für das bislang nicht eingeleitete Scheidungsverfahren des Klägers liegen neben der Sache. An keiner Stelle des angefochtenen Beschlusses wird ausgeführt, dass es im Hinblick auf ein mögliches selbstständiges Aufenthaltsrecht des Klägers nach § 3 Abs. 4 FreizügG/EU auf die Durchführung eines Scheidungsverfahrens gerade in Deutschland ankommt. Im Übrigen ist den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nichts hinzuzufügen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p><strong>2.</strong> Für eine Beiordnung der Prozessbevollmächtigten des Klägers nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO ist ebenfalls kein Raum.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p><strong>II.</strong> Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO. Ein Streitwert ist nicht festzusetzen. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Kostentatbestand in Nr. 5502 der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) zum Gerichtskostengesetz (vgl. zur Entstehung von Gerichtskosten bei Zurückweisung einer PKH-Beschwerde: Senatsbeschl. v. 28.3.2019 - 13 PA 65/19 -, juris Rn. 3).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
</div></div>
<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
<p style="margin-top:24px"> </p>
<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
<p><img alt="Abkürzung Fundstelle" src="/jportal/cms/technik/media/res/shared/icons/icon_doku-info.gif" title="Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen." onmouseover="Tip('<span class="contentOL">Wenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.</span>', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie <span style="font-weight:bold;">genau dieses Dokument</span> verlinken möchten:<br>https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE220007018&psml=bsndprod.psml&max=true</p>
</div>
</div>
|
|
346,866 | ovgnrw-2022-09-08-4-a-136221 | {
"id": 823,
"name": "Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen",
"slug": "ovgnrw",
"city": null,
"state": 12,
"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
"level_of_appeal": null
} | 4 A 1362/21 | 2022-09-08T00:00:00 | 2022-10-08T10:03:38 | 2022-10-17T11:10:55 | Urteil | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0908.4A1362.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 21.4.2021 wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist Herstellerin eines Geräts zur Gewichtsbestimmung, das für den Einsatz im Einzelhandel in Kassensysteme anderer Hersteller integriert wird und so das Wiegen beim Kassiervorgang ermöglicht. Die Wiegeergebnisse werden durch eine auf der zentralen Rechen- und Steuereinheit (CPU) des Geräts installierte Waagen-Software erfasst. Diese leitet die Daten über eine zum Gerät gehörende rückwirkungsfreie Datenschnittstelle insbesondere mittels des Datenkommunikationssystems Dialog 06 als Ausgangssignal an den Kassen-PC weiter. In Folge dieser Ansteuerung werden die für Verwender und Kunden sichtbaren Wägewerte über das von der Klägerin lizensierte PC-basierte Software-Modul vom Typ CS300-SD auf dem Monitor des Kassensystems dargestellt. Das Kassensystem wiederum verfügt über eine sog. Applikationssoftware, die das Identifizieren des Wiegeguts oder das Aufsummieren von Messergebnissen ermöglicht.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Für die streitgegenständliche Geräteart „nichtselbsttätige preisrechnende Waage für offene Verkaufsstellen“, Typbezeichnung „CS300…“ hatte die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) zunächst im März 2016 eine bis März 2019 gültige EG-Bauartzulassungsbescheinigung ausgestellt. Bezogen hierauf hatte die Klägerin eine EU-Konformitätserklärung abgegeben. Nach Ablauf der Gültigkeit der Bauartzulassungsbescheinigung erteilte die PTB der Klägerin zuletzt die bis zum 12.11.2028 gültige EU-Baumusterprüfbescheinigung Nr. DE-18-NAWID-PTB014, Revision 1. Darin heißt es unter anderem:</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks"><strong>1 Bauartbeschreibung</strong></p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks"> Nichtselbsttätige elektromechanische Waage, Typ CS300, ausgeführt als:</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">- kompakte Waage einschließlich Lastaufnehmer, Wägezelle und Auswerteelektronik (analog und / oder digital)</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">- für offene Verkaufsstellen</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks"><strong>1.1 Aufbau</strong></p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Waage ist modular aufgebaut nach EN 45501, T.2.2, und besteht aus den folgenden identifizierbaren Komponenten:</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks"><strong>1.1.1 Ausführung 1</strong></p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks"> Model 1</p>
<span class="absatzRechts">13</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Modul</p>
</td>
<td><p>Typbezeichnung</p>
</td>
<td><p>[…]</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>Terminal</p>
</td>
<td><p>PC-basiertes Software-Modul „CS300-SD“</p>
</td>
<td></td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
<tr><td rowspan="3"><p>Terminal<sup>a</sup><sup>)</sup></p>
</td>
<td><p>WS-Anzeige</p>
</td>
<td></td>
<td rowspan="3"><p></p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>P-Anzeige einseitig</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>P-Anzeige doppelseitig</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>Wägemodul</p>
</td>
<td><p>CS300 […]</p>
</td>
<td></td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks"> Immer vorhanden</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks"> Optional vorhanden.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><sup>a)</sup> Als zusätzliche Anzeigeeinrichtung</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong>1.3 Messwertverarbeitung</strong></p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Folgende Funktionen nach EN 45501, T.2.2 und 3.10.2 werden von den Komponenten der Waagen nach Abschnitt 1.1 ausgeführt:</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><strong>1.3.1 Ausführung 1</strong></p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks"> <em>Model 1</em></p>
<span class="absatzRechts">22</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Modul</p>
</td>
<td><p>Funktionalität</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Terminal</p>
</td>
<td><p>Bedienung, Hauptanzeige</p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Wägemodul</p>
</td>
<td><p>Mechanische und elektrische Verbindungselemente, Wägezelle, A/D-Wandlung, Skalierung, Ermittlung des Wägewertes in Masseeinheiten, weitere Datenverarbeitung</p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks"><strong>1.4 Messwertanzeige</strong></p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"> Die Hauptanzeige ist wie folgt ausgeführt:</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks"> […]</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks"> CS300-SD PC-Anzeige</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks"><strong>3.2 Kompatibilitätsbedingungen</strong></p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks"> Bedingungen zum Anschluss von richtlinienrelevanten Einrichtungen</p>
<span class="absatzRechts">30</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Anschließbare Einrichtungen mit Prüfschein oder Baueinheiten-Zertifikat<sup>a</sup><sup>)</sup></p>
</td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Anschließbare Einrichtungen ohne Prüfschein oder Baueinheiten-Zertifikat<sup>b</sup><sup>)</sup></p>
</td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks"> Optional vorhanden</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks"><sup>a)</sup> Der Prüfschein oder das Baueinheit-Zertifikat muss von einer benannten Stelle im Sinne der Richtlinie ausgestellt sein.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks"><sup>b)</sup> Wenn die Voraussetzungen gemäß WELMEC-Leitfaden 2.5 (2000), Abschnitt 3.3 erfüllt sind.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks"><strong>3.2.1 Kompatibilitätsbedingungen der Ausführung 1</strong></p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks"> Keine</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks"><strong>4.2 Anforderungen an die Inbetriebnahme</strong></p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">4.2.1 Prüfung der Identifizierbarkeit der Waage nach Abschnitt 5.3</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">4.2.2 Prüfungen nach Abschnitt 5.4</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">4.2.3 Prüfung der Kennzeichnung gemäß Abschnitt 7</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">4.2.4 Prüfung der Funktion von anschließbaren Einrichtungen nach Abschnitt 3.2 (siehe WELMEC-Leitfaden 2.5, Nr. 3.3)</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">4.2.5 Prüfung, ob die Anforderungen an die Produktion gemäß Abschnitt 4.1 erfüllt werden.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks"><strong>5.3.1 Software-Identifikation</strong></p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Die richtlinienrelevante Software besteht aus unabhängigen Softwarekomponenten für die Waagen-, ADW-, Anzeigen- und Schnittstellen-Software mit eigenständigen Software-Versionsnummern und Software-IDs.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><table class="absatzLinks" cellpadding="0" cellspacing="0"><tbody><tr><td><p>Richtlinienrelevante Software</p>
</td>
<td></td>
</tr>
<tr><td><p>Waagensoftware</p>
</td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>ADW-Software</p>
</td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Anzeigensoftware</p>
</td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
<tr><td><p>Schnittstellensoftware</p>
</td>
<td><p></p>
</td>
</tr>
</tbody>
</table>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks"> Immer vorhanden</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks"> Optional vorhanden.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">[Es folgen genaue Angaben der jeweils zulässigen, richtlinienrelevanten Software-Versionen]</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks"><strong>5.4 Kalibrier-, Justier- und Prüfverfahren</strong></p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Besondere Kalibrierungen und Justierungen sind bei der Inbetriebnahme nicht erforderlich.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Einrichtungen nach Abschnitt 3.2 sind auf ihre einwandfreie Funktion zu prüfen (WELMEC-Leitfaden 2.5, Abschnitt 3.3).“</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Weiter zertifizierte das Regierungspräsidium Tübingen als anerkannte Konformitätsbewertungsstelle im Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 1 MessEG das von der Klägerin vorgelegte Qualitätssicherungssystem nach der Richtlinie 2014/31/EU. Mit der darin erfolgten Anerkennung des Qualitätssicherungssystems ist die Klägerin danach berechtigt, an den von ihr gefertigten nichtselbsttätigen Waagen die metrologische Kennzeichnung gemäß dem Verfahren nach Anhang II – Nr. 2, Modul D (Qualitätssicherung des Produktionsprozesses) nach der Richtlinie 2014/31/EU anzubringen. Unter Bezugnahme auf die von der PTB ausgestellte EU-Baumusterprüfbescheinigung und das von dem Regierungspräsidium Tübingen zertifizierte Qualitätssicherungssystem stellte die Klägerin unter dem 20.3.2020 für das Gerätemodell CS 300 eine EU-Konformitätserklärung aus.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin versieht ihre Geräte nach Abschluss des Herstellungsprozesses und nach Funktionsüberprüfung in ihrem Werk mit einem Schild, auf dem unter anderem ihr Name und ihre Adresse, die Produktbezeichnung des Geräts sowie das CE-Kennzeichen und das zusätzliche Metrologie-Kennzeichen abgedruckt sind.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Ihre Geräte verkauft die Klägerin einschließlich der Waagen-Software und einer Lizenz für die Verwendung der Anzeige-Software vom Typ CS300-SD unter anderem an eine Herstellerin von Kassensystemen und POS-Terminals. Ihre vertraglichen Verpflichtungen beinhalten nach der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Ablaufbeschreibung unter anderem den Anschluss des Geräts am Kassenrechner am Verwendungsort des Kassensystems, die Überprüfung der Typenschilddaten mit der Konformitätserklärung, die Belastung der Waage mit 1 kg Gewicht und die Prüfung, ob die Gewichtsanzeige der Kasse das Gewicht korrekt wiedergibt, die Einstellung der LED zur Anzeige der Nullstelle am Scanner sowie die Anbringung des Etikettes „Konformitätsbewertung POS-System Monat/Jahr“ an dem Gerät, um den Zeitpunkt der Freigabe zur Verwendung zu dokumentieren.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen einer alle zwei Jahre anstehenden Nacheichung fiel im Februar 2019 einem Mitarbeiter des Landesbetriebs Mess- und Eichwesen Nordrhein-Westfalen (im Folgenden: Landesbetrieb) bei der Kontrolle eines solchen Kassensystems auf, dass die Metrologie-Kennzeichnung der Klägerin das Jahr 2016 auswies. Er ging daher zunächst davon aus, dass eine Nacheichungspflicht bereits 2018 bestanden habe, ließ sich aber von dem Einzelhändler versichern, dass das geprüfte Kassensystem erst 2017 in Betrieb genommen worden sei. Der Einzelhändler legte zudem ein von der Klägerin im Juli 2016 ausgestelltes Dokument vor, welches mit „EU-Konformitätserklärung. Kombination Kassenwaage und Kassenterminal gemäß POS Guide“ überschrieben war und die Erklärung zum Inhalt hatte, das kombinierte Gerät bestehend aus Waage und Kassensystem entspreche den geltenden Anforderungen und EU-Rechtsvorschriften. Ferner enthielt es den Hinweis auf das mitgeltende Dokument: „Erklärung für die durch den Hersteller bereits gesicherte Waage.“</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Der Landesbetrieb wandte sich daraufhin zunächst an den Einzelhändler und bat um Stellungnahme, weil er annahm, die Metrologie-Kennzeichnung sei nicht korrekt erfolgt. Vom Einzelhändler hierüber informiert, erwiderte die Klägerin, sie gehe davon aus, dass ihr Vorgehen den Vorgaben der Europäischen Union, dem deutschen Eichrecht und den Vorgaben der zum damaligen Zeitpunkt noch gültigen Bauartzulassung entspreche. Dies sei auch mit der Konformitätsbewertungsstelle, dem Regierungspräsidium Tübingen, abgestimmt. Die Kombination aus Waage und Kassen-PC/Software stelle aus ihrer Sicht ein neues Messgerät dar. Deshalb seien für das Inverkehrbringen des POS-Systems eine Konformitätsprüfung sowie eine spezifische, POS-bezogene Konformitätserklärung erforderlich. Hierauf antwortete der Landesbetrieb, die vorgenommene Kennzeichnungspraxis suggeriere, das Kassensystem als Messgerät entspreche bereits seit 2016 allen EU-Vorgaben. Das aber sei unzutreffend, weil das Wägemodul erst 2017 an das Kassensystem angeschlossen und erst damit ein Messgerät in den Verkehr gebracht worden sei. Die Kennzeichnung dürfe grundsätzlich erst nach Abschluss des Konformitätsbewertungsverfahrens erfolgen. Die Klägerin teilte dem Landesbetrieb sodann mit, sie halte an ihrer Rechtsauffassung fest und die Konformitätsbewertungsstelle stimme ihr darin zu. In der Waagenkennzeichnung werde das Jahr angegeben, in welchem die Kennzeichnung angebracht worden sei. Dies sei nicht zwingend gleichzusetzen mit dem Jahr des Inverkehrbringens, welches anhand des Prüfprotokolls nachvollzogen werden könne, das sie nach Anschluss des Wägemoduls an das Kassensystem beim Einzelhändler ausfülle.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auf Anfrage des Landesbetriebs führte das Regierungspräsidium Tübingen als anerkannte Konformitätsbewertungsstelle aus, die Konformitätsbewertung der Waage erfolge während des gesamten Produktionsprozesses. Die Konformitätsprüfung erfolge nach Modul D im Sinne von Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU. Die Kennzeichnung werde während des Produktionsprozesses am Lastaufnehmer angebracht. Ein Inverkehrbringen erfolge nach Endabnahme im jeweiligen Einzelhandelsmarkt. Hierauf erwiderte der Landesbetrieb, es handele sich bei dem Produkt der Klägerin noch nicht um eine Waage, weil hierfür eine Anzeige zwingend erforderlich sei. Auch halte er die Anbringung der CE-Kennzeichnung, der zusätzlichen Metrologie-Kennzeichnung und der Nummer der Konformitätsbewertungsstelle während der Produktionsphase nicht für richtlinienkonform. Mit abschließender Stellungnahme im Juli 2019 führte die Konformitätsbewertungsstelle aus, ein exakter Zeitpunkt des Anbringens der Metrologie-Kennzeichnung an einer nichtselbsttätigen Waagen sei nicht vorgeschrieben, wenn ein Hersteller die Konformitätsbewertung nach den Modulen B und D wähle. Die Kennzeichnung müsse lediglich vor dem Inverkehrbringen erfolgen. Mit der gewählten Art der Konformitätsbewertung sei ein Konformitätsbewertungsverfahren zu jedem Zeitpunkt der Produktion bereits abgeschlossen, weil für das Produkt sowohl eine Baumusterprüfbescheinigung als auch ein zugelassenes Qualitätssicherungssystem vorliege. Letzteres gewährleiste die Übereinstimmung der Geräte mit der in der EU-Baumusterprüfbescheinigung beschriebenen Bauart und mit den für sie geltenden Anforderungen der Richtlinie.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Nach Anhörung untersagte der Landesbetrieb der Klägerin mit Ordnungsverfügung vom 31.1.2020, ab dem 1.4.2020 Lastaufnehmer, an denen bereits vor Abschluss einer Konformitätsbewertung die CE-Kennzeichnung oder die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung oder die CE-Kennzeichnung zusammen mit der Metrologie-Kennzeichnung angebracht wurde, in Nordrhein-Westfalen zur Herstellung von Messgeräten zu verwenden (Nr. 1) und drohte für jeden Fall einer Zuwiderhandlung die Festsetzung eines Zwangsgelds in Höhe von 1.000,00 Euro an (Nr. 2). Zur Begründung führte er aus, bei den fertigen Kassensystemen handele es sich um Messgeräte im Sinne von § 3 Nr. 13 MessEG bzw. Produkte im Sinne von § 2 Nr. 10 MessEG. Als Herstellerin sei die Klägerin dafür verantwortlich, dass ihre auf dem Markt bereitgestellten Messgeräte die wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen erfüllten. Dazu gehörten die erfolgreich durchgeführte Konformitätsbewertung sowie die entsprechende Kennzeichnung. Gestützt auf § 30 Nr. 4 MessEG sei in § 14 Abs. 6 MessEV geregelt, dass die Kennzeichnung nur auf Messgeräte angebracht werden dürfe, die die wesentlichen Anforderungen nach § 6 MessEG erfüllten. Ob ein Gerät die Anforderungen erfülle, werde erst durch ein bestandenes Konformitätsbewertungsverfahren belegt. Die Klägerin habe die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung „M 16“ an bestimmten Kassenwaagen entsprechend ihrer diesbezüglichen Verfahrensanweisung hingegen bereits im Jahr 2016 angebracht, obwohl das Konformitätsbewertungsverfahren erst im Jahr 2017 abgeschlossen worden sei. Es bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin ihre Vorgehensweise auch zukünftig nicht ändern und es zu weiteren Rechtsverstößen kommen werde. Im Rahmen des Auswahlermessens habe er sich im Hinblick auf den Schutz der europäischen und nationalen Rechtsordnung, sowie der Sicherstellung des Verbraucherschutzes und des fairen Wettbewerbs dazu entschlossen, die Ordnungsverfügung zu erlassen. Das wirtschaftliche Interesse an einer Beibehaltung der Verfahrensweise stehe hinter dem Interesse der Verbraucher an einer eindeutigen und nicht irreführenden Kennzeichnung sowie der Gewährleistung eines fairen europaweit geregelten Wettbewerbs zurück.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der Landesbetrieb sei bereits nicht zuständig, weil sie in Nordrhein-Westfalen nichts herstelle. Jedenfalls aber sei dessen Vorgehen nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Der Landesbetrieb sei Marktaufsichtsbehörde, greife aber in ihren Herstellungsprozess ein. Er mache keinen Mangel des Produkts geltend, sondern halte allein den Zeitpunkt für fehlerhaft, in dem die Kennzeichnung angebracht werde. Für das von ihr fertiggestellte Gerät sei eine CE-Kennzeichnung nach Abschluss des hierauf bezogenen Produktionsprozesses geboten gewesen, gleiches gelte für die metrologische Kennzeichnung. Denn das Produkt bestehend aus Wäge- und Softwaremodul stelle eine nichtselbsttätige Waage dar, welche hinsichtlich der technischen Spezifikationen nach Maßgabe der EU-Baumusterprüfbescheinigung und hinsichtlich des Fertigungsprozesses unter Beachtung aller Qualitätssicherungsmaßnahmen hergestellt werde. Konsequenterweise sei sie nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, nach Abschluss der Produktion in ihrem Werk die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung anzubringen. Einer eigenen Anzeigeeinrichtung bedürfe es für die Qualifikation als nichtselbsttätige Waage im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU nicht, weil ihr Produkt ohnehin zum Anschluss an ein Kassensystem bestimmt sei, welches die Anzeigefunktion übernehme. Dies komme in der EU-Baumusterprüfbescheinigung darin zum Ausdruck, dass danach nur zwei Komponenten stets vorhanden sein müssten, nämlich das Wägemodul und das PC-basierte Softwaremodul, eine geräteeigene Anzeige hingegen nur optionaler Bestandteil sei. Auch den einschlägigen rechtlichen Vorgaben lasse sich ein zwingendes Erfordernis einer eigenen Anzeigeeinrichtung nicht entnehmen. Über eine rückwirkungsfreie Schnittstelle sowie die PC-basierte Anzeigesoftware CS300-SD könne das Wiegeergebnis korrekt und reproduzierbar angezeigt werden. Das Anzeigegerät selbst sei ein externes Zusatzgerät. Entsprechend sei auch das POS-Kassensystem ein eigenständiges, zum Anschluss an die Waage zugelassenes Produkt, welches nicht den Anforderungen der Richtlinie 2014/31/EU unterliege. Mit diesem zusammengeschlossen erfülle die Waage die Anforderungen an die Anzeige der Wägeergebnisse aus Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU. Für die Freigabe der Waage zur Verwendung im eichpflichtigen Verkehr führe sie – die Klägerin – beim Endkunden eine abschließende Konformitätsbewertung als Herstellerin der in das Kassensystem integrierten Waage durch und orientiere sich hierbei in Abstimmung mit der Konformitätsbewertungsstelle an den einschlägigen Vorgaben des WELMEC-Leitfadens 2.2, in welchem das Verfahren zur Prüfung von Kassensystemen im Einzelnen beschrieben werde. Ungeachtet dessen ergebe sich aus den einschlägigen Regelungen lediglich, dass die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung spätestens vor dem Inverkehrbringen erfolgen müssten. Aus der gesetzlichen Systematik folge zwar, dass die Kennzeichnungen eine Konformitätsbewertung voraussetzten. Bei dem hier angewandten Konformitätsbewertungsverfahren nach den Modulen B und D müsse eine EU-Konformitätserklärung aber nicht etwa für jedes einzelne Gerät, sondern vielmehr nur für jedes Gerätemodell ausgestellt werden. Grundlage für die auf das Gerätemodell bezogene Konformitätserklärung sei die EU-Baumusterprüfbescheinigung. Für die in Serie hergestellten Einzelgeräte werde die Übereinstimmung mit den Maßgaben der EU-Baumusterprüfbescheinigung dann durch das mit der Konformitätsbewertungsstelle abzustimmende Qualitätssicherungsverfahren sichergestellt. Jedes einzelne Gerät, das unter Beachtung der danach einzuhaltenden Bedingungen gefertigt werde, dürfe unter Verantwortung des Herstellers als „richtlinienkonform“ bewertet und entsprechend gekennzeichnet werden. Hieraus folge zugleich, dass die Kennzeichnung des Geräts bereits während des Fertigungsprozesses erfolgen dürfe, weil durch das mit der Konformitätsbewertungsstelle abgestimmte Qualitätssicherungsverfahren sichergestellt werde, dass alle Geräte, die diesen Fertigungsprozess durchliefen, am Ende die Anforderungen erfüllten. Dagegen sei Anhang II Nr. 7.2.4 der Richtlinie 2014/31/EU, wonach die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung nach Beendigung der zweiten Stufe zusammen mit der Kennnummer der notifizierten Stelle, die bei der zweiten Stufe beteiligt sei, an dem Gerät anzubringen sei, hier bereits nicht anwendbar, weil die Klägerin kein zweistufiges Konformitätsbewertungsverfahren im Sinne dieser Regelung praktiziere.</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">die Ordnungsverfügung vom 31.1.2020 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung trägt er vor: Die Zuständigkeit des Landesbetriebs folge aus § 48 Abs. 1 MessEG i. V. m. § 1 EichZustVO. Als Marktüberwachungsbehörde sei er zur Kontrolle aufgerufen, weil die Klägerin ihre Produkte auch in Nordrhein-Westfalen installiere und damit in Verkehr bringe. Bei dem Bauteil, das die Klägerin in ihrem Werk in Baden-Württemberg produziere, handele es sich um ein Wägemodul, aber nicht um eine nichtselbsttätige Waage im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU und auch nicht um ein Messgerät im Sinne von § 3 Nr. 13 MessEG. Die Richtlinie gehe – was unter anderem aus den Vorgaben zur Genauigkeit von Anzeigen und Anzeigefehlern, zur Wiederholbarkeit und Reproduzierbarkeit des Wägeergebnisses sowie aus der Möglichkeit von Zusatzanzeigen deutlich werde – klar von der Notwendigkeit einer Anzeigeeinrichtung aus. Gleiches folge aus den Definitionen der nichtselbsttätigen Waage und des Wägemoduls in der harmonisierten Norm DIN EN 45501:2015. Eine nichtselbsttätige Waage sei danach eine Waage, die das Eingreifen eines Benutzers während des Wägevorgangs erfordere, um zu entscheiden, ob das Wägeergebnis akzeptabel sei. Ohne Anzeige könne der Benutzer diese Entscheidung aber nicht treffen. Das Wägemodul, also der Teil der Waage, der alle mechanischen und elektronischen Einrichtungen enthalte, aber ohne die Möglichkeit zur Anzeige des Wägeergebnisses, sei nach der DIN EN 45501:2015 ebenso wie die Anzeigeeinrichtung ein notwendiger Bestandteil der nichtselbsttätigen Waage. Etwas anderes folge nicht aus der EU-Baumusterprüfbescheinigung. Diese beziehe sich nicht allein auf das von der Klägerin produzierte Wägemodul, sondern auf die am Ende hergestellte modular aufgebaute Waage. Diese setze auch nach der EU-Baumusterprüfbescheinigung zwingend eine Anzeigeeinrichtung voraus, wobei verschiedene Anzeigemöglichkeiten zur Option stünden. Das fertige Produkt „nichtselbsttätige Waage“ stelle danach das Kassensystem dar, nachdem das Wägemodul der Klägerin mit dem POS-System des Kassensystemherstellers verbunden und auf ordnungsgemäßes Funktionieren überprüft worden sei. Erst danach dürften die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung angebracht werden. Die CE-Kennzeichnung sei eine Eigenerklärung des Herstellers und stehe, was sich sowohl aus Anhang II Modul D Nr. 5.1 des Beschlusses 768/2008/EG als auch aus dem Blue Guide der EU-Kommission ergebe, ganz am Ende des Inverkehrbringungsprozesses. Auch Anhang II Nr. 7.2.4 der Richtlinie 2014/31/EU stehe der Vorgehensweise der Klägerin entgegen, weil dort ausdrücklich festgeschrieben sei, dass die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung bei einem zweistufigen Verfahren, um das es sich hier handele, erst nach Beendigung der zweiten Stufe zusammen mit der Kennnummer der notifizierten Stelle an dem Gerät anzubringen sei.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Ordnungsverfügung des Landesbetriebs vom 31.1.2020 aufgehoben. Der angefochtene Bescheid sei zwar formell rechtmäßig. Insbesondere sei der Landesbetrieb gemäß § 48 Abs. 1 MessEG i. V. m. § 1 EichZustVO für Maßnahmen nach § 50 MessEG sachlich und örtlich zuständig. Hierunter falle auch die in Nr. 1 der Ordnungsverfügung getroffene Regelung, die das Ziel verfolge, die Herstellung von Messgeräten in Nordrhein-Westfalen mit diesen nach Auffassung des Landesbetriebs unzulässig gekennzeichneten Produkten zu verhindern. Der Bescheid sei jedoch materiell rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für ein marktaufsichtsrechtliches Einschreiten nicht vorgelegen hätten. Die von der Klägerin hergestellten Kombinationen aus Wäge- und Softwaremodul stellten Messgeräte im Sinne von § 3 Nr. 13 MessEG dar, obwohl sie ohne den Anschluss an das Kassensystem eines Dritten über keine technische Möglichkeit verfügten, die ermittelte Masse anzuzeigen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die Produkte der Klägerin nicht den in Abschnitt 2 des MessEG geregelten Anforderungen entsprächen. Weder liege ein materieller Verstoß gegen die maßgeblichen Anforderungen an nichtselbsttätige Waagen vor noch habe die Klägerin in erheblicher Weise gegen Vorschriften des Konformitätsbewertungsverfahrens verstoßen. Ein Verstoß ergebe sich insbesondere nicht daraus, dass die verfahrensgegenständliche Kombination aus Wäge- und Softwaremodul nicht selbst über eine Anzeige verfüge. Dabei bedürfe es keiner abschließenden Entscheidung, ob das Produkt der Klägerin für sich allein bereits begrifflich eine Waage im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU darstelle oder ob hierfür – wofür einiges spreche – zwingend der Anschluss einer Anzeige erforderlich sei. Jedenfalls in dem Zeitpunkt, in dem das Produkt auf dem Markt zur Bestimmung der Masse für Zwecke des geschäftlichen Verkehrs eingesetzt werde, verfüge es durch den Zusammenschluss mit dem Kassensystem über eine Anzeige. Die Klägerin begehe durch die Kennzeichnung ihrer Geräte noch vor der Verbindung mit den Komponenten des Kassensystems keinen wesentlichen Fehler im Konformitätsbewertungsverfahren. Sie könne ihr Produkt bereits im Werk auf die Übereinstimmung mit den wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen überprüfen, obwohl die Testanzeige im Werk nicht mit der später im Einzelhandelsmarkt verwendeten Anzeigeeinrichtung übereinstimme, weil ihr Konformitätsbewertungsverfahren die Übereinstimmung des Endprodukts mit hinreichender Sicherheit gewährleiste. Sinn und Zweck der CE- sowie der Metrologie-Kennzeichnung seien es, als Erklärung des Herstellers die Konformität eines Produkts gegenüber dem Rechtsverkehr zu bestätigen. Dafür sei es nicht erforderlich, die Kennzeichnungen erst im Einzelhandelsmarkt anzubringen. Ein Risiko der Irreführung der Marktüberwachungsbehörden hinsichtlich der Feststellung der Eichfristen nach § 34 MessEV bestehe nicht. Das Jahr des Inverkehrbringens könne hinsichtlich der Produkte der Klägerin aus dem während der Endprüfung im Einzelhandelsmarkt anzubringenden Etikett entnommen werden. Auch der Verbraucherschutz gebiete keine andere Handhabung hinsichtlich des Zeitpunkts der CE-Kennzeichnung und der Metrologie-Kennzeichnung. Es sei nicht ersichtlich, dass die Praxis der Klägerin zu einer Irreführung des Geschäftsverkehrs über die Konformität ihres – materiell unstrittig mängelfreien – Produkts führen könne. Hinzu komme, dass die Systematik der Verfahrensvorschriften zum Konformitätsbewertungsverfahren nahelege, zumindest in einem Konformitätsbewertungsverfahren nach Modul D der Richtlinie 2014/31/EU müssten diese Kennzeichen gerade nicht immer unmittelbar als letzter Schritt vor dem Inverkehrbringen der Waage angebracht werden. Liege ein den Anforderungen nach Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU (Modul D) genügendes Qualitätssicherungssystem vor und sei nicht ersichtlich, dass der Hersteller gegen die Anforderungen des eigenen Qualitätssicherungssystems verstoße, bestehe kein Grund, warum eine Kennzeichnung des einzelnen Produkts zwingend unmittelbar vor dem Inverkehrbringen erfolgen müsse.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung der von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung wiederholt der Beklagte sein erstinstanzliches Vorbringen und führt ergänzend aus: Der Zweck, den eine jede Waage erfüllen solle, lasse sich mit dem Lieferumfang der Klägerin objektiv nicht erreichen. Eine Waage im Rechtssinne entstehe erst, wenn das Wägemodul der Klägerin mit dem Kassensystem verbunden werde. Dabei komme es waagenrechtlich hier nur auf die Beisteuerung der Anzeigeeinrichtung als einem Bestandteil des Kassensystems an. Auch der im März 2016 ausgestellten EG-Bauartzulassungsbescheinigung, die hier maßgeblich sei, sei zu entnehmen, dass die bescheinigte Waage zwingend eine Anzeigeeinrichtung voraussetze. Die von der Klägerin zusammen mit dem Wägemodul ausgelieferte PC-basierte Anzeigesoftware sei nicht mit einer Anzeigeeinrichtung gleichzusetzen. Die Erfassung des Wiegeergebnisses in der Software allein sei für den Verwender des Produkts ohne jede Bedeutung. Ohne angeschlossene Anzeigeeinrichtung bleibe das Ergebnis im Verborgenen. Auch sei eine Prüfung der Konformität durch die Konformitätsbewertungsstelle ohne geräteeigene Anzeige nicht möglich. Aus den Vorgaben der Konformitätsprüfung nach Modul D gemäß Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU folge zwingend, dass der Hersteller für jedes einzelne Gerät am Ende des Herstellungsprozesses prüfen müsse, ob dieses die entsprechenden Anforderungen der Richtlinie 2014/31/EU erfülle. Darüber hinaus sei nicht zu erkennen, ob die Klägerin das Modul D, welches eine Überwachung vor Ort durch die benannte Konformitätsbewertungsstelle und regelmäßige Audits voraussetze, ordnungsgemäß durchgeführt habe. Eine Anbringung der CE-Kennzeichnung und der zusätzlichen Metrologie-Kennzeichnung während der Herstellung des Geräts – wie dies Art. 22 Abs. 4 der Richtlinie 2014/32/EU in bestimmten Fällen erlaube – sei hier auch nicht ausnahmsweise produktionsbedingt gerechtfertigt, zumal die Richtlinie 2014/31/EU anders als die Richtlinie 2014/32/EU Ausnahmen nicht vorsehe. Im Übrigen sei die Konformitätserklärung der Klägerin vom 15.7.2016 fehlerhaft.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 21.4.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt<em>,</em></p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr erstinstanzliches Vorbringen.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Das von ihr produzierte Wägemodul werde zusammen mit der Anzeigensoftware CS 300-SD ausgeliefert. Ausweislich der hier maßgeblichen EU-Baumusterprüfbescheinigung bilde die Gesamtheit von Wägemodul und zugehöriger Anzeigensoftware eine vollwertige Waage. Mittels der Software würden die Wiegeergebnisse, die sich mit dem Wägemodul ermitteln ließen, digital erfasst und zwar so, dass sie an grundsätzlich jedes beliebige (fremde) Anzeigegerät (Terminal) weitergegeben und mit dessen Hilfe sichtbar gemacht werden könnten. Die Software übernehme damit die Visualisierung der Hauptanzeige der Waage auf einem PC-basierten System und sei daher einer Hardware-Anzeige ausweislich der EU-Baumusterprüfbescheinigung ausdrücklich gleichgestellt. Eine eigene Anzeigeeinrichtung sei bei einer nichtselbsttätigen Waage immer dann verzichtbar, wenn das Messgerät von vornherein dazu bestimmt sei, zusammen mit einer externen Anzeigeeinrichtung verwendet zu werden. Dies komme in Anlage 2 Nr. 9.1 MessEV unmissverständlich zum Ausdruck. Dem stehe nicht entgegen, dass Anlage 2 zur MessEV nicht für nichtselbsttätige Waagen gelte. Der Anwendungsausschluss nach § 7 Abs. 2 MessEV sei normsystematisch allein dadurch zu erklären, dass für die nichtselbsttätigen Waagen gegenüber den anderen Messgeräten eine speziellere Richtlinie einschlägig sei. Auch dort sei indes nicht die Unverzichtbarkeit einer eigenen Anzeigeeinrichtung geregelt, weshalb der allgemeine Gedanke für Messegeräte aus Anlage 2 Nr. 9.1 Satz 2 MessEV hier genauso passe. Das von ihr – der Klägerin – vertretene Begriffsverständnis werde zudem bestätigt in T.2.4 der DIN EN 45501:2015, wonach eine Anzeigeeinrichtung eine Einrichtung sei, die eine visuelle Anzeige des Wägeergebnisses biete. Ebenso lasse die Nr. 5.5.2.1 der DIN EN 45501:2015 eine externe Anzeige ausdrücklich zu. Nach alledem handele es sich bei der Prüfung, die sie ‒ die Klägerin ‒ beim Endkunden im Auftrag der Herstellerin des Kassensystems durchführe, nicht um eine eigene Produktionstätigkeit. Die Prüfung betreffe allein den korrekten Einbau, die Aufstellung der Waage und den korrekten Zusammenschluss mit dem Kassensystem. Diese Prüfung sei nicht Teil des Konformitätsverfahrens der von ihr in ihrem Werk in Baden-Württemberg hergestellten und von dort ausgelieferten nichtselbsttätigen Waage. Entsprechend der dafür einschlägigen Regelungen des WELMEC-Leitfadens 2.2 werde nach Maßgabe des Prüfscheins für das Kassensystem geprüft, ob die Waage und das Kassensystem zur gemeinsamen Verwendung zugelassen seien und ordnungsgemäß funktionierten. Auf die Richtigkeit der Konformitätserklärung vom 15.7.2016 komme es hier nicht an, weil diese schon nicht Streitgegenstand sei.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (je eine elektronische Gerichtsakte für jede Instanz) und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten (ein Ordner) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Dem Antrag des Beklagten vom 26.9.2022 auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist nicht zu entsprechen. Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO ist ausgeschlossen, wenn – wie hier am 9.9.2022 – bereits ein Endurteil verkündet worden ist (§ 116 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14.11.2016 – 5 C 10.15 D –, BVerwGE 156, 229 = juris, Rn. 7, m. w. N., und Beschluss vom 25.1.2016 – 2 B 34.14 –, juris, Rn. 29.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg. Die zulässige Klage ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Die angefochtene Ordnungsverfügung des Landesbetriebs Mess- und Eichwesen Nordrhein-Westfalen (im Folgenden: Landesbetrieb) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gegen die formelle Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung bestehen zwar keine durchgreifenden Bedenken (hierzu unter I.), die materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer marktaufsichtsrechtlichen Maßnahme liegen aber nicht vor (hierzu unter II.).</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">I. Die angefochtene Ordnungsverfügung ist formell rechtmäßig, insbesondere hat der Landesbetrieb als sachlich und örtlich zuständige Behörde gehandelt. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 MessEG i. V. m. § 1 EichZustVO ist der Landesbetrieb zuständig für die Überwachung der in Verkehr gebrachten Produkte, d. h. für Messgeräte, sonstige Messgeräte, Fertigpackungen oder andere Verkaufseinheiten im Sinne von § 2 Nr. 10 MessEG. Die Marktüberwachung erfolgt danach auf der Vermarktungsstufe des Produkts. Überwachungsmaßnahmen finden formell nicht während der Entwurfs- und Produktionsphasen statt.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Siehe hierzu auch Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) der Verordnung (EU) 2019/1020; Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 7.2.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Die sachliche Zuständigkeit ist hier gegeben, weil der Landesbetrieb mit der angefochtenen Ordnungsverfügung – wenngleich dort von Herstellung eines Messgeräts die Rede ist – im Bereich der Marktüberwachung tätig werden will. Aus ihrer Begründung (siehe hierzu insbesondere Seite 4, Absätze 5 und 6, Seite 5, Absätze 1 und 2 des angefochtenen Bescheids) wird deutlich, dass die Maßnahme auf das ordnungsgemäße Inverkehrbringen von Messgeräten ohne eine – aus Sicht des Landesbetriebs – irreführend verfrüht angebrachte Kennzeichnung gerichtet ist, die Marktüberwachungsmaßnahme also nach dem Inverkehrbringen und damit auf der Vermarktungsstufe greifen soll. Der Landesbetrieb ist auch örtlich zuständig, weil sich der in Nr. 1 der Ordnungsverfügung beschriebene Sachverhalt – die Verwendung von Lastaufnehmern, an denen bereits vor Abschluss einer Konformitätsbewertung die CE-Kennzeichnung und/oder die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung angebracht wurde, zur Herstellung von Messgeräten in Nordrhein-Westfalen – räumlich auf den Zuständigkeitsbereich des Landesbetriebs beschränkt.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">II. Die angefochtene Ordnungsverfügung ist materiell rechtswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Als Ermächtigungsgrundlage für die Untersagungsverfügung in Nr. 1 des Bescheids kommt allein § 50 Abs. 2 Satz 1 MessEG in Betracht. Danach treffen die Marktüberwachungsbehörden die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass Messgeräte unter anderem die Anforderungen nach Abschnitt 2 MessEG, der das Inverkehrbringen von Messgeräten und ihre Bereitstellung auf dem Markt betrifft, nicht erfüllen. Diese Voraussetzungen liegen hier schon nicht vor (hierzu unter 1.). Folglich erweist sich auch die Zwangsgeldandrohung in Nr. 2 des angefochtenen Bescheids als rechtswidrig (hierzu unter 2.).</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">1. Die Befugnis der Marktüberwachungsbehörde nach § 50 Abs. 2 Satz 1 MessEG zum Erlass ordnungsbehördlicher Maßnahmen erstreckt sich auf Messgeräte, soweit sie von der nach den §§ 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 und 2 MessEG erlassenen Mess- und Eichverordnung erfasst sind. Messgeräte sind alle Geräte oder Systeme von Geräten mit einer Messfunktion einschließlich Maßverkörperungen, die jeweils zur Verwendung im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder zur Durchführung von Messungen im öffentlichen Interesse bestimmt sind (§ 3 Nr. 13 MessEG). Hierzu zählen unter anderem nichtselbsttätige Waagen im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 11, Abs. 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 2 und Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU. Diese müssen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 MessEG i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 11 MessEV und Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 3 zur MessEV den gerätespezifischen Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU genügen [hierzu unter a)]. Zum Nachweis, dass ein Messgerät die wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen im Sinne des § 6 Abs. 2 MessEG erfüllt, muss vor Inverkehrbringen eine in einer Rechtsverordnung nach § 30 Nr. 3 MessEG festgelegte Konformitätsbewertung erfolgreich durchgeführt worden sein und eine Konformitätserklärung vorliegen (§ 6 Abs. 3 Satz 1 MessEG). Die Konformität eines Messgeräts muss zudem nach § 6 Abs. 4 MessEG durch die in einer Rechtsverordnung nach § 30 Nr. 4 MessEG bestimmten Kennzeichen bestätigt sein [hierzu unter b)]. Ist der Nachweis nach § 6 Abs. 3 Satz 1 MessEG erbracht, so ist eine marktaufsichtsrechtliche Maßnahme nach § 50 Abs. 2 Satz 1 MessEG nur bei einem begründeten Verdacht zulässig, dass ungeachtet des Ergebnisses des Konformitätsbewertungsverfahrens die wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen nicht erfüllt sind oder gegen Kennzeichnungspflichten verstoßen worden ist [hierzu unter c)]. Hier besteht weder ein begründeter Verdacht, dass die von der Klägerin produzierten Geräte des Typs „CS-300“ den wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen nicht genügen, noch liegt ein Verstoß gegen die Kennzeichnungspflichten nach § 6 Abs. 4 MessEG i. V. m. § 14 Abs. 1 MessEV vor [hierzu unter d)].</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">a) Eine nichtselbsttätige Waage im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 11, Abs. 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 2 und Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU kann den gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 11 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 3 maßgeblichen gerätespezifischen Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU auch dann genügen, wenn beim Inverkehrbringen der Waage sichergestellt ist, dass Anforderungen, die erst bei der Verwendung im geschäftlichen Verkehr für die gesamte Nutzungsdauer relevant sind, ab der Inbetriebnahme erfüllt werden.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Eine nichtselbsttätige Waage ist nach der gemäß § 8 Abs. 2 MessEG i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 2 maßgeblichen Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU eine Waage, die beim Wägen das Eingreifen einer Bedienungsperson erfordert. Den Begriff der Waage definiert Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2014/31/EU ebenso wie § 6 Nr. 18 MessEV als ein Messgerät zur Bestimmung der Masse eines Körpers auf der Grundlage der auf diesen Körper wirkenden Schwerkraft. Ein Messgerät wiederum ist nach § 3 Nr. 13 MessEG, § 8 Abs. 1 und 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalten 2 und 3, Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2014/31/EU und der gemäß dem Einleitungssatz des Anhangs I zur Richtlinie 2014/31/EU darin verwendeten Terminologie der Internationalen Organisation für das gesetzliche Messwesen (OIML) ein Gerät, das allein oder in Verbindung mit zusätzlichen Einrichtungen dazu bestimmt ist, unter anderem zur Verwendung im geschäftlichen Verkehr für die Durchführung von Messungen verwendet zu werden. Ein Messgerät kann danach ein anzeigendes Messgerät oder eine Maßverkörperung sein.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Vgl. Nr. 3.1 des von der OIML veröffentlichten Internationalen Wörterbuchs der Metrologie, International Vocabulary of Metrology – Basic and General Concepts and Associated Terms (VIM), 3rd Edition (Bilingual E/F), 2012, abrufbar unter https://www.oiml.org/en/publications/vocabularies/publication_view?p_type=4&p_status=1; die deutsche Übersetzung ist abgedruckt in: Brinkmann, Internationales Wörterbuch der Metrologie. Grundlegende und allgemeine Begriffe und zugeordnete Benennungen (VIM), Deutsch-englische Fassung, ISO/IEC-Leitfaden 99:2007, 4. Aufl. 2012.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Ein hier allein in Betracht kommendes anzeigendes Messgerät setzt nach Nr. 3.3 VIM voraus, dass es ein Ausgangssignal (output signal, signal de sortie) als Träger der Information über den Wert der Größe, die gemessen wird, liefert. Nur bei einem visuell anzeigenden Messgerät im Sinne von Nr. 3.4 VIM wird das Ausgangssignal visuell dargestellt. Es kann auch an ein oder mehrere andere Geräte übertragen werden (vgl. Anmerkung 2 zu Nr. 3.3 VIM). Für den hier betroffenen Bereich des gesetzlichen Messwesens wird diese Terminologie weiter präzisiert in dem von der OIML hierzu herausgegebenen Internationalen Vokabular für das gesetzliche Messwesen (VIML).</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">OIML, International vocabulary of terms in legal metrology (VIML), OIML V 1, Edition 2013 (Bilingual E/F), abrufbar unter https://www.oiml.org/en/publications/vocabularies/publication_view?p_type=4&p_status=1.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">Danach ist eine Anzeige („indication“) der Mengenwert, der von einem Messgerät oder einem Messsystem geliefert wird (Nr. 0.03 VIML). Eine Anzeige kann optisch oder akustisch erfolgen oder auf ein anderes Gerät übertragen werden (vgl. Note 1 zu Nr. 0.03 VIML). Die Hauptanzeige (primary indication) einer Waage wird in Nr. 5.05 VIML beschrieben als „indication (displayed, printed or memorized) subject to legal metrological control“ im Sinne von Anzeige (elektronisch, gedruckt oder gespeichert), die rechtlicher metrologischer Kontrolle unterliegt.</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Da eine nichtselbsttätige Waage, die diesem Begriffsverständnis unterfällt, also allein oder in Verbindung mit zusätzlichen Einrichtungen dazu bestimmt ist, im geschäftlichen Verkehr für die Durchführung von Messungen verwendet zu werden (vgl. § 3 Nr. 13 MessEG), beim Wägen – etwa zur Bestimmung des Preises entsprechend der Masse für den Verkauf in öffentlichen Verkaufsstellen [vgl. Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) und f) der Richtlinie 2014/31/EU] – das Eingreifen einer Bedienungsperson erfordert (vgl. Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU), verlangt Anhang I Nr. 8.1 der Richtlinie 2014/31/EU, dass ihr Entwurf und ihre Herstellung die Beibehaltung ihrer messtechnischen Eigenschaften bei ordnungsgemäßer Verwendung und Aufstellung und bei Verwendung in der vorgesehenen Umgebung gewährleisten müssen und der Wert der Masse angezeigt werden muss. Dem Erfordernis, wonach der Entwurf und die Herstellung dies gewährleisten müssen, kann bereits dann entsprochen werden, wenn durch den Hersteller in der Entwurfs- und Herstellungsphase sichergestellt wird, dass die messtechnischen Eigenschaften später, nämlich „beim Wägen“ im geschäftlichen Verkehr, also nach Inbetriebnahme des Geräts zu diesem Zweck, beibehalten werden und ab diesem Zeitpunkt der Wert der Masse angezeigt wird. Erst ab diesem Zeitpunkt wird die bei nichtselbsttätigen Waagen erforderliche Bedienungsperson tätig. Etwas anderes lässt sich nicht den übrigen Anforderungen an die Anzeige des Wägeergebnisses nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU entnehmen. So verlangt etwa Anhang I Nr. 8.3, dass die in den Nr. 8.1 und 8.2 festgelegten Anforderungen für eine „im Hinblick auf die beabsichtigte Verwendung des Geräts normale Zeit“ dauerhaft erfüllt sein müssen. In diesem Kontext, also im Hinblick auf die beabsichtigte Verwendung des Geräts, ist auch das Erfordernis im folgenden Absatz zu verstehen, wonach bei digitalen elektronischen Einrichtungen der einwandfreie Ablauf des Messvorgangs, die Anzeigeeinrichtung und sämtliche Datenspeicherungs- und Datenübertragungsvorgänge stets angemessen kontrolliert werden müssen. Denn die Frage, ob der Messvorgang einwandfrei abläuft und angezeigt wird, stellt sich ebenso wie die Frage, ob bedeutende Störungen im Sinne der Nr. 8.2 selbsttägig erkannt und gemeldet werden, erst in der Verwendungsphase nach Freigabe zur Inbetriebnahme zu den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) bis f) der Richtlinie 2014/31/EU genannten Zwecken. Beim Anschluss externer Geräte über eine geeignete Schnittstelle ist nach Anhang I Nr. 8.4 der Richtlinie 2014/31/EU entscheidend, dass die Messeigenschaften eines elektronischen Geräts hierdurch nicht unzulässig beeinflusst werden. Auch die Anforderungen nach Anhang I Nr. 9 und 14 der Richtlinie 2014/31/EU an die Anzeige der Wägeergebnisse und der wesentlichen Angaben über den Wägevorgang betreffen nur die Zeit ab einer möglichen Inbetriebnahme. Der Richtliniengeber stellt dementsprechend in Art. 4 der Richtlinie 2014/31/EU auch generell darauf ab, dass den im Anhang I festgelegten wesentlichen Anforderungen nur Waagen entsprechen müssen, die zu den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) bis f) der Richtlinie genannten Zwecken verwendet werden oder verwendet werden sollen. Wenn und solange eine solche Verwendung nicht erfolgt und auch (noch) nicht erfolgen soll, müssen nach dieser Regelungstechnik die bei Verwendung zu erfüllenden Anforderungen noch nicht eingehalten werden. Allerdings müssen die Hersteller nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU gewährleisten, wenn sie ihre Geräte in Verkehr bringen, die zu den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) bis f) der Richtlinie 2014/31/EU genannten Zwecken verwendet werden sollen, dass diese gemäß den in Anhang I festgelegten wesentlichen Anforderungen entworfen und hergestellt worden sind. Bei der Frage, wann welche Anforderungen tatsächlich erfüllt sein müssen, differenziert die Richtlinie also zeitlich zwischen den Herstellerpflichten bei Inverkehrbringen, d. h. der erstmaligen Bereitstellung eines Geräts in Gestalt seiner ersten Abgabe zum Vertrieb oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit (vgl. Art. 2 Nr. 3 und 4 der Richtlinie 2014/31/EU), und den ab einer möglichen Inbetriebnahme von Waagen zu erfüllenden wesentlichen Anforderungen (vgl. Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 5 der Richtlinie 2014/31/EU). Die Mitgliedstaaten dürfen nach Art. 5 der Richtlinie weder die Bereitstellung von Geräten, die den Vorschriften dieser Richtlinie genügen, auf dem Markt behindern, noch die Inbetriebnahme solcher Geräte. Die in der Richtlinie damit angelegte zeitliche Differenzierung ermöglicht den Herstellern das Inverkehrbringen von und damit den Handel mit Waagen, welche allein zwar nicht verwendet werden können, bei denen aber aufgrund ihrer technischen Eigenschaften, des von dem Hersteller bestimmten Verwendungszwecks und prozeduraler Absicherungen durch das Konformitätsbewertungsverfahren schon bei Inverkehrbringen gewährleistet ist, dass bei bestimmungsgemäßer Verwendung die in Anhang I der Richtlinie festgelegten wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen – auch mit Blick auf die visuelle Anzeige des Wägeergebnisses – erfüllt sein werden.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">Dieses Normverständnis steht im Einklang mit den internationalen Standards. Bei der Auslegung der Richtlinie kann nicht außer Betracht bleiben, dass die Europäische Union schon bei ihrem Erlass völkerrechtlich hinsichtlich des in ihre Zuständigkeit fallenden Teils an das Übereinkommen der Welthandelsorganisation (WTO) über technische Handelshemmnisse (Agreement on Technical Barriers to Trade, im Folgenden: TBT-Übereinkommen) gebunden war (vgl. Anhang 1, 1A zum Beschluss des Rates 94/800/EG vom 22.12.1994, ABl. L 336 vom 23.12.1994, S. 86). Danach verwendet die Union als Vertragsmitglied grundsätzlich einschlägige internationale Normen als Grundlage für ihre technischen Vorschriften (vgl. Art. 2.4 TBT-Übereinkommen). Das Abkommen verfolgt damit das auch der Richtlinie 2014/31/EU zugrunde liegende Ziel, Handelshemmnisse unter anderem im Wege vereinheitlichter gerätespezifischer Anforderungen abzuschaffen. Zu den internationalen Normungsorganisationen im Sinne des TBT-Übereinkommens der WTO zählt unter anderem die Internationale Organisation für das gesetzliche Messwesen (OIML), deren Terminologie nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU auch für die Beurteilung maßgeblich ist, ob ein Gerät die dort harmonisierten wesentlichen Anforderungen erfüllt, und welche Empfehlungen zu den technischen Anforderungen von nichtselbsttätigen Waagen herausgibt.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Vgl. OIML, International Recommendation R 76-1, Edition 2006 (E); siehe auch https://www.oiml.org/en/about/about-oiml.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Die Umsetzung dieser zuletzt genannten Empfehlung der OIML in das Unionsrecht ist erfolgt durch die Veröffentlichung der hierauf beruhenden europäischen Norm EN 45501:2015 über metrologische Aspekte der nichtselbsttätigen Waagen im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2014/31/EU am 15.1.2016 (ABl. C 14 vom 15.1.2016, S. 100).</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Vgl. das nationale Vorwort zur deutschen Fassung DIN EN 45501:2015; zur Bedeutung der Zusammenarbeit mit internationalen Normungsorganisationen zur Stärkung der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie siehe Erwägungsgrund 3 der Verordnung (EU) 1025/2012.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Ab dem ersten Tag nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2014/31/EU am 20.4.2016 (vgl. Art. 44 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU) sollte die europäische Norm EN 45501:2015 maßgeblich sein anstelle der bis zum 19.4.2016 bezogen auf die Vorgängerrichtlinie 2009/23/EG noch maßgeblichen EN 45501:1992 (vgl. ABl. C 300 vom 11.9.2015, S. 3). Bei Geräten, die mit der EN 45501:2015 übereinstimmen, wird nach Art. 12 der Richtlinie 2014/31/EU die Konformität mit wesentlichen Sicherheitsanforderungen gemäß Anhang I vermutet, die von der harmonisierten technischen Norm oder Teilen davon abgedeckt sind.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Das bereits dargestellte, der internationalen Terminologie zugrunde liegende Verständnis einer Hauptanzeige („primary indication“, vgl. Nr. 5.05 VIML) haben die OIML-Empfehlung R 76-1, Ed. 2006, und die DIN EN 45501:2015 jeweils in Nr. T.1.3.1 aufgegriffen. Danach sind Hauptanzeigen einer Waage „Anzeigen, Signale und Symbole“, die den Anforderungen der OIML-Empfehlung bzw. der Europäischen Norm unterliegen (vgl. hierzu insbesondere Nr. 4.2, 4.3 und 4.4 DIN EN 45501:2015). Dieser weite Begriff der Hauptanzeige nach T.1.3.1, der im Sinne der angeführten internationalen Terminologie gespeicherte Ausgangssignale einschließt, ist von einer digitalen Hauptanzeigeeinrichtung bzw. einem digital primary display im Sinne von T.2.2.6 zu unterscheiden, was unter der zuletzt genannten Nummer ausdrücklich klargestellt wird. Nur als typische Module einer nichtselbsttätigen Waage werden in dem Schaubild unter T.2.2 DIN EN 45501:2015, Bild 1, bzw. OIML, R 76-1, Ed. 2006, Figure 1, zum Aufbau einer nichtselbsttätigen Waage das Wägemodul im Sinne der Begriffsdefinition in T.2.2.7 und die Hauptanzeigeeinrichtung („primary display“) im Sinne von T.2.2.6 abgebildet. Unklarheiten, die sich daraus ergeben, dass in der europäischen Norm in der Tabelle unter dem Schaubild als Modul die „Hauptanzeige“ angeführt wird anstelle der im Schaubild genannten „Hauptanzeigeeinrichtung“, werden durch den Verweis auf die Terminologie der „Hauptanzeigeeinrichtung“ unter T.2.2.6 Buchst. a) sowie durch einen Vergleich mit der OIML-Empfehlung R 76-1, Ed. 2006, aufgelöst. In dieser wird an jeweils derselben Stelle als Modul einheitlich nur das „Primary display“ nach T.2.2.6 erwähnt. Die digitale Hauptanzeigeeinrichtung nach T.2.2.6 Buchst. a) DIN EN 45501:2015 bzw. OIML, R 76-1, Ed. 2006, ist entweder in das Gehäuse des Auswertegeräts oder des Terminals integriert oder in einem getrennten Gehäuse (d. h. in einem Terminal ohne Tasten) realisiert, z. B. für die Anwendung in Kombination mit einem Wägemodul. Das Wägemodul ist nach T.2.2.7 DIN EN 45501:2015 bzw. OIML, R 76-1, Ed. 2006, der Teil der Waage, der alle mechanischen und elektronischen Einrichtungen enthält (d. h. Lastaufnehmer, Kraftübertragungseinrichtung, Wägezelle und Auswerteeinheit oder digitale Auswerteeinheit), aber ohne die Möglichkeit zur Anzeige des Wägeergebnisses, wobei hier mit Anzeige die Visualisierung des Wägeergebnisses gemeint ist. Auch dies ergibt sich aus der vergleichenden Berücksichtigung der Empfehlung R 76-1. Dort heißt es in diesem Zusammenhang: „but not having the means to display the weighing result“.</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">Die Ausführungen in der europäischen Norm ebenso wie in der OIML-Empfehlung machen deutlich, dass es schon aufgrund der Funktionsweise einer nichtselbsttätigen Waage beim Wägen durch Bedienungspersonal der visuellen Anzeige des Wägeergebnisses bedarf. Dennoch kann die Hauptanzeige einer solchen Waage im Sinne der internationalen Terminologie in einem nur gespeicherten Ausgangssignal bestehen und die visuelle Anzeige beim Wägen im geschäftlichen Verkehr über eine zusätzliche Anzeigeeinrichtung im Sinne von Nr. 3.1 und 3.3 VIM erfolgen. Davon gehen auch T.2.2.6, Buchst. a) DIN EN 45501:2015 bzw. OIML, R 76-1, Ed. 2006, aus, die die Realisierung selbst der digitalen Hauptanzeigeeinrichtung in einem von dem Auswertegerät und dem Terminal getrennten Gehäuse für zulässig halten. Eine getrennte Anzeigeeinrichtung ist hier nur beispielhaft als in Kombination mit einem Wägemodul möglich erwähnt, bei dem es sich um einen Teil einer Waage handelt, der nur die digitale Hauptanzeigeeinrichtung fehlt. Auch in dem Schaubild unter T.2.2 ist das Wägemodul in gleicher Weise nur beispielhaft und als lediglich typische Realisierung einer modular aufgebauten Waage erwähnt. Dies lässt noch nicht den Schluss zu, dass eine digitale Hauptanzeigeeinrichtung zwingend als Bauteil einer Waage angesehen werden muss, auch wenn dies typischerweise der Fall sein mag. Nach Nr. 3.1 der allgemeinen internationalen Terminologie (VIM) darf eine digitale Hauptanzeigeeinrichtung vielmehr ausdrücklich eine von dem Messgerät getrennte zusätzliche Einrichtung sein, die in Verbindung mit dem Messgerät für die Durchführung von Messungen verwendet wird. Ausgehend hiervon kann dem Erfordernis des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU, wonach der Entwurf und die Herstellung einer Waage die in Anhang I der Richtlinie festgelegten wesentlichen Anforderungen gewährleisten müssen, bereits dann entsprochen werden, wenn durch den Hersteller in der Entwurfs- und Herstellungsphase sichergestellt wird, dass das Wägeergebnis nach Inbetriebnahme des Geräts mit Hilfe einer internen oder externen Hauptanzeigeeinrichtung tatsächlich entsprechend den Anforderungen des Anhangs I der Richtlinie angezeigt wird.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">Die spürbare Spannung zwischen dem weiten Verständnis der „Hauptanzeige“ in T.1.3.1, das ausdrücklich lediglich gespeicherte Ausgangssignale im Sinne der internationalen metrologischen Terminologie einschließt, und der unter T.2.2 erfolgten Einteilung einer nichtselbsttätigen Waage unter anderem in die Module Wägemodul und digitale Hauptanzeigeeinrichtung lässt sich auflösen, indem Sinn und Zweck dieser Begriffsverwendung näher in den Blick genommen werden. Wie ausgeführt wird unter T.2.2 ausweislich der Bildbezeichnung sowie der Anmerkung unter T.2.2 ausdrücklich lediglich eine von verschiedenen möglichen Kombinationen typischer Module einer nichtselbsttätigen Waage mit eigener Anzeigeeinrichtung dargestellt. Die Einteilung in mögliche Module ist deshalb relevant, weil nach der europäischen Norm ebenso wie nach der Empfehlung der OIML für einzelne Module der Waage Bewertungs- und Baueinheitenzertifikate erstellt werden können [vgl. T.2.2 und Anhang C bis F der DIN EN 45501:2015; OIML, R 76-1, Ed. 2006, T.2.2 und Annex C bis F]. Das ist besonders in Fällen von Bedeutung, in denen die Prüfung einer Waage als Ganzes schwierig oder unmöglich ist, wenn das Modul als getrennte Einheit hergestellt und/oder auf dem Markt angeboten wird, um es in eine komplette Waage einzubauen oder wenn der Antragsteller eine Vielzahl verschiedener Module in der zugelassenen Bauart verwenden möchte (vgl. Nr. 3.10.2 der DIN EN 45501:2015 bzw. OIML, R 76-1, Ed. 2006). Möchte ein Hersteller für ein Gerät, das alle Anforderungen an eine Waage erfüllt, aber über keine eigene digitale Hauptanzeigeeinrichtung verfügt, nicht die Letztverantwortung als Hersteller im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU übernehmen, also insbesondere keine Vorkehrungen dafür treffen, dass bei Inbetriebnahme des Geräts das Messergebnis den Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie entsprechend angezeigt wird, kann er sein Produkt danach als Teil einer nichtselbsttätigen Waage, nämlich als Wägemodul im Sinne der Nr. 2.2.7 DIN EN 45501:2015 bzw. OIML, R 76-1, Ed. 2006, betrachten. Hierüber kann er sich ein Baueinheitenzertifikat ausstellen lassen und es als solches an einen Hersteller vertreiben, der die durch eine ergänzte digitale Hauptanzeigeeinrichtung entstandene Waage in eigener Verantwortung in Verkehr bringt. In einem solchen Fall muss der Hersteller des Endprodukts die Kompatibilität auch des Wägemoduls im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens bezogen auf das Endprodukt festlegen und angeben (vgl. Nr. 3.10.2.3 DIN EN 45501:2015, OIML, R 76-1, Ed. 2006). Die EU-Konformitätserklärung im Sinne von Art. 14 der Richtlinie 2014/31/EU bezieht sich sodann allein auf dieses Endprodukt, auf dem auch die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2014/31/EU anzubringen sind. Alternativ hierzu in Betracht kommt aber wegen des deutlich weiterreichenden Begriffs der Waage als eines Messgeräts, welches Wägeergebnisse nicht notwendig über ein Display liefern muss, sondern bei dem als „Hauptanzeige“ ein elektronisch gespeichertes Ausgangssignal ausreicht, dass der Hersteller dasselbe Bauteil in eigener Verantwortung als vollständige Waage vertreibt. Dann aber muss er gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU „bei Entwurf und Herstellung“ gewährleisten, dass sein Gerät nur mit einem geeigneten externen Display, also einer digitalen Hauptanzeigeeinrichtung im Sinne der Nr. T.2.2.6, in Betrieb genommen werden kann und so die Vereinbarkeit mit den wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen an die Anzeige des Wägeergebnisses ab Inbetriebnahme und damit bei Verwendung des Geräts für Messungen im geschäftlichen Verkehr sichergestellt ist.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Dieses Normverständnis entspricht schließlich dem in den Erwägungsgründen 17 und 47 der Richtlinie 2014/31/EU zum Ausdruck gebrachten Bestreben des Richtliniengebers, sich auf die wesentlichen messtechnischen und technischen Anforderungen zu beschränken, welche nichtselbsttätige Waagen betreffen, die zu bestimmten Verwendungszwecken benutzt werden.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 1.1.3, 8.1 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 20.2.1979 – C-120/78 –, Slg. 1979, 649 = juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Diese wesentlichen technischen Anforderungen, auf deren Harmonisierung sich die Richtlinie zum Schutz der Allgemeinheit vor unrichtigen Wägeergebnissen (Erwägungsgrund 5), zur Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs auf dem Unionsmarkt (Erwägungsgrund 7) durch eine Konformitätsbewertung auf einem unionsweit einheitlichen Qualitätsniveau (Erwägungsgründe 26 und 27) ohne unnötigen Aufwand für die Wirtschaftsakteure (Erwägungsgrund 17) beschränken wollte (Erwägungsgrund 33), sind in Anhang I enthalten. Der Richtliniengeber hat in Erwägungsgrund 7 der Richtlinie 2014/31/EU den Grundsatz betont, dass die Wirtschaftsakteure – zu denen auch der Hersteller zählt (vgl. Art. 2 Nr. 9 der Richtlinie 2014/31/EU) – dafür verantwortlich sein sollen, dass die nichtselbsttätigen Waagen die Richtlinie einhalten. Die Art und Weise der technischen Umsetzung ist ihnen dabei im Rahmen der harmonisierten gerätespezifischen Anforderungen (vgl. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU, § 23 Abs. 1 Satz 1 MessEG) freigestellt. Die technologieoffene Regelung gerätespezifischer Anforderungen entspricht der im Sinne der Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 ff. AEUV, vgl. auch Art. 5 der Richtlinie 2014/31/EU) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Erwägungsgrund 47 vom Richtliniengeber beabsichtigten Beschränkung der unionsrechtlichen Harmonisierung auf die Anforderungen, welche zur Erreichung des mit der Richtlinie angestrebten Ziels geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 12.12.2006 – C-380/03 –, Slg. 2006, I-11573 = juris, Rn. 144, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">b) Zum Nachweis, dass eine nichtselbsttätige Waage die wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen nach § 6 Abs. 2 MessEG i. V. m. § 8 Abs. 1 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 3 und Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU erfüllt, muss gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 MessEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Sätze 1 und 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 4 und Anlage 4 zur MessEV ein Konformitätsbewertungsverfahren nach den Modulen B und F oder B und D oder G unter Beachtung der besonderen Vorgaben für nichtselbsttätige Waagen gemäß Anlage 4 Teil A Nr. 4 MessEV erfolgreich durchgeführt worden sein und eine Konformitätserklärung vorliegen [hierzu unter (aa)]. Ferner muss die Konformität einer nichtselbsttätigen Waage, ehe diese in Verkehr gebracht wird, gemäß § 6 Abs. 1, 4 MessEG mit den in § 14 Abs. 1 MessEV bestimmten Kennzeichen bestätigt sein [hierzu unter (bb)].</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">(aa) Das System der Konformitätsbewertung im Sinne von § 6 Abs. 3 MessEG, das dem Grundsatz der Herstellerverantwortung Rechnung trägt, hat das frühere Recht zum Inverkehrbringen, bestehend aus der EG-Bauartzulassung und der EG-Ersteichung für Messgeräte weitgehend – zu den Ausnahmen siehe § 18 MessEV – abgelöst.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch BT-Drs. 17/12727, zu § 27, S. 45.</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Während die Einhaltung der technischen Vorschriften früher von den Mitgliedstaaten vor dem Vertrieb oder der erstmaligen Verwendung überwacht worden war, und zwar insbesondere durch die Verfahren der Bauartzulassung und der (Erst-)Eichung,</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">vgl. hierzu auch Erwägungsgrund 7 sowie Art. 2 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2009/34/EG,</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">dient das neue Konformitätsbewertungsverfahren dem Hersteller als von ihm in eigener Verantwortung zu erbringender Nachweis, dass in Verkehr gebrachte Produkte den bundes- und unionsrechtlichen Anforderungen entsprechen.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Vgl. Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 5.1.1.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Insofern erkennt der Gesetzgeber das System der Konformitätsbewertung im Sinne des § 6 Abs. 3 MessEG als ein gegenüber der bisherigen Ersteichung gleichwertiges Nachweisinstrument an.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 17/12727, zu § 37 Abs. 1, S. 47.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Wird – wie hier – gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 4 das Konformitätsbewertungsverfahren nach den Modulen B und D im Sinne von Anlage 4 Teil B MessEV angewendet, folgt auf die Prüfung der Konformität des repräsentativen Musters (Baumuster) mit den relevanten rechtlichen Anforderungen (Modul B – Baumusterprüfung) die auf den Produktionsprozess bezogene Bestätigung der Konformität der Produkte mit dem zugelassenen Baumuster durch ein von einer Konformitätsbewertungsstelle anerkanntes Qualitätssicherungssystem für die Herstellung, Endabnahme und Prüfung der betreffenden Messgeräte (Modul D Nr. 2) unter Berücksichtigung der besonderen Vorschriften für nichtselbsttätige Waagen nach Anlage 4 Teil A Nr. 4 MessEV. Bei dieser Art der Konformitätsbewertung muss der Hersteller das Qualitätssicherungssystem einrichten und so anwenden, dass es die volle Konformität der Produkte mit den relevanten rechtlichen Anforderungen gewährleistet. Insofern unterscheidet sich die Konformitätsbewertung etwa von einer Prüfung der Konformität mit der Bauart auf der Grundlage einer Produktprüfung, wie sie unter anderem in Modul F vorgesehen ist. Bei letzterer werden alle Geräte einzeln auf ihre Konformität mit der in der Baumusterprüfbescheinigung beschriebenen anerkannten Bauart und den entsprechenden Anforderungen des Mess- und Eichgesetztes und der Mess- und Eichverordnung untersucht und geprüft. Erst auf der Grundlage dieser Untersuchungen und Prüfungen werden für jedes Gerät Konformitätsbescheinigungen von der Konformitätsbewertungsstelle ausgestellt (vgl. Anlage 4 Teil B Modul F Nr. 1., 3., 4. MessEV).</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 5.1.5 f., 5.1.9.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Etwas anderes folgt nicht aus Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 5.1 MessEV, wonach der Hersteller an jedem einzelnen Messgerät, das mit der in der Baumusterprüfbescheinigung beschriebenen Bauart übereinstimmt und die geltenden Anforderungen des Mess- und Eichgesetzes und der Mess- und Eichverordnung erfüllt, die Konformitätskennzeichen nach § 14 MessEV anzubringen hat. Durch das nach Modul D von dem Hersteller einzuhaltende Qualitätssicherungssystem ist die Übereinstimmung der Messgeräte mit der in der Baumusterprüfbescheinigung beschriebenen Bauart und mit den für sie geltenden Anforderungen des Mess- und Eichgesetzes und der Mess- und Eichverordnung gewährleistet (vgl. Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 3.2 MessEV). Die Überwachung unter der Verantwortung der Konformitätsbewertungsstelle wiederum stellt sicher, dass der Hersteller die Verpflichtungen aus dem von der Konformitätsbewertungsstelle anerkannten Qualitätssicherungssystem vorschriftsmäßig erfüllt (Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 4.1 MessEV).</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Vgl. in diesem Sinne letztlich auch Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 4.5.1.4 und 5.1.6.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Eine darüber hinausgehende, das Konformitätsbewertungsverfahren abschließende Überprüfung der einzelnen Geräte auf ihre Konformität mit den wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen ist in dem Konformitätsbewertungsverfahren nach Modul B und Modul D nicht vorgesehen. Allerdings wird eine abschließende Überprüfung der Übereinstimmung mit dem Baumuster regelmäßig Teil des zertifizierten Qualitätssicherungssystems des Herstellers sein. Dem entspricht schließlich, dass nach Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 5.2 MessEV der Hersteller für jedes Messgerätemodell – und gerade nicht für jedes einzelne Messgerät – eine Konformitätserklärung im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 MessEV i. V. m. Anhang IV der Richtlinie 2014/31/EU auszustellen hat.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">(bb) Gemäß § 6 Abs. 4 MessEG i. V. m. § 14 Abs. 1 MessEV muss die Konformität einer nichtselbsttätigen Waage bestätigt sein mit der CE-Kennzeichnung, der Metrologie-Kennzeichnung bestehend aus dem Großbuchstaben „M“ und den beiden letzten Ziffern der Jahreszahl des Jahres, in dem die Kennzeichnung angebracht wurde, beides zusammen eingerahmt durch ein Rechteck, dessen Höhe der Höhe der CE-Kennzeichnung entspricht, und nachfolgend mit der Kennnummer der Konformitätsbewertungsstelle, die an der Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens in der Fertigungsphase beteiligt war. Die Kennzeichnungen sind gemäß § 6 Abs. 1 MessEG (siehe hierzu auch Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2014/31/EU) anzubringen, bevor das Gerät in Verkehr gebracht wird. Das Inverkehrbringen ist nach § 2 Nr. 7 Halbsatz 1 MessEG die erstmalige Bereitstellung eines Produkts auf dem Markt der Europäischen Union im Sinne des § 2 Nr. 1 MessEG, also jede entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Markt der Europäischen Union im Rahmen einer Geschäftstätigkeit. Sie ist von der Inbetriebnahme eines Geräts zu unterscheiden, welche § 3 Nr. 7 MessEG als erstmalige Nutzung eines für den Endnutzer bestimmten Messgeräts für den beabsichtigten Zweck definiert. Die Kennzeichnungen dürfen schließlich nach § 14 Abs. 6 MessEV nur auf Messgeräten angebracht werden, welche die Anforderungen des Mess- und Eichgesetzes und der Mess- und Eichverordnung erfüllen. Mit der CE-Kennzeichnung und der zusätzlichen Metrologie-Kennzeichnung soll die Konformität der nichtselbsttätigen Waage mit der Richtlinie auf dem Gerät für den Verwender sowie für andere Wirtschaftsakteure erkennbar gemacht werden (§ 6 Abs. 4 MessEG, Art. 15 Richtlinie 2014/31/EU). Sie sind nach Erwägungsgrund 23 der Richtlinie 2014/31/EU das sichtbare Ergebnis eines ganzen Prozesses, der die Konformitätsbewertung im weiteren Sinne umfasst.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch den Beschluss Nr. 768/2008/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.7.2008, Erwägungsgrund 29; Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 4.5.1.1.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">c) Ist zum Nachweis, dass ein Messgerät die wesentlichen Anforderungen im Sinne von § 6 Abs. 2 MessEG erfüllt, eine Konformitätsbewertung erfolgreich durchgeführt worden und liegt eine Konformitätserklärung vor, ist eine weitergehende marktaufsichtsrechtliche Überprüfung nur auf begründeten Verdacht gerechtfertigt, dass ungeachtet des Ergebnisses des Konformitätsbewertungsverfahrens die wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen nicht erfüllt sind. Dies hat der nationale Gesetzgeber in § 50 Abs. 1 und 2 MessEG zum Ausdruck gebracht, indem er Kontrollen über die Einhaltung der wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen anhand angemessener Stichproben auf geeignete Weise und in angemessenem Umfang vorsieht und für weitergehende marktaufsichtsrechtliche Maßnahmen ausdrücklich einen begründeten Verdacht verlangt, die genannten Anforderungen seien nicht erfüllt. Die Marktaufsichtsbehörden sind bei der Überprüfung, ob in Verkehr gebrachte Messgeräte den Anforderungen nach Abschnitt 2 des Mess- und Eichgesetzes erfüllen, allerdings nicht an das Ergebnis des von den Herstellern durchgeführten Konformitätsbewertungsverfahrens gebunden. Insofern ergänzen sich die Verfahren der Konformitätsbewertung durch den Hersteller und die Marktüberwachung. Beide sind gleichermaßen notwendig, um den Schutz der betroffenen öffentlichen Interessen und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bekanntmachung der Europäischen Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 5.1.1.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Den von den Konformitätsbewertungsstellen ausgestellten Bescheinigungen und Zertifikaten kommt in diesem Sinne zwar keine die Marktaufsichtsbehörden bindende Wirkung zu. Schon weil das Konformitätsbewertungsverfahren – wie dargestellt – das Verfahren der Bauartzulassung und (Erst-)Eichung als gleichwertiges Nachweisinstrument ablösen sollte, sind jedoch gemäß Art. 11 Abs. 5 der auch für Produkte im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU geltenden Verordnung (EU) 2019/1020 EU-Prüfberichte oder Bescheinigungen über die Konformität der Produkte mit den Harmonisierungsvorschriften der Union, die von einer gemäß der Verordnung (EG) 765/2008 akkreditierten Konformitätsbewertungsstelle ausgestellt wurden, von den Marktüberwachungsbehörden gebührend zu berücksichtigen. Dies gilt schon deshalb, weil die Konformitätsbewertungsstellen entsprechend den Erwägungsgründen 26, 27 und 33 der Richtlinie 2014/31/EU ihrerseits Vorsorge für ein unionsweit einheitliches Qualitätsniveau bei der Konformitätsbewertung tragen. Nach den Erwägungsgründen 32 bis 34 der Verordnung (EU) 2019/1020 sollte die Marktüberwachung gründlich und wirksam sein, um sicherzustellen, dass die Harmonisierungsvorschriften der Union für Produkte ordnungsgemäß angewandt werden. Angesichts der Tatsache, dass Überprüfungen eine Belastung für die Wirtschaftsakteure darstellen können, sollten sich Überwachungsmaßnahmen aber auf das notwendige Maß beschränken. Zugleich ist durch Austausch von Informationen zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten auf eine möglichst gleichmäßige Durchsetzung der Harmonisierungsvorschriften im Unionsgebiet zu achten. Um diesen Ansprüchen gleichermaßen gerecht zu werden, sieht Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2019/1020 vor, dass die Marktüberwachungsbehörden im Rahmen ihrer Tätigkeit in angemessenem Umfang geeignete Überprüfungen der Merkmale von Produkten vornehmen, indem sie in erster Linie die Unterlagen überprüfen und (nur) gegebenenfalls anhand angemessener Stichproben physische Überprüfungen und Laborprüfungen durchführen. Bei der Entscheidung darüber, welche Arten von Produkten in welchem Umfang welchen Überprüfungen unterworfen werden sollen, gehen sie nach einem risikobasierten Ansatz vor. Dementsprechend stellt der Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2014/31/EU klar, dass die EU-Konformitätserklärung einen wirksamen Zugang zu Informationen für die Zwecke der Marktaufsicht bietet. In diesem Sinne stellen die Hersteller gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 1 der Richtlinie 2014/31/EU auf begründetes Verlangen der zuständigen nationalen Behörden alle Informationen und Unterlagen zur Verfügung, die für den Nachweis der Konformität des Geräts mit der Richtlinie erforderlich sind.</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">d) Hier besteht kein begründeter Verdacht, dass die von der Klägerin produzierten Geräte des Typs „CS-300“ den wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen nicht genügen. Bei den Geräten handelt es sich um Waagen im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2014/31/EU. Sie erfordern im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU beim Wägen das Eingreifen einer Bedienungsperson und müssen deshalb die wesentlichen Anforderungen an nichtselbsttätige Waagen erfüllen. Als Herstellerin gewährleistet die Klägerin, wenn sie ihre Geräte in Verkehr bringt, dass diese dementsprechend gemäß den in Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU festgelegten wesentlichen Anforderungen entworfen und hergestellt worden sind und führt den Nachweis hierüber durch eine erfolgreich durchgeführte Konformitätsbewertung sowie die Ausstellung einer Konformitätserklärung. Dies gilt auch mit Blick auf diejenigen Anforderungen, die erst bei der Verwendung im geschäftlichen Verkehr für die gesamte Nutzungsdauer relevant sind und ab Inbetriebnahme erfüllt werden müssen [hierzu unter (aa)]. Nach alledem liegt auch kein Verstoß gegen die Kennzeichnungspflichten nach § 6 Abs. 4 MessEG i. V. m. § 14 Abs. 1 MessEV vor [hierzu unter (bb)].</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">(aa) Die von der Klägerin produzierten Geräte des Typs „CS300“ sind Waagen im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2014/31/EU, weil sie die Bestimmung der Masse eines Körpers auf der Grundlage der auf diesen Körper wirkenden Schwerkraft ermöglichen, indem sie die Wägeergebnisse durch eine Waagen-Software erfassen und ein digitales Ausgangssignal an eine rückwirkungsfreie Datenschnittstelle liefern. Die Waagen sind in ihrer Funktionsweise ab Inbetriebnahme als nichtselbsttätige Waagen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU entworfen und hergestellt, weil sie beim Wägen im geschäftlichen Verkehr das Eingreifen einer Bedienungsperson erfordern. Die dafür erforderliche visuelle Anzeige der digital gespeicherten Messwerte auf einen an die Schnittstelle anzuschließenden externen Kassen-PC wird vor der bestimmungsgemäßen Inbetriebnahme auf der Grundlage der EU-Baumusterprüfbescheinigung im Rahmen des Qualitätssicherungssystems sichergestellt.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin bringt die streitgegenständlichen Geräte nicht lediglich als Wägemodule zur weiteren Herstellung einer nichtselbsttätigen Waage in Verkehr, sondern als eigenständige Waagen, die zur Bestimmung des Preises entsprechend der Masse für den Verkauf in öffentlichen Verkaufsstellen im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) und f) der Richtlinie 2014/31/EU verwendet werden sollen. Im Sinne von § 23 Abs. 1 Satz 1 MessEG, Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU gewährleistet sie als Herstellerin, wenn sie ihre Geräte in Verkehr bringt, dass diese gemäß den in Anhang I der Richtlinie festgelegten wesentlichen Anforderungen entworfen und hergestellt worden sind. Den Nachweis, dass die Waagen die wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 MessEG i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 11 MessEV und Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 3 MessEV sowie Anhang I zur Richtlinie 2014/31/EU erfüllen, hat sie den Anforderungen des § 6 Abs. 3 Satz 1 MessEG entsprechend erbracht.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">Ausweislich der von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt unter dem 18.2.2019 ausgestellten und damit zum Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung im Januar 2020 maßgeblichen Baumusterprüfbescheinigung (Nr. DE-18-NAWID-PTB014, Revision 1) und des von dem Regierungspräsidium Tübingen als Konformitätsbewertungsstelle im Sinne von § 3 Nr. 9 MessEG zertifizierten Qualitätssicherungssystems hat die Klägerin vor Inverkehrbringen der streitgegenständlichen Geräte ein Konformitätsbewertungsverfahren nach Anlage 4 Teil B Module B und D MessEV unter Berücksichtigung der besonderen Vorschriften für nichtselbsttätige Waagen nach Anlage 4 Teil A Nr. 4 MessEV erfolgreich durchgeführt und für das streitgegenständliche Messgerätemodell entsprechend Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 5.2 MessEV eine Konformitätserklärung vorgelegt, die den Anforderungen nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 MessEV i. V. m. Anhang IV der Richtlinie 2014/31/EU entspricht. Schon mit Vorliegen einer einschlägigen EU-Baumusterprüfbescheinigung, eines hierauf bezogenen zertifizierten Qualitätssicherungssystems sowie einer auf das Gerätemodell bezogenen EU-Konformitätserklärung sind die Voraussetzungen zum Nachweis der Konformität nach § 6 Abs. 3 Satz 1 MessEG erfüllt, die zur Anbringung der Konformitätskennzeichen an jedem einzelnen Gerät berechtigen (Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 5.1 MessEV).</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">Ein begründeter Verdacht, dass die streitgegenständlichen Geräte dennoch nicht gemäß den in Anhang I festgelegten wesentlichen Anforderungen entworfen und hergestellt worden sind, insbesondere weil die erst ab Inbetriebnahme zu stellenden Anforderungen an die visuelle Anzeige der Wägeergebnisse nicht schon bei Inverkehrbringen erfüllt sind, liegt nicht vor. Laut EU-Baumusterprüfbescheinigung sind die Geräte vorgesehen zur Verwendung als nichtselbsttätige preisrechnende Waagen für offene Verkaufsstellen. Sie sind von vornherein auf einen Einsatz in Verbindung mit einem Kassen-PC als einer externen digitalen Hauptanzeigeeinrichtung bestimmt, die beim Wägen im geschäftlichen Verkehr die zutreffende Anzeige der Wägeergebnisse gewährleistet. Eine zweckwidrige Verwendung ohne oder mit einer ungeeigneten Anzeigeeinrichtung wiederum ist dem Verwender schon nach § 31 Abs. 1 Satz 2 MessEG untersagt. Sie wird auch von der Konformitätserklärung der Klägerin nicht umfasst. Darin heißt es, bei einer nicht mit ihr abgestimmten oder nicht von ihr durchgeführten Änderung des Gerätetyps verliere die Konformitätserklärung ihre Gültigkeit. Entwurf und Herstellung gewährleisten, dass der Anschluss des Kassensystems die Messeigenschaften der Waage nicht unzulässig beeinflusst (vgl. Anhang I Nr. 8.4 der Richtliie 2014/31/EU) und die Wägeergebnisse mit Hilfe eines externen Anzeigeräts entsprechend Anhang I Nr. 9 der Richtlinie 2014/31/EU richtig und eindeutig angezeigt werden, nicht irreführend sind und den besonderen Vorgaben für Geräte für offene Verkaufsstellen nach Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 2014/31/EU entsprechen. Dies ist aufgrund der in der EU-Baumusterprüfbescheinigung aufgestellten besonderen Anforderungen an den Anschluss kompatibler externer Geräte, die zwingend zu nutzende Waagen- und Anzeigensoftware der Klägerin sowie die vor Inbetriebnahme durchzuführenden Prüfungen sichergestellt. Im Einzelnen muss nach Nr. 3.2 der EU-Baumusterprüfbescheinigung zum Anschluss von richtlinienrelevanten Einrichtungen – wozu die digitale Hauptanzeigeeinrichtung zählt – entweder ein Prüfschein oder Baueinheiten-Zertifikat vorliegen, ausgestellt von einer benannten Stelle im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU, oder die Voraussetzungen gemäß WELMEC-Leitfaden 2.5 (2000), Abschnitt 3.3, müssen erfüllt sein. Danach dürfen einfache, nur Daten empfangende Zusatzeinrichtungen an eine nichtselbsttätige Waage mit rückwirkungsfreier Schnittstelle – über welche auch die streitgegenständlichen Geräte verfügen – gemäß Nr. 5.3.6.3 DIN EN 45501 angeschlossen werden, ohne dass ein Prüfschein ausgestellt oder ein Hinweis in einer EG-Bauartzulassung enthalten ist, wenn sie das CE-Kennzeichen für Konformität mit der EMV-Richtlinie 89/336/EWG (heute: Richtlinie 2014/30/EU) tragen, nicht in der Lage sind, irgendwelche Daten oder Befehle in die nichtselbsttätige Waage zu übertragen außer zur Auslösung eines Druckbefehls oder zur Prüfung auf ordnungsgemäße Datenübertragung, die Wägeergebnisse und andere Daten ohne jede Änderung oder Weiterverarbeitung genauso anzeigen oder drucken, wie sie sie von der nichtselbsttätigen Waage erhalten haben, und die entsprechenden Anforderungen nach der DIN EN 45501, insbesondere zur digitalen Anzeige der Wägeergebnisse nach Nr. 4.2 und 4.4 erfüllen. Weiter ist nach Nr. 5.3.1 der EU-Baumusterprüfbescheinigung als notwendige Waagensoftware die Software CS300 zugelassen, für die Anzeigensoftware ausschließlich die CS300-SD, wobei die jeweilige Software-Version über die genau angegebene Software-ID im Logbuch der Waage identifiziert wird. In Nr. 4.2 der EU-Baumusterprüfbescheinigung werden verschiedene Prüfungen, insbesondere der Funktion von anschließbaren Einrichtungen nach Nr. 3.2 sowie der Identifizierbarkeit der Waage nach Nr. 5.3, zur Voraussetzung der Inbetriebnahme gemacht. Ausweislich des von dem Regierungspräsidium Tübingen als Konformitätsbewertungsstelle zuletzt unter dem 27.7.2022 ausgestellten Zertifikats über die Anerkennung eines Qualitätssicherungssystems nach der Richtlinie 2014/31/EU ist die Klägerin berechtigt, an den von ihr gefertigten nichtselbsttätigen Waagen die metrologische Kennzeichnung gemäß dem Verfahren nach Anhang II – Nr. 2, Modul D (Qualitätssicherung des Produktionsprozesses) nach der Richtlinie 2014/31/EU anzubringen. Hierdurch wird der Sache nach zugleich bestätigt, dass die Klägerin die Vorgaben zur Herstellung und Inbetriebnahme der Geräte entsprechend den Vorgaben aus der EU-Baumusterprüfbescheinigung unter Berücksichtigung der besonderen Vorschriften für nichtselbsttätige Waagen nach Anlage 4 Teil A Nr. 4 MessEV umsetzt. Insbesondere kommt die Klägerin danach auch ihrer Pflicht aus Nr. 4.2.4 der EU-Baumusterprüfbescheinigung nach, die Funktion von anschließbaren Einrichtungen vor Inbetriebnahme der nichtselbsttätigen Waage zu prüfen. Dies schließt die Feststellung der Kompatibilität von Waage und Kassensystem nach den erwähnten Vorgaben der Baumusterprüfbescheinigung ein.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Eine belastbare Tatsachengrundlage für die von dem Beklagten pauschal erhobenen Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Konformitätsbewertung nach Modul D besteht nicht. Ausweislich der Anlage zu dem vom Regierungspräsidium Tübingen ausgestellten Zertifikat über die Anerkennung des Qualitätssicherungssystems der Klägerin basiert die Bewertung auf einer Begutachtung der von der Klägerin eingereichten Dokumente und einem Audit im Unternehmen. Das Qualitätssicherungssystem unterliegt danach ferner der ständigen Überwachung nach der Richtlinie 2014/31/EU. Auch ist nicht ersichtlich, dass wegen der fehlenden eigenen digitalen Hauptanzeigeeinrichtung eine Konformitätsbewertung bezogen auf die Anforderungen an die Anzeige der Wägeergebnisse nicht möglich gewesen wäre. Nach Anhang I Nr. 8.6 der Richtlinie 2014/31/EU müssen die Geräte so konstruiert sein, dass die in der Richtlinie vorgeschriebenen Prüfungen ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden können. Dies ist hier der Fall. Für die ordnungsgemäße Anzeige der Wägeergebnisse entsprechend der Anforderungen nach Anhang I Nr. 9 und 14 der Richtlinie 2014/31/EU verantwortlich ist bei den hier streitgegenständlichen Geräten vor allem die Anzeigensoftware CS300-SD, welche ausweislich der EU-Baumusterprüfbescheinigung auf ihre Richtlinienkonformität geprüft worden ist. Das Qualitätssicherungssystem der Klägerin wiederum stellt die ordnungsgemäße Verwendung der Anzeigensoftware mittels einer externen Anzeigeeinrichtung, durch die die Messergebnisse unverfälscht angegeben werden, vor Inbetriebnahme eines jeden einzelnen Geräts sicher. Die dabei gegebenenfalls zu prüfenden Anforderungen nach dem WELMEC-Leitfaden 2.5 (2000), Abschnitt 3.3, sind durch die Neufassungen des WELMEC-Leitfadens 2:2015 und 2:2020 nicht geändert worden und damit auch in technischer Hinsicht weiterhin aktuell. Darüber hinausgehende, gerätespezifische Anforderungen an die digitale Hauptanzeigeeinrichtung selbst, die einer technischen Konformitätsprüfung nach der Richtlinie 2014/31/EU bedürften, gibt die Richtlinie nicht vor.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Da mithin keine begründeten Zweifel daran bestehen, dass die Klägerin die in Nr. 4.2 der EU-Baumusterprüfbescheinigung vor Inbetriebnahme vorgesehenen Prüfungen insbesondere bezogen auf anschließbare Einrichtungen ordnungsgemäß durchführt, kann letztlich auf sich beruhen, ob die Dokumentation dieser im Rahmen des Qualitätssicherungssystems von ihr vorzunehmenden Prüfungen in der Vergangenheit zutreffend unter der Überschrift „EU-Konformitätserklärung“ bezogen auf die Kombination Kassenwaage und Kassenterminal gemäß POS Guide erfolgt ist oder ob sich Missverständnisse insoweit hätten vermeiden lassen, indem stattdessen etwa ein Protokoll über die Prüfungen nach Nr. 4.2 der EU-Baumusterprüfbescheinigung erstellt worden wäre.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">bb) Die Klägerin versieht die streitgegenständlichen Waagen entsprechend den Vorgaben des § 6 Abs. 4 MessEG i. V. m. § 14 Abs. 1 MessEV vor dem Inverkehrbringen mit den Konformitätskennzeichen [hierzu unter (1)]. Eine spätere Kennzeichnung erst vor Inbetriebnahme bzw. Freigabe der Geräte zum bestimmungsgemäßen Verwendungszweck ist hier auch nicht ausnahmsweise rechtlich geboten [hierzu unter (2)].</p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks">(1) Die Klägerin bringt die streitgegenständlichen Waagen im Sinne des § 2 Nr. 7 MessEG in Verkehr, indem sie die Geräte an den Hersteller des Kassensystems zum weiteren Vertrieb abgibt und sie damit erstmalig auf dem Markt der Europäischen Union bereitstellt. Unerheblich ist dabei, ob die Klägerin die Geräte zunächst an die Produktionsstätte des Kassensystemherstellers oder – auf dessen Geheiß – unmittelbar an den Verwender des Kassensystems liefert. Der Zeitpunkt des Inverkehrbringens ist danach zu unterscheiden von dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin eine Waage nach der erst später erfolgenden Überprüfung ihres ordnungsgemäßen Einbaus in das Kassensystem für die Inbetriebnahme und bestimmungsgemäße Verwendung in öffentlichen Verkaufsstellen freigibt.</p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin versieht die streitgegenständlichen Geräte nach Abschluss des Herstellungsprozesses und Funktionsüberprüfung in ihrem Werk und damit vor Inverkehrbringen entsprechend der für nichtselbsttätige Waagen maßgeblichen Vorgaben des § 14 Abs. 1 MessEV mit der CE-Kennzeichnung, der zusätzlichen Metrologie-Kennzeichnung sowie der Kennnummer des Regierungspräsidiums Tübingen als Konformitätsbewertungsstelle, welche an der Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens in der Fertigungsphase beteiligt war. Auf die Frage, ob eine CE-Kennzeichnung bereits während des Produktionsvorgangs – auch mit Blick auf die sich hieraus ergebenden Folgen für die Berechnung der Eichfrist im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 MessEV – erfolgen darf, kommt es hier nicht an. Der Herstellungsprozess einschließlich der Funktionsüberprüfung der Waage, die später in Verbindung mit einer externen digitalen Hauptanzeigeeinrichtung als nicht selbsttätige Waage im geschäftlichen Verkehr verwendet werden soll, ist bei Inverkehrbringen der Waage durch Abgabe zum Vertrieb jeweils bereits abgeschlossen.</p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks">(2) Die Anbringung der CE-Kennzeichnung und der zusätzlichen Metrologie-Kennzeichnung ist hier auch nicht ausnahmsweise erst unmittelbar vor Freigabe des Geräts zu dem bestimmungsgemäßen Verwendungszweck am Verwendungsort geboten. Ein solches Erfordernis kann sich allein aus den besonderen Vorschriften für nichtselbsttätige Waagen nach Anlage 4 Teil A Nr. 4 MessEV ergeben. Danach darf die Konformitätsbewertung für nichtselbsttätige Waagen gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 4 und Anlage 4 Nr. 4 nach den Modulen D, D1, F, F1 oder G – einschließlich der Anbringung der Konformitätskennzeichnung (vgl. etwa Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 5.1 MessEV) – nur dann im Betrieb des Herstellers oder an einem beliebigen anderen Ort durchgeführt werden, wenn die Beförderung der nichtselbsttätigen Waage zum Verwendungsort, ihre Zerlegung und die Inbetriebnahme am Verwendungsort keinen erneuten Zusammenbau oder sonstige technische Arbeiten erfordern, durch die die Anzeigegenauigkeit der nichtselbsttätigen Waage beeinträchtigt werden könnte, und die nichtselbsttätige Waage im Rahmen der Fertigung so ausgelegt und justiert ist, dass die am Ort der Inbetriebnahme vorliegende Fallbeschleunigung bereits berücksichtigt ist oder die Anzeigegenauigkeit der nichtselbsttätigen Waage nicht durch Änderungen der Fallbeschleunigung beeinflusst wird. In allen anderen Fällen hat die Konformitätsbewertung am Verwendungsort der nichtselbsttätigen Waage zu erfolgen (Anlage 4 Teil A Nr. 4.1 bis 4.1.2 MessEV). Wird die Messgenauigkeit der nichtselbsttätigen Waage durch Änderungen der Fallbeschleunigung beeinflusst, darf die Konformitätsbewertung nach Anlage 4 Teil A Nr. 4.2 MessEV in zwei Stufen durchgeführt werden, wobei die zweite Stufe am Verwendungsort der nichtselbsttätigen Waage durchzuführen ist und alle Untersuchungen und Prüfungen umfassen muss, bei denen das Ergebnis von der Fallbeschleunigung abhängt. Nach Anlage 4 Teil A Nr. 4.2.6 MessEV sind – entsprechend Anhang II Nr. 7.2.4 der der Richtlinie 2014/31/EU – in diesen Fällen die CE-Kennzeichnung und die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung nach Beendigung der zweiten Stufe zusammen mit der Kennnummer der Konformitätsbewertungsstelle, die bei der zweiten Stufe beteiligt war, an der nichtselbsttätigen Waage anzubringen.</p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks">Ob und in welcher Weise die besonderen Voraussetzungen für nichtselbsttätige Waagen nach Anlage 4 Teil A Nr. 4 MessEV umzusetzen sind, ist Teil des Qualitätssicherungssystems des Herstellers und unterliegt der Zertifizierung durch die Konformitätsbewertungsstelle nach Modul D. Danach steht hier der Anbringung der CE-Kennzeichnung im Betrieb der Klägerin nichts entgegen. Nach Auskunft der Konformitätsbewertungsstelle gegenüber dem Landesbetrieb (vgl. E-Mail vom 15.5.2019, Verwaltungsvorgang, Blatt 125), liegt insbesondere kein zweistufiges Verfahren vor. Ein begründeter Verdacht für eine fehlerhafte Beurteilung der Voraussetzungen nach Anlage 4 Teil A Nr. 4 MessEV durch die Konformitätsbewertungsstelle besteht nicht. Insbesondere ist nicht allein aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin die Funktion des angeschlossenen Kassensystems vor Inbetriebnahme der nichtselbsttätigen Waage am Verwendungsort prüft, ein zweistufiges Verfahren gegeben. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass entgegen der Auskunft der an der Konformitätsbewertung durch die Klägerin beteiligten Konformitätsbewertungsstelle die Voraussetzungen für ein zweistufiges Verfahren im Sinne von Anlage 4 Teil A Nr. 4.2 MessEV erfüllt sein könnten. Das Prüfverfahren, das Gegenstand des zertifizierten Qualitätssicherungssystems der Klägerin ist, betrifft ausweislich der im Verwaltungsvorgang vorgelegten Ablaufbeschreibung (Verwaltungsvorgang, Bl. 215 ff.) allein den ordnungsgemäßen Anschluss und Einbau der nichtselbsttätigen Waage in das Kassensystem. Untersuchungen und Prüfungen, bei denen das Ergebnis von der Fallbeschleunigung abhängt, sind nicht vorgesehen. Nach Nr. 5.4 der EU-Baumusterprüfbescheinigung sind besondere Kalibrierungen und Justierungen bei der Inbetriebnahme nicht erforderlich. Die Endabnahme und Prüfung der Waage selbst (vgl. Anlage 4 Teil B Modul D Nr. 2 MessEV) findet am Verwendungsort nicht statt, sondern ist zuvor in der Produktionsstätte der Klägerin erfolgt. Die am Verwendungsort von der Klägerin durchgeführte Funktionsprüfung ist Teil ihrer vorgesehenen Verwendungsbedingungen (vgl. EU-Konformitätserklärung der Klägerin vom 20.3.2020). Nur in deren Rahmen darf die Waage von dem Verwender eingesetzt werden (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 2 MessEG).</p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks">Schließlich bedarf es mit Blick auf die von der Beklagten herangezogene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 13.3.2014 – C-132/13 – keiner Anbringung der CE-Kennzeichnung erst unmittelbar vor Inbetriebnahme. Der Europäische Gerichtshof hat zu der Frage der Anbringung der CE-Kennzeichnung an ein elektrisches Betriebsmittel im Sinne der Richtlinie 2006/95/EG entschieden, eine CE-Kennzeichnung dürfe nicht auf einem Bauteil angebracht werden, das ein elektrisches Betriebsmittel darstelle, dessen Sicherheit wesentlich davon abhänge, wie es in ein elektrisches Endprodukt eingebaut werde. Unter solchen Umständen könne nämlich zum einen die Anbringung der CE-Kennzeichnung auf dem Bauteil den Verwender des entsprechenden Geräts irreführen, weil die Qualität des Bauteils nicht auf die Sicherheit des elektrischen Geräts, in das es eingebaut worden sei, schließen lasse. Zum anderen könne durch diesen Einbau die zuvor festgestellte Konformität des Bauteils mit den Sicherheitsanforderungen und die Konformität des elektrischen Geräts, in das das fragliche Bauteil eingebaut worden sei, beeinträchtigt werden.</p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 13.3.2014 – C-132/13 –, Celex-Nr. 62013CJ0132 = juris, Rn. 34.</p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks">Der der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zugrunde liegende Sachverhalt ist mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Hier gewährleisten – wie aufgezeigt – schon die Vorgaben aus der EU-Baumusterprüfbescheinigung an die anschließbaren Einrichtungen und an die Inbetriebnahme der Waage (Nr. 3.2 und 4.2.4 der Bescheinigung) sowie das deren Einhaltung auch tatsächlich absichernde Qualitätssicherungssystem, dass die gerätespezifischen Anforderungen an eine nichtselbsttätige Waage durch den von Anfang an vorgesehenen späteren Einbau in ein externes Kassensystem ab Inbetriebnahme erfüllt werden. Die Gefahr einer Beeinträchtigung insbesondere der messtechnischen Eigenschaften durch einen derart ausgestalteten und durch zertifizierte Vorgaben des Herstellers abgesicherten Einbau in das Kassensystem besteht nicht.</p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks">2. Erweist sich nach alledem die Untersagungsverfügung in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids als rechtwidrig, ist die Androhung unmittelbaren Zwangs für den Fall der Nichtbefolgung der Untersagungsverfügung in Nr. 2 der angegriffenen Ordnungsverfügung des Landesbetriebs ebenfalls rechtswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die mit dem Verfahren verbundenen Rechtsfragen sind nicht nur für die Beteiligten des konkreten Verfahrens, sondern auch für andere Marktüberwachungsbehörden und Hersteller ähnlicher Geräte relevant.</p>
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<p>Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 21.4.2021 geändert.</p>
<p>Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 29.4.2020 wird aufgehoben.</p>
<p>Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Tatbestand:</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin ist Herstellerin von Waagen, welche beim Wägen das Eingreifen einer Bedienungsperson erfordern (sog. nichtselbsttätige Waagen) und zur Verwendung im geschäftlichen Verkehr bestimmt sind. Die Angaben von Höchstlast (Max), Mindestlast (Min) und Eichwert (e) werden bei den hier streitgegenständlichen Modellen ausschließlich digital über die Anzeigeeinrichtung der Waage dargestellt, wo sie bei deren Betrieb stets zusammen mit dem gemessenen Wägeergebnis zu sehen sind. Ausweislich der von der NMi Certin B. V. unter dem 7.7.2020 für das Gerätemodell ausgestellten EU-Baumusterprüfbescheinigung ist der Zugang zu der für die Anzeige verantwortlichen Software durch Eichsiegel gesichert. Im Inneren des Gehäuses der Wiegeplattform befindet sich eine Justiersperre. Welche Software zur Anzeige der primären Indikationen auf den Geräten zugelassen ist, ist in Nr. 2.1.1 der EU-Baumusterprüfbescheinigung vorgegeben. Jede Änderung und jedes Herunterladen von relevanter Software wird im Ereignislogger protokolliert.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Im Anschluss an eine amtliche Kontrolle teilte der Landesbetrieb Mess- und Eichwesen Nordrhein-Westfalen (im Folgenden: Landesbetrieb) der Klägerin im Februar 2020 mit, die Angabe der Konfigurationskennwerte (Max, Min, e) in ausschließlich digitaler Form entspreche nicht den Vorgaben aus der Richtlinie 2014/31/EU, weil damit die zwingend geforderte Dauerhaftigkeit nicht gegeben sei. Denn bei ausgeschalteter Waage erlösche auch die Anzeige dieser messtechnischen Werte im Display.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin widersprach der Ansicht des Landesbetriebs. Nach Sinn und Zweck der Vorgaben aus Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie 2014/31/EU gehe es um die Manipulationssicherheit der Angaben. Diese sollten während der gesamten Lebensdauer der Waage vorhanden sein und dem Verwender zuverlässig Auskunft darüber geben, für welchen Anwendungsbereich (d. h. Minimal- und Maximallast) sowie für welche Genauigkeit der Anzeige (Teilungswert e) die Waage vorgesehen und im eichpflichtigen Verkehr zugelassen sei. Dies sei bei der Anzeige dieser messtechnischen Werte im Display gewährleistet.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Ordnungsverfügung vom 29.4.2020 untersagte der Landesbetrieb der Klägerin, ab dem 1.6.2020 in Nordrhein-Westfalen das Inverkehrbringen nichtselbsttätiger Waagen, die die Aufschriften von Max, Min und e nur digital in der Anzeigeeinrichtung der Waage darstellten und (bei denen) diese Aufschriften an keiner anderen Stelle (z. B. Kennzeichnungsschild) dauerhaft aufgebracht seien (Nr. 1). Für jeden Fall einer Zuwiderhandlung drohte er die Festsetzung eines Zwangsgelds in Höhe von 1.000,00 Euro an (Nr. 2). Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Die Untersagungsverfügung beruhe auf § 50 Abs. 2 Nr. 5 MessEG. Es bestehe mehr als ein begründeter Verdacht, dass die von der Klägerin in Verkehr gebrachten Waagen nicht die Anforderungen gemäß § 6 MessEG erfüllten. Nach dessen Absatz 5 müsse ein Messgerät mit den in einer Rechtsverordnung nach § 30 Nr. 4 MessEG bezeichneten Aufschriften zur näheren Bestimmung des Geräts und des Herstellers oder Einführers versehen sein. Mit welchen Aufschriften eine nichtselbsttätige Waage zusätzlich zu versehen sei, regele § 15 Abs. 3 MessEV. Die Angabe von Max, Min und e in ausschließlich digitaler Form genüge diesen Anforderungen nicht und sei auch mit Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie 2014/31/EU nicht vereinbar. Gemäß Art. 6 Abs. 5 Unterabsatz 2 i. V. m. Anhang III Nr. 1.2 der Richtlinie 2014/31/EU seien die Aufschriften mit Hilfe einer geeigneten Einrichtung an der Waage anzubringen. Der Wortlaut mache deutlich, dass es sich um einen gedruckten Text handeln müsse. Als eine Möglichkeit nenne die Richtlinie in Anhang III Nr. 1.3 der Richtlinie 2014/31/EU das Kennzeichnungsschild. Eine nur digitale Angabe der Höchst- und Mindestlast sowie des Eichwerts genüge auch nicht dem Erfordernis der „jederzeitigen Identifizierbarkeit“ einer Waage durch die Marktaufsichtsbehörden der EU sowie dem Schutz der Verwender als Erwerber der Produkte. Aus der harmonisierten Norm DIN EN 45501, wonach als annehmbare Lösung die dauerhafte und gleichzeitige Anzeige der Werte von Max, Min und e auf der Anzeigeeinrichtung für das Wägeergebnis bei eingeschalteter Waage gelte, folge nichts anderes. Den dortigen Aussagen zur technischen Umsetzung der Kennzeichnung komme schon keine rechtliche Bedeutung zu, weil die insofern geltende Konformitätsvermutung nach Art. 12 der Richtlinie 2014/31/EU nur die wesentlichen Sicherheitsanforderungen gemäß Anhang I der Richtlinie betreffe, nicht hingegen die Kennzeichnungspflichten nach Anhang III. Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit von weiteren Rechtsverstößen durch die Klägerin auszugehen, weil diese sich im Anhörungsverfahren nicht einsichtig gezeigt habe. Der Schutz der europäischen und nationalen Rechtsordnung, die Sicherstellung des Schutzes potentieller Käufer vor dem Erwerb nicht richtlinienkonformer Messgeräte und der Schutz einer ordentlich durchzuführenden Marktaufsicht sowie des fairen Wettbewerbs hätten im Rahmen des Auswahlermessens den Ausschlag für den Erlass der Ordnungsverfügung gegeben. Als Herstellerin im Sinne von § 2 Nr. 6 MessEG, die nach § 23 Abs. 2 MessEG sicherzustellen habe, dass die von ihr in Verkehr gebrachten Messgeräte mit den erforderlichen Aufschriften versehen würden, sei die Klägerin auch die richtige Adressatin der Ordnungsverfügung. Schließlich sei die ausschließlich in die Zukunft gerichtete Ordnungsverfügung verhältnismäßig, insbesondere könne mit einem äußerst geringen finanziellen Aufwand die formale Konformität der Messgeräte hergestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Gegen diese Ordnungsverfügung hat die Klägerin Klage erhoben. Die hier gewählte Form der Darstellung der streitgegenständlichen messtechnischen Werte stehe im Einklang mit den maßgeblichen Vorschriften. Weder der Wortlaut der Richtlinie noch der des nationalen Rechts schlössen die Darstellung der Angaben zu Max, Min und e durch elektronische Anzeige im Display aus. Auch Sinn und Zweck der Regelung stünden einer ausschließlich digitalen Anzeige der Pflichtangaben nicht entgegen. Der Verwender der Waage solle zusammen mit dem Wiegeergebnis unschwer erkennen können, ob sich letzteres im vorgesehenen „Zulassungsbereich“ der Waage halte, d. h. für deren Benutzung (und zuverlässige Funktion) weder zu leicht noch zu schwer sei und mit welcher Genauigkeit (bzgl. des Teilungswerts e) das Ergebnis angezeigt werde. Gerade deshalb sehe die Richtlinie vor, dass sich diese Angaben im Sichtbereich der Ergebnisanzeige einer jeden Waage befinden müssten, was durch die vorliegend gewählte Lösung einer Anzeige direkt im Display (zusammen mit dem Wägeergebnis) in geradezu idealer Weise geleistet werde. Die Dauerhaftigkeit der Angaben sei bei der digitalen Anzeige gewährleistet, weil diese im Nachhinein nicht beliebig verändert werden könnten. Nicht zu besorgen sei, dass durch eine mögliche Fehlprogrammierung der elektronischen Anzeige bei einer digitalen Lösung unzutreffende Angaben angezeigt würden. Eine Manipulation der gerade nicht zu messenden, sondern feststehenden Werte zu Max, Min und e ergebe zudem von vornherein keinen Sinn. Dass bei Abschaltung der Waage, Stromausfall, elektronischem Defekt oder Ähnlichem die Angaben zu Min, Max und e nicht mehr sichtbar seien, stehe dem Merkmal der Dauerhaftigkeit schließlich nicht entgegen, weil in diesen Fällen kein Bedarf für die Sichtbarkeit dieser Angaben bestehe. Insofern ignoriere der Landesbetrieb nicht nur Sinn und Zweck der Regelung, sondern auch deren Wortlaut, wonach die Aufschriften „bei normaler Gebrauchslage des Geräts sichtbar“ sein müssten (Anhang III Nr. 1.2 der Richtlinie 2014/31/EU). Eine andere Auslegung folge auch nicht daraus, dass den Marktaufsichtsbehörden jederzeit eine Kontrolle der Waagen möglich sein müsse. Denn allein gestützt hierauf könnten keine weitergehenden Anforderungen gestellt werden, als sie für den eigentlichen Zweck der Regelung erforderlich seien. Dass eine zu kontrollierende Waage kurz eingeschaltet werden müsse, um sich von ihrer ordnungsgemäßen Beschaffenheit und Funktion zu überzeugen, sei im Übrigen nicht unüblich. Gleiches gelte etwa für die Kontrolle der Einhaltung der Anforderungen an Genauigkeit und Eichfehlergrenzen. Für ihre Auslegung spreche ferner, dass die digitale Anzeige im Display unter Nr. 7.1.2 der harmonisierten Norm DIN EN 45501 ausdrücklich als „annehmbare Lösung“ aufgeführt werde. Zwar komme der harmonisierten Norm hierauf bezogen keine Bindungswirkung zu, sie diene aber der einheitlichen Richtlinienauslegung und dürfe daher nicht unberücksichtigt bleiben. Außer Acht gelassen habe der Landesbetrieb weiter, dass sie – die Klägerin – seit vielen Jahren unbeanstandet Waagen mit ausschließlich digitaler Anzeige der Angaben zu Min, Max und e vertreibe und zwar nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für das streitgegenständliche Waagenmodell habe die NMi Certin B. V. als förmlich akkreditierte Prüfstelle im Juli 2020 eine EU-Baumusterprüfbescheinigung ausgestellt und sich auch zur digitalen Anzeige von Max, Min und e verhalten. Danach werde der Forderung nach Dauerhaftigkeit dadurch genügt, dass ein Eingriff in die Anzeige bzw. die dafür maßgebliche Software nicht möglich sei, weil der Zugang zur Software durch Eichsiegel gesichert sei (Nr. 1.3 der Bescheinigung). Die Baumusterprüfbescheinigung bestätige in Bezug auf einen Prototyp dessen Konformität mit allen einschlägigen Anforderungen für dieses Produkt. Sie bilde die Grundlage für die vom Hersteller vor Inverkehrbringen abzugebende Konformitätserklärung. Daher spreche jedenfalls eine Vermutung für die Erfüllung der einschlägigen Anforderungen aus der Richtlinie 2014/31/EU. Auch andere nach der Verordnung (EG) 765/2008 förmlich akkreditierte benannte Stellen wie die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) oder METAS aus der Schweiz hätten keine Bedenken hinsichtlich der digitalen Anzeige der Angaben geäußert. Auf deren Bewertung müsse sich ein Hersteller grundsätzlich verlassen können, zumal das EU-Recht die Mitwirkung akkreditierter Konformitätsbewertungsstellen zwingend vorsehe, um die Prüfung der Richtlinienkonformität von vornherein nicht allein den Herstellern zu überlassen. Unberücksichtigt gelassen habe der Landesbetrieb schließlich, dass hier nicht ein „immer gleiches Standardschild“ im Streit stehe. Vielmehr würden die Angaben zum Wägebereich in Abhängigkeit von speziellen Kundenanforderungen erst beim konkreten Inverkehrbringen dieser Waagen bzw. der diesem Inverkehrbringen unmittelbar vorausgehenden Endkonfiguration an der jeweiligen Waage eingestellt. Eine anderweitige Anbringung vor Ort wäre praktisch jedenfalls mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 29.4.2020 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt er seine Ausführungen aus dem Verwaltungsverfahren und führt ergänzend aus: Die maßgeblichen Regelungen verlangten, dass die Angaben von Max, Min und e gut sichtbar, lesbar und dauerhaft auf dem Messgerät angebracht sein müssten. Schon der Begriff „angebracht“ – der etwas anderes bedeute als „angezeigt“ – bringe deutlich zum Ausdruck, dass eine lediglich elektronische Anzeige nicht genüge. Angebracht sei etwas nur dann, wenn es mit dem Messgerät physisch und analog verbunden sei und nicht bereits dann, wenn es nur im eingeschalteten Zustand aufgerufen werden könne. Aus Anhang III Nr. 1.2 der Richtlinie 2014/31/EU folge nichts anderes. Mit dem Terminus „normale Gebrauchslage“ sei nicht die eingeschaltete elektronische Waage gemeint, sondern ihre korrekte Positionierung. Der Aufkleber mit den Pflichtangaben müsse danach so angebracht sein, dass er bei der normalen Gebrauchslage des Geräts sichtbar sei, also ohne besonderen Aufwand gelesen werden könne. Hätte die Regelung das Ziel verfolgt, auch die lediglich elektronische Angabe der geforderten Daten im Display zuzulassen, hätte der Richtliniengeber das zum Ausdruck bringen und auch ein Pendant zu der in Anhang III Nr. 1.2 Satz 1 der Richtlinie 2014/31/EU geregelten Nichtentfernbarkeit ohne Beschädigung schaffen müssen. Der Richtliniengeber habe keine entsprechende digitale Variante der Absicherung vorgegeben, woraus folge, dass er an dieser Stelle nur eine analoge Kennzeichnung der Waage habe zulassen wollen. Die Vorgaben zu den Aufschriften in Anhang III der Richtlinie 2014/31/EU dienten ferner nicht allein dazu, dem Verwender zu ermöglichen, den Wägebereich zu erkennen, sondern es solle auch den Marktaufsichtsbehörden ermöglicht werden zu kontrollieren, ob der Hersteller seine Waagen den gerätespezifischen Anforderungen entsprechend gefertigt und in den Verkehr gebracht habe. Wäre die Waage stromlos oder besäße sie einen Defekt, könne eine Überprüfung der Richtlinienkonformität nicht erfolgen. Zu bedenken seien auch Situationen, in denen die Marktaufsichtsbehörden nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen in der Lage seien, die zu überprüfenden Waagen an den Stromkreislauf anzuschließen, etwa bei der Überprüfung von importierten Waagen in Häfen und an Zollstationen. In der Sache gebe es zudem beachtliche Gründe dafür, die bloß elektronische Anzeige im Display nicht ausreichen zu lassen. Im Hintergrund könnten unbemerkt Programmierungen stattfinden, die genau diese Angaben verfälschten. Eine elektronische Fehlsteuerung der Anzeige könne zu einem massenhaften Betrug von Verbrauchern genutzt werden. Bestätigt werde das Auslegungsergebnis in der DIN EN 45501, deren Vermutungswirkung sich gemäß Art. 12 der Richtlinie 2014/31/EU allerdings nur auf die wesentlichen Anforderungen des Anhangs I der Richtlinie, nicht aber auf die Kennzeichnungspflichten des Herstellers beziehe. In der DIN EN 45501 werde unter Nr. 7 präzise dargestellt, dass die Angaben zu Min, Max und e zwingend analog anzubringen seien und lediglich darüber hinaus gleichzeitig auch digital angezeigt werden dürften. Soweit die Klägerin auf die EU-Baumusterprüfbescheinigung verweise, komme dieser keine Vermutungswirkung im Hinblick auf die Einhaltung von Produktanforderungen zu und binde ihn als Marktüberwachungsbehörde nicht. Die von der Klägerin dargestellten Schwierigkeiten bei der analogen Anbringung der Aufschriften seien teilweise nicht nachvollziehbar, jedenfalls aber rechtlich unerheblich.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Waagen der Klägerin erfüllten nicht die Anforderungen nach Abschnitt 2 des Mess- und Eichgesetzes, wonach Messgeräte gut sichtbar, lesbar und dauerhaft mit den nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 bis 4 MessEV bezeichneten Aufschriften zu versehen seien. Diese Anforderungen seien nicht gewahrt, wenn die Pflichtangaben wie hier lediglich in der digitalen Anzeigeeinrichtung der Waage und nicht zumindest auch in Form einer physisch-analogen Aufschrift dargestellt würden. Bereits die Auslegung der nationalen Vorschriften hinsichtlich Wortlaut und Systematik zeige, dass der Gesetzgeber von einer physisch-analogen Aufschrift ausgegangen sei. Bei der Anzeige im Display könne nicht mehr davon gesprochen werden, dass es sich um eine „Aufschrift“ handele. Auch der Begriff „anbringen“ in § 13 Abs. 1 Satz 1 MessEV lege eine physische Verbindung der Aufschrift mit dem Messgerät nahe. Weiter sei mit Blick auf die in § 13 Abs. 1 Satz 1 MessEV formulierten Anforderungen an die Aufschriften, insbesondere die Dauerhaftigkeit und Lesbarkeit, davon auszugehen, dass eine ununterbrochene Lesbarkeit der Aufschrift gefordert werde. Dies könne eine digitale Anzeige nicht gewährleisten, weil sie im ausgeschalteten Zustand erlösche. Bereits nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch sei nicht davon auszugehen, dass eine Aufschrift dauerhaft sei, wenn deren Darstellung vom Funktionieren einer digitalen Anzeige abhänge. Eine Auslegung der Richtlinie 2014/31/EU hinsichtlich Wortlaut und Systematik – auch unter Berücksichtigung anderer Sprachfassungen – bestätigte die Auslegung des nationalen Eichrechts. Insbesondere ergebe sich nichts anderes aus Anhang III Nr. 1.2 Satz 2 der Richtline 2014/31/EU, wonach die Aufschriften bei „normaler Gebrauchslage des Geräts“ sichtbar sein müssten. Hierunter sei nicht die normale Verwendung im Sinne eines eingeschalteten Geräts zu verstehen. Vielmehr meine „Gebrauchslage“ die Aufstellung der Waage im Raum, also die Positionierung des Messgeräts. Die Aufschriften sollten unabhängig vom Betriebszustand in der üblichen Aufstellungsweise des Geräts sichtbar sein. Dieses Ergebnis werde systematisch dadurch bestätigt, dass Anhang III Nr. 1.2 der Richtlinie 2014/31/EU vorschreibe, an den bezeichneten Messgeräten seien geeignete Einrichtungen zum Anbringen der Konformitätskennzeichnung und der Aufschriften vorzusehen. Diese müssten so beschaffen sein, dass sich die Konformitätskennzeichnung und die Aufschriften nicht entfernen ließen, ohne beschädigt zu werden. Ein „Entfernen ohne Beschädigung“ von Aufschriften lege wiederum nahe, dass es sich um eine tatsächlich-physische Aufschrift handele, denn bei einer Anzeige auf einem Display könne es mangels physischer Wiedergabe nicht zu einer Beschädigung kommen. Ferner müsse nach Anhang III Nr. 1.3 der Richtlinie 2014/31/EU ein besonderer Fälschungsschutz bei der Verwendung von Kennzeichnungsschildern gewährleistet werden. Hätte der europäische Gesetzgeber hier als Alternative eine digitale Anzeige zulassen wollen, hätte es nahegelegen, beispielsweise eine Sicherung des Zugangs zur Software sowie möglicherweise auch eine Zertifizierung der Software selbst vorzusehen. Etwas anderes folge nicht aus Anhang III Nr. 1.4 der Richtlinie 2014/31/EU, wonach die Angaben Max, Min, e und d auch in der Nähe der Gewichtsanzeige angebracht sein müssten, soweit sie sich nicht ohnehin dort befänden. Die Regelung erfasse den Fall, dass eine physisch-analoge Aufschrift zwar vorhanden sei, sich jedoch nicht in der Nähe der Gewichtsanzeige befinde. Für diesen Fall müssten diese Angaben in der Nähe der Gewichtsanzeige wiederholt werden, was durch das Wort „auch“ klargestellt werde. Der Sinn und Zweck der vorgeschriebenen Aufschriften zwinge zu keiner abweichenden Beurteilung. Die Vorschriften über das Mess- und Eichwesen bezweckten, den am Wirtschaftsverkehr Beteiligten die Sicherheit zu geben, dass Handelsgüter nach ihrem Umfang, Volumen, Maß und/oder ihrer Masse sicher bestimmt werden könnten. Die vorgeschriebenen Aufschriften dienten einerseits dazu, dem Verwender Informationen insbesondere zum Wägebereich (Minimal- und Maximallast) und zum Eichwert der Waage zur Verfügung zu stellen, andererseits den Marktüberwachungsbehörden dazu, sich mithilfe dieser Aufschriften vom ordnungsgemäßen Inverkehrbringen eines Messgeräts überzeugen zu können. Zwar sei es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diesen Zwecken auch durch eine digitale Anzeige bei entsprechender Gestaltung in ausreichendem Maße Genüge getan werden könne. Ob der europäische Gesetzgeber eine digitale Anzeige hätte zulassen können, sei letztlich aber eine rechtspolitische Frage. Ausgehend von dem eindeutigen Wortlaut sowie der Regelungssystematik sei davon auszugehen, dass er nur eine physisch-analoge Aufschrift habe zulassen wollen. Jedenfalls sei nicht ersichtlich, dass eine bloße digitale Anzeige der Pflichtangaben geeignet wäre, die Schutzzwecke der Aufschriften besser zu erreichen als eine physisch-analoge Aufschrift, sodass kein Grund bestehe, eine digitale Anzeige entgegen dem Wortlaut aus teleologischen Gründen zuzulassen. Der Verstoß der Klägerin gegen die Kennzeichnungspflichten werde nicht durch die ihr erteilte EU-Baumusterprüfbescheinigung legalisiert. Dieser komme weder eine die Marktüberwachungsbehörden bindende Wirkung hinsichtlich der Konformität des bescheinigten Gerätemodells zu, noch begründe sie ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin auf das Ausbleiben von Marktüberwachungsmaßnahmen. Da sich die Vermutungswirkung des § 7 Abs. 1 MessEG nicht auf Kennzeichnungen und Aufschriften erstrecke, führe es auch nicht zu einer Legalisierung oder einem schutzwürdigen Vertrauen der Klägerin, wenn die bloße digitale Anzeige in einer harmonisierten Norm zugelassen sein sollte.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung ihrer von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung trägt die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens vor, nichts spreche dafür, dass die digitale Darstellung der Pflichtangaben nach dem Willen des EU-Gesetzgebers bewusst ausgeschlossen worden sei. Insbesondere sprenge ihr Normverständnis nicht die Wortlautgrenze. Vielmehr seien in der Richtlinie 2014/31/EU die Anforderungen grundsätzlich technologieoffen gestaltet. Eine Beschränkung allein auf „physisch-analoge Aufschriften“ habe im Text der Richtlinie gerade keinen Ausdruck gefunden, sofern nicht schon allein der Begriff „Aufschrift“ in der Weise verabsolutiert werde, dass damit „digitale Anzeigen“ ausgeschlossen seien. Zwar könnten die Begriffe „Aufschrift“ und „Anzeige“ nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden. Hieraus könne aber nicht gefolgert werden, dass eine digitale Anzeige nicht unter die allgemeine Anforderung nach Darstellung bestimmter Inhalte als „Aufschrift“ subsumiert werden könne. Insbesondere werde auch das Merkmal der Dauerhaftigkeit erfüllt. Das Merkmal der „unauslöschlichen“ Darstellung meine nicht bereits das vorübergehende „Erlöschen der Anzeige“ bei einer ausgeschalteten Waage, sondern allein das unwiederbringliche „Erlöschen“, welches mit einer Entfernung der „Aufschrift“ verbunden wäre. Es sei sicherzustellen, dass die Angaben während der gesamten Lebensdauer des Messgeräts erhalten blieben. Regelungen zur Manipulationssicherheit für die Darstellung per digitaler Anzeige fänden sich bereits in Anhang I Nr. 8.3 und 8.5 der Richtlinie 2014/31/EU. Bei einem dauerhaften Ausfall der Displayanzeige sei das Messgerät insgesamt funktionsuntauglich, sodass dann keine Notwendigkeit für die Darstellung der streitgegenständlichen Pflichtangaben mehr bestehe. Bestätigt werde ihr Normverständnis sowohl in der DIN EN 45501 als auch in Nr. 3.1.15 des auch heute noch gültigen WELMEC Leitfadens 2 (2015). Beides sei zumindest als sonstige Erkenntnisquelle im Rahmen der Auslegung der primären Reglungen im Richtlinientext zu berücksichtigen. Dies gelte vor allem mit Blick auf die technischen Spezifikationen in der DIN EN 45501, weil die Einhaltung der dortigen Regelungen gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 MessEG grundsätzlich eine Vermutungswirkung betreffend die Konformität mit der Richtlinie auslöse. Die hier in Streit stehenden Aufschriften gehörten zu den wesentlichen Anforderungen im Sinne der Norm, weil sie auf nationaler Ebene in § 15 Abs. 3 Nr. 2 bis 4 und § 13 Abs. 1 Satz 1 MessEV normiert seien. Anders als Art. 12 der Richtlinie 2014/31/EU beschränke § 7 Abs. 1 Nr. 1 MessEG die Vermutungswirkung jedenfalls dem Wortlaut nach nicht auf Anforderungen aus Anhang I der Richtlinie. In diesem Zusammenhang sei auch die EU-Baumusterprüfbescheinigung nicht bedeutungslos. Zwar sei zuzugestehen, dass eine solche kein hoheitlich erlassener Verwaltungsakt sei und damit formal nicht dieselbe Verbindlichkeit beanspruchen könne. Dies gebiete aber nicht den Umkehrschluss ihrer völligen Unverbindlichkeit. Es erschiene geradezu paradox, müsste sich der Hersteller einerseits der Mitwirkung der akkreditierten Prüfstellen bedienen, dürfte sich aber umgekehrt nicht auf die von dort abgegebene Bewertung verlassen. Jedenfalls sei die durch die EU-Baumusterprüfbescheinigung dokumentierte Bewertung gemäß Art. 11 Abs. 5 VO (EU) 2019/1020 gebührend zu berücksichtigen. Dies gelte erst recht, wenn sich die darin enthaltene Bewertung mit den Bewertungen anderer Prüfstellen decke und durch entsprechende Regelungen in harmonisierten Normen oder anderen technischen Spezifikationen bestätigt werde.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Klägerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 21.4.2021 zu ändern und die Untersagungsverfügung des Beklagten vom 29.4.2020 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, der eindeutige Wortlaut der Richtlinie 2014/31/EU stehe – sowohl in der deutschen als auch in anderen Sprachfassungen – der von der Klägerin vertretenen Rechtsauffassung entgegen. Alle Sprachfassungen der Richtlinie verlangten eine Aufschrift auf dem Gerät selbst, die vor allem dauerhaft zu erkennen sein müsse, also nicht nur im eingeschalteten Zustand. Anders wäre etwa eine Kontrolle bei der Einfuhr von Waagen praktisch unmöglich oder jedenfalls erheblich erschwert, weil die Waagen nicht an den Stromkreis angeschlossen werden könnten. Es müsse für den Zoll auf einen Blick erkennbar sein, um welche Waagen es sich handele und ob diese mit den Frachtpapieren übereinstimmten. Hinzu komme, dass eine elektronische Beeinflussung des angezeigten Wiegeergebnisses einprogrammiert werden könne, die außerhalb der von der Klägerin dargelegten Sicherheitsmechanismen des Waagenherstellers stattfände. Die von der Klägerin herangezogenen untergesetzlichen Regelungen könnten wegen des Anwendungsvorrangs der Richtlinie 2014/31/EU zu keinem abweichenden Ergebnis führen, zumal dem von der Klägerin zur Auslegung herangezogenen WELMEC-Leitfaden als bloße Meinungsäußerung eines in Deutschland registrierten und eingetragenen Vereins von vornherein keine normative Kraft zukomme. Dass es eine gegenteilige langjährige Praxis der Marktaufsichtsbehörden in anderen EU-Mitgliedsländern gebe, werde bestritten. Die der Klägerin erteilte Baumusterprüfbescheinigung habe der Landesbetrieb gebührend berücksichtigt. Dies bedeute vor allem, einen Abgleich mit den zugrunde liegenden EU-Vorschriften vorzunehmen, um zu erkennen, ob die Baumusterprüfbescheinigung plausibel und mit dem Recht übereinstimmend erscheine.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (zwei elektronische Gerichtsakten) und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten (ein Band) Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Dem Antrag des Beklagten vom 26.9.2022 auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist nicht zu entsprechen. Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO ist ausgeschlossen, wenn – wie hier am 9.9.2022 – bereits ein Endurteil verkündet worden ist (§ 116 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14.11.2016 – 5 C 10.15 D –, BVerwGE 156, 229 = juris, Rn. 7, m. w. N., und Beschluss vom 25.1.2016 – 2 B 34.14 –, juris, Rn. 29.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist begründet.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die angefochtene Ordnungsverfügung des Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Als Ermächtigungsgrundlage für die Untersagungsverfügung in Nr. 1 des Bescheids kommt allein § 50 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5, Abs. 1 MessEG in Betracht. Danach treffen die Marktüberwachungsbehörden unter anderem die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass Messgeräte die Anforderungen nach Abschnitt 2 MessEG nicht erfüllen. Insbesondere sind sie befugt zu verbieten, ein Produkt auf dem Markt bereitzustellen. Diese Voraussetzungen liegen hier schon nicht vor (hierzu unter I.). Folglich erweist sich auch die Zwangsgeldandrohung in Nr. 2 des angefochtenen Bescheids als rechtswidrig (hierzu unter II.).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">I. Die Befugnis der Marktüberwachungsbehörde nach § 50 Abs. 2 Satz 1 MessEG zum Erlass ordnungsbehördlicher Maßnahmen erstreckt sich auf Messgeräte, soweit sie von der nach den §§ 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 und 2 MessEG erlassenen Mess- und Eichverordnung erfasst sind. Messgeräte sind alle Geräte oder Systeme von Geräten mit einer Messfunktion einschließlich Maßverkörperungen, die jeweils zur Verwendung im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder zur Durchführung von Messungen im öffentlichen Interesse bestimmt sind (§ 3 Nr. 13 MessEG). Hierzu zählen unter anderem nichtselbsttätige Waagen im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 11, Abs. 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 2 und Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2014/31/EU. Diese dürfen nach § 6 Abs. 1 und 5 MessEG nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie mit den in einer Rechtsverordnung nach § 30 Nr. 4 MessEG bezeichneten Aufschriften zur näheren Bestimmung des Geräts und des Herstellers oder Einführers versehen sind. Unter anderem sind nichtselbsttätige Waagen nach §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 bis 4 der aufgrund § 30 Nr. 4 MessEG erlassenen Mess- und Eichverordnung mit gut sichtbar, lesbar und dauerhaft auf dem Messgerät angebrachten Aufschriften zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert zu versehen (hierzu unter 1.). Die hier in Streit stehenden Geräte genügen diesen Anforderungen (hierzu unter 2.).</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">1. Gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 bis 4 MessEV sind nichtselbsttätige Waagen unter anderem mit Aufschriften zur Höchstlast („Max“), Mindestlast („Min“) und zum Wert in Masseeinheit zur Einstufung und zur Eichung einer Waage (Eichwert – „e“) zu versehen. Diese Aufschriften müssen gemäß § 15 Abs. 3 Satz 2 MessEV in der Nähe der Gewichtsanzeige und nach § 13 Abs. 1 Satz 1 MessEV gut sichtbar, lesbar und dauerhaft auf dem Messgerät angebracht sein; sie müssen klar, unauslöschlich und nicht übertragbar sein.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Diesen Anforderungen kann auch die ausschließlich digitale Anzeige zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert genügen. Die Regelung des § 13 Abs. 1 MessEV schränkt nach dem erklärten Regelungswillen die Art der technischen Realisierung von Aufschriften nicht grundsätzlich auf bestimmte Technologien ein. Wesentlich ist allerdings, dass die in Absatz 1 genannten Anforderungen dabei jeweils beachtet sind.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Vgl. BR-Drs. 493/14, S. 143.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Auch eine Auslegung der §§ 13, 15 MessEV im Lichte der hiermit in nationales Recht umgesetzten unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2014/31/EU über die Pflichten zur Anbringung von Kennzeichen und Aufschriften auf nichtselbsttätigen Waagen bestätigt dies [hierzu unter a)].</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Vgl. Nr. 12 der Einleitung zur MessEV, BR-Drs. 493/14, S. 146.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der nationale Verordnungsgeber hat die auf die Kennzeichnungs- und Beschriftungspflichten bezogenen Vorgaben der Richtlinie 2014/31/EU umgesetzt, ohne darüber hinausgehende Anforderungen zu normieren [hierzu unter b)].</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">a) Nach Art. 6 Abs. 5 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2014/31/EU bringen die Hersteller von Waagen, die zu den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) bis f) der Richtlinie genannten Zwecken verwendet werden sollen, die in Anhang III Nr. 1 der Richtlinie 2014/31/EU vorgeschriebenen Aufschriften an. Nach Anhang III Nr. 1.1 iv) bis vi) der Richtlinie 2014/31/EU tragen die Geräte die Aufschriften zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert gut sichtbar, leserlich und dauerhaft. Sie müssen nach Anhang III Nr. 1.4 der Richtlinie 2014/31/EU auch in der Nähe der Gewichtsanzeige angebracht sein, soweit sie sich nicht ohnehin dort befinden. Im Übrigen beschränkt sich Anhang III Nr. 1.2 der Richtlinie 2014/31/EU auf die Vorgabe, an den Geräten „geeignete Einrichtungen“ zum Anbringen der Konformitätskennzeichnung und der Aufschriften vorzusehen, die so beschaffen sein müssen, dass sich die Konformitätskennzeichnung und die Aufschriften nicht entfernen lassen, ohne beschädigt zu werden, und dass die Konformitätskennzeichnung und die Aufschriften bei normaler Gebrauchslage des Geräts sichtbar sind. Auch die Richtlinie schränkt die Art der technischen Realisierung von Kennzeichnungen und Aufschriften danach nicht ausdrücklich auf bestimmte Technologien ein. Die vorzusehenden „geeigneten Einrichtungen“ werden nicht weiter eingegrenzt. Ihre Eignung richtet sich danach, ob den sonstigen Anforderungen an Aufschriften entsprochen wird. In Anhang III Nr. 1.3 der Richtlinie 2014/31/EU sind nähere Vorgaben enthalten, wenn als „geeignete Einrichtung“ ein Kennzeichnungsschild verwendet wird. Nach der hier gebotenen Auslegung der Richtlinie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck im Licht ihrer Fassung in allen Sprachen,</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">vgl. EuGH, Urteil vom 3.4.2014 – C-515/12 –, Celex-Nr. 62012CJ0515 = juris, Rn. 19, m. w. N.,</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">kann auch die ausschließlich digitale Anzeige zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert im Display für die Gewichtsanzeige die Anforderungen der guten Sichtbarkeit, Leserlichkeit und Dauerhaftigkeit nach Anhang III Nr. 1.1 und 1.2 der Richtlinie 2014/31/EU erfüllen, weshalb ein Display eine geeignete Einrichtung in dem erwähnten Sinne darstellen kann. Der Wortlaut der Richtlinie lässt einen entgegenstehenden Willen des Richtliniengebers nicht erkennen [hierzu unter aa)]. Auch die Normhistorie spricht nicht für eine Beschränkung auf ausschließlich physisch-analog anzubringende Aufschriften [hierzu unter bb)]. Schließlich ist eine solche Beschränkung zur Erreichung der mit der Regelung verfolgten unionsrechtlichen Ziele nicht erforderlich und auch nach der Regelungssystematik nicht erfolgt [hierzu unter cc)].</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">aa) Die Richtlinie 2014/31/EU lässt die Wiedergabe der erforderlichen Angaben zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert in einem elektronischen Display weder ausdrücklich zu noch verbietet sie diese. Insoweit waren sich die Beteiligten im Schriftverkehr vor der mündlichen Verhandlung und auch in der mündlichen Verhandlung noch ausdrücklich einig. Dem Wortlaut der an „Aufschriften“ zu stellenden Anforderungen lässt sich zudem nicht verlässlich und zweifelsfrei entnehmen, dass eine ausschließlich digitale Anzeige der hier streitgegenständlichen messtechnischen Werte den Erfordernissen der Richtlinie nicht genügen soll. Insbesondere kann ein solcher Schluss nicht schon daraus gezogen werden, dass nach Art. 6 Abs. 5 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2014/31/EU die „Aufschriften“ bei Waagen von dem Hersteller anzubringen sind und die Geräte nach Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie 2014/31/EU die Aufschriften gut sichtbar, leserlich und dauerhaft tragen müssen. Der Begriff der „Aufschrift“ bezieht sich schon nach dem deutschen Begriffsverständnis typischerweise nicht allein auf einen kurzen Text, der auf etwas zur Bezeichnung, als Hinweis oder Ähnliches geschrieben ist,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">so verkürzend Duden, Onlinewörterbuch, Bedeutung, „Aufschrift“, abrufbar unter https://www.duden.de/rechtschreibung/Aufschrift#bedeutung; Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache, 5. Aufl. 2012, erläutert „Aufschrift“ mit „etwas Daraufgeschriebenes, Beschriftung“,</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">sondern auch auf das über etwas Geschriebene.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">vgl. J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Neubearbeitung (A-F), Bd. 3, Sp. 720, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, „Aufschrift“, abrufbar unter: https://www.woerterbuchnetz.de/DWB2?lemid=A13761.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Dem entspricht es, dass im Deutschen etwa die Begriffe „Angabe“, „Beschriftung“ oder „Bezeichnung“ synonym zu Aufschrift verwendet werden.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Neubearbeitung (A-F), Bd. 3, Sp. 720, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, „Aufschrift“, abrufbar unter: https://www.woerterbuchnetz.de/DWB2?lemid=A13761; Duden, Onlinewörterbuch, Synonyme, „Aufschrift“, abrufbar unter https://www.duden.de/synonyme/Aufschrift.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Zudem und vor allem lassen die englische und französische Sprachfassung der Richtlinie diesen Begriff jedenfalls mit Blick auf die hier streitgegenständlichen messtechnischen Werte nicht eindeutig auf einen „auf etwas“ geschriebenen Text eingrenzen. In der englischen Fassung wird der Begriff „inscriptions“, in der französischen Fassung der Begriff „inscriptions“ verwendet. Diese Begriffe lassen sich jeweils nicht nur mit dem deutschen Begriff der „Aufschrift“ im oben genannten engeren Sinne übersetzen, sondern in gleicher Weise mit „Beschriftung“ oder „Inschrift“.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vgl. Online-Wörterbücher Langenscheidt Englisch-Deutsch, „inscription“, abrufbar unter https://de.langenscheidt.com/englisch-deutsch/inscription, und Französisch-Deutsch, „inscription“, https://de.langenscheidt.com/franzoesisch-deutsch/inscription.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Durch diese der beabsichtigten Technologieoffenheit besser Rechnung tragenden weiter gefassten Begriffe wird die Betonung mehr auf das „Beschriebensein“ und weniger darauf gelegt, eine Schrift sei „auf“ ein Gerät aufgebracht. Zudem werden diese in ihrer Bedeutung offeneren Begriffe in Art. 6 Abs. 5 Unterabsatz 2 sowie in Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie 2014/31/EU anders als in der deutschen Fassung schon nicht allein in der Kombination mit den Verben „anbringen“ oder „tragen“ („affix“ bzw. „apposer“ oder „bear“ bzw. „porter“), sondern in Nr. 1.4 des Anhangs – gerade konkret bezogen auf die allein streitgegenständlichen Angaben zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert – auch mit dem Verb „show“ bzw. „apparaître“, also dem deutschen „zeigen“ bzw. „erscheinen“, benutzt. Im Englischen heißt es dort:</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">„The inscriptions Max, Min, e, and d, shall also be shown near the display of the result if they are not already located there.“</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Im Französischen:</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">„Les inscriptions Max, Min, e et d apparaissent également à proximité de l‘affichage du résultat, si elles ne figurent pas déjà à cet endroit.“</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Hiernach steht sinngemäß im Fokus, wo die Aufschriften bzw. Beschriftungen zu sehen sind, nicht hingegen die Art der Anbringung oder das „Auf-etwas-Geschrieben-sein“. Ins Deutsche übersetzt sollen die Aufschriften Max, Min, e und d danach auch in der Nähe der Anzeige des Ergebnisses gezeigt werden bzw. erscheinen, falls sie sich dort nicht bereits befinden. Die Wortlaute der englischen und der französischen Sprachfassungen schließen danach begrifflich deutlicher als die deutsche Fassung die Möglichkeit ein, die sichtbaren messtechnischen Werte zu Höchstlast, Mindestlast, zum Eichwert und zum Teilungswert räumlich ausschließlich in der Nähe oder an der Gewichtsanzeige an einer geeigneten Einrichtung zu „lokalisieren“. Dies kann auch durch einen digitalen Schriftzug auf einer Anzeige erfolgen.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Bereits aus einem Vergleich der deutschen mit der englischen und der französischen Sprachfassung der Richtlinie folgt weiter, dass das Erfordernis der dauerhaften Aufschrift bzw. Beschriftung hier nicht im Sinne einer permanenten Sichtbarkeit zu verstehen ist, sondern vielmehr als Synonym für den Begriff „unauslöschlich“ gebraucht wird. Dies legen die englische und französische Sprachfassung mit jeweils dieser Wortbedeutung nahe, indem sie die Begriffe „indelibly“ bzw. „indélébile“ verwenden. Der Begriff „unauslöschlich“ wiederum kann nicht allein in dem Sinne verstanden werden, dass eine Aufschrift ununterbrochen sichtbar sein muss. Er legt auch unter Berücksichtigung des in der deutschen Fassung synonym gemeinten Begriffs „dauerhaft“, der im Deutschen in seiner Hauptbedeutung „einen langen Zeitraum überdauernd, beständig“ bzw. „bestehend, seinen Zustand bewahrend, fortbestehend, mit und (seltener) ohne zeitliche Bestimmungen“ meint,</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">vgl. Duden, Onlinewörterbuch, Bedeutung, „dauerhaft“, abrufbar unter https://www.duden.de/rechtschreibung/dauerhaft#bedeutung; Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache, 5. Aufl. 2012, „dauerhaft“; ausführlich J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Neubearbeitung (A-F), Bd. 6, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, „dauerhaft“, abrufbar unter https://www.woerterbuchnetz.de/DWB2?lemid=D03426, i. V. m. „<sup>1</sup>dauern A“, abrufbar unter https://www.woerterbuchnetz.de/DWB2?lemid=D03434,</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">die Betonung vielmehr darauf, dass die Aufschrift bzw. Beschriftung über einen langen Zeitraum nicht ausgelöscht werden können darf und Bestand haben muss. Bei einem solchen Begriffsverständnis – für welches auch spricht, dass der Wortlaut der Richtlinie nach keiner Sprachfassung eine „dauerhaft sichtbare“ Kennzeichnung verlangt, sondern „sichtbar“ und „dauerhaft“ jeweils als eigenständige Voraussetzungen benannt werden – kann eine digitale Darstellung bei der Gewichtsanzeige die erforderliche Unauslöschlichkeit bzw. Dauerhaftigkeit gewährleisten. Technologieoffen verstanden handelt es sich bei einer solchen Anzeige nämlich um eine im Sinne von Anhang III Nr. 1.1, 1.2 und 1.4 der Richtlinie 2014/31/EU vorgesehene „geeignete Einrichtung“, an der sich die Aufschrift bzw. Beschriftung sichtbar und leserlich räumlich „ohnehin“ befindet („located there“, „figurent […] à cet endroit“). Die wesentlichen gerätespezifischen Anforderungen an eine derartige digitale Anzeige ergeben sich, weil es sich um eine bauartbedingte technische Lösung handelt, aus Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Damit eine solche digitale Anzeige dauerhaft bzw. unauslöschlich und damit für die Aufschrift bzw. Beschriftung „geeignet“ ist, hat der Hersteller bei Entwurf und Herstellung des Geräts zu gewährleisten, dass die für die Anzeige der messtechnischen Werte verantwortliche Software entsprechend den Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU vor unbeabsichtigtem Missbrauch geschützt und eine Veränderung der angezeigten messtechnischen Werte verhindert wird. Näherer Ausführungen bedurfte es diesbezüglich im Normtext nicht. Der Hersteller muss nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU gewährleisten, wenn er Geräte in Verkehr bringt, die zu den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) bis f) genannten Zwecken verwendet werde sollen, dass diese gemäß den in Anhang I festgelegten wesentlichen Anforderungen entworfen und hergestellt worden sind. Die wesentlichen Anforderungen in Anhang I der Richtlinie betreffen die wesentlichen messtechnischen und technischen Anforderungen an nichtselbsttätige Waagen (vgl. Erwägungsgrund 17 der Richtlinie 2014/31/EU). Entscheidet sich der Hersteller dazu, die Angaben von Min, Max und e mit Hilfe der geräteeigenen Software digital anzeigen zu lassen, sind die wesentlichen technischen Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie bauartbedingt auch hierauf bezogen zu erfüllen. Die Gewährleistung eines ausreichenden Missbrauchsschutzes gegen ein unbefugtes Löschen wiederum setzt die Richtlinie 2014/31/EU in Anhang I, welcher gemäß § 8 Nr. 11 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 3 auch nach nationalem Recht unmittelbar anwendbar ist, als allgemeine Anforderung nach Nr. 8 des Anhangs I der Richtlinie 2014/31/EU voraus. Nach Anhang I Nr. 8.5 der Richtline 2014/31/EU dürfen die Geräte keine Eigenschaften aufweisen, durch die eine betrügerische Verwendung gefördert wird. Die Möglichkeiten unbeabsichtigten Missbrauchs müssen so klein wie möglich gehalten werden. Teile, die vom Benutzer nicht ausgebaut oder justiert werden dürfen, müssen dagegen gesichert sein. Erfolgt die Anzeige von Min, Max und e über eine Software, erstreckt sich diese Pflicht bauartbedingt entsprechend hierauf.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Weiter erforderlich ist, dass die Aufschriften nach Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie 2014/31/EU gut sichtbar sind. Hieraus lässt sich allerdings nicht das Erfordernis ableiten, die Aufschriften müssten unabhängig von dem Betriebszustand der Waage gut sichtbar sein. Auch Anhang III Nr. 1.2 Satz 2 der Richtlinie 2014/31/EU lässt sich dies nicht entnehmen. Danach muss die Einrichtung zum Anbringen der Aufschriften so beschaffen sein, dass die Aufschriften bei normaler Gebrauchslage des Geräts (im Englischen „regular operating position“, im Französischen „position de fonctionnement normal“) sichtbar sind. Hieraus wird die Intention des Richtliniengebers erkennbar, dass bei ordnungsgemäßer Positionierung der Waage zur Verwendung gewährleistet sein muss, dass die Aufschriften gut sichtbar sind. Zu der Frage der Sichtbarkeit der Aufschriften unabhängig vom Betriebszustand der Waage verhält sich die Regelung hingegen nicht.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Einer ausschließlich digitalen Anzeige der hier streitgegenständlichen messtechnischen Werte steht ferner nicht entgegen, dass sich die Aufschriften nach Anhang III Nr. 1.2 Satz 2 der Richtlinie 2014/31/EU nicht entfernen lassen dürfen, ohne beschädigt zu werden. Diese Voraussetzung wird für einen gegen Veränderung gesicherten Schriftzug in einem Display schon dadurch erfüllt, dass seine Entfernung ohne Zerstörung des Displays oder der Sicherung nicht möglich ist. Die zusätzlichen Vorgaben nach Anhang III Nr. 1.3 der Richtlinie 2014/31/EU gelten ausdrücklich nur dann, wenn ein Kennzeichnungsschild verwendet wird. Bei Wahl einer anderen „geeigneten Einrichtung“ im Sinne von Nr. 1.2 sind sie nicht zusätzlich zu beachten. Nur wenn ein Kennzeichnungsschild verwendet wird, muss es gesichert werden können, es sei denn, dass es sich nicht entfernen lässt, ohne zerstört zu werden. Kann das Kennzeichnungsschild gesichert werden, muss ein Sicherungsstempel angebracht werden können. Diese Regelungen zielen nur darauf, einen möglichen Missbrauch durch Übertrag der Aufschriften auf Kennzeichnungsschildern zu verhindern. Unabhängig davon, dass die Nr. 1.3 nur Vorgaben bei optionaler Verwendung von Kennzeichnungsschildern enthält und die Gefahr des Übertrags von Aufschriften bei ausschließlich digitaler Darstellung aus tatsächlichen Gründen von vorherein nicht besteht, kann auch der Zugang zur Software auf der Hardware durch eine Justiersperre und einen Sicherungsstempel gesichert und so entsprechend den Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU verhindert werden, dass auf die Software unbemerkt zugegriffen wird.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit einer physisch-analogen Aufschrift von Max, Min und e nicht aus Anhang III Nr. 1.5 der Richtlinie 2014/31/EU. Danach muss jede Auswägeeinrichtung, die an einen oder mehrere Lastträger angeschlossen oder anschließbar ist, auch die entsprechenden Aufschriften für diese Lastträger aufweisen. Dies ist bei einer digitalen Anzeige der streitgegenständlichen messtechnischen Werte des konkret verwendeten Lastträgers im Display der Auswägeeinrichtung ohne Weiteres möglich.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">bb) Dieses weite, technologieoffene Begriffsverständnis wird deutlich bestätigt durch die Entstehungsgeschichte der Norm. Insofern kann bei der Auslegung der Richtlinie nicht außer Betracht bleiben, dass die Europäische Union schon bei ihrem Erlass völkerrechtlich hinsichtlich des in ihre Zuständigkeit fallenden Teils an das Übereinkommen der Welthandelsorganisation (WTO) über technische Handelshemmnisse (Agreement on Technical Barriers to Trade, im Folgenden: TBT-Übereinkommen) gebunden war (vgl. Anhang 1, 1A zum Beschluss des Rates 94/800/EG vom 22.12.1994, ABl. L 336 vom 23.12.1994, S. 86). Danach verwendet die Union als Vertragsmitglied grundsätzlich einschlägige internationale Normen als Grundlage für ihre technischen Vorschriften (vgl. Art. 2.4 TBT-Übereinkommen). Das Abkommen verfolgt damit das auch der Richtlinie 2014/31/EU zugrunde liegende Ziel, Handelshemmnisse unter anderem im Wege vereinheitlichter gerätespezifischer Anforderungen abzuschaffen. Zu den internationalen Normungsorganisationen im Sinne des TBT-Übereinkommens der WTO zählt unter anderem die Internationale Organisation für das gesetzliche Messwesen (OIML), welche Empfehlungen zu den technischen Anforderungen auch von nichtselbsttätigen Waagen herausgibt.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vgl. OIML, International Recommendation R 76-1, Edition 2006 (E); siehe auch https://www.oiml.org/en/about/about-oiml.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die ausschließlich digitale Anzeige der messtechnischen Werte zu Min, Max und e war als technisch annehmbare Lösung von der OIML schon lange vor Erlass der Richtlinie 2014/31/EU anerkannt [hierzu unter (1)]. Angesichts dessen bedürfte es auch im Hinblick auf die beabsichtigte Beschränkung auf die zum Schutz der Allgemeinheit erforderlichen Anforderungen an nichtselbsttätige Waagen in der Richtlinie eindeutiger Anhaltspunkte dafür, dass der Richtliniengeber die Darstellung der hier streitgegenständlichen messtechnischen Werte abweichend von den in den internationalen technischen Regelwerken vertretenen Empfehlungen, die auch für die Union grundsätzlich verbindlich sind, regeln wollte. Hieran aber fehlt es [hierzu unter (2)].</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">(1) Die OIML gibt unter anderem Empfehlungen zu den metrologischen und technischen Anforderungen nichtselbsttätiger Waagen heraus (R 76-1) und verhält sich darin ausdrücklich zu den Anforderungen an das Gerät beschreibende Aufschriften („descriptive markings“), wozu auch die hier streitgegenständlichen messtechnischen Werte zu Min, Max und e zählen. In der Fassung von 1988 hieß es zu der Darstellung dieser Aufschriften unter Nr. 7.1.4 zunächst noch lediglich wie folgt:</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">„The discriptive markings shall be indelible and of a size, shape and clarity allowing easy reading. They shall be grouped together in a clearly visible place either on a descriptive plate fixed to an instrument, or on a part of the instrument itself. The markings: Max … , Min … , e …, and d […] shall also be shown near the display of the result if they are not already located there.“</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Die Frage, ob auch eine ausschließlich digitale Anzeige dieser messtechnischen Werte eine akzeptable Lösung darstellt, hat die OIML bereits in ihrer bis heute maßgeblichen Empfehlung R 76-1, Edition 2006 aufgegriffen. Dort heißt es nunmehr:</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">„<strong>7.1 Descriptive markings</strong></p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">An instrument shall carry the following markings</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks"><strong>7.1.1 Compulsory in all cases</strong></p>
<span class="absatzRechts">67</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Manufacturer’s mark, or name written in full (A)</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Metrological markings (B):</p>
<span class="absatzRechts">70</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Maximum capacity in the form: Max …</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Minimum capacity in the form: Min …</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Verification scale interval in the form: e = ….</p>
</li>
</ul>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks"><strong>7.1.2 Compulsory if applicable</strong></p>
<span class="absatzRechts">76</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Name or mark of manufacturer‘s agent for an imported instrument (C);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Serial number (D);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Identification mark on each unit of an instrument consisting of separate but associated units (E);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Type approval mark (F);</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Supplementary metrological characteristics (G): […]</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Special Limits (H) […]</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">[…]</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks"><strong>7.1.4 Presentation of descriptive markings</strong></p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">The descriptive markings shall be indelible and of a size, shape and clarity allowing easy reading.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">They shall be grouped in one or two clearly visible places either on a plate or sticker fixed permanently to the instrument, or on a non removable part of the instrument itself. In case of a plate or sticker which is not destroyed when removed, a means of securing shall be provided, e.g. a control mark that can be applied.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">As an alternative all applicable [metrological markings Nr. 7.1.1 (B) and supplementary metrological characteristics 7.1.2 (G)] may be simultaneously displayed by a software solution either permanently or on manual command. In this case the markings are considered as device-specific parameters (see T.2.8.4, 4.1.2.4 and 5.5).</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">The markings: Max …, Min …, e = …, and d = … if d ≠ e shall be shown at least in one place and permanently either on the display or near to the display in a clearly visible position. All additional information […] may be shown alternatively on a plate or simultaneously displayed by a software solution either permanently or accessed by a simple manual command. In this case the markings are considered as device-specific parameters (see T.2.8.4, 4.1.2.4 and 5.5).</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">It shall be possible to seal the plate bearing the descriptive markings unless its removal will result in its destruction. If the data plate is sealed, it shall be possible to apply a control mark to it.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks"><strong>Acceptable solutions:</strong></p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">a) Marking of Max, Min, e ... and d if d . e:</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">These values are permanently and simultaneously shown on the display of the weighing result as long as the instrument is switched on.</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks">They may be automatically scrolled (displayed alternating one after each other) in one display. Automatically scrolling (but not on manual command) is considered as “permanently”. […]“</p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks">Die OIML differenziert danach bereits seit 2006 zunächst klar zwischen Aufschriften, die der Rückverfolgbarkeit [Angaben zum Hersteller, Nr. 7.1.1. (A)] und Identifizierung der Geräte [Seriennummer, etc., Nr. 7.1.2 (C) bis (F)] dienen, sowie Aufschriften zu den messtechnischen Merkmalen [Nr. 7.1.1 (B), Nr. 7.1.2 (G)]. Erstere sind zwingend auf einem Kennzeichnungsschild oder unmittelbar dauerhaft an dem Gerät anzubringen. Die Angaben zu den messtechnischen Merkmalen der Waage hingegen können alternativ zu der Möglichkeit, diese auf einem Kennzeichnungsschild oder Aufkleber abzudrucken, gleichzeitig mit Hilfe einer Software-Lösung dauerhaft oder auf manuellen Befehl angezeigt werden. In diesem Fall sind die Aufschriften als gerätespezifische Parameter [vgl. T.2.8.4 OMIL R 76-1, Edition 2006)] zu behandeln und es wird verlangt, dass entsprechend Nr. 4.1.2.4 und 5.5 der Empfehlung Maßnahmen zur Sicherung der Software vorgesehen sind. Die Angaben zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert im Besonderen sollen zumindest einmal gemeinsam und dauerhaft entweder in der Anzeige oder in der Nähe der Anzeige sichtbar positioniert sein. Als annehmbare Lösung für diese einmalige – und nicht zusätzliche – Anzeige wird akzeptiert, wenn diese Werte dauerhaft und gleichzeitig in der Anzeigeeinrichtung für das Wägeergebnis angezeigt werden, solange die Waage eingeschaltet ist. Die Werte dürfen auf einer Anzeigeeinrichtung auch automatisch gescrollt (abwechselnd nacheinander angezeigt) werden. Automatisches Scrollen (d. h. nicht auf manuellen Befehl) wird als „dauerhaft“ angesehen.</p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks">(2) Mit der Empfehlung der OIML ist ein internationaler Standard zu den metrologischen und technischen Anforderungen an nichtselbsttätige Waagen erarbeitet worden, welcher von dem Richtliniengeber schon mit Blick auf seine völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Abbau von Handelshindernissen bei der Rechtsetzung in seinen wesentlichen Teilen zu Grunde zu legen war.</p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks">Vgl. bezogen auf internationale metrologische Standards: European Commission, Measuring instruments – Guidance documents, abrufbar unter https://single-market-economy.ec.europa.eu/single-market/goods/building-blocks/legal-metrology/measuring-instruments_en.</p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks">Es ist nicht ansatzweise erkennbar, dass der Richtliniengeber von den Empfehlungen der OIML in Bezug auf die dort schon lange als akzeptabel anerkannten Umsetzungsmöglichkeiten zur Darstellung der hier streitgegenständlichen messtechnischen Werte mit der Richtlinie 2014/31/EU einschränkend abweichen wollte. Zwar haben die Vorgängerrichtlinie 2009/23/EG (dort Anhang IV Nr. 1.4) und die Richtlinie 2014/31/EU (dort Anhang III Nr. 1.4) in Bezug auf die Darstellung der messtechnischen Werte zu Min, Max und e offenkundig noch den Wortlaut der OIML Empfehlung R 76-1 aus dem Jahr 1988 statt der aktuellen Fassung übernommen. Schon wegen der – wie oben im Einzelnen ausgeführt – sehr weiten, für neue Technologien offenen Formulierungen der Richtlinie kann hieraus aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Richtliniengeber bei Erlass der Richtlinie 2014/31/EU auf internationaler Ebene zwischenzeitlich auch ausdrücklich anerkannte technische Umsetzungsformen nicht gelten lassen wollte, wodurch entgegen der erklärten Absicht internationale Handelshindernisse für den europäischen Binnenmarkt geschaffen worden wären.</p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks">Ebenso lässt sich nichts Abweichendes daraus ableiten, dass bei Erlass der Richtlinie im Februar 2014 die aktuelle Empfehlung der OIML in der damals gültigen Fassung der harmonisierten Norm DIN EN 45501 noch nicht eingearbeitet war. Der Richtliniengeber betont ausdrücklich die Beachtung internationaler Standards in den Regelungen zu harmonisierten Normen nach der Verordnung (EU) 1025/2012, welchen auch nach der Richtlinie 2014/31/EU besondere Bedeutung zukommt. Die harmonisierten Normen geben bezogen auf die gerätespezifischen Anforderungen allgemein als akzeptabel anerkannte technische Umsetzungsformen wieder. Unabhängig von der in Art. 12 der Richtlinie 2014/31/EU allein bezogen auf die wesentlichen Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie geregelten Konformitätsvermutung bei Übereinstimmung mit der harmonisierten Norm dient die europäische Normung in ihrer Gesamtheit einer vereinheitlichten Umsetzung unionsrechtlich harmonisierter gerätespezifischer Vorgaben unter Einbeziehung aller interessierten Kreise (vgl. Erwägungsgrund 2 der Verordnung (EU) 1025/2012). Damit kommt ihr nicht nur für den Binnenmarkt eine wesentliche Bedeutung zu (vgl. Erwägungsgründe 3, 5 der Verordnung (EU) 1025/2012), sie soll zugleich die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie stärken und zwar insbesondere, indem eine Koordination mit den internationalen Normungsorganisationen erfolgt (vgl. Erwägungsgründe 3, 6 der Verordnung (EU) 1025/2012). Insofern können internationale Standards selbst als harmonisierte Norm im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c) VO (EU) 1025/2012 angenommen werden. Jedenfalls aber sind sie bei der Formulierung von europäischen Normen in den Blick zu nehmen. Dies ist hier geschehen. Die OIML-Empfehlung R 76-1, Edition 2006, ist für den europäischen Binnenmarkt in die harmonisierte Norm DIN EN 45501:2015 eingearbeitet worden. Durch die Annahme dieser Norm in Umsetzung der Richtlinie 2014/31/EU hat der Regelungsgeber die Regelungsabsicht, die Richtlinie im Lichte internationaler Empfehlungen verstanden wissen zu wollen, noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist europarechtlich klargestellt. Im Einzelnen erfolgte noch unter Geltung der nach Art. 45 der Richtlinie 2014/31/EU erst mit Wirkung vom 20.4.2016 aufgehobenen Vorgängerrichtlinie 2009/23/EG bereits die Überarbeitung der hierzu ursprünglich erlassenen technischen Norm DIN EN 45501:1992 mit Blick auf die OIML-Empfehlung R 76-1, Edition 2006. Die so überarbeitete Norm EN 45501:2015 wurde noch im Rahmen der Umsetzung der Vorgängerrichtlinie schon vor Ablauf der nach Art. 44 der Richtlinie 2014/31/EU gleichfalls am 20.4.2016 ablaufenden Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2014/31/EU am 11.9.2015 (ABl. C 300 vom 11.9.2015, S. 3) mit der Bemerkung veröffentlicht, die neue (oder geänderte) Norm habe den gleichen Anwendungsbereich wie die ersetzte Norm. Zum 19.4.2016 gelte für die ersetzte Norm nicht mehr die Vermutung der Konformität mit den grundlegenden oder weiteren Anforderungen der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union. Die erste Veröffentlichung der europäischen Norm EN 45501:2015 über metrologische Aspekte der nichtselbsttätigen Waagen erfolgte im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2014/31/EU sodann am 15.1.2016 (ABl. C 14 vom 15.1.2016, S. 100). Hierdurch wurde nach der bereits in Umsetzung der Vorgängerrichtlinie erfolgten Veröffentlichung zum Ausdruck gebracht, dass ab dem ersten Tag nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2014/31/EU die europäische Norm EN 45501:2015 maßgeblich sein sollte anstelle der bis zum 19.4.2016 bezogen auf die Richtlinie 2009/23/EG noch maßgeblichen EN 45501:1992. Bei Geräten, die mit der DIN EN 45501:2015 übereinstimmen, wird deshalb nach Art. 12 der Richtlinie 2014/31/EU (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MessEV) die Konformität mit wesentlichen Sicherheitsanforderungen gemäß Anhang I vermutet, die von der harmonisierten technischen Norm oder Teilen davon abgedeckt sind.</p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks">Entsprechend der OIML-Empfehlung R 76-1, Edition 2006, dürfen nach Nr. 7.1.1, Tabelle 15, Spalte 5, DIN EN 45501:2015 die messtechnischen Werte zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert „gleichzeitig mithilfe von Software angezeigt werden, siehe 7.1.2“. Nach Nr. 7.1.2 müssen Aufschriften dauerhaft und von einer leicht lesbaren Größe, Form und Deutlichkeit sein. Sie müssen an gut sichtbaren Stellen dauerhaft an der Waage befestigt sein oder auf einem nicht abnehmbaren Teil der Waage angebracht werden. Alternativ dazu sowie zur Aufbringung auf einem Kennzeichnungsschild dürfen alle zutreffenden Kennzeichnungen von Spalte 5 in Tabelle 15 gleichzeitig mit Hilfe der Software dauerhaft oder auf manuellen Befehl angezeigt werden. In diesem Fall werden die Kennzeichnungen als gerätespezifische Parameter angesehen (siehe T.2.8.4, 4.1.2.4 und 5.5). Die Aufschriften „Max …, Min …, <em>e =</em> … und <em>d =</em> … für <em>d ≠ e</em>“ müssen dauerhaft an mindestens einer gut sichtbaren Stelle entweder an oder in der Nähe der Anzeigeeinrichtung angebracht werden und brauchen an keiner anderen Stelle wiederholt zu werden. Eine diesen Vorgaben entsprechende annehmbare Lösung liegt darin, dass diese Werte dauerhaft und gleichzeitig auf der Anzeigeeinrichtung für das Wägeergebnis angezeigt werden, solange die Waage eingeschaltet ist. Dabei dürfen die Werte auf einer Anzeigeeinrichtung automatisch gescrollt (abwechselnd nacheinander angezeigt) werden. Automatisches Scrollen (d. h. nicht auf manuellen Befehl) wird als „dauerhaft“ angesehen.</p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks">Bereits im Vorgriff auf diese europäische Normung internationaler technischer Standards nach der Verordnung 1025/2012/EU hatte zudem die European Cooperation in Legal Metrology (WELMEC), ein in Deutschland eingetragener Verein mit Sitz in Braunschweig, die lange vor Vereinsgründung bereits 1990, zeitgleich mit der ersten Non-automatic Weighing Instruments Directive (NAWID), von zunächst 18 Staaten ins Leben gerufen wurde mit dem Ziel, den staatenübergreifenden Informationsaustausch, die einheitliche Anwendung europäischer oder internationaler Vorschriften und den Abbau von Handelshemmnissen bei Messgeräten zu fördern, und deren Tätigkeit insbesondere bei der Erarbeitung von Empfehlungen zur Umsetzung der das Messwesen betreffenden Richtlinie von der Europäischen Kommission ausdrücklich befürwortet wird,</p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks">vgl. Commission statement, 20th WELMEC Committee Meeting, Casta Papernicka – Slovakia, 13.-14.5.2004, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/docsroom/documents/6535/.</p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks">in ihrem Vorwort zum Leitfaden 2 zur Richtlinie 2009/23/EG (2015) auf die bei seiner Abfassung noch nicht abschließend erfolgte Übernahme der OIML-Empfehlung R 76-1, Edition 2006, in die Europäische Norm EN 45501 hingewiesen und war dort unter Nr. 3.1.15 bereits unmittelbar den Empfehlungen der OIML zu den Darstellungsmöglichkeiten von Max, Min und e gefolgt.</p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks">Der WELMEC-Leitfaden 2 (2015) wird in dieser Form unter Geltung der Richtlinie 2014/31/EU von der WELMEC weiterhin für maßgeblich gehalten, vgl. WELMEC, Directives 2014/31/EU and 2014/32/EU: Common Application, Leitfaden 2 (2021), S. 5.</p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks">cc) Ein weites Begriffsverständnis unter Berücksichtigung der in der OIML-Empfehlung R 76-1, Edition 2006, formulierten internationalen Standards entspricht schließlich dem in den Erwägungsgründen 17 und 47 der Richtlinie 2014/31/EU zum Ausdruck gebrachten Bestreben des Richtliniengebers, sich auf die wesentlichen messtechnischen und technischen Anforderungen zu beschränken, welche nichtselbsttätige Waagen betreffen, die zu bestimmten Verwendungszwecken benutzt werden.</p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu auch Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 1.1.3 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 20.2.1979 – C-120/78 –, Slg. 1979, 649= juris, Rn. 8.</p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks">Diese wesentlichen technischen Anforderungen, auf deren Harmonisierung sich die Richtlinie zum Schutz der Allgemeinheit vor unrichtigen Wägeergebnissen (Erwägungsgrund 5), zur Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs auf dem Unionsmarkt (Erwägungsgrund 7) durch eine Konformitätsbewertung auf einem unionsweit einheitlichen Qualitätsniveau (Erwägungsgründe 26 und 27) ohne unnötigen Aufwand für die Wirtschaftsakteure (Erwägungsgrund 17) beschränken wollte (Erwägungsgrund 33), sind in Anhang I enthalten. Dies entspricht der im Sinne der Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 ff. AEUV, vgl. auch Art. 5 der Richtlinie 2014/31/EU) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Erwägungsgrund 47 vom Richtliniengeber beabsichtigten Beschränkung der unionsrechtlichen Harmonisierung auf die Anforderungen, welche zur Erreichung des mit der Richtlinie angestrebten Ziels geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen.</p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks">Vgl. EuGH, Urteil vom 12.12.2006 – C-380/03 –, Slg. 2006, I-11573 = juris, Rn. 144, m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks">Der Absicht, die Harmonisierung grundsätzlich auf die wesentlichen technischen Anforderungen in Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU zu beschränken, widerspricht es nicht, dass regelungstechnisch in einen gesonderten Anhang III Bestimmungen über Aufschriften unter anderem zum Höchstwert, Mindestwert und zum Eichwert aufgenommen worden sind. Bei diesen Anforderungen an nichtselbsttätige Waagen handelt es sich nämlich um durch internationale Standards vorgegebene technologieoffene Erfordernisse. Eine nichttechnische Umsetzungsmöglichkeit bietet etwa die Verwendung eines Kennzeichnungsschildes. Bei einer technischen Lösung sind bauartbedingt die gerätespezifischen Anforderungen aus Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU einzuhalten.</p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks">Die hier streitgegenständlichen Regelungen zu den Aufschriften betreffend die Höchstlast, Mindestlast und den Eichwert dienen zwar auch dem mit der Richtlinie nach Erwägungsgrund 5 der Richtlinie 2014/31/EU verfolgten Schutz der Allgemeinheit vor unrichtigen Wägeergebnissen. Eine Regelungsabsicht, mit diesem Schutz über international anerkannte Standards hinauszugehen oder zur besseren behördlichen Überwachung unionsrechtlich weitergehende Anforderungen zu stellen, ist jedoch nicht erkennbar. Die schlichte Übernahme aus internationalen technischen Normen belegt vielmehr, dass es sich hierbei gerade nicht um besondere Qualitätsstandards für den europäischen Binnenmarkt handeln sollte. Zum Schutz der Allgemeinheit vor unrichtigen Wägeergebnissen erschienen die allgemeinen internationalen Vorgaben neben den wesentlichen technischen Anforderungen nach Anhang I zur Erreichung der Ziele der Richtlinie als ausreichend, erforderlich und verhältnismäßig, weil hierdurch zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse und zur Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs auf dem Unionsmarkt internationale technische Standards umgesetzt werden sollten, ohne zugleich die Bereitstellung von Geräten auf dem Markt unverhältnismäßig zu behindern (vgl. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU).</p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks">Vgl. Erwägungsgründe 47 und 7 der Richtlinie 2014/31/EU.</p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks">Diese Ziele werden bezogen auf die vorzusehenden Aufschriften unionsweit gleichermaßen bereits bei einem Regelungsverständnis erreicht, nach dem über die internationalen technischen Standards hinaus insoweit keine weitergehenden Anforderungen aus bestimmten, für sich genommen mehrdeutigen, Formulierungen einzelner Sprachfassungen der Richtlinie abgeleitet werden.</p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks">Letztlich sollen die messtechnischen Werte auf dem Unionsmarkt ebenso wie international Auskunft geben über die obere und untere Grenze des Wägebereichs sowie die Eichtoleranz einer Waage. Ihnen kommt damit vor allem Bedeutung für den Verwender zu, was auch in Anhang III Nr. 1.4 der Richtlinie 2014/31/EU zum Ausdruck kommt, wonach die Angaben Max, Min, e und d auch in der Nähe der Gewichtsanzeige angebracht sein müssen, soweit sie sich nicht ohnehin dort befinden. Damit wird sichergestellt, dass die Angaben beim Wägevorgang für den Verwender in jedem Fall sichtbar sind und das Messgerät im Sinne von § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c) MessEV innerhalb des zulässigen Messbereichs eingesetzt wird. Für diesen Zweck ist es ausreichend, dass die Angaben digital in der Anzeigeeinrichtung erscheinen. Gründe, die eine dauerhafte Sichtbarkeit der Angaben auch im ausgeschalteten Zustand der Waage zwingend erfordern, lassen sich weder dem Richtlinientext noch der darin zum Ausdruck gekommenen Regelungsabsicht entnehmen. Insbesondere dienen die Angaben nicht der Identifikation der Waage. Hierfür verpflichtet die Richtlinie in Art. 6 Abs. 5 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2014/31/EU den Hersteller sicherzustellen, dass von ihm in Verkehr gebrachte Waagen gemäß Anhang III der Richtlinie eine Typen-, Chargen- oder Seriennummer oder ein anderes Identifikationskennzeichen tragen.</p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks">Vgl. zu den Anforderungen der Identifikation auch Bekanntmachung der Europäischen Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), ABl. C 272 vom 26.7.2016, S. 1, Nr. 4.2.</p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks">Die streitgegenständlichen messtechnischen Werte dienen – anders als die Aufschriften zum Namen des Herstellers und dessen Anschrift, vgl. Art. 6 Abs. 6 sowie Erwägungsgründe 6 und 16 der Richtlinie 2014/31/EU – auch nicht der Rückverfolgbarkeit eines Geräts.</p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks">Vgl. ergänzend dazu Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien für Wirtschaftsakteure und Marktüberwachungsbehörden zur praktischen Umsetzung von Artikel 4 der Verordnung (EU) 2019/1020 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten – ABl. C 100 vom 23.3.2012, S. 1, Nr. 2.3.</p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks">Insofern ist die von dem Beklagten zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 9.7.2015 – I ZR 224/13 – für den vorliegenden Fall schon deshalb unergiebig, weil sich diese mit der Frage auseinandersetzt, ob die Kennzeichnung des Herstellers von Kopfhörern entsprechend der Vorgaben aus § 9 ElektroG (vormals § 7 ElektroG) dauerhaft angebracht worden sei, wobei die Regelung dem Zweck diene, Altgeräte mit Blick auf die Rücknahmepflicht des Herstellers identifizieren zu können und dadurch die Inanspruchnahme der Kollektivgemeinschaft zu verhindern.</p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks">Vgl. BGH, Urteil vom 9.7.2015 – I ZR 224/13 –, juris, Rn. 15.</p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks">Eine digitale Anzeige der streitgegenständlichen messtechnischen Werte begegnet weiter mit Blick auf eine effektive Kontrolle durch die Marktaufsichtsbehörde keinen Bedenken. Weder in der Richtlinie noch in der auch für Produkte im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU geltenden Verordnung (EU) 2019/1020 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten finden sich irgendwelche Hinweise darauf, diese Aufschriften sollten deshalb in besonderer Weise ausgestaltet sein, um die Ausübung der Marktaufsicht zu erleichtern. Aus Art. 4 der Verordnung (EU) 2019/1020 ergeben sich in erster Linie Aufgaben der Wirtschaftsakteure im Zusammenhang mit der Angabe von Kontaktdaten, der Verfügbarkeit von Konformitätserklärungen, der zu erstellenden technischen Unterlagen und der Zusammenarbeit mit der Marktaufsichtsbehörde.</p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien für Wirtschaftsakteure und Marktüberwachungsbehörden zur praktischen Umsetzung von Artikel 4 der Verordnung (EU) 2019/1020 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten, ABl. C 100 vom 23.3.2021, S. 1, Nr. 3.</p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks">Nach den Erwägungsgründen 32 bis 34 der Verordnung (EU) 2019/1020 sollte die Marktüberwachung gründlich und wirksam sein, um sicherzustellen, dass die Harmonisierungsvorschriften der Union für Produkte ordnungsgemäß angewandt werden. Angesichts der Tatsache, dass Überprüfungen eine Belastung für die Wirtschaftsakteure darstellen können, sollten sich Überwachungsmaßnahmen aber auf das notwendige Maß beschränken. Zugleich ist durch Austausch von Informationen zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten auf eine möglichst gleichmäßige Durchsetzung der Harmonisierungsvorschriften im Unionsgebiet zu achten. Um diesen Ansprüchen gleichermaßen gerecht zu werden, sieht Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2019/1020 vor, dass die Marktüberwachungsbehörden im Rahmen ihrer Tätigkeit in angemessenem Umfang geeignete Überprüfungen der Merkmale von Produkten vornehmen, indem sie in erster Linie die Unterlagen überprüfen und (nur) gegebenenfalls anhand angemessener Stichproben physische Überprüfungen und Laborprüfungen durchführen. Bei der Entscheidung darüber, welche Arten von Produkten in welchem Umfang welchen Überprüfungen unterworfen werden sollen, gehen sie nach einem risikobasierten Ansatz vor. Dabei haben sie Prüfberichte und Konformitätsbescheinigungen nach Art. 11 Abs. 5 der Verordnung (EU) 2019/1020 auch bezogen auf nichtselbsttätige Waagen im Sinne der Richtlinie 2014/31/EU gebührend zu berücksichtigen. Dies gilt schon deshalb, weil die Konformitätsbewertungsstellen entsprechend den Erwägungsgründen 26, 27 und 33 der Richtlinie 2014/31/EU ihrerseits Vorsorge für ein unionsweit einheitliches Qualitätsniveau bei der Konformitätsbewertung tragen. Den Zollbehörden wird bei Produkten, die in die EU eingeführt werden sollen, insoweit von der Europäischen Kommission (nur) empfohlen zu überprüfen, ob der Name und die Kontaktdaten des Wirtschaftsakteurs gemäß Art. 4 der Verordnung (EU) 2019/1020 auf dem Produkt, seiner Verpackung, dem Paket oder einem Begleitdokument angegeben sind.</p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks">Vgl. Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien für Wirtschaftsakteure und Marktüberwachungsbehörden zur praktischen Umsetzung von Artikel 4 der Verordnung (EU) 2019/1020 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten, ABl. C 100 vom 23.3.2021, S. 1, Nr. 5.2.</p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks">Anhaltspunkte für ein unionsrechtlich beabsichtigtes Regelungsbedürfnis über die jederzeitige Lesbarkeit der streitgegenständlichen messtechnischen Werte unabhängig von verfügbarer Stromversorgung etwa in Hafencontainern, lassen sich den allgemeinen Vorgaben zur Marktüberwachung nicht entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks">Auch aus der Richtlinie 2014/31/EU kann nicht abgeleitet werden, dass für Zwecke der Marktaufsicht eine gegenüber internationalen technischen Standards erleichterte Wahrnehmbarkeit der streitgegenständlichen messtechnischen Werte unionsrechtlich festgeschrieben werden sollte. Den Nachweis darüber, dass ein Gerät, das zu den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) bis f) der Richtlinie 2014/31/EU genannten Zwecken verwendet werden soll, den Anforderungen des Anhangs I der Richtlinie entspricht, führt der Hersteller grundsätzlich mit dem Konformitätsbewertungsverfahren, über welches eine EU-Konformitätserklärung ausgestellt wird (vgl. Art. 6 Abs. 2 Unterabsatz 2 i. V. m. Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU). Mit der Anbringung der CE-Kennzeichnung sowie der zusätzlichen Metrologie-Kennzeichnung am jeweiligen Gerät soll nach den Erwägungsgründen 23, 26, 27 und 33 der Richtlinie 2014/31/EU die Konformität einer nichtselbsttätigen Waage zum Ausdruck gebracht werden, wodurch unnötiger Aufwand für die Wirtschaftsakteure vermieden werden soll. Dementsprechend stellt der Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2014/31/EU klar, dass die EU-Konformitätserklärung einen wirksamen Zugang zu Informationen für die Zwecke der Marktaufsicht bietet. In diesem Sinne stellen die Hersteller gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 1 der Richtlinie 2014/31/EU auf begründetes Verlangen der zuständigen nationalen Behörden alle Informationen und Unterlagen zur Verfügung, die für den Nachweis der Konformität des Geräts mit der Richtlinie erforderlich sind.</p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks">Werden die messtechnischen Werte zu Max, Min und e ausschließlich bei Betrieb im Display der Waage angezeigt, erstreckt sich der Nachweis des Konformitätsbewertungsverfahrens nach § 6 Abs. 3 Satz 1 MessEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Sätze 1 und 2 MessEV i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 4 und Anlage 4 MessEV bauartbedingt ebenso darauf, ob die gerätespezifischen wesentlichen Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU hierauf bezogen erfüllt sind. Die technischen Anforderungen an die – im Hinblick auf die beabsichtigte Verwendung des Geräts normale Zeit im Sinne von Anhang I Nr. 8.3 der Richtlinie 2014/31/EU erforderliche – Dauerhaftigkeit richten sich entsprechend der normativ insoweit maßgeblichen Klarstellung in Nr. 7.1.2 DIN EN 45501:2015 nach den Vorgaben über gerätespezifische Parameter, die gesichert sein sollten (unveränderbare Kennwerte) im Sinne von Nr. T.2.8.4. Für diese gerätespezifischen Parameter gelten zugleich die wesentlichen Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie 2014/31/EU, auf die sich die Konformitätsvermutung nach Art. 12 der Richtlinie 2014/31/EU (§ 7 Abs. 1 MessEG) bei Übereinstimmung mit den Vorgaben der DIN EN 45501:2015 bezieht. Aus der EU-Baumusterprüfbescheinigung muss sich die Übereinstimmung mit den insoweit für die digitale Anzeige messtechnischer Werte geltenden Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie ergeben. Fehlt also eine analoge Aufschrift an einem zu prüfenden Gerät, lässt sich ohne Einschalten des Geräts seine Konformität mit der Richtlinie zutreffend bereits der EU-Baumusterprüfbescheinigung entnehmen. Nur bei einer analogen Aufschrift genügt diese allein zur wirksamen Prüfung durch die Marktaufsichtsbehörde. Abgesehen davon kann bei – allenfalls ausnahmsweise bestehendem – konkretem Verdacht, dass eine Ausführung nicht der EU-Baumusterprüfbescheinigung entspricht, ein Gerät für die Überprüfung auch kurzfristig in Betrieb genommen werden. Es spricht nichts dafür, dass für eine nach dem gebotenen risikobasierten Ansatz (nur) in Ausnahmefällen veranlasste Überprüfung, ob die Waage mit den erforderlichen Aufschriften zu Min, Max und e versehen ist, strengere Maßstäbe gelten sollen.</p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks">Gleiches gilt mit Blick auf die Einfuhr von Waagen in den zollrechtlich freien Verkehr, die hier allerdings gar nicht in Rede steht. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2014/31/EU dürfen Einführer nur richtlinienkonforme Geräte in Verkehr bringen. Die Richtlinie sieht aber nicht die Überprüfung jedes einzelnen Geräts auf seine Richtlinienkonformität durch die für die Einfuhrkontrolle zuständige nationale Behörde vor. Auch hier gilt, dass der Nachweis der Konformität durch ein erfolgreich durchgeführtes Konformitätsbewertungsverfahren geführt wird. Entsprechend hat der Einführer gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2014/31/EU vor Inverkehrbringen eines solchen Geräts sicherzustellen, dass das Konformitätsbewertungsverfahren nach Art. 13 der Richtlinie 2014/31/EU vom Hersteller durchgeführt worden ist, der Hersteller die technischen Unterlagen erstellt hat, dass das Gerät mit der CE-Kennzeichnung und der zusätzlichen Metrologie-Kennzeichnung versehen ist, dass ihm die erforderlichen Unterlagen beigefügt sind und dass der Hersteller die Anforderungen von Art. 6 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2014/31/EU – also die Kennzeichnungspflichten – erfüllt hat (Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2014/31/EU). Der Einführer hat über einen Zeitraum von zehn Jahren nach Inverkehrbringen des Geräts eine Abschrift der EU-Konformitätserklärung für die Marktüberwachungsbehörden bereit zu halten und Sorge dafür zu tragen, dass diesen die technischen Unterlagen auf Verlangen vorgelegt werden können (Art. 8 Abs. 8 der Richtlinie 2014/31/EU).</p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks">b) Der nationale Verordnungsgeber hat die Vorgaben aus der Richtlinie 2014/31/EU in § 13 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 MessEV übernommen. Soweit es – anders als in Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie 2014/31/EU – in § 13 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 MessEV heißt, die Kennzeichnungen und Aufschriften müssen klar, unauslöschlich, eindeutig und nicht übertragbar sein, geht dies allein auf die Formulierung in Anhang I Nr. 9.8 der Richtlinie 2014/32/EU zurück, deren Umsetzung die Regelung ebenfalls dient und wonach alle Markierungen und Aufschriften klar, unauslöschlich, eindeutig und nicht übertragbar sein dürfen.</p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks">Vgl. Nr. 13 Einleitung MessEV; BR-Drs. 493/14, S. 146.</p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks">Der Verordnungsgeber hat hier offensichtlich die Formulierungen aus den Richtlinien 2014/31/EU und 2014/32/EU schlicht nacheinander aufgeführt, ohne hieraus mit Blick auf die Anforderungen an Kennzeichnungen und Aufschriften bei nichtselbsttätigen Waagen über die Regelungen der Richtlinie 2014/31/EU hinausgehende Vorgaben treffen zu wollen.</p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks">2. Nach alledem sind die Anforderungen des §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 15 Abs. 3 Satz 2 MessEV hier erfüllt. Ausweislich der von der NMi Certin B. V. unter dem 7.7.2020 ausgestellten EU-Baumusterprüfbescheinigung werden die Angaben zu Max, Min und e ausschließlich im Display der Waage angezeigt (Nr. 1.3 der Bescheinigung). Dort sind sie bei Betrieb der Waage stets zusammen mit dem gemessenen Wägeergebnis zu sehen, befinden sich also entsprechend § 15 Abs. 3 Satz 2 MessEV in der Nähe der Gewichtsanzeige und sind bei normaler Gebrauchslage der Waage gut sichtbar und lesbar im Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 1 MessEV. Anhaltspunkte dafür, dass die Angaben unklar sind, liegen nicht vor. Weiter hat die Klägerin die erforderliche Dauerhaftigkeit in Gestalt eines rechtlich hinreichenden Missbrauchsschutzes sichergestellt. Die Angaben sind im dargestellten Sinne dauerhaft, unauslöschlich und unübertragbar. Laut EU-Baumusterprüfbescheinigung ist der Zugang zur Software durch Eichsiegel gesichert. Im Inneren des Gehäuses der Wiegeplattform befindet sich eine Justiersperre. Damit hat die Klägerin entsprechend Anhang I Nr. 8.5 der Richtlinie 2014/31/EU, welcher gemäß § 6 Abs. 2 MessEG i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 11 i. V. m. Anlage 3 Tabelle 1 Spalte 3 MessEV anwendbar ist, die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um die Möglichkeiten unbeabsichtigten Missbrauchs so klein wie möglich zu halten. Die technische Realisierung der digitalen Angabe der hier streitgegenständlichen messtechnischen Werte entspricht den Vorgaben der harmonisierten Norm DIN EN 4551:2015, sodass insofern die Konformitätsvermutung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MessEG greift.</p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks">II. Erweist sich danach die Untersagungsverfügung in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids als rechtwidrig, ist die Androhung unmittelbaren Zwangs für den Fall der Nichtbefolgung der Untersagungsverfügung in Nr. 2 der angegriffenen Ordnungsverfügung des Landesbetriebs ebenfalls rechtswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks">Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die mit dem Verfahren verbundenen Rechtsfragen sind nicht nur für die Beteiligten des konkreten Verfahrens, sondern auch für andere Marktüberwachungsbehörden und Hersteller ähnlicher Geräte relevant.</p>
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346,787 | vg-aachen-2022-09-08-5-k-142022a | {
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} | 5 K 1420/22.A | 2022-09-08T00:00:00 | 2022-10-01T10:01:26 | 2022-10-17T11:10:44 | Gerichtsbescheid | ECLI:DE:VGAC:2022:0908.5K1420.22A.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Prozessbevollmächtigte trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.</p>
<p>Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Prozessbevollmächtigte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">T a t b e s t a n d:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die am 00.00.2007 in Syrien geborene Klägerin verließ ihr Heimatland im Mai 2021 und reiste am 28. Juli 2021 als unbegleitete Minderjährige in die Bundesrepublik Deutschland ein. Da der Vater der Klägerin seit 2011 in Syrien als vermisst gilt und die Mutter sowie zwei jüngere Geschwister - ein Bruder und eine Schwester - weiter in Syrien leben, stellte das Familiengericht mit Beschluss vom 11. August 2021 (Amtsgericht Erkelenz - 20 F 184/21) das Ruhen der elterlichen Sorge fest und ordnete die Vormundschaft an. Zum Vormund wurde zunächst der Onkel und Bruder des Vaters der Klägerin bestellt, in dessen Haushalt die Klägerin lebt. Dem - damaligen - Vormund der Klägerin sowie der Ehefrau des Vormunds und den drei gemeinsamen minderjährigen Kindern war mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 25. November 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Am 14. September 2021 stellte die Klägerin, vertreten durch ihren Vormund beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag; am 18. Oktober 2021 wurde die Klägerin zu ihren Asylgründen angehört.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Mit Beschluss vom 5. April 2022 entließ das Familiengericht auf Antrag des Jugendamtes den Onkel der Klägerin aus der Bestellung zum Vormund und bestellte als neue Vormundin Frau A. B. als Mitarbeiterin des Sozialdienstes Katholischer Frauen und Männer e.V. (Amtsgericht Erkelenz, 20 F 308/21). Das Jugendamt hatte den Antrag mit der Besorgnis einer Interessenkollision des Vormundes, die mit dem Kindeswohl nicht zu vereinbare wäre, begründet; aufgrund einer Mitteilung der in der Familie eingesetzten Familienhelferin sei davon auszugehen, dass der Vormund beabsichtige die minderjährige Klägerin mit einem seiner Söhne nach islamischem Recht zu verheiraten; weiter habe der Vormund dem Jugendhilfeträger mitgeteilt, dass er künftig die gewährte Familienhilfe ablehnen wolle. Der Onkel der Klägerin erklärte, es habe zu keiner Zeit die Absicht bestanden, die Klägerin zu verheiraten. Das Familiengericht zeigte sich u.a. aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Einlassung des Onkels unzutreffend und daher eine Gefährdung der Interessen der Minderjährigen möglich sei.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 1. Juni 2022, der Vormundin am 10. Juni 2022 zugestellt, erkannte das Bundesamt der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit am 23. Juni 2022 eingegangenem Schriftsatz hat der Rechtsanwalt G. "Namens und im Auftrag der Klägerin" Klage mit dem Begehren der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Klägerin (sog. Aufstockungsklage) erhoben. Die für die Klägerin angeordnete Vormundschaft erwähnte er nicht; eine Prozessvollmacht war nicht beigefügt.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 24. Juni 2022 hat die Vormundin für die Klägerin ebenfalls eine Aufstockungsklage (anhängig unter dem Az. 5 K 1422/22.A) erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Der Rechtsanwalt beantragt sinngemäß,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 1. Juni 2022 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 des Asylgesetzes zuzuerkennen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Sie vertritt die Auffassung, es liege eine doppelte Rechtshängigkeit vor.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Das Gericht hat den Rechtsanwalt unter Hinweis auf die angeordnete Vormundschaft und die von der Vormundin erhobene Klage wiederholt um Übersendung einer Prozessvollmacht gebeten. Weiter hat das Gericht dem Rechtsanwalt die im Verfahren 5 K 1433/22.A eingeholte Auskunft der Vormundin mit der Bitte um Stellungnahme übermittelt. Eine Reaktion ist nicht erfolgt.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Kammer hat mit Beschluss vom 11. August 2022 das Verfahren auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (E1 bis E3) und der beigezogenen Gerichtsakte 5 K 1433/22.A.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Die Einzelrichterin kann über die vorliegende Klage durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, § 84 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Beteiligten sind gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorher gehört worden.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Die Klage ist unzulässig.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Der für die Klägerin als Prozessbevollmächtigter auftretende Rechtsanwalt hat seine Bevollmächtigung trotz mehrfacher gerichtlicher Aufforderung nicht durch eine wirksam erteilte schriftliche Vollmacht nachgewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Nach § 67 Abs. 6 VwGO ist die Vollmacht schriftlich zu den Gerichtsakten einzureichen (Satz 1). Sie kann nachgereicht werden; hierfür kann das Gericht eine Frist bestimmen (Satz 2). Der Mangel der Vollmacht kann in jeder Lage des Verfahrens geltend gemacht werden (Satz 3). Nach Satz 4 hat das Gericht den Mangel der Vollmacht von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn nicht als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt. Diese Vorschrift hindert das Gericht vorliegend allerdings nicht, das Fehlen der Vollmacht ohne entsprechende Rüge der Beklagten zu berücksichtigen. Denn die Regelung lässt nur die Pflicht, nicht jedoch auch die Befugnis, den Mangel der Vollmacht unabhängig von einer Rüge anderer Beteiligter zu prüfen und zu berücksichtigen, entfallen. Geben besondere Gründe Anlass am Bestehen einer Vollmacht zu Zweifeln, darf das Gericht den Mangel der Vollmacht von Amts wegen berücksichtigen, wenn der auftretende Rechtsanwalt trotz gerichtlicher Aufforderung keine Vollmacht nachreicht.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2011 - 8 A 1/10 -, juris Rn 16</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Hier bestehen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht nur Zweifel am Bestehen einer Vollmacht, sondern es steht aufgrund der Erklärung der Vormundin vom 18. Juli 2022 zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Rechtsanwalt nicht wirksam bevollmächtigt ist. Die Vollmacht hätte im Zeitpunkt der Klageerhebung durch den Rechtsanwalt am 23. Juni 2022 nur von der bereits am 5. April 2022 für die Klägerin bestellten Vormundin erteilt werden können. Diese hat jedoch ausgeführt, dass sie Rechtsanwalt G. weder eine Vollmacht noch einen Auftrag zur Klageerhebung erteilt habe; es sei ihr allerdings bekannt, dass der Onkel ihres Mündels Kontakt mit der Kanzlei G. gehabt und den Wunsch geäußert habe, Rechtsanwalt G. zu beauftragen; sie habe dies gegenüber dem Onkel jedoch ausdrücklich abgelehnt; es sei noch nicht abschließend geklärt, ob ein Anwalt beauftragt werde.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Nach dieser Einlassung steht auch fest, dass eine nachträgliche Genehmigung der Klageerhebung und Bevollmächtigung des Rechtsanwaltes nicht in Rede steht.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Einer zusätzlichen ausdrücklichen Fristsetzung des Gerichts nach § 67 Abs. 6 Satz 2 Halbs. 2 VwGO bedurfte es mit Blick auf diese Umstände nicht,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1985 - 9 C 105/84 -, juris Rn 8, wonach es sich um eine Kann-Bestimmung handelt und das Ob einer Fristsetzung im richterlichen Ermessen liegt,</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">zumal dem Rechtsanwalt zuletzt unter Fristsetzung von einer Woche ab Zustellung der Anhörung zum Gerichtsbescheid nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Die Kosten des Verfahrens sind entsprechend § 173 Satz 1 VwGO, § 89 Abs. 1 Satz 3 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 179 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) dem für die Klägerin auftretenden Rechtsanwalt als vollmachtloser Vertreter aufzuerlegen, da er die Kosten des erfolglosen Verfahrens veranlasst hat.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. zur Kostentragungspflicht des vollmachtlosen Vertreters: BVerwG, Beschluss vom 25. September 2006 - 8 KSt 1/06 -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 24. April 2017 - 4 A 879/14 -, juris Rn 24.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
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346,734 | vg-koln-2022-09-08-20-k-308021 | {
"id": 844,
"name": "Verwaltungsgericht Köln",
"slug": "vg-koln",
"city": 446,
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"jurisdiction": "Verwaltungsgerichtsbarkeit",
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} | 20 K 3080/21 | 2022-09-08T00:00:00 | 2022-09-28T10:01:13 | 2022-10-17T11:10:36 | Urteil | ECLI:DE:VGK:2022:0908.20K3080.21.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch den Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des insgesamt vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Tatbestand</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner waffenrechtlichen Erlaubnis zum Besitz und Erwerb von Waffen und Munition.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Dem Kläger wurde am 10.08.1983 zum Zwecke der Vorbereitung auf die Jagdprüfung die (Ersatz-)Waffenbesitzkarte mit der Nummer 000/00 ausgestellt. Auf dieser Waffenbesitzkarte sind eine Bockdoppelflinte, Kaliber 12/70, Hersteller: Pioneer, Herstellernummer: E 0000, sowie eine Pistole, Kaliber 7, 65 mm, Hersteller: Hege, Herstellernummer: BB 00000, eingetragen.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Im Mai 2013 trat der Kläger der Partei „Alternative für Deutschland“ (im Folgenden: AfD) bei. In der Zeit von 2014 bis 2020 war er Einzelratsmitglied der AfD im Rat der Stadt U. .</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Am 14.03.2015 gründeten der Vorsitzende des Landesverbandes Thüringen der AfD, Björn Höcke, und der damalige Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen der AfD, André Poggenburg, die Sammlungsbewegung „Der Flügel“ innerhalb der AfD (im Folgenden: Flügel). Sie unterzeichneten gemeinsam mit 21 weiteren Amts- und Funktionsträgern der AfD die sog. „Erfurter Resolution“. Gemäß der Resolution sehen die Erstunterzeichner „im vollen Einsatz der AfD für eine grundsätzliche politische Wende in Deutschland die eigentliche Daseinsberechtigung der Partei“. Dieser Einsatz werde zu „echten Auseinandersetzungen mit den Altparteien, den Medien und den Trägern der verheerenden Gesellschaftsexperimente führen“. Von den Funktionsträgern der Partei werde verlangt, diese Auseinandersetzung mutig und wahrhaftig zu führen. In der Erklärung wird die Sorge geäußert, dass sich die AfD ohne Not mehr und mehr dem etablierten Politikbetrieb anpasse: „dem Technokratentum, der Feigheit und dem Verrat an den Interessen unseres Landes.“ Die Erstunterzeichner forderten jedes AfD-Mitglied, „das diese Resolution unterstützt, zur Unterschrift auf.“ Ziel sei die „Sammlung aller auf eine echte Alternative zu den bestehenden Parteien ausgerichteten Kräfte innerhalb der AfD.“</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Der Kläger unterzeichnete im März 2015 die „Erfurter Resolution“.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Ende 2018 verfassten Mitglieder unterschiedlicher Gruppen im Landesverband der AfD Baden-Württemberg den sog. „Stuttgarter Aufruf“. Mit dem Aufruf sollte „ein deutliches Signal an die AfD-Vorstände aller Ebenen zur Einigkeit und die Sammlung aller auf eine echte Alternative zu den bestehenden Parteien ausgerichteten Kräfte innerhalb der AfD“ erfolgen. In dem Aufruf heißt es unter anderem: „Waren nach dem reinigenden Gewitter von Essen die Ausschlussverfahren, die unter dem System Lucke stark zugenommen hatten, ins Stocken geraten und viele auch eingestellt worden, so müssen wir heute beobachten, dass in vielen Landesverbänden und durch den Bundesvorstand öffentlich, manchmal aber auch still und heimlich, wieder zahlreiche Ordnungs- und Ausschlussverfahren eingeleitet wurden oder in Vorbereitung sind. Das führt im Ergebnis zu einer massiven Verunsicherung der Mitglieder und einer Einstellung ihres dringend notwendigen Engagements. So begründet dies in wenigen Fällen sein mag, werden diese Verfahren sehr häufig zum eigenen Machterhalt missbraucht. Oft genug haben sich Vorstände dabei selbst der uns feindlich gesonnenen Presse bedient, nur um ihre inneren Widersacher zu diskreditieren. Wir wollen und müssen diese parteischädlichen Mechanismen ein für alle Mal beenden.“</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Im Oktober 2018 unterzeichnete der Kläger den „Stuttgarter Aufruf“.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (im Folgenden: Bundesamt) gab im Rahmen einer Pressekonferenz am 15.01.2019 bekannt, dass der Flügel als Verdachtsfall eingestuft werde. Es lägen stark verdichtete Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich beim Flügel um eine extremistische Bestrebung handele. Das durch den Flügel propagierte Politikkonzept sei auf die Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, insbesondere Muslimen, und politisch Andersdenkenden gerichtet. Es verletze die Menschenwürdegarantie sowie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Die Relativierung des historischen Nationalsozialismus ziehe sich zudem wie ein roter Faden durch die Aussagen der Flügel-Vertreter. Der Fortbestand eines organisch-einheitlichen Volkes werde vom Flügel als höchster Wert angesehen. Der einzelne Deutsche werde als Träger des Deutschtums wertgeschätzt. „Kulturfremde“ Nicht-Deutsche würden als nicht integrierbar gelten. Ihnen solle eine Bleibeperspektive konsequent verwehrt werden. Ziel des Flügels sei ein ethnisch homogenes Volk, welches keiner „Vermischung“ ausgesetzt sein solle. Dies werde durch flüchtlings- und muslimkritische Positionen untermauert. Die Staatsbürgerschaft von muslimischen Deutschen werde infrage gestellt. Ihnen drohten bei konsequenter Umsetzung der Positionen des Flügels Massenabschiebungen. Mittels einer aggressiven Wortwahl werde die von Migranten ausgehende Kriminalität krass überzeichnet. Befürworter einer liberalen Migrationspolitik würden zudem massiv entwürdigend beschimpft. Ihre politische Haltung werde etwa mit einer Geisteskrankheit gleichgesetzt. Vertreter des Flügels wendeten sich auch gegen das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Demokratische Entscheidungen würden nur akzeptiert, wenn diese zu einer Regierungsübernahme durch die AfD führten. Im Falle des Scheiterns der AfD gelte: „Danach kommt nur noch: Helm auf.“ Einzelne Mitglieder des Flügels wiesen zudem Bezüge zu bereits als extremistisch eingestuften Organisationen auf.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Am 16.12.2019 gab das Bundesamt bekannt, dass es alle „Mitglieder“ des Flügels (ca. 7.000 Personen) in die Kategorie „Rechtsextremismus“ einordne.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Am 12.03.2020 erstellte das Bundesamt ein weiteres Gutachten „zur Einstufung des Flügels als erwiesen extremistische Bestrebung“. Die bisherigen verfassungsfeindlichen Anhaltspunkte hätten sich zur Gewissheit verdichtet. Das Verdachtsfallstadium sei hin zu einer gesichert rechtsextremistischen Bestrebung überschritten worden. Dies gründe sich im Wesentlichen auf den signifikanten Bedeutungszuwachs der maßgeblichen Träger extremistischer Bestrebungen im Flügel, namentlich der zentralen Exponenten Björn Höcke und Andreas Kalbitz, und der von ihnen demzufolge noch stärker ausgehenden Prägekraft für den Personenzusammenschluss. Eine Verdichtung ergebe sich zudem aus der quantitativen Verfestigung der bereits im Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 2019 herangezogenen Belege, von denen sich der Flügel nicht nur nicht distanziert habe, sondern die er vielmehr reproduziert und mit beachtlicher Reichweite weiter verbreitet habe. Die aggressive und kompromisslose Zurückweisung jeder parteiinternen Kritik an Positionen des Flügels stellten ebenfalls einen Verdichtungsfaktor dar. Es sei eine organisatorische Weiterentwicklung festzustellen, worauf offizielle Kontaktstellen – wie der eigenen Webseite, einem YouTube-Kanal, einer Facebook-Seite und einem Onlineshop –, die Etablierung regionaler Ansprechpartner (sog. „Obleute“) und die abgestufte Verleihung von Auszeichnungen für besondere Verdienste um den Flügel hindeuteten.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Am 20.03.2020 beschloss der Vorstand der AfD mehrheitlich: „Der Bundesvorstand erwartet als Ergebnis des morgigen Flügel-Treffens eine Erklärung darüber, dass sich der informelle Zusammenschluss Flügel bis zum 30.04.2020 auflöst.“</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Zur Umsetzung dieser Forderung fasste der Vorstand der AfD am 06.04.2020 einen weiteren Beschluss, in dem der Flügel zu konkreten Schritten aufgefordert wurde: 1) zu erklären, dass alle Obleute (Landesbeauftragten) abberufen und diese Strukturen aufgelöst sind; 2) die Logonutzung „Der Flügel“ zu beenden und alle eingetragenen und/oder beantragten Wort- und/oder Bildmarken an eine vom Bundesvorstand beauftragte Markenrechts-Kanzlei zu übertragen; 3) die Webseite(n) des Flügels abzuschalten; 4) den Flügel-Onlineshop zu schließen sowie 5) die Flügel-Facebookseite(n) sowie – falls vorhanden, ebenso Instagram und/oder Twitter-Accounts – zu beenden und die Administrator-Rechte soweit möglich an die Bundesgeschäftsstelle zu übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">In einem Schreiben wandten sich Björn Höcke und Andreas Kalbitz bei Facebook an die „Freunde des Flügels“: „Wir fordern alle, die sich der Interessensgemeinschaft angehörig fühlen, auf, bis zum 30. April ihre Aktivitäten im Rahmen des Flügels einzustellen. […] Grundsätzlich kann nicht aufgelöst werden, was formal nicht existiert. Um die Einheit der Partei zu wahren und das Projekt einer politischen Alternative für Deutschland nicht zu gefährden, haben Björn Höcke und Andreas Kalbitz jedoch entschieden, diesem Wunsch nachzukommen.“</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zum 30.04.2020 wurde der Flügel formal durch Löschung des bestehenden Internetauftritts und aller Profile und Accounts in den sozialen Medien aufgelöst.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Im Rahmen der turnusmäßig durchzuführenden Überprüfung der waffenrechtlichen Erlaubnis teilte das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen auf Anfrage der Kreispolizeibehörde des S. -T. -Kreises mit Schreiben vom 22.09.2020 im Wesentlichen mit, dass der Kläger Anhänger des Flügels sei, weil er die „Erfurter Resolution“ und den „Stuttgarter Aufruf“ unterzeichnet habe.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Unter dem 14.04.2021 hörte der Beklagte den Kläger zum beabsichtigten Widerruf seiner waffenrechtlichen Erlaubnis an. Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen aus: Die waffenrechtliche Erlaubnis des Klägers sei nach § 45 Abs. 2 Satz 1 WaffG zu widerrufen, weil nachträglich Tatsachen eingetreten seien, die zur Versagung der waffenrechtlichen Erlaubnis hätten führen müssen. Als Anhänger bzw. Mitglied des Flügels sei er sowohl gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 a) aa) WaffG als auch gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) WaffG waffenrechtlich unzuverlässig. Der Flügel werde vom Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (im Folgenden: Landesamt) sowie vom Bundesamt beobachtet. Indem der Kläger die „Erfurter Resolution“ sowie den „Stuttgarter Aufruf“ unterzeichnet habe, habe er nicht nur zur Etablierung des Flügels beigetragen, sondern sich darüber hinaus dafür eingesetzt, Parteiausschlussverfahren in der AfD zu verhindern, die sich gegen Personen richteten, die zu den Mitgliedern des Flügels zählten. Dadurch habe der Kläger dessen gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichteten Aktivitäten Vorschub geleistet. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass er den Flügel in seiner Eigenschaft als gewähltes Mitglied eines Kreistages unterstützt habe, was den Bestrebungen des Flügels zusätzliches Gewicht und einen verfassungsmäßigen Anstrich verliehen habe. Es seien auch keine Gründe ersichtlich, die ausnahmsweise für die waffenrechtliche Zuverlässigkeit des Klägers sprechen könnten.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 19.04.2021 bezog der Kläger hierzu Stellung und führte im Wesentlichen aus, dass der Flügel zu keinem Zeitpunkt eine Organisationsform gehabt habe, geschweige denn eine juristische Person gewesen sei. Ein Beitritt zum Flügel bzw. der Erwerb einer Mitgliedschaft im Flügel, wie es ihm der Beklagte vorhalte, sei nicht möglich gewesen. Unter dem Flügel seien lediglich politische Überzeugungen zusammengetragen worden, die öffentlich nicht mehr vertreten werden dürften.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 11.05.2021 – dem Kläger zugestellt am 18.05.2021 – widerrief der Beklagte unter Ziffer 1 die in Form der Waffenbesitzkarte mit der Nummer 000/00 erteilte waffenrechtliche Erlaubnis des Klägers und ordnete unter Ziffer 2 an, die Schusswaffen bis spätestens zum 31.05.2021 dauerhaft unbrauchbar zu machen, sie zur Vernichtung bei der Kreispolizeibehörde T. abzugeben oder einem Berechtigten zu überlassen sowie hierüber bis zum 14.06.2021 Nachweis zu führen. Unter Ziffer 3 ordnete der Beklagte die sofortige Vollziehung der Ziffer 2 an. Unter Ziffer 4 wurden Verwaltungsgebühren in Höhe von 205,- Euro erhoben. Zur Begründung wiederholte der Beklagte seine Ausführungen aus dem Anhörungsschreiben vom 14.04.2021 und führte lediglich ergänzend hierzu im Wesentlichen aus, dass sich die waffenrechtliche Unzuverlässigkeit des Klägers auch aus § 5 Abs. 2 Nr. 3 c) WaffG ergebe. Darüber hinaus setze der Vereinigungsbegriff im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG nicht das Vorliegen einer juristischen Person voraus. Unabhängig davon ergebe sich aus den Feststellungen der Verfassungsschutzämter, dass der Flügel eine hinreichende Organisationsstruktur gehabt habe und keinesfalls, wie vom Kläger behauptet, „imaginär“ gewesen sei. Dies werde auch durch entsprechende Bekundungen der Führung des Flügels im Zuge seiner Auflösung belegt, wonach der Flügel als „Wertegemeinschaft“ organisiert gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Am 11.06.2021 hat der Kläger Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen seine Ausführungen aus dem Verwaltungsverfahren und bekräftigt seine Rechtsauffassung, dass weder die Mitgliedschaft in der AfD noch der Umstand, die „Erfurter Resolution“ und/oder den „Stuttgarter Aufruf“ unterzeichnet zu haben, den Widerruf seiner waffenrechtlichen Erlaubnis rechtfertige.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">den Bescheid des Beklagten vom 11.05.2021 mit Ausnahme von Ziffer 3 aufzuheben.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Der Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung beruft er sich im Wesentlichen auf seine Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Soweit sich das Verfahren auf die Verpflichtung des Beklagten, vertreten durch die untere Jagdbehörde des S. -T. -Kreises, zur Verlängerung des Jagdscheins des Klägers bezogen hat, ist es mit Beschluss vom 22.06.2021 abgetrennt und an die 8. Kammer des Gerichts abgegeben worden.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 08.03.2022 – 13 K 207/20 – hat die 13. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln entschieden, dass das Bundesamt den Flügel bis zum Zeitpunkt seiner formalen Auflösung am 30.04.2020 als Verdachtsfall einordnen sowie als gesichert rechtsextremistische Bestrebung einstufen durfte.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie der Sitzungsniederschrift vom 08.09.2022 ergänzend Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks"><strong>Entscheidungsgründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Klage ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Bescheid des Beklagten vom 11.05.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Der in Ziffer 1 des streitbefangenen Bescheids erfolgte Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnis des Klägers ist rechtmäßig. Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 WaffG war die waffenrechtliche Erlaubnis des Klägers zu widerrufen, weil nachträglich Tatsachen eingetreten sind, die zur Versagung hätten führen müssen. Eine Erlaubnis zum Erwerb und Besitz von Waffen setzt gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 WaffG voraus, dass der Antragsteller die erforderliche Zuverlässigkeit im Sinne von § 5 WaffG besitzt.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG besitzen die erforderliche Zuverlässigkeit in der Regel Personen nicht, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie in den letzten fünf Jahren Bestrebungen einzeln verfolgt haben (a), die unter anderem gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind (aa), Mitglied in einer Vereinigung waren, die solche Bestrebungen verfolgt oder verfolgt haben (b), oder eine solche Vereinigung unterstützt haben (c).</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Zur Beurteilung der Frage, ob Unzuverlässigkeitsgründe im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG vorliegen, ist auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen eine Prognose zu erstellen und der allgemeine Zweck des Gesetzes zu berücksichtigen, beim Umgang mit Waffen und Munition die Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu wahren (§ 1 Abs. 1 WaffG). Die Risiken, die mit jedem Waffenbesitz verbunden sind, sind nur bei solchen Personen hinzunehmen, die nach ihrem Verhalten Vertrauen darin verdienen, dass sie mit Waffen und Munition jederzeit und in jeder Hinsicht ordnungsgemäß umgehen. Dabei ist in Anbetracht des vorbeugenden Charakters der gesetzlichen Regelungen und der erheblichen Gefahren, die von Waffen oder Munition für hochrangige Rechtsgüter ausgehen, für die gerichtlich uneingeschränkt nachprüfbare Prognose nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich, sondern es genügt vielmehr eine hinreichende, auf der Lebenserfahrung beruhende Wahrscheinlichkeit, wobei ein Restrisiko nicht hingenommen werden muss.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.10.1998 – 1 B 245.97 –, juris, Rn. 5, sowie Beschlüsse vom 31.01.2008 – 6 B 4.08 –, juris, und vom 02.11.1994 – 1 B 215/93 –, juris.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Maßstäben kann hier dahinstehen, ob der Kläger – wie vom Beklagten angeführt – auch die Voraussetzungen der Regelvermutung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 a) WaffG erfüllt. Denn die waffenrechtliche Unzuverlässigkeit des Klägers ergibt sich zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 11.05.2021,</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">vgl. dazu VGH Bayern, Beschluss vom 05.10.2020 – 24 BV 19.510 –, juris, Rn. 14 m.w.N.,</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">jedenfalls aus § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) und c) WaffG, weil der Kläger innerhalb des 5-Jahreszeitraums des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG Mitglied des Flügels war und durch seine Mitgliedschaft den Flügel unterstützt hat.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Der Flügel war zum maßgeblichen Zeitpunkt in den letzten fünf Jahren vor Bescheiderlass am 11.05.2021 eine Vereinigung im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) und c) WaffG.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Der Begriff der Vereinigung im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) und c) WaffG erfasst als Oberbegriff sowohl Vereine im Sinne des Vereinsgesetzes als auch Parteien im Sinne des Parteiengesetzes.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 19/15875, S. 36.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Offen bleiben kann hier, ob der Flügel als nicht satzungsgemäße, aber nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse als eingegliederte Teilorganisation der AfD erscheinend dem Parteienbegriff des § 2 Abs. 1 Parteiengesetz unterfällt. Denn der Flügel erfüllt jedenfalls alle Merkmale des Vereinsbegriffs im Sinne des Vereinsgesetztes (VereinsG).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 2 Abs. 1 VereinsG ist ein Verein ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Die Begriffsmerkmale des § 2 Abs. 1 VereinsG sind entsprechend der gefahrenabwehrrechtlichen Zwecksetzung des Vereinsgesetzes und im Einklang mit dem Schutz der Vereinigungsfreiheit weit auszulegen. Denn einerseits entspricht ein solcher, weit gefasster Anwendungsbereich des Vereinsgesetzes der gefahrenabwehrrechtlichen Intention des Vereinsgesetzes und seinem Charakter als ein Instrument des „präventiven Verfassungsschutzes“. Art. 9 Abs. 2 GG ist insoweit – neben Art. 21 Abs. 2 und Art. 18 GG – Ausdruck des Bekenntnisses des Grundgesetzes zu einer „streitbaren Demokratie“.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.07.2018 – 1 BvR 1474/12, 1 BvR 670/13, 1 BvR 57/14 –, BVerfGE 149, 160, Rn. 101.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Andererseits dient ein weites Verständnis des Anwendungsbereichs des Vereinsgesetzes zugleich auch dem Schutz der Vereinigung.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.01.2020 – 6 A 5.19 –, BeckRS 2020, 8416, Rn. 36, 39 m.w.N. auf die ständige Rechtsprechung des BVerwG.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Vor dem Hintergrund der mit dem Vereinsgesetz verbundenen Zielsetzung ist es für die Anwendbarkeit des Vereinsgesetzes daher maßgeblich, dass die Organisation und die Zweckverfolgung in der Vereinigung auf Dauerhaftigkeit angelegt sind und sich die Beteiligten durch ein verfestigtes Band der Zusammengehörigkeit verbunden haben. Das Merkmal einer organisierten Willensbildung ist auch dann erfüllt, wenn verbindliche Entscheidungen nur unter Beteiligung sämtlicher Mitglieder nach dem Konsensprinzip getroffen werden können. Maßgeblich ist insoweit, dass die Mitglieder den auf dieser Grundlage gebildeten Gesamtwillen als grundsätzlich verbindlich erachten.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.01.2020 – 6 A 5.19 –, BeckRS 2020, 8416, Rn. 41.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Ein Zusammenschluss setzt schon nach seinem Wortlaut ein bewusstes und gewolltes Handeln voraus. Auch bei einer extensiven Interpretation des Vereinsbegriffs kann ein Zusammenschluss von Personen nur angenommen werden, wenn sich diese durch einen konstitutiven Akt verbunden haben. Dabei dürfen an die Qualität dieses Aktes keine hohen Anforderungen gestellt werden; eine stillschweigende Übereinkunft reicht aus. Auch hinsichtlich des gemeinsamen Zwecks genügt eine faktische Übereinstimmung über die wesentlichen Ziele des Zusammenschlusses. Die von dem Willen der einzelnen Mitglieder losgelöste und organisierte Gesamtwillensbildung, der sich die Mitglieder kraft der Verbandsdisziplin prinzipiell unterordnen müssen beziehungsweise die sie kraft eigenen Entschlusses als prinzipiell beachtlich werten, erfordert weder eine Satzung noch spezifische Vereinsorgane. Ausreichend ist eine Organisationsstruktur, die faktisch auf eine organisierte Willensbildung schließen lässt.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2018 – 1 A 14.16 –, NVwZ-RR 2019, 512, Rn. 22 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Für das Bestehen einer organisierten Gesamtwillensbildung spricht insbesondere, wenn die Vereinigung zur Verfolgung des gemeinsamen Zwecks Zuständigkeiten verteilt und ein arbeitsteiliges Zusammenwirken von Personen regelt.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 14.05.2014 – 6 A 3.13 – Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 62 Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Es genügt, dass eine nicht formal geregelte, sondern auf faktischer Unterwerfung beruhende autoritäre Organisationsstruktur für eine vom Willen des einzelnen Mitglieds losgelöste, organisierte Gesamtwillensbildung vorliegt. Schon zugunsten der Freiheit, sich in unterschiedlicher Form zusammenzuschließen, dürfen keine überzogenen Anforderungen an die organisierte Willensbildung gestellt werden. Auch insoweit stellt die weite Auslegung des Vereinsbegriffs sicher, dass einschränkende Maßnahmen bis hin zum Verbot an Art. 9 GG und damit an den engen Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 2 GG zu messen sind.</p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 02.07.2019 – 1 BvR 1099/16 –, juris, Rn. 17.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Maßstäben war der Flügel bis zu dem Zeitpunkt seiner formalen Auflösung am 30.04.2020 ein Verein im Sinne des Vereinsgesetzes und damit eine Vereinigung im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) und c) WaffG, auch wenn der Flügel keine satzungsgemäße offizielle Teilorganisation der AfD war und über keinerlei Rechtsform verfügte.</p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Vorliegend hat sich der Flügel auf Grundlage der „Erfurter Resolution“ vom 14.03.2015 auf Initiative der beiden (damaligen) Mitglieder der AfD Björn Höcke und André Poggenburg gegründet. Die von den beiden zusammen mit 21 weiteren Amts- und Funktionsträgern der AfD unterzeichnete Erklärung bringt gemeinsame Ziele zum Ausdruck. Denn dort kritisieren die Erstunterzeichner „die vermeintliche Anpassung der Gesamtpartei an den etablierten Politikbetrieb“. Die Partei müsse als „grundsätzliche, patriotische und demokratische Alternative zu den etablierten Parteien“, „als Bewegung unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte“, „als Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität“ sowie als Partei, „die den Mut zur Wahrheit und zum wirklich freien Wort besitzt“, verstanden werden. Der Flügel wollte folglich in der Gesamtpartei seinen politischen Kurs durchsetzen und mittels der AfD Veränderungen in den Parlamenten herbeiführen.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Urteil vom 08.03.2022 – 13 K 207/20 –, juris, Rn. 154.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Zudem verfügte der Flügel im maßgeblichen Zeitpunkt über eine Organisationsstruktur. Er definierte sich in einer Erklärung vom 24.06.2016 selbst als „zentral organisierter, loser Verbund von Mitgliedern der Alternative für Deutschland im gesamten Bundesgebiet“. Die organisatorische Arbeit des Flügels sollte demgemäß maßgeblich vom Kreisverband Nordhausen-Eichsfeld-Mühlhausen der AfD, dessen Kreis- und Landesvorsitzender Björn Höcke ist, getragen und dort konzentriert werden. Auch ist in dieser Erklärung von einem „Flügel-Team“ die Rede, mit dem regionale Veranstaltungen zu koordinieren seien.</p>
<span class="absatzRechts">61</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Urteil vom 08.03.2022 – 13 K 207/20 –, juris, Rn. 155.</p>
<span class="absatzRechts">62</span><p class="absatzLinks">Der Flügel entwickelte sich nach seiner Gründung organisatorisch weiter, worauf offizielle Kontaktstellen – wie die eigene Webseite, ein YouTube-Kanal, eine Facebook-Seite und ein Onlineshop –, die Etablierung regionaler Ansprechpartner (sog. „Obleute“) und die abgestufte Verleihung von Auszeichnungen für besondere Verdienste um den Flügel hindeuteten. Seit dem Jahr 2015 fanden überdies jährliche Veranstaltungen des Flügels unter dem Namen „Kyffhäusertreffen“ mit stetig steigenden Besucherzahlen statt (350 im Jahr 2015, 1.000 im Jahr 2018).</p>
<span class="absatzRechts">63</span><p class="absatzLinks">Vgl. Verfassungsschutzbericht des Bundes, 2019, S. 84 f.</p>
<span class="absatzRechts">64</span><p class="absatzLinks">Auch die AfD sah den Flügel im hier maßgeblichen Zeitpunkt als Zusammenschluss mit eigener Organisationsstruktur an, worauf die Beschlüsse vom 20.03.2020 und 06.04.2020 hindeuten. Darin forderte die AfD den Flügel auf, sich als „informellen Zusammenschluss“ aufzulösen und die vorhandenen Strukturen aufzugeben. Der Flügel wurde konkret dazu aufgefordert, 1) zu erklären, dass alle Obleute (Landesbeauftragten) abberufen und diese Strukturen aufgelöst sind; 2) die Logonutzung „Der Flügel“ zu beenden und alle eingetragenen und/oder beantragten Wort- und/oder Bildmarken an eine vom Bundesvorstand beauftragte Markenrechts-Kanzlei zu übertragen; 3) die Webseite(n) des Flügels abzuschalten; 4) den Flügel-Onlineshop zu schließen sowie 5) die Flügel-Facebookseite(n) sowie – falls vorhanden, ebenso Instagram und/oder Twitter-Accounts – zu beenden und die Administrator-Rechte soweit möglich an die Bundesgeschäftsstelle zu übertragen.</p>
<span class="absatzRechts">65</span><p class="absatzLinks">In einem Schreiben wandten sich sodann Björn Höcke und Andreas Kalbitz bei Facebook an die „Freunde des Flügels“: „Wir fordern alle, die sich der Interessensgemeinschaft angehörig fühlen, auf, bis zum 30. April ihre Aktivitäten im Rahmen des Flügels einzustellen.“ Neben der ausdrücklichen Bezeichnung als „Interessengemeinschaft“ ist dieser Aufruf zur Auflösung des Flügels Ausdruck einer organisierten Gesamtwillensbildung im Flügel.</p>
<span class="absatzRechts">66</span><p class="absatzLinks">An dieser Stelle kann auch dahinstehen, ob die formale Auflösung des Flügels Einfluss darauf hat, ob der Flügel weiterhin als Verein im Sinne des Vereinsgesetzes angesehen werden kann. Denn im vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt der letzten fünf Jahre vor Bescheiderlass am 11.05.2021 war der Flügel (noch) nicht aufgelöst. Dies geschah erst zum 30.04.2020 und damit mehr als vier Jahre nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt (11.05.2016).</p>
<span class="absatzRechts">67</span><p class="absatzLinks">Es ist auch rechtlich unbeachtlich, dass der Flügel nach dem Vereinsgesetz weder verboten noch mit einem Betätigungsverbot belegt wurde. Anders als in § 5 Abs. 2 Nr. 2 WaffG werden von § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) und c) WaffG auch solche Vereinigungen erfasst, die (noch) nicht verboten sind. Hierunter fallen nach dem Willen des Gesetzgebers sämtliche Parteien und Vereine, die nicht verboten sind, also auch solche, bei denen das Bundesverfassungsgericht im Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG festgestellt hat, dass sie auf die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung abzielende Bestrebungen verfolgen, deren Verbot mangels Anhaltspunkten, die die Zielerreichung zumindest möglich erscheinen lassen, jedoch nicht ausgesprochen wurde.</p>
<span class="absatzRechts">68</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 19/15875, S. 36.</p>
<span class="absatzRechts">69</span><p class="absatzLinks">Die waffenrechtliche Unzuverlässigkeit im Zusammenhang mit einer vereins- bzw. parteiverbundenen Tätigkeit ist insoweit nicht ausschließlich und abschließend nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 WaffG zu beurteilen. Dies hat sich auch mit der Umstrukturierung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG nicht geändert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung zur Auslegung von § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG (a.F.) maßgeblich zugrunde gelegt, dass insbesondere der Normzweck der Annahme einer Ausschlusswirkung des § 5 Abs. 2 Nr. 2 WaffG im Verhältnis zu § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG entgegensteht. Das zentrale Anliegen des Waffengesetzes ist es, den Schutz der Allgemeinheit vor unzuverlässigen Waffenbesitzern zu verstärken, d.h. das mit jedem Waffenbesitz verbundene Risiko zu minimieren und nur bei Personen hinzunehmen, die das Vertrauen verdienen, in jeder Hinsicht ordnungsgemäß und verantwortungsbewusst mit der Waffe umzugehen. Mit dem Schutzzweck der Norm ist es daher nicht vereinbar, wenn das Verfolgen von Bestrebungen der in § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG genannten Art, obwohl es nach der Wertung des Gesetzes regelmäßig die Unzuverlässigkeit begründet, im Schatten der Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Vereinigung zum Nachteil der Allgemeinheit folgenlos bliebe.</p>
<span class="absatzRechts">70</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 30.09.2009 – 6 C 29.08 – NVwZ-RR 2010, 225 (226); ähnlich mit Urteil vom 28.01.2015 – 6 C 1.14 –, NJW 2015 3594, (3595).</p>
<span class="absatzRechts">71</span><p class="absatzLinks">Es liegen auch hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen des Flügels vor.</p>
<span class="absatzRechts">72</span><p class="absatzLinks">Ob verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle. Ungeachtet der Frage, ob sich der Flügel – wie oben dargelegt – als nicht satzungsgemäße Teilorganisation einer Partei überhaupt auf das Parteienprivileg nach Art. 21 Abs. 4 GG berufen kann, ist die Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte dadurch eingeschränkt, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei nach Art. 21 Abs. 2 GG, § 46 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist. Die waffenrechtliche Einordnung einer Vereinigung, die verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt oder verfolgt hat, stellt kein Parteienverbot und keine dem Parteienverbot vergleichbare Maßnahme dar, die nach dem Maßstab des Art. 21 GG zu beurteilen wäre.</p>
<span class="absatzRechts">73</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu grundlegend BVerwG, Urteil vom 30.09.2009 – 6 C 29.08 –, NVwZ-RR 2010, 225, 227.</p>
<span class="absatzRechts">74</span><p class="absatzLinks">Zur Auslegung des Begriffs der Verfassungsfeindlichkeit kann auf die Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 2 GG zurückgegriffen werden.</p>
<span class="absatzRechts">75</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG München, Beschluss vom 11.05.2020 – M 7 S. 20.87 –, juris, Rn. 26; VG Bayreuth, Urteil vom 15.12.2020 – B 1 K 19.277 –, juris; eine gleichlautende Auslegung des Begriffs ergibt sich auch unter Zugrundelegung der Begriffsbestimmungen des § 4 BVerfSchG und § 92 Abs. 2 StGB, vgl. VG München, Beschluss vom 31.05.2017 – M 7 S. 16.987 –, BeckRS 2017, 113685, Rn. 20 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">76</span><p class="absatzLinks">Nach der zweiten Tatbestandsvariante des Art. 9 Abs. 2 GG sind solche Vereinigungen verboten, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten. Das Schutzgut der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 GG umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die elementaren Grundsätze der Verfassung, namentlich die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.</p>
<span class="absatzRechts">77</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.07.2018 – 1 BvR 1474/12, 670/13, 57/14 –, NVwZ 2018, 1788, Rn. 107; vgl. auch Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20, Rn. 529 ff.</p>
<span class="absatzRechts">78</span><p class="absatzLinks">Das Bundesverwaltungsgericht führt zur Frage, wann sich eine Vereinigung gegen diese elementaren Grundsätze „richtet“, Folgendes aus: „Hierfür reicht es nicht aus, dass sie sich kritisch oder ablehnend gegen diese Grundsätze wendet oder für eine andere Ordnung eintritt. Anders als bei Art. 21 Abs. 2 GG, der fordert, dass eine Partei darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, muss jedoch nicht bereits eine konkrete Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung eingetreten sein. Entscheidend ist, ob die Vereinigung als solche nach außen eine kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber den elementaren Grundsätzen der Verfassung einnimmt (vgl. BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20, Rn. 529 ff., 594 f.; Beschluss vom 13.07.2018 – 1 BvR 1474/12, 670/13, 57/14 –, NVwZ 2018, 1788, Rn. 108 f.) Dazu genügt aber, dass sie die verfassungsmäßige Ordnung fortlaufend untergraben will, wie dies für eine mit dem Nationalsozialismus wesensverwandte Vereinigung kennzeichnend ist. Sie muss ihre Ziele hingegen nicht durch Gewaltanwendung oder sonstige Rechtsverletzungen zu verwirklichen suchen.“</p>
<span class="absatzRechts">79</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.06.2019 – 6 C 9.18 –, juris, Rn. 23.</p>
<span class="absatzRechts">80</span><p class="absatzLinks">Weiter heißt es: „Wer das Ziel verfolgt, die Geltung des Grundsatzes der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG für Teile der Bevölkerung außer Kraft zu setzen sowie elementare Bestandteile des Demokratieprinzips zu beseitigen, und zur Erreichung dieses Ziels auf unterschiedlichen Ebenen Aktivitäten entfaltet, die neben der Teilnahme am regulären politischen Meinungskampf auch Diffamierungen und Agitation umfassen, nimmt nach außen eine kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber den elementaren Grundsätzen der Verfassung ein.“</p>
<span class="absatzRechts">81</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.06.2019 – 6 C 9.18 –, juris, Rn. 26.</p>
<span class="absatzRechts">82</span><p class="absatzLinks">Bestrebungen im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) WaffG gehen folglich über bloße politische Meinungen hinaus. Sie erfordern ein aktives, aber nicht notwendigerweise kämpferisch aggressives Vorgehen zur Realisierung eines bestimmten Ziels. Es bedarf Aktivitäten, die über eine bloße Missbilligung oder Kritik an einem Verfassungsgrundsatz hinausgehen. Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ist insoweit zwar erlaubt, ebenso wie die Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu ändern. Es ist jedoch staatlichen Behörden nicht verwehrt, aus Meinungsäußerungen, die den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG genießen, Schlüsse zu ziehen und gegebenenfalls Maßnahmen zum Rechtsgüterschutz zu ergreifen. Wenn Äußerungen Bestrebungen zur Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erkennen lassen, darf die Waffenbehörde das zum Anlass nehmen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen.</p>
<span class="absatzRechts">83</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.5.2005 – 1 BvR 1072/01 –, BVerfGE 113, 6; BVerwG, Urteil vom 21.07.2010 – 6 C 22.09 –, BVerwGE 137, 275; OVG NRW, Urteil vom 13.02.2009 – 16 A 845/08 –, juris, Rn. 42.</p>
<span class="absatzRechts">84</span><p class="absatzLinks">Dabei kann dahinstehen, ob ein planvolles Vorgehen zu erkennen ist, das kontinuierlich auf die Verwirklichung eines der freiheitlich-demokratischen Grundordnung widersprechenden politischen Konzepts hinarbeitet. Denn ein solches Vorgehen ist im Rahmen des waffenrechtlichen Widerrufsverfahrens nicht erforderlich. Ein solches Vorgehen muss vielmehr erst im Rahmen eines Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 Abs. 1 GG vorliegen.</p>
<span class="absatzRechts">85</span><p class="absatzLinks">Vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20, Rn. 575 f.</p>
<span class="absatzRechts">86</span><p class="absatzLinks">Liegen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vor, besteht ein Verdacht solcher Bestrebungen. Die Kammer kann sich insoweit auf die Feststellungen der 13. Kammer des Gerichts stützen, da für die Sammlung und Auswertung von Informationen im Rahmen des Beobachtungsauftrages der Verfassungsschutzbehörden das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte (vgl. § 3 Abs. 1 und Abs. 3 des Verfassungsschutzgesetzes Nordrhein-Westfalen bzw. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz) Voraussetzung ist. Verlangt werden demnach sowohl für eine Berichterstattung durch die Verfassungsschutzämter als auch für die Beurteilung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG mehr als bloße Vermutungen, Spekulationen, Mutmaßungen oder Hypothesen, die sich nicht auf beobachtbare Fakten stützen können. Andererseits ist keine Gewissheit hinsichtlich des Vorliegens verfassungsfeindlicher Bestrebungen erforderlich. Es müssen vielmehr konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtung auf das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen hindeuten.</p>
<span class="absatzRechts">87</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.07.2010 – 6 C 22.09 –, BVerwGE 137, 275, Rn. 28, 30; OVG NRW, Urteil vom 12.02.2008 – 5 A 130/05 –, juris, Rn. 270.</p>
<span class="absatzRechts">88</span><p class="absatzLinks">Zur Annahme eines solchen Verdachts können auch die Gesamtschau aller vorhandenen tatsächlichen Anhaltspunkte führen, wenn jeder für sich genommen einen solchen Verdacht noch nicht zu begründen vermag. Eine solche Verdachtslage besteht zudem bereits dann, wenn ein die Schutzgüter objektiv beeinträchtigendes Verhalten festgestellt werden kann, ohne dass es auf das subjektive Merkmal des Beeinträchtigenwollens ankommt. Solche tatsächlichen Anhaltspunkte können sich z. B. aus offiziellen Programmen, Satzungen oder sonstigen Veröffentlichungen, aus Verlautbarungen bzw. Aktivitäten von Funktionären oder Anhängern sowie aus Verbindungen zu bereits als extremistisch erkannten Gruppen oder Einzelpersonen ergeben. Die Anhaltspunkte müssen entsprechend gewichtig sein, um die jeweilige staatliche Reaktion zu rechtfertigen. Die Abstufung der Reaktion auf mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen von der bloßen Beobachtung über die Warnung der Öffentlichkeit durch entsprechende Berichterstattung im Verfassungsschutzbericht bis hin zum Verbot einer Organisation schließt es aus, jeweils das gleiche Gewicht für tatsächliche Anhaltspunkte für solche Bestrebungen zu verlangen. Für die Beobachtung aus offenen Quellen ist von einer relativ niedrigen Eingriffsschwelle auszugehen. Es genügt, wenn Umstände gegeben sind, die bei vernünftiger Betrachtungsweise auf solche Bestrebungen hindeuteten und daher eine weitere Abklärung erforderlich erscheint.</p>
<span class="absatzRechts">89</span><p class="absatzLinks">Im Einzelnen: VG Ansbach, Urteil vom 25.04.2019 – AN 16 K 17.01038 –, juris, Rn. 30, sowie VG München, Beschlüsse vom 11.05.2020 – M 7 S. 20.87 –, juris, Rn. 28, sowie vom 27.07.2017 – M 22 E 17.1861 –, juris Rn. 60 ff., jeweils unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 14.07.1999 – 1 BvR 2226/94 –, BVerfGE 100, 313, 395; BVerwG, Urteile vom 17.10.1990 – 1 C 12.88 –, BVerwGE 87, 28; und vom 21.07.2010 – 6 C 22.09 –, juris.</p>
<span class="absatzRechts">90</span><p class="absatzLinks">Nach diesen Maßstäben liegen tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung des Flügels vor. Beim Flügel bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass seine zentrale politische Vorstellung der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand ist und ethnisch „Fremde“ nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben sollen. Diese mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes unvereinbare Auffassung des Flügels ergibt sich aus den Verlautbarungen des Flügels selbst und seiner Repräsentanten. Dies zeigt sich insbesondere durch die Verwendung bestimmter – in rechtsextremen Kreisen gängiger – Begrifflichkeiten. Hierzu zählen Begriffe wie der der „Umvolkung“ und des „(Großen) Austauschs“. Von den Vertretern des Flügels wird auch der Terminus des „Volkstodes“ gebraucht. Dieser Vorwurf, wonach die Regierenden und „die Ausländer“ den „Tod des deutschen Volkes“ herbeiführen, beruht auf der Vorstellung einer ethnisch homogenen „Volksgemeinschaft“ und ist der Ideologie des Nationalsozialismus entnommen. Das Schlagwort wurde vom Nationalsozialismus aufgegriffen und in die Propaganda übernommen. Dahinter verbirgt sich eine rassistische Weltanschauung, die Menschen nichtdeutscher Herkunft als Bedrohung für das eigene Volk betrachtet. Das gilt ebenso für den Vorwurf eines „Völkermordes“ am deutschen Volk durch Vermischung mit anderen Ethnien, der auf der pauschalen Darstellung von Ausländern als tödlicher Gefahr für das kollektive Überleben des deutschen Volkes beruht.</p>
<span class="absatzRechts">91</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Urteile vom 08.03.2022 – 13 K 207/20 –, juris, Rn. 219 ff., sowie – 13 K 326/16 –, juris, Rn. 546 f. m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">92</span><p class="absatzLinks">Diese Vokabeln finden sich von Vertretern des Flügels wiederholt und über einen langen Zeitraum und in offenkundiger Kenntnis des damit verbundenen Verständnisses und Kontexts. Unter Wiedergabe einer Vielzahl von Zitaten und Äußerungen von führenden Repräsentanten des Flügels führte die 13. Kammer des Gerichts insoweit bereits aus:</p>
<span class="absatzRechts">93</span><p class="absatzLinks"><em>„Am 14. Oktober 2016 stellte der Flügel auf seine Homepage einen Beitrag des Kolumnisten Herbert Gassen:</em></p>
<span class="absatzRechts">94</span><p class="absatzLinks"><em>‚Die Kanzlerin hat mit ihrem Umfeld das Endspiel Deutschlands eingeläutet. Sie startete mit ihrem Willkommensgruß an Millionen fremder Menschen die Umvolkung der Bundesrepublik […] Das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland ist von dieser politischen Kaste ad absurdum geführt worden. Deswegen sollten wir den heutigen Tag trotz aller Bedenken noch einmal fröhlich feiern. Genießen wir den Untergang, denn das Ende wird furchtbar. Alles unter Deutschland in Gemeinschaft mit den Völkern Europas und der Welt.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">95</span><p class="absatzLinks"><em>Der Flügel veröffentlichte überdies am 9. März 2018 auf seiner Facebook-Seite einen Beitrag unter dem Titel ‚Merkel und der Volkstod‘. Der Kanzlerin wurde dort vorgeworfen, sie unterstütze die ‚endgültige Auflösung der deutschen Identität‘.</em></p>
<span class="absatzRechts">96</span><p class="absatzLinks"><em>Björn Höcke, Mitbegründer des Flügels, spricht an einigen Stellen von der ‚Auflösung‘ Deutschlands, dem ‚Volkstod‘ und dem ‚Verschwinden‘ und ‚Austausch‘ des deutschen Volkes.</em></p>
<span class="absatzRechts">97</span><p class="absatzLinks"><em>‚Es kann kein Zweifel sein, die Altparteien, die lösen unser Deutschland auf, ob sie das willentlich machen oder weil sie einfach zu blöd sind, um Politik zu betreiben. Sie lösen unser Deutschland auf wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl‘.</em></p>
<span class="absatzRechts">98</span><p class="absatzLinks"><em>‚Ich sage es in aller Deutlichkeit: Diese Regierung ist keine Regierung mehr, diese Regierung ist zu einem Regime mutiert! […] Diese alten Kräfte, die ich gerade genannt habe, sie lösen unser liebes deutsches Vaterland auf wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl. Aber wir, liebe Freunde, wir Patrioten werden diesen Wasserstrahl jetzt zu drehen, wir werden uns unser Deutschland Stück für Stück zurückholen!‘.</em></p>
<span class="absatzRechts">99</span><p class="absatzLinks"><em>‚Diese auf Verantwortungsethik beruhende Einsicht existiert leider bei den Altparteienvertretern im Altparteienkartell nicht, dort will man, dass die Deutschen verschwinden, sie und ihre Kultur, denn das kann nicht anders erkannt werden.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">100</span><p class="absatzLinks"><em>‚Wir stehen vor einem Kultur- und Zivilisationsbruch historischen Ausmaßes, liebe Freunde, und es ist ein Faktum und es ist ein trauriger Befund. Deutschland, liebe Freunde, unser Deutschland, das wir lieben und das wir verteidigen wollen und das wir unseren Kindern als Erben hinterlassen wollen, dieses Deutschland verflüchtigt sich jeden Tag ein wenig mehr.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">101</span><p class="absatzLinks"><em>‚[…] die jubeln regelrecht über unseren bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch. Die Flüchtlinge sind ihnen nur Mittel zum Zweck, damit das verhasste eigene Volk endlich von der Weltbühne verschwindet.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">102</span><p class="absatzLinks"><em>Andreas Kalbitz, bis Mai 2020 brandenburgischer Landesvorsitzender der AfD und Beisitzer im Bundesvorstand der AfD, war neben Höcke einer der führenden Köpfe des Flügels und Erstunterzeichner der Erfurter Resolution. Auch Kalbitz hat zum Teil die o.g. Begriffe in eindeutigem Kontext verwendet:</em></p>
<span class="absatzRechts">103</span><p class="absatzLinks"><em>‚Was ist aus unserem Land geworden, wenn die pseudochristliche, linksfaschistische Deutschlandhasserin Margot Käßmann [Buhrufe] alle Ethnodeutschen, also alle Menschen, deren familiäre und traditionelle Wurzeln in unserem Land liegen, man könnte auch sagen die indigene Bevölkerung, das seid Ihr, wenn diese Menschen pauschal als Nazis beschimpft werden. Wir sind nicht bereit, dabei zuzusehen, wie sich unser Land auflöst. Es löst sich auf in den Köpfen und Seelen unserer Menschen, die durch die Multikultipropaganda der Deutschlandhasser bis hin zu Selbstvernichtung verblendet und verbündet sind.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">104</span><p class="absatzLinks"><em>Dr. Hans-Thomas Tillschneider, ebenfalls Erstunterzeichner der Erfurter Resolution und Vertreter des Flügels, verwendete im streitgegenständlichen Zeitraum die genannten Begriffe ebenfalls:</em></p>
<span class="absatzRechts">105</span><p class="absatzLinks"><em>‚Gemeinsam gegen die Umvolkung! ‚Umvolkung‘ ist kein ‚Nazi-Sprech‘, sondern ein treffender und sachangemessener Begriff für das, was gerade in unserem Land geschieht.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">106</span><p class="absatzLinks"><em>‚Wenn wir wollen, dass Deutschland Deutsch bleibt, wenn wir nicht wollen, dass unser Volk und unsere Kultur sich auflösen wie Brausetabletten im Wasserglas, müssen wir uns für diesen Willen nicht rechtfertigen, denn [er] ist das natürlichste der Welt.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">107</span><p class="absatzLinks"><em>Dr. Christina Braun, eine weitere Erstunterzeichnerin der Erfurter Resolution, erhob am 12. Mai 2016 den ‚Volkstod‘-Vorwurf im Zusammenhang mit der Wahl der türkisch-stämmigen muslimischen Politikerin Aras zur Landtagspräsidentin in Baden-Württemberg:</em></p>
<span class="absatzRechts">108</span><p class="absatzLinks"><em>‚Ich stehe weiterhin zu dem Begriff des schleichenden Genozids an der deutschen Bevölkerung durch die falsche Flüchtlingspolitik der Grünen. Der Genozid bezeichnet nach einer UN-Resolution die Absicht, eine nationale, ethnische, religiöse Gruppe teilweise oder ganz zu zerstören. Und diese Absicht unterstelle ich den Grünen.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">109</span><p class="absatzLinks"><em>Jörg Urban, Vorsitzender des sächsischen Landesverbandes der AfD, vom Flügel als ‚unser Spitzenkandidat für Sachsen‘ bezeichnet, sprach ebenfalls in einem Facebook-Beitrag vom 29. April 2018 von der Auflösung Deutschlands:</em></p>
<span class="absatzRechts">110</span><p class="absatzLinks"><em>‚Wie ihrem Vortänzer Joschka Fischer geht es den Grünen um die Auflösung Deutschlands. Unsere Kultur und unsere Lebensweise sollen verwässert und aufgelöst werden.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">111</span><p class="absatzLinks"><em>Prof. Dr. Ralph Weber, führender Repräsentant des Flügels in Mecklenburg-Vorpommern, verwendete den Begriff des „Großen Austauschs“:</em></p>
<span class="absatzRechts">112</span><p class="absatzLinks"><em>‚Dies bedeutet […] eine ebenso deutliche Absage an alle Versuche, unser Volk durch Überfremdung mittels Zuwanderung auszutauschen. […] Denn dann findet dieser ‚Große Austausch‘ nicht statt.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">113</span><p class="absatzLinks"><em>In der ursprünglichen Fassung des Beitrages verwendete Weber die nationalsozialistische Arier-Definition und die Kampfparole der NPD ‚Deutschland den Deutschen‘:</em></p>
<span class="absatzRechts">114</span><p class="absatzLinks"><em>‚Wir ‚Biodeutsche‘ mit zwei deutschen Eltern und vier deutschen Großeltern müssen hierfür sorgen. […] Und wir wissen, […] dass aus der von uns hervorgerufenen Welle eine mächtige Flut werden wird, wie all diese linksgrünen Ideologen, die nichts anderes im Sinne haben als Deutschland als Nation und die Deutschen als Volk endgültig auszulöschen, hinwegfegen und unseren Zielen zum Sieg verhelfen wird. Dafür arbeiten wir, dafür kämpfen wir, dafür führen wir unseren Wahlkampf. Deutschland den Deutschen und alles für unser geliebtes Deutschland.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">115</span><p class="absatzLinks"><em>Diese Äußerungen führten zu einer Rüge Webers durch die AfD, nicht jedoch durch den Flügel. Weber selbst hat nach öffentlicher Kritik die betreffenden Passagen aus dem Facebook-Beitrag gestrichen.</em></p>
<span class="absatzRechts">116</span><p class="absatzLinks"><em>Die Parole ‚Deutschland den Deutschen‘ verwendete auch Benjamin Nolte am 22. Juni 2017.</em></p>
<span class="absatzRechts">117</span><p class="absatzLinks"><em>Thorsten Weiß, Koordinator des Flügels in Berlin, griff ebenfalls den ‚Volkstod‘-Vorwurf auf:</em></p>
<span class="absatzRechts">118</span><p class="absatzLinks"><em>‚2050 soll es kein erkennbares deutsches Volk mehr geben. Regierung plant den Volkstod!‘.</em></p>
<span class="absatzRechts">119</span><p class="absatzLinks"><em>Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen ergeben sich darüber hinaus insbesondere aus Äußerungen von Björn Höcke, der Mitbegründer des Flügels und Fraktionsvorsitzender und (einer der) Sprecher des thüringischen Landesverbandes der AfD ist. […]</em></p>
<span class="absatzRechts">120</span><p class="absatzLinks"><em>Aus zahlreichen Äußerungen Höckes folgen Anhaltspunkte für ein völkisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis.</em></p>
<span class="absatzRechts">121</span><p class="absatzLinks"><em>In dem Gesprächsband ‚Nie zweimal in denselben Fluss‘ aus dem Juni 2018 führt Höcke die USA als abschreckendes Beispiel einer misslungenen Politik an. Dort hätten sich die ‚Weißen‘ und die ‚Schwarzen‘ vor ihrer Amerikanisierung aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammengesetzt. Jetzt seien sie in einer Masse aufgegangen. Für Höcke stellt dies einen ‚Abstieg‘ dar, der durch Bewahrung der Völker vermieden werden solle. Dies kann bei verständiger Würdigung nur so verstanden werden, dass Menschen allein bezogen auf ihre Ethnie betrachtet werden, sie also nicht die Möglichkeit erhalten sollen, Teil eines (Staats-)Volkes mit eigener Kultur und Identität zu werden.</em></p>
<span class="absatzRechts">122</span><p class="absatzLinks"><em>‚Es gibt wohl keinen Artikel oder Bericht über mich, in dem nicht zwei bis dreimal das Attribut ‚völkisch‘ auftaucht, meist mit der Verbindung ‚rassistisch‘. Schon diese Wortkombination ist Unfug, denn Völker sind keine Rassen, sondern bestenfalls Legierungen selbiger. Wer den Völkern an den Kragen will, fördert im Grunde den ‚Rassismus‘, denn er verzwergt den Menschen auf sein biologisches Sein. Wir sehen das in den USA: Die ‚Weißen‘ und die ‚Schwarzen‘ setzten sich vor ihrer Amerikanisierung aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen. Jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir vermeiden und die Völker bewahren. [...] Unabhängig davon halte ich die Bezeichnung ‚volksverbunden‘ oder ‚volksfreundlich‘ für besser.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">123</span><p class="absatzLinks"><em>Nach der Vorstellung Höckes ist die Vermischung verschiedener Völker ein ‚Abstieg‘, den es zu vermeiden gelte. Seine Vorstellung geht folglich dahin, das deutsche Volk in seiner ‚Reinheit‘ zu erhalten, wie es auch an anderer Stelle im Gesprächsband deutlich zum Tragen kommt.</em></p>
<span class="absatzRechts">124</span><p class="absatzLinks"><em>‚Völker und Kulturen sind in den Augen der Globalisten wertlos und als mögliche mächtige Gegenspieler lästige Störenfriede ihrer bizarren Agenda. Das farbenprächtige Pluriversum ethnischkultureller Eigenständigkeiten mit Heimatrecht und Ansiedlungsmonopolen soll abgelöst werden durch eine neuartige Kosmospolis muiltitribaler Gesellschaften mit internationaler Niederlassungsfreiheit. Dieser Prozeß ist schon seit vielen Jahren im Gange, angetrieben von einem antinationalen Netzwerk aus privaten Stiftungen, NGOs und supranationalen Institutionen wie der EU. Das läuft auf eine Art globale Freihandelszone mit entorteten und zersplitterten Menschengruppen hinaus, die dann umso leichter beherrschbar sind.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">125</span><p class="absatzLinks"><em>Höcke schlägt als letzten Ausweg, wenn die Erhaltung eines nach seinen Vorstellungen ethnisch homogenen deutschen Volkes nicht gelingen sollte, den Rückzug autochthoner Deutscher in ‚ländliche Refugien‘ vor, um dort als neue Keimzelle des deutschen Volkes zu überdauern, bis eine ‚Rückeroberung‘ des Landes möglich sei:</em></p>
<span class="absatzRechts">126</span><p class="absatzLinks"><em>‚Dann haben wir immer noch die strategische Option der ‚gallischen Dörfer‘. Wenn alle Stricke reißen, ziehen wir uns wie einst die tapferfröhlichen Gallier in unsere ländlichen Refugien zurück und die neuen Römer, die in den verwahrlosten Städten residieren, können sich an den teutonischen Asterixen und Obelixen die Zähne ausbeißen! Die Re-Tribalisierung im Zuge des multikulturellen Umbaus wird aber so zu einer Auffangstellung und neuen Keimzelle des Volkes werden. Und eines Tages kann aus dieser Auffangstellung einer Ausfallstellung werden, von der eine Rückrückeroberung ihren Ausgang nimmt.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">127</span><p class="absatzLinks"><em>Volksteile, die nicht im beschriebenen Sinne ethnisch rein geblieben seien, weil sie sich als zu schwach oder unwillens gezeigt hätten, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen, sind für ihn ‚verloren‘.</em></p>
<span class="absatzRechts">128</span><p class="absatzLinks"><em>‚Hierin liegt auch meine grundsätzliche Zuversicht und Gelassenheit, die über alle Schreckensszenarien hinausreichen. Ich bin sicher, daß – egal wie schlimm die Verhältnisse sich auch entwickeln mögen – am Ende noch genug Angehörige unseres Volkes vorhanden sein werden, mit denen wir ein neues Kapitel unserer Geschichte aufschlagen können. Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen. Aber abgesehen von diesem möglichen Aderlaß haben wir Deutschen in der Geschichte nach dramatischen Niedergängen eine außergewöhnliche Renovationskraft gezeigt. Denken sie an den 30-jährigen Krieg oder den Zusammenbruch 1945. Ob wir es noch einmal schaffen werden, ist nicht sicher, aber es gibt berechtigte Hoffnung auf eine Erneuerung.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">129</span><p class="absatzLinks"><em>Damit bringt Höcke ersichtlich zum Ausdruck, dass er afrikanische, (nah-)östliche oder muslimische Zuwanderer ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit nicht als Deutsche ansieht, und auch nur die nicht ‚afrikanisierten, orientalisierten und islamisierten‘ Volksteile als wirkliche Angehörige des deutschen Volkes begreift.</em></p>
<span class="absatzRechts">130</span><p class="absatzLinks"><em>In seiner Kyffhäuserrede 2018 plädierte er für eine Aufklärungskampagne im „arabischafrikanischen“ Raum, um dort jungen Männern unmissverständlich die Botschaft zu vermitteln:</em></p>
<span class="absatzRechts">131</span><p class="absatzLinks"><em>‚No way! Selbst wenn wir es wollten, es kann und wird für euch keine Heimat in Deutschland und Europa geben können!‘</em></p>
<span class="absatzRechts">132</span><p class="absatzLinks"><em>Darin kommt ein grundsätzlicher, naturgegebener Ausschluss, Menschen aus dem ‚arabischafrikanischen‘ Raum aufzunehmen, zum Ausdruck.</em></p>
<span class="absatzRechts">133</span><p class="absatzLinks"><em>Die von Höcke im Verfahren vorgetragene ‚Klarstellung‘ ändert hieran nichts. Dass Höcke damit gemeint haben will, dass ein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland an die Integration in die deutsche und europäische Kultur gekoppelt sein sollte, verkehrt den Aussagegehalt ins Gegenteil. Dort ist gerade von einer ausnahmslosen Ablehnung des Aufenthalts die Rede.</em></p>
<span class="absatzRechts">134</span><p class="absatzLinks"><em>Höcke sieht die von ihm ersehnte ‚neue politische Führung‘ ausschließlich den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und demnach nicht den deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund.</em></p>
<span class="absatzRechts">135</span><p class="absatzLinks"><em>‚Vor allem eine neue politische Führung wird dann schwere moralische Spannungen auszuhalten haben: Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muss aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">136</span><p class="absatzLinks"><em>Höcke lehnt auch die Möglichkeit der Integration ab. Er fordert vielmehr eine Assimilation oder ‚Akkulturation‘.</em></p>
<span class="absatzRechts">137</span><p class="absatzLinks"><em>‚Also, eine dauerhafte Integration oder besser Assimilation – wir sollten auch von Assimilation, nicht von Integration sprechen, denn der Integrationsbegriff, den wir aus der Mathematik kennen, bedeutet eben, dass durch den Integrationsprozess von zwei Größen etwas Neues entsteht. Die Deutschen sind aber niemals gefragt worden, ob sie sich im eigenen Lande integrieren wollen. Deswegen favorisiere ich – und das sollten Sie auch tun – den Assimilationsbegriff.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">138</span><p class="absatzLinks"><em>‚Denn Integrieren bedeutet ein gegenseitiges Verändern und ich will mich überhaupt gar nicht verändern. Diese Menschen, die Deutschen werden wollen, von denen verlangen wir nicht, dass sie sich integrieren, natürlich verlangen wir von diesen Menschen, dass sie sich hier assimilieren.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">139</span><p class="absatzLinks"><em>‚Ich kann Integration nicht mehr hören, liebe Freunde. Wir können Integration nicht mehr hören. Wir wollen keine Integration. Wir wollen uns nicht im eigenen Land an fremde Kulturen anpassen. Wir wollen mit denen zusammenleben, mit denen wir bisher auch schon gelebt haben. Und zwar jetzt und in Zukunft, liebe Freunde.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">140</span><p class="absatzLinks"><em>Hier wird erkennbar, dass es Höcke nicht um den Erhalt der deutschen Kultur geht, sondern um einen kategorischen Ausschluss von Zuwanderung. Soweit Zuwanderung überhaupt akzeptiert wird, reiche eine Integration nicht aus, sondern soll eine vollständige Assimilierung erforderlich sein.</em></p>
<span class="absatzRechts">141</span><p class="absatzLinks"><em>Die Forderung der Assimilation steht der Zielsetzung des ethnischen Erhalts des deutschen Volkes nicht entgegen. Denn wie die Beklagte zutreffend darlegt, ist in den Augen des Flügels Vergleichsmaßstab für die geforderte Assimilation nicht das deutsche Volk als die Gesamtheit der Staatsangehörigen, sondern der autochthone Deutsche. Dieser Begriff meint im völkerkundlichen Sinne eingeboren, einheimisch oder indigen. Indigen meint die erste, ursprüngliche Bevölkerung eines Gebiets betreffend oder diesem zugehörig, sodass ihrerseits eingewanderte oder einen Migrationshintergrund aufweisende deutsche Staatsangehörige in der Vorstellung des Flügels keine adäquate Vergleichsgruppe sind. Es existieren nach der Vorstellung des Flügels demnach deutsche Staatsangehörige erster und zweiter Klasse. Idealbild ist der autochthone Deutsche. Mit dem genannten Maßstab werden alle Deutschen ausgegrenzt, die nicht zu den autochthonen Deutschen zählen, da sie eingewandert sind oder einen Migrationshintergrund aufweisen. Diese Klassifizierung ist auch für den Einzelnen unveränderlich, da er auf einem ethnischen – und nicht auf einem kulturellen – Kriterium beruht.</em></p>
<span class="absatzRechts">142</span><p class="absatzLinks"><em>Darüber hinaus ist die Forderung nach vollständiger Assimilation kaum oder jedenfalls nur bei einer vollständigen Aufgabe der kulturellen Wurzeln denkbar.</em></p>
<span class="absatzRechts">143</span><p class="absatzLinks"><em>Auch Aussagen anderer Flügel-Repräsentanten enthalten – neben der oben zitierten Verwendung überkommener Kampfbegriffe – Anhaltspunkte für ein völkisch-abstammungsmäßiges Vorstellungsbild.</em></p>
<span class="absatzRechts">144</span><p class="absatzLinks"><em>Ein völkisches Verständnis kommt etwa in der Kyffhäuserrede Tillschneiders im Jahr 2018 zum Ausdruck:</em></p>
<span class="absatzRechts">145</span><p class="absatzLinks"><em>‚Liebe Kameraden, als wir zusammensaßen, um das heutige Flügeltreffen vorzubereiten, kam die Idee auf, man müsse für die Fußballfans unter uns eine Leinwand besorgen. Ich hatte dafür kein Verständnis und war strikt dagegen. Wer unter uns will sich denn dieses Mannschaft-gewordene Elend der Merkel-Republik anschauen? [...] Eine Mannschaft, zu der Türken mit deutschem Pass gehören, die Erdogan huldigen, die nach Mekka pilgerten und die sich weigern, auch nur die dritte Strophe unserer Nationalhymne zu singen – von der ersten rede ich gar nicht – eine solche Mannschaft, liebe Freunde, ist keine Nationalmannschaft, sondern ein gescheitertes Integrationsprojekt.</em></p>
<span class="absatzRechts">146</span><p class="absatzLinks"><em>Und deshalb... und deshalb sage ich ganz ehrlich: Ich habe mehr Respekt vor der russischen Nationalmannschaft, die noch eine echte Nationalmannschaft ist. Mehr Respekt als vor dieser bunt zusammengewürfelten Söldnertruppe der Deutschland-AG.</em></p>
<span class="absatzRechts">147</span><p class="absatzLinks"><em>[...] Es ist mittlerweile so weit gekommen, dass auch der Fußball zu einem abgehobenen Stelldichein internationaler Vagabunden verkommen ist.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">148</span><p class="absatzLinks"><em>Er schloss sich zudem in einem Facebook-Eintrag vom 21. September 2018 ausdrücklich dem ethnokulturellen Konzept der ‚Identitären Bewegung Deutschlands‘ an und bekundete, die AfD setze sich dafür ein, das deutsche Volk als ‚ethnokulturelle Einheit‘ zu erhalten.</em></p>
<span class="absatzRechts">149</span><p class="absatzLinks"><em>‚Immer wieder taucht in Erklärungen der Verfassungsschutzämter zur Identitären Bewegung der Begriff ‚Ethnopluralismus‘ auf. ‚Ethnopluralismus‘ bezeichnet den Umstand, daß die Menschheit in Völker gegliedert ist, und verbindet damit die Wertung, daß diese Völker mit ihrer je eigenen Kultur erhaltenswert sind – eine in höchsten Maß vernünftige, wirklichkeitsbezogene Ansicht. Nichts anderes ist auch das Leitmotiv des AfD-Programms. [...] [W]ir setzen wir uns auf allen Gebieten dafür ein, die ethnokulturelle Einheit, die sich deutsches Volk nennt, zu erhalten.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">150</span><p class="absatzLinks"><em>‚Wenn wir angesichts dieses Szenarios von einer Zusammenarbeit mit der IB vorerst Abstand nehmen, erfüllen wir damit nicht das Kalkül des Verfassungsschutzes, wir durchkreuzen es. ‚Projekthygiene‘ hat Götz Kubitschek es einmal genannt. Wir lösen eine Verbindung, die der IB nichts nützt, uns aber schadet. Trotz einer strukturellen Entflechtung halten wir aber selbstverständlich an allem fest, wofür wir stehen und wofür auch die IB steht.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">151</span><p class="absatzLinks"><em>[…] Dr. Christina Baum forderte in einem Facebook-Beitrag vom 13. Juni 2017, das ‚Wahlrecht nach Abstammung‘ wieder einzuführen:</em></p>
<span class="absatzRechts">152</span><p class="absatzLinks"><em>‚Wir brauchen wieder das Wahlrecht nach Abstammung, wie es vor 2000 war. Ansonsten werden in Zukunft Özdemirs und Özuguzes die politischen Entscheidungen in Deutschland herbeiführen – aller Voraussicht nach gegen den Willen der ethnischen deutschen Bevölkerung.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">153</span><p class="absatzLinks"><em>Die Forderung nach einer Veränderung des Wahlrechts, das nicht mehr an die Staatsangehörigkeit, sondern die Abstammung anknüpft, wäre aber ersichtlich eine unzulässige Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger mit Migrationshintergrund.</em></p>
<span class="absatzRechts">154</span><p class="absatzLinks"><em>Auch Jens Maier äußerte auf einer Veranstaltung der Jungen Alternative am 17. Januar 2017 ein völkisches Verständnis:</em></p>
<span class="absatzRechts">155</span><p class="absatzLinks"><em>‚Diese ganze Entwicklung, die jetzt gerade stattfindet, die Herstellung von Mischvölkern, um die nationalen Identitäten auszulöschen und damit die Abgabe der Souveränität an die EU – das ist einfach nicht zu ertragen.‘</em></p>
<span class="absatzRechts">156</span><p class="absatzLinks"><em>Dass die genannten Verlautbarungen und Äußerungen nach den oben genannten Maßstäben dem Flügel zugerechnet werden können, ist […] augenscheinlich.</em></p>
<span class="absatzRechts">157</span><p class="absatzLinks"><em>Es handelt sich vorliegend ganz überwiegend um Zitate von Erstunterzeichnern der Erfurter Resolution und damit führender Repräsentanten des Flügels. Bei Björn Höcke und Andreas Kalbitz handelt es sich um die führenden Köpfe des Flügels, die beide regelmäßig Reden auf den Kyffhäusertreffen gehalten haben. Dies ergibt sich auch eindrücklich daraus, dass beide in einer gemeinsamen Erklärung die formale Auflösung des Flügels kundgetan haben. Auch die anderen Personen werden zum Teil selbst vom Flügel als deren Spitzenkandidaten bezeichnet oder waren als Landesobleute eingesetzt. Überdies ist eine Distanzierung von Seiten des Flügels in keinem Fall erfolgt.</em></p>
<span class="absatzRechts">158</span><p class="absatzLinks"><em>[…] Abgesehen davon, dass es einige Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese Erklärungen taktisch motiviert sind, ist die politische Forderung nach dem Erhalt der ethnischen Identität des Deutschen Volkes aber ohnehin nicht erst dann verfassungswidrig, wenn sie die rechtliche Ausgrenzung und Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger anderer ethnischer Zugehörigkeit bedeutet und mit der Forderung der Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger wegen ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit verbunden wird.</em></p>
<span class="absatzRechts">159</span><p class="absatzLinks"><em>Völkisch-abstammungsmäßige und rassistische Kriterien verstoßen auch dann gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, wenn sie nicht absolut gelten und es Ausnahmen geben soll. Entscheidend ist die insgesamt verfolgte, objektiv erkennbare Zielrichtung des Personenzusammenschlusses, wie sie sich in der Zusammenschau der vorgelegten Belege ergibt.</em></p>
<span class="absatzRechts">160</span><p class="absatzLinks"><em>Aus den oben genannten zahlreichen Belegen geht aber hervor, dass der Flügel – zum Teil unter Verwendung rassistischer und martialischer Rhetorik – den Erhalt der deutschen Ethnie verfolgt und ethnische Kriterien damit den Ausschlag für weitere Einbürgerungen geben sollen. Aus den Verlautbarungen des Flügels ergibt sich zudem, dass sehr hohe bzw. nahezu unerreichbare Hürden für eine Einbürgerung aufgestellt werden und als Maßstab der autochthone Deutsche dient, sodass die Vorstellungen des Flügels primär an ethnische Vorstellungen anknüpfen und das kulturelle Element allenfalls untergeordnete Bedeutung hat.“</em></p>
<span class="absatzRechts">161</span><p class="absatzLinks">Vgl. ausführlich VG Köln, Urteil vom 08.03.2022 – 13 K 207/20 –, juris, Rn. 233-317 m.w.N.</p>
<span class="absatzRechts">162</span><p class="absatzLinks">Das in den Äußerungen zutage geförderte Volksverständnis widerspricht dem im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden Verständnis und ist geeignet, Zugehörige einer anderen Ethnie auszugrenzen und als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Es tritt das Ziel zutage, Migranten – insbesondere Muslime – auszugrenzen und verächtlich zu machen. Es handelt sich bei der Vielzahl der Äußerungen erkennbar nicht (mehr) um bloße Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses, die sich von der Linie des Flügels abheben würden. Aus dem Grundtenor der zitierten Aussagen lässt sich ableiten, dass das Volksverständnis und die ausländerfeindliche Agitation Ausdruck eines generellen Bestrebens des Flügels sind.</p>
<span class="absatzRechts">163</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Urteil vom 08.03.2022 – 13 K 207/20 –, juris, Rn. 401 f.</p>
<span class="absatzRechts">164</span><p class="absatzLinks">Für die Beurteilung der Frage, ob verfassungsfeindliche Bestrebungen im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG vorliegen, kann auch auf die Einschätzung der Verfassungsschutzämter abgestellt werden.</p>
<span class="absatzRechts">165</span><p class="absatzLinks">Vgl. ausdrücklich BT-Drs. 19/15875, S. 36.</p>
<span class="absatzRechts">166</span><p class="absatzLinks">Wie bereits oben dargelegt folgt dies daraus, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Sammlung und Auswertung von Informationen im Rahmen des Beobachtungsauftrages der Verfassungsschutzbehörden weitestgehend identisch mit denen für die Beurteilung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG sind. Zur Bewertung der Verfassungsschutzberichte bedarf es insbesondere auch keiner Offenlegung deren Quellen. Die Ämter für Verfassungsschutz könnten ihre Aufgabe nicht wirkungsvoll wahrnehmen, wenn ihr Vorgehen weitgehend offenzulegen wäre. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat dem sowohl bei der Tatsachenermittlung – etwa in Bezug auf das Beweismaß – als auch beim Nachvollzug der behördlichen Abwägungen Rechnung zu tragen.</p>
<span class="absatzRechts">167</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 07.12.1999 – 1 C 30.97 –, NVwZ 2000, 4339.</p>
<span class="absatzRechts">168</span><p class="absatzLinks">Im Verfassungsschutzbericht des Bundes aus dem Jahr 2019 heißt es zum Flügel: „Das durch den Flügel propagierte Politikkonzept ist auf Ausgrenzung, Verächtlichmachung und letztlich weitgehende Rechtlosstellung von Migranten, Muslimen und politisch Andersdenkenden gerichtet. […] Das Politikkonzept steht im Widerspruch zur Menschenwürdegarantie sowie zum Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Der Flügel sieht die AfD – so der mehrfach geäußerte apodiktische Anspruch – als die ‚letzte evolutionäre Chance für dieses Land‘. Ein ethnisch-homogenes Staatsvolksverständnis bildet den Dreh- und Angelpunkt im politischen Denken des Flügels. […] Nach Auffassung von Flügel-Funktionären ist das Überleben des – biologistisch definierten – Volkes durch die gegenwärtige Regierung bedroht. Wie ein roter Faden durchzieht deren Reden deshalb die Warnung vor einer vermeintlich bevorstehenden ‚Abschaffung‘ und ‚Auflösung‘ Deutschlands. ‚Kulturfremde‘ Migranten gelten durchweg als nicht integrierbar, weswegen ihnen eine Bleibeperspektive konsequent zu verwehren sei. Diese Annahme wird durch pauschal flüchtlings- und muslimfeindliche Äußerungen verstärkt, indem Migration in ihren Auswirkungen als ‚Zivilisationsbruch‘ verunglimpft und bezogen auf ihre finanziellen, ökonomischen und sozialen Folgen für die einheimische Bevölkerung mit einem Krieg gleichgesetzt wird. Darüber hinaus ist die Haltung des Flügels zum ‚Dritten Reich‘ von einem geschichtsrevisionistischen, die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen relativierenden beziehungsweise ausblendenden Ansatz geprägt. Ziel dabei ist es, mittels einer ‚erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad‘ ein unbelastetes und vermeintlich identitätsstiftendes Geschichtsbild zu vermitteln. Damit leistet der Flügel dem sekundären Antisemitismus Vorschub, denn dessen geschichtsrevisionistische Positionen implizieren den Vorwurf, dass die Erinnerung an den vom NS-Regime verübten Genozid an der jüdischen Bevölkerung deutschen Interessen schadet. Auch vermeintlich globalisierungskritische Äußerungen von Akteuren des Flügels enthalten in moderner Ausprägung einen antisemitischen Kern. So werden komplexe gesellschaftliche Umbrüche unter Rekurs auf antisemitische Chiffren verschwörungstheoretisch auf das verdeckte Handeln finanzkapitalistischer Eliten zurückgeführt.“</p>
<span class="absatzRechts">169</span><p class="absatzLinks">Vgl. Verfassungsschutzbericht des Bundes, 2019, S. 84 ff.</p>
<span class="absatzRechts">170</span><p class="absatzLinks">Zusammenfassend lässt sich somit im Wege der Gesamtschau feststellen, dass sich im maßgeblichen Zeitpunkt hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen des Flügels insbesondere aus der fachlichen Einschätzung des Bundesverfassungsschutzamtes sowie aus den Verlautbarungen des Flügels und der Erstunterzeichner der „Erfurter Resolution“ und damit der führenden Repräsentanten des Flügels entnehmen lassen.</p>
<span class="absatzRechts">171</span><p class="absatzLinks">Der Kläger war im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) WaffG auch Mitglied des Flügels.</p>
<span class="absatzRechts">172</span><p class="absatzLinks">Nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) WaffG in der Fassung vom 20.02.2020 begründet bereits die bloße Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung die Regelvermutung der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit. Anders als nach der Vorgängerregelung bedarf es nach der aktuellen Gesetzeslage über die Mitgliedschaft hinaus keiner nachweislichen Erkenntnisse mehr über eine darüberhinausgehende individuelle verfassungsfeindliche Betätigung der Betroffenen. Ein aktiver Förderungsbeitrag in der Vereinigung ist nicht mehr nötig; es genügt bereits die (passive) Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung, da sie eine persönliche Bindung und Identifizierung des Mitglieds mit der Vereinigung ausdrückt.</p>
<span class="absatzRechts">173</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Papsthart</em>, in: Steindorf, Waffenrecht, 11. Aufl. 2022, Rn. 54; <em>Heller/Soschinka/Rabe</em>, in: dieselben, Waffenrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 770a; <em>Gade</em>, in: derselbe, Waffengesetz, 3. Aufl. 2022, Rn. 29a ff.; <em>Pießkalla</em>, NJOZ 2020, 993 (994).</p>
<span class="absatzRechts">174</span><p class="absatzLinks">Dies ist auch sachgerecht, weil die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung typischerweise einschließt, dass diese Person nachhaltig die verfassungsfeindlichen Ziele der Vereinigung teilt, also die Ablehnung der Grundsätze der Verfassungsordnung zum Ausdruck bringt. Die mitgliedschaftliche Einbindung in die Vereinigung ist dazu sogar eher gewichtiger aussagekräftig als eine bloße Unterstützung von außen und daher zumindest ebenso geeignet, Zweifel daran zu begründen, dass eine Person mit Waffen verantwortungsvoll umgeht.</p>
<span class="absatzRechts">175</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 19/15875, S. 36.</p>
<span class="absatzRechts">176</span><p class="absatzLinks">Diese Verschärfung des Waffenrechts ist getragen von dem gesetzgeberischen Willen, extremistische Umtriebe frühzeitig zu erkennen und entsprechende Verfahren einzuleiten. Der Mord an Walter Lübcke zeigt, dass Personen mit extremistischer Gesinnung nicht erst dann einer waffenrechtlichen Überprüfung unterzogen werden dürfen, wenn sie ihre Gesinnung umsetzen, sondern schon wegen dieser Gesinnung selbst. Das gilt in besonderem Maße für den Bereich des Rechtsextremismus. Menschenverachtung, ein hohes Aggressionspotential und die Ablehnung des demokratischen Rechtsstaates und seiner Repräsentanten sind definitorische Merkmale des Rechtsextremismus. Rechtsextremistisches Gedankengut ist bereits als solches gefährlich und muss deswegen zu einer Infragestellung der Zuverlässigkeit eines Erlaubnisträgers führen.</p>
<span class="absatzRechts">177</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 19/30234, S. 5.</p>
<span class="absatzRechts">178</span><p class="absatzLinks">Dabei leitet sich der Begriff der Mitgliedschaft im waffenrechtlichen Sinne nicht von einer zivilrechtlichen Mitgliedschaft im Sinne des § 38 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab, zumal viele verfassungsfeindliche Vereinigungen nicht als juristische Person (insbesondere als eingetragener Verein, „e.V.“) oder als nichteingetragener Verein konstituiert sind bzw. sein werden. Es genügt vielmehr ein Bekenntnis der Zugehörigkeit und eine Zweckförderung durch aktives Sich-Einbringen oder Zuwendung von Geldmitteln vergleichbar einer aktiven oder fördernden Mitgliedschaft.</p>
<span class="absatzRechts">179</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Papsthart</em>, in: Steindorf, Waffenrecht, 11. Aufl. 2022, Rn. 54.</p>
<span class="absatzRechts">180</span><p class="absatzLinks">Gemessen an diesen Maßstäben war der Kläger im hier maßgeblichen Zeitpunkt Mitglied des Flügels. Indem der Kläger jedenfalls – unstrittig – die „Erfurter Resolution“ – mit der Unterüberschrift „derfluegel.de“ – unterzeichnete, bekannte er sich zum Flügel über die Zeit seiner Gründung hinaus nach außen hin erkennbar als zugehörig. Die Unterzeichnenden wollten die AfD als „Bewegung unseres Volkes“ gegen „Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit usf.“ verstanden wissen. Sie sahen in der AfD eine „Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands“. Jedes AfD-Mitglied, „das diese Resolution unterstützt“, wurde zur Unterschrift aufgefordert. Ziel war „die Sammlung aller auf eine echte Alternative zu den bestehenden Parteien ausgerichteten Kräfte innerhalb der AfD.“ Hierzu wurden Mitglieder der AfD aufgefordert, ihre Zustimmung zur Resolution unter anderem per Post an Björn Höcke, Landessprecher AfD Thüringen, M. straße 00, 00000 N. , oder per Mail an: „Bezugsquelle wurde entfernt“ zu versenden. Dem Unterschriftsfeld wurde vorangestellt: „Hiermit unterzeichne ich die Erfurter Resolution der AfD, deren Geist und Wortlaut ich zustimme.“ Auf seiner – mittlerweile gelöschten – Homepage veröffentlichte der Flügel Unterzeichnerlisten der einzelnen Bundesländer. Für das Land Nordrhein-Westfalen wurde neben 58 weiteren Unterzeichnern auch der Kläger öffentlich angeführt.</p>
<span class="absatzRechts">181</span><p class="absatzLinks">Dabei kann dahinstehen, aus welchen Motiven der Kläger die „Erfurter Resolution“ unterzeichnete. Mit der Erweiterung der Vorschrift auf die bloße Mitgliedschaft genügt die mitgliedschaftliche Einbindung in eine verfassungsfeindliche Vereinigung als hinreichender Beleg dafür, dass das Mitglied seinerseits die verfassungsfeindlichen Ziele der Vereinigung teilt. Auf eine individuelle verfassungsfeindliche Bestrebung des Einzelnen kommt es im Rahmen der Zuverlässigkeitsprüfung nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) WaffG – im Gegensatz zu § 5 Abs. 2 Nr. 3 a) WaffG – nicht (mehr) an. Mit dieser Rechtsänderung hat der Gesetzgeber bewusst eine Reflexwirkung in Kauf genommen, wonach aus der bloßen passiven Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung unmittelbar die Regelvermutung der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit folgen soll, ohne dass es für die individuelle Zurechenbarkeit auf subjektive Elemente ankäme. Es soll ausreichend sein, dass Tatsachen die entsprechende Annahme rechtfertigen, d.h. schon der tatsachengegründete Verdacht ist versagungsbegründend (sog. „risikovermeidender Ansatz“).</p>
<span class="absatzRechts">182</span><p class="absatzLinks">Vgl. BT-Drs. 19/15875, S. 36.</p>
<span class="absatzRechts">183</span><p class="absatzLinks">Es sind vorliegend auch keine atypischen Umstände ersichtlich, die geeignet sein könnten, die Regelvermutung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 b) WaffG zu widerlegen. Strafrechtlich und waffenrechtlich beanstandungsfreies Verhalten in der Vergangenheit genügt zur Widerlegung der Vermutung der Unzuverlässigkeit allein nicht.</p>
<span class="absatzRechts">184</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.06.2019 – 6 C 9.18 –, juris, Rn. 34.</p>
<span class="absatzRechts">185</span><p class="absatzLinks">Aber auch im Rahmen der vom Bundesverwaltungsgericht geforderten Einzelfallentscheidung, ob die Regelvermutung der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit widerlegt ist, weil der vom Gesetzgeber typisierend vorausgesetzte Zusammenhang zwischen der relevanten Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen und dem Schutzzweck des Waffengesetzes ausnahmsweise fehlt,</p>
<span class="absatzRechts">186</span><p class="absatzLinks">vgl. BVerwG, Urteil vom 19.06.2019 – 6 C 9.18 –, juris, Rn. 34,</p>
<span class="absatzRechts">187</span><p class="absatzLinks">ergeben sich keine Umstände, die zugunsten des Klägers die Regelvermutung widerlegen. Dies wäre nur bei einer unmissverständlichen Distanzierung des Klägers von dem rechtsextremistischen Gedankengut des Flügels der Fall.</p>
<span class="absatzRechts">188</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.06.2019 – 6 C 9.18 –, juris, Rn. 36.</p>
<span class="absatzRechts">189</span><p class="absatzLinks">Insoweit ist für eine glaubhafte Distanzierung zu verlangen, dass äußerlich feststellbare Umstände vorliegen, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass der Betroffene seine innere Einstellung verändert hat. Das Erfordernis der Veränderung der inneren Einstellung bedingt es, dass der Betroffene in jedem Fall einräumen muss oder zumindest nicht bestreiten darf, in der Vergangenheit den einschlägigen sicherheitsrechtlichen Tatbestand erfüllt zu haben. Ohne Einsicht des Betroffenen in die Unrichtigkeit des ihm vorgeworfenen Handelns hat die Ankündigung einer Verhaltensänderung keine glaubwürdige Grundlage</p>
<span class="absatzRechts">190</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG München, Urteil vom 21.05.2019 – M 7 K 17.2172 –, juris, Rn. 40; VG Greifswald, Urteil vom 27.01.2020 – 6 A 1935/18 –, juris, Rn. 29.</p>
<span class="absatzRechts">191</span><p class="absatzLinks">Eine solche Distanzierung ist weder vom Kläger vorgetragen worden noch kann sie durch das Gericht erkannt werden. Im Gegenteil, der Kläger unterzeichnete – unstrittig – im Oktober 2018 den „Stuttgarter Aufruf“. Der Kammer erscheint es insoweit zwar nicht unplausibel, dass der Kläger mit seiner Unterzeichnung des „Stuttgarter Aufrufs“ in erster Linie ein Zeichen gegen die Einleitung von Ordnungs- und Ausschlussverfahren in der AfD setzen wollte, wie er durch seinen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vortragen ließ. Gleichwohl werden in dem „Stuttgarter Aufruf“ die Forderungen des Flügels aus der „Erfurter Resolution“ im Wesentlichen wiederholt. Auch die Unterzeichner des „Stuttgarter Aufrufs“ verstehen sich als „demokratischer Widerstand unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit)“. Die AfD wird als Widerstandsbewegung „gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands“ gesehen. Die Mitglieder der AfD, „die diese Erklärung unterstütz[en]“, werden zur Unterschrift aufgefordert. Ziel ist abermals „die Sammlung aller auf eine echte Alternative zu den bestehenden Parteien ausgerichteten Kräfte innerhalb der AfD“. 9 von 18 Erstunterzeichnern des „Stuttgarter Aufrufs“ unterzeichneten bereits die „Erfurter Resolution“ (Dr. D. C. , T. S. , D1. X. , S1. L. , Dr. C1. H. , U1. B. Q. , U2. H1. , E. N1. , C2. O. , D2. I. ). Von daher teilt die Kammer die Einschätzung des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, dass die Unterzeichner des „Stuttgarter Aufrufs“ jedenfalls zu weiten Teilen dem Flügel angehören (Bl. 51 des Verwaltungsvorgangs).</p>
<span class="absatzRechts">192</span><p class="absatzLinks">Aus den vorgenannten Gründen sind die Unterzeichnungen der „Erfurter Resolution“ und des „Stuttgarter Aufrufs“ durch den Kläger auch geeignet, eine waffenrechtlich relevante Unterstützung des Flügels als verfassungsfeindliche Vereinigung nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 c) WaffG zu begründen.</p>
<span class="absatzRechts">193</span><p class="absatzLinks">Es führen nicht nur solche Aktivitäten zur Regelunzuverlässigkeit gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 c) WaffG, die die Bereitschaft erkennen lassen, die Waffe zukünftig zum Kampf gegen die verfassungsmäßige Ordnung einzusetzen. Der Regelung liegt die Annahme des Gesetzgebers zugrunde, dass die aktive Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen die – im Einzelfall widerlegbare – Prognose eines waffenrechtlich relevanten Sicherheitsrisikos rechtfertigt, ohne dass darüber hinaus noch ein konkreter Bezug zum Einsatz von Waffen erforderlich ist.</p>
<span class="absatzRechts">194</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.06.2019 – 6 C 9.18 –, juris, Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">195</span><p class="absatzLinks">Ob ein Mitglied verfassungswidrige Bestrebungen einer Vereinigung im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 3 c) WaffG unterstützt (hat), ist danach zu beurteilen, ob die Unterstützung zur bewussten Förderung der Vereinigung in Kenntnis und einer gewissen Billigung ihrer Ziele und Zwecke stattfindet.</p>
<span class="absatzRechts">196</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Papsthart</em>, in: Steindorf, Waffenrecht, 11. Aufl. 2022, Rn. 54.</p>
<span class="absatzRechts">197</span><p class="absatzLinks">Nicht ausreichend ist lediglich das schlichte Sympathisieren mit einer Vereinigung.</p>
<span class="absatzRechts">198</span><p class="absatzLinks">Vgl. <em>Heller/Soschinka/Rabe</em>, in: dieselben, Waffenrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 771a; <em>Gade</em>, in: derselbe, Waffengesetz, 3. Aufl. 2022, Rn. 29 f.</p>
<span class="absatzRechts">199</span><p class="absatzLinks">Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen relevanten Unterstützungshandlungen und lediglich untergeordneten Aktivitäten ist auch nach der Umstrukturierung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG das Kriterium der Außenwirkung der konkreten Betätigung. Dazu zählen jedenfalls konkrete Betätigungen, durch die die Existenz der Vereinigung gesichert wird. Von einer Betätigung in Form des Unterstützens ist somit jedenfalls dann auszugehen, wenn jemand innerhalb der Vereinigung oder für die Vereinigung nach außen erkennbar Funktionen wahrnimmt und dadurch in der Öffentlichkeit zu erkennen gibt, dass er hinter den verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Vereinigung steht und diese mit tragen will. Dies ist beispielsweise bei Personen der Fall, die für die Vereinigung bei deren Veranstaltungen Aufgaben wahrnehmen, sei es als Veranstaltungsleiter oder als Redner. Aber auch innerorganisatorische Betätigungen kommen in Betracht, etwa wenn das Mitglied Technik zur Verfügung stellt, sich um die Finanzen kümmert, Plakate oder Flugblätter gestaltet, Werbekampagnen organisiert usw. Bei niederschwelligen Aktivitäten spielt auch die Nachhaltigkeit eine Rolle. Wer beispielsweise nicht nur einmalig, sondern des Öfteren wiederholt an Veranstaltungen der Vereinigung teilnimmt, gibt ebenfalls nach außen zu erkennen, dass er hinter den Zielen der Vereinigung steht. Auch damit unterstützt er die Vereinigung, denn je mehr Mitglieder und sonstige Interessenten an einer Veranstaltung der Vereinigung teilnehmen, desto mehr Gewicht kommt ihr in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit im Rahmen der politischen Willensbildung zu.</p>
<span class="absatzRechts">200</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG Sachsen, Urteil vom 16.03.2018 – 3 A 556/17 –, juris, Rn. 52; vgl. zur Stellung in einer Partei BVerwG, Urteil vom 19.06.2019 – 6 C 9.18 – juris, Rn. 29 ff.</p>
<span class="absatzRechts">201</span><p class="absatzLinks">Handelt es sich bei der Vereinigung – wie dem Flügel – um eine Teilorganisation einer Partei, die in erster Linie dazu aufruft, durch Unterzeichnung einer Resolution ihre Forderungen aktiv zu „unterstützen“ (s.o.), liegt folgerichtig ein Unterstützen bereits dann vor, wenn ein Mitglied der Partei dem Aufruf folgt und die Forderungen durch seine Unterschrift – vergleichbar mit der Unterzeichnung einer Petition – unterstützt. Dies wird umso deutlicher, als der Flügel – wie oben dargelegt – zur Unterstützung der „Erfurter Resolution“ bei den Mitgliedern der AfD offen um ihre „Zustimmung“ und „Unterstützung“ warb.</p>
<span class="absatzRechts">202</span><p class="absatzLinks">Darüber hinaus kann dahinstehen, inwieweit die Anordnung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids aufgrund Zeitablaufs gegenstandslos geworden ist, denn jedenfalls ist die Anordnung in rechtmäßiger Weise ergangen: Die Aufforderung, die in den Waffenbesitzkarten eingetragenen Waffen bis zum 31.05.2021 unbrauchbar zu machen, zur Vernichtung bei der Kreispolizeibehörde T. abzugeben oder einem Berechtigten zu überlassen und hierüber Nachweis zu führen, beruht auf § 46 Abs. 2 S. 1 WaffG.</p>
<span class="absatzRechts">203</span><p class="absatzLinks">Die Erhebung einer Gebühr in Höhe von insgesamt 205,- Euro (Ziffer 3 des Bescheids) ist nicht zu beanstanden. Gemäß § 50 Abs. 1 WaffG werden für Amtshandlungen nach diesem Gesetz Kosten (Gebühren und Auslagen) erhoben. Nach § 2 Abs. 1 Gebührengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (GebG NRW) bestimmen sich die Gebühren für diese Amtshandlung nach der Allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung (AVerwGebO). Bedenken gegen die Richtigkeit der Festsetzung sind nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.</p>
<span class="absatzRechts">204</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">205</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.</p>
<span class="absatzRechts">206</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">207</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">208</span><ul class="absatzLinks"><li><span class="absatzRechts">209</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">210</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">211</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">212</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
</li>
<li><span class="absatzRechts">213</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
</li>
</ul>
<span class="absatzRechts">214</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.</p>
<span class="absatzRechts">215</span><p class="absatzLinks">Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.</p>
<span class="absatzRechts">216</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">217</span><p class="absatzLinks">Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">218</span><p class="absatzLinks">Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
<span class="absatzRechts">219</span><p class="absatzLinks"><strong>Beschluss</strong></p>
<span class="absatzRechts">220</span><p class="absatzLinks">Der Wert des Streitgegenstandes wird auf</p>
<span class="absatzRechts">221</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">5.955,00 Euro</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">222</span><p class="absatzLinks">festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">223</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">224</span><p class="absatzLinks">Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für den Kläger ist es angemessen, den Streitwert unter Berücksichtigung von Ziffer 50.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der aktuellen Fassung auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Für die Waffenbesitzkarte ist insoweit der Auffangwert in Höhe von 5.000,- Euro (inklusive einer Waffe) zuzüglich 750,- Euro je weitere Waffe anzusetzen. Hinzu kommt die erhobene Verwaltungsgebühr in Höhe von 205,- Euro.</p>
<span class="absatzRechts">225</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">226</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">227</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">228</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">229</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">230</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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346,588 | vg-gelsenkirchen-2022-09-08-5-k-116320 | {
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<p>Die Klage wird abgewiesen.</p>
<p>Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.</p>
<p>Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Veranlagung der Grundsteuer durch die Beklagte für das Jahr 2020.</p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Kläger sind seit dem 17. April 2009 Miteigentümer des Grundstücks mit der postalischen Bezeichnung C.---------straße xx in C1. (Gemarkung B. , Flur x, Flurstück xx). Mit Bescheid vom 10. Juli 2009 stellte das Finanzamt C1. -Mitte den Einheitswert im Wege der Zurechnungsfortschreibung in Höhe von 25.769,00 € fest. Unter Zugrundelegung dieses Einheitswertes setzte das Finanzamt mit Bescheid vom selben Tage den Grundsteuermessbetrag in Höhe von 67,00 € fest.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Mit Urteil vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/14, 1 BvL 1/15,1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12 – erklärte das Bundesverfassungsgericht die §§ 19 bis 23, 27, 76, 79 Absatz 5 sowie § 93 Absatz 1 Satz 2 des Bewertungsgesetzes in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 Satz 1 und 3 des Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes in der Fassung des Artikels 2 des Gesetzes vom 22. Juli 1970 (BGBl. I S. 1118), soweit sie bebaute Grundstücke außerhalb des Bereichs der Land- und Forstwirtschaft und außerhalb des in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiets betreffen, jedenfalls seit dem 1. Januar 2002 für unvereinbar mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG). Dem Gesetzgeber setzte das Bundesverfassungsgericht eine Frist zur Neuregelung spätestens bis zum 31. Dezember 2019. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen die als unvereinbar mit Artikel 3 Absatz 1 GG festgestellten Regeln über die Einheitsbewertung weiter angewandt werden. Nach Verkündung einer Neuregelung dürfen die beanstandeten Regelungen für weitere fünf Jahre ab der Verkündung, längstens aber bis zum 31. Dezember 2024, angewandt werden. Für Kalenderjahre nach Ablauf der Fortgeltungsfristen dürfen auch auf bestandskräftige Bescheide, die auf den als verfassungswidrig festgestellten Bestimmungen des Bewertungsgesetzes beruhen, keine Belastungen mehr gestützt werden.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Das Gesetz zur Reform des Grundsteuer- und Bewertungsrechts (Grundsteuer-Reformgesetz – GrStRefG) vom 26. November 2019 wurde am 2. Dezember 2019 im Bundesgesetzblatt verkündet (BGBl. I, 1794).</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Mit Bescheid vom 24. Januar 2020 setzte die Beklagte für das Grundstück der Kläger auf der Basis des Grundsteuermessbetrags von 67,00 € und eines Hebesatzes von 645 Prozent die Grundsteuer für das Jahr 2020 in Höhe von 432,15 € fest.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben vom 28. Januar 2020 legten die Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 24. Januar 2020 ein. Zur Begründung trugen sie vor, der Bescheid sei nichtig, da es an einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage fehle. Das Grundsteuergesetz sei mit Ablauf des 31. Dezember 2019 unwirksam geworden. Das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber in seinem Urteil vom 10. April 2018 aufgegeben, bis zum 31. Dezember 2019 eine (verfassungsgemäße) Neuregelung über die von ihm beanstandeten Bewertungsvorschriften zu schaffen; andernfalls dürften diese Vorschriften nicht mehr angewandt werden. Dies sei dem Gesetzgeber nicht gelungen. Auch die neuen §§ 250 ff. BewG 2019 seien verfassungswidrig, da sie aufgrund der in Bezug auf bebaute Grundstücke stark typisierenden wertbildenden Faktoren zu erheblichen Verzerrungen zwischen Grundsteuer- und Verkehrswert und einer systematischen Unterbewertung hochwertiger Immobilien führten. Diese Typisierung sei mit dem vom Gesetzgeber gewählten Belastungsgrund einer am Verkehrswert orientierten Sollertragssteuer nicht zu vereinbaren. Der Gesetzgeber habe den Belastungsgrund insofern nicht erkennbar und folgerichtig umgesetzt und sei damit auch nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nachgekommen. Damit sei mit Ablauf des 31. Dezember 2019 jegliche Ermächtigungsgrundlage für die Erhebung der Grundsteuer entfallen und der Grundsteuerbescheid der Beklagten daher rechtswidrig.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Mit Widerspruchsbescheid vom 4. März 2020, zugestellt am 5. März 2020, wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Gemeinden seien gemäß §§ 185, 351 der Abgabenordnung (AO) an den Grundsteuermessbescheid gebunden und hätten kein Prüfungsrecht hinsichtlich der Grundlagenfestsetzungen. Einwände gegen die Grundlagenfestsetzungen des Finanzamtes seien ausschließlich gegen den Grundsteuermessbescheid beim zuständigen Finanzamt zu erheben. Die Gemeinde sei gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO erst nach Aufhebung oder Änderung des Grundsteuermessbescheides verpflichtet, den Grundsteuerbescheid aufzuheben oder zu ändern.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Kläger haben am 24. März 2020 Klage erhoben.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholen sie ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren und tragen vertiefend vor: Die Klage sei zulässig. Der Verwaltungsrechtsweg sei eröffnet. Die Bestandskraft der Bescheide vom 10. Juli 2009 stehe außer Frage, aber trotz der Rechtswirkung des § 175 AO seien die Kläger nicht zunächst darauf zu verweisen, bei der Finanzverwaltung um Aufhebung der fraglichen Bescheide nachzusuchen. Denn das Bundesverfassungsgericht habe mit Gesetzeskraft ausgeführt, dass die Regeln über die Einheitsbewertung, also die Einheitswertbescheide, und damit auch die darauf aufbauenden Messbetragsbescheide nicht mehr angewandt werden, wenn der Gesetzgeber es nicht vermocht habe, ein (verfassungsgemäßes) neues Recht zu schaffen. Dies sei indes misslungen. Die Klage sei auch begründet. Der Grundsteuerbescheid sei ohne taugliche Ermächtigungsgrundlage erlassen worden, da seit dem 1. Januar 2020 kein rechtmäßiger Einheitswert für die Immobilie feststellbar sei. Das Grundsteuerreformgesetz sei verfassungswidrig und damit nichtig. Dies habe zur Folge, dass seit dem 1. Januar 2020 keine Grundsteuer mehr erhoben werden dürfe. Die Kläger stützen sich zur Untermauerung ihrer Rechtsauffassung unter anderem auf Stellungnahmen von Herrn Prof. Dr. H. L. und Frau Prof. Dr. K. I. im Gesetzgebungsverfahren sowie auf eine Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 17. Oktober 2019.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Die Kläger beantragen,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2020 über die Grundsteuer 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. März 2020 aufzuheben,</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Zur Begründung wiederholt sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und trägt ergänzend vor, das neue Bewertungsrecht sei ohnehin erst seit dem 1. Januar 2022 anzuwenden. Maßgeblich sei aber darauf abzustellen, dass es sich bei dem mit dem Grundsteuer-Reformgesetz neu geschaffenen Bewertungsrecht um geltendes und die Beklagte bindendes Recht handele. Ein Prüfungs- und Verwerfungsrecht förmlicher Gesetze stehe der Beklagten nicht zu.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 25. Februar 2022 und vom 1. März 2022 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Entscheidungsgründe:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2020 ist rechtmäßig, soweit darin die allein streitgegenständliche Grundsteuer in Höhe von 432,15 € festgesetzt ist, und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">1. Ermächtigungsgrundlage für die Festsetzung der Grundsteuer ist § 27 GrStG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 AO, § 1 Abs. 2 Nr. 4 AO. Der Grundsteuerbescheid beruht auf wirksamen Bemessungsgrundlagen auf Basis der bestandskräftigen und bindenden Grundlagenbescheide des Finanzamtes C1. -Mitte vom 10. Juli 2009 (a). Das Bundesverfassungsgericht hat die Wirkung der Fortgeltungsanordnung zudem nicht unter die Bedingung gestellt, dass das vom Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2019 neu zu schaffende Bewertungsrecht auch materiell verfassungsgemäß sein muss (b).</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">a) Die Grundlagenbescheide (Einheitswert- und Grundsteuermessbescheid) vom 10. Juli 2009 sind bestandkräftig und entfalten gemäß § 351 Abs. 2 AO Bindungswirkung. Danach können Entscheidungen in einem Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) nur durch Anfechtung dieses Bescheids und nicht auch durch Anfechtung des Folgebescheids angegriffen werden.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Das Verfahren zur Festsetzung der Grundsteuer vollzieht sich in drei Stufen. Auf der ersten Stufe stellt das Finanzamt im Einheitswertbescheid den Einheitswert für die wirtschaftliche Einheit des Grundbesitzes fest (§ 180 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 19 Abs. 1 BewG). Auf der zweiten Stufe setzt das Finanzamt im Grundsteuermessbescheid den Steuermessbetrag durch Multiplikation der Steuermesszahl mit dem Einheitswert fest (§ 184 Abs. 1 AO, § 13 Abs. 1 GrStG). Auf der dritten Stufe schließlich setzt die Gemeinde die Grundsteuer fest, wobei sie den Grundsteuermessbetrag mit ihrem Hebesatz multipliziert (§ 27 Abs. 1 GrStG).</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">BFH, Urteil vom 11. November 2009 – II R 14/08 –, juris Rn. 15.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Etwaige Einwände gegen die Rechtmäßigkeit eines Grundlagenbescheides kann der Steuerpflichtige nach der Abgabenordnung ausschließlich gegenüber dem Finanzamt und gegebenenfalls ausschließlich in einem finanzgerichtlichen Verfahren geltend machen; denn die Festsetzungen des Finanzamtes im Einheitswert- und Grundsteuermessbescheid (als sog. Grundlagenbescheide) können nicht durch Anfechtung des Grundsteuerbescheides der Gemeinde (als sog. Folgebescheid) angegriffen werden (§ 351 Abs. 2 AO). Wird ein Grundlagenbescheid – etwa infolge eines Einspruchs oder eines finanzgerichtlichen Verfahrens - aufgehoben oder geändert, ist die Gemeinde nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO von Gesetzes wegen dazu angehalten, auch ihren Grundsteuerbescheid entsprechend anzupassen.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 15. Juli 2011 – 5 K 3140/10 –, juris Rn. 60.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Gegen den Grundsteuerbescheid kann der Steuerpflichtige nur einwenden, dass aus dem Grundsteuermessbescheid nicht die richtigen Konsequenzen vor allem hinsichtlich der persönlichen oder sachlichen Steuerpflicht gezogen worden seien, dass der Hebesatz unrichtig oder ungültig oder die Steuer verjährt sei. Wird geltend gemacht, dass eine dem Grundlagenbescheid zugrunde gelegte Gesetzesvorschrift verfassungswidrig sei, so muss deswegen der Grundlagenbescheid angegriffen werden. Denn im Rahmen des Erlasses des Grundsteuerbescheides ist die Gemeinde an den Inhalt der Grundlagenbescheide gebunden (§ 13 Abs. 1, § 15, § 16 Abs. 1, § 25 Abs. 1 GrStG i. V. m. § 182 Abs. 1, § 184 Abs. 1 AO). Sie hat folglich hinsichtlich des Inhalts des durch das Finanzamt erlassenen Einheitswertbescheides und des Grundsteuermessbescheides weder eine Prüfungspflicht noch ein Prüfungsrecht. Die Gemeinde errechnet lediglich die konkrete Steuerschuld durch Anwendung des für das Gemeindegebiet geltenden Steuerhebesatzes auf den im Grundsteuermessbescheid ausgewiesenen Messbetrag (§ 25 Abs. 1, § 27 Abs. 1 GrStG).</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 18. Februar 2009 – 1 BvR 1334/07 – , juris Rn. 7; Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand: Februar 2021, § 351 AO Rn. 49.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Durch das gestufte Verfahren der Grundsteuerfestsetzung entsteht dem Steuerpflichtigen auch kein unzumutbarer Nachteil. Dieser hat zum einen den Rechtsbehelf des Einspruchs gegen den Grundlagenbescheid und kann zum anderen auch nachträglich dessen Aufhebung beantragen. Wird daraufhin der Grundsteuermessbescheid nachträglich geändert, so ist nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO auch der Grundsteuerbescheid entsprechend zu ändern. Schließlich kann der Steuerpflichtige in Fällen unbilliger Härte die Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheids beim Finanzamt nach § 361 Abs. 2 AO beantragen; wird dem stattgegeben, ist nach § 361 Abs. 3 AO auch die Vollziehung des Folgebescheids auszusetzen.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Ansbach, Urteil vom 12. April 2006 – AN 11 K 06.00355 –, juris Rn. 11.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Die gegen den Folgebescheid gerichtete Klage hat hier auch nicht deswegen in der Sache Erfolg, weil mit ihr das Fehlen eines wirksamen Grundlagenbescheids geltend gemacht wird.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Vgl. BFH, Urteil vom 9. November 2005 – I R 10/05 –, juris Rn. 15, wonach eine gegen einen Folgebescheid gerichtete Klage in einem solchen Fall allgemein für zulässig erachtet wird.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14 u.a. – mit Gesetzeskraft bestimmt (vgl. Tenor zu 3, Rn. 179), dass für Kalenderjahre nach Ablauf der Fortgeltungsfristen (also grundsätzlich ab dem 1. Januar 2025) auch auf bestandskräftige Bescheide, die auf den als verfassungswidrig festgestellten Bestimmungen des Bewertungsgesetztes beruhen, keine Belastungen mehr gestützt werden dürfen. Damit hat das Bundesverfassungsgericht die Bindungswirkung der Grundlagenbescheide aufgehoben und den hierauf beruhenden Grundsteuerbescheiden der Gemeinden die Grundlage entzogen. Diese Rechtsfolge greift jedoch gerade nicht – wie von den Klägern wohl angenommen – bereits ab dem 1. Januar 2020. Die Bestandskraft und Bindungswirkung der Grundlagenbescheide vom 10. Juli 2009 ist für den Zeitpunkt der Festsetzung der Grundsteuer mit Bescheid vom 24. Januar 2020 nicht aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aufgehoben gewesen. Die Fortgeltungsanordnung und damit auch die Bestandskraft der Grundlagenbescheide gilt bis zum 31. Dezember 2024.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">b) Die Wirkung der Fortgeltungsanordnung – und damit die Aufhebung der Bestandskraft der Grundlagenbescheide <span style="text-decoration:underline">erst nach</span> dem 31. Dezember 2024 – ist auch nicht durch die etwaige Verfassungswidrigkeit der neuen Bewertungsvorschriften aufgehoben. Das Bundesverfassungsgericht hat die Wirkung der Fortgeltungsanordnung (Tenor zu 2, 3; Rn. 169, 179) nicht unter die Bedingung gestellt, dass das vom Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2019 neu zu schaffende Bewertungsrecht auch materiell verfassungsgemäß sein muss. Auf die Verfassungsmäßigkeit der §§ 250 ff. BewG kommt es nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Für eine derartige – von den Klägern vorgetragene – Bedingung bestehen bereits dem Wortlaut nach keine Anhaltspunkte. So hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich entschieden, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, eine Neuregelung spätestens bis zum 31. Dezember 2019 zu treffen und dass die beanstandeten Regelungen bis zu diesem Zeitpunkt sowie nach Verkündung einer Neuregelung für weitere fünf Jahre <span style="text-decoration:underline">ab Verkündung</span>, längstens aber bis zum 31. Dezember 2024 angewandt werden dürfen (Tenor zu 2, Rn. 169). Das Bundesverfassungsgericht hat dabei nicht festgehalten, dass die Neuregelung auch materiell verfassungsgemäß sein muss. Die wörtliche Anknüpfung an die Verkündung legt vielmehr nahe, dass es dem Bundesverfassungsgericht gerade nur auf eine formell verfassungsgemäß zustande gekommene Neuregelung ankam.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Eine Anknüpfung der Fortgeltungsanordnung und der Bestandskraft an eine materielle Verfassungsgemäßheit der Neuregelung des Bewertungsrechts würde auch den Sinn und Zweck der Fortgeltungsanordnung untergraben und zu erheblichen rechtlichen Unsicherheiten führen. So hat das Bundesverfassungsgericht die Fortgeltung der in der Vergangenheit festgestellten Einheitswerte „aus besonderem Grund, namentlich im Interesse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs“ (Rn. 170) und unter Verweis auf den enormen Verwaltungsauffand angeordnet. Ferner hat es zur Ermöglichung neuer Einheitswertbescheide und der weiteren Erhebung der Grundsteuer aufgrund bestandskräftiger Bescheide die Fortgeltung der Bewertungsregeln auch für die Zukunft angeordnet, „weil ansonsten die ernsthafte Gefahr bestünde, dass viele Gemeinden ohne die Einnahmen aus der Grundsteuer in gravierende Haushaltsprobleme gerieten“ (Rn. 173). Die zweite Fortgeltungsfrist bis zum 31. Dezember 2024 hat das Bundesverfassungsgericht hingegen unter Bezugnahme auf einen „außergewöhnlichen Umsetzungsaufwand im Hinblick auf Zeit und Personal“ (Rn. 178) angeordnet.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Diese tragenden Erwägungen bestehen unabhängig von der materiellen Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung fort. Es ist nicht ersichtlich ist, dass das Bundesverfassungsgericht etwaige schwerwiegende Folgen für die Gemeinden, die aus der materiellen Verfassungswidrigkeit der neuen Bewertungsregeln nach klägerischem Vortrag folgen würden, in Kauf genommen hätte, ohne dies ausdrücklich zu erwähnen und zu begründen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber trotz Kenntnis der Schwierigkeit der Umsetzung und damit des Risikos einer verfassungswidrigen Neuregelung einen umfassenden Umsetzungsspielraum bei der Neuregelung des Bewertungsrechts eingeräumt hat. Die klägerische Interpretation der Fortgeltungsanordnung widerspricht auch dem Grundsatz der Gewaltenteilung, da danach die Gemeinden vor Erhebung der Grundsteuer nach Verkündung des neuen Bewertungsgesetzes entgegen dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts selbst verpflichtet wären, die Verfassungsmäßigkeit der neuen Bewertungsregeln zu beurteilen. Ferner wiederspricht die Rechtsauffassung der Kläger auch der Wertung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO, wonach eine Steuer vorläufig festgesetzt werden kann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt hat und der Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet ist. Schließlich widerspricht die Ansicht der Kläger dem Konzept der Bindungswirkung von Grundlagenbescheiden im Steuerrecht. Nach dem klägerischen Vortrag wären im Kern wieder Einwände gegen Grundlagenbescheide (bzw. die festgestellte Verfassungswidrigkeit ihrer gesetzlichen Grundlagen im Bewertungsgesetz) Prüfungsmaßstab im Verfahren gegen den Folgebescheid, und zwar aufgrund der vermeintlichen Verfassungswidrigkeit erst künftig ab 2022 anzuwendender neuer Bewertungsregeln. Dies überzeugt nicht.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Entscheidend ist jedoch vor allem, dass das Bundesverfassungsgericht als Ausgleich „in Anbetracht der außergewöhnlich langen Fortgeltungsanordnung“ nur für Kalenderjahre nach dem 31. Dezember 2024 die Bestandskraft der Grundlagenbescheide aufgehoben hat (Rn. 179). Aus dem eindeutigen Wortlaut folgt, dass es für die Bindungswirkung der Grundlagenbescheide entscheidend auf das Zeitmoment unabhängig von der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung ankommt. Für eine Durchbrechung der Bestandskraft entgegen § 79 Abs. 2 BVerfGG bzw. §§ 172 ff. AO und über den eindeutigen Wortlaut der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinaus besteht kein Raum.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">c) Mangels Vorgreiflichkeit der Frage, ob die neuen §§ 250 ff. BewG verfassungsmäßig sind, besteht auch für eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG kein Anlass.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">2. Der Grundsteuerbescheid vom 24. Januar 2020 ist auch sonst formell und materiell rechtmäßig. Die Beklagte hat die Grundsteuer der Höhe nach zutreffend durch die Multiplikation des einschlägigen Hebesatz mit dem mitgeteilten Steuermessbetrag festgesetzt und mit den Klägern die richtigen Adressaten für die Grundsteuerfestsetzung gewählt (§ 10 Abs. 1 GrStG). Sonstige Zweifel an der Rechtmäßigkeit sind nicht ersichtlich und von den Klägern auch ausdrücklich nicht geltend gemacht worden.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, 159 S. 1 VwGO i.V.m. 100 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO). Wegen der Klageabweisung war über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO nicht zu entscheiden.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Beschluss:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">56</span><p class="absatzLinks">Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) auf 432,15 € festgesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">57</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">Rechtsmittelbelehrung:</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">58</span><p class="absatzLinks">Gegen diesen Beschluss findet Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">59</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Über die Beschwerde entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.</p>
<span class="absatzRechts">60</span><p class="absatzLinks">Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.</p>
|
346,538 | ovgnrw-2022-09-08-6-b-83522 | {
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} | 6 B 835/22 | 2022-09-08T00:00:00 | 2022-09-14T10:01:22 | 2022-10-17T11:10:05 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0908.6B835.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Instanzen auf die Wertstufe bis 7.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller verfolgt mit der Beschwerde den Antrag weiter,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig - bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - aufzugeben, das Prüfungsverfahren fortzusetzen und ihn die Prüfung im Modul HS 2.2 wiederholen sowie das Studium fortsetzen zu lassen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">wobei er auf gerichtliche Nachfrage erklärt hat, dass der Antrag auch das Begehren umfasst, zur Fortsetzung des Studiums erneut in das Beamtenverhältnis auf Widerruf berufen zu werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dieser Antrag ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - an die begehrte Regelungsanordnung die besonderen Anforderungen anzulegen sind, die im Fall der Vorwegnahme der Hauptsache maßgeblich sind. Jedenfalls eine endgültige Vorwegnahme - die nur gegeben ist, wenn Anordnungs- und Klageantrag übereinstimmen und die erlassene Regelung nicht unter dem Vorbehalt des Ausgangs des Klageverfahrens steht, die begehrte vorläufige Entscheidung also einer endgültigen gleichkäme - liegt nicht vor. Die begehrte gerichtliche Eilentscheidung nimmt die Hauptsache nicht vollständig irreversibel vorweg, weil dem Antragsteller lediglich eine vorläufige Rechtsposition eingeräumt wird, die ihm abhängig vom Ergebnis des Hauptsacheverfahrens wieder entzogen werden kann. Denn hätte die negative Prüfungsentscheidung endgültig Bestand, weil sie sich im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erwiese, käme dem - infolge ihrer Vorläufigkeit unter den Vorbehalt der Hauptsacheentscheidung gestellten - Ergebnis der Wiederholungsprüfung in Bezug auf die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Laufbahnprüfung keine Rechtswirkung mehr zu. Eine vollständige Vorwegnahme der Hauptsache ist auch nicht in der vorläufigen Fortsetzung der Laufbahnausbildung zu sehen. Diese ist zeitlich beschränkt auf den Zeitraum des Hauptsacheverfahrens und erfolgt unbeschadet einer zwischenzeitlichen Beendigung des Ausbildungsverhältnisses aus anderen Gründen, die - beispielsweise mangels gesundheitlicher Eignung des Antragstellers - weiterhin möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 456/22 -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat auch dann, wenn die besonderen Anforderungen, die im Fall einer Vorwegnahme der Hauptsache gelten, nicht zugrunde gelegt werden, die Voraussetzungen eines sein Begehren stützenden Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Dabei steht in der auch im Streitfall gegebenen Situation einer Kommissaranwärterin oder eines Kommissaranwärters,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">der nach Bekanntgabe des endgültiges Nichtbestehens einer Prüfung deren Wiederholung bzw. Neubewertung und daneben die Fortsetzung der Laufbahnausbildung begehrt, nicht bereits die Regelung des § 22 Abs. 4 BeamtStG i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 1 LVOPol bzw. § 12 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">- vom 21.8.2008, GV. NRW S. 554, zuletzt geändert durch Verordnung vom 18.2.2021, GV. NRW. S. 206, im Folgenden: VAPPol II Bachelor; ebenso § 8 Abs. 3 Satz 2 VAPPol II Bachelor vom 12.5.2022, GV. NRW. S. 736, im Folgenden: VAPPol II Bachelor 2022 -</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">der Gewährung einstweiligen Rechtschutzes gemäß § 123 VwGO entgegen. In der Vergangenheit hat der Senat angenommen, die begehrte (vorläufige) Fortsetzung der Laufbahnausbildung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beamte mit dem endgültigen Nichtbestehen der für die Laufbahn vorgeschriebenen Prüfung gemäß § 22 Abs. 4 BeamtStG kraft Gesetzes aus dem Beamtenverhältnis entlassen sei und eine Fortsetzung der Ausbildung außerhalb des Beamtenverhältnisses nicht in Betracht komme, bzw. die Studierenden gemäß § 22 Abs. 1 und 2 FHGöD, § 4 Abs. 3 VAPPol II Bachelor durch die Ausbildungsbehörde zugewiesen würden und eine solche Zuweisung mit der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht mehr vorliege. Auf die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung und deren Bestandskraft komme es dabei nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 21.2.2018</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">- 6 B 53/18 -, juris Rn. 5 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dieser Rechtsstandpunkt kann im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 - nicht aufrechterhalten werden. Danach wird die pauschale Versagung einstweiligen Rechtsschutzes auf vorläufige Fortsetzung einer polizeilichen Ausbildung innerhalb oder außerhalb eines Beamtenverhältnisses gestützt auf den Eintritt der Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht. Es bestünden - so das Bundesverfassungsgericht - besondere Erfordernisse an die Effektivität des Rechtsschutzes, wenn die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer erheblichen Ausbildungsverzögerung führt. Die dadurch verlorenen Studienjahre stellten für sich genommen schon einen gravierenden Nachteil dar, abgesehen davon, dass bereits in der Ausbildung befindliche Betroffene darüber hinaus gehalten seien, prüfungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet sei. Mit Rücksicht darauf könne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht pauschal gestützt auf die Sperrwirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG ausgeschlossen werden. Wenn dem Entlassenen vorläufiger Rechtsschutz durch einstweilige Anordnung - etwa in Gestalt der vorläufigen Fortsetzung der Ausbildung durch Neubegründung eines Beamtenverhältnisses oder außerhalb eines solchen, der vorläufigen Zulassung zur Wiederholungsprüfung oder der vorläufigen Neubewertung - gewährt werde, bleibe die Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG mit Blick auf das bisherige Beamtenverhältnis an sich unangetastet. Zwar komme es für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung aufgrund der gestuft prüfungs- und beamtenrechtlichen Hauptsache (zunächst Beseitigung der belastenden Prüfungsentscheidung gegebenenfalls in Kombination mit einer Neubewertung oder Wiederholung der Prüfung und sodann Neubegründung eines Widerrufsbeamtenverhältnisses wohl im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruchs) auf die prüfungsrechtlichen Einwendungen an. Bei Gewährung des skizzierten einstweiligen Rechtsschutzes werde die Beendigungswirkung jedoch gerade respektiert. Der einstweilige Rechtsschutz setze zeitlich später an als die Beendigungswirkung und operiere mit dieser, ohne sie aus regelungssystematischer Sicht zu suspendieren.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 -, NVwZ 2020, 1187 = juris Rn. 25 ff.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt ist in einer Konstellation, wie sie im Streitfall vorliegt, im Rahmen der einstweiligen Anordnung vorläufiger Rechtsschutz in geeigneter Form zu gewähren, sofern die prüfungsrechtlichen Einwendungen hierzu Anlass geben.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 458/22 -, juris Rn. 5 ff.; ebenso im Anschluss an das BVerfG Sächs. OVG, Beschluss vom 4.9.2020 - 2 B 333/19 -, juris Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6.5.2021 - 2 MB 29/20 -, NVwZ-RR 2021, 987 = juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.2.2022 - 26 L 2647/21 -, juris Rn. 37.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zumindest im Regelfall und jedenfalls bei Kommissaranwärtern dürfte dies die erneute Berufung in das Beamtenverhältnis umfassen, da die Studierenden gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zu Kommissaranwärtern ernannt werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2. Die prüfungsrechtlichen Einwendungen des Antragstellers geben jedoch keine Veranlassung, im Rahmen der begehrten einstweiligen Anordnung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Diese Einwendungen betreffen die im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ in Form der Aktenbearbeitung zu erbringende Prüfungsleistung, die der Antragsteller auch im Wiederholungsversuch nicht bestanden hat. Zwar gelte sein mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewerteter Erstversuch vom 2.7.2021, so der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid vom 8.3.2022, aufgrund der Allgemeinverfügung vom 16.3.2021 nicht. Die weiteren Versuche des Antragstellers vom 17.9.2021 und 5.11.2021 wurden aber ebenfalls mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewertet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a) Fehl geht der Einwand des Antragstellers, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei in der StudO-BA Teil A nicht vorgesehen, so dass es sie überhaupt nicht gebe und es sich um eine unzulässige Prüfungsleistung handele. Nach der „Studienordnung der Bachelorstudiengänge an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (Studienordnung-Bachelor - StudO-BA) ist die Prüfungsform der Aktenbearbeitung für den Studiengang „Polizeivollzugsdienst“ zugelassen. Diese Studienordnung ist in den Teil A „Allgemeine Regelungen“ (StudO-BA Teil A), der für alle Bachelorstudiengänge geltende Regelungen enthält, sowie in die weiteren Teile B, C, D, E, F und G gegliedert, die ergänzende Regelungen für einzelne Studiengänge enthalten. Im Teil B befinden sich die „Regelungen für den Studiengang Polizeivollzugsdienst (B.A.) Ergänzende Regelungen“, im Folgenden: StudO-BA Teil B. Welche Prüfungsformen zugelassen sind und welche Form von Leistungsnachweisen jeweils erbracht werden müssen, ergibt sich nach § 12 Abs. 6 Satz 1 StudO-BA Teil A aus den Regelungen für den jeweiligen Studiengang als Bestandteil dieser Studienordnung. Im Studiengang Polizeivollzugsdienst können gemäß § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 12 Abs. 1 Modulprüfungen“ Modulprüfungen unbeschadet § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A - mithin in den für alle Studiengänge zugelassenen Prüfungsformen Klausur, Fachgespräch, Hausarbeit, Referat mit mündlichem Vortrag, Seminarleistung, Leistungen der Module der fachpraktischen Studienzeit sowie Projektleistung und - zudem in der Prüfungsform Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B) sowie in den Prüfungsformen Studienarbeit, Gruppengespräch, Posterpräsentation, kollegiale Beratung und Prüfung(en) im Erasmus+ Modul (vgl. § 3 Abs. 1 lit. a), c) bis f) StudO-BA Teil B) abgelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nach § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A ist in einer Klausur eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul schriftlich unter Aufsicht zu bearbeiten (Satz 1). Die Bearbeitungszeit ist in der jeweiligen Modulbeschreibung festgelegt (Satz 2). Sofern im Folgenden nichts anderes geregelt ist, muss die Klausur mindestens drei Zeitstunden betragen, wobei in jedem Studiengang im Rahmen der Modulprüfungen mindestens drei vierstündige Klausuren vorzusehen sind (Satz 3).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Aktenbearbeitung ist nach § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B eine schriftliche Prüfungsform, die unter Aufsicht vorzunehmen ist (Satz 1). Die Bearbeitungszeit beträgt 120 Minuten (Satz 2). Die Studierenden erhalten einen Aktenauszug (Satz 3). Die Aufgabenstellung kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen (Satz 4).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">b) Vor diesem Hintergrund geht auch der Einwand des Antragstellers ins Leere, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei der Prüfungsform der Klausur (§ 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A) zuzuordnen, da nicht anzunehmen sei, dass der Antragsgegner eine unzulässige Prüfungsform gewählt habe. Bei der nach der StudO-BA Teil B im Studiengang Polizeivollzugsdienst zugelassenen Prüfungsform der Aktenbearbeitung handelt es sich bereits nach dem Vorstehenden nicht um einen Unterfall einer Klausur i. S. d. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A, sondern um eine eigenständige Prüfungsform.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat der Prüfungsausschuss nicht nur „Hinweise zu Klausuren“ (zuletzt geändert durch Beschluss vom 22.9.2020), sondern auch „Hinweise zur Aktenbearbeitung“ (Beschluss vom 26.2.2018) verfasst. Schon in Anbetracht dessen ist der Einwand des Antragstellers verfehlt, der Antragsgegner differenziere überhaupt nicht zwischen einer Aktenbearbeitung und einer Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">c) Auch der Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Antragsteller stehe ein weiterer Prüfungsversuch im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ (Aktenbearbeitung) auf der Grundlage der „Jokerregelung“ des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B nicht zu, wird mit dem Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nichts Durchgreifendes entgegengesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 13 Abs. 1 StudO-BA Teil A ist eine Studienleistung bestanden, wenn sie mindestens mit der Note ausreichend (4,0) bzw. mit „bestanden“ bewertet worden ist. Nach § 13 Abs. 2 StudO-BA Teil A sind Studienleistungen in Modulen oder Teilmodulen, die schlechter als ausreichend (4,0) oder mit „nicht bestanden“ bewertet wurden, nicht bestanden und können einmal wiederholt werden, sofern nicht nachfolgend etwas anderes bestimmt ist. Eine Wiederholung bestandener Studienleistungen ist nicht zulässig. Wird in einer Studienleistung auch in der Wiederholung eine Bewertung von mindestens ausreichend (4,0) bzw. „bestanden“ nicht erreicht, ist die Studienleistung endgültig nicht bestanden. Die Fortsetzung des Studiums ist ausgeschlossen. Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 13 Abs. 2: Bestehen und Wiederholen von Modulprüfungen und anderen Studienleistungen“ in der vorliegend anzuwendenden und nach wie vor geltenden Fassung vom 26.8.2020 kann für bis zu zwei Modulprüfungen während des Studiums eine nach dem Modulverteilungsplan im 2. oder 3. Studienjahr zu erbringende Prüfungsleistung nach § 12 Abs. 1 lit. a) (Klausur) oder lit. b) (Fachgespräch) StudO-BA Teil A, die auch in der Wiederholungsprüfung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden (sog. Jokerregelung).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">aa) Hinsichtlich der streitbefangenen - in Form der Aktenbearbeitung zu absolvierenden - Prüfungsleistung liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der „Jokerregelung“ nicht vor. Zwar handelt es sich um eine Prüfung im Modul 2.2 („Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“), die nach dem Studienverlaufsplan des Studienganges Polizeivollzugsdienst für den Einstellungsjahrgang 2019 im zweiten Studienjahr zu erbringen war. Bei der Aktenbearbeitung handelt es sich aber weder um eine Klausur i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A noch um ein Fachgespräch i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil A.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">bb) Entgegen der Auffassung der Beschwerde liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor, wenn der Satzungsgeber im Rahmen einer solchen „Jokerregelung“ nach Prüfungsformen differenziert und nur bei bestimmten Prüfungsformen eine zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit gewährt. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, ihm komme insoweit eine weite - gerichtlich nur beschränkt überprüfbare - Einschätzungsprärogative zu.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 18; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.2.2019 - 2 K 376/18 -, juris Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Satzungsgeber hat die ihm zukommende Einschätzungsprärogative genutzt und sich bewusst für eine Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 entschieden. Bei der Nichtaufnahme der Prüfungsform der Aktenbearbeitung in § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 handelt es sich ersichtlich nicht um ein redaktionelles Versehen des Satzungsgebers.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 konnte einmalig eine nach dem Modulverteilungsplan im Hauptstudium 2 oder 3 zu erbringende fachwissenschaftliche Studienleistung nach Teil A § 12 Abs. 1 und nach Teil B § 3 Abs. 1 zu Teil A § 12 Abs. 1, die auch in der Wiederholung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt waren. Diese zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit wurde somit - allerdings nur einmalig - nicht nur für sämtliche Prüfungsformen des § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A, sondern auch für sämtliche Prüfungsformen des § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 eingeräumt, mithin auch für die hier streitbefangene Prüfungsform der Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020). Diese Regelung hat der Satzungsgeber mit Beschluss vom 14.8.2020 geändert und stattdessen die auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs beschränkte „Jokerregelung“ aufgenommen. Dieses Vorgehen zielte ausweislich der Niederschrift der 184. Sitzung des Senats der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW vom 14.8.2020 und des Protokolls der Sitzung des Fachbereichsrates Polizei vom 16.6.2020 darauf, die im Fachbereich Polizei und im Fachbereich Allgemeine Verwaltung/Rentenver-sicherung bestehenden unterschiedlichen Regelungen bezüglich nicht bestandener Prüfungsleistungen aneinander anzugleichen. Da nur im Studiengang Polizeivollzugsdienst, nicht aber in anderen Studiengängen die Prüfungsform der Aktenbearbeitung zugelassen ist, sollte sich die „Jokerregelung“ nicht mehr auf diese Prüfungsform erstrecken, sondern nur noch auf die für alle Studiengänge vorgesehenen Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Ein tragfähiger Anhaltspunkt dafür, dass der Satzungsgeber sich bei der Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B von willkürlichen Erwägungen hat leiten lassen, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde macht insoweit geltend, die Differenzierung zwischen der Prüfungsform „Klausur“ und der Prüfungsform „Aktenbearbeitung“ sei „de facto willkürlich“. Sie unterschieden sich nicht „von der Bearbeitungsdichte (...), weil regelmäßig eine gutachterliche Überprüfung im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen zu erfolgen“ habe. „Wenn aber die Klausur von der Joker-Regelung umfasst“ sei, dann müsse dies für „die de facto inhaltsgleiche Aktenbearbeitung“ ebenfalls gelten, weil die Anforderungen „identisch“ seien.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ignoriert dabei, dass es sich bei der Aktenbearbeitung nach der StudO-BA Teil B, wie bereits ausgeführt, um eine eigenständige Prüfungsform handelt. Die Regelungen in der StudO-BA verdeutlichen die zwischen den beiden Prüfungsformen gerade in inhaltlicher Hinsicht bestehenden Unterschiede.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">In einer Klausur ist, wie dargestellt, eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul zu bearbeiten (vgl. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A). Grundlage der Aktenbearbeitung ist hingegen ein Aktenauszug, an den die Aufgabenstellung anknüpft (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) Sätze 3 und 4 StudO-BA Teil B). Sie kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen. Dies macht die Praxisbezogenheit der Prüfungsform der Aktenbearbeitung deutlich. Dass gutachterliche Stellungnahmen zur Frage der Rechtmäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen sowohl Gegenstand einer Klausur als auch einer Aktenbearbeitung sein können, rechtfertigt nicht den Schluss, es handele sich bei der Prüfungsform der Aktenbearbeitung um einen Unterfall der Prüfungsform der Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">cc) Hinsichtlich der streitbefangenen Prüfung im Modul HS 2.2 (Aktenbearbeitung) vom 5.11.2021 hat der Antragsgegner auch nicht etwa, wie die Beschwerde anführt, bei dem jeweiligen Prüfling den Eindruck erweckt, dass nicht die Prüfungsform der Aktenbearbeitung, sondern die Prüfungsform der Klausur in Rede steht. Schon mit Blick auf die vorausgegangenen Prüfungsversuche im Modul HS 2.2 ist vielmehr davon auszugehen, dass den Studierenden bewusst war, dass die Prüfung in der Form einer Aktenbearbeitung stattfindet. Nichts anderes folgt daraus, dass die Prüfungsaufgabe mit „Klausur“ überschrieben ist. Denn in Fettdruck und größerer Schrift folgt unmittelbar vor Beginn der Aufgabenstellung die Nennung der Prüfungsform „Aktenbearbeitung im Hauptstudium HS 2.2 in der Fächerkombination Eingriffsrecht und Verkehrsrecht“. Dementsprechend folgen Aktenauszüge, die Grundlage der Aufgabenstellung sind.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch das „Vorblatt für die Prüfungsarbeit“ keine andere Einschätzung. Dies gilt - weshalb weitere Fragen insoweit offenbleiben können - schon deshalb, weil dieses Vorblatt nach dem Vortrag des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren einheitlich für Klausuren und sonstige schriftliche Prüfungen, insbesondere für die Aktenbearbeitung, verwendet wird. Dass diese Praxis den Studierenden, die an der streitbefangenen Prüfung teilgenommen haben, nicht bekannt war, ist abwegig, zumal sie sich bereits im zweiten Studienjahr befunden haben und somit zuvor schon zahlreiche schriftliche Prüfungen absolviert hatten.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Auch der Verweis der Beschwerde auf den „E-Mail-Verkehr eines Studierenden aus Oktober 2021“ verfängt nicht. Der Antragsteller hat den E-Mail-Verkehr erneut nur auszugsweise vorgelegt. Der Antragsgegner hat bereits im erstinstanzlichen Verfahren den vollständigen Kommunikationsverlauf vorgelegt und erläutert, dass die gegenüber einem Studierenden - nicht einmal dem Antragsteller - per E-Mail vom 25.10.2021 erteilte Auskunft auf einem Irrtum beruhte. Der Mitarbeiter des Prüfungsamtes hat, nachdem er den Irrtum erkannt hat, dem Studierenden per E-Mail vom 3.12.2021 unter Hinweis auf § 10 StudO-BA Teil B mitgeteilt, für die Aktenbearbeitung im Modul 2.2 könne „kein Joker“ in Anspruch genommen werden. Dies sei nur bei Klausuren und Fachgesprächen möglich.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">d) Schließlich gibt das Beschwerdevorbringen nichts dafür her, dass der Satzungsgeber mit der Regelung des § 10 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 gegen das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen hat.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 29.7.2015 - 6 C 35.14 -, BVerwGE 152, 330 = juris Rn. 15 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 13.7.2021 - 6 B 986/21 -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Diese Vorgaben wurden vorliegend gewahrt. Die Beschränkung der „Jokerregelung“ auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs bzw. die Nichterstreckung der Regelung auf die Prüfungsform der Aktenbearbeitung betrifft alle Mitprüflinge des Antragstellers in gleicher Weise.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung bzw. die Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung beruhen auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der Senat bemisst den Streitwert für die begehrte Zulassung zu einer weiteren Wiederholungsprüfung im Modul HS 2.2 gestützt auf § 52 Abs. 2 GKG auf 2.500,00 Euro. Er nimmt eine Halbierung des in Anlehnung an Nr. 36.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit anzusetzenden Auffangwerts von 5.000,00 Euro vor, weil jedenfalls eine vollständige bzw. endgültige Vorwegnahme der Hauptsache nicht vorliegt, da die Prüfung nur unter dem Vorbehalt des Erfolgs in der Hauptsache abgelegt würde. Für das daneben selbstständig zu bewertende Begehren, dem Antragsteller unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung der Laufbahnausbildung vorläufig zu gestatten, wird gemäß § 52 Abs. 1 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 GKG ein Streitwert i. H. v. (6 x 1.355,68 Euro) : 2 = 4.067,04 Euro festgesetzt. Dabei war auch schon für das erstinstanzliche Verfahren davon auszugehen, dass der Antrag auf Fortsetzung der Ausbildung die erneute Berufung ins Beamtenverhältnis auf Widerruf umfasste, weil diese gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 stets im Beamtenverhältnis auf Widerruf erfolgt. Der Senat hat insoweit ferner im Blick, dass dieses Begehren regelmäßig zu dem weiteren Streitgegenstand - Fortsetzung der Ausbildung - hinzutritt. Auch insoweit bleibt der Senat mangels vollständiger Vorwegnahme der Hauptsache bei der Halbierung des Betrags.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu näher OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 E 288/22 -, juris Rn. 5 ff.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
|
346,537 | ovgnrw-2022-09-08-6-b-83722 | {
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} | 6 B 837/22 | 2022-09-08T00:00:00 | 2022-09-14T10:01:21 | 2022-10-17T11:10:05 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0908.6B837.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Instanzen auf die Wertstufe bis 7.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller verfolgt mit der Beschwerde den Antrag weiter,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig - bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - aufzugeben, das Prüfungsverfahren fortzusetzen und ihn die Prüfung im Modul HS 2.2 wiederholen sowie das Studium fortsetzen zu lassen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">wobei er auf gerichtliche Nachfrage erklärt hat, dass der Antrag auch das Begehren umfasst, zur Fortsetzung des Studiums erneut in das Beamtenverhältnis auf Widerruf berufen zu werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dieser Antrag ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - an die begehrte Regelungsanordnung die besonderen Anforderungen anzulegen sind, die im Fall der Vorwegnahme der Hauptsache maßgeblich sind. Jedenfalls eine endgültige Vorwegnahme - die nur gegeben ist, wenn Anordnungs- und Klageantrag übereinstimmen und die erlassene Regelung nicht unter dem Vorbehalt des Ausgangs des Klageverfahrens steht, die begehrte vorläufige Entscheidung also einer endgültigen gleichkäme - liegt nicht vor. Die begehrte gerichtliche Eilentscheidung nimmt die Hauptsache nicht vollständig irreversibel vorweg, weil dem Antragsteller lediglich eine vorläufige Rechtsposition eingeräumt wird, die ihm abhängig vom Ergebnis des Hauptsacheverfahrens wieder entzogen werden kann. Denn hätte die negative Prüfungsentscheidung endgültig Bestand, weil sie sich im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erwiese, käme dem - infolge ihrer Vorläufigkeit unter den Vorbehalt der Hauptsacheentscheidung gestellten - Ergebnis der Wiederholungsprüfung in Bezug auf die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Laufbahnprüfung keine Rechtswirkung mehr zu. Eine vollständige Vorwegnahme der Hauptsache ist auch nicht in der vorläufigen Fortsetzung der Laufbahnausbildung zu sehen. Diese ist zeitlich beschränkt auf den Zeitraum des Hauptsacheverfahrens und erfolgt unbeschadet einer zwischenzeitlichen Beendigung des Ausbildungsverhältnisses aus anderen Gründen, die - beispielsweise mangels gesundheitlicher Eignung des Antragstellers - weiterhin möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 456/22 -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat auch dann, wenn die besonderen Anforderungen, die im Fall einer Vorwegnahme der Hauptsache gelten, nicht zugrunde gelegt werden, die Voraussetzungen eines sein Begehren stützenden Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Dabei steht in der auch im Streitfall gegebenen Situation einer Kommissaranwärterin oder eines Kommissaranwärters,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">der nach Bekanntgabe des endgültiges Nichtbestehens einer Prüfung deren Wiederholung bzw. Neubewertung und daneben die Fortsetzung der Laufbahnausbildung begehrt, nicht bereits die Regelung des § 22 Abs. 4 BeamtStG i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 1 LVOPol bzw. § 12 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">- vom 21.8.2008, GV. NRW S. 554, zuletzt geändert durch Verordnung vom 18.2.2021, GV. NRW. S. 206, im Folgenden: VAPPol II Bachelor; ebenso § 8 Abs. 3 Satz 2 VAPPol II Bachelor vom 12.5.2022, GV. NRW. S. 736, im Folgenden: VAPPol II Bachelor 2022 -</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">der Gewährung einstweiligen Rechtschutzes gemäß § 123 VwGO entgegen. In der Vergangenheit hat der Senat angenommen, die begehrte (vorläufige) Fortsetzung der Laufbahnausbildung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beamte mit dem endgültigen Nichtbestehen der für die Laufbahn vorgeschriebenen Prüfung gemäß § 22 Abs. 4 BeamtStG kraft Gesetzes aus dem Beamtenverhältnis entlassen sei und eine Fortsetzung der Ausbildung außerhalb des Beamtenverhältnisses nicht in Betracht komme, bzw. die Studierenden gemäß § 22 Abs. 1 und 2 FHGöD, § 4 Abs. 3 VAPPol II Bachelor durch die Ausbildungsbehörde zugewiesen würden und eine solche Zuweisung mit der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht mehr vorliege. Auf die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung und deren Bestandskraft komme es dabei nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 21.2.2018</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">- 6 B 53/18 -, juris Rn. 5 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dieser Rechtsstandpunkt kann im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 - nicht aufrechterhalten werden. Danach wird die pauschale Versagung einstweiligen Rechtsschutzes auf vorläufige Fortsetzung einer polizeilichen Ausbildung innerhalb oder außerhalb eines Beamtenverhältnisses gestützt auf den Eintritt der Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht. Es bestünden - so das Bundesverfassungsgericht - besondere Erfordernisse an die Effektivität des Rechtsschutzes, wenn die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer erheblichen Ausbildungsverzögerung führt. Die dadurch verlorenen Studienjahre stellten für sich genommen schon einen gravierenden Nachteil dar, abgesehen davon, dass bereits in der Ausbildung befindliche Betroffene darüber hinaus gehalten seien, prüfungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet sei. Mit Rücksicht darauf könne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht pauschal gestützt auf die Sperrwirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG ausgeschlossen werden. Wenn dem Entlassenen vorläufiger Rechtsschutz durch einstweilige Anordnung - etwa in Gestalt der vorläufigen Fortsetzung der Ausbildung durch Neubegründung eines Beamtenverhältnisses oder außerhalb eines solchen, der vorläufigen Zulassung zur Wiederholungsprüfung oder der vorläufigen Neubewertung - gewährt werde, bleibe die Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG mit Blick auf das bisherige Beamtenverhältnis an sich unangetastet. Zwar komme es für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung aufgrund der gestuft prüfungs- und beamtenrechtlichen Hauptsache (zunächst Beseitigung der belastenden Prüfungsentscheidung gegebenenfalls in Kombination mit einer Neubewertung oder Wiederholung der Prüfung und sodann Neubegründung eines Widerrufsbeamtenverhältnisses wohl im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruchs) auf die prüfungsrechtlichen Einwendungen an. Bei Gewährung des skizzierten einstweiligen Rechtsschutzes werde die Beendigungswirkung jedoch gerade respektiert. Der einstweilige Rechtsschutz setze zeitlich später an als die Beendigungswirkung und operiere mit dieser, ohne sie aus regelungssystematischer Sicht zu suspendieren.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 -, NVwZ 2020, 1187 = juris Rn. 25 ff.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt ist in einer Konstellation, wie sie im Streitfall vorliegt, im Rahmen der einstweiligen Anordnung vorläufiger Rechtsschutz in geeigneter Form zu gewähren, sofern die prüfungsrechtlichen Einwendungen hierzu Anlass geben.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 458/22 -, juris Rn. 5 ff.; ebenso im Anschluss an das BVerfG Sächs. OVG, Beschluss vom 4.9.2020 - 2 B 333/19 -, juris Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6.5.2021 - 2 MB 29/20 -, NVwZ-RR 2021, 987 = juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.2.2022 - 26 L 2647/21 -, juris Rn. 37.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zumindest im Regelfall und jedenfalls bei Kommissaranwärtern dürfte dies die erneute Berufung in das Beamtenverhältnis umfassen, da die Studierenden gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zu Kommissaranwärtern ernannt werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2. Die prüfungsrechtlichen Einwendungen des Antragstellers geben jedoch keine Veranlassung, im Rahmen der begehrten einstweiligen Anordnung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Diese Einwendungen betreffen die im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ in Form der Aktenbearbeitung zu erbringende Prüfungsleistung, die der Antragsteller auch im Wiederholungsversuch nicht bestanden hat. Zwar gelte sein mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewerteter Erstversuch vom 2.7.2021, so der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid vom 9.3.2022, aufgrund der Allgemeinverfügung vom 16.3.2021 nicht. Die weiteren Versuche des Antragstellers vom 17.9.2021 und 5.11.2021 wurden aber ebenfalls mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewertet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a) Fehl geht der Einwand des Antragstellers, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei in der StudO-BA Teil A nicht vorgesehen, so dass es sie überhaupt nicht gebe und es sich um eine unzulässige Prüfungsleistung handele. Nach der „Studienordnung der Bachelorstudiengänge an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (Studienordnung-Bachelor - StudO-BA) ist die Prüfungsform der Aktenbearbeitung für den Studiengang „Polizeivollzugsdienst“ zugelassen. Diese Studienordnung ist in den Teil A „Allgemeine Regelungen“ (StudO-BA Teil A), der für alle Bachelorstudiengänge geltende Regelungen enthält, sowie in die weiteren Teile B, C, D, E, F und G gegliedert, die ergänzende Regelungen für einzelne Studiengänge enthalten. Im Teil B befinden sich die „Regelungen für den Studiengang Polizeivollzugsdienst (B.A.) Ergänzende Regelungen“, im Folgenden: StudO-BA Teil B. Welche Prüfungsformen zugelassen sind und welche Form von Leistungsnachweisen jeweils erbracht werden müssen, ergibt sich nach § 12 Abs. 6 Satz 1 StudO-BA Teil A aus den Regelungen für den jeweiligen Studiengang als Bestandteil dieser Studienordnung. Im Studiengang Polizeivollzugsdienst können gemäß § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 12 Abs. 1 Modulprüfungen“ Modulprüfungen unbeschadet § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A - mithin in den für alle Studiengänge zugelassenen Prüfungsformen Klausur, Fachgespräch, Hausarbeit, Referat mit mündlichem Vortrag, Seminarleistung, Leistungen der Module der fachpraktischen Studienzeit sowie Projektleistung und - zudem in der Prüfungsform Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B) sowie in den Prüfungsformen Studienarbeit, Gruppengespräch, Posterpräsentation, kollegiale Beratung und Prüfung(en) im Erasmus+ Modul (vgl. § 3 Abs. 1 lit. a), c) bis f) StudO-BA Teil B) abgelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nach § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A ist in einer Klausur eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul schriftlich unter Aufsicht zu bearbeiten (Satz 1). Die Bearbeitungszeit ist in der jeweiligen Modulbeschreibung festgelegt (Satz 2). Sofern im Folgenden nichts anderes geregelt ist, muss die Klausur mindestens drei Zeitstunden betragen, wobei in jedem Studiengang im Rahmen der Modulprüfungen mindestens drei vierstündige Klausuren vorzusehen sind (Satz 3).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Aktenbearbeitung ist nach § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B eine schriftliche Prüfungsform, die unter Aufsicht vorzunehmen ist (Satz 1). Die Bearbeitungszeit beträgt 120 Minuten (Satz 2). Die Studierenden erhalten einen Aktenauszug (Satz 3). Die Aufgabenstellung kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen (Satz 4).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">b) Vor diesem Hintergrund geht auch der Einwand des Antragstellers ins Leere, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei der Prüfungsform der Klausur (§ 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A) zuzuordnen, da nicht anzunehmen sei, dass der Antragsgegner eine unzulässige Prüfungsform gewählt habe. Bei der nach der StudO-BA Teil B im Studiengang Polizeivollzugsdienst zugelassenen Prüfungsform der Aktenbearbeitung handelt es sich bereits nach dem Vorstehenden nicht um einen Unterfall einer Klausur i. S. d. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A, sondern um eine eigenständige Prüfungsform.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat der Prüfungsausschuss nicht nur „Hinweise zu Klausuren“ (zuletzt geändert durch Beschluss vom 22.9.2020), sondern auch „Hinweise zur Aktenbearbeitung“ (Beschluss vom 26.2.2018) verfasst. Schon in Anbetracht dessen ist der Einwand des Antragstellers verfehlt, der Antragsgegner differenziere überhaupt nicht zwischen einer Aktenbearbeitung und einer Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">c) Auch der Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Antragsteller stehe ein weiterer Prüfungsversuch im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ (Aktenbearbeitung) auf der Grundlage der „Jokerregelung“ des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B nicht zu, wird mit dem Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nichts Durchgreifendes entgegengesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 13 Abs. 1 StudO-BA Teil A ist eine Studienleistung bestanden, wenn sie mindestens mit der Note ausreichend (4,0) bzw. mit „bestanden“ bewertet worden ist. Nach § 13 Abs. 2 StudO-BA Teil A sind Studienleistungen in Modulen oder Teilmodulen, die schlechter als ausreichend (4,0) oder mit „nicht bestanden“ bewertet wurden, nicht bestanden und können einmal wiederholt werden, sofern nicht nachfolgend etwas anderes bestimmt ist. Eine Wiederholung bestandener Studienleistungen ist nicht zulässig. Wird in einer Studienleistung auch in der Wiederholung eine Bewertung von mindestens ausreichend (4,0) bzw. „bestanden“ nicht erreicht, ist die Studienleistung endgültig nicht bestanden. Die Fortsetzung des Studiums ist ausgeschlossen. Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 13 Abs. 2: Bestehen und Wiederholen von Modulprüfungen und anderen Studienleistungen“ in der vorliegend anzuwendenden und nach wie vor geltenden Fassung vom 26.8.2020 kann für bis zu zwei Modulprüfungen während des Studiums eine nach dem Modulverteilungsplan im 2. oder 3. Studienjahr zu erbringende Prüfungsleistung nach § 12 Abs. 1 lit. a) (Klausur) oder lit. b) (Fachgespräch) StudO-BA Teil A, die auch in der Wiederholungsprüfung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden (sog. Jokerregelung).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">aa) Hinsichtlich der streitbefangenen - in Form der Aktenbearbeitung zu absolvierenden - Prüfungsleistung liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der „Jokerregelung“ nicht vor. Zwar handelt es sich um eine Prüfung im Modul 2.2 („Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“), die nach dem Studienverlaufsplan des Studienganges Polizeivollzugsdienst für den Einstellungsjahrgang 2019 im zweiten Studienjahr zu erbringen war. Bei der Aktenbearbeitung handelt es sich aber weder um eine Klausur i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A noch um ein Fachgespräch i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil A.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">bb) Entgegen der Auffassung der Beschwerde liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor, wenn der Satzungsgeber im Rahmen einer solchen „Jokerregelung“ nach Prüfungsformen differenziert und nur bei bestimmten Prüfungsformen eine zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit gewährt. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, ihm komme insoweit eine weite - gerichtlich nur beschränkt überprüfbare - Einschätzungsprärogative zu.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 18; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.2.2019 - 2 K 376/18 -, juris Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Satzungsgeber hat die ihm zukommende Einschätzungsprärogative genutzt und sich bewusst für eine Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 entschieden. Bei der Nichtaufnahme der Prüfungsform der Aktenbearbeitung in § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 handelt es sich ersichtlich nicht um ein redaktionelles Versehen des Satzungsgebers.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 konnte einmalig eine nach dem Modulverteilungsplan im Hauptstudium 2 oder 3 zu erbringende fachwissenschaftliche Studienleistung nach Teil A § 12 Abs. 1 und nach Teil B § 3 Abs. 1 zu Teil A § 12 Abs. 1, die auch in der Wiederholung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt waren. Diese zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit wurde somit - allerdings nur einmalig - nicht nur für sämtliche Prüfungsformen des § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A, sondern auch für sämtliche Prüfungsformen des § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 eingeräumt, mithin auch für die hier streitbefangene Prüfungsform der Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020). Diese Regelung hat der Satzungsgeber mit Beschluss vom 14.8.2020 geändert und stattdessen die auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs beschränkte „Jokerregelung“ aufgenommen. Dieses Vorgehen zielte ausweislich der Niederschrift der 184. Sitzung des Senats der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW vom 14.8.2020 und des Protokolls der Sitzung des Fachbereichsrates Polizei vom 16.6.2020 darauf, die im Fachbereich Polizei und im Fachbereich Allgemeine Verwaltung/Rentenver-sicherung bestehenden unterschiedlichen Regelungen bezüglich nicht bestandener Prüfungsleistungen aneinander anzugleichen. Da nur im Studiengang Polizeivollzugsdienst, nicht aber in anderen Studiengängen die Prüfungsform der Aktenbearbeitung zugelassen ist, sollte sich die „Jokerregelung“ nicht mehr auf diese Prüfungsform erstrecken, sondern nur noch auf die für alle Studiengänge vorgesehenen Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Ein tragfähiger Anhaltspunkt dafür, dass der Satzungsgeber sich bei der Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B von willkürlichen Erwägungen hat leiten lassen, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde macht insoweit geltend, die Differenzierung zwischen der Prüfungsform „Klausur“ und der Prüfungsform „Aktenbearbeitung“ sei „de facto willkürlich“. Sie unterschieden sich nicht „von der Bearbeitungsdichte (...), weil regelmäßig eine gutachterliche Überprüfung im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen zu erfolgen“ habe. „Wenn aber die Klausur von der Joker-Regelung umfasst“ sei, dann müsse dies für „die de facto inhaltsgleiche Aktenbearbeitung“ ebenfalls gelten, weil die Anforderungen „identisch“ seien.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ignoriert dabei, dass es sich bei der Aktenbearbeitung nach der StudO-BA Teil B, wie bereits ausgeführt, um eine eigenständige Prüfungsform handelt. Die Regelungen in der StudO-BA verdeutlichen die zwischen den beiden Prüfungsformen gerade in inhaltlicher Hinsicht bestehenden Unterschiede.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">In einer Klausur ist, wie dargestellt, eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul zu bearbeiten (vgl. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A). Grundlage der Aktenbearbeitung ist hingegen ein Aktenauszug, an den die Aufgabenstellung anknüpft (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) Sätze 3 und 4 StudO-BA Teil B). Sie kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen. Dies macht die Praxisbezogenheit der Prüfungsform der Aktenbearbeitung deutlich. Dass gutachterliche Stellungnahmen zur Frage der Rechtmäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen sowohl Gegenstand einer Klausur als auch einer Aktenbearbeitung sein können, rechtfertigt nicht den Schluss, es handele sich bei der Prüfungsform der Aktenbearbeitung um einen Unterfall der Prüfungsform der Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">cc) Hinsichtlich der streitbefangenen Prüfung im Modul HS 2.2 (Aktenbearbeitung) vom 5.11.2021 hat der Antragsgegner auch nicht etwa, wie die Beschwerde anführt, bei dem jeweiligen Prüfling den Eindruck erweckt, dass nicht die Prüfungsform der Aktenbearbeitung, sondern die Prüfungsform der Klausur in Rede steht. Schon mit Blick auf die vorausgegangenen Prüfungsversuche im Modul HS 2.2 ist vielmehr davon auszugehen, dass den Studierenden bewusst war, dass die Prüfung in der Form einer Aktenbearbeitung stattfindet. Nichts anderes folgt daraus, dass die Prüfungsaufgabe mit „Klausur“ überschrieben ist. Denn in Fettdruck und größerer Schrift folgt unmittelbar vor Beginn der Aufgabenstellung die Nennung der Prüfungsform „Aktenbearbeitung im Hauptstudium HS 2.2 in der Fächerkombination Eingriffsrecht und Verkehrsrecht“. Dementsprechend folgen Aktenauszüge, die Grundlage der Aufgabenstellung sind.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch das „Vorblatt für die Prüfungsarbeit“ keine andere Einschätzung. Dies gilt - weshalb weitere Fragen insoweit offenbleiben können - schon deshalb, weil dieses Vorblatt nach dem Vortrag des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren einheitlich für Klausuren und sonstige schriftliche Prüfungen, insbesondere für die Aktenbearbeitung, verwendet wird. Dass diese Praxis den Studierenden, die an der streitbefangenen Prüfung teilgenommen haben, nicht bekannt war, ist abwegig, zumal sie sich bereits im zweiten Studienjahr befunden haben und somit zuvor schon zahlreiche schriftliche Prüfungen absolviert hatten.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Auch der Verweis der Beschwerde auf den „E-Mail-Verkehr eines Studierenden aus Oktober 2021“ verfängt nicht. Der Antragsteller hat den E-Mail-Verkehr erneut nur auszugsweise vorgelegt. Der Antragsgegner hat bereits im erstinstanzlichen Verfahren den vollständigen Kommunikationsverlauf vorgelegt und erläutert, dass die gegenüber einem Studierenden - nicht einmal dem Antragsteller - per E-Mail vom 25.10.2021 erteilte Auskunft auf einem Irrtum beruhte. Der Mitarbeiter des Prüfungsamtes hat, nachdem er den Irrtum erkannt hat, dem Studierenden per E-Mail vom 3.12.2021 unter Hinweis auf § 10 StudO-BA Teil B mitgeteilt, für die Aktenbearbeitung im Modul 2.2 könne „kein Joker“ in Anspruch genommen werden. Dies sei nur bei Klausuren und Fachgesprächen möglich.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">d) Schließlich gibt das Beschwerdevorbringen nichts dafür her, dass der Satzungsgeber mit der Regelung des § 10 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 gegen das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen hat.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 29.7.2015 - 6 C 35.14 -, BVerwGE 152, 330 = juris Rn. 15 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 13.7.2021 - 6 B 986/21 -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Diese Vorgaben wurden vorliegend gewahrt. Die Beschränkung der „Jokerregelung“ auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs bzw. die Nichterstreckung der Regelung auf die Prüfungsform der Aktenbearbeitung betrifft alle Mitprüflinge des Antragstellers in gleicher Weise.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung bzw. die Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung beruhen auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der Senat bemisst den Streitwert für die begehrte Zulassung zu einer weiteren Wiederholungsprüfung im Modul HS 2.2 gestützt auf § 52 Abs. 2 GKG auf 2.500,00 Euro. Er nimmt eine Halbierung des in Anlehnung an Nr. 36.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit anzusetzenden Auffangwerts von 5.000,00 Euro vor, weil jedenfalls eine vollständige bzw. endgültige Vorwegnahme der Hauptsache nicht vorliegt, da die Prüfung nur unter dem Vorbehalt des Erfolgs in der Hauptsache abgelegt würde. Für das daneben selbstständig zu bewertende Begehren, dem Antragsteller unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung der Laufbahnausbildung vorläufig zu gestatten, wird gemäß § 52 Abs. 1 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 GKG ein Streitwert i. H. v. (6 x 1.355,68 Euro) : 2 = 4.067,04 Euro festgesetzt. Dabei war auch schon für das erstinstanzliche Verfahren davon auszugehen, dass der Antrag auf Fortsetzung der Ausbildung die erneute Berufung ins Beamtenverhältnis auf Widerruf umfasste, weil diese gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 stets im Beamtenverhältnis auf Widerruf erfolgt. Der Senat hat insoweit ferner im Blick, dass dieses Begehren regelmäßig zu dem weiteren Streitgegenstand - Fortsetzung der Ausbildung - hinzutritt. Auch insoweit bleibt der Senat mangels vollständiger Vorwegnahme der Hauptsache bei der Halbierung des Betrags.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu näher OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 E 288/22 -, juris Rn. 5 ff.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Instanzen auf die Wertstufe bis 7.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin verfolgt mit der Beschwerde den Antrag weiter,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig - bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - aufzugeben, das Prüfungsverfahren fortzusetzen und ihn die Prüfung im Modul HS 2.2 wiederholen sowie das Studium fortsetzen zu lassen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">wobei sie auf gerichtliche Nachfrage erklärt hat, dass der Antrag auch das Begehren umfasst, zur Fortsetzung des Studiums erneut in das Beamtenverhältnis auf Widerruf berufen zu werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dieser Antrag ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - an die begehrte Regelungsanordnung die besonderen Anforderungen anzulegen sind, die im Fall der Vorwegnahme der Hauptsache maßgeblich sind. Jedenfalls eine endgültige Vorwegnahme - die nur gegeben ist, wenn Anordnungs- und Klageantrag übereinstimmen und die erlassene Regelung nicht unter dem Vorbehalt des Ausgangs des Klageverfahrens steht, die begehrte vorläufige Entscheidung also einer endgültigen gleichkäme - liegt nicht vor. Die begehrte gerichtliche Eilentscheidung nimmt die Hauptsache nicht vollständig irreversibel vorweg, weil der Antragstellerin lediglich eine vorläufige Rechtsposition eingeräumt wird, die ihr abhängig vom Ergebnis des Hauptsacheverfahrens wieder entzogen werden kann. Denn hätte die negative Prüfungsentscheidung endgültig Bestand, weil sie sich im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erwiese, käme dem - infolge ihrer Vorläufigkeit unter den Vorbehalt der Hauptsacheentscheidung gestellten - Ergebnis der Wiederholungsprüfung in Bezug auf die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Laufbahnprüfung keine Rechtswirkung mehr zu. Eine vollständige Vorwegnahme der Hauptsache ist auch nicht in der vorläufigen Fortsetzung der Laufbahnausbildung zu sehen. Diese ist zeitlich beschränkt auf den Zeitraum des Hauptsacheverfahrens und erfolgt unbeschadet einer zwischenzeitlichen Beendigung des Ausbildungsverhältnisses aus anderen Gründen, die - beispielsweise mangels gesundheitlicher Eignung der Antragstellerin - weiterhin möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 456/22 -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hat auch dann, wenn die besonderen Anforderungen, die im Fall einer Vorwegnahme der Hauptsache gelten, nicht zugrunde gelegt werden, die Voraussetzungen eines ihr Begehren stützenden Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Dabei steht in der auch im Streitfall gegebenen Situation einer Kommissaranwärterin oder eines Kommissaranwärters,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">der nach Bekanntgabe des endgültiges Nichtbestehens einer Prüfung deren Wiederholung bzw. Neubewertung und daneben die Fortsetzung der Laufbahnausbildung begehrt, nicht bereits die Regelung des § 22 Abs. 4 BeamtStG i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 1 LVOPol bzw. § 12 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">- vom 21.8.2008, GV. NRW S. 554, zuletzt geändert durch Verordnung vom 18.2.2021, GV. NRW. S. 206, im Folgenden: VAPPol II Bachelor; ebenso § 8 Abs. 3 Satz 2 VAPPol II Bachelor vom 12.5.2022, GV. NRW. S. 736, im Folgenden: VAPPol II Bachelor 2022 -</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">der Gewährung einstweiligen Rechtschutzes gemäß § 123 VwGO entgegen. In der Vergangenheit hat der Senat angenommen, die begehrte (vorläufige) Fortsetzung der Laufbahnausbildung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beamte mit dem endgültigen Nichtbestehen der für die Laufbahn vorgeschriebenen Prüfung gemäß § 22 Abs. 4 BeamtStG kraft Gesetzes aus dem Beamtenverhältnis entlassen sei und eine Fortsetzung der Ausbildung außerhalb des Beamtenverhältnisses nicht in Betracht komme, bzw. die Studierenden gemäß § 22 Abs. 1 und 2 FHGöD, § 4 Abs. 3 VAPPol II Bachelor durch die Ausbildungsbehörde zugewiesen würden und eine solche Zuweisung mit der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht mehr vorliege. Auf die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung und deren Bestandskraft komme es dabei nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 21.2.2018</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">- 6 B 53/18 -, juris Rn. 5 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dieser Rechtsstandpunkt kann im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 - nicht aufrechterhalten werden. Danach wird die pauschale Versagung einstweiligen Rechtsschutzes auf vorläufige Fortsetzung einer polizeilichen Ausbildung innerhalb oder außerhalb eines Beamtenverhältnisses gestützt auf den Eintritt der Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht. Es bestünden - so das Bundesverfassungsgericht - besondere Erfordernisse an die Effektivität des Rechtsschutzes, wenn die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer erheblichen Ausbildungsverzögerung führt. Die dadurch verlorenen Studienjahre stellten für sich genommen schon einen gravierenden Nachteil dar, abgesehen davon, dass bereits in der Ausbildung befindliche Betroffene darüber hinaus gehalten seien, prüfungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet sei. Mit Rücksicht darauf könne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht pauschal gestützt auf die Sperrwirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG ausgeschlossen werden. Wenn dem Entlassenen vorläufiger Rechtsschutz durch einstweilige Anordnung - etwa in Gestalt der vorläufigen Fortsetzung der Ausbildung durch Neubegründung eines Beamtenverhältnisses oder außerhalb eines solchen, der vorläufigen Zulassung zur Wiederholungsprüfung oder der vorläufigen Neubewertung - gewährt werde, bleibe die Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG mit Blick auf das bisherige Beamtenverhältnis an sich unangetastet. Zwar komme es für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung aufgrund der gestuft prüfungs- und beamtenrechtlichen Hauptsache (zunächst Beseitigung der belastenden Prüfungsentscheidung gegebenenfalls in Kombination mit einer Neubewertung oder Wiederholung der Prüfung und sodann Neubegründung eines Widerrufsbeamtenverhältnisses wohl im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruchs) auf die prüfungsrechtlichen Einwendungen an. Bei Gewährung des skizzierten einstweiligen Rechtsschutzes werde die Beendigungswirkung jedoch gerade respektiert. Der einstweilige Rechtsschutz setze zeitlich später an als die Beendigungswirkung und operiere mit dieser, ohne sie aus regelungssystematischer Sicht zu suspendieren.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 -, NVwZ 2020, 1187 = juris Rn. 25 ff.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt ist in einer Konstellation, wie sie im Streitfall vorliegt, im Rahmen der einstweiligen Anordnung vorläufiger Rechtsschutz in geeigneter Form zu gewähren, sofern die prüfungsrechtlichen Einwendungen hierzu Anlass geben.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 458/22 -, juris Rn. 5 ff.; ebenso im Anschluss an das BVerfG Sächs. OVG, Beschluss vom 4.9.2020 - 2 B 333/19 -, juris Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6.5.2021 - 2 MB 29/20 -, NVwZ-RR 2021, 987 = juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.2.2022 - 26 L 2647/21 -, juris Rn. 37.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zumindest im Regelfall und jedenfalls bei Kommissaranwärtern dürfte dies die erneute Berufung in das Beamtenverhältnis umfassen, da die Studierenden gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zu Kommissaranwärtern ernannt werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2. Die prüfungsrechtlichen Einwendungen der Antragstellerin geben jedoch keine Veranlassung, im Rahmen der begehrten einstweiligen Anordnung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Diese Einwendungen betreffen die im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ in Form der Aktenbearbeitung zu erbringende Prüfungsleistung, die die Antragstellerin auch im Wiederholungsversuch nicht bestanden hat. Zwar gelte ihr mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewerteter Erstversuch vom 2.7.2021, so der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid vom 9.3.2022, aufgrund der Allgemeinverfügung vom 16.3.2021 nicht. Die weiteren Versuche der Antragstellerin vom 17.9.2021 und 5.11.2021 wurden aber ebenfalls mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewertet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a) Fehl geht der Einwand der Antragstellerin, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei in der StudO-BA Teil A nicht vorgesehen, so dass es sie überhaupt nicht gebe und es sich um eine unzulässige Prüfungsleistung handele. Nach der „Studienordnung der Bachelorstudiengänge an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (Studienordnung-Bachelor - StudO-BA) ist die Prüfungsform der Aktenbearbeitung für den Studiengang „Polizeivollzugsdienst“ zugelassen. Diese Studienordnung ist in den Teil A „Allgemeine Regelungen“ (StudO-BA Teil A), der für alle Bachelorstudiengänge geltende Regelungen enthält, sowie in die weiteren Teile B, C, D, E, F und G gegliedert, die ergänzende Regelungen für einzelne Studiengänge enthalten. Im Teil B befinden sich die „Regelungen für den Studiengang Polizeivollzugsdienst (B.A.) Ergänzende Regelungen“, im Folgenden: StudO-BA Teil B. Welche Prüfungsformen zugelassen sind und welche Form von Leistungsnachweisen jeweils erbracht werden müssen, ergibt sich nach § 12 Abs. 6 Satz 1 StudO-BA Teil A aus den Regelungen für den jeweiligen Studiengang als Bestandteil dieser Studienordnung. Im Studiengang Polizeivollzugsdienst können gemäß § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 12 Abs. 1 Modulprüfungen“ Modulprüfungen unbeschadet § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A - mithin in den für alle Studiengänge zugelassenen Prüfungsformen Klausur, Fachgespräch, Hausarbeit, Referat mit mündlichem Vortrag, Seminarleistung, Leistungen der Module der fachpraktischen Studienzeit sowie Projektleistung und - zudem in der Prüfungsform Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B) sowie in den Prüfungsformen Studienarbeit, Gruppengespräch, Posterpräsentation, kollegiale Beratung und Prüfung(en) im Erasmus+ Modul (vgl. § 3 Abs. 1 lit. a), c) bis f) StudO-BA Teil B) abgelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nach § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A ist in einer Klausur eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul schriftlich unter Aufsicht zu bearbeiten (Satz 1). Die Bearbeitungszeit ist in der jeweiligen Modulbeschreibung festgelegt (Satz 2). Sofern im Folgenden nichts anderes geregelt ist, muss die Klausur mindestens drei Zeitstunden betragen, wobei in jedem Studiengang im Rahmen der Modulprüfungen mindestens drei vierstündige Klausuren vorzusehen sind (Satz 3).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Aktenbearbeitung ist nach § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B eine schriftliche Prüfungsform, die unter Aufsicht vorzunehmen ist (Satz 1). Die Bearbeitungszeit beträgt 120 Minuten (Satz 2). Die Studierenden erhalten einen Aktenauszug (Satz 3). Die Aufgabenstellung kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen (Satz 4).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">b) Vor diesem Hintergrund geht auch der Einwand der Antragstellerin ins Leere, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei der Prüfungsform der Klausur (§ 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A) zuzuordnen, da nicht anzunehmen sei, dass der Antragsgegner eine unzulässige Prüfungsform gewählt habe. Bei der nach der StudO-BA Teil B im Studiengang Polizeivollzugsdienst zugelassenen Prüfungsform der Aktenbearbeitung handelt es sich bereits nach dem Vorstehenden nicht um einen Unterfall einer Klausur i. S. d. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A, sondern um eine eigenständige Prüfungsform.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat der Prüfungsausschuss nicht nur „Hinweise zu Klausuren“ (zuletzt geändert durch Beschluss vom 22.9.2020), sondern auch „Hinweise zur Aktenbearbeitung“ (Beschluss vom 26.2.2018) verfasst. Schon in Anbetracht dessen ist der Einwand der Antragstellerin verfehlt, der Antragsgegner differenziere überhaupt nicht zwischen einer Aktenbearbeitung und einer Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">c) Auch der Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragstellerin stehe ein weiterer Prüfungsversuch im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ (Aktenbearbeitung) auf der Grundlage der „Jokerregelung“ des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B nicht zu, wird mit dem Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nichts Durchgreifendes entgegengesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 13 Abs. 1 StudO-BA Teil A ist eine Studienleistung bestanden, wenn sie mindestens mit der Note ausreichend (4,0) bzw. mit „bestanden“ bewertet worden ist. Nach § 13 Abs. 2 StudO-BA Teil A sind Studienleistungen in Modulen oder Teilmodulen, die schlechter als ausreichend (4,0) oder mit „nicht bestanden“ bewertet wurden, nicht bestanden und können einmal wiederholt werden, sofern nicht nachfolgend etwas anderes bestimmt ist. Eine Wiederholung bestandener Studienleistungen ist nicht zulässig. Wird in einer Studienleistung auch in der Wiederholung eine Bewertung von mindestens ausreichend (4,0) bzw. „bestanden“ nicht erreicht, ist die Studienleistung endgültig nicht bestanden. Die Fortsetzung des Studiums ist ausgeschlossen. Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 13 Abs. 2: Bestehen und Wiederholen von Modulprüfungen und anderen Studienleistungen“ in der vorliegend anzuwendenden und nach wie vor geltenden Fassung vom 26.8.2020 kann für bis zu zwei Modulprüfungen während des Studiums eine nach dem Modulverteilungsplan im 2. oder 3. Studienjahr zu erbringende Prüfungsleistung nach § 12 Abs. 1 lit. a) (Klausur) oder lit. b) (Fachgespräch) StudO-BA Teil A, die auch in der Wiederholungsprüfung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden (sog. Jokerregelung).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">aa) Hinsichtlich der streitbefangenen - in Form der Aktenbearbeitung zu absolvierenden - Prüfungsleistung liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der „Jokerregelung“ nicht vor. Zwar handelt es sich um eine Prüfung im Modul 2.2 („Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“), die nach dem Studienverlaufsplan des Studienganges Polizeivollzugsdienst für den Einstellungsjahrgang 2019 im zweiten Studienjahr zu erbringen war. Bei der Aktenbearbeitung handelt es sich aber weder um eine Klausur i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A noch um ein Fachgespräch i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil A.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">bb) Entgegen der Auffassung der Beschwerde liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor, wenn der Satzungsgeber im Rahmen einer solchen „Jokerregelung“ nach Prüfungsformen differenziert und nur bei bestimmten Prüfungsformen eine zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit gewährt. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, ihm komme insoweit eine weite - gerichtlich nur beschränkt überprüfbare - Einschätzungsprärogative zu.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 18; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.2.2019 - 2 K 376/18 -, juris Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Satzungsgeber hat die ihm zukommende Einschätzungsprärogative genutzt und sich bewusst für eine Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 entschieden. Bei der Nichtaufnahme der Prüfungsform der Aktenbearbeitung in § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 handelt es sich ersichtlich nicht um ein redaktionelles Versehen des Satzungsgebers.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 konnte einmalig eine nach dem Modulverteilungsplan im Hauptstudium 2 oder 3 zu erbringende fachwissenschaftliche Studienleistung nach Teil A § 12 Abs. 1 und nach Teil B § 3 Abs. 1 zu Teil A § 12 Abs. 1, die auch in der Wiederholung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt waren. Diese zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit wurde somit - allerdings nur einmalig - nicht nur für sämtliche Prüfungsformen des § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A, sondern auch für sämtliche Prüfungsformen des § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 eingeräumt, mithin auch für die hier streitbefangene Prüfungsform der Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020). Diese Regelung hat der Satzungsgeber mit Beschluss vom 14.8.2020 geändert und stattdessen die auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs beschränkte „Jokerregelung“ aufgenommen. Dieses Vorgehen zielte ausweislich der Niederschrift der 184. Sitzung des Senats der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW vom 14.8.2020 und des Protokolls der Sitzung des Fachbereichsrates Polizei vom 16.6.2020 darauf, die im Fachbereich Polizei und im Fachbereich Allgemeine Verwaltung/Rentenver-sicherung bestehenden unterschiedlichen Regelungen bezüglich nicht bestandener Prüfungsleistungen aneinander anzugleichen. Da nur im Studiengang Polizeivollzugsdienst, nicht aber in anderen Studiengängen die Prüfungsform der Aktenbearbeitung zugelassen ist, sollte sich die „Jokerregelung“ nicht mehr auf diese Prüfungsform erstrecken, sondern nur noch auf die für alle Studiengänge vorgesehenen Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Ein tragfähiger Anhaltspunkt dafür, dass der Satzungsgeber sich bei der Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B von willkürlichen Erwägungen hat leiten lassen, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde macht insoweit geltend, die Differenzierung zwischen der Prüfungsform „Klausur“ und der Prüfungsform „Aktenbearbeitung“ sei „de facto willkürlich“. Sie unterschieden sich nicht „von der Bearbeitungsdichte (...), weil regelmäßig eine gutachterliche Überprüfung im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen zu erfolgen“ habe. „Wenn aber die Klausur von der Joker-Regelung umfasst“ sei, dann müsse dies für „die de facto inhaltsgleiche Aktenbearbeitung“ ebenfalls gelten, weil die Anforderungen „identisch“ seien.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ignoriert dabei, dass es sich bei der Aktenbearbeitung nach der StudO-BA Teil B, wie bereits ausgeführt, um eine eigenständige Prüfungsform handelt. Die Regelungen in der StudO-BA verdeutlichen die zwischen den beiden Prüfungsformen gerade in inhaltlicher Hinsicht bestehenden Unterschiede.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">In einer Klausur ist, wie dargestellt, eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul zu bearbeiten (vgl. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A). Grundlage der Aktenbearbeitung ist hingegen ein Aktenauszug, an den die Aufgabenstellung anknüpft (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) Sätze 3 und 4 StudO-BA Teil B). Sie kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen. Dies macht die Praxisbezogenheit der Prüfungsform der Aktenbearbeitung deutlich. Dass gutachterliche Stellungnahmen zur Frage der Rechtmäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen sowohl Gegenstand einer Klausur als auch einer Aktenbearbeitung sein können, rechtfertigt nicht den Schluss, es handele sich bei der Prüfungsform der Aktenbearbeitung um einen Unterfall der Prüfungsform der Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">cc) Hinsichtlich der streitbefangenen Prüfung im Modul HS 2.2 (Aktenbearbeitung) vom 5.11.2021 hat der Antragsgegner auch nicht etwa, wie die Beschwerde anführt, bei dem jeweiligen Prüfling den Eindruck erweckt, dass nicht die Prüfungsform der Aktenbearbeitung, sondern die Prüfungsform der Klausur in Rede steht. Schon mit Blick auf die vorausgegangenen Prüfungsversuche im Modul HS 2.2 ist vielmehr davon auszugehen, dass den Studierenden bewusst war, dass die Prüfung in der Form einer Aktenbearbeitung stattfindet. Nichts anderes folgt daraus, dass die Prüfungsaufgabe mit „Klausur“ überschrieben ist. Denn in Fettdruck und größerer Schrift folgt unmittelbar vor Beginn der Aufgabenstellung die Nennung der Prüfungsform „Aktenbearbeitung im Hauptstudium HS 2.2 in der Fächerkombination Eingriffsrecht und Verkehrsrecht“. Dementsprechend folgen Aktenauszüge, die Grundlage der Aufgabenstellung sind.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch das „Vorblatt für die Prüfungsarbeit“ keine andere Einschätzung. Dies gilt - weshalb weitere Fragen insoweit offenbleiben können - schon deshalb, weil dieses Vorblatt nach dem Vortrag des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren einheitlich für Klausuren und sonstige schriftliche Prüfungen, insbesondere für die Aktenbearbeitung, verwendet wird. Dass diese Praxis den Studierenden, die an der streitbefangenen Prüfung teilgenommen haben, nicht bekannt war, ist abwegig, zumal sie sich bereits im zweiten Studienjahr befunden haben und somit zuvor schon zahlreiche schriftliche Prüfungen absolviert hatten.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Auch der Verweis der Beschwerde auf den „E-Mail-Verkehr eines Studierenden aus Oktober 2021“ verfängt nicht. Die Antragstellerin hat den E-Mail-Verkehr erneut nur auszugsweise vorgelegt. Der Antragsgegner hat bereits im erstinstanzlichen Verfahren den vollständigen Kommunikationsverlauf vorgelegt und erläutert, dass die gegenüber einem Studierenden - nicht einmal der Antragstellerin - per E-Mail vom 25.10.2021 erteilte Auskunft auf einem Irrtum beruhte. Der Mitarbeiter des Prüfungsamtes hat, nachdem er den Irrtum erkannt hat, dem Studierenden per E-Mail vom 3.12.2021 unter Hinweis auf § 10 StudO-BA Teil B mitgeteilt, für die Aktenbearbeitung im Modul 2.2 könne „kein Joker“ in Anspruch genommen werden. Dies sei nur bei Klausuren und Fachgesprächen möglich.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">d) Schließlich gibt das Beschwerdevorbringen nichts dafür her, dass der Satzungsgeber mit der Regelung des § 10 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 gegen das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen hat.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 29.7.2015 - 6 C 35.14 -, BVerwGE 152, 330 = juris Rn. 15 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 13.7.2021 - 6 B 986/21 -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Diese Vorgaben wurden vorliegend gewahrt. Die Beschränkung der „Jokerregelung“ auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs bzw. die Nichterstreckung der Regelung auf die Prüfungsform der Aktenbearbeitung betrifft alle Mitprüflinge der Antragstellerin in gleicher Weise.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung bzw. die Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung beruhen auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der Senat bemisst den Streitwert für die begehrte Zulassung zu einer weiteren Wiederholungsprüfung im Modul HS 2.2 gestützt auf § 52 Abs. 2 GKG auf 2.500,00 Euro. Er nimmt eine Halbierung des in Anlehnung an Nr. 36.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit anzusetzenden Auffangwerts von 5.000,00 Euro vor, weil jedenfalls eine vollständige bzw. endgültige Vorwegnahme der Hauptsache nicht vorliegt, da die Prüfung nur unter dem Vorbehalt des Erfolgs in der Hauptsache abgelegt würde. Für das daneben selbstständig zu bewertende Begehren, der Antragstellerin unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung der Laufbahnausbildung vorläufig zu gestatten, wird gemäß § 52 Abs. 1 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 GKG ein Streitwert i. H. v. (6 x 1.355,68 Euro) : 2 = 4.067,04 Euro festgesetzt. Dabei war auch schon für das erstinstanzliche Verfahren davon auszugehen, dass der Antrag auf Fortsetzung der Ausbildung die erneute Berufung ins Beamtenverhältnis auf Widerruf umfasste, weil diese gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 stets im Beamtenverhältnis auf Widerruf erfolgt. Der Senat hat insoweit ferner im Blick, dass dieses Begehren regelmäßig zu dem weiteren Streitgegenstand - Fortsetzung der Ausbildung - hinzutritt. Auch insoweit bleibt der Senat mangels vollständiger Vorwegnahme der Hauptsache bei der Halbierung des Betrags.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu näher OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 E 288/22 -, juris Rn. 5 ff.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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} | 6 B 843/22 | 2022-09-08T00:00:00 | 2022-09-14T10:01:20 | 2022-10-17T11:10:04 | Beschluss | ECLI:DE:OVGNRW:2022:0908.6B843.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Instanzen auf die Wertstufe bis 7.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller verfolgt mit der Beschwerde den Antrag weiter,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig - bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache - aufzugeben, das Prüfungsverfahren fortzusetzen, ihn die Prüfung im Modul HS 2.2 wiederholen zu lassen sowie das Studium fortzusetzen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">wobei er auf gerichtliche Nachfrage erklärt hat, dass der Antrag auch das Begehren umfasst, zur Fortsetzung des Studiums erneut in das Beamtenverhältnis auf Widerruf berufen zu werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dieser Antrag ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - an die begehrte Regelungsanordnung die besonderen Anforderungen anzulegen sind, die im Fall der Vorwegnahme der Hauptsache maßgeblich sind. Jedenfalls eine endgültige Vorwegnahme - die nur gegeben ist, wenn Anordnungs- und Klageantrag übereinstimmen und die erlassene Regelung nicht unter dem Vorbehalt des Ausgangs des Klageverfahrens steht, die begehrte vorläufige Entscheidung also einer endgültigen gleichkäme - liegt nicht vor. Die begehrte gerichtliche Eilentscheidung nimmt die Hauptsache nicht vollständig irreversibel vorweg, weil dem Antragsteller lediglich eine vorläufige Rechtsposition eingeräumt wird, die ihm abhängig vom Ergebnis des Hauptsacheverfahrens wieder entzogen werden kann. Denn hätte die negative Prüfungsentscheidung endgültig Bestand, weil sie sich im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erwiese, käme dem - infolge ihrer Vorläufigkeit unter den Vorbehalt der Hauptsacheentscheidung gestellten - Ergebnis der Wiederholungsprüfung in Bezug auf die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Laufbahnprüfung keine Rechtswirkung mehr zu. Eine vollständige Vorwegnahme der Hauptsache ist auch nicht in der vorläufigen Fortsetzung der Laufbahnausbildung zu sehen. Diese ist zeitlich beschränkt auf den Zeitraum des Hauptsacheverfahrens und erfolgt unbeschadet einer zwischenzeitlichen Beendigung des Ausbildungsverhältnisses aus anderen Gründen, die - beispielsweise mangels gesundheitlicher Eignung des Antragstellers - weiterhin möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 456/22 -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Der Antragsteller hat auch dann, wenn die besonderen Anforderungen, die im Fall einer Vorwegnahme der Hauptsache gelten, nicht zugrunde gelegt werden, die Voraussetzungen eines sein Begehren stützenden Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Dabei steht in der auch im Streitfall gegebenen Situation einer Kommissaranwärterin oder eines Kommissaranwärters,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">der nach Bekanntgabe des endgültiges Nichtbestehens einer Prüfung deren Wiederholung bzw. Neubewertung und daneben die Fortsetzung der Laufbahnausbildung begehrt, nicht bereits die Regelung des § 22 Abs. 4 BeamtStG i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 1 LVOPol bzw. § 12 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">- vom 21.8.2008, GV. NRW S. 554, zuletzt geändert durch Verordnung vom 18.2.2021, GV. NRW. S. 206, im Folgenden: VAPPol II Bachelor; ebenso § 8 Abs. 3 Satz 2 VAPPol II Bachelor vom 12.5.2022, GV. NRW. S. 736, im Folgenden: VAPPol II Bachelor 2022 -</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">der Gewährung einstweiligen Rechtschutzes gemäß § 123 VwGO entgegen. In der Vergangenheit hat der Senat angenommen, die begehrte (vorläufige) Fortsetzung der Laufbahnausbildung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beamte mit dem endgültigen Nichtbestehen der für die Laufbahn vorgeschriebenen Prüfung gemäß § 22 Abs. 4 BeamtStG kraft Gesetzes aus dem Beamtenverhältnis entlassen sei und eine Fortsetzung der Ausbildung außerhalb des Beamtenverhältnisses nicht in Betracht komme, bzw. die Studierenden gemäß § 22 Abs. 1 und 2 FHGöD, § 4 Abs. 3 VAPPol II Bachelor durch die Ausbildungsbehörde zugewiesen würden und eine solche Zuweisung mit der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht mehr vorliege. Auf die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung und deren Bestandskraft komme es dabei nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 21.2.2018</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">- 6 B 53/18 -, juris Rn. 5 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dieser Rechtsstandpunkt kann im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 - nicht aufrechterhalten werden. Danach wird die pauschale Versagung einstweiligen Rechtsschutzes auf vorläufige Fortsetzung einer polizeilichen Ausbildung innerhalb oder außerhalb eines Beamtenverhältnisses gestützt auf den Eintritt der Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht. Es bestünden - so das Bundesverfassungsgericht - besondere Erfordernisse an die Effektivität des Rechtsschutzes, wenn die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer erheblichen Ausbildungsverzögerung führt. Die dadurch verlorenen Studienjahre stellten für sich genommen schon einen gravierenden Nachteil dar, abgesehen davon, dass bereits in der Ausbildung befindliche Betroffene darüber hinaus gehalten seien, prüfungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet sei. Mit Rücksicht darauf könne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht pauschal gestützt auf die Sperrwirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG ausgeschlossen werden. Wenn dem Entlassenen vorläufiger Rechtsschutz durch einstweilige Anordnung - etwa in Gestalt der vorläufigen Fortsetzung der Ausbildung durch Neubegründung eines Beamtenverhältnisses oder außerhalb eines solchen, der vorläufigen Zulassung zur Wiederholungsprüfung oder der vorläufigen Neubewertung - gewährt werde, bleibe die Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG mit Blick auf das bisherige Beamtenverhältnis an sich unangetastet. Zwar komme es für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung aufgrund der gestuft prüfungs- und beamtenrechtlichen Hauptsache (zunächst Beseitigung der belastenden Prüfungsentscheidung gegebenenfalls in Kombination mit einer Neubewertung oder Wiederholung der Prüfung und sodann Neubegründung eines Widerrufsbeamtenverhältnisses wohl im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruchs) auf die prüfungsrechtlichen Einwendungen an. Bei Gewährung des skizzierten einstweiligen Rechtsschutzes werde die Beendigungswirkung jedoch gerade respektiert. Der einstweilige Rechtsschutz setze zeitlich später an als die Beendigungswirkung und operiere mit dieser, ohne sie aus regelungssystematischer Sicht zu suspendieren.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 -, NVwZ 2020, 1187 = juris Rn. 25 ff.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt ist in einer Konstellation, wie sie im Streitfall vorliegt, im Rahmen der einstweiligen Anordnung vorläufiger Rechtsschutz in geeigneter Form zu gewähren, sofern die prüfungsrechtlichen Einwendungen hierzu Anlass geben.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 458/22 -, juris Rn. 5 ff.; ebenso im Anschluss an das BVerfG Sächs. OVG, Beschluss vom 4.9.2020 - 2 B 333/19 -, juris Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6.5.2021 - 2 MB 29/20 -, NVwZ-RR 2021, 987 = juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.2.2022 - 26 L 2647/21 -, juris Rn. 37.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zumindest im Regelfall und jedenfalls bei Kommissaranwärtern dürfte dies die erneute Berufung in das Beamtenverhältnis umfassen, da die Studierenden gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zu Kommissaranwärtern ernannt werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2. Die prüfungsrechtlichen Einwendungen des Antragstellers geben jedoch keine Veranlassung, im Rahmen der begehrten einstweiligen Anordnung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Diese Einwendungen betreffen die im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ in Form der Aktenbearbeitung zu erbringende Prüfungsleistung, die der Antragsteller auch im Wiederholungsversuch nicht bestanden hat. Zwar gelte sein mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewerteter Erstversuch vom 2.7.2021, so der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid vom 21.3.2022, aufgrund der Allgemeinverfügung vom 16.3.2021 nicht. Die weiteren Versuche des Antragstellers vom 17.9.2021 und 5.11.2021 wurden aber ebenfalls mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewertet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a) Fehl geht der Einwand des Antragstellers, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei in der StudO-BA Teil A nicht vorgesehen, so dass es sie überhaupt nicht gebe und es sich um eine unzulässige Prüfungsleistung handele. Nach der „Studienordnung der Bachelorstudiengänge an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (Studienordnung-Bachelor - StudO-BA) ist die Prüfungsform der Aktenbearbeitung für den Studiengang „Polizeivollzugsdienst“ zugelassen. Diese Studienordnung ist in den Teil A „Allgemeine Regelungen“ (StudO-BA Teil A), der für alle Bachelorstudiengänge geltende Regelungen enthält, sowie in die weiteren Teile B, C, D, E, F und G gegliedert, die ergänzende Regelungen für einzelne Studiengänge enthalten. Im Teil B befinden sich die „Regelungen für den Studiengang Polizeivollzugsdienst (B.A.) Ergänzende Regelungen“, im Folgenden: StudO-BA Teil B. Welche Prüfungsformen zugelassen sind und welche Form von Leistungsnachweisen jeweils erbracht werden müssen, ergibt sich nach § 12 Abs. 6 Satz 1 StudO-BA Teil A aus den Regelungen für den jeweiligen Studiengang als Bestandteil dieser Studienordnung. Im Studiengang Polizeivollzugsdienst können gemäß § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 12 Abs. 1 Modulprüfungen“ Modulprüfungen unbeschadet § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A - mithin in den für alle Studiengänge zugelassenen Prüfungsformen Klausur, Fachgespräch, Hausarbeit, Referat mit mündlichem Vortrag, Seminarleistung, Leistungen der Module der fachpraktischen Studienzeit sowie Projektleistung und - zudem in der Prüfungsform Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B) sowie in den Prüfungsformen Studienarbeit, Gruppengespräch, Posterpräsentation, kollegiale Beratung und Prüfung(en) im Erasmus+ Modul (vgl. § 3 Abs. 1 lit. a), c) bis f) StudO-BA Teil B) abgelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nach § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A ist in einer Klausur eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul schriftlich unter Aufsicht zu bearbeiten (Satz 1). Die Bearbeitungszeit ist in der jeweiligen Modulbeschreibung festgelegt (Satz 2). Sofern im Folgenden nichts anderes geregelt ist, muss die Klausur mindestens drei Zeitstunden betragen, wobei in jedem Studiengang im Rahmen der Modulprüfungen mindestens drei vierstündige Klausuren vorzusehen sind (Satz 3).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Aktenbearbeitung ist nach § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B eine schriftliche Prüfungsform, die unter Aufsicht vorzunehmen ist (Satz 1). Die Bearbeitungszeit beträgt 120 Minuten (Satz 2). Die Studierenden erhalten einen Aktenauszug (Satz 3). Die Aufgabenstellung kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen (Satz 4).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">b) Vor diesem Hintergrund geht auch der Einwand des Antragstellers ins Leere, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei der Prüfungsform der Klausur (§ 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A) zuzuordnen, da nicht anzunehmen sei, dass der Antragsgegner eine unzulässige Prüfungsform gewählt habe. Bei der nach der StudO-BA Teil B im Studiengang Polizeivollzugsdienst zugelassenen Prüfungsform der Aktenbearbeitung handelt es sich bereits nach dem Vorstehenden nicht um einen Unterfall einer Klausur i. S. d. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A, sondern, wie auch das Verwaltungsgericht festgestellt hat, um eine eigenständige Prüfungsform.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat der Prüfungsausschuss nicht nur „Hinweise zu Klausuren“ (zuletzt geändert durch Beschluss vom 22.9.2020), sondern auch „Hinweise zur Aktenbearbeitung“ (Beschluss vom 26.2.2018) verfasst. Schon in Anbetracht dessen ist der Einwand des Antragstellers verfehlt, der Antragsgegner differenziere überhaupt nicht zwischen einer Aktenbearbeitung und einer Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">c) Auch der Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Antragsteller stehe ein weiterer Prüfungsversuch im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ (Aktenbearbeitung) auf der Grundlage der „Jokerregelung“ des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B nicht zu, wird mit dem Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nichts Durchgreifendes entgegengesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 13 Abs. 1 StudO-BA Teil A ist eine Studienleistung bestanden, wenn sie mindestens mit der Note ausreichend (4,0) bzw. mit „bestanden“ bewertet worden ist. Nach § 13 Abs. 2 StudO-BA Teil A sind Studienleistungen in Modulen oder Teilmodulen, die schlechter als ausreichend (4,0) oder mit „nicht bestanden“ bewertet wurden, nicht bestanden und können einmal wiederholt werden, sofern nicht nachfolgend etwas anderes bestimmt ist. Eine Wiederholung bestandener Studienleistungen ist nicht zulässig. Wird in einer Studienleistung auch in der Wiederholung eine Bewertung von mindestens ausreichend (4,0) bzw. „bestanden“ nicht erreicht, ist die Studienleistung endgültig nicht bestanden. Die Fortsetzung des Studiums ist ausgeschlossen. Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 13 Abs. 2: Bestehen und Wiederholen von Modulprüfungen und anderen Studienleistungen“ in der vorliegend anzuwendenden und nach wie vor geltenden Fassung vom 26.8.2020 kann für bis zu zwei Modulprüfungen während des Studiums eine nach dem Modulverteilungsplan im 2. oder 3. Studienjahr zu erbringende Prüfungsleistung nach § 12 Abs. 1 lit. a) (Klausur) oder lit. b) (Fachgespräch) StudO-BA Teil A, die auch in der Wiederholungsprüfung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden (sog. Jokerregelung).</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">aa) Hinsichtlich der streitbefangenen - in Form der Aktenbearbeitung zu absolvierenden - Prüfungsleistung liegen, wie bereits das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, die Tatbestandsvoraussetzungen der „Jokerregelung“ nicht vor. Zwar handelt es sich um eine Prüfung im Modul 2.2 („Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“), die nach dem Studienverlaufsplan des Studienganges Polizeivollzugsdienst für den Einstellungsjahrgang 2019 im zweiten Studienjahr zu erbringen war. Bei der Aktenbearbeitung handelt es sich aber weder um eine Klausur i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A noch um ein Fachgespräch i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil A.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">bb) Entgegen der Auffassung der Beschwerde liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor, wenn der Satzungsgeber im Rahmen einer solchen „Jokerregelung“ nach Prüfungsformen differenziert und nur bei bestimmten Prüfungsformen eine zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit gewährt. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, ihm komme insoweit eine weite - gerichtlich nur beschränkt überprüfbare - Einschätzungsprärogative zu.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">So auch VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 27.6.2022 - 4 L 636/22, 4 L 637/22, 4 L 638/22 und 4 L 659/22, n. v.; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.2.2019 - 2 K 376/18 -, juris Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">Der Satzungsgeber hat die ihm zukommende Einschätzungsprärogative genutzt und sich - wie schon das Verwaltungsgericht festgestellt hat - bewusst für eine Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 entschieden. Bei der Nichtaufnahme der Prüfungsform der Aktenbearbeitung in § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 handelt es sich ersichtlich nicht um ein redaktionelles Versehen des Satzungsgebers.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 konnte einmalig eine nach dem Modulverteilungsplan im Hauptstudium 2 oder 3 zu erbringende fachwissenschaftliche Studienleistung nach Teil A § 12 Abs. 1 und nach Teil B § 3 Abs. 1 zu Teil A § 12 Abs. 1, die auch in der Wiederholung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt waren. Diese zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit wurde somit - allerdings nur einmalig - nicht nur für sämtliche Prüfungsformen des § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A, sondern auch für sämtliche Prüfungsformen des § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 eingeräumt, mithin auch für die hier streitbefangene Prüfungsform der Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020). Diese Regelung hat der Satzungsgeber mit Beschluss vom 14.8.2020 geändert und stattdessen die auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs beschränkte „Jokerregelung“ aufgenommen. Dieses Vorgehen zielte ausweislich der Niederschrift der 184. Sitzung des Senats der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW vom 14.8.2020 und des Protokolls der Sitzung des Fachbereichsrates Polizei vom 16.6.2020 darauf, die im Fachbereich Polizei und im Fachbereich Allgemeine Verwaltung/Rentenver-sicherung bestehenden unterschiedlichen Regelungen bezüglich nicht bestandener Prüfungsleistungen aneinander anzugleichen. Da nur im Studiengang Polizeivollzugsdienst, nicht aber in anderen Studiengängen die Prüfungsform der Aktenbearbeitung zugelassen ist, sollte sich die „Jokerregelung“ nicht mehr auf diese Prüfungsform erstrecken, sondern nur noch auf die für alle Studiengänge vorgesehenen Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Ein tragfähiger Anhaltspunkt dafür, dass der Satzungsgeber sich bei der Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B von willkürlichen Erwägungen hat leiten lassen, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde macht insoweit geltend, die Differenzierung zwischen der Prüfungsform „Klausur“ und der Prüfungsform „Aktenbearbeitung“ sei „de facto willkürlich“. Sie unterschieden sich nicht „von der Bearbeitungsdichte (...), weil regelmäßig eine gutachterliche Überprüfung im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen zu erfolgen“ habe. „Wenn aber die Klausur von der Joker-Regelung umfasst“ sei, dann müsse dies für „die de facto inhaltsgleiche Aktenbearbeitung“ ebenfalls gelten, weil die Anforderungen „identisch“ seien.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ignoriert dabei, dass es sich bei der Aktenbearbeitung nach der StudO-BA Teil B, wie bereits ausgeführt, um eine eigenständige Prüfungsform handelt. Die Regelungen in der StudO-BA verdeutlichen die zwischen den beiden Prüfungsformen gerade in inhaltlicher Hinsicht bestehenden Unterschiede.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">In einer Klausur ist, wie dargestellt, eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul zu bearbeiten (vgl. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A). Grundlage der Aktenbearbeitung ist hingegen ein Aktenauszug, an den die Aufgabenstellung anknüpft (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) Sätze 3 und 4 StudO-BA Teil B). Sie kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen. Dies macht die Praxisbezogenheit der Prüfungsform der Aktenbearbeitung deutlich. Dass gutachterliche Stellungnahmen zur Frage der Rechtmäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen sowohl Gegenstand einer Klausur als auch einer Aktenbearbeitung sein können, rechtfertigt, wie bereits das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, nicht den Schluss, es handele sich bei der Prüfungsform der Aktenbearbeitung um einen Unterfall der Prüfungsform der Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">cc) Hinsichtlich der streitbefangenen Prüfung im Modul HS 2.2 (Aktenbearbeitung) vom 5.11.2021 hat der Antragsgegner auch nicht etwa, wie die Beschwerde anführt, bei dem jeweiligen Prüfling den Eindruck erweckt, dass nicht die Prüfungsform der Aktenbearbeitung, sondern die Prüfungsform der Klausur in Rede steht. Schon mit Blick auf die vorausgegangenen Prüfungsversuche im Modul HS 2.2 ist vielmehr davon auszugehen, dass den Studierenden bewusst war, dass die Prüfung in der Form einer Aktenbearbeitung stattfindet. Nichts anderes folgt daraus, dass die Prüfungsaufgabe mit „Klausur“ überschrieben ist. Denn in Fettdruck und größerer Schrift folgt unmittelbar vor Beginn der Aufgabenstellung die Nennung der Prüfungsform „Aktenbearbeitung im Hauptstudium HS 2.2 in der Fächerkombination Eingriffsrecht und Verkehrsrecht“. Dementsprechend folgen Aktenauszüge, die Grundlage der Aufgabenstellung sind.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch das „Vorblatt für die Prüfungsarbeit“ keine andere Einschätzung. Dies gilt - weshalb weitere Fragen insoweit offenbleiben können - schon deshalb, weil dieses Vorblatt nach dem Vortrag des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren einheitlich für Klausuren und sonstige schriftliche Prüfungen, insbesondere für die Aktenbearbeitung, verwendet wird. Dass diese Praxis den Studierenden, die an der streitbefangenen Prüfung teilgenommen haben, nicht bekannt war, ist abwegig, zumal sie sich bereits im zweiten Studienjahr befunden haben und somit zuvor schon zahlreiche schriftliche Prüfungen absolviert hatten.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Auch der Verweis der Beschwerde auf den „E-Mail-Verkehr eines Studierenden aus Oktober 2021“ verfängt nicht. Der Antragsteller hat den E-Mail-Verkehr erneut nur auszugsweise vorgelegt. Der Antragsgegner hat bereits im erstinstanzlichen Verfahren den vollständigen Kommunikationsverlauf vorgelegt und erläutert, dass die gegenüber einem Studierenden - nicht einmal dem Antragsteller - per E-Mail vom 25.10.2021 erteilte Auskunft auf einem Irrtum beruhte. Der Mitarbeiter des Prüfungsamtes hat, nachdem er den Irrtum erkannt hat, dem Studierenden per E-Mail vom 3.12.2021 unter Hinweis auf § 10 StudO-BA Teil B mitgeteilt, für die Aktenbearbeitung im Modul 2.2 könne „kein Joker“ in Anspruch genommen werden. Dies sei nur bei Klausuren und Fachgesprächen möglich.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">Entgegen dem Beschwerdevorbringen rechtfertigt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, der Umstand, dass dem Antragsteller auf der Grundlage von Nr. 1 der Allgemeinverfügung vom 16.3.2021 ein weiterer Prüfungsversuch für die Aktenbearbeitung im Modul HS 2.2 gewährt worden sei, ebenfalls keine andere rechtliche Beurteilung. Der Antragsgegner hat bereits im Widerspruchsbescheid vom 21.3.2022 darauf hingewiesen, dass in Nr. 1 der Allgemeinverfügung die Aktenbearbeitung zwar nicht explizit genannt worden sei, es jedoch dem erklärten Willen des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses entsprochen habe, nicht nur die in Nr. 1 genannten Klausuren, sondern sämtliche schriftliche Aufsichtsarbeiten von der alle Studierenden begünstigenden Regelung zu erfassen. Im Übrigen enthält die Allgemeinverfügung (vgl. Nr. 3) auch den Hinweis, dass die Jokerregelung unberührt bleibt, wonach für bis zu zwei Modulprüfungen eine im 2. oder 3. Studienjahr zu erbringende Prüfungsleistung nach § 12 Abs. 1 lit. a) (Klausur) oder b) (Fachgespräch) StudO-BA Teil A, die auch in der Wiederholungsprüfung nicht bestanden wurde, ein zweites Mal wiederholt werden darf.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">d) Schließlich gibt das Beschwerdevorbringen nichts dafür her, dass der Satzungsgeber mit der Regelung des § 10 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 gegen das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen hat.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 29.7.2015 - 6 C 35.14 -, BVerwGE 152, 330 = juris Rn. 15 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 13.7.2021 - 6 B 986/21 -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Diese Vorgaben wurden vorliegend gewahrt. Die Beschränkung der „Jokerregelung“ auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs bzw. die Nichterstreckung der Regelung auf die Prüfungsform der Aktenbearbeitung betrifft alle Mitprüflinge des Antragstellers in gleicher Weise.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung bzw. die Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung beruhen auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der Senat bemisst den Streitwert für die begehrte Zulassung zu einer weiteren Wiederholungsprüfung im Modul HS 2.2 gestützt auf § 52 Abs. 2 GKG auf 2.500,00 Euro. Er nimmt eine Halbierung des in Anlehnung an Nr. 36.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit anzusetzenden Auffangwerts von 5.000,00 Euro vor, weil jedenfalls eine vollständige bzw. endgültige Vorwegnahme der Hauptsache nicht vorliegt, da die Prüfung nur unter dem Vorbehalt des Erfolgs in der Hauptsache abgelegt würde. Für das daneben selbstständig zu bewertende Begehren, dem Antragsteller unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung der Laufbahnausbildung vorläufig zu gestatten, wird gemäß § 52 Abs. 1 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 GKG ein Streitwert i. H. v. (6 x 1.355,68 Euro) : 2 = 4.067,04 Euro festgesetzt. Dabei war auch schon für das erstinstanzliche Verfahren davon auszugehen, dass der Antrag auf Fortsetzung der Ausbildung die erneute Berufung ins Beamtenverhältnis auf Widerruf umfasste, weil diese gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 stets im Beamtenverhältnis auf Widerruf erfolgt. Der Senat hat insoweit ferner im Blick, dass dieses Begehren regelmäßig zu dem weiteren Streitgegenstand - Fortsetzung der Ausbildung - hinzutritt. Auch insoweit bleibt der Senat mangels vollständiger Vorwegnahme der Hauptsache bei der Halbierung des Betrags.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu näher OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 E 288/22 -, juris Rn. 5 ff.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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346,534 | ovgnrw-2022-09-08-6-b-83422 | {
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<p>Die Beschwerde wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p>
<p>Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Instanzen auf die Wertstufe bis 7.000,00 Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses.</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin verfolgt mit der Beschwerde den Antrag weiter,</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig - bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - aufzugeben, das Prüfungsverfahren fortzusetzen und ihn die Prüfung im Modul HS 2.2 wiederholen sowie das Studium fortsetzen zu lassen,</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">wobei sie auf gerichtliche Nachfrage erklärt hat, dass der Antrag auch das Begehren umfasst, zur Fortsetzung des Studiums erneut in das Beamtenverhältnis auf Widerruf berufen zu werden.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Dieser Antrag ist unbegründet.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Es kann dahinstehen, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - an die begehrte Regelungsanordnung die besonderen Anforderungen anzulegen sind, die im Fall der Vorwegnahme der Hauptsache maßgeblich sind. Jedenfalls eine endgültige Vorwegnahme - die nur gegeben ist, wenn Anordnungs- und Klageantrag übereinstimmen und die erlassene Regelung nicht unter dem Vorbehalt des Ausgangs des Klageverfahrens steht, die begehrte vorläufige Entscheidung also einer endgültigen gleichkäme - liegt nicht vor. Die begehrte gerichtliche Eilentscheidung nimmt die Hauptsache nicht vollständig irreversibel vorweg, weil der Antragstellerin lediglich eine vorläufige Rechtsposition eingeräumt wird, die ihr abhängig vom Ergebnis des Hauptsacheverfahrens wieder entzogen werden kann. Denn hätte die negative Prüfungsentscheidung endgültig Bestand, weil sie sich im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erwiese, käme dem - infolge ihrer Vorläufigkeit unter den Vorbehalt der Hauptsacheentscheidung gestellten - Ergebnis der Wiederholungsprüfung in Bezug auf die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Laufbahnprüfung keine Rechtswirkung mehr zu. Eine vollständige Vorwegnahme der Hauptsache ist auch nicht in der vorläufigen Fortsetzung der Laufbahnausbildung zu sehen. Diese ist zeitlich beschränkt auf den Zeitraum des Hauptsacheverfahrens und erfolgt unbeschadet einer zwischenzeitlichen Beendigung des Ausbildungsverhältnisses aus anderen Gründen, die - beispielsweise mangels gesundheitlicher Eignung der Antragstellerin - weiterhin möglich ist.</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 456/22 -, juris Rn. 5.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin hat auch dann, wenn die besonderen Anforderungen, die im Fall einer Vorwegnahme der Hauptsache gelten, nicht zugrunde gelegt werden, die Voraussetzungen eines ihr Begehren stützenden Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">1. Dabei steht in der auch im Streitfall gegebenen Situation einer Kommissaranwärterin oder eines Kommissaranwärters,</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">der nach Bekanntgabe des endgültiges Nichtbestehens einer Prüfung deren Wiederholung bzw. Neubewertung und daneben die Fortsetzung der Laufbahnausbildung begehrt, nicht bereits die Regelung des § 22 Abs. 4 BeamtStG i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 1 LVOPol bzw. § 12 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">- vom 21.8.2008, GV. NRW S. 554, zuletzt geändert durch Verordnung vom 18.2.2021, GV. NRW. S. 206, im Folgenden: VAPPol II Bachelor; ebenso § 8 Abs. 3 Satz 2 VAPPol II Bachelor vom 12.5.2022, GV. NRW. S. 736, im Folgenden: VAPPol II Bachelor 2022 -</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">der Gewährung einstweiligen Rechtschutzes gemäß § 123 VwGO entgegen. In der Vergangenheit hat der Senat angenommen, die begehrte (vorläufige) Fortsetzung der Laufbahnausbildung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beamte mit dem endgültigen Nichtbestehen der für die Laufbahn vorgeschriebenen Prüfung gemäß § 22 Abs. 4 BeamtStG kraft Gesetzes aus dem Beamtenverhältnis entlassen sei und eine Fortsetzung der Ausbildung außerhalb des Beamtenverhältnisses nicht in Betracht komme, bzw. die Studierenden gemäß § 22 Abs. 1 und 2 FHGöD, § 4 Abs. 3 VAPPol II Bachelor durch die Ausbildungsbehörde zugewiesen würden und eine solche Zuweisung mit der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht mehr vorliege. Auf die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung und deren Bestandskraft komme es dabei nicht an.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 21.2.2018</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">- 6 B 53/18 -, juris Rn. 5 ff. m. w. N.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Dieser Rechtsstandpunkt kann im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 - nicht aufrechterhalten werden. Danach wird die pauschale Versagung einstweiligen Rechtsschutzes auf vorläufige Fortsetzung einer polizeilichen Ausbildung innerhalb oder außerhalb eines Beamtenverhältnisses gestützt auf den Eintritt der Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht. Es bestünden - so das Bundesverfassungsgericht - besondere Erfordernisse an die Effektivität des Rechtsschutzes, wenn die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer erheblichen Ausbildungsverzögerung führt. Die dadurch verlorenen Studienjahre stellten für sich genommen schon einen gravierenden Nachteil dar, abgesehen davon, dass bereits in der Ausbildung befindliche Betroffene darüber hinaus gehalten seien, prüfungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet sei. Mit Rücksicht darauf könne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht pauschal gestützt auf die Sperrwirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG ausgeschlossen werden. Wenn dem Entlassenen vorläufiger Rechtsschutz durch einstweilige Anordnung - etwa in Gestalt der vorläufigen Fortsetzung der Ausbildung durch Neubegründung eines Beamtenverhältnisses oder außerhalb eines solchen, der vorläufigen Zulassung zur Wiederholungsprüfung oder der vorläufigen Neubewertung - gewährt werde, bleibe die Beendigungswirkung des § 22 Abs. 4 BeamtStG mit Blick auf das bisherige Beamtenverhältnis an sich unangetastet. Zwar komme es für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung aufgrund der gestuft prüfungs- und beamtenrechtlichen Hauptsache (zunächst Beseitigung der belastenden Prüfungsentscheidung gegebenenfalls in Kombination mit einer Neubewertung oder Wiederholung der Prüfung und sodann Neubegründung eines Widerrufsbeamtenverhältnisses wohl im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruchs) auf die prüfungsrechtlichen Einwendungen an. Bei Gewährung des skizzierten einstweiligen Rechtsschutzes werde die Beendigungswirkung jedoch gerade respektiert. Der einstweilige Rechtsschutz setze zeitlich später an als die Beendigungswirkung und operiere mit dieser, ohne sie aus regelungssystematischer Sicht zu suspendieren.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Vgl. zum Ganzen BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 9.6.2020 - 2 BvR 469/20 -, NVwZ 2020, 1187 = juris Rn. 25 ff.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Dies zugrunde gelegt ist in einer Konstellation, wie sie im Streitfall vorliegt, im Rahmen der einstweiligen Anordnung vorläufiger Rechtsschutz in geeigneter Form zu gewähren, sofern die prüfungsrechtlichen Einwendungen hierzu Anlass geben.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 B 458/22 -, juris Rn. 5 ff.; ebenso im Anschluss an das BVerfG Sächs. OVG, Beschluss vom 4.9.2020 - 2 B 333/19 -, juris Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6.5.2021 - 2 MB 29/20 -, NVwZ-RR 2021, 987 = juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.2.2022 - 26 L 2647/21 -, juris Rn. 37.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Zumindest im Regelfall und jedenfalls bei Kommissaranwärtern dürfte dies die erneute Berufung in das Beamtenverhältnis umfassen, da die Studierenden gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zu Kommissaranwärtern ernannt werden.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">2. Die prüfungsrechtlichen Einwendungen der Antragstellerin geben jedoch keine Veranlassung, im Rahmen der begehrten einstweiligen Anordnung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Diese Einwendungen betreffen die im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ in Form der Aktenbearbeitung zu erbringende Prüfungsleistung, die die Antragstellerin auch im Wiederholungsversuch nicht bestanden hat. Zwar gelte ihr mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewerteter Erstversuch vom 2.7.2021, so der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid vom 9.3.2022, aufgrund der Allgemeinverfügung vom 16.3.2021 nicht. Die weiteren Versuche der Antragstellerin vom 17.9.2021 und 5.11.2021 wurden aber ebenfalls mit „nicht ausreichend“ (5,0) bewertet.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">a) Fehl geht der Einwand der Antragstellerin, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei in der StudO-BA Teil A nicht vorgesehen, so dass es sie überhaupt nicht gebe und es sich um eine unzulässige Prüfungsleistung handele. Nach der „Studienordnung der Bachelorstudiengänge an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (Studienordnung-Bachelor - StudO-BA) ist die Prüfungsform der Aktenbearbeitung für den Studiengang „Polizeivollzugsdienst“ zugelassen. Diese Studienordnung ist in den Teil A „Allgemeine Regelungen“ (StudO-BA Teil A), der für alle Bachelorstudiengänge geltende Regelungen enthält, sowie in die weiteren Teile B, C, D, E, F und G gegliedert, die ergänzende Regelungen für einzelne Studiengänge enthalten. Im Teil B befinden sich die „Regelungen für den Studiengang Polizeivollzugsdienst (B.A.) Ergänzende Regelungen“, im Folgenden: StudO-BA Teil B. Welche Prüfungsformen zugelassen sind und welche Form von Leistungsnachweisen jeweils erbracht werden müssen, ergibt sich nach § 12 Abs. 6 Satz 1 StudO-BA Teil A aus den Regelungen für den jeweiligen Studiengang als Bestandteil dieser Studienordnung. Im Studiengang Polizeivollzugsdienst können gemäß § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 12 Abs. 1 Modulprüfungen“ Modulprüfungen unbeschadet § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A - mithin in den für alle Studiengänge zugelassenen Prüfungsformen Klausur, Fachgespräch, Hausarbeit, Referat mit mündlichem Vortrag, Seminarleistung, Leistungen der Module der fachpraktischen Studienzeit sowie Projektleistung und - zudem in der Prüfungsform Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B) sowie in den Prüfungsformen Studienarbeit, Gruppengespräch, Posterpräsentation, kollegiale Beratung und Prüfung(en) im Erasmus+ Modul (vgl. § 3 Abs. 1 lit. a), c) bis f) StudO-BA Teil B) abgelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Nach § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A ist in einer Klausur eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul schriftlich unter Aufsicht zu bearbeiten (Satz 1). Die Bearbeitungszeit ist in der jeweiligen Modulbeschreibung festgelegt (Satz 2). Sofern im Folgenden nichts anderes geregelt ist, muss die Klausur mindestens drei Zeitstunden betragen, wobei in jedem Studiengang im Rahmen der Modulprüfungen mindestens drei vierstündige Klausuren vorzusehen sind (Satz 3).</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Aktenbearbeitung ist nach § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B eine schriftliche Prüfungsform, die unter Aufsicht vorzunehmen ist (Satz 1). Die Bearbeitungszeit beträgt 120 Minuten (Satz 2). Die Studierenden erhalten einen Aktenauszug (Satz 3). Die Aufgabenstellung kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen (Satz 4).</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks">b) Vor diesem Hintergrund geht auch der Einwand der Antragstellerin ins Leere, die Prüfungsform der Aktenbearbeitung sei der Prüfungsform der Klausur (§ 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A) zuzuordnen, da nicht anzunehmen sei, dass der Antragsgegner eine unzulässige Prüfungsform gewählt habe. Bei der nach der StudO-BA Teil B im Studiengang Polizeivollzugsdienst zugelassenen Prüfungsform der Aktenbearbeitung handelt es sich bereits nach dem Vorstehenden nicht um einen Unterfall einer Klausur i. S. d. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A, sondern um eine eigenständige Prüfungsform.</p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Vgl. VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 28.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">Dementsprechend hat der Prüfungsausschuss nicht nur „Hinweise zu Klausuren“ (zuletzt geändert durch Beschluss vom 22.9.2020), sondern auch „Hinweise zur Aktenbearbeitung“ (Beschluss vom 26.2.2018) verfasst. Schon in Anbetracht dessen ist der Einwand der Antragstellerin verfehlt, der Antragsgegner differenziere überhaupt nicht zwischen einer Aktenbearbeitung und einer Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">c) Auch der Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragstellerin stehe ein weiterer Prüfungsversuch im Modul HS 2.2 „Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“ (Aktenbearbeitung) auf der Grundlage der „Jokerregelung“ des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B nicht zu, wird mit dem Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nichts Durchgreifendes entgegengesetzt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">Gemäß § 13 Abs. 1 StudO-BA Teil A ist eine Studienleistung bestanden, wenn sie mindestens mit der Note ausreichend (4,0) bzw. mit „bestanden“ bewertet worden ist. Nach § 13 Abs. 2 StudO-BA Teil A sind Studienleistungen in Modulen oder Teilmodulen, die schlechter als ausreichend (4,0) oder mit „nicht bestanden“ bewertet wurden, nicht bestanden und können einmal wiederholt werden, sofern nicht nachfolgend etwas anderes bestimmt ist. Eine Wiederholung bestandener Studienleistungen ist nicht zulässig. Wird in einer Studienleistung auch in der Wiederholung eine Bewertung von mindestens ausreichend (4,0) bzw. „bestanden“ nicht erreicht, ist die Studienleistung endgültig nicht bestanden. Die Fortsetzung des Studiums ist ausgeschlossen. Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B „Zu Teil A § 13 Abs. 2: Bestehen und Wiederholen von Modulprüfungen und anderen Studienleistungen“ in der vorliegend anzuwendenden und nach wie vor geltenden Fassung vom 26.8.2020 kann für bis zu zwei Modulprüfungen während des Studiums eine nach dem Modulverteilungsplan im 2. oder 3. Studienjahr zu erbringende Prüfungsleistung nach § 12 Abs. 1 lit. a) (Klausur) oder lit. b) (Fachgespräch) StudO-BA Teil A, die auch in der Wiederholungsprüfung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden (sog. Jokerregelung).</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">aa) Hinsichtlich der streitbefangenen - in Form der Aktenbearbeitung zu absolvierenden - Prüfungsleistung liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der „Jokerregelung“ nicht vor. Zwar handelt es sich um eine Prüfung im Modul 2.2 („Rechtliche Bewertung besonderer polizeilicher Einsatzanlässe“), die nach dem Studienverlaufsplan des Studienganges Polizeivollzugsdienst für den Einstellungsjahrgang 2019 im zweiten Studienjahr zu erbringen war. Bei der Aktenbearbeitung handelt es sich aber weder um eine Klausur i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A noch um ein Fachgespräch i. S. v. § 12 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil A.</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">bb) Entgegen der Auffassung der Beschwerde liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor, wenn der Satzungsgeber im Rahmen einer solchen „Jokerregelung“ nach Prüfungsformen differenziert und nur bei bestimmten Prüfungsformen eine zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit gewährt. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, ihm komme insoweit eine weite - gerichtlich nur beschränkt überprüfbare - Einschätzungsprärogative zu.</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 18; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.2.2019 - 2 K 376/18 -, juris Rn. 21.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">Der Satzungsgeber hat die ihm zukommende Einschätzungsprärogative genutzt und sich bewusst für eine Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 entschieden. Bei der Nichtaufnahme der Prüfungsform der Aktenbearbeitung in § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 handelt es sich ersichtlich nicht um ein redaktionelles Versehen des Satzungsgebers.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">So auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, juris Rn. 19.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">Nach § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 konnte einmalig eine nach dem Modulverteilungsplan im Hauptstudium 2 oder 3 zu erbringende fachwissenschaftliche Studienleistung nach Teil A § 12 Abs. 1 und nach Teil B § 3 Abs. 1 zu Teil A § 12 Abs. 1, die auch in der Wiederholung schlechter als „ausreichend“ (4,0) bewertet wurde, ein zweites Mal wiederholt werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt waren. Diese zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit wurde somit - allerdings nur einmalig - nicht nur für sämtliche Prüfungsformen des § 12 Abs. 1 StudO-BA Teil A, sondern auch für sämtliche Prüfungsformen des § 3 Abs. 1 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020 eingeräumt, mithin auch für die hier streitbefangene Prüfungsform der Aktenbearbeitung (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) StudO-BA Teil B in der Fassung vom 30.4.2020). Diese Regelung hat der Satzungsgeber mit Beschluss vom 14.8.2020 geändert und stattdessen die auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs beschränkte „Jokerregelung“ aufgenommen. Dieses Vorgehen zielte ausweislich der Niederschrift der 184. Sitzung des Senats der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW vom 14.8.2020 und des Protokolls der Sitzung des Fachbereichsrates Polizei vom 16.6.2020 darauf, die im Fachbereich Polizei und im Fachbereich Allgemeine Verwaltung/Rentenver-sicherung bestehenden unterschiedlichen Regelungen bezüglich nicht bestandener Prüfungsleistungen aneinander anzugleichen. Da nur im Studiengang Polizeivollzugsdienst, nicht aber in anderen Studiengängen die Prüfungsform der Aktenbearbeitung zugelassen ist, sollte sich die „Jokerregelung“ nicht mehr auf diese Prüfungsform erstrecken, sondern nur noch auf die für alle Studiengänge vorgesehenen Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">Ein tragfähiger Anhaltspunkt dafür, dass der Satzungsgeber sich bei der Änderung des § 10 Abs. 1 StudO-BA Teil B von willkürlichen Erwägungen hat leiten lassen, ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde macht insoweit geltend, die Differenzierung zwischen der Prüfungsform „Klausur“ und der Prüfungsform „Aktenbearbeitung“ sei „de facto willkürlich“. Sie unterschieden sich nicht „von der Bearbeitungsdichte (...), weil regelmäßig eine gutachterliche Überprüfung im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen zu erfolgen“ habe. „Wenn aber die Klausur von der Joker-Regelung umfasst“ sei, dann müsse dies für „die de facto inhaltsgleiche Aktenbearbeitung“ ebenfalls gelten, weil die Anforderungen „identisch“ seien.</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ignoriert dabei, dass es sich bei der Aktenbearbeitung nach der StudO-BA Teil B, wie bereits ausgeführt, um eine eigenständige Prüfungsform handelt. Die Regelungen in der StudO-BA verdeutlichen die zwischen den beiden Prüfungsformen gerade in inhaltlicher Hinsicht bestehenden Unterschiede.</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">In einer Klausur ist, wie dargestellt, eine begrenzte Aufgabe oder ein Fall aus dem jeweiligen Modul zu bearbeiten (vgl. § 12 Abs. 1 lit. a) StudO-BA Teil A). Grundlage der Aktenbearbeitung ist hingegen ein Aktenauszug, an den die Aufgabenstellung anknüpft (vgl. § 3 Abs. 1 lit. b) Sätze 3 und 4 StudO-BA Teil B). Sie kann u. a. eine Analyse, eine Sachverhaltszusammenfassung, eine rechtliche Bewertung, den Vorschlag für das weitere Vorgehen oder eine sonstige Fragestellung umfassen. Dies macht die Praxisbezogenheit der Prüfungsform der Aktenbearbeitung deutlich. Dass gutachterliche Stellungnahmen zur Frage der Rechtmäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen sowohl Gegenstand einer Klausur als auch einer Aktenbearbeitung sein können, rechtfertigt nicht den Schluss, es handele sich bei der Prüfungsform der Aktenbearbeitung um einen Unterfall der Prüfungsform der Klausur.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">Vgl. auch VG Köln, Beschluss vom 30.6.2022 - 6 L 997/22 -, a. a. O. Rn. 33.</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">cc) Hinsichtlich der streitbefangenen Prüfung im Modul HS 2.2 (Aktenbearbeitung) vom 5.11.2021 hat der Antragsgegner auch nicht etwa, wie die Beschwerde anführt, bei dem jeweiligen Prüfling den Eindruck erweckt, dass nicht die Prüfungsform der Aktenbearbeitung, sondern die Prüfungsform der Klausur in Rede steht. Schon mit Blick auf die vorausgegangenen Prüfungsversuche im Modul HS 2.2 ist vielmehr davon auszugehen, dass den Studierenden bewusst war, dass die Prüfung in der Form einer Aktenbearbeitung stattfindet. Nichts anderes folgt daraus, dass die Prüfungsaufgabe mit „Klausur“ überschrieben ist. Denn in Fettdruck und größerer Schrift folgt unmittelbar vor Beginn der Aufgabenstellung die Nennung der Prüfungsform „Aktenbearbeitung im Hauptstudium HS 2.2 in der Fächerkombination Eingriffsrecht und Verkehrsrecht“. Dementsprechend folgen Aktenauszüge, die Grundlage der Aufgabenstellung sind.</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch das „Vorblatt für die Prüfungsarbeit“ keine andere Einschätzung. Dies gilt - weshalb weitere Fragen insoweit offenbleiben können - schon deshalb, weil dieses Vorblatt nach dem Vortrag des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren einheitlich für Klausuren und sonstige schriftliche Prüfungen, insbesondere für die Aktenbearbeitung, verwendet wird. Dass diese Praxis den Studierenden, die an der streitbefangenen Prüfung teilgenommen haben, nicht bekannt war, ist abwegig, zumal sie sich bereits im zweiten Studienjahr befunden haben und somit zuvor schon zahlreiche schriftliche Prüfungen absolviert hatten.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">Auch der Verweis der Beschwerde auf den „E-Mail-Verkehr eines Studierenden aus Oktober 2021“ verfängt nicht. Die Antragstellerin hat den E-Mail-Verkehr erneut nur auszugsweise vorgelegt. Der Antragsgegner hat bereits im erstinstanzlichen Verfahren den vollständigen Kommunikationsverlauf vorgelegt und erläutert, dass die gegenüber einem Studierenden - nicht einmal der Antragstellerin - per E-Mail vom 25.10.2021 erteilte Auskunft auf einem Irrtum beruhte. Der Mitarbeiter des Prüfungsamtes hat, nachdem er den Irrtum erkannt hat, dem Studierenden per E-Mail vom 3.12.2021 unter Hinweis auf § 10 StudO-BA Teil B mitgeteilt, für die Aktenbearbeitung im Modul 2.2 könne „kein Joker“ in Anspruch genommen werden. Dies sei nur bei Klausuren und Fachgesprächen möglich.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">d) Schließlich gibt das Beschwerdevorbringen nichts dafür her, dass der Satzungsgeber mit der Regelung des § 10 StudO-BA Teil B in der Fassung vom 26.8.2020 gegen das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen hat.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 29.7.2015 - 6 C 35.14 -, BVerwGE 152, 330 = juris Rn. 15 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 13.7.2021 - 6 B 986/21 -, juris Rn. 6.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">Diese Vorgaben wurden vorliegend gewahrt. Die Beschränkung der „Jokerregelung“ auf die Prüfungsformen der Klausur und des Fachgesprächs bzw. die Nichterstreckung der Regelung auf die Prüfungsform der Aktenbearbeitung betrifft alle Mitprüflinge der Antragstellerin in gleicher Weise.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung bzw. die Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung beruhen auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der Senat bemisst den Streitwert für die begehrte Zulassung zu einer weiteren Wiederholungsprüfung im Modul HS 2.2 gestützt auf § 52 Abs. 2 GKG auf 2.500,00 Euro. Er nimmt eine Halbierung des in Anlehnung an Nr. 36.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit anzusetzenden Auffangwerts von 5.000,00 Euro vor, weil jedenfalls eine vollständige bzw. endgültige Vorwegnahme der Hauptsache nicht vorliegt, da die Prüfung nur unter dem Vorbehalt des Erfolgs in der Hauptsache abgelegt würde. Für das daneben selbstständig zu bewertende Begehren, der Antragstellerin unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung der Laufbahnausbildung vorläufig zu gestatten, wird gemäß § 52 Abs. 1 und Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Sätze 2 und 3 GKG ein Streitwert i. H. v. (6 x 1.355,68 Euro) : 2 = 4.067,04 Euro festgesetzt. Dabei war auch schon für das erstinstanzliche Verfahren davon auszugehen, dass der Antrag auf Fortsetzung der Ausbildung die erneute Berufung ins Beamtenverhältnis auf Widerruf umfasste, weil diese gemäß § 15 Abs. 2 LVOPol, § 5 VAPPol II Bachelor bzw. § 5 VAPPol II Bachelor 2022 stets im Beamtenverhältnis auf Widerruf erfolgt. Der Senat hat insoweit ferner im Blick, dass dieses Begehren regelmäßig zu dem weiteren Streitgegenstand - Fortsetzung der Ausbildung - hinzutritt. Auch insoweit bleibt der Senat mangels vollständiger Vorwegnahme der Hauptsache bei der Halbierung des Betrags.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Vgl. hierzu näher OVG NRW, Beschluss vom 28.7.2022 - 6 E 288/22 -, juris Rn. 5 ff.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks">Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).</p>
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346,493 | ovgni-2022-09-08-14-me-29722 | {
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<a name="focuspoint"><!--BeginnDoc--></a><div id="bsentscheidung"><div>
<h4 class="doc">Tenor</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 3. Kammer - vom 25. Juli 2022 wird zurückgewiesen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 28.000,00 Euro festgesetzt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p style="margin-left:36pt">Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt B. für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt></dt>
<dd><p></p></dd>
</dl>
</div></div>
<h4 class="doc">Gründe</h4>
<div><div>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_1">1</a></dt>
<dd><p><strong>I. </strong>Der Antragsteller wendet sich im Eilverfahren gegen ein infektionsschutzrechtliches Tätigkeitsverbot.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_2">2</a></dt>
<dd><p>Nach § 20a Abs. 1 und 2 Infektionsschutzgesetz - IfSG - müssen Personen in bestimmten Einrichtungen, zu denen u.a. Arzt- und Zahnarztpraxen gehören, ab 15. März 2022 über einen Impf- oder Genesenennachweis gegen das Coronavirus (SARS-CoV-2) verfügen. Gemäß § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG kann das Gesundheitsamt einer Person, die keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt, u.a. untersagen, dass sie in einer solche Einrichtung tätig wird.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_3">3</a></dt>
<dd><p>Hierauf gestützt untersagte das Gesundheitsamt des Antragsgegners mit Bescheid vom 9. Juni 2022 dem ungeimpften Antragsteller, in seiner Zahnarztpraxis oder in einer anderen Einrichtung, die dem Geltungsbereich des § 20 Abs. 1 IfSG unterfällt, befristet bis zum 31. Dezember 2022, als Zahnarzt tätig zu sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_4">4</a></dt>
<dd><p>Der Antragsteller hat daraufhin Klage beim Verwaltungsgericht Osnabrück (3 A 144/22) erhoben, über die noch nicht entschieden ist, und zugleich um vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_5">5</a></dt>
<dd><p>Den Eilantrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen das Tätigkeitsverbot hat das Verwaltungsgericht Osnabrück mit Beschluss vom 25. Juli 2022 abgelehnt. Das Vollziehungsinteresse des Antragsgegners überwiege das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Das auf der Grundlage des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG angeordnete Tätigkeitsverbot sei nach summarischer Prüfung rechtmäßig. Eine Verfassungswidrigkeit der in § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3, Abs. 2 IfSG normierten einrichtungsbezogenen Nachweispflicht bezüglich einer Covid-19-Immunität sei nicht zu erkennen. Insoweit werde u.a. auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 2022 (1 BvR 2649/21 -, juris) verwiesen. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden auch nicht gegen die Regelung des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG. Auch insoweit werde auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in dem genannten Beschluss Bezug genommen. Der Antragsteller als in eigener Praxis tätiger Zahnarzt sei auch vom Anwendungsbereich des § 20 Abs. 1 IfSG umfasst (vgl. Nr. 1 lit. h). Eine Kontraindikation des Antragstellers i.S.d. § 20a Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 IfSG sei nicht dargelegt. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung, die der Antragsgegner mit einem Widerrufsvorbehalt für den Fall versehen habe, dass der Antragsteller einen Impf- oder Genesenennachweis vorlege, bestehe bei summarischer Prüfung nicht. Die Verfügung weise insbesondere keine Ermessensfehler auf. Entgegen der Ansicht des Antragstellers habe der Antragsgegner weder die massiven Folgen der streitgegenständlichen Verfügung für diesen ignoriert noch das Risiko für betroffene Dritte unverhältnismäßig überhöht. Der Antragsteller habe als Zahnarzt unmittelbaren und engen Kontakt zu den Gesichtern seiner Patienten, insbesondere zu deren Mund- und Nasenöffnungen. Trotz aller vom Antragsteller ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen sei in dieser Konstellation das Risiko für eine Übertragung des Virus durch den ungeimpften Antragsteller auf seine Patienten oder auch Mitarbeitenden am Stuhl erheblich erhöht. Dabei komme es nicht allein auf eine etwaig erhöhte Übertragungswahrscheinlichkeit, sondern vielmehr auf die unbestritten erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit des Antragstellers an. Zudem sei zu berücksichtigen, dass das durch § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG besonders betroffene Personal in Heil- und Pflegeberufen eine besondere Verantwortung gegenüber den Patienten habe. Dieser besonderen Verantwortung müssten sich Angehörige dieser Berufsgruppen schon bei ihrer Berufswahl bewusst sein.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_6">6</a></dt>
<dd><p>Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_7">7</a></dt>
<dd><p><strong>II. </strong>Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO zu beschränken hat, geben keinen Anlass, den Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht dem Eilantrag den Erfolg versagt, da die Klage des Antragstellers bei summarischer Prüfung keine Aussicht auf Erfolg hat (<strong>1.</strong>). Auch eine Interessenabwägung unter dem Aspekt der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids des Antragsgegners führt zu keinem anderen Ergebnis (<strong>2.</strong>). Demnach kommt die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht in Betracht.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_8">8</a></dt>
<dd><p><strong>1.</strong> Rechtsgrundlage des in Ziffer 1 des Bescheids vom 9. Juni 2022 angeordneten Tätigkeitsverbots ist § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG. Nach dieser Vorschrift kann das Gesundheitsamt unter anderem einer Person, die trotz Anforderung nach § 20a Abs. 5 Satz 1 IfSG keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung oder eines dort genannten Unternehmens dienenden Räume betritt oder in einer solchen Einrichtung oder einem solchen Unternehmen tätig wird. § 20a Abs. 5 Satz 1 sieht wiederum vor, dass die in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Personen dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung oder das jeweilige Unternehmen befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG vorzulegen haben. Gemäß § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG müssen Personen, die in den in § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 IfSG im Einzelnen genannten Einrichtungen oder Unternehmen des Pflege- und Gesundheitssektors tätig sind, ab dem 15. März 2022 über einen Impf- oder Genesenennachweis im Sinne des § 22a Abs. 1 oder Abs. 2 IfSG verfügen, es sei denn, sie können aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden (vgl. § 20a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 IfSG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_9">9</a></dt>
<dd><p><strong>a) </strong>Eine Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften, insbesondere des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG, vermag der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht festzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_10">10</a></dt>
<dd><p>Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, die - wie hier im Fall einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage - im Ergebnis darauf hinausläuft, eine Regelung in einem formellen Gesetz gegenüber einem Antragsteller jedenfalls vorläufig nicht anzuwenden, ist an besondere Voraussetzungen geknüpft. Zwar sind die Fachgerichte in Bezug auf ein formelles Gesetz durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung nicht vorweggenommen wird (Senatsbeschl. v. 24.8.2022 - 14 ME 288/22 -, juris Rn. 14 und v. 6.4.2022 - 14 ME 180/22 -, juris Rn. 27; OVG NRW, Beschl. v. 22.7.2022 - 13 B 1466/21 -, juris Rn. 71 f. [jeweils im Zusammenhang mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung] unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschl. v. 24.6.1992 - 1 BvR 1028/91 -, juris Rn. 29 und BVerwG, Beschl. v. 5.7.2010 - 7 VR 5.10 -, juris Rn. 10 [im Zusammenhang mit einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO]).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_11">11</a></dt>
<dd><p>Ein solches Vorgehen kann bei formellen Gesetzen aber nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 100 Abs. 1 GG erfolgen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 22.7.2022 - 13 B 1466/21 -, juris Rn. 73 f. und Beschl. v. 27.4.2009 - 16 B 539/09 -, juris Rn. 34 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_12">12</a></dt>
<dd><p>Erforderlich ist mithin, dass das beschließende Gericht von der Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Vorschrift überzeugt ist. Dies bedeutet im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, dass der Grundrechtsverstoß evident bzw. offenkundig ist (vgl. Senatsbeschl. v. 24.8.2022 - 14 ME 288/22 -, juris Rn.15 m.w.N.; OVG NRW, Beschl. v. 22.7.2022 - 13 B 1466/21 -, juris Rn. 75 f. m.w.N.; vgl. auch: OVG RP, Beschl. v. 2.9.2022 - 6 B 10723/22.OVG -, bislang nur PM).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_13">13</a></dt>
<dd><p>Eine solche offenkundige Verfassungswidrigkeit des § 20a IfSG vermag der Senat derzeit nicht festzustellen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_14">14</a></dt>
<dd><p>Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt dem Gesetzgeber bei der Gestaltung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Allerdings müssen sich die getroffenen Maßnahmen auf hinreichend tragfähige tatsächliche und wissenschaftliche Erkenntnisse stützen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, juris Rn. 171). Auf dieser Grundlage hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 27. April 2022 entschieden, dass die Entscheidung des Gesetzgebers für die Einführung einer einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht bezüglich einer Covid-19-Immunität gemäß § 20 IfSG in der konkreten Situation der Pandemie im Winter 2021 und nach Maßgabe der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Erkenntnislage zu den Wirkungen der Covid-19-Schutzimpfungen sowie zu den großen Gefahren für Leben und Gesundheit vulnerabler Personen auch unter Berücksichtigung der hiermit für die Betroffenen verbundenen Eingriffstiefe verfassungsrechtlich tragfähig war. Nach damaliger überwiegender fachlicher Einschätzung sei von einer erheblichen Reduzierung der Infektions- und Transmissionsgefahr durch die Covid-19-Impfung ausgegangen worden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris, insb. Rn. 157 ff., 173 f.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_15">15</a></dt>
<dd><p>Zwar führt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung weiter aus, dass die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung zunächst nur aus einer ex-ante-Perspektive im Hinblick auf die verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten zu beurteilen ist. Gleichwohl könne eine zunächst verfassungskonforme Regelung später mit Wirkung für die Zukunft verfassungswidrig werden, wenn ursprüngliche Annahmen des Gesetzgebers nicht mehr trügen, weil sie durch nachträgliche Erkenntnisse oder Entwicklungen erschüttert würden. Bestehe dagegen eine Situation der Ungewissheit fort, weil es insbesondere auch der Wissenschaft nicht gelinge, die Erkenntnislage zu verbessern, wirke sich dies nicht ohne Weiteres auf die verfassungsrechtliche Beurteilung des weiteren Vorgehens aus (BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 235 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, juris Rn. 177).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_16">16</a></dt>
<dd><p>Bei Zugrundelegung der dargestellten Maßstäbe ist die Vorschrift des § 20a IfSG auch bis zum Zeitpunkt dieser gerichtlichen Entscheidung entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht durch die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens offenkundig in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen (vgl. auch VG Düsseldorf, Beschl. v. 30.8.2022 - 29 L 1703/22 -, juris Rn. 25 ff; VG Neustadt a.d.W., Beschl. v. 20.7.2022 - 5 L 585/22.NW -, juris Rn. 23 ff.; OVG RP, Beschl. v. 2.9.2022 - 6 B 10723/22.OVG -, bislang nur PM)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_17">17</a></dt>
<dd><p>Die dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 2022 zur einrichtungsbezogenen Nachweispflicht gemäß § 20a IfSG zugrundeliegenden Stellungnahmen der als sachkundige Dritte angehörten Fachgesellschaften bezifferten eine Impfstoffwirksamkeit gegenüber „der Omikron-Variante“ des Coronavirus SARS-CoV-2 - vorbehaltlich wissenschaftlicher Bewertungsunsicherheiten - bei dreifach Geimpften auf 40 bzw. 50 bis 70%; bei einer Grundimmunisierung sei die Schutzrate (teils mit 42,8% beziffert) zwar reduziert, aber nicht bzw. erst nach Ablauf von fünfzehn Wochen nach der Grundimmunisierung aufgehoben (1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 184). Zudem bestehe eine im Allgemeinen niedrigere Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch eine geimpfte Person nach Infektion mit der Omikron-Variante (1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 184).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_18">18</a></dt>
<dd><p>Hiervon ausgehend führt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 27. April 2022 bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung aus, die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose, die verfügbaren Impfstoffe würden auch gegenüber der Omikron-Variante des Coronavirus SARS-CoV-2 eine noch relevante Schutzwirkung entfalten, sei durch die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens nach Verabschiedung des Gesetzes ausweislich der Stellungnahmen der im dortigen Verfahren als sachkundige Dritte angehörten Fachgesellschaften nicht durchgreifend erschüttert worden. Dies gelte insbesondere auch für die gesetzgeberische Prognose, die verfügbaren Impfstoffe könnten vor einer Infektion schützen und - sollten sich Betroffene gleichwohl infizieren - zu einer Reduzierung des Transmissionsrisikos beitragen. Es sei weiterhin davon auszugehen, dass eine Impfung jedenfalls einen relevanten - wenn auch mit der Zeit abnehmenden - Schutz vor einer Infektion auch mit der aktuell vorherrschenden Omikron-Variante des Coronavirus biete. Dabei sei auch nicht erkennbar, dass die Impfwirksamkeit so sehr reduziert wäre, dass die Verwirklichung des mit dem angegriffenen Gesetz verfolgten Zwecks des Schutzes vulnerabler Menschen nur noch in einem derart geringen Maße gefördert würde, dass im Rahmen der Abwägung den widerstreitenden Interessen der von der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht Betroffenen von Verfassungs wegen der Vorrang gebühren müsste. Zwar sei nach wie vor fachwissenschaftlich nicht gesichert, in welchem Maße die Schutzwirkung der Impfung mit der Zeit und abhängig von weiteren Faktoren konkret abnehme. Auch bestünden keine gesicherten Erkenntnisse zur genauen Höhe des reduzierten Transmissionsrisikos. Die bisherigen Annahmen des Gesetzgebers seien aber auch nicht grundlegend erschüttert, so dass sein insoweit bestehender Einschätzungs- und Prognosespielraum fortbestehe (BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 184 f.; 237 ff.).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_19">19</a></dt>
<dd><p>Hiervon geht der Senat auch zum maßgeblichen Zeitpunkt dieser gerichtlichen Entscheidung weiter aus. Die wissenschaftliche Erkenntnislage hat sich seit Ergehen der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht derart geändert, dass die ursprüngliche Annahme des Gesetzgebers, eine Impfung gegen das Coronavirus schütze in nennenswertem Umfang vor einer Infektion und einer weiteren Transmission des Virus, unzutreffend geworden und deshalb nunmehr von einer offenkundigen materiellen Verfassungswidrigkeit des § 20a IfSG auszugehen wäre (vgl. auch VG Düsseldorf, Beschl. v. 30.8.2022 - 29 L 1703/22 -, juris Rn. 29 ff; VG Neustadt a.d.W., Beschl. v. 20.7.2022 - 5 L 585/22.NW -, juris Rn. 26 ff.; vgl. auch: OVG RP, Beschl. v. 2.9.2022 - 6 B 10723/22.OVG -, bislang nur PM). Tragbare wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach Impfungen keinerlei Einfluss auf die Infektionstätigkeit haben, sind derzeit nicht ersichtlich und auch von dem Antragsteller nicht dargelegt worden. Nach den Ausführungen des Robert Koch-Instituts (im Folgenden: RKI), der nationalen Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG), auf seiner Internetseite stellt sich die derzeitige Erkenntnislage vielmehr wie folgt dar:</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_20">20</a></dt>
<dd><p>„Die Covid-19-mRNA-Impfstoffe Comirnaty (BioNTech/Pfizer) und Spikevax (Moderna) und der Vektor-Impfstoff JCOVDEN (Johnson & Johnson) bieten vor der Omikron-Variante weniger Schutz als vor der sog. Delta-Variante. (…)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_21">21</a></dt>
<dd><p>Die Studienergebnisse zeigen, dass die Wirksamkeit nach zwei Impfstoffdosen (Grundimmunisierung) gegenüber jeglicher oder symptomatischer Erkrankung durch die Omikron-Variante insgesamt gering sei und zudem mit der Zeit deutlich nachlasse. Durch eine Auffrischimpfung kann die Schutzwirkung verbessert werden. Gegen schwere Erkrankungen bietet die Impfung weiterhin einen guten Schutz. Die Datenlage deutet darauf hin, dass auch hier die Schutzwirkung nach der Grundimmunisierung abfällt, jedoch weniger stark als im Vergleich zu jeglichen bzw. symptomatischen Erkrankungen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_22">22</a></dt>
<dd><p>Nach einer Auffrischimpfung ist die Wirksamkeit gegenüber schweren Erkrankungen erneut hoch. Daten wiesen auch nach Auffrischimpfung auf einen nachlassenden Schutz vor (symptomatischer) Infektion über die Zeit hin. Die hohe Schutzwirkung gegenüber schweren Infektionen bleibt aber mindestens über sechs bis neun Monate nach der Auffrischimpfung bestehen. (…)</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_23">23</a></dt>
<dd><p>Über die Transmission unter Omikron gibt es bisher keine ausreichenden Daten; sie scheint bei Geimpften weiterhin reduziert zu sein, wobei das Ausmaß der Reduktion nicht vollständig geklärt ist. Haushaltsstudien aus Norwegen und Dänemark zeigten, dass eine Impfung auch unter vorherrschender Zirkulation der Omikron-Variante die Übertragbarkeit um ca. 6 bis 21 % nach Grundimmunisierung und nach Auffrischimpfung um weitere 5 bis 20 % reduziert (vgl. RKI, Wie wirksam sind die Covid-19-Impfstoffe?, Stand: 18. August 2022, abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_24">24</a></dt>
<dd><p>Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich in zwei - bisher nicht im Volltext veröffentlichten - Beschlüssen vom 7. Juli 2022 (Az. 1 WB 2.22 und 1 WB 5.22), die Beschwerden von zwei Luftwaffenoffizieren gegen die Verpflichtung, die Covid-19-Impfung zu dulden, betrafen, nach einer von ihm durchgeführten umfangreichen Sachverständigenanhörung der Bewertung des BVerfG angeschlossen, dass die Impfung gegenüber der nunmehr vorherrschenden Omikron-Variante nach wie vor eine noch relevante Schutzwirkung im Sinne einer Verringerung der Infektion und Transmission habe (vgl. die zu den beiden Entscheidungen veröffentlichten Pressemitteilungen des BVerwG vom 7. Juli 2022, abrufbar unter https://www.bverwg.de/pm/2022/44).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_25">25</a></dt>
<dd><p>Hinzu kommt, dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) mittlerweile die Zulassung der an die Omikron-Variante angepassten Impfstoffe gegen das Corona-Virus empfohlen und die EU-Kommission dieser Empfehlung auch gefolgt ist (vgl. auch: OVG RP, Beschl. v. 2.9.2022 - 6 B 10723/22.OVG -, bislang nur PM).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_26">26</a></dt>
<dd><p><strong>b)</strong> Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat der Antragsgegner nach im Eilverfahren allein möglicher und gebotener summarischer Prüfung auch das ihm im Rahmen des § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG zustehende Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht nach § 114 Satz 1 VwGO auch, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_27">27</a></dt>
<dd><p>Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts legt der § 20a Abs. 5 IfSG zugrundeliegende Regelungszweck, vulnerable Personen zu schützen, sowohl die Anforderung des Nachweises als auch - bei dessen nicht rechtzeitiger Vorlage - den Erlass einer Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 2 IfSG in der Regel nahe. Vorbehaltlich besonders gelagerter Einzelfälle dürfe daher für das Gesundheitsamt letztlich kein relevanter Spielraum bestehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 85).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_28">28</a></dt>
<dd><p>In den Blick zu nehmen ist aber auch, dass der Gesetzgeber für bereits zum 15. März 2022 in einer von § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Einrichtung tätige Personen - wie den Antragsteller - kein sich unmittelbar kraft Gesetzes ergebendes Betretungs- oder Tätigkeitsverbot geregelt, sondern dessen Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG gerade von einer ermessensgeleiteten Einzelfallentscheidung des Gesundheitsamts abhängig gemacht hat. Die zuständige Behörde muss das ihr eingeräumte Ermessen (rechtmäßig) ausüben und darf dessen Grenzen nicht über- oder unterschreiten. Darüber hinaus muss sich das Gesundheitsamt des Eingriffs seiner Maßnahmen in die Grundrechte der betroffenen Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 GG bewusst sein (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 147, 215).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_29">29</a></dt>
<dd><p>Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt hier kein Ermessensfehler vor. Ausweislich der Begründung des Bescheides war sich der Antragsgegner des ihm zustehenden Ermessens bewusst und hat im Rahmen der Ausübung dieses Ermessens auch die Belange des Antragstellers, insbesondere die von ihm im Verwaltungsverfahren geltend gemachten, gewürdigt.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_30">30</a></dt>
<dd><p>Es bestehen im Eilverfahren auch keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des angeordneten Tätigkeitsverbotes. Die Anordnung ist zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_31">31</a></dt>
<dd><p>Das Betretungs- und Tätigkeitsverbot dient einem legitimen Zweck, nämlich dem Schutz von Gesundheit und Leben der von dem Antragsteller behandelten und im Hinblick auf eine Covid-19-Erkrankung jedenfalls teilweise als besonders vulnerabel einzustufenden Patientinnen und Patienten (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; vgl. dazu auch BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 154 f. in Bezug auf die legitimen Ziele der Vorschrift des § 20a IfSG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_32">32</a></dt>
<dd><p>Das gegenüber dem Antragsteller angeordnete Betretungs- und Tätigkeitsverbot ist zur Erreichung dieses legitimen Zwecks voraussichtlich auch geeignet. Das ist im verfassungsrechtlichen Sinne schon dann der Fall, wenn mit Hilfe der Maßnahme der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. Es ist nicht erforderlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch erreicht wird oder jedenfalls erreichbar ist (BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn.166). Dies zugrunde gelegt, ist es nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner davon ausgeht, das Tätigkeitsverbot gegenüber dem Antragsteller, der keinen Immunitätsnachweis im Hinblick auf das Coronavirus vorgelegt hat, diene dem Schutz der von ihm behandelten, teilweise besonders vulnerablen Personen. Insbesondere ist nach derzeitigem Sach- und Streitstand - wie dargelegt - die Annahme, dass die vorhandenen Impfstoffe eine noch relevante Schutzwirkung im Hinblick auf eine Infektion und eine weitere Transmission des Virus haben, weiterhin tragfähig.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_33">33</a></dt>
<dd><p>Das Tätigkeitsverbot ist auch erforderlich. Ein aus Sicht des Antragstellers weniger eingriffsintensives, zur Zweckerreichung ebenso geeignetes Mittel ist nicht ersichtlich. Es ist in diesem Zusammenhang zunächst rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner ein Tätigkeitsverbot gegenüber dem Antragsteller ausgesprochen hat. Zwar kann die isolierte Anordnung eines Betretungsverbotes nach den Erwägungen des BVerfG ein milderes Mittel gegenüber der (zusätzlichen) Anordnung eines Tätigkeitsverbotes darstellen, da Mitarbeitern ohne einen Immunitätsnachweis dann eine berufliche Tätigkeit etwa im Home-Office weiter möglich wäre (BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 215). Vorliegend hat der Antragsgegner dennoch zu Recht ein Tätigkeitsverbot ausgesprochen. Denn bei der Aussprache eines reinen Betretungsverbotes für seine Zahnarztpraxis könnte nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller sich örtlich anderweitig als Zahnarzt betätigt. Eine Tätigkeit im Homeoffice scheidet bei ihm ohnedies aus.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_34">34</a></dt>
<dd><p>Auch der Vortrag des Antragstellers, er unterziehe sich vor jedem Arbeitstag einem Corona-Test und trage im Umgang mit seinen Patientinnen und Patienten zumindest eine medizinische, teilweise auch eine FFP2-Maske, stellt die Erforderlichkeit des angeordneten Betretungs- und Tätigkeitsverbotes nicht durchgreifend in Frage. Denn sowohl eine regelmäßige Testung als auch die Einhaltung sonstiger Hygienemaßnahmen stellen keinen gleichwertigen Schutz wie eine Immunisierung dar, gerade bei Kontakt mit besonders vulnerablen Personen (vgl. dazu im Einzelnen: BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 192 ff., 197 und Beschl. v. 19.11.2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, juris Rn. 210).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_35">35</a></dt>
<dd><p>Die streitgegenständliche Regelung erweist sich schließlich nach summarischer Prüfung auch als angemessen. Die mit der Regelung für den Antragsteller verbundenen Nachteile stehen nicht außer Verhältnis zu den bezweckten Vorteilen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_36">36</a></dt>
<dd><p>Zwar greift das angeordnete Tätigkeitsverbot erheblich in das Recht des Antragstellers auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein und betrifft zudem seine Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG. Die getroffene Anordnung begründet zwar keinen Impfzwang, sondern überlässt dem Antragsteller letztlich die Entscheidung, den erforderlichen Nachweis zu erbringen. Sie stellt den Antragsteller aber de facto vor die Wahl, entweder seine bisherige Tätigkeit zumindest zwischenzeitlich aufzugeben und damit die im Verfahren geltend gemachten finanziellen Einbußen hinzunehmen oder aber in die Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität durch die Impfung einzuwilligen (vgl. dazu auch BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2549/21 -, juris Rn. 206 ff. in Bezug auf die Angemessenheit der Vorschrift des § 20a IfSG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_37">37</a></dt>
<dd><p>Es ist jedoch nach summarischer Prüfung dennoch nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner durch seine Anordnung dem Schutz von Leib und Leben der von dem Antragsteller behandelten Patientinnen und Patienten gegenüber den Rechten des Antragstellers den Vorrang eingeräumt hat. Bei den durch das Tätigkeitsverbot geschützten Schutzgütern handelt es sich um Verfassungsgüter von überragendem Stellenwert (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 217 ff. in Bezug auf die Angemessenheit der Regelung des § 20a IfSG). Das Verwaltungsgericht hat zudem zutreffend darauf hingewiesen, dass gerade der Antragsteller als Zahnarzt unmittelbaren und engen Kontakt zu den Gesichtern seiner Patientinnen und Patienten hat insbesondere auch zu deren Mund- und Nasenöffnungen und dass dadurch die Übertragungswahrscheinlichkeit ohnedies bereits erhöht ist.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_38">38</a></dt>
<dd><p>Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Eingriffstiefe auf Seiten des Antragstellers zum einen dadurch abgemildert wird, dass das angeordnete Tätigkeitsverbot - entsprechend der Geltungsdauer der zugrundeliegenden Rechtsgrundlage des § 20a IfSG, der zum 1. Januar 2023 außer Kraft tritt (vgl. Art. 2 Nr. 1 und 2a i.V.m. Art. 23 Abs. 4 des Gesetzes zur Stärkung der Impfprävention gegen Covid-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie) - bis zum 31. Dezember 2022 befristet ist. Zum anderen gilt die Anordnung auch nur bis zur Vorlage eines Nachweises im Sinne des § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG. Damit besteht für den Antragsteller insbesondere die Möglichkeit, ein ärztliches Zeugnis über das Vorliegen einer medizinischen Kontraindikation im Sinne des § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG vorzulegen. Im Übrigen ist bezüglich des Auftretens von gravierenden Folgen einer Impfung gegen das Coronavirus - wie sie der Antragsteller augenscheinlich befürchtet - von einer nur sehr geringen Wahrscheinlichkeit auszugehen (vgl. dazu im Einzelnen BVerfG, Beschl. v. 27.4.2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 222, 230 ff. in Bezug auf die Angemessenheit der Vorschrift des § 20a IfSG).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_39">39</a></dt>
<dd><p><strong>2.</strong> Unabhängig von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit des vom Antragsgegner verhängten Tätigkeitsverbots für den Antragsteller führt auch eine unter dem Aspekt der sofortigen Vollziehbarkeit des angegriffenen Bescheids vorgenommene gerichtliche Abwägungsentscheidung in diesem Aussetzungsverfahren zu keinem anderen Ergebnis. Es liegen keine Gründe vor, trotz der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Tätigkeitsverbots den Vorrang einzuräumen.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_40">40</a></dt>
<dd><p><strong>3.</strong> Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG, wobei der Senat sich - wie das Verwaltungsgericht - an dem vom Antragsteller vorgetragenen wirtschaftlichen Verlust orientiert. Eine Reduzierung des Streitwertes gemäß Ziff. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit erscheint hier angesichts der befristeten Geltung der einschlägigen Vorschriften bis zum Ende dieses Jahres nicht angemessen. Mit einer Entscheidung in der Hauptsache dürfte vor Ablauf der Frist nicht zu rechnen sein, so dass die Entscheidung im Eilrechtsschutz damit in der Sache abschließend sein dürfte.</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_41">41</a></dt>
<dd><p><strong>4.</strong> Die beantragte Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren kann nicht bewilligt werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den oben dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).</p></dd>
</dl>
<dl class="RspDL">
<dt><a name="rd_42">42</a></dt>
<dd><p>Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).</p></dd>
</dl>
</div></div>
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<a name="DocInhaltEnde"><!--emptyTag--></a><div class="docLayoutText">
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<hr style="width:50%;text-align:center;height:1px;">
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346,881 | olgkarl-2022-09-07-19-w-6421-wx | {
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} | 19 W 64/21 (Wx) | 2022-09-07T00:00:00 | 2022-10-11T10:01:22 | 2022-10-17T11:10:58 | Beschluss | <h2>Tenor</h2>
<blockquote><blockquote><p>1. Auf die Beschwerde der Beteiligten wird die Zwischenverfügung des Amtsgerichts Maulbronn - Grundbuchamt - vom 21. Januar 2021, Az. MAU057 GRG 1016/2020, aufgehoben. Das Amtsgericht - Grundbuchamt - wird angewiesen, den Antrag der Beteiligten auf Löschung des im Grundbuch von N. Blatt X und Blatt Y jeweils in der zweiten Abteilung lfd. Nr. 1 für die Erbteile der Beteiligten zu 1 bis 4 eingetragenen Testamentsvollstreckervermerks nicht aus den in der aufgehobenen Zwischenverfügung angeführten Gründen zurückzuweisen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>3. Die Beschwerdeführer haben die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens aus einem Wert von 4.000 EUR zu tragen.</p></blockquote></blockquote><blockquote><blockquote><p>4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.</p></blockquote></blockquote>
<h2>Gründe</h2>
<table><tr><td> </td><td> <table style="margin-left:14pt"><tr><td>I.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>1 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="1"/>Die Beschwerdeführer wenden sich gegen eine grundbuchamtliche Zwischenverfügung und zwei Zurückweisungsbeschlüsse.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>2 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="2"/>Am xx. Mai 198x verstarb der zuletzt in M. wohnhafte Herr Dr. K. (nach anderer - von diesem selbst verwendeten - Schreibweise: C.) H.. Das Amtsgericht M. erteilte am 5. Dezember 1985 einen gemeinschaftlichen Erbschein, der seine Tochter R. B., geb. H., sowie seine Enkel, die Beteiligten zu 1 bis 4, als Erben auswies und den Zusatz enthielt, dass für die Erbteile der Beteiligten zu 1 bis 4 Testamentsvollstreckung angeordnet sei. Dem Erbschein lag ein handschriftliches Testament zugrunde. Am 20. März 2000 bestätigte das Amtsgericht M. - Nachlassgericht - dem Notar Dr. B. gegenüber, dass die Testamentsvollstreckung mit Ablauf des 9. Mai 1995 beendet sei.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>3 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="3"/>Die Beteiligten zu 1 bis 4 und die von ihnen vertretene, am 28. Oktober 2019 verstorbene, Frau R. B. sind im <strong>Grundbuch von N. Blatt X </strong>in Erbengemeinschaft auf Ableben von Dr. H. mit einem Erbanteil als Eigentümer eingetragen (Abteilung I lfd. Nr. 31.2).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>4 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="4"/>Im Grundbuch von <strong>N. Blatt Y</strong> sind die Beteiligten zu 1 bis 4 und die von ihnen vertretene, am 28. Oktober 2019 verstorbene, Frau R. B. in Erbengemeinschaft mit einem Anteil von 1/2 als Eigentümer eingetragen (Abteilung I lfd. Nr. 2.2).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>5 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="5"/>In beiden Grundbüchern ist in Abteilung II lfd. Nr. 1 ein Testamentsvollstreckungsvermerk betreffend die Erbteile der Beteiligten zu 1 bis 4 eingetragen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>6 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="6"/>In der vorgelegten Urkunde UR T xxx/2020 vom 29. Juli 2020 heißt es im Abschnitt B. II. 3. unter der Überschrift „(Teilweise) Erbauseinandersetzung: Nachlass Dr. C. H.“ u. a.:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>7 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="7"/>„3.1. In Auseinandersetzung des Nachlasses nach Dr. C. H. übertragen Frau R. B. (vertreten wie vor), Frau G. B., Frau U. B. und Herr C. B. jeweils mit allen Rechten und gesetzlichen Bestandteilen</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>8 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="8"/>3.1.1 den Anteil unbekannter Höhe an dem Grundstück Flst. F1 der Gemarkung N. (Gemeinde K.), wie in Ziffer I.1.8 näher bezeichnet,</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>9 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="9"/>3.1.2 den Hälfteanteil an den Grundstücken Flste. F2 und F3 der Gemarkung N. (Gemeinde K.), wie in Ziffer I.1.9 näher bezeichnet</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>10 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="10"/>an Herrn W. B. zum Alleineigentum bzw. zur Alleinberechtigung.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>11 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="11"/>3.2. Die Veräußerungen erfolgen zur Erbauseinandersetzung (Teilung des Nachlasses) und zwar insbesondere hinsichtlich der Veräußerung des Anteils unbekannter Höhe (vorstehende Ziffer 3.1.1) unabhängig davon, nach dem auch immer der Nachlass gehörende Erbteil schlussendlich besteht. Vgl. hierzu auch Abschnitt D.3.2.2.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>12 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="12"/>3.3 Die Beteiligten stellen klar, dass weiteres Vermögen im Nachlass des Dr. C. H. nicht ausgeschlossen werden kann. Die heutige Auseinandersetzung soll klarstellend auf den vorstehend genannten Grundbesitz bzw. den bisher erbengemeinschaftlich gehaltenen Erb- bzw. Bruchteil daran beschränkt sein.“</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>13 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="13"/>Das in der vorbenannten Urkunde bezeichnete Grundstück Flurstück F1 der Gemarkung N. (Ziffer I.1.8 der Urkunde) ist im Grundbuch von N. auf Blatt X eingetragen, die Flurstücke F2 und F3 (Ziffer I.1.9 der Urkunde) sind im Grundbuch von N. auf Blatt Z eingetragen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>14 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="14"/>Abschnitt B. II. 7. der Urkunde enthält unter der Überschrift „Grundbucherklärungen“ folgenden Hinweis:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>15 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="15"/>„7.3 <span style="text-decoration:underline">Löschungszustimmung</span></td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>16 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="16"/>Die Vertragsteile stimmen allen der Lastenfreistellung dienenden Erklärungen zu und beantragen den grundbuchamtlichen Vollzug.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>17 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="17"/>Die Löschung des am Grundbesitz in N. (Ziffern I.1.8 und I.1.9) lastenden Testamentsvollstreckervermerks wird beantragt. Eine Bestätigung des Amtsgerichts M. - Nachlassgericht - vom 20.03.2000 über die Beendigung der Testamentsvollstreckung liegt bei Beurkundung vor und wird dieser Urkunde in Kopie beigefügt. Die Übereinstimmung der Kopie mit dem Original wird beglaubigt.“</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>18 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="18"/>Am 30. September 2020 nahm der Notar unter Berufung auf § 44a BeurkG folgende „Richtigstellung einer offensichtlichen Unrichtigkeit“ vor, in dem er die Formulierung in Ziffer 3.1.1 wie folgt abänderte:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>19 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:8pt"><tr><td><rd nr="19"/>„[...] den ursprünglich Dr. C. H. zustehenden und im Grundbuch von N. (Gemeinde K.) in Abteilung I unter lfd. Nr. 31.2 gebuchten Erbteil (unbekannter Höhe) am Nachlass des Erblassers (vermutlich Elise H.), dessen Erbfolge im Grundbuch in Abteilung I lfd. Nrn. 31.1-31.07 enthalten ist und [...]“</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>20 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="20"/>Diesen Antrag hat das Grundbuchamt mit Verfügung vom 21. Januar 2021 zurückgewiesen. Hinsichtlich des im<strong> Grundbuch von N. Blatt X</strong> gebuchten Erbanteils sei keine Verfügung über ein Grundstück oder einen Miteigentumsanteil, sondern über Anteile an dem Anteil einer Erbengemeinschaft erfolgt. Da hier keine Eigentumsübertragung erfolgt sei, fehle es an einer Eigentumsübertragung im Sinne von § 873 BGB.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>21 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="21"/>Mit derselben Verfügung wies das Grundbuchamt den Antrag auf Grundbuchberichtigung für das <strong>Grundbuch von N. Blatt Y </strong>auf Grund Erbteilsübertragung zurück. Über den dort aufgeführten Miteigentumsanteil der Erbengemeinschaft könnten die Beteiligten zu 1 bis 4 als Erben wegen der eingetragenen Testamentsvollstreckung nicht verfügen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>22 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="22"/>Mit Zwischenverfügung vom 21. Januar 2021 hat das Amtsgericht die Löschung des <strong>Testamentsvollstreckervermerks </strong>davon abhängig gemacht, dass ein Erbschein auf Ableben von Dr. C. H. vorgelegt wird, der keine Testamentsvollstreckung (mehr) ausweist. Die Befristung der Testamentsvollstreckung ergebe sich lediglich aus einem eröffneten privatschriftlichen Testament; dieses sei zum Nachweis der Erledigung der Testamentsvollstreckung nicht geeignet.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>23 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="23"/>Gegen die Zurückweisungsbeschlüsse und die Zwischenverfügung richtet sich die Beschwerde der Urkundsbeteiligten:</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>24 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="24"/>Zum <strong>Grundbuch Blatt X</strong> vertreten sie die Auffassung, dass nach Abschnitt B II Ziff. 3.3. der eingereichten Urkunde ausdrücklich der bisher erbengemeinschaftlich gehaltene Anteil angegeben sei. Hinsichtlich dieses Erbteils sei mit der richtig stellenden Urkunde vom 30. September 2020 die Grundbuchberichtigung aufgrund der Übertragung des Erbteils bewilligt und beantragt; es sei kein Vollzug einer Auflassung beantragt.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>25 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="25"/>Zu der das <strong>Grundbuch Blatt Y</strong> betreffenden Auflassung vertreten sie die Auffassung, diese sei zu vollziehen, weil die Testamentsvollstreckung nicht mehr bestehe. Höchst vorsorglich werde beantragt, die Auflassung des Miteigentumsanteils unabhängig vom Vollzug der Grundbuchberichtigung in Blatt X Gemarkung N. zu vollziehen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>26 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="26"/>Die Zwischenverfügung sei unrichtig, weil die Unrichtigkeit des <strong>Testamentsvollstreckervermerks</strong> durch die nachlassgerichtliche Bescheinigung nachgewiesen sei; dieser stehe dem von der Rechtsprechung als Nachweis zugelassenen Testamentsvollstreckerzeugnis mit Beendigungsvermerk gleich.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>27 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="27"/>Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Senat vorgelegt.</td></tr></table>
<table style="margin-left:14pt"><tr><td>II.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>28 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="28"/>Die - nicht fristgebundene - Beschwerde gegen die Entscheidungen des Grundbuchamts vom 21. Januar 2021 sind nach § 71 Absatz 1 GBO in Verbindung mit § 11 Absatz 1 RPflG und §§ 58 ff. FamFG zulässig, insbesondere kann auch - trotz Fehlens einer abschließenden Regelung - eine Zwischenverfügung mit diesem Rechtsmittel angegriffen werden (vgl. etwa Kramer, in: BeckOK GBO, 46. Edition, 1.6.2022, GBO § 71 Rn. 112). Die Beschwerde ist unbegründet, soweit sie sich gegen die Zurückweisung der Eintragung des Beteiligten zu 2 im Grundbuch Blatt X wendet (1.) und im Grundbuch Blatt Y (2.) wendet. Betreffend die Löschung des Testamentsvollstreckervermerks ist sie begründet (3.)</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>29 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="29"/>1. Der Zurückweisungsbeschluss des Grundbuchamtes zum <strong>Grundbuch Blatt X</strong> ist zu Recht ergangen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>30 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="30"/>a) Durch die Beschwerdeschrift haben die Beteiligten klargestellt, dass in diesem Punkt - anders als vom Grundbuchamt angenommen - eine Grundbucheintragung aufgrund Auflassung nicht begehrt werde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>31 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="31"/>b) Es ist aber auch nicht in einer den Anforderungen des § 22 GBO genügenden Form nachgewiesen, dass lediglich noch der Beteiligte zu 2 Grundstückseigentümer ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>32 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="32"/>aa) Soll der Anteil eines Miterben am Nachlass durch Erbanteilübertragung auf einen anderen Miterben übergehen, kann der für eine Berichtigung nach § 22 GBO erforderliche Nachweis durch die Vorlage einer formgerecht beurkundeten Erbteilsübertragung geführt werden (OLG Naumburg, NJOZ 2013, 812).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>33 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="33"/>bb) Das ist hier nicht in tauglicher Form geschehen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die „Richtigstellung einer offensichtlichen Unrichtigkeit“, die der Notar am 30. September 2020 vorgenommen hat, von der in § 44a Abs. 2 Satz 1 BeurkG geregelten Befugnis - deren Grenzen sich an denjenigen des § 319 Abs. 1 ZPO orientieren (vgl. BeckOGK/Regler, 1.5.2022, BeurkG § 44a Rn. 27) - noch gedeckt ist, was bereits zweifelhaft erscheint. Darauf dürfte es aber nicht entscheidend ankommen. Die Unrichtigkeit des Grundbuchs muss in der Form des § 29 GBO nachgewiesen werden, weil sonst am Verfahren nicht beteiligte Personen geschädigt werden könnten (OLG Hamm, Beschluss vom 16. Januar 1984 - 15 W 3/84 -, BeckRS 1984, 31381345; Imre, in: Kroiß/Horn/Solomon, Nachfolgerecht, 2. Auflage, 2019, § 22 GBO Rn. 22). Die Vorlage einer den genauen Erbteil, über den verfügt werden soll, bezeichnenden formgerecht beurkundeten Erbteilsübertragung haben die Beteiligten bislang indes nicht vorgenommen. Die „Richtigstellung“ seitens des Notars hat nicht dazu geführt, dass mit hinreichender Sicherheit erkennbar gewesen wäre, über welchen Erbanteil die Beteiligten zu 1 bis 4 verfügen wollten. Die Reihenfolge der Todesfälle konnte nach eigenem Vortrag der Beteiligten in der Beschwerdeschrift erst in der Folge ermittelt werden. Die in der Beschwerdeschrift vorgenommene Ergänzung genügt aber nicht, um die Unrichtigkeit des Grundbuchs durch die Erbteilsübertragung in einer § 29 GBO genügenden Form nachzuweisen. Der Zweck des Grundbuchs, auf sicherer Grundlage bestimmte und eindeutige Rechtsverhältnisse für unbewegliche Sachen zu schaffen und zu erhalten, erfordert klare und eindeutige Eintragungen; sie sind nur möglich, wenn bereits die Eintragungsgrundlagen eindeutig und zweifelsfrei sind (vgl. BayObLG, NJW-RR 1994, 718 (719)). Daher ist der Zurückweisungsbeschluss betreffend Blatt X zu Recht ergangen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>34 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="34"/>2. Da Gegenstand einer Verfügung nach § 2033 Abs. 1 BGB nicht der Anteil an einzelnen Nachlassgegenständen sein kann (Abs. 2), vorliegend infolge der Unbestimmtheit der Erbteilsübertragung betreffend Grundbuch Blatt X die von den Beteiligten gewollte (teilweise) Erbauseinandersetzung des Nachlasses Dr. H. sich aber tatsächlich auf das im <strong>Grundbuch Blatt Y</strong> verzeichnete Grundstück beschränken würde, ist der Zurückweisungsbeschluss des Grundbuchamtes zum Grundbuch Blatt Y zu Recht ergangen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>35 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="35"/>Konnte eine Erbteilsübertragung zugunsten des Beteiligten zu 2 aus den vorgenannten Mängeln der Bewilligung hinsichtlich Grundbuch Blatt X nicht erfolgen, ist eine Erbteilsübertragung insgesamt nicht wirksam erfolgt. Mangels einer nicht in der Form des § 29 GBO nachgewiesenen Unrichtigkeit des Grundbuchs war dasselbe nicht zu berichtigen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 GBO).</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>36 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="36"/>3. Zutreffend und von der Beschwerde nicht angegriffen geht das Grundbuchamt davon aus, dass die Löschung des <strong>Testamentsvollstreckervermerks</strong> voraussetzen würde, dass das Ende der Testamentsvollstreckung durch öffentliche Urkunden nachgewiesen oder offenkundig ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>37 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="37"/>a) Dass das Nachlassgericht bisher den Erbschein, der die Testamentsvollstreckung ausweist, nicht eingezogen hat, steht der Annahme einer Unrichtigkeit der Grundbucheintragung nicht von vornherein entgegen (OLG München, Beschluss vom 8. September 2005 – 32 Wx 58/05, juris, Rn. 17). Zwar wäre die Einziehung des bisherigen und die Ausstellung eines neuen Erbscheins ohne den Testamentsvollstreckervermerk ein ohne weiteres geeigneter Weg, das Ende der Testamentsvollstreckung formgerecht nachzuweisen. Wollen die Beteiligten hierauf - etwa aus Kostengründen - aber nicht antragen, muss es ihnen weder nach dem Wortlaut des Gesetzes noch nach dem Zweck der Erbscheinsbestimmungen verwehrt sein, das Ende der Testamentsvollstreckung auf andere Weise zu belegen.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>38 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="38"/>b) Das Bayerische Oberste Landesgericht hat es (FamRZ 1990, 669) für ausreichend erachtet, dass zum Nachweis des Endes der Testamentsvollstreckung ein mit einem Beendigungsvermerk versehenes Testamentsvollstreckerzeugnis vorgelegt wird. Das hat es überzeugend damit begründet, dass wegen der Bedeutung für Rechtshandlungen in der Vergangenheit auch noch über eine beendete Testamentsvollstreckung ein Zeugnis - mit einem Vermerk über den Beendigungszeitpunkt - ausgestellt werden könne. Ein förmliches Testamentsvollstreckerzeugnis mit Beendigungsvermerk haben die Beteiligten hier zwar nicht vorgelegt. Sie machen aber zu Recht geltend, dass die gesiegelte und von der Nachlassrichterin unterzeichnete Erklärung vom 20. März 2000, die sie vorgelegt haben, dem Beendigungsvermerk auf einem Testamentsvollstreckerzeugnis gleichsteht.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>39 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="39"/>Zwar ist dem Grundbuchamt zuzugeben, dass die Erteilung entsprechender Bescheinigungen keinem gesetzlich geregelten Verfahren unterliegt. Dies trifft indes auch auf die (nachträgliche) Erteilung eines Testamentsvollstreckerzeugnisses mit einem Beendigungsvermerk zu. Wie sich aus § 2368 Satz 2, 2. Halbs. BGB ergibt, wird das dem Testamentsvollstrecker erteilte Zeugnis – ohne dass es einer entsprechenden Entscheidung des Nachlassgerichts bedarf – mit Beendigung des Amtes kraftlos. Ausdrücklich vorgesehen ist für diesen Fall nur die Einziehung des Testamentsvollstreckerzeugnisses (§§ 2368 Satz 2, 2361 Satz 1 BGB), nicht aber die (bloße) Anbringung eines Beendigungsvermerks. Die Rechtsprechung hat richtigerweise gleichwohl für bestimmte Fälle die Erteilung eines Testamentsvollstreckerzeugnisses mit Beendigungsvermerk für zulässig erachtet (OLG Stuttgart, OLGZ 1979, 387). Entgegen der vom Grundbuchamt im Nichtabhilfebeschluss vertretenen Auffassung kann aus dem Umstand, dass das Gesetz weder ein Testamentsvollstreckerzeugnis mit Beendigungsvermerk noch eine hiervon losgelöste Bestätigung des Nachlassgerichts über die Beendigung der Testamentsvollstreckung ausdrücklich vorsieht, der Schluss gezogen werden, dass es sich um keine amtliche Anordnung, Verfügung oder Entscheidung (§ 417 ZPO) und damit um keine zum Nachweis im Grundbuchverkehr taugliche öffentliche Urkunde (§ 29 GBO) handelt. Die formelle Beweiskraft im Sinne des § 417 ZPO kommt öffentlichen Urkunden zu, die von einer Behörde ausgestellt sind und eine Erklärung der Behörde enthalten. Die Aufzählung von Anordnung, Verfügung oder Entscheidung ist dabei untechnisch zu verstehen und erfasst jede auf Außenwirkung gerichtete (Willens-)Erklärung einer Behörde (vgl. Schreiber, in: MüKo ZPO, 6. Auflage, 2020, § 415 Rn. 5; Huber, in: Musielak/Voit, ZPO, 19. Auflage, 2022, § 417 Rn. 1). Das nachlassgerichtliche Schreiben lässt sich daher ohne weiteres als die Entscheidung im Sinne des § 417 ZPO verstehen, dass die Testamentsvollstreckung seit einem bestimmten Tag als beendet angesehen wird. Für die Annahme des Grundbuchamts, es habe lediglich eine Rechtsansicht kundgetan werden sollen, gibt es keinen konkreten Anhaltspunkt. Zu den Aufgaben des Nachlassgerichts gehört es, bei fehlender Ernennung durch den Erblasser (§ 2200 Abs. 1 BGB) einen Testamentsvollstrecker zu ernennen und dem vom Erblasser oder von ihm selbst ernannten Testamentsvollstrecker auf Antrag sein Amt zu bezeugen (§ 2368 Satz 1 BGB). Erklärt das Nachlassgericht daher, dass die Testamentsvollstreckung beendet sei, ist damit ohne weiteres die – zu seiner Kompetenz gehörende - Entscheidung verbunden, dass die Ernennung eines (neuen) Testamentsvollstreckers oder die Ausstellung eines Zeugnisses nicht mehr in Betracht kommt. Äußerlich streitet für den Willen, eine Entscheidung zu treffen und nicht lediglich eine Rechtsansicht mitzuteilen, der Umstand, dass die Bestätigung von der zuständigen Nachlassrichterin eigenhändig unterschrieben ist – was bei formlosen Schreiben der Gerichte nicht zu erfolgen pflegt – und mit einem Dienstsiegel versehen ist.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>40 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="40"/>Aus der funktionellen Zuständigkeitsverteilung zwischen Grundbuchamt und Nachlassgericht folgt, dass Letzterem die vorrangige Kompetenz in der Beurteilung zukommt, ob eine Testamentsvollstreckung angeordnet wurde und ob diese noch besteht (vgl. KG, FGPrax 2015, 104; OLG Düsseldorf, ZEV 2016, 164). Das muss nicht nur in materiell-rechtlicher Hinsicht gelten, sondern auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht; das Grundbuchamt ist daher auch an die Entscheidung des Nachlassgerichts gebunden, eine vom Testamentsvollstreckerzeugnis losgelöste Bestätigung der Beendigung der Testamentsvollstreckung prozessual für zulässig zu erachten.</td></tr></table>
<table style="margin-left:14pt"><tr><td>III.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>41 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="41"/>Da die Zwischenverfügung nicht gerechtfertigt ist, wird sie aufgehoben.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>42 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="42"/>Die Kostenentscheidung beruht auf § 27 Nr. 1 GNotKG sowie Ziffer 14510 des Kostenverzeichnisses, Anlage 1 zum GNotKG, wonach die Gebühren im Rechtsmittelverfahren anfallen, soweit die Beschwerde verworfen oder zurückgewiesen wurde.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>43 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="43"/>Für einen Grundbuchberichtigungsantrag ist regelmäßig der nach § 46 Abs. 1 GNotKG maßgebliche Verkehrswert des Grundstücks anzusetzen (vgl. Bormann, in: Korintenberg, GNotKG, 22. Auflage, 2022, § 36 Rn. 59). Vorliegend bestimmt der Senat den Wert der dem Antrag zugrundeliegenden Grundstücke nach § 46 Abs. 2 Nr. 4 GNotKG anhand offenkundiger Tatsachen, namentlich den Bodenrichtwerten der Gutachterausschüsse in Baden-Württemberg. Ausgehend von einem Bodenrichtwert von je 1,70 EUR/qm Ackerland beträgt der Wert 6.106,40 EUR. Mit Blick auf die ebenfalls beantragte Löschung des Testamentsvollstreckervermerks, die in der Sache auf das gleiche Interesse, nämlich die Übertragung bzw. Übertragbarmachung dieser Werte abzielt, bewertet der Senat das Unterliegen der Beteiligten mit einem Wert von 4.000 EUR.</td></tr></table>
</td></tr><tr><td valign="top"><table><tr><td>44 </td></tr></table></td><td><table style="margin-left:3pt"><tr><td><rd nr="44"/>Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 78 Absatz 2 Satz 1 GBO) liegen nicht vor.</td></tr></table>
</td></tr></table> |
|
346,853 | olgk-2022-09-07-16-u-20821 | {
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<p>Die Berufung der Beklagten gegen das am 03.12.2021 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bonn – 2 O 208/21 – wird zurückgewiesen.</p>
<p>Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Beklagten auferlegt.</p>
<p>Dieses und das erstinstanzliche Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.</p>
<p>Der Gegenstandswert für das Berufungsverfahren wird auf 7.083,20 € festgesetzt.</p>
<p>Die Revision wird zugelassen.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong><span style="text-decoration:underline">G r ü n d e :</span></strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks"><strong>A.</strong></p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">Der Kläger begehrt die Rückzahlung einer geleisteten Anzahlung für von ihm bei der Beklagten gebuchte Hotelzimmer.</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Der Kläger veranstaltet mit seinem Reisebusunternehmen „A" unter anderem touristische Gruppenreisen. Für seine Saisoneröffnungsfahrten vom 19.-22.03.2020 und vom 26.-29.09.2020 buchte er bei der Beklagten auf deren Angebot vom 17.10.2019 (GA 183) in deren Hotel „B" in C Übernachtungen einschließlich Frühstücksbuffet, Mittagessen, Kaffeetafel und Abendessen mit kalten und warmen Speisen. In dem Angebot heißt es u.a.: „Im Anhang übersende ich Ihnen gerne Ihr persönliches ALL-INKLUSIVE Angebot für Ihre Saisoneröffnung 2020 für beide März Termine … . Einen Reiseleiter für Ausflüge können wir leider nicht stellen = vielleicht kann Ihnen die Touristeninformation D weiterhelfen? Einen Musikabend in unserem Hause können wir gerne in unserem E organisieren.“ Die von dem Kläger unterzeichnete Reservierungsbestätigung der Beklagten vom 25.10.2019 (GA 76 f.) enthielt unter anderem Hinweise auf die Stornierungsbedingungen, auf ein zwei Wochen vor Veranstaltungsbeginn zu zahlendes Deposit in Höhe von 80% der vereinbarten Gesamtsumme sowie auf die separat vor Ort zu leistende Kurtaxe.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung des tatsächlichen Buchungsumfangs stellte die Beklagte dem Kläger unter dem 26.02.2020 eine Depositrechung in Höhe von insgesamt 10.356 € aus, auf die der Kläger am 04. bzw. 05.03.2020 vereinbarungsgemäß 8.426,40 € als Vorauszahlung überwies.</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">Angesichts der einbrechenden Corona-Epidemie verständigten sich die Regierungschefs der Bundesländer und die Bundesregierung am 16.03.2020 auf Leitlinien zum einheitlichen Vorgehen zur weiteren Beschränkung von sozialen Kontakten im öffentlichen Bereich. Auf Basis eines Runderlasses des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vom 16.03.2020 betreffend „Einschränkung sozialer Kontakte“ wies dieses mit Schreiben vom 17.03.2020 (GA 108 ff.) die Niedersächsischen Landkreise im Wege der Fachaufsicht an, eine Allgemeinverfügung mit sofortiger Wirkung bis zum 18.04.2020 des Inhalts zu verkünden, dass es Betreibern von Hotels „ab sofort“ untersagt ist, „Personen zu touristischen Zwecken zu beherbergen“. Die entsprechende Allgemeinverfügung des Landkreises C vom 18.03.2020 (GA 213 ff.) galt „ab sofort“ und wurde unter anderem über das Internet verbreitet. Das in ganz Niedersachsen angeordnete Beherbergungsverbot für Touristen war seinerzeit auch Gegenstand medialer Berichterstattung.</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Am 17.03.2020 telefonierte der Kläger mit der bei der Beklagten angestellten und für die Reservierung des B zuständigen Frau F. Mit E-Mail vom 18.03.2020 (GA 136) teilte diese dem Kläger unter dem Betreff „Storno“ mit: „Die Gruppenreise für Rendezvous-Tours haben wir erstmals bei uns Storniert. Die Anzahlung haben wir auf ein „Gutschein“ Konto umgebucht & halten dieses bis zum Umbuchungstermin offen. Wie würden uns sehr über einen Alternativtermin freuen.“</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Auf E-Mail-Aufforderungen des Klägers zur Rückzahlung seiner Vorauszahlung teilte die Beklagte diesem mit E-Mails vom 22.05.2020 (GA 184) bzw. 30.07.2020 (GA 186) mit, dass man den Vorgang an die Buchhaltung der Beklagten zur Rückzahlung weitergeleitet habe.</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">Mit Schreiben seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 16.09.2020 forderte der Kläger die Beklagte unter Fristsetzung bis einschließlich 30.09.2020 auf, die geleistete Vorauszahlung nebst Zinsen, Mahn- und vorgerichtlich entstandene Rechtsverfolgungskosten zurückzuerstatten (GA 25 f.).</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat behauptet, Vertragsgegenstand sei die Beherbergung zweier touristischer Reisegruppen gewesen. Weiter habe die Beklagte die Reisen in dem Telefonat am 17.03.2020 abgesagt.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat zunächst beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn in der Hauptsache 8.426,40 € zu zahlen. Die Beklagte hat im erstinstanzlichen Verhandlungstermin vom 8.10.2021 die Klageforderung in Höhe eines Teilbetrages von 1.343,20 € anerkannt, worauf das Landgericht am selben Tag ein entsprechendes Teilanerkenntnisurteil erlassen hat.</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Der Kläger hat daher zuletzt beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.083,20 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 8.426,40 € seit dem 30.07.2020 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 679,10 € und Mahnkosten in Höhe von 10,00 € zu zahlen.</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte hat behauptet, ihr sei die Art des von dem Kläger gebuchten Aufenthaltes nicht bekannt und nicht erkennbar gewesen. Weiter habe der Kläger die Zimmer am 17.03.2020 telefonisch storniert.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks">Sie hat die Ansicht vertreten, sie habe die Zimmer unbeschadet der Allgemeinverfügung des Landkreises C weiterhin für nicht-touristische Übernachtungsgäste zur Verfügung stellen können. Der Kläger habe das Risiko, die von ihr angebotene Leistung für seine Zwecke nicht verwenden zu können, zu tragen. Gemäß ihren in den Vertrag einbezogenen Stornierungsbedingungen dürfe sie 80% der Übernachtungspreise, also insgesamt 7.084,20 € behalten.</p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Das Landgericht hat die noch offenen Klageforderungen mit Urteil vom 03.12.2021 - bis auf im Berufungsverfahren nicht streitgegenständliche Mahnkosten iHv 10 € - zugesprochen. Die Beklagte müsse insbesondere dem Kläger gemäß § 346 Abs. 1 i. V. m. §§ 275, 326 Abs. 1, 4 BGB die geleistete Vorauszahlung in voller Höhe zurückerstatten, da ihr die Bewirkung der gemäß § 535 Abs. 1 Satz 1 BGB geschuldeten Hauptleistung nach Vertragsschluss pandemiebedingt aufgrund öffentlich-rechtlichen Verbots im Sinne von § 275 Abs. 1 BGB unmöglich geworden sei. Insoweit ergebe die Auslegung der auf den Abschluss eines Beherbergungsvertrags gerichteten Willenserklärungen der Parteien gemäß den §§ 133, 157 BGB, dass die Beherbergung und Bewirtung der Busreisegruppen zu touristischen Zwecken Vertragsinhalt gewesen sei.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte begehrt mit ihrer Berufung die vollständige Klageabweisung. Sie rügt insbesondere die erstinstanzliche Auslegung zu dem Vorliegen eines touristischen Reisezweckes sowie die Anwendung der Unmöglichkeitsregeln. Für die in Rede stehende Konstellation sei die Vorschrift über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) einschlägig, zumindest über den Weg der Analogie, weil der Gesetzgeber diese nicht speziell geregelt habe. Des Weiteren habe das Landgericht die fehlende Darlegung des Klägers unberücksichtigt gelassen, dass er im Verhältnis zu seinen Gästen Einnahmeausfälle erlitten habe, so dass eine ungerechtfertigte Bereicherung des Klägers auf ihre Kosten zu besorgen sei. Zudem werde sie auch dadurch geschädigt, dass sie die vereinnahmten Vorauszahlungen beim Finanzamt und bei der Beantragung staatlicher Coronahilfen als eigenen Umsatz angegeben habe.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Die Beklagte beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">unter Abänderung des am 03.12.2021 verkündeten Urteils des Landgerichts Bonn, Az. 2 O 154/21, die Klage abzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Der Kläger beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks"> die Berufung zurückzuweisen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Er verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens die angegriffene Entscheidung.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Berufungsrechtszug wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze und Unterlagen Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.</p>
<span class="absatzRechts">27</span><p class="absatzLinks"><strong>B.</strong></p>
<span class="absatzRechts">28</span><p class="absatzLinks">Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die dem Kläger in dem angefochtenen Urteil zugesprochenen Ansprüche stehen diesem zu.</p>
<span class="absatzRechts">29</span><p class="absatzLinks">I.</p>
<span class="absatzRechts">30</span><p class="absatzLinks">Der Kläger kann von der Beklagten die Rückzahlung des vorgeleisteten Betrages in Höhe von – nach dem Teilanerkenntnisurteil vom 08.10.2021 noch – 7.083,20 € gemäß den §§ 346 Abs. 1, 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 und 4 BGB verlangen. Denn der Beklagten ist die Erbringung ihrer vertraglichen Leistungspflicht – der Beherbergung von Touristen (dazu 1.) – aufgrund der coronabedingten Untersagung der Beherbergung von Personen zu touristischen Zwecken unmöglich geworden (dazu 2.), ohne dass der Kläger zuvor die vereinbarte Leistung storniert hätte (dazu 3.) oder die Parteien eine eigenständige Vereinbarung zur Regelung der Corona-Auswirkungen getroffen hätten (dazu 4.) oder dass eine analoge Anwendung des § 313 BGB in Frage kommt.</p>
<span class="absatzRechts">31</span><p class="absatzLinks">1. Das Landgericht hat anhand aller auslegungsfähigen Umstände gemäß §§ 133, 157 BGB festgestellt, dass auch nach dem objektiven Empfängerhorizont der Beklagten die Hotelzimmer von dem Kläger für die Unterbringung von Touristen gebucht worden waren. Soweit die Berufung rügt, dieses Auslegungsergebnis des Landgerichts sei falsch, ist der Senat nicht nur nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 BGB an die erstinstanzliche Feststellung gebunden, vielmehr tritt er dieser auch ausdrücklich bei.</p>
<span class="absatzRechts">32</span><p class="absatzLinks">Der Senat hat nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (s. insgesamt BGH, Urt. v. 18.10.2005 – VI ZR 270/04 = NJW 2006, 152 Rz. 9; v. 18.10.2005 – VI ZR 270/04 = NJW 2006, 152 Rz. 9).</p>
<span class="absatzRechts">33</span><p class="absatzLinks">Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind keine hinreichenden Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen des Landgerichts dargetan. Im Gegenteil ergibt sich aus folgenden Umständen, dass auch aus der maßgeblichen objektiven Sicht der Beklagten touristische Übernachtungen vereinbart worden waren:</p>
<span class="absatzRechts">34</span><p class="absatzLinks">- Aus der Angebots-E-Mail der Beklagten vom 17.10.2019 ergibt sich der Zweck, dass die gebuchten Zimmer im Rahmen der „Saisoneröffnung“ des Klägers der Unterbringung von touristischen Busreisegruppen dienen sollten. Andernfalls hätte sie diesem nicht den Rat erteilt, sich hinsichtlich einer Reiseleitung für Ausflüge an die örtliche Touristeninformation zu wenden. Zudem hat die Beklagte dem Kläger auch ein gerade auf diese Zielgruppe zugeschnittenes „persönliches ALL-INKLUSIVE“ Angebot für dessen Saisoneröffnung offeriert und in diesem Zusammenhang zusätzlich angeboten, einen Musikabend zu organisieren.</p>
<span class="absatzRechts">35</span><p class="absatzLinks">- In der Reservierungsbestätigung vom 25.10.2019 erwähnt die Beklagte eine „Kurtaxe“ (GA 76) und bestätigt damit einen Tourismusbezug, denn dabei handelt es sich um eine allein von Touristen erhobene Abgabe zwecks Erhaltung/Ausbau der Tourismusinfrastruktur.</p>
<span class="absatzRechts">36</span><p class="absatzLinks">Den genannten Umständen hätte ein die Stelle der Beklagten einnehmender objektiver Dritter insbesondere auch vor dem Hintergrund der durch die ständige Vermietung von Hotelzimmern gewonnenen Erfahrungen ohne Weiteres entnommen, dass die Reisenden aus touristischen Zwecken bei ihr übernachten wollten.</p>
<span class="absatzRechts">37</span><p class="absatzLinks">2. Da der Beklagten aufgrund behördlicher Corona-Anordnungen die Beherbergung von Personen zu touristischen Zwecken untersagt geworden war, ist ihr diese von ihr im Verhältnis zum Kläger zu erbringende Leistung gemäß § 275 Abs. 1 BGB unmöglich geworden.</p>
<span class="absatzRechts">38</span><p class="absatzLinks">a. Wird eine vertraglich vereinbarte Leistung durch eine behördliche Corona-Anordnung untersagt, kommen bei der Frage der rechtlichen Zuordnung grundsätzlich die Rechtsfiguren der Unmöglichkeit (§ 275 Abs. 1 BGB) und der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) in Betracht – wobei sich die beiden Kategorien ausschließen (s. BGH, Urt. v. 04.05.2022 – XII ZR 64/21, NJW 2022, 2024 ff, Rz. 30; auch OLG Köln, Urt. v. 14.05.2021 – 1 U 9/21, MDR 2021, 1121 f., zitiert nach juris Rz. 27).</p>
<span class="absatzRechts">39</span><p class="absatzLinks">b. Zur Abgrenzung dieser beiden Rechtsinstitute gilt grundsätzlich, dass Unmöglichkeit vorliegt, wenn der Leistungserfolg nicht mehr herbeigeführt werden kann und eine Störung der Geschäftsgrundlage gegeben ist, wenn der Leistungserfolg noch herbeigeführt werden kann, der grundsätzlich das Verwendungsrisiko tragende Gläubiger an diesem Leistungserfolg aber kein Interesse mehr hat (s. OLG Köln, a.a.O.; Grüneberg-Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 313, Rz. 35).</p>
<span class="absatzRechts">40</span><p class="absatzLinks">c. Für den Fall, dass eine vertraglich vereinbarte Leistung konkret verboten ist oder generell einen Rechtserfolg herbeiführt, den die Rechtsordnung nicht anerkennt, liegt eine rechtliche Unmöglichkeit vor (vgl. BGH, Urt. v. 29.11.2007 – IX ZR 121/06, NJW 2008, 1070 Rz. 21; Urt. v. 22.10.2015 – VII ZR 58/14, NZBau 2016, 213 Rz. 14). Diese Unmöglichkeit aus Rechtsgründen ist bei hoheitlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie dann zu bejahen, wenn die Anordnungen eine bestimmte Leistungserbringung untersagen, die gerade Gegenstand des Vertrages ist (vgl. BGH, Urt. v. 04.05.2022 – XII ZR 64/21, NJW 2022, 2024 ff, Rz. 18 für die Leistung eines Fitnessstudio-Betreibers im Verhältnis zu seinen Kunden bei coronabedingter Schließung des Fitnessstudios).</p>
<span class="absatzRechts">41</span><p class="absatzLinks">d. Im Streitfall ist gerade die vertragsgegenständliche Bereitstellung der Hotelzimmer für touristische Übernachtungen durch die behördliche Anordnung untersagt, womit der vereinbarte Leistungserfolg nicht mehr herbeigeführt werden kann und rechtliche Unmöglichkeit vorliegt.</p>
<span class="absatzRechts">42</span><p class="absatzLinks">e. Diese Zuordnung fügt sich in die bisherige BGH-Rechtsprechung zu den Auswirkungen coronabedingter Gewerbe-Schließungs-Anordnungen auf die dahinter stehenden zivilrechtlichen Rechtsverhältnisse ein:</p>
<span class="absatzRechts">43</span><p class="absatzLinks">- So hat der BGH (Urt. v. 12.01.2022 – XII ZR 8/21, MDR 2022, 147 ff. und v. 16.02.2022 – XII ZR 17/21, MDR 2022, 418 ff.) für gewerbliche Mietverträge zwecks Betreibung eines Einzelhandelsgeschäfts entschieden, dass bei Vorliegen einer Allgemeinverfügung, wonach Geschäfte coronabedingt schließen müssen, keine Unmöglichkeit vorliegt, da durch diese Allgemeinverfügung dem Vermieter nicht die Überlassung der Mieträume an den Mieter verboten werde (BGH, Urt. v. 12.01.2022, a.a.O., Rz. 34; v. 16.02.2022, a.a.O., Rz. 22).</p>
<span class="absatzRechts">44</span><p class="absatzLinks">- Weiter hat der BGH (Urt. v. 04.05.2022, a.a.O., Rz. 22) zu einem Fitnessstudiovertrag erkannt, dass der Studiobetreiber seinen Kunden die Möglichkeit schuldet, fortlaufend das Studio zu betreten und sich regelmäßig sportlich zu betätigen, so dass ihm diese Leistungserbringung unmöglich ist, wenn er aufgrund der hoheitlichen Corona-Schutzmaßnahmen sein Fitnessstudio schließen muss. Diese Konstellation entspricht der streitgegenständlichen vertraglichen Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger Hotelzimmer für Touristen zur Verfügung zu stellen.</p>
<span class="absatzRechts">45</span><p class="absatzLinks">f. Es liegt auch keine nur vorübergehende Unmöglichkeit vor, die von § 275 Abs. 1 BGB nicht erfasst würde (vgl. BGH, Urt. v. 04.05.2022, a.a.O., Rz. 19). Zwar konnte die Beklagte nach der behördlichen Aufhebung der Untersagungsanordnungen wieder Hotelzimmer für touristische Zwecke bereit stellen, dies aber nicht für die von dem Kläger konkret gebuchten Zeiträume, zu denen sich auch bereits individualisierte Reisende bei dem Kläger angemeldet hatten. Das zeitweilige Erfüllungshindernis ist insoweit einem dauernden gleichzustellen, denn dem Kläger konnte nicht mehr zugemutet werden, die Leistung nach dem Zeitablauf noch zu fordern.</p>
<span class="absatzRechts">46</span><p class="absatzLinks">3. Der Kläger hat auch nicht vor Eintritt der Unmöglichkeit das Vertragsverhältnis in der Form storniert, dass der Beklagten die in der Reservierungsbestätigung vom 25.10.2019 festgehaltenen Stornierungsgebühren zustehen.</p>
<span class="absatzRechts">47</span><p class="absatzLinks">a. Es fehlt bereits ein hinreichend substantiiertes Vorbringen. Zwar behauptet die Beklagte insoweit, der Kläger habe die gebuchten Hotelzimmer in dem Telefonat am 17.03.2020 storniert. Dieses Vorbringen ist indes anhand der auch von der Beklagten eingereichten Unterlagen nicht plausibel. Denn in der E-Mail der Beklagten vom 18.03.2020 ist davon die Rede, die Reise „haben wir erstmals bei uns Storniert“, nicht aber, dass der Kläger die Reise storniert hat. Im Zusammenhang mit den weiteren Ausführungen zur Umbuchung der Anzahlung auf ein „Gutschein“-Konto und den zukünftigen Umbuchungs- bzw. Alternativterminen wird deutlich, dass die Beklagte selbst nicht davon ausging, dass der Kläger aufgrund einer von ihm ausgesprochenen Stornierung die in der Reservierungsbestätigung vom 25.10.2019 aufgeführten Stornierungskosten schuldete. Der zuletzt genannte Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Beklagte auch auf die Nachfrage des Klägers nach der vollständigen Auskehr seiner Anzahlung diesem mit E-Mail-Schreiben vom 22.05.2020 und 30.07.2020 jeweils mitgeteilt hat, dass man den Vorgang an die Buchhaltung der Beklagten zur Rückzahlung weitergeleitet habe.</p>
<span class="absatzRechts">48</span><p class="absatzLinks">b. Aber auch dann, wenn man zugunsten der Beklagten unterstellt, der Kläger habe am 17.03.2020 die Stornierung veranlasst, so war zu diesem Zeitpunkt bereits das Unmöglichkeits-Stadium eingetreten. Denn nach der Verständigung der Regierungschefs der Bundesländer und der Bundesregierung vom 16.03.2020, des Runderlasses des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vom 16.03.2020 und der Fachaufsicht-Anweisung an die Niedersächsischen Landkreise vom 17.03.2020, es Betreibern von Hotels „ab sofort“ zu untersagen, „Personen zu touristischen Zwecken zu beherbergen“, war das Beherbergungsverbot für Touristen schon hoheitlich beschlossen – es bedurfte für das streitgegenständliche Hotel der Beklagten in C lediglich noch der Umsetzung durch den Landkreis C, die dann durch die absehbare Allgemeinverfügung vom 18.03.2020 auch erfolgte.</p>
<span class="absatzRechts">49</span><p class="absatzLinks">4. Es ist auch nicht feststellbar, dass die Parteien in dem Telefonat vom 17.03.2020 im Rahmen der ihnen zustehenden Privatautonomie eine von den allgemeinen Rechtsfolgen der Unmöglichkeit abweichende Vereinbarung getroffen haben. Zwar ist in der E-Mail der Beklagten vom 18.03.2020 davon die Rede, dass die Anzahlung auf ein „Gutschein“-Konto umgebucht wurde. Dass dies einer dahingehenden Vereinbarung der Parteien entspricht, hat aber auch die Beklagte nicht vorgetragen. Dagegen spricht auch, dass die Beklagte in ihren noch zeitnahen E-Mails vom 22.05.2020 und 30.07.2020 ohne jede Erwähnung einer Gutschein-Abrede die Rückzahlung der Anzahlung angekündigt hat.</p>
<span class="absatzRechts">50</span><p class="absatzLinks">5. Entgegen der Ansicht der Beklagten scheidet auch vor dem Hintergrund ihres umfangreichen Vortrages, wonach allein sie die wirtschaftlichen Nachteile der Corona-Untersagung träfen und eine ungerechtfertigte Bereicherung des Klägers auf ihre Kosten möglich sei, eine analoge Anwendung des § 313 BGB aus. Insoweit fehlt es bereits an der für die Analogie erforderlichen Regelungslücke, denn der Gesetzgeber hat für die vorliegende rechtliche Unmöglichkeit mit den §§ 275, 326 BGB ein abgeschlossenes System von Rechtsnormen geschaffen, die zudem – wie bereits erwähnt – von dem Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage gerade streng zu unterscheiden sind (s. BGH, Urt. v. 04.05.2022 – XII ZR 64/21, a.a.O., Rz. 30).</p>
<span class="absatzRechts">51</span><p class="absatzLinks">II.</p>
<span class="absatzRechts">52</span><p class="absatzLinks">Hinsichtlich der vom Landgericht zugesprochenen Ansprüche auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 679,10 € sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 8.426,40 € seit dem 01.08.2020 – die beide von der Berufung nicht konkret angegriffen werden – wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffende Begründung des Landgerichts auf Seite 10 des angegriffenen Urteils Bezug genommen.</p>
<span class="absatzRechts">53</span><p class="absatzLinks"><strong>C.</strong></p>
<span class="absatzRechts">54</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.</p>
<span class="absatzRechts">55</span><p class="absatzLinks">Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen vor. Die Rechtsfolgen der coronabedingten Schließung eines touristischen Zwecken dienenden Hotels im Verhältnis zu einem mehrere Zimmer anmietenden (Reise-)Unternehmers sind in der ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt.</p>
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346,717 | vg-koln-2022-09-07-22-l-118322 | {
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} | 22 L 1183/22 | 2022-09-07T00:00:00 | 2022-09-27T10:01:33 | 2022-10-17T11:10:33 | Beschluss | ECLI:DE:VGK:2022:0907.22L1183.22.00 | <h2>Tenor</h2>
<p>1. Der Antrag wird abgelehnt. Die Kosten des Verfahrens werden der Antragstellerin auferlegt.</p>
<p>2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.</p><br style="clear:both">
<span class="absatzRechts">1</span><p class="absatzLinks"><strong>Gründe</strong></p>
<span class="absatzRechts">2</span><p class="absatzLinks">Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bedarf zunächst der Auslegung. Wörtlich beantragt die Antragstellerin:</p>
<span class="absatzRechts">3</span><p class="absatzLinks">„Einstweilige Anordnung auf gerichtliche Verfügung dazu, die Stadt M. , Fachbereich Soziales, zu verpflichten das 2. Zimmer, was ich für meinen Sohn beantragt hatte, keiner anderen Person zuzuweisen, solange bis über meinen Widerspruch beschieden worden ist.“</p>
<span class="absatzRechts">4</span><p class="absatzLinks">Nach § 88 VwGO, der im vorliegenden Eilverfahren gemäß § 122 Abs. 1 VwGO entsprechend anzuwenden ist, darf das Gericht über das Antragsbegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Bei wörtlicher Auslegung des Antrags wäre dieser mittlerweile unzulässig geworden, denn die Antragstellerin beschränkt ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in zeitlicher Hinsicht bis zum Erlass des Widerspruchbescheids. Diesen hat die Antragsgegnerin zwischenzeitlich unter dem Datum des 20. Juli 2022 erlassen.</p>
<span class="absatzRechts">5</span><p class="absatzLinks">Im Schriftsatz vom 22. August 2022 führt die Antragstellerin jedoch weiter aus, dass sie beantragt habe, die Antragsgegnerin</p>
<span class="absatzRechts">6</span><p class="absatzLinks">„dazu zu verpflichten, das Zimmer <span style="text-decoration:underline">für die Dauer der Verfahren</span> nicht anderweitig zu vergeben.“ (Hervorhebung hinzugefügt)</p>
<span class="absatzRechts">7</span><p class="absatzLinks">Was genau die Antragstellerin mit „den Verfahren“ meint, ist mangels näherer Ausführungen nicht ganz klar. Bei verständiger Würdigung des gesamten Vortrags der Antragstellerin sowie unter Berücksichtigung von Art. 19 Abs. 4 GG geht der hier zur Entscheidung berufene Einzelrichter davon aus, dass sich das Antragsbegehren der Antragstellerin wie folgt ausdrücken lässt:</p>
<span class="absatzRechts">8</span><p class="absatzLinks">Die Antragstellerin beantragt,</p>
<span class="absatzRechts">9</span><p class="absatzLinks">der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, das Zimmer mit der Nummer 000, welches sich in der Städtischen Gemeinschaftsunterkunft für obdachlose Familien in der I. -M1. -Str. 00 in M. direkt neben dem ihr zugewiesenen Zimmer mit der Nummer 000 befindet, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens 22 K 4832/22 nicht anderweitig zu belegen.</p>
<span class="absatzRechts">10</span><p class="absatzLinks">Der so verstandene Antrag hat keinen Erfolg.</p>
<span class="absatzRechts">11</span><p class="absatzLinks">Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis kann getroffen werden, wenn die Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für die Antragstellerin abzuwenden, § 123 Abs. 1 VwGO. Der für eine solche Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind von der Antragstellerin darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 1 und 2 ZPO).</p>
<span class="absatzRechts">12</span><p class="absatzLinks">Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Dabei kann offen bleiben, ob der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch auf Zuweisung eines weiteren Zimmers für ihren Sohn zusteht. Denn die Antragstellerin hat die tatsächlichen Umstände, aus denen sie den geltend gemachten Anspruch herleitet, schon nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Sämtliche Umstände, die Art und Umfang des vermeintlichen Umgangsrechts betreffen, hat die Antragstellerin lediglich behauptet, hierzu aber keine für die Glaubhaftmachung geeignete Unterlagen oder sonstige Belege vorgelegt. Solche finden sich auch nicht im beigezogenen Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin. Gleiches gilt für die behauptete ADHS-Diagnose.</p>
<span class="absatzRechts">13</span><p class="absatzLinks">Ungeachtet dessen dürfte der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch aber selbst dann nicht zustehen, wenn sie die maßgeblichen Umstände glaubhaft gemacht hätte, und zwar aus folgenden Gründen: Die Gefahr der unfreiwilligen Obdachlosigkeit hat die Antragsgegnerin durch Zuweisung einer den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechenden Unterkunft beseitigt. Der Sohn der Antragstellerin wiederum ist nicht obdachlos im Rechtssinne, so dass insoweit die Zuweisung einer (separaten) Unterkunft bzw. eines weiteren Zimmers für den Sohn obdachlosenrechtlich nicht geboten ist. (Davon abgesehen könnte die Antragstellerin einen Anspruch des Sohnes auch nicht in eigenem Namen geltend machen, da ihr – nach ihrem eigenen Vortrag – nicht das alleinige Sorgerecht zusteht; die Antragstellerin wäre insoweit nicht antragsbefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog.)</p>
<span class="absatzRechts">14</span><p class="absatzLinks">Als rechtlicher Anknüpfungspunkt für den geltend gemachten Anspruch dürfte daher letztlich nur das der Antragstellerin nach § 1684 Abs. 1 BGB zustehende (von ihr aber – siehe oben – derzeit nicht hinreichend glaubhaft gemachte) Umgangsrecht in Betracht kommen. Insoweit ist aber zu beachten, dass es in die Zuständigkeit der Familiengerichte fällt, sowohl über den Umfang des Umgangsrechts zu entscheiden als auch seine Ausübung zu regeln (vgl. § 1684 Abs. 3 Satz 1 BGB), und zwar ausdrücklich mit Blick auf das Kindeswohl (vgl. § 1684 Abs. 4 Satz 1 BGB). Das Familiengericht hat also zu entscheiden, ob und in welcher Form die Ausübung des Umgangsrechts stattfinden darf. Ob und inwieweit die derzeitige (Wohn-)Situation mit dem Kindeswohl zu vereinbaren ist, hat daher in erster Linie das zuständige Familiengericht zu beurteilen. Sollte die Ausübung des Umgangsrechts in der fraglichen Obdachlosenunterkunft unter den gegebenen Umständen eine Kindeswohlgefährdung darstellen, ist es Sache des zuständigen Familiengerichts, hieraus die entsprechenden rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Dass dies daneben unmittelbare Auswirkungen auf den der Antragstellerin zustehenden obdachlosenrechtlichen Unterbringungsanspruch haben könnte, erscheint angesichts der klaren Verteilung der Zuständigkeiten zumindest zweifelhaft. Die nähere Prüfung dieser Rechtsfrage muss aber, sofern es hierauf entscheidungserheblich ankommen sollte, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.</p>
<span class="absatzRechts">15</span><p class="absatzLinks">Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.</p>
<span class="absatzRechts">16</span><p class="absatzLinks">Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Nach Ziffer 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit war der für ein Hauptsachverfahren anzunehmende Streitwert zu halbieren.</p>
<span class="absatzRechts">17</span><p class="absatzLinks"><strong>Rechtsmittelbelehrung</strong></p>
<span class="absatzRechts">18</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">19</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.</p>
<span class="absatzRechts">20</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.</p>
<span class="absatzRechts">21</span><p class="absatzLinks">Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.</p>
<span class="absatzRechts">22</span><p class="absatzLinks">Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.</p>
<span class="absatzRechts">23</span><p class="absatzLinks">Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.</p>
<span class="absatzRechts">24</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.</p>
<span class="absatzRechts">25</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.</p>
<span class="absatzRechts">26</span><p class="absatzLinks">Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.</p>
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